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German Pages 480 Year 2006
Politische Theorie und Ideengeschichte Herausgegeben von Marcus Llanque und Herfried Münkler
Politische Theorie und Ideengeschichte Lehr- und Textbuch Herausgegeben von Marcus Llanque und Herfried Münkler
Akademie Verlag
Einbandgestaltung unter Verwendung eines Ausschnitts aus dem Titelkupfer von Peter Paul Rubens für: Justus Lipsius, Opera Omnia, Antwerpen 1637
ISBN 978-3-05-002954-2 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2007 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Ingo Scheffler, Berlin Gestaltung und Satz: Grafikstudio Scheffler, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
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Inhalt Einleitung
MARCUS LLANQUE/HERFRIED MÜNKLER
7
I. Das Politische: Grundmodelle des Politischen zwischen Ordnung und Konflikt MARCUS LLANQUE
II. Politisches Agieren und Akteure der Politik
47
1. Herrschen, Disziplinieren und Regulieren MATTHIAS BOHLENDER Souveränität/ Unterdrückung/ Gesetz Disziplin/Gewohnheit/Einübung Selbstregulation/ Gleichgewicht/ Steuerung Ergebnis und Ausblick 2.
Krieg und Frieden
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HERFRIED MÜNKLER
50
54 59 77 92 95
3. Revolution und Rebellion MARCUS LLANQUE Bürgerliche und sozialistische Revolution Moderner Revolutionsbegriff: Revolte und Emanzipation
132 149
4. Der soziale Ort politischen Handelns: Bürgerliche Gesellschaft, Nation und Klasse MARCUS LLANQUE
167
5. Politische Akteure: Politiker, Eliten und Massen
197
III. Politische Institutionen
MARCUS LLANQUE
MARCUS LLANQUE
125
225
1. Das Eigentum
226
2. Der Staat Der Staat als Macht und Idee Staat und Vereinbarung
239 249 266
3. Die Demokratie und ihre Gefahrdungen
285
4. Faktionen, Parteien, Parlamente, Repräsentation
320
6
Inhalt
IV Politische Normen 1.
341
Entstehung und Typen politischer Normen Die Vermittlung politischer Normen Gerechtigkeit, Gesetz, Gemeinwohl Geschichte und Utopie
MARCUS LLANQUE
2. Freiheit und Gleichheit HARALD BLUHM Der antike Diskurs Der neuzeitliche Diskurs Der moderne Diskurs Ergebnis und Ausblick 3.
Kosmopolitismus und Menschenrechte
341
351 360 367 372 375 388 407 422
MARCUS LLANQUE
426
Anhang Biographien
445
Quellennachweis
466
Personenregister
478
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Einleitung MARCUS LLANQUE u n d HERFRIED MÜNKLER
Die politische Theorie beschäftigt sich mit der begrifflichen Klärung des politischen Handelns und Verhaltens von Menschen sowie mit der Funktionsweise von politischen Institutionen und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Die Bandbreite der Gegenstände, die zum Inhalt politischer Theorie werden können, ist sehr groß. Das hat damit zu tun, dass praktisch jedes Verhalten politische Relevanz bekommen kann. Die Tötung von Menschen kann einmal als terroristischer Akt und in einem anderen Fall als Hinrichtung nach den Buchstaben des Gesetzes gewertet werden. Die gleichen Verhaltensweisen werden auf diese Weise gänzlich unterschiedlichen Wertbereichen zugeordnet, regelmäßig verbunden mit einem Werturteil. In diesem Sinne gibt es keine »richtige« und »universal gültige« Definition des Politischen, sondern nur die möglichst reflektierte und aufgeklärte Übung und Kenntnis, in welcher Weise das Politische in seinen unterschiedlichen Gestalten und Zusammenhängen beschrieben werden kann und welche Alternativen zu dieser jeweiligen Beschreibung existieren. Die Spannbreite vertretener Positionen ist sehr groß: Bestehen die einen auf Ordnung, begrüßen andere Anarchie; die Ziele der Politik reichen von der bloßen Einnahme und Verteilung von Finanzressourcen bis zur Frage des persönlichen Glaubens der Individuen. Meist dient die Formulierung von Zielen der Rechfertigung politischer Taten, sei es als Ausgangspunkt zur Verteidigung bestehender Ordnung oder zur Forderung neuer, gar revolutionärer Handlungen. Die imVerlaufe politischer Theoriearbeit erreichte Spannbreite möglicher Vorstellungen vom Politischen ist entsprechend gewaltig. Sie zeugt vom gedanklichen Reichtum und der ihr korrespondierenden sozialen Praxis. Die Theorie will die begrifflichen Grundlagen, auf denen die Praxis ruht, überhaupt erst bewusst machen. Dazu gilt es auch, das intellektuelle Erbe zu bewahren, um in Sinnkrisen und beim Wandel der sozialen Praxis genügend Material zur Neuorientierung zur Verfügung stellen zu können. Die vermeintliche Unklarheit und Unübersichtlichkeit der theoretischen Bemühungen zur Klärung des Politischen, die gerade Studenten der politischen Wissenschaft Kopfzerbrechen bereitet, ist demnach der eigentliche Schatz, den es zu heben und zu kultivieren gilt. Jede Generation muss sich den für sie verbindlichen Begriff des Politischen selbst erarbeiten. Politische Theorie kann es sich zur Aufgabe machen, das Bestehende zu beschreiben und hier nüchtern Rat zu geben oder kann durch die Erörterung von Normen wie ein ständiger Stachel in der Selbstgefälligkeit des Bestehenden wirken. Politische Theorie und Ideengeschichte versuchen nicht, mit der politischen Philosophie auf der Suche nach den letzten Wahrheiten zu konkurrieren. Was aber geleistet werden kann, ist das stets aufs Neue
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Einleitung
aufgegebene Unterfangen, die Fülle der relevanten Phänomene begrifflich zu erfassen und dabei sensibel zu bleiben fur verändertes soziales Verhalten und sich ändernde Zuschreibungen. So kann man darüber orientieren, welche Folgen sich konsequenterweise an bestimmte Zuschreibungen anschließen und welches Verhalten politische Relevanz besitzt. Politische Theorie und Ideengeschichte können ferner erörtern, was in politischen und sozialen Praxen und Routinen vergessen wird. Sie klären die Grundlagen und halten Alternativen parat. Weil sich Politik oft nur allmählich wandelt und aus der Perspektive des Akteurs wie eine unbezwingbare Grundstruktur erscheint, ist die Freiheit der gedanklichen Beweisführung hilfreich zur Erneuerung und Revitalisierung des gedanklichen Haushaltes einer politischen Kultur. Politische Theorie besteht auch in der Diskussion von alternativen Möglichkeiten zu denjenigen Strukturen, die sich historisch durchsetzten. Der Vergleich dominierender politischer Systeme mit anderen Möglichkeiten der Einrichtung politischer Verhältnisse verhilft zu beider Konturierung und Profilierung. Das ist gerade in Demokratien ein nicht unerheblicher Aspekt, schlägt doch gerade dort die aktuelle Unzufriedenheit mit bestimmten Verhältnissen rasch um zu einer Unzufriedenheit mit dem »System«. Oft ruhen die klassischen Rechtfertigungen, beispielsweise der Demokratie, auf Gründen und sind verbunden mit Erwartungen, die aus heutiger Perspektive einigermaßen überraschend sind. Die stärksten und gewichtigsten Befürworter der Demokratie waren oft zugleich die schärfsten Kritiker einzelner Aspekte demokratischer Ordnungen. Der Blick in die Tradition demokratischer Theorie ist also nicht nur ein Gang in die Geschichte des Lobes der Demokratie, sondern umgekehrt ein Fegefeuer, in dem auf befürchtete oder beobachtete Unzulänglichkeiten aufmerksam gemacht wird, an die sich der heutige Demokrat vielleicht bereits gewöhnt hat. Ohne die Aufmerksamkeit, in bestimmten Entwicklungen und Tendenzen, die in der eigenen Gesellschaft beobachtbar sind, demokratierelevante Aspekte zu erkennen, wird die ständige Erneuerung dieses anspruchsvollsten aller politischen Systeme nicht gelingen können. Auf der anderen Seite lehrt der verfremdende Blick auf die Vergangenheit der Demokratie ebenso wie auf ihre theoretischen Varianten und Alternativen, wie voraussetzungsvoll sie ist. Die hier vorgelegte Sammlung von Auszügen aus dem immensen Reichtum politischen Denkens will die dabei thematisierten Probleme nicht lösen, sondern Breite und Verschiedenheit ihrer Lösbarkeit dokumentieren und damit Alternativen kenntlich machen bzw. Positionen durch die Kenntlichmachung ihrer Alternativen konturieren helfen. Im normativen Selbstverständnis des Westens wird man sich noch der Traumzeit des überwundenen Kalten Krieges entsinnen, als das Ende der Geschichte ausgerufen wurde. Nun befinden wir uns in einer Phase der Verunsicherung, und das weckt die Aufmerksamkeit für Handlungsorientierung. In dieser Sicht ist die politische Theorieleistung kein ausschließlich geisteswissenschaftlich interessantes Gedankenspiel, sondern die Erarbeitung eines Arsenals an Argu-
Einleitung
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menten und Ideen, das die Wissenschaft aufgerufen ist zu tradieren: was nichts anderes heißt, als es zur Verfügung zu stellen auch für gegenwärtige Fragestellungen. Daher ist die hier gewählte Anordnung des Materials nach Problemen und nicht nach Autoren oder nach Epochen gegliedert. Die Gliederung des Buches macht deutlich, dass Vergleichbarkeit und Zusammenhang der Beiträge der politischen Theorie nach Kernproblemen geordnet werden können. Allgemeinster Focus der Probleme ist die Handlungsorientierung. Handlung ist von jeher das eigentliche Anliegen politischer Theorie gewesen: ob sie als Makropolitik oder Gesellschaftstheorie die allgemeinsten Strukturbedingungen politischen Handelns angibt oder als politische Philosophie die letzten Zielangaben politischen Handelns erörtert: Im Handeln kommt die Politiktheorie zu sich selbst. Die Diskussion dieser Kernprobleme findet über die Zeit hinweg statt: Gesprächspartner für politische Theoretiker sind neben zeitgenössischen Kontrahenten und Sympathisanten auch Autoren vergangener Zeit, mit deren Schriften man sich auseinander setzt, deren Begriffe und Probleme man aufgreift, fortentwickelt oder verwirft, um Platz zu schaffen für neue Konzeptionen. Insofern stehen die Autoren nicht alleine. Sie werden am besten zu Diskursen zusammengefasst und sind auch diskursiv zu lesen.
Zur Konzeption und Nutzung Politik bewegt sich in einem Spannungsfeld von Nonnen, Institutionen und Aktionen. Die zunächst vorgestellten, vielgestaltigen Konzeptionen »des Politischen« versuchen alle, dieses Spannungsverhältnis aufzugreifen und einer Lösung zuzuführen. Sie geben zugleich Aufschluss darüber, in wie viel unterschiedlichen Konstellationen Politik gedacht werden kann. Die folgenden Abschnitte widmen sich enger gefassten Kernproblemen. Leicht lassen sich die dabei hintergründig wirkenden Grundvorstellungen des Politischen identifizieren. Zugleich erhalten diese Grundvorstellungen in Anwendung auf konkrete Problemstellungen Kontur. Es ist immer eine schwierige Entscheidung, ob man in der politischen Theorie in die Tiefe oder in die Breite gehen soll. Vertieft man sich in ein einzelnes Problem, so gewinnt man einen Reichtum an Detailkenntnissen und an möglichen Perspektiven, wie das Problem aufgefasst und in welcher Richtung Lösungsansätze vermutet werden können. Man verliert aber rasch den Zusammenhang eines einzelnen Problems mit anderen, ähnlich gewichtigen Problemen aus dem Auge. Dieses Textbuch möchte anhand einer Mischung aus einleitenden und kommentierenden Einführungen und (ins Deutsche übersetzten) Originalstimmen dem Leser die Möglichkeit geben, einen Eindruck über das weit verzweigte politische Denken und die Vielfalt der Sichtweisen zu gewinnen, die sich in historischer und systematischer Hinsicht ergeben. Aus heuristischen Gründen sind die Texte in vier Kapiteln angeordnet (Das Politische, politische Akteure und politisches Agieren, politi-
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Einleitung
sehe Institutionen, politische Normen), die in Abschnitte gegliedert sind. Die behandelten Themen der einzelnen Abschnitte verweisen immer wieder auf Grundbegriffe, die in anderen Abschnitten erörtert werden. Die Abschnitte sind zur besseren Orientierung in sich chronologisch geordnet. Die Einleitungen zeigen die sich kreuzenden Verweise zwischen Abschnitten und unterschiedlichen historischen Diskursen auf. Oftmals greifen moderne Autoren auf antike Texte zurück, um sich in ihrer eigenen Gegenwart zu orientieren. Mancher Autor der Vergangenheit scheint für moderne Leser zu sprechen. Politische Probleme mit einzelnen Institutionen oder Normen wurden in früheren Zeiten sehr scharf gesehen, schienen zeitweilig durch die historische Entwicklung überholt und beweisen mittlerweile wieder ihre Aktualität. Die politische Ideengeschichte ist nicht nur ein Schatz intellektueller Bemühungen um einen der schwierigsten Gegenstände menschlichen Bemühens: die Politik, sondern auch ein Archiv gespeicherter Erfahrungen und Denkmöglichkeiten, in welchen die politische Theoriebildung stets aufs Neue Bezugspunkte findet, um voranzuschreiten. Das bedeutet keineswegs ein sklavisches Imitieren vergangenen Denkens, sondern Anregung, Inspiration und nicht zuletzt Ermutigung, durch intellektuellen Abstand zum Zeitgeschehen dessen Strukturen und Eigentümlichkeiten neu erfassen zu können, um so vielleicht die Lösung gegenwärtiger Probleme voranzutreiben. Zu jedem ausgewählten Text ließen sich weitere drei oder vier ergänzende Texte von vielleicht gleichem Gewicht finden. Jedes Stück gibt nur einen Ausschnitt meist komplexer Argumentationen eines Autors wieder. Viele Autoren sind nicht berücksichtigt. Solche schmerzlichen Einschränkungen gehören zu den Mängeln eines jeden Buches, das einen bestimmten Umfang nicht überschreiten darf. Sie reagieren aber auch auf die beschränkte Aufhahmekapazität des Lesers, der eher ermuntert und nicht abgeschreckt werden soll, weiter zu lesen und seine Lektüre zu vertiefen: sei es, dass er in die Fundstellen selber schaut, sei es, dass er die am Ende eines jedes Abschnitts, oft einzelner Unterabschnitte gegebenen Literaturhinweise nutzt und beginnt, nach einer Orientierung in der Breite den Weg in die Tiefe einzuschlagen. Wenn dieses Buch hierzu ermuntert, so hat es die Intention seiner Herausgeber und Mitarbeiter bereits erfüllt. Das vorliegende Werk ist das Resultat langjähriger gedanklicher Auseinandersetzung, an der nicht nur die Verfasser der Abschnitte und die Herausgeber beteiligt waren, sondern zahlreiche andere Personen, darunter Effi Böhlke, Gabriele Schneider, Timm Gennett und Mischka Dammaschke vom Akademie Verlag, die in verschiedenen Arbeitsphasen an verschiedenen Abschnitten mitarbeiteten. Ihnen allen gebührt ein besonderer Dank.
Einleitung
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Literatur zu politischen Theorien und zur Ideengeschichte Ball, Terence/Bellamy, Richard, eds., The Cambridge History of 20th Century Political Thought, Cambridge 2003. Beyme, Klaus von, Politische Theorie im Zeitalter der Ideologien. 1789-1945, Wiesbaden 2002. Brown, Chris, ed., International Relations in Political Thought. Texts from the Ancient Greeks to the Is' World War, Cambridge 2002. Burns, J. H., ed., Cambridge History of Political Thought, Bd. 1:350-1450, Cambridge 1988; Bd. 2: 1450-1700, Cambridge 1991. Chevallier, Jean Jacques, Histoire de la pensee politique, 2 Bände, Paris 1979. Fenske, Hans/Mertens, Dieter/Reinhard, Wolfgang/Rosen, Klaus, Hg., Geschichte der politischen Ideen. Von Homer bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 1987. Fetscher, Iring/Münkler, Herfried, Hg., Pipers Handbuch der politischen Ideen, 5 Bände, München 1985-1993. Gollwitzer, Heinz, Geschichte des weltpolitischen Denkens, 2 Bände, Göttingen 1982. Grewe, Wilhelm G., Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Auflage, Baden-Baden 1988. Hartmann, Jürgen/Meyer, Bernd/Oldopp, Birgit, Geschichte der politischen Ideen, Wiesbaden 2002. Maier, Hans/Rausch, Heinz/Denzer, Horst, Hg., Klassiker des politischen Denkens, 2 Bände, 1. Aufl., München 1968; 5. völlig neu bearbeitete Aufl., München 1987; 6. Aufl., München 2001. Meier, Christian, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M. 1983. Mohr, Arno, Politische Ideengeschichte, in: ders., Hg., Grundzüge der Politikwissenschaft, München/Wien 1995, S. 143-235. Morrow, John, A History of Political Thought. A Thematic Introduction, New York 1998. Münkler, Herfried/Llanque, Marcus, Politische Theorie, in: Pauly's Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften, Bd. 15/2, Stuttgart/Weimar 2002, S. 412-443. Ottmann, Henning, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1: Die Griechen. Von Homer bis Sokrates; Bd. 2: Die Griechen. Von Piaton bis zum Hellenismus, Stuttgart/Weimar 2001. Pagden, Anthony, ed., The Languages of Political Thought in Early Modern Europe, Cambridge 1987. Reese-Schäfer, Walter, Politische Theorie heute. Neuere Tendenzen und Entwicklungen, München/ Wien 2000. Renaut, Alain, ed., Histoire de la philosophie politiques, 5 Bände, Paris 2001. Sabine, George Holland, History of Political Thought, revised and enlarged 3rd edition, London 1963; rev. by Th. Landon Thorson Hinsdale, 4. Aufl., London 1973. Skinner, Quentin, The Foundations of Modern Political Thought, 2 Bände, Cambridge 1978. Stammen, Theo, Hauptwerke der politischen Theorie, Stuttgart 1997. Sternberger, Dolf, Drei Wurzeln der Politik, 2 Bände, Frankfurt/M. 1978. Strauss, Leo/Cropsey, Joseph, eds., History of Political Philosophy, 2nd edition, Chicago 1972. Viroli, Maurizio, From Politics to Reason of State: The Acqusition and Transformation of the Languages of Politics 1250-1600, Cambridge 1992.
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I.
Das Politische: Grundmodelle des Politischen zwischen Ordnung und Konflikt MARCUS LLANQUE
Das Politische ist kein Bereich der sozialen Wirklichkeit, der auf Grund seiner Gegenständlichkeit von anderen Bereichen abgegrenzt werden kann. Im Laufe der Theoriebildung ist kaum ein Gegenstand nicht für politisch relevant erachtet worden. Das Eigentümliche der Politik liegt in der Art und Weise des Umgangs mit den Gegenständen. Die erste und zugleich klassische Antwort auf Wesen und Inhalt des Politischen ist die Macht (Thukydides). Zu den Grundwörtern des Politischen gehört der Ausdruck Macht. Die Erfahrung von Menschen, Zwängen ausgesetzt zu sein und Verfügungskompetenzen anderer Menschen zu unterliegen, hat seit jeher Menschen sensibel gemacht für Phänomene der Macht. Die Erfahrung der Auflehnung und des Widerstandes gegen diese Umstände und der damit verbundenen Anstrengungen vermittelt dann den Eindruck, wie schwierig es ist, politische Interessen auf Dauer zu stellen. Im Ergebnis führte dies dann häufig zur Organisierung von Macht, um anderer Macht zu widerstehen. Was aber unter Macht verstanden werden kann, ist vielgestaltig je nachdem, welche Erlebnisse und Erfahrungen als Bedrohung und welche als Abhilfe verstanden werden. Zugleich zeigt sich, wie groß die Bandbreite dessen ist, was als Macht und damit als politisch relevantes Phänomen beschrieben werden kann. Politik ist auf die besondere Sphäre der Machtkonzentration und Machtaufteilung bezogen. Menschen und Ressourcen kommen zusammen, um ihre einzelne Macht zu ergänzen, zu koordinieren und so Kooperation zu ermöglichen. Das erzeugt im Ergebnis eine Wirkmacht, die größer und vor allem: anders geartet ist als die Summe der individuellen Macht. Macht ermöglicht es, den Willen in die Tat umzusetzen und widerstrebende Willen zu beugen. So galt immer wieder dem Krieg die besondere Aufmerksamkeit politischen Denkens, dem augenfälligsten Phänomen des Ringens widerstrebender Willen. Doch solche Unternehmungen wie die Kriegführung bedürfen einer besonderen Organisierung von politischer Macht. Somit gehört die Frage der Einrichtung politischer Macht gleichfalls zum klassischen Bereich des Politischen. Dabei hat Aristoteles die Jahrtausende wirksame Überlegung angestoßen, dass verschiedene Organisationsformen menschlichen Zusammenwirkens denkbar sind und die politische Form eine besondere unter allen anderen ist. Sie ist in gewisser Hinsicht künstlich und unterscheidet sich von den privaten Lebensverhältnissen wie auch der wirtschaftlichen Haushaltsführung. Meist ist die politische Ebene als die umfassendste aller Lebensbereiche angesetzt. Politik ist der herausragende Ausschnitt der Gesellschaft und zugleich eine besondere Form der Vergesellschaftung.
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I. Kapitel
Ferner ist verschiedenen Bereichen der Gesellschaft das Attribut »politisch« zugesprochen worden: Neben den sich immer wieder in den Vordergrund drängenden Institutionen wie etwa der Regierung kann umgekehrt die Anarchie sozialer Bewegungen oder die Ungeordnetheit zivilgesellschaftlicher Gebilde als Jungbrunnen politischer Emanzipation verstanden werden. Schließlich lässt sich auch ein politischer Umgang mit der Definitionsarbeit am Begriff des Politischen feststellen: Politisch sei, was man in Hinblick auf die damit verbundenen, legitimierenden oder delegitimierenden Absichten für besonders wert oder unwert befindet. In diesen Fällen lässt sich die Frage nach dem Politischen nicht definitiv klären; man kann vielmehr die Frage als Indikator für die Debatten einer bestimmten Kultur auffassen. Hier hilft zunächst nur die möglichst breite Kenntnis möglicher und in der Praxis erprobter Definitionen des Politischen. Sie bringen stets andere Phänomene in den Vordergrund der Debatte und lassen andere im Hintergrund verschwinden. Die Arbeit am Begriff des Politischen ist somit selbst Ergebnis politischer Erfahrung.
Ordnung und Konflikt Das Bedürfnis nach einer Klärung dessen, was das Politische sei oder sein soll, erwächst oft aus der Erfahrung von Unordnung und dem dadurch gewachsenen Interesse an Ordnung. Hier wird das Politische zu einem Ferment zur Schaffung von Ordnung. Das Problem politischer Ordnung resultiert aus der Erfahrung der Unordnung. Anarchie, Bürgerkrieg, die Natur des Menschen und die Natur der Welt können in mannigfachen Gestalten und verschiedenen Variationen und Kombinationen als Ursache von Unordnung angesehen und thematisiert werden. Selbst der freie Markt, eines der erfolgreichsten Ordnungsmodelle, kanalisiert soziales Verhalten nach bestimmten Regeln. Die Politik kann sich vom Modell des Marktes inspirieren lassen oder ihre Aufgabe darin erblicken, den Markt seinerseits zu ordnen. Politisches Denken diskutiert neuartige, fremdartige, ungeliebte oder als Bedrohung aufgefasste Ereignisse als Ordnung und greift therapeutisch zur Tradition zurück, um Abhilfe zu schaffen (sei es die Besänftigung der Götter, die Rückkehr zu den Gesetzen, die Tugend oder durch Sühne) und ungewohnte Erscheinungen wieder in die Ordnung zu bringen. Und selbst der aufrührerischste Begriff der politischen Neuzeit, die Revolution, ist zunächst ein Ordnungsbegriff, der vorübergehende Störungen der ordnungsgemäßen Bahn der Himmelskörper in eine ihnen zu Grunde liegende Ordnung zurückbringt, sie re-voltiert. In umstürzenden Situationen kann man die aus den Fugen geratene vertraute Ordnung wieder dadurch restabilisieren, dass man die Ursachen der Unordnung zu Ausläufern einer neuen Ordnung erklärt. Die Anarchie gebiert neue Ordnung aus sich heraus. So auch die politische Freiheit: Wo sie sich durchsetzt, wird sie doch in bestimmten, wenn auch zunächst ungewohnten Bahnen und Kanälen neue Spuren der Ordnung ziehen.
Das Politische: Grundmodelle des Politischen zwischen Ordnung und Konflikt
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Der Gedanke der Ordnung beinhaltet eine Hierarchie sozialer Verhältnisse. Da die Politik der Bereich sein soll, welcher über die Struktur der gesellschaftlichen Ordnung bestimmt, ist sie meist an die Spitze dieser Hierarchie gestellt. An ihrer Spitze kann aber auch eine Gottheit gestellt werden, wenn sie als Schöpfer der Welt und somit als Ordnungsgarant begriffen wird. Die Politik umfasst dann einen außerweltlichen und einen weltlichen Bereich. Menschen agieren hier als Priester oder Könige von Gottes Gnaden im Legitimationsschatten des Gottes und so auch deren Verwaltungsstäbe. Politische Ordnungskonzepte ermitteln den Ort des Politischen im Gefüge menschlichen Zusammenlebens, das von der familiären Mikroebene bis zur nationalen Ebene ganzer Populationen und schließlich bis zur Menschheit als einer Gattung reicht. Form und Gestalt der jeweils zu Grunde gelegten Ordnungskonzeption changieren zwischen überwiegend normativ geprägten und ausgesprochen deskriptiv angelegten Vorstellungen; stets handelt es sich dabei aber um Modelle, die zwecks besseren Verständnisses der komplexen Wirklichkeit menschlichen Zusammenlebens bestimmte Gesichtspunkte für vorrangig erachten und damit andere Aspekte für nachrangig. Politische Theorie als Deutungsarbeit an der Frage, welches Ordnungsmuster das richtige sei, steht damit selber im Deutungskampf. Ordnungskonzeptionen stehen in Konkurrenz zueinander im Kampf um Sinnstifhmg, auch wenn sie sich eines wissenschaftlichen Vokabulars bedienen. Denn wenn beispielsweise die für maßgeblich erachtete Ordnung so modelliert ist, dass der politischen Akteursrolle der Allgemeinheit, in der Moderne also im weitesten Sinne dem Staat, nur eine nachrangige Rolle zugestanden wird, die zu überschreiten sogar als Gefahr für normative Ziele wie die Freiheit oder den Gottesgehorsam angesehen wird, dann werden zugleich bestimmte typische Handlungsweisen, die dem Staat zukommen, für nachrangig erachtet und so delegitimiert. So hat die Entdeckung der Gesellschaft dazu geführt, dass Autoren wesentliche Handlungs- und Verhaltensweisen, die zuvor als politisch oder religiös konnotiert waren, nun einer gesonderten Lebenswirklichkeit mit eigenen Regelmäßigkeiten zusprechen, auf die die politische Ordnung nur einen indirekten Einfluss ausüben kann. Am erfolgreichsten war der Aufweis der Wirtschaft, insbesondere des Marktes als eines zur Politik konkurrierenden Ordnungsmodells. Als Selbstregulativ konzipiert, soll dieses Modell die Spannbreite politischer Handlungen möglichst gering halten. Die berühmtesten theoretischen Beispiele waren zugleich die politisch einflussreichsten: Zu denken ist an Adam Smith, der den zuvor merkantilistisch und damit steuerungspolitisch verstandenen Begriff des Wohlstands einer Nation dem persönlichen Eigeninteresse als bestem Sachwalter und dem Markt als bester Organisation der Interessen überstellte und damit den politischen Einfluss der Krone und bestimmter Kartelle mindern wollte. Zu denken ist ferner an Karl Marx, der von gesellschaftsgeschichtlichen Wirkkräften ausging, die auf ökonomisch nachvollziehbarer Grundlage fußen und dem politischen Handlungsspielraum des Staates wie der politisch forcierten Revolution entzogen sind. Daher sind es anonyme und kollektive Personen, nämlich Klassen, welche Geschichte »machen«. Schließlich sei für die Gegenwart
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I. Kapitel
Friedrich August von Hayek genannt, der vor dem Hintergrund der totalitären Erfahrung und der Beobachtung, dass auch die westlichen Demokratien sich Steuerungsphantasien der Nationalsozialisten gegenüber aufgeschlossen zeigten, die Freiheit als Struktur von politischer Ordnung sichern möchte. Die Ordnungsmodelle stehen in einem Zusammenhang mit den prägenden Vorstellungen von Macht und vom Sinn des Politischen. Die Spannbreite reicht von der Position, die menschliches Verhalten als Zurechnungsmodus des Politischen grundsätzlich ablehnt und den Menschen zum Bürger einer Welt erklärt, die nicht von ihm selbst errichtet und gesteuert wird (Augustinus), bis zu Vorstellungen, die umgekehrt nur in der Politik das eigentliche Wesen des Menschen verwirklicht sehen (Hannah Arendt).
THUKYDIDES Machtpolitik Die Athener: Wenn unsere Worte sich schon nicht ans Volk richten sollen, offenbar damit die Menge nicht in fortlaufender Rede von uns verlockende und unerwiesene Dinge in einem Zuge hört und damit betört wird (...) [so] gebt eure Antwort Punkt für Punkt, auch ihr nicht in einer einzigen Rede, sondern unterbrecht uns gleich, sooft wir etwas sagen, was euch unannehmbar erscheint (...) Die Melier: Eure Milde, daß wir in Ruhe einander überzeugen sollen, anerkennen wir gern, aber das kriegerische Wesen, womit ihr schon auftretet, nicht erst droht, widerspricht dem sichtlich. Sehen wir euch doch hergekommen, selber zu richten in dem zu führenden Gespräch, und also wird das Ende uns vermutlich, wenn wir mit unseren Rechtsgründen obsiegen und drum nicht nachgeben, Krieg bringen, hören wir aber auf euch, Knechtschaft. (...) Die Athener: Wir allerdings gedenken unsererseits nicht mit schönen Worten - etwa als Besieger der Perser seien wir zur Herrschaft berechtigt oder wir müßten erlittenes Unrecht jetzt vergelten - endlose und unglaubhafte Reden euch vorzutragen, noch dürft ihr meinen uns zu überreden, wenn ihr sagt, Abkömmlinge
Spartas, hättet ihr doch keine Heeresfolge geleistet oder ihr hättet uns nichts zuleide getan; sondern das Mögliche sucht zu erreichen nach unser beider wahren Gedanken, da ihr so gut wißt wie wir, daß im menschlichen Verhältnis Recht gilt bei Gleichheit der Kräfte, doch das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt. Die Melier: Unsres Bedünkens wäre es aber doch nützlich (so muß es wohl heißen, wenn denn nach euerm Gebot statt vom Recht nur vom Vorteil die Rede sein darf), wenn ihr nicht aufhöbet, was jetzt allen zugut kommt: daß, wer je in Gefahr ist, immer noch hoffen darf, mit Gründen der Billigkeit, auch außerhalb des strengsten Maßes, Gehör zu finden zu seinem Gewinn. Und dies gilt nicht minder auch zu euern Gunsten: denn stürztet ihr je, ihr möchtet noch für andre zum Beispiel werden gewaltiger Rache. Die Athener: Wir aber sind, sollte auch unsre Herrschaft brechen, vor diesem Ende nicht in Bangen. Denn ein Volk, das andre beherrscht, wie die Spartaner, das ist kein Schrecken für die Besiegten (übrigens geht unser Kampf ja gar nicht gegen Sparta), wohl aber, wenn die Untertanen selber einmal aufstehn und ihre bisherigen Herrn unterwerfen. Doch diese Gefahr bleibe uns überlassen zu tragen; das aber möchten wir euch dartun, daß wir hergekommen sind unsrem Reich zur Mehrung und jetzt diese Reden führen
Das Politische: Grundmodelle des Politischen zwischen Ordnung und Konflikt
wollen eurer Stadt zur Rettung; denn so würden wir ohne Mühe eure Herrn, und ihr bliebet zu beider Nutzen heil. Die Melier: Und wie brächte uns der Verlust der Freiheit Nutzen, so wie euch die gewonnene Herrschaft? Die Athener: Weil ihr, statt das Entsetzlichste zu leiden, euch unterordnen dürftet und wir, wenn wir euch nicht vertilgen, dabei gewönnen. Die Melier: Daß wir uns stillhalten und euch Freund sind statt Feind, aber mit keiner Seite verbündet, könntet ihr nicht annehmen? Die Athener: Nicht so sehr schadet uns eben eure Feindschaft, wie daß Freundschaft ein Schwächezeichen, Haß eines der Stärke bei unsern Untertanen bedeutet. Die Melier: Achten denn bei euch in der Art die Unterworfnen auf Bill und Unbill, daß sie gar keinen Unterschied machen zwischen Städten, mit denen ihr nichts zu schaffen habt, und den andern, die doch fast alle von euch gegründet sind, teils auch nach einem Abfall neu in eure Hand kamen? Die Athener: Rechtsgründe, meinen sie eben, hätten die einen so gut wie die andern, nur der Macht wegen könnten die einen sich behaupten und griffen wir aus Angst nicht an. So würdet ihr außer der Mehrung unsrer Herrschaft uns auch noch Sicherheit bringen, wenn ihr euch unterwerft und zumal als Insel - und gar der schwächern eine - der Seemacht Athen nicht trotzt. Die Melier: Und in jenem Vorschlag seht ihr keine Sicherheit? Denn wie ihr vorhin aus unsren Reden die Gerechtigkeit verbannt und uns dazu vermocht habt, uns euerm Nutzen zu fügen, ebenso müssen dafür auch wir jetzt euch unsern Vorteil erklären, ob er vielleicht mit dem euren zusammenfällt, und damit versuchen durchzudringen. Alle die nämlich, die jetzt noch keinem der Bünde zugehören, müßt ihr sie euch nicht zu Feinden machen, wenn sie dies hier mit ansehn und sich sagen, einmal würdet ihr auch gegen sie kommen? Und was tut ihr damit anderes, als daß ihr die bisherigen Feinde stärkt und
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die, die nicht daran dachten, es zu werden, gegen ihren Willen dazu bringt? (...) Die Melier: Wir wissen aber, daß sich im Krieg manchmal die Geschicke gleichmäßiger verteilen, als dem Unterschied der beiden Stärken entspräche; und für uns heißt sofort nachgeben die Hoffnung aufgeben, handeln wir aber, ist auch noch Hoffnung, aufrecht zu stehen. Die Athener: Hoffnung, eine Trösterin in Gefahr, mag den, der im Wohlstand ihr vertraut, wohl einmal schädigen, doch nicht verderben. Wer aber alles, was er hat, an einen Wurf setzt (denn Verschwendung ist ihr Wesen), der erkennt sie im Sturz, und zugleich behält er nichts übrig, weshalb er vor der durchschauten sich noch wahren sollte. Seht zu, daß es euch nicht auch so geht, ihr Schwachen, deren Waage beim ersten Anstoß schnellt, und tut es nicht den vielen gleich, die, statt auf Menschenwegen die noch mögliche Rettung zu ergreifen, sobald in der Bedrängnis die klaren Hoffhungen sie verlassen, auf die verschwommenen bauen: Weissagung, Göttersprüche und all dieses, was mit Hoffnungen Unheil stiftet. Die Melier: Schwer dünkt es allerdings auch uns, wißt wohl, gegen eure Macht und das Schicksal, wenn es so ungleich steht, anzukämpfen. Dennoch trauen wir, daß das Geschick uns um der Gottheit willen nicht benachteiligt, weil wir rein Und gegen Ungerechte stehen, und unsem Mangel an Macht der Spartanische Bund ergänzt, der, wenn sonst aus keinem Grund, so doch wegen der Verwandtschaft und um der Ehre willen, gar nicht anders kann als uns zu helfen. Nicht so durchaus nur unvernünftig ist also unsere Zuversicht. Die Athener: Je nun, an der Gunst der Götter soll es, denken wir, auch uns nicht fehlen. Denn nichts, was wir fordern oder tun, widerspricht der Menschen Meinung von der Gottheit und Gesinnung gegeneinander. Wir glauben nämlich, vermutungsweis, daß das Göttliche, ganz gewiß aber, daß alles Menschenwesen allezeit nach dem Zwang seiner Natur, soweit es Macht
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hat, herrscht. Wir haben dies Gesetz weder gegeben noch ein vorgegebenes zuerst befolgt, als gültig überkamen wir es, und zu ewiger Geltung werden wir es hinterlassen, und wenn wir uns daran halten, so wissen wir, daß auch ihr und jeder, der zur selben Macht wie wir gelangt, ebenso handeln würde. Vor den Göttern brauchen wir also darum nach der Wahrscheinlichkeit keinen Nachteil zu befürchten. (...) Die Athener: Verlaß findet aber der zur Hilfe Aufgebotene nicht in der Zuneigung der Hilfeheischenden, sondern wo eine tatsächliche und überragende Macht ist - und darauf achten die Spartaner noch ganz besonders; wenigstens mißtrauen sie ihrer eigenen Streitmacht so sehr, daß sie nur mit vielen Verbündeten in fremdes Gebiet einfallen. Es ist also nicht wahrscheinlich, daß sie unsrer Seeherrschaft zum Trotz auf eine Insel übersetzen werden. (...) Die Athener: (...) Wir bemerken aber, daß ihr trotz eurer Zusage, ihr wolltet über eure Erhaltung beraten, in diesem langen Gespräch nichts vorgebracht habt, worauf Menschen einen Glauben an ihre Rettung gründen könnten. Euer Stärkstes ist gehoffte Zukunft, und was ihr bereit habt, ist zu schwach, die schon anwesende Gegenmacht zu bestehen. So zeigt ihr viel Unverstand in Eurem Denken, wenn ihr nicht jetzt noch nach unserm Beiseitetreten etwas anderes, Vernünftigeres als dies beschließt. Denn ihr werdet doch nichts geben auf die in schmählicher, selbstgewählter Gefahr so vielfach den Menschen verhängnisvolle Ehre. Viele, die noch voraussehen konnten, wohin sie trieben, riß die sogenannte Schmach mit der Gewalt eines Zauberspruches hin, daß sie, besiegt von einem Wort, in der Wirklichkeit willentlich in unwendbare Not gerieten und noch Schande dazu ernteten schmählicher als durchs Schicksal wegen der eigenen Torheit. Davor müßt ihr Euch hüten, wenn ihr's recht bedenkt, und nichts Unwürdiges darin finden, einer so mächtigen Stadt zu unterliegen, die so maßvolle Bedingungen vorschlägt: ihr würdet Verbündete, behiel-
I. Kapitel
tet, was ihr besitzt, hättet die Steuer zu entrichten - müßt also nicht bei der euch gewährten Wahl zwischen Krieg und Sicherheit mit aller Gewalt euer Unglück erkämpfen. Wer seinesgleichen nicht nachgibt, dem Stärkeren wohl begegnet, gegen den Schwächeren Maß hält, der fahrt meist am besten. So prüft also auch noch, während wir draußen warten, und bedenkt wieder und wieder: ihr beschließt über euer Vaterland, dies eine Vaterland, und auf diesen einen Beschluß, der treffen oder mißglücken kann, kommt es an. (S. 795 - 807) Aus: Thukydides, Melier-Dialog, in: ders., Geschichte des Peloponnesischen Krieges, griechisch-deutsch, übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterung versehen von Georg Peter Landmann, München 1993, S. 792-809.
PLATON Politik als sachgerechtes Expertengeschäft Sokrates: Keineswegs aus Rechthaberei frage ich, sondern in Wahrheit, um zu erfahren, wie du denn meinst, daß der Staat bei uns müsse verwaltet werden; ob du wohl auf etwas anderes deine Sorgfalt zu wenden denkst, nun du dich der öffentlichen Angelegenheiten annimmst, als darauf, daß wir Bürger immer besser werden? Oder haben wir nicht schon oft eingestanden, daß dies der öffentliche Mann bewirken müsse? Haben wir es eingestanden oder nicht? Antworte! Wir haben es eingestanden, will ich für dich antworten. Wenn also dies der rechtliche Mann seiner Stadt muß zu bewirken suchen: so besinne dich und sage mir noch einmal deine Meinung von jenen Männern, die du vorhin anführtest, ob du noch glaubst, daß sie gute Staatsmänner gewesen sind, Perikles und Kimon und Miltiades und Themistokles?
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Kallikles: Ich glaube es doch. Sokrates: Waren sie also gute Staatsmänner: so hat doch offenbar jeder die Bürger zu besseren gemacht aus schlechteren. Haben sie das getan oder nicht? Kallikles: Sie haben es getan. Sokrates·. Also da Perikles anfing, vor dem Volke zu reden, waren die Athener schlechter, als da er zum letzten Male redete? Kallikles: Vielleicht. Sokrates: Nicht doch vielleicht, Bester, sondern es folgt notwendig aus dem Eingestandenen, wenn anders jener ein guter Staatsmann war. Kallikles: Und was weiter? Sokrates: Nur dies sage mir noch, ob man wirklich der Meinung ist, die Athener wären durch den Perikles besser geworden, oder umgekehrt, sie wären verderbt worden durch ihn. Denn dazu, höre ich wenigstens immer, habe Perikles die Athener gemacht, zu einem faulen, feigen, geschwätzigen, geldgierigen Volk, indem er sie zuerst zu Söldlingen erniedrigt.(...) Kallikles: Nun? War etwa deshalb Perikles schlecht? Sokrates: Wenigstens ein solcher Aufseher über Esel, Pferde und Rinder würde für schlecht gehalten werden, der sie keineswegs so übernommen, daß sie schlugen, stießen und bissen, sie aber so hätte verwildern lassen, daß sie nun dieses alles tun. Oder dünkt dich nicht jeder solcher ein schlechter Aufseher über jede Art von Lebewesen, der sie zahmer bekommt und sie wilder macht, als er sie bekommen hat. Dünkt es dich nicht? (...) Sokrates: Ο wunderlicher Kallikles, ich tadle ja auch diese Männer nicht, sofern sie Diener des Staats gewesen sind, vielmehr scheinen sie mir weit dienstbeflissener gewesen zu sein als die jetzigen und weit geschickter, dem Staate dasjenige zu verschaffen, wonach ihn gelüstete. Aber seine Gelüste umstimmen und ihnen nicht nachsehn, sondern durch Überredung und durch Gewalt ihn zu dem bewegen, wodurch die Bür-
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ger besser werden können, darin, daß ich es geradeheraus sage, waren diese nichts besser als jene, und dies ist doch das einzige Geschäft des rechten und guten Staatsmannes. (...) Sokrates: Zu welcher von beiden Arten, den Staat zu behandeln, ermahnst du mich also, das bestimme mir. Zu der, welche es durchsetzen will, daß die Athener besser werden, wie es der Arzt macht; oder wie einer, der ihnen dienstbar sein muß und nur, wie es ihnen wohlgefällt, mit ihnen umgeht? (...) Sokrates: Ich glaube, daß ich, mit einigen wenigen anderen Athenern, damit ich nicht sage ganz allein, mich der wahren Staatskunst befleißige und die Staatssachen betreibe ganz allein heutzutage. Da ich nun nicht ihnen zum Wohlgefallen rede, was ich jedesmal rede, sondern für das Beste, gar nicht für das Angenehmste, und mich nicht befassen will mit den herrlichen Dingen, die du mir anmutest: so werde ich nichts vorzubringen wissen vor Gericht, und es wird mich dasselbe treffen, was ich zum Polos sagte, ich werde nämlich gerichtet werden wie unter Kindern ein Arzt, den der Koch verklagte. Denn bedenke nur, wie sich ein solcher Mensch auf solchen Dinge ertappt verteidigen wollte, wenn ihn einer anklagte und spräche: Ihr Kinder, gar viel Übles hat dieser Mann euch zugefugt, und auch die jüngsten unter euch verdirbt er und ängstigt euch, da ihr euch nicht zu helfen wißt, mit Schneiden und Brennen und Abmagern und Schwitzen und mit den bittersten Getränken und lässt euch hungern und dursten; gar nicht, wie ich euch immer mit so viel und vielerlei Süßigkeiten bewirtete. Was, glaubst du, wird ein Arzt, wenn er in solcher Not drinsteckt, wohl sagen können? Oder wenn er etwa die Wahrheit sagte: ihr Kinder, das alles tat ich zu eurer Gesundheit, was, meinst du wohl, würden solche Richter für ein Geschrei erheben? Nicht ein großes? (Stephanus 515b-552a, S. 271 -278) Aus: Piaton, Gorgias, in: ders., Sämtliche Werke, in der Übersetzung von Friedrich
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Schleiermacher, mit der Stephanus-Nummerierung, hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck, Bd. 1, Hamburg 1957, S. 197-284.
ARISTOTELES Das politische Gemeinwesen als vielfaltige Lebensgemeinschaft und die politische Aufgabe ihrer Ordnung Wir müssen mit dem beginnen, was der naturgemäße Anfang einer solchen Prüfung ist. Notwendigerweise haben alle Bürger entweder alles gemeinsam, oder nichts, oder einiges. Daß sie nichts gemeinsam haben, ist offenbar unmöglich. Denn der Staat ist eine Gemeinschaft, und es ist als erstes notwendig, den Raum gemeinsam zu haben; der Raum Eines Staates ist Einer, und die Bürger sind Teilhaber eben an Einem Staate (...) [Es] ergibt sich als das Ziel, das nach ihm [Piaton] der Staat erreichen soll, Unmögliches, so wie er nämlich die Sache formuliert (...) Ich meine dies, daß es das beste sein soll, wenn der gesamte Staat so sehr als möglich eins wird; (...) Es ist aber doch klar, daß ein Staat, der immer mehr eins wird, schließlich gar kein Staat mehr ist. Seiner Natur nach ist er eine Vielheit. Wird er immer mehr eins, so wird er aus dem Staat ein Haus und aus dem Hause ein einzelner Mensch. Denn wir dürfen wohl sagen, daß ein Haus mehr eins ist als ein Staat, und ein einzelner Mensch noch mehr als ein Haus. Auch wenn man also diese Einheit herstellen könnte, dürfte man es nicht. Denn man würde den Staat überhaupt aufheben. Der Staat besteht außerdem nicht nur aus vielen Menschen, sondern auch aus solchen, die der Art nach verschieden sind. Aus ganz gleichen entsteht kein Staat. Denn ein Staat und eine Bundesgenossenschaft sind verschieden. Diese ist begründet in ihrer Quantität, auch wenn keine
Unterschiede in der Art vorhanden sind (...) Wo aber eine Einheit entstehen soll, da muß es Verschiedenheiten der Art geben; daher bewahrt die ausgleichende Gerechtigkeit den Staat, wie wir früher in der Ethik gesagt haben. Dies muß auch bei Freien und Gleichberechtigten gelten. Denn es können nicht alle gleichzeitig regieren, sondern jahrweise oder nach irgendeiner andern Ordnung oder Zeit. Auf diese Weise werden doch alle regieren, wie wenn etwa Schuster und Schreiner in der Arbeit abwechselten und nicht immer dieselben Schuster und Schreiner wären. Da aber im Hinblick auf die Kunst das zweite besser ist, so wird es auch im Hinblick auf die staatliche Gemeinschaft so sein; also ist es offenbar besser, wenn immer dieselben regieren, falls es möglich ist. Wo dies aber nicht möglich ist, weil alle von Natur gleich sind und dies auch gerecht ist, da müssen alle an der Regierung teilhaben, mag dies nun zweckmäßig oder unzweckmäßig sein; dies wird dargestellt dadurch, daß abwechslungsweise die Gleichberechtigten einander Platz machen und außerhalb des Amtes einander ebenbürtig sind. (...) Hieraus wird klar, daß der Staat von Natur nicht in dem Sinne Einer ist, den einige meinen, und daß das, was als das größte Gut für den Staat bezeichnet wird, den Staat vielmehr aufhebt. (Bekker 1260b ff; S. 69-71) Man muß vielmehr den Staat, der eine Vielheit ist, (...) durch Erziehung zu einer Gemeinschaft und Einheit machen. (Bekker 1263b 36 ff.; S. 76) Aus: Aristoteles, Politik, übersetzt und hg. von Olof Gigon, München 1981, Buch II, 1 und 2.
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CICERO
AUGUSTINUS
Das Gemeinwesen ist Sache des Volkes und verlangt eine differenzierte Partizipation
Bürgerschaft und Heil
Es ist also das Gemeinwesen die Sache des Volkes, ein Volk aber nicht jede irgendwie zusammengesparte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechtes und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist. Ihr erster Beweggrund aber zusammenzukommen, ist nicht so sehr die Schwäche als eine sozusagen natürliche Geselligkeit der Menschen; ist doch diese Gattung nicht einzellebend und einzelgängerisch, sondern so geartet, daß sie nicht einmal im Überfluß an allen Dingen [die Gemeinschaft entbehren kann.] (S. 131) Es scheint nämlich richtig, daß es im Gemeinwesen etwas an der Spitze Stehendes und Königliches gibt, daß anderes dem Einfluß der Ersten zugeteilt und zugewiesen ist und daß bestimmte Dinge dem Urteil und dem Willen der Menge vorbehalten sind. Diese Verfassung hat erstens eine gewisse Gleichheit aufzuweisen, die freie Männer kaum länger entbehren können, dann Festigkeit, weil jene ersten leicht in die entgegengesetzten Fehler umschlagen, derart, daß aus dem König der Herr, aus den Optimalen die Clique, aus dem Volke der wirre Haufen der Masse entsteht (...) Es liegt nämlich kein Grund zum Umschlag vor, wo ein jeder in seinem Stand fest aufgestellt ist und nichts lauert, wohin er stürzen und fallen könnte. (S. 171) Aus: Marcus Tullius Cicero, De re publica/Vom Gemeinwesen, lat.-dt., hg. und übersetzt von Karl Büchner, Stuttgart 1979, Buch I, Kap. 25 (39) und Kap. 46 (69).
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Fragt man nun uns, was der Gottesstaat zu all dem sage, und vor allem, was er über das höchste Gut und Übel für eine Meinung habe, so gibt er zur Antwort, das ewige Leben sei das höchste Gut, der ewige Tod aber das größte Übel. Um jenes zu erlangen und diesem zu entgehen; müsse man recht leben: Deswegen heißt es aus der Schrift: »Der Gerechte lebt aus dem Glauben« [Galater 3,11], Denn wir sehen unser Gut noch nicht, müssen es also glaubend suchen, können auch nicht aus eigener Kraft recht leben, wenn der nicht unserm Glauben und Gebet beisteht, der uns den Glauben einflößte, daß wir seine Hilfe nötig haben. Jene aber, die meinen, das Endziel des Guten und Bösen sei in diesem Leben zu finden, suchen das höchste Gut entweder im Leibe oder in der Seele oder in beiden. (Bd. II, S. 528 f.) So könnten wir denn sagen, unser höchstes Gut oder, wie wir es vorhin nannten, das ewige Leben sei der Friede (...) Denn auch der mystische Name der Stadt, nämlich Jerusalem, bedeutet (...) Friedensschau. Doch da man von Frieden häufig auch im Bereich des vergänglichen Daseins spricht, wo es doch kein ewiges Leben gibt, wollten wir das Endziel dieses Staates, in dem er sein höchstes Glück erblickt, lieber das ewige Leben als Frieden nennen. (Bd. II, S. 546) So besteht denn der Friede eines Körpers in dem geordneten Verhältnis seiner Teile, der Friede einer vernunftlosen Seele in der geordneten Ruhelage der Triebe, der Friede einer vernünftigen Seele in der geordneten Übereinstimmung von Denken und Handeln, der Friede zwischen Leib und Seele in dem geordneten Leben und Wohlbefinden des beseelten Wesens, der Friede zwischen dem sterblichen Menschen und Gott in dem geordneten gläubigen Gehorsam gegen das ewige Gesetz, der Friede unter Menschen in der geordneten Eintracht, der Friede des Hauses in
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der geordneten Eintracht der Hausbewohner im Befehlen und Gehorchen, der Friede des Staates in der geordneten Eintracht der Bürger im Befehlen und Gehorchen, der Friede des himmlischen Staates in der bestgeordneten, einträchtigsten Gemeinschaft des Gottesgenusses und gegenseitigen Genusses in Gott, der Friede aller Dinge in der Ruhe der Ordnung. (Bd. II, S. 552) Nun lehrt aber der göttliche Meister zwei Hauptgebote, Gottes- und Nächstenliebe, in denen der Mensch drei Gegenstände der Liebe findet, nämlich Gott, sich selbst und den Nächsten, und wer Gott liebt, geht auch in der Selbstliebe nicht irre. So ergibt sich die Folgerung, daß er auch dem Nächsten, den er lieben soll wie sich selbst, also Weib, Kindern, Hausgenossen und allen übrigen Menschen, soweit das möglich ist, zur Gottesliebe behilflich sein und die gleiche Hilfe, wenn er ihrer bedarf, sich vom Nächsten leisten lassen soll. Dann wird er, soviel an ihm liegt, mit allen Menschen Frieden haben, jenen Frieden unter Menschen, der in geordneter Eintracht besteht. Diese Ordnung aber ist, daß er zunächst einmal keinem schade, sodann aber auch nütze, wem er kann. (Bd. II, S. 556) Demnach strebt auch der irdische Staat, der nicht im Glauben lebt, nach irdischem Frieden und versteht die Eintracht der Bürger im Befehlen und Gehorchen als gleichmäßige Ausrichtung des menschlichen Willens auf die zum sterblichen Leben gehörenden Güter. Der himmlische Staat dagegen oder vielmehr der Teil desselben, der noch in dieser vergänglichen Welt auf der Pilgerfahrt sich befindet und im Glauben lebt, bedient sich notwendig auch dieses Friedens, bis das vergängliche Leben selbst, dem solcher Friede not tut, vergeht. Solange er darum im irdischen Staate gleichsam in Gefangenschaft sein Pilgerleben führt, trägt er, bereits getröstet durch die Verheißung der Erlösung und den Empfang des Unterpfandes der Geistesgabe, kein Bedenken, den Gesetzen des irdischen Staates, die all das regeln, was der Erhaltung des sterblichen Lebens dient, zu gehorchen. (...)
Während also dieser himmlische Staat auf Erden pilgert, beruft er aus allen Völkern seine Bürger und sammelt aus allen Zungen seine Pilgergemeinde. Er fragt nicht nach Unterschieden in Sitten, Gesetzen und Einrichtungen, wodurch der irdische Friede begründet oder aufrechterhalten wird, lehnt oder schafft nichts davon ab, bewahrt und befolgt es vielmehr, mag es auch in den verschiedenen Völkern verschieden sein, da alles ein und demselben Ziele irdischen Friedens dient. Nur darf es die Religion, die den einen höchsten und wahren Gott zu verehren lehrt, nicht hindern. (Bd. II, S. 561 f.) Aus: Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat (De civitate Dei), aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme, eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, München 1997, Buch XIX, Kap. 4,11,13-14,17.
Niccolö
Machiavelli
Die Politik von Gelegenheit und Notwendigkeit Es bleibt nun noch zu prüfen, von welcher Art das Verhalten eines Fürsten gegenüber seinen Untertanen und seinen Freunden sein muß. (...) Da es aber meine Absicht ist, etwas Nützliches für den zu schreiben, der es versteht, schien es mir angemessener, der Wirklichkeit der Dinge nachzugehen als den bloßen Vorstellungen über sie. Viele haben sich Republiken und Fürstentümer vorgestellt, die nie jemand gesehen oder tatsächlich gekannt hat; denn es liegt eine so große Entfernung zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, daß derjenige, welcher das, was geschieht, unbeachtet läßt zugunsten dessen, was geschehen sollte, dadurch eher seinen Untergang als seine Erhaltung betreibt; denn ein Mensch, der sich in jeder Hin-
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sieht zum Guten bekennen will, muß zugrunde gehen inmitten von so viel anderen, die nicht gut sind. Daher muß ein Fürst, wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und diese anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit [necessitä], (Kap. XV S. 119) Ich sage also, daß in gänzlich neuen Fürstentümern, in denen auch ein neuer Fürst ist, die Schwierigkeit, sie zu beherrschen, größer oder geringer ist, je nachdem ob deijenige, der sie erwirbt, mehr oder weniger tüchtig ist. Und da nun einmal das Ereignis, vom Privatmann zum Fürsten aufzusteigen, entweder Tüchtigkeit [virtü ] oder Glück [fortuna] voraussetzt, so scheint es, daß die eine wie die andere dieser beiden Gaben viele Schwierigkeiten um ein gut Teil vermindert; nichtsdestoweniger hat sich bislang deijenige besser behauptet, der sich weniger auf das Glück verlassen hat. (...) Prüft man weiter ihre Taten und ihr Leben, so sieht man, daß sie vom Glück nichts anderes erhalten hatten als die Gelegenheit [occasione]; diese bot ihnen den Stoff, in den sie die Form prägen konnten, die ihnen vorschwebte; ohne diese Gelegenheit wäre die Tüchtigkeit ihrer Gesinnung erlahmt, und ohne ihre Tüchtigkeit wäre diese Gelegenheit vergebens eingetreten. So war es notwendig, daß Moses das Volk Israel in Ägypten als Sklaven und von den Ägyptern unterdrückt antraf, damit es, um der Knechtschaft zu entkommen, sich bereit machte, ihm zu folgen. Es war erforderlich, daß Romulus nicht in Alba blieb, sondern nach seiner Geburt ausgesetzt wurde, um König von Rom und Gründer dieser Stadt zu werden. Es war nötig, daß Cyrus die Perser mit der Herrschaft der Meder unzufrieden und die Meder durch den langen Frieden schlaffund verweichlicht fand. Theseus hätte seine Tüchtigkeit nicht beweisen können, wenn er die Athener nicht verstreut wohnend vorgefunden hätte. Diesen Gelegenheiten verdankten somit jene Männer ihr Glück, und deren überragende Tüchtigkeit ließ sie die Gelegenheit erkennen; daher
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wurde ihr Vaterland durch sie berühmt und gelangte zu höchstem Glück. (Kap. VI, S. 41 ff.) Aus: Niccolo Machiavelli, II Principe/Der Fürst, italienisch-deutsch, hg. und eingeleitet von Philipp Rippel, Stuttgart 1986.
MARTIN LUTHER Die beiden Regimenter Hier müssen wir Adams Kinder und alle Menschen in zwei Teile teilen: die ersten zum Reich Gottes, die andern zum Reich der Welt. Die zum Reich Gottes gehören, das sind alle Rechtgläubigen in Christus und unter Christus. Denn Christus ist der König und Herr im Reich Gottes (...) Nun siehe, diese Leute bedürfen keines weltlichen Schwerts noch Rechts. Und wenn alle Welt rechte Christen, das ist rechte Gläubige wären, so wäre kein Fürst, König, Herr, Schwert noch Recht notwendig oder von Nutzen. Denn wozu sollts ihnen dienen? Dieweil sie den heiligen Geist im Herzen haben, der sie lehrt und macht, daß sie niemand Unrecht tun, jedermann lieben, von jedermann gerne und fröhlich Unrecht leiden, auch den Tod. (S. 13) Zum Reich der Welt oder unter das Gesetz gehören alle, die nicht Christen sind. Denn sintemal wenige glauben und der kleinere Teil sich nach christlicher Art hält, daß er dem Übel nicht widerstrebe, ja daß er nicht selbst Übel tue, hat Gott denselben außer dem christlichen Stand und Gottes Reich ein anderes Regiment verschafft und sie unter das Schwert geworfen, so daß sie, wenn sie gleich gerne wollten, ihre Bosheit doch nicht tun können, und wenn sie es tun, daß sie es doch nicht ohne Furcht, noch mit Friede und Glück tun können. [Das geschieht] ebenso wie man ein wildes, böses Tier mit Ketten und Banden fesselt, daß es nicht nach seiner Art beißen noch reißen kann, obwohl es gerne wollte,
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während ein zahmes, kirres Tier dessen doch die Rache selbst haben will, sondern auch wider nicht bedarf, sondern ohne Ketten und Bande alles natürliche Recht und Billigkeit (...) Hier dennoch unschädlich ist. (S. 14 f.) willst Du vielleicht einwenden: Ja, wie kanns Deshalb muß man diese beiden Regimente doch alles von den Tyrannen erlitten werden? Du mit Fleiß voneinander scheiden, und beides blei- gibst ihnen zuviel Raum, und ihre Bosheit wird ben lassen: eines, das fromm macht, das andere, durch solche Lehre nur stärker und größer. Soll das äußerlich Frieden schaffe und bösen Werken man denn leiden, daß jedermanns Weib und wehret. Keines ist ohne das andere genug in der Kind, Leib und Gut so in der Gefahr und SchanWelt. Denn ohne Christi geistliches Regiment de stehe? (...) Antworte ich: Lehre ich doch kann niemand vor Gott fromm werden durchs nicht dich, der du tun willst, was dich [gut] dünkt weltliche Regiment. Ebenso erstreckt sich Chris- und dir gefällt. Fahre hin nach deinem Sinn und ti Regiment nicht über alle Menschen, sondern erwürge deine Herren alle. Siehe zu, wie dirs allezeit sind der Christen am wenigsten, und sind gelingt. Ich lehre die allein, die gern recht tun sie mitten unter den Unchristen. Wo nun weltlich wollten. Solchen sage ich, daß der Obrigkeit Regiment oder Gesetz allein regiert, da muß eitel nicht mit Frevel und Aufruhr zu wehren ist wie Heuchelei sein, wenns auch gleich Gottes Gebo- die Römer und Griechen, Schweizer und Dänen te selbst wären. Denn ohne den Heiligen Geist im getan haben, sondern diese haben wahrlich Heizen wird niemand recht fromm, er tue so fei- andere Weise. ne Werke wie er kann. Wo aber das geistliche Erstens die: Wenn sie sehen, daß die ObrigRegiment allein über Land und Leute regiert, da keit ihrer eigenen Seele Seligkeit so gering achwird der Bosheit der Zaum los und aller Büberei tet, daß sie wütet und Unrecht tut; was kommt dir Raum gegeben, denn die gemeine Welt kanns denn darauf an, daß sie dir dein Gut, Leib, Weib nicht annehmen noch verstehen. (S. 16 f.) und Kind verderbt? Kann sie doch deiner Seele nicht schaden und tut sich selbst mehr Schaden als dir, weil sie ihrer eigene Seele verdammt, Aus: Martin Luther, Von weltlicher Obrigworauf dann Verderben des Leibes und Gutes keit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig auch nachfolgen muß. (...) sei, in: ders., Luther deutsch, hg. von Kurt Aland, Bd. 7, Stuttgart/Göttingen 1967, [Zum zweiten:] Wieviel feine Leute hat wohl Kaiser Maximilian sein Leben lang in Kriegen S. 9-51. verloren, weswegen man ihm doch nichts getan hat. Und wo er sie tyrannisch umgebracht hätte, wäre freilich nie Greulicheres gehört worden. Wohlan, dennoch ist er ja Ursache dafür, daß sie MARTIN LUTHER umgekommen sind, denn um seinetwillen sind Aufruhr und Widerstand sie erschlagen. Was ist nun ein Tyrann und Wüterich anders als ein gefährlicher Krieg, da es manMein Grund und Ursache ist dieses alles ist, daß chem feinen, redlichen, unschuldigen Mann Gott sagt (Rom. 12, 19): »Die Rache ist mein, gilt? Ja, ein böser Tyrann ist erträglicher als ein ich will vergelten«, ferner (Matth. 7,1): »Richtet böser Krieg, was du billigen mußt, wenn du deinicht.« (...) Nun kann das niemand leugnen: ne eigene Vernunft und Erfahrung fragst. (...) wenn die Untertanen sich gegen die Obrigkeit Zum dritten: Ist die Obrigkeit böse, wohlan, so auflehnen, da sie sich selbst rächen, sich selbst ist Gott da, der hat Feuer, Wasser, Eisen, Stein zu Richtern machen, was nicht allein gegen Got- und unzählige Weise zu töten. Wie bald hat er tes Ordnung und Gebot ist, der das Gericht und einen Tyrannen umgebracht? Er täts auch wohl,
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aber unsere Sünden leidens nicht. Denn er sagt Hiob 34,30 so: Er läßt einen Buben regieren um des Volkes Sünde willen. Gar fein können wir sehen, daß ein Bube regiert. Aber das will niemand sehen, daß er nicht um seiner Büberei willen, sondern um des Volkes Sünde willen regiert. Das Volk sieht seine eigene Sünde nicht an und meint, der Tyrann regiere um seiner Büberei willen. So verblendet, verkehrt und toll ist die Welt, darum gehts auch so, wie es den Bauern im Aufruhr ergangen ist, welche der Obrigkeit Sünde strafen wollten, gerade als wären sie selbst ganz rein und unsträflich. (S. 62 - 64) Obrigkeit ändern und Obrigkeit bessern, sind zwei Dinge, so weit von einander wie Himmel und Erde. Ändern mag leicht geschehen; bessern ist mißlich und gefahrlich. Warum? Es steht nicht in unserm Willen oder Vermögen, sondern allein in Gottes Willen und Hand. Der tolle Pöbel aber fragt nicht viel, wie es besser werde, sondern daß es nur anders werde. Wenns dann ärger wird, so will er abermals etwas anders haben. So kriegt er denn Hummeln fur Fliegen und zuletzt Hornissen für Hummeln (...) Es ist eine verzweifelte, verfluchte Sache um einen tollen Pöbel, welchen niemand so wohl regieren kann wie die Tyrannen; diese sind der Knüttel, dem Hunde an den Hals gebunden. Sollten sie aufbessere Weise zu regieren sein, würde Gott auch andere Ordnung über sie gesetzt haben als das Schwert und Tyrannen. Das Schwert zeigt wohl an, was es für Kinder unter sich habe, nämlich lauter verzweifelte Buben, wenn sie nur die Möglichkeit dazu hätten. (S. 66 f.) Aus: Martin Luther, Ob Kriegsleute auch in seligen Stande sein können, in: ders., Luther deutsch, hg. von Kurt Aland, Bd. 7, Stuttgart/Göttingen 1967, S. 52-86.
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THOMAS HOBBES Aus Furcht und durch Vertrag entsteht der Staat als Leviathan Die Menschen, die von Natur aus Freiheit und Herrschaft über andere lieben, führten die Selbstbeschränkung, unter der sie, wie wir wissen, in Staaten leben, letztlich allein mit dem Ziel und der Absicht ein, dadurch für ihre Selbsterhaltung zu sorgen und ein zufriedeneres Leben zu fuhren - das heißt, dem elenden Kriegszustand zu entkommen, der, wie im 13. Kapitel gezeigt wurde, aus den natürlichen Leidenschaften der Menschen notwendig folgt, dann nämlich, wenn es keine sichtbare Gewalt gibt, die sie im Zaume zu halten und durch Furcht vor Strafe an die Erfüllung ihrer Verträge und an die Beachtung der natürlichen Gesetze zu binden vermag, die im 14. und 15. Kapitel aufgestellt wurden. Denn die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, kurz, das Gesetz, andere so zu behandeln wie wir selbst behandelt werden wollen, sind an sich, ohne die Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlaßt, unseren natürlichen Leidenschaften entgegengesetzt, die uns zu Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht und Ähnlichem verleiten. Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten. Falls keine Zwangsgewalt errichtet worden oder diese für unsere Sicherheit nicht stark genug ist, wird und darf deshalb jedermann sich rechtmäßig zur Sicherung gegen alle anderen Menschen auf seine eigene Kraft und Geschicklichkeit verlassen - ungeachtet der natürlichen Gesetze (die jedermann dann eingehalten hat, wenn er willens ist, sie in den Fällen einzuhalten, wo er dies ungefährdet tun kann). (...) Auch der Zusammenschluß einer kleinen Anzahl von Menschen gibt ihnen diese Sicherheit nicht, denn bei kleinen Zahlen verleihen
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kleine Zunahmen auf der einen oder der anderen Seite eine so große Übermacht, daß sie genügt, zum Sieg zu führen und deshalb zu einem Angriff ermutigt. Die Menge, die zu einer verläßlichen Sicherheit ausreicht, ergibt sich nicht aus einer bestimmten Zahl, sondern aus einem Vergleich mit dem gefürchteten Feind, und sie reicht dann aus, wenn die Überzahl des Feindes nicht so offensichtlich und ausschlaggebend ist, daß von vornherein der Ausgang des Krieges feststeht und ihn deshalb zu einem Versuch ermuntert. Und eine Menge mag noch so groß sein: Wenn die Handlungen der einzelnen von ihren besonderen Urteilen und Neigungen geleitet werden, so können sie von ihnen weder Verteidigung noch Schutz gegen einen gemeinsamen Feind, noch gegen Übergriffe, die sie sich gegenseitig zufügen, erwarten. Denn da ihre Meinungen über die beste Ausnützung und Anwendung ihrer Stärke auseinandergehen, helfen sie sich nicht, sondern hindern sich gegenseitig und reduzieren ihre Stärke, indem sie sich gegenseitig bekämpfen, auf ein Nichts. Dadurch werden sie nicht nur leicht durch eine sehr kleine Zahl von Menschen, die sich einig sind, unterworfen, sondern sie führen auch ohne gemeinsamen Feind wegen ihrer Einzelinteressen gegeneinander Krieg. Denn könnten wir annehmen, eine große Menge von Menschen stimmte ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht miteinander in der Beachtung von Gerechtigkeit und allen anderen natürlichen Gesetzen überein, so könnten wir ebensogut annehmen, die ganze Menschheit verhielte sich so, und dann gäbe es überhaupt keine bürgerliche Regierung oder einen Staat, noch wären sie nötig, denn es herrsche Frieden ohne Unterwerfung. Die Sicherheit, von der die Menschen wünschen, sie möge ihr Leben lang andauern, ist auch nicht gewährleistet, wenn diese nach dem Ermessen eines einzelnen für eine begrenzte Zeit, ζ. B. in einer Schlacht oder in einem Krieg, regiert oder gelenkt werden. Denn selbst wenn
I. Kapitel
sie durch ihre einmütige Anstrengung einen Sieg über einen auswärtigen Feind erringen, so müssen sie danach doch notwendig sich wegen ihrer unterschiedlichen Interessen entzweien und wieder in einen Krieg untereinander zurückfallen, wenn sie nämlich entweder keinen gemeinsamen Feind haben oder aber jemand von der einen Partei als Feind und von der anderen als Freund angesehen wird. (...) Letztlich: Die Übereinstimmung dieser Lebewesen ist natürlich, die der Menschen beruht nur auf Vertrag, der künstlich ist. Und deshalb ist es kein Wunder, daß außer dem Vertrag noch etwas erforderlich ist, um ihre Übereinstimmung beständig und dauerhaft zu machen, nämlich eine allgemeine Gewalt, die sie im Zaum halten und ihre Handlungen auf das Gemeinwohl hinlenken soll. Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, daß sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können. Das heißt soviel wie einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen bestimmen, die deren Person verkörpern sollen, und bedeutet, daß jedermann alles als eigen anerkennt, was derjenige, der auf diese Weise seine Person verkörpert, in Dingen des allgemeinen Friedens und der allgemeinen Sicherheit tun oder veranlassen wird, und sich selbst als Autor alles dessen bekennt und dabei den eigenen Willen und das eigene Urteil seinem Willen und Urteil unterwirft. Dies ist mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung: Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Ver-
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Sammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat, auf lateinisch civitas. Dies ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken. Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm so viel Macht und Stärke zur Verfügung, die auf ihn übertragen worden sind, daß er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken. Hierin liegt das Wesen des Staates, der, um eine Definition zu geben, eine Person ist, bei der sich jeder einzelne einer großen Menge durch gegenseitigen Vertrag eines jeden mit jedem zum Autor ihrer Handlungen gemacht hat, zu dem Zweck, daß sie die Stärke und Hilfsmittel aller so, wie sie es für zweckmäßig hält, für den Frieden und die gemeinsame Verteidigung einsetzt. Wer diese Person verkörpert, wird Souverän genannt und besitzt, wie man sagt, höchste Gewalt, und jeder andere daneben ist sein Untertan. (S. 131 -135) Aus: Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und eingeleitet von Iring Fetscher, übersetzt von Walther Euchner 1966, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1989,17. Kap.
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JOHN LOCKE Die Väterliche, politische und despotische Gewalt § 170. Erstens also: Väterliche oder elterliche Gewalt [paternal or parental power] ist nichts anderes als jene Gewalt, die die Eltern über ihre Kinder haben, um zu ihrem Wohl so lange über sie zu herrschen, bis sie lernen, ihre Vernunft zu gebrauchen, und einen Grad des Wissens erreichen, daß man annehmen kann, sie seien dazu in der Lage, jene Regeln zu verstehen - sei es nun das Gesetz der Natur oder das eigene Recht ihres Landes - , nach denen sie sich selbst regieren sollen; ich meine, daß sie dazu auch in der Lage sind, sie ebensogut zu verstehen wie andere, die als freie Menschen unter diesem Gesetz leben. Die Liebe und Zärtlichkeit zu den Kindern, die Gott den Eltern ins Herz gepflanzt hat, lassen deutlich erkennen, daß es keine strenge, willkürliche Regierung sein soll, sondern daß sie vielmehr zur Hilfe, Unterweisung und Erhaltung ihrer Nachkommenschaft diene. (...) So ist die väterliche Regierung tatsächlich eine natürliche Regierung, sie ist aber in ihrem Ziel und in ihrer Gerichtsbarkeit keineswegs so weitreichend wie eine politische Regierung. Die Gewalt des Vaters erstreckt sich nicht auf das Eigentum des Kindes, das allein darüber verfügen kann. § 171. Zweitens: Politische Gewalt [political power] ist jene Gewalt, die jeder Mensch im Naturzustand hatte und die er in die Hände der Gesellschaft gegeben und innerhalb der Gesellschaft an die Regierenden, die die Gesellschaft über sich eingesetzt hat, und zwar mit jenem ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrauen [trust], daß sie zu seinem Wohl und zur Erhaltung seines Eigentums gebraucht werde. Diese Gewalt nun, die jeder Mensch im Naturzustand hat und auf die er zugunsten der Gesellschaft in all den Fällen verzichtet, wo diese ihn schützen kann, besteht darin, zur Erhaltung seines Eigentums solche Mittel zu gebrauchen, wie er sie für
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gut hält und sie ihm die Natur erlaubt. Ferner soll er den Bruch des natürlichen Gesetzes bei anderen so bestrafen, wie es (nach bestem Wissen und Gewissen) am ehesten zur Erhaltung seiner selbst und der übrigen Menschheit dienen kann. Da der Zweck und das Maß dieser Gewalt, wenn sie im Naturzustand in den Händen eines jeden liegt, die Erhaltung aller in seiner Gesellschaft ist, d.h. der ganzen Menschheit im allgemeinen, so kann sie auch, wenn sie in den Händen der Obrigkeit liegt, keinen anderen Zweck und kein anderes Maß haben, als das Leben, die Freiheit und den Besitz der Glieder jener Gesellschaft zu erhalten. Folglich kann sie auch keine absolute und willkürliche Gewalt über ihr Leben und ihr Vermögen sein, weil beides ja soweit wie möglich erhalten werden soll. Es ist vielmehr eine Gewalt, Gesetze zu geben und mit diesen Gesetzen gleichzeitig solche Strafen festzulegen, die dadurch zur Erhaltung der Gesamtheit beitragen können, indem sie diejenigen Teile, und zwar allein diese, ausschließen, die so verdorben sind, daß sie die guten und gesunden bedrohen; denn nur dann ist Strenge gerechtfertigt. Und diese Gewalt hat ihren Ursprung allein in Vertrag [compact] und Übereinkunft und in der gegenseitigen Zustimmung [mutual consent] derjenigen, die die Gemeinschaft bilden. § 171. Drittens: Despotische Gewalt ist eine absolute, willkürliche Gewalt, die ein Mensch über einen anderen hat, sein Leben zu nehmen, wann immer es ihm gefällt. Dies ist eine Gewalt, die einem weder die Natur gibt, weil sie keinen solchen Unterschied zwischen dem einen Menschen und dem anderen gemacht hat, und die man auch durch keinen Vertrag erhalten kann, weil der Mensch keine solche willkürliche Gewalt über sein eigenes Leben hat, daß er eine solche Gewalt einem anderen verleihen könnte. Sie ist vielmehr nur eine Folge der Verwirkung des eigenen Lebens für den Angreifer, wenn er sich einem anderen gegenüber in den Kriegszustand versetzt. Denn da er sich von der Vernunft abgekehrt hat, die von Gott verliehen wurde,
I. Kapitel
damit sie den Menschen untereinander als Richtschnur diene und ihr gemeinsames Band sei, das Menschengeschlecht zu einer einzigen Gemeinschaft und Gesellschaft zu vereinigen, da er weiter auf den Weg des Friedens verzichtet hat, den die Vernunft uns lehrt, und die Gewalt des Krieges gebraucht, um einem anderen seine ungerechten Absichten aufzuzwingen, wozu er kein Recht hat, und da er letztlich von seiner eigenen Art zu derjenigen des Tieres herabsinkt, weil er genau wie die Tiere die rohe Gewalt zu seiner Rechtsgrundlage erhebt, - setzt er sich selbst der Gefahr aus, von der geschädigten Person und von allen übrigen Menschen, die sich mit ihr zur Vollstreckung der Gerechtigkeit vereinigen werden, vernichtet zu werden, wie jedes andere wilde Tier oder schädliche Vieh, mit dem der Mensch weder in Gemeinschaft noch in Sicherheit leben kann. So sind Gefangene aus einem rechtmäßigen und gerechten Krieg, und nur sie, einer despotischen Gewalt unterworfen. Denn da diese Gewalt aus keinem Vertrag hervorgegangen ist, so ist sie auch keines Vertrages fähig; sie ist vielmehr der fortgesetzte Kriegszustand. Denn welcher Vertrag kann mit einem Menschen geschlossen werden, der nicht Herr seines eigenen Lebens ist? (...) Wer Herr seiner selbst und seines eigenen Lebens ist, der hat auch ein Recht auf die Mittel, es zu erhalten. Sobald daher ein Vertrag eingegangen wird, endet die Sklaverei, und wer mit einem Gefangenen Bedingungen vereinbart, legt in demselben Maße seine absolute Gewalt nieder und beendet den Kriegszustand. (S. 307-310) Aus: John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, hg. und eingeleitet von Walter Euchner, Frankfurt/M. 1977.
Das Politische: Grundmodelle des Politischen zwischen Ordnung und Konflikt
DAVID HUME Die Grenzen privater Kooperation und der Sinn der Regierung Keine Eigenschaft der menschlichen Natur erzeugt verhängnisvollere Irrungen, als diejenige, zufolge deren wir das Gegenwärtige dem Entfernteren und Späteren vorziehen und die Gegenstände mehr um ihrer Beziehung zu uns, als um ihres wahren Wertes willen wünschen. Es können wohl zwei Nachbarn sich vereinigen, eine Wiese zu [ent]wässern, die ihnen gehört. Für diese ist es leicht, sich wechselseitig zu kennen und jeder sieht unmittelbar, wenn er seinen Anteil der Arbeit ungetan läßt, so bedeutet dies die Vereitelung des ganzen Unternehmens. Dagegen ist es sehr schwer, ja unmöglich, daß tausend Personen in solcher Weise zu einer Handlung sich vereinigen. Es ist schon schwer, in einem so verwickelten Falle einen klaren und einheitlichen Plan festzustellen, noch schwerer, ihn auszuführen; jeder wird einen Vorwand suchen, um sich von der Mühe und den Kosten zu befreien und die ganze Last den anderen aufzuhalsen. Die staatliche Gesellschaft [political society] erst hilft beiden Übelständen leicht ab. Die Obrigkeiten haben ein unmittelbares Interesse an dem Vorteil der größeren Menge ihrer Untertanen. Und sie brauchen niemanden als sich selbst zu Rate zu ziehen, um einen Plan zur Förderung dieses Vorteils zu machen. Und da das Mißlingen eines Teiles der Ausführung wenn auch nicht unmittelbar - mit dem Mißlingen des Ganzen zusammenhängt, so verhüten sie dasselbe; da sie ja weder unmittelbar noch mittelbar ein Interesse haben. So werden Brücken gebaut, Häfen eröfthet, Wälle errichtet, Kanäle gezogen, Flotten ausgerüstet und Armeen geschult; überall durch die Fürsorge der Regierung, die zwar aus Menschen mit allen menschlichen Schwächen zusammengesetzt ist, aber immerhin vermöge einer der besten und feinsten menschlichen Erfindungen, die man
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ausdenken kann, ein Ganzes darstellt, das bis zu einem gewissen Grade von allen diesen Schwächen frei ist. (S. 288) David Hume, Traktat über die menschliche Natur, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Theodor Lipps (1906), Hamburg 1978, Bd. 2, Buch 3, Abschnitt »Vom Ursprung der Regierung«, S. 283 288.
IMMANUEL KANT Die gesellige Ungeselligkeit des Menschen Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen; d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften-, weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwickelung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzelnen [isolieren]; weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seinerseits zum Widerstande gegen andere geneigt ist. Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt, seinen Hang zur Faulheit zu überwinden, und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder
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Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Wert des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet, und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründimg einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Prinzipien, und so eine pathologisch-abgednmgene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganzes verwandeln kann. (...)
I. Kapitel
GEORG W . F. HEGEL Der Staat ist die Idee der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit
Im menschlichen Wissen und Wollen, als im Material, kommt das Vernünftige zu seiner Existenz. Der subjektive Wille ist betrachtet worden, wie er einen Zweck hat, welcher die Wahrheit einer Wirklichkeit ist, und zwar insofern er eine große welthistorische Leidenschaft ist. Als subjektiver Wille in beschränkten Leidenschaften ist er abhängig, und seine besonderen Zwecke findet er nur innerhalb dieser Abhängigkeit zu befriedigen. Aber der subjektive Wille hat auch Dank sei also der Natur für die Unvertrag- ein substantielles Leben, eine Wirklichkeit, in samkeit, fur die mißgünstig wetteifernde Eitel- der er sich im wesentlichen bewegt und das keit, für die nicht zu befriedigende Begierde Wesentliche selbst zum Zwecke seines Daseins zum Haben, oder auch zum Herrschen! Ohne sie hat. Dieses Wesentliche ist selbst die Vereiniwürden alle vortrefflichen Naturanlagen in der gung des subjektiven und des vernünftigen WilMenschheit ewig unentwickelt schlummern. lens: es ist das sittliche Ganze - der Staat, welDer Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß cher die Wirklichkeit ist, worin das Individuum besser, was fur seine Gattung gut ist: sie will seine Freiheit hat und genießt, aber indem es das Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt Wissen, Glauben und Wollen des Allgemeinen leben; die Natur will aber, er soll aus der Lässig- ist. Doch ist dies nicht so zu nehmen, als ob der keit und untätigen Genügsamkeit hinaus, sich in subjektive Wille des Einzelnen zu seiner AusArbeit und Mühseligkeit stürzen, um dagegen führung und seinem Genüsse durch den allgeauch Mittel auszufinden, sich klüglich wieder- meinen Willen käme und dieser ein Mittel für um aus den letztern heraus zu ziehen. (S. 37-39) ihn wäre, als ob das Subjekt neben den andern Subjekten seine Freiheit so beschränkte, daß diese gemeinsame Beschränkung, das Genieren Aus: Immanuel Kant, Ideen zu einer allgealler gegeneinander, jedem einen kleinen Platz meinen Geschichte in weltbürgerlicher ließe, worin er sich ergehen könne; vielmehr Absicht, in: ders., Theorie-Werkausgabe, sind Recht, Sittlichkeit, Staat, und nur sie, die hg. von Wilhelm Weischedel, Frankpositive Wirklichkeit und Befriedigung der Freifurt/M. 1968, Bd. XI, S. 33-50. heit. Die Freiheit, welche beschränkt wird, ist die Willkür, die sich auf das Besondere der Bedürfnisse bezieht. (...) Denn das Wahre ist die Einheit des allgemeinen und subjektiven Willens; und das Allgemeine ist im Staate in den Gesetzen, in allgemeinen und vernünftigen Bestimmungen. Der Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist. Er ist so der näher bestimmte Gegenstand der
Das Politische: Grundmodelle des Politischen zwischen Ordnung und Konflikt
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Weltgeschichte überhaupt, worin die Freiheit KARL M A R X ihre Objektivität erhält und in dem Genüsse dieser Objektivität lebt. Denn das Gesetz ist die Der vergesellschafte Mensch, die Objektivität des Geistes und der Wille in seiner Grenzen der politischen Emanzipation Wahrheit; und nur der Wille, der dem Gesetze und der Klassenkampf gehorcht, ist frei, denn er gehorcht sich selbst und ist bei sich selbst und frei. Indem der Staat, Alle Emanzipation ist Zurückfiihrung der das Vaterland, eine Gemeinsamkeit des Daseins menschlichen Welt, der Verhältnisse auf den ausmacht, indem sich der subjektive Wille des Menschen selbst. Die politische Emanzipation Menschen den Gesetzen unterwirft, verschwin- ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf det der Gegensatz von Freiheit und Notwendig- das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf keit. Notwendig ist das Vernünftige als das Sub- das egoistische unabhängige Individuum, andestantielle, und frei sind wir, indem wir es als rerseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Gesetz anerkennen und ihm als der Substanz Person. Erst wenn der wirkliche individuelle unseres eigenen Wesens folgen: der objektive Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich und der subjektive Wille sind dann ausgesöhnt zurücknimmt und als individueller Mensch in und ein und dasselbe ungetrübte Ganze. (...) seinem empirischen Leben, in seiner individuelDas ist der ewige Mißverstand der Freiheit, len Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, sie nur in formellem, subjektivem Sinne zu Gattungswesen geworden ist, erst wenn der wissen, abstrahiert von ihren wesentlichen Mensch seine »forces propres« als gesellschaftGegenständen und Zwecken; so wird die liche Kräfte erkannt und organisiert hat und Beschränkung des Triebes, der Begierde, der daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in Leidenschaft, welche nur dem partikulären Indi- der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, viduum als solchem angehörig ist, der Willkür erst dann ist die menschliche Emanzipation vollund des Beliebens fiir eine Beschränkung der bracht. (S. 370) Freiheit genommen. Vielmehr ist solche BeAus: Karl Marx, Zur Judenfrage, in: Karl schränkung schlechthin die Bedingung, aus welMarx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, cher die Befreiung hervorgeht, und Gesellschaft Berlin 1970, S. 347-377. und Staat sind die Zustände, in welchen die Freiheit vielmehr verwirklicht wird. (S. 55 -59) Wir sehen also, wie die moderne Bourgeoisie selbst das Produkt eines langen EntwicklungsAus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorprozesses, einer Reihe von Umwälzungen in der lesungen über die Philosophie der GeProduktions- und Verkehrsweise ist. schichte, in: ders., Werke, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Jede dieser Entwicklungsstufen der BourFrankfurt/M. 1970, Bd. 12. geoisie war begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt. Unterdrückter Stand unter der Herrschaft der Feudalherren, bewaffnete und sich selbst verwaltende Assoziationen in der Kommune, hier unabhängige städtische Republiken, dort dritter steuerpflichtiger Stand der Monarchie, dann zur Zeit der Manufaktur Gegengewicht gegen den Adel in der ständischen oder in der absoluten Monarchie und
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Hauptgrundlage der großen Monarchien überhaupt, erkämpfte sie sich endlich seit der Herstellung der großen Industrie und des Weltmarktes im modernen Repräsentativstaat die ausschließliche politische Herrschaft. Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet. Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt. Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. (...) Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingimg aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen früheren aus. (S. 464 f.)
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gesellschaftlichen und politischen Konstitution, mit der ökonomischen und politischen Herrschaft der Bourgeoisieklasse. (S. 467) Alle früheren Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, suchten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbes unterwarfen. (S. 472) Aus: Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: dieselben, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 459 493.
JOHN STUART MILL Repräsentative versus despotische Regierung
Es läßt sich unschwer nachweisen, daß die ideale Regierungsform jene ist, in der die Souveränität oder die höchste Kontrollfunktion in letzter Instanz bei der Gesamtheit des Volkes liegt und jeder Bürger nicht nur bei der Ausübimg dieser obersten Souveränität eine Stimme hat, sondern auch, zumindest zeitweise, zur aktiven Teilnahme am Regierungsprozeß aufgefordert ist, indem er persönlich eine öffentliche, sei sie lokaler oder übergreifender Art, übernimmt. Um diese Behauptung zu beweisen, muß sie anhand der beiden Kriterien geprüft werden, die sich im vorangehenden Kapitel bei der Untersuchung der Qualität einer Regierung angeboten haben: inwieweit sie einerseits der sinnvollen Bewältigung gesellschaftlicher Aufgaben dient, und zwar unter Ausnutzung der vorhandenen sittlichen und intellektuellen Fähigkeiten sowie der Selbsttätigkeit der einzelnen Glieder der Gesellschaft, und welchen Einfluß sie andererseits auf die positive oder negative Entwicklung dieser An ihre Stelle [der feudalen Gesellschaft] trat Fähigkeiten ausübt. Die ideale Regierungsform die freie Konkurrenz mit der ihr angemessenen - dieser Hinweis erübrigt sich eigentlich - ist
Das Politische: Grundmodelle des Politischen zwischen Ordnung und Konflikt
durchaus nicht auf sämtlichen Zivilisationsstufen praktikabel oder auch nur wünschenswert; vielmehr muß sie unter den gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen sie tatsächlich praktikabel und wünschenswert ist, eine optimale Wirkung haben und dies auch für die Zukunft erwarten lassen. Doch nur eine Volksregierung im striktesten Sinne kann dies für sich in Anspruch nehmen. Sie erfüllt in vollkommener Weise die beiden Kriterien, nach denen sich der Wert einer politischen Verfassung bestimmt: besser als jedes andere politische System es vermag, fordert sie sowohl eine jeweils bestehende gute Regierung als auch die Höherentwicklung des Charakters der Nation. Im Hinblick auf das gegenwärtige Wohl des Staatswesens beruht ihre Überlegenheit auf zwei Prinzipien von so universaler Wahrheit und Anwendbarkeit, wie nur irgendeine generelle Bestimmung menschlicher Verhältnisse sie besitzen kann: erstens, daß die individuellen Rechte und Interessen nur dann zuverlässig beachtet werden, wenn der Betreffende fähig und grundsätzlich gewohnt ist, für sie einzustehen; zweitens, daß die allgemeine Prosperität zunimmt und breiter gestreut ist, je zahlreicher und verschiedenartiger die an ihrer Erhöhung beteiligten Kräfte sind. Auf den vorliegenden spezifischen Sachverhalt bezogen, lassen sich diese beiden Behauptungen besser so formulieren: der Mensch ist vor Unrecht von Seiten anderer nur in dem Maße sicher, als er in der Lage und auch bereit ist, sich selbst zu schützen -, in seinem Kampf gegen die Natur ist er nur soweit erfolgreich, wie er sich, von anderen unabhängig, mehr auf das verläßt, was er allein oder in Gemeinschaft tun kann, als auf das, was andere für ihn tun. Die erste Feststellung - daß der einzelne selbst der beste Hüter seiner Rechte und Interessen ist - gehört zu jenen elementaren Grundsätzen der praktischen Klugheit, nach denen jeder, der zur selbständigen Durchführung seiner Angelegenheiten fähig ist, überall dort, wo seine Interessen berührt werden, ohne weiteres handelt. Als politische Doktrin aller-
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dings lehnen viele ihn ab, indem sie ihn gern als Postulat universeller Selbstsucht verurteilen. Daraufließe sich erwidern: sobald es nicht mehr zutrifft, daß die Menschen im allgemeinen sich selbst anderen, und die ihnen nahestehenden den entfernteren vorziehen, wird der Kommunismus nicht nur durchführbar, sondern die allein berechtigte Gesellschaftsform sein; ist dieser Augenblick gekommen, wird er in dieser Form gewiß realisiert. Ich selbst glaube nicht an eine allgemeine Selbstsucht und kann daher ohne weiteres einräumen, daß der Kommunismus gegenwärtig bereits bei der Elite der Menschheit durchführbar ist und es mit der Zeit auch allgemein werden kann. (S. 65 f.) Wir dürfen uns nicht wundern, wenn ungeduldige oder enttäuschte Reformer bisweilen über die Hindernisse verzweifeln, die den fortschrittlichsten Veränderungen des öffentlichen Lebens im Wege stehen, sei es durch die Unwissenheit, Gleichgültigkeit, Unlenkbarkeit oder den störrischen Eigensinn des Volkes, sei es durch den korrupten Zusammenschluß egoistischer Privatinteressen, die sich zudem noch der mächtigsten Waffen bedienen können, die ihnen die freien Institutionen in die Hand geben. Was Wunder, wenn die Reformer dann nach der starken Hand verlangen, die all diese Widerstände unterdrückt und ein sich sträubendes Volk zwingt, sich besser regieren zu lassen. Abgesehen aber von der Tatsache, daß auf einen Despoten, der dann und wann einen Mißstand beseitigt, 99 andere kommen, die nichts als Mißstände schaffen, lassen die, die sich von dieser Seite die Erfüllung ihrer Hoffnungen versprechen, das wesentlichste Element der Idee einer guten Regierung außer acht: die Entwicklung des Volkes selbst. Ein positives Kriterium der Freiheit besteht darin, daß der Herrscher nicht am Bewußtseinsstand des Volkes vorbeigehen und dessen Angelegenheiten nicht zum Besseren ändern kann, ohne es selbst zu ändern. Wenn es möglich wäre, ein Volk gegen seinen Willen gut zu regieren, würde diese gute Regierung doch
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I. Kapitel
nicht länger Bestand haben als die Freiheit eines durch fremde Waffen und ohne eigene Mitwirkung befreiten Volkes. Es ist wahr, daß ein Despot das Volk zu erziehen vermag, und dies könnte die beste Rechtfertigung seines Despotismus darstellen. Aber jede Erziehung, die aus den Menschen mehr als bloße Maschinen machen will, muß schließlich die Forderung nach Selbstbestimmung ihres Handelns in ihnen wecken. (S. 63 f.) Aus: John Stuart Mill, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, neu übersetzt von Hannelore Irle-Dietrich, hg. mit einer Einleitung von Kurt L. Shell, Paderborn 1971.
GAETANO MOSCA Politik ist Kampf um Vorrang Der berühmte Kampf ums Dasein und die aus ihm folgende natürliche Zuchtwahl, die bei Pflanzen, Tieren und menschlichen Wilden beschrieben worden ist, hat keinen Platz in menschlichen Gesellschaften, die sich auch nur ein wenig über die primitivste Stufe erhoben haben. Der Versuch eines solchen Nachweises erklärt sich aus dem außerordentlichen Erfolg der Darwinschen Hypothese auf dem Gebiet der Natur. Solch ein Erfolg brachte für systematische Geister eine starke Versuchung mit sich, die Hypothese auch auf andere Gebiete anzuwenden. Aber dieses Bestreben entspringt auch einem Mißverständnis, einer mangelnden Unterscheidung zwischen zwei Tatsachengruppen, die trotz scheinbarer Verwandtschaft völlig verschieden sind; und eine solche Verwechslung ist wiederum sehr verständlich bei Geistern, die dem Evolutionismus von vornherein stark zuneigen. Man hat mit einem Wort den Kampf ums Dasein mit dem Kampf um den Vorrang ver-
wechselt, der in der Tat eine konstante Erscheinung aller menschlichen Gesellschaften von den höchsten Kulturvölkern bis hinab zu den Wilden ist. Im Kampf zwischen verschiedenen menschlichen Gesellschaften vernichtet die siegende Gesellschaft in der Regel die besiegte Gesellschaft nicht, unterwirft und assimiliert sie vielmehr, d. h. sie zwingt ihr ihre eigene Kultur auf. (S· 35) Unter den beständigen Tatsachen und Tendenzen des Staatslebens liegt eine auf der Hand: In allen Gesellschaften, von den primitivsten im Aufgang der Zivilisation bis zu den vorgeschrittensten und mächtigsten, gibt es zwei Klassen, eine, die herrscht, und eine, die beherrscht wird. Die erste ist immer die weniger zahlreiche, sie versieht alle politischen Funktionen, monopolisiert die Macht und genießt deren Vorteile, während die zweite, zahlreichere Klasse von der ersten befehligt und geleitet wird. Diese Leitung ist mehr oder weniger gesetzlich, mehr oder weniger willkürlich oder gewaltsam und dient dazu, den Herrschenden den Lebensunterhalt und die Mittel der Staatsführung zu liefern. Im praktischen Leben anerkennen wir alle die Existenz dieser herrschenden oder »politischen« Klasse, wie ich sie in einem früheren Werk genannt habe. (S. 53) In Wirklichkeit ist die Herrschaft einer organisierten, einem einheitlichen Antrieb gehorchenden Minderheit über die unorganisierte Mehrheit unvermeidlich. Die Macht einer Minderheit ist für jedes Individuum der Mehrheit unwiderstehlich, da es sich isoliert der Gesamtheit der organisierten Minderheit gegenübersieht. Anderseits ist die Minderheit einfach darum organisiert, weil sie die Minderheit ist. Hundert Menschen, die gemeinsam nach gemeinsamen Plänen handeln, werden tausend Menschen besiegen, die nicht übereinstimmen und mit denen man darum nacheinander einzeln fertig werden kann. Und die erste Gruppe hat es leichter, in Einverständnis zu handeln, einfach darum, weil sie nur aus hundert und nicht aus
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tausend Menschen besteht. Daraus folgt, daß, je entbehrlich ist. Wären alle Aristokratien immer größer eine politische Gemeinschaft, desto klei- abgeschlossen und unbeweglich geblieben, ner die regierende Minderheit im Verhältnis zur dann hätte sich die Welt niemals geändert und regierten Mehrheit; desto schwerer ist es dann die Menschheit wäre auf dem Standpunkt der für die Mehrheit, sich zum Widerstand gegen die homerischen Monarchie oder der altorientaliMinderheit zu organisieren. Aber auch abge- schen Reiche stehengeblieben. Der Kampf zwisehen von allen Vorteilen der Organisiertheit schen denen an der Spitze und denen, die unten bestehen die herrschenden Minderheiten meis- geboren sind und nach oben wollen, war, ist und tens aus Individuen, die der Masse der Be- wird immer der Antrieb sein, der Individuen und herrschten in materieller, intellektueller, sogar Klassen zwingt, ihren Horizont zu erweitern und in moralischer Hinsicht überlegen sind, oder sie jene neuen Wege zu suchen, die die Zivilisation sind wenigstens Nachkommen von Individuen, auf den Stand des neunzehnten Jahrhunderts die solche Vorzüge besaßen. Anders ausge- geführt haben, auf jene Stufe also, auf der die drückt haben die Mitglieder der herrschenden Schaffung des modernen Repräsentativstaates Minderheit regelmäßig wirkliche oder schein- möglich wurde, der, wie oben ausgeführt, die bare Eigenschaften, die hochgeschätzt sind und größten Energien und individuellen Bestrebunin ihrer Gesellschaft großen Einfluß verleihen. gen auf ein gemeinsames Ziel zu richten ver(S. 55) mag. (S. 337) Man könnte die ganze Geschichte der Kulturmenschheit auf den Konflikt zwischen dem Aus: Gaetano Mosca, Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen WisBestreben der Herrschenden nach Monopolisiesenschaft (Elementi di Scienza Politica), rung und Vererbung der politischen Macht und nach der 4 Auflage (1947) übersetzt von dem Bestreben neuer Kräfte nach einer ÄndeFranz Borkenau, München 1950. rung der Machtverhältnisse erklären. Dieser Konflikt erzeugt eine dauernde gegenseitige Durchdringung der Oberschicht und eines Teiles der Unterschicht. Politische Klassen sinken unweigerlich herab, wenn für die Eigenschaften, M A X WEBER durch die sie zur Macht kamen, kein Platz mehr ist, wenn sie ihre frühere soziale Bedeutung für Politik ist Machtstreben die Allgemeinheit verlieren, wenn ihre Vorzüge und Leistungen in einer sozialen Umgebung an Was verstehen wir unter Politik? Der Begriff ist Bedeutung verlieren. So verfiel die römische außerordentlich weit und umfaßt jede Art selbAristokratie, als sie nicht länger ausschließlich ständig leitender Tätigkeit. Man spricht von der die höheren Offiziere, die Beamten der Repu- Devisenpolitik der Banken, von der Diskontpoblik und die Gouverneure der Provinzen stellte. litik der Reichsbank, von der Politik einer So verfiel die venezianische Aristokratie, als die Gewerkschaft in einem Streik, man kann spreNobili nicht mehr die Galeeren befehligten und chen von der Schulpolitik einer Stadt- oder nicht mehr den größten Teil ihres Lebens in See- Dorfgemeinde, von der Politik eines Vereinsvorstandes bei dessen Leitung, ja schließlich von fahrt, Handel und Krieg verbrachten. (S. 64 f.) Es läßt sich nicht leugnen, daß die demo- der Politik einer klugen Frau, die ihren Mann zu kratische Tendenz, besonders wenn sie sich in lenken trachtet. Ein derartig weiter Begriff liegt gewissen Grenzen hält, für den wirklichen oder unseren Betrachtungen vom heutigen Abend scheinbaren Fortschritt in gewissem Sinne un- natürlich nicht zugrunde. Wir wollen heute
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darunter nur verstehen: die Leitung oder die Beeinflussung der Leitung eines politischen Verbandes, heute also: eines Staates. (...) »Politik« würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt. Das entspricht im wesentlichen ja auch dem Sprachgebrauch. Wenn man von einer Frage sagt: sie sei eine »politische« Frage, von einem Minister oder Beamten: er sei ein »politischer« Beamter, von einem Entschluß: er sei »politisch« bedingt, so ist damit immer gemeint: Machtverteilungs-, Machterhaltungs- oder Machtverschiebungsinteressen sind maßgebend für die Antwort auf jene Frage oder bedingen diesen Entschluß oder bestimmen die Tätigkeitssphäre des betreffenden Beamten. - Wer Politik treibt, erstrebt Macht: Macht entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele (idealer oder egoistischer), - oder Macht »um ihrer selbst willen«: um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu genießen. (S. 505-507) Aus: Max Weber, Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 505-560.
SIGMUND FREUD Politik zwischen Kultur und Aggression [Drei Quellen unseres Leidens:] Die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers und die Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln. (S.217) Das menschliche Zusammenleben wird erst ermöglicht, wenn sich eine Mehrheit zusam-
menfindet, die stärker ist als jeder Einzelne und gegen jeden Einzelnen zusammenhält. Die Macht dieser Gemeinschaft stellt sich nun als »Recht« der Macht des Einzelnen, die als »rohe Gewalt« verurteilt wird, entgegen. Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, daß sich die Mitglieder der Gemeinschaft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschränken, während der Einzelne keine solche Schranke kannte. Die nächste kulturelle Anforderung ist also die der Gerechtigkeit, d.h. die Versicherung, daß die einmal gegebene Rechtsordnung nicht wieder zu Gunsten eines Einzelnen durchbrochen werde (...) Das Endergebnis soll ein Recht sein, zu dem alle - wenigsten alle Gemeinschaftsfahigen - durch ihre Triebopfer beigetragen haben und das keinen - wiederum mit der gleichen Ausnahme - zum Opfer der rohen Gewalt werden läßt. (S. 225 f.) Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten? Diese grausame Aggression wartet in der Regel eine Provokation ab oder stellt sich in den Dienst einer anderen Absicht, deren Ziel auch mit milderen Mitteln zu erreichen wäre. Unter ihr günstigen Umständen, wenn die seelischen Gegenkräfte, die sie sonst hemmen, weggefallen sind,
Das Politische: Grundmodelle des Politischen zwischen Ordnung und Konflikt
äußert sie sich auch spontan, enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist (...) Die Kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten. (...) Durch alle ihre Mühen hat diese Kulturbestrebung bisher nicht sehr viel erreicht. Die gröbsten Ausschreitungen der brutalen Gewalt hofft sie zu verhüten, indem sie sich selbst das Recht beilegt, an den Verbrechern Gewalt zu üben, aber die vorsichtigeren und feineren Äußerungen der menschlichen Aggression vermag das Gesetz nicht zu erfassen. (S. 240 f.) Aus: Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Kulturtheoretische Schriften, Frankfurt/M. 1986.
CARL SCHMITT Die Unterscheidung von Freund und Feind Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus. Staat ist nach dem heutigen Sprachgebrauch der politische Status eines in territorialer Geschlossenheit organisierten Volkes. Damit ist nur eine erste Umschreibung, keine Begriffsbestimmung des Staates gegeben. Eine solche ist hier, wo es sich um das Wesen des Politischen handelt, auch nicht erforderlich. Wir dürfen es dahin gestellt sein lassen, was der Staat seinem Wesen nach ist, eine Maschine oder ein Organismus, eine Person oder eine Einrichtung, eine Gesellschaft oder eine Gemeinschaft, ein Betrieb oder ein Bienenstock, oder vielleicht gar eine »Verfahrensgrundreihe«. Alle diese Definitionen und Bilder nehmen zu viel an Deutung, Sinngebung, Illustrierung und Konstruktion vorweg und können daher keinen geeigneten Ausgangspunkt für eine einfache und elementa-
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re Darlegung bilden. Staat ist seinem Wortsinn und seiner geschichtlichen Erscheinung nach ein besonders gearteter Zustand eines Volkes, und zwar der im entscheidenden Fall maßgebende Zustand und deshalb, gegenüber den vielen denkbaren individuellen und kollektiven Status, der Status schlechthin. Mehr läßt sich zunächst nicht sagen. Alle Merkmale dieser Vorstellung Status und Volk - erhalten ihren Sinn durch das weitere Merkmal des Politischen und werden unverständlich, wenn das Wesen des Politischen mißverstanden wird. (S. 20) Eine Begriffsbestimmung des Politischen kann nur durch Aufdeckung und Feststellung der spezifisch politischen Kategorien gewonnen werden. Das Politische hat nämlich seine eigenen Kriterien, die gegenüber den verschiedenen, relativ selbständigen Sachgebieten menschlichen Denkens und Handelns, insbesondere dem Moralischen, Ästhetischen, Ökonomischen in eigenartiger Weise wirksam werden. Das Politische muß deshalb in eigenen letzen Unterscheidungen liegen, auf die alles im spezifischen Sinne politische Handeln zurückgeführt werden kann. (...) Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie gibt eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteriums, nicht als erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe. (S. 26) Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen; sie kann theoretisch und praktisch bestehen, ohne daß gleichzeitig alle jene moralischen, ästhetischen, ökonomischen oder andern Unterscheidungen zur Anwendung kommen müßten. Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der ande-
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re, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines »unbeteiligten« und daher »unparteiischen« Dritten entschieden werden können. Die Möglichkeit richtigen Erkennens und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen ist hier nämlich nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen gegeben. Den extremen Konfliktsfall können nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen; namentlich kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren. (S. 27) Aus: Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963.
lichen Gemeinschaften. Es gibt kein menschliches Leben, auch nicht das Leben des Einsiedlers in der Wüste, das nicht, sofern es überhaupt etwas tut, in einer Welt lebt, die direkt oder indirekt von der Anwesenheit anderer Menschen zeugt. Alle menschlichen Tätigkeiten sind bedingt durch die Tatsache, daß Menschen zusammenleben, aber nur das Handeln ist nicht einmal vorstellbar außerhalb der Menschengesellschaft. Die Tätigkeit des Arbeitens als solche bedarf nicht der Gegenwart anderer Menschen, wiewohl ein in völliger Einsamkeit arbeitendes Wesen kaum noch ein Mensch wäre; er wäre ein Animal laborans in des Wortes wörtlichster und furchtbarster Bedeutung. Ein Wesen, das Dinge herstellt und eine nur von ihm bewohnte Welt erbaut, wäre zwar noch ein Hersteller, aber schwerlich Homo faber; es hätte seine spezifisch menschliche Eigenschaft verloren und gliche eher einem Gott - zwar nicht einem Schöpfergott, aber doch dem göttlichen Demiurg, wie ihn Plato in einem seiner Mythen beschreibt. Handeln allein ist das ausschließliche Vorrecht des Menschen; weder Tier noch Gott sind des Handelns fähig, und nur das Handeln kann als Tätigkeit überhaupt nicht zum Zuge kommen ohne die ständige Anwesenheit einer Mitwelt. (S. 27 f.)
HANNAH ARENDT Politik ist menschliches Handeln Die Vita activa, menschliches Leben, sofern es sich aufTätigsein eingelassen hat, bewegt sich in einer Menschen- und Dingwelt, aus der es sich niemals entfernt und die es nirgends transzendiert. Jede menschliche Tätigkeit spielt in einer Umgebung von Dingen und Menschen; in ihr ist sie lokalisiert und ohne sie verlöre sie jeden Sinn. Diese umgebende Welt wiederum, in die ein jeder hineingeboren ist, verdankt wesentlich dem Menschen ihre Existenz, seinem Herstellen von Dingen, seiner pflegenden Fürsorge des Bodens und der Landschaft, seinem handelnden Organisieren der politischen Bezüge in mensch-
Aus: Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967.
HANNAH ARENDT Politische Macht beruht auf Vereinbarung Wer herrscht über wen? Macht, Stärke, Kraft, Autorität, Gewalt - all diese Worte bezeichnen nur die Mittel, deren Menschen sich jeweils bedienen, um über andere zu herrschen: man kann sie synonym gebrauchen, weil sie alle die gleiche Funktion haben. Erst wenn man diese verhängnisvolle Reduktion des Politischen auf
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den Herrschaftsbereich eliminiert, werden die ursprünglichen Gegebenheiten in dem Bereich der menschlichen Angelegenheiten in der ihnen eigentümlichen Vielfalt wieder sichtbar werden. (...) Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemandem sagen, er »habe die Macht«, heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln. (S. 45) Macht gehört in der Tat zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, ja aller irgendwie organisierten Gruppen, Gewalt jedoch nicht. Gewalt ist ihrer Natur nach instrumental; wie alle Mittel und Werkzeuge bedarf sie immer eines Zwecks, der sie dirigiert und ihren Gebrauch rechtfertigt. Und das, was eines anderen bedarf, um gerechtfertigt zu werden, ist funktioneller aber nicht essentieller Art. Der Zweck des Krieges ist der Friede; aber auf die Frage: Und was ist der Zweck des Friedens? gibt es keine Antwort. Friede ist etwas Absolutes. (...) Ein solches Absolutes ist auch die Macht; sie ist, wie man zu sagen pflegt, ein Selbstzweck. (S. 52) Aus: Hannah Arendt, Macht und Gewalt, 8. Aufl., München/Zürich 1993.
H A N S J. MORGENTHAU Politischer Realismus in den internationalen Beziehungen Diese Theorie wirft die Frage nach dem Wesen aller Politik auf. Die Geschichte des neuzeitlichen politischen Denkens wird von der Ausein-
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andersetzung zweier Schulen beherrscht, deren Auffassungen vom Wesen des Menschen, der Gesellschaft und der Politik in fundamentalem Gegensatz zueinander stehen. Die eine Schule vertritt die Auffassung, daß eine vernunftgemäße und moralische politische Ordnung, aus allgemeingültigen, abstrakten Grundsätzen abgeleitet, hier und jetzt verwirklicht werden kann. Sie setzt voraus, daß die menschliche Natur dem Wesen nach gut ist und ihrer Formung keine Grenzen gesetzt sind. Mangel an Wissen und Verständnis, veraltete gesellschaftliche Einrichtungen oder die Entartung vereinzelter Individuen und Gruppen tragen Schuld daran, wenn es der gesellschaftlichen Ordnung nicht gelingt, den Maßstäben der Vernunft zu entsprechen. Erziehung, Reformen und die gelegentliche Anwendung von Gewalt sind die Mittel, auf die sie zur Behebung dieser Mißstände ihr Vertrauen setzt. Die andere Schule ist der Ansicht, daß die Welt, so unvollkommen sie vom Standpunkt der Vernunft aus sein möge, das Ergebnis von Kräften ist, die der menschlichen Natur innewohnen. Um die Welt zu verbessern, muß man mit diesen Kräften, nicht aber gegen sie arbeiten. Da diese Welt ihrem Wesen nach von entgegengesetzten Interessen und von Konflikten zwischen ihnen beherrscht wird, können moralische Grundsätze niemals vollkommen verwirklicht werden; im besten Fall kann durch einen immer nur vorübergehenden Ausgleich der Interessen, durch eine stets prekäre Beilegung von Streitigkeiten eine Annäherung an sie erreicht werden. Diese Schule sieht daher in einem System der Kontrollen und des Ausgleichs ein allgemeines Prinzip aller pluralistischen Gesellschaften. Sie beruft sich weniger auf abstrakte Grundsätze als auf historische Beispiele, und ihr Ziel ist nicht so sehr die Verwirklichung des absolut Guten - vielmehr gibt sie sich mit dem geringeren Übel zufrieden. Dieser theoretischen Auseinandersetzung mit dem menschlichen Wesen, wie es wirklich ist, und mit den geschichtlichen Abläufen, wie sie
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den Tatsachen entsprechen, verdankt die hier dargestellte Theorie den Namen »Realismus«. (S. 48 f.) Das hervorstechendste Wegzeichen, an dem sich der politische Realismus im weiten Gebiet der internationalen Politik orientieren kann, ist der im Sinne von Macht verstandene Begriff des Interesses. Dieser Begriff ist das Bindeglied zwischen der Vernunft, die sich bemüht, internationale Politik zu verstehen, und den zu bewältigenden Tatsachen. Er macht die Politik zu einem selbständigen Bereich von Handlungen und Einsichten, der von anderen Bereichen, wie etwa denen der Wirtschaft (im Sinne von Reichtum verstandenem Interesse), der Ethik, Ästhetik oder Religion abgegrenzt ist. Ohne einen solchen Begriff wäre eine Theorie der Politik auf innerstaatlichem oder internationalem Gebiet völlig undenkbar, denn eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen politischen und nichtpolitischen Tatsachen wäre nicht gegeben; es könnte nicht einmal ein beschränktes Maß systematischer Ordnung in den Bereich der Politik gebracht werden. Wir nehmen an, daß Staatsmänner im Sinne eines als Macht verstandenen Interesses denken und handeln. Das Zeugnis der Geschichte bestätigt diese Annahme. Sie erlaubt, politische Entscheidungen von Staatsmännern - der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft zurückzuverfolgen oder vorherzusehen. Wir beobachten Staatsmänner bei der Abfassung einer Note, wir belauschen ihre Gespräche mit anderen Staatsmännern; selbst ihre Gedanken können wir erraten und vorhersehen. Legen wir also den Begriff des Interesses, verstanden im Sinne von Macht, unseren Gedankengängen zugrunde, dann denken wir so wie sie und verstehen ihre Überlegungen und Handlungen als unbeteiligte Beobachter vielleicht besser als sie selbst. Der Begriff des Interesses, verstanden im Sinne von Macht, verlangt von Beobachtern gedankliche Disziplin, fuhrt eine vernunftgemä-
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ße Ordnung in den Bereich der Politik ein und ermöglicht damit theoretische Einsichten in die Politik. Auf der Seite der Handelnden bringt es vernunftgemäße Ordnung in ihr Tun und schafft somit jene erstaunliche Kontinuität, welche uns die amerikanische, die britische oder die russische Außenpolitik als verständlichen und rationalen Ablauf erscheinen läßt, der im großen und ganzen in sich stimmig, von den verschiedenen Motiven, Wünschen, intellektuellen Fähigkeiten und moralischen Qualitäten der aufeinander folgenden Staatsmänner aber unabhängig ist. Eine realistische Theorie der internationalen Politik bewahrt damit vor zwei verbreiteten Trugschlüssen: vor der übertriebenen Einschätzung bestimmter Beweggründe und ideologischer Rücksichten. (S. 50 f.) Die gleiche Beobachtung gilt für den Begriff der Macht. Sein Inhalt und die Art seiner Anwendung sind von politischen und kulturellen Gegebenheiten bestimmt. Macht kann alles umfassen, was die Beherrschung von Menschen durch Menschen bewirkt und erhält. Unter den Begriff der Macht gehören alle gesellschaftlichen Beziehungen, die diesem Ziel dienen, von der physischen Gewaltanwendung bis zu den feinsten psychologischen Bindungen, durch die ein geistiger Wille einen anderen beherrschen kann. Macht ist die Herrschaft von Menschen über Menschen, sowohl wenn sie, wie in westlichen Demokratien, von sittlichen Zielen gelenkt wird und verfassungsmäßigen Sicherungen unterliegt, als auch, wenn sie schrankenlose und barbarische Gewalt bedeutet, die ihr Gesetz nur in ihrer eigenen Stärke und ihre einzige Rechtfertigung in ihrer Vergrößerung findet. (S. 54 f.) Politischer Realismus lehnt es ab, das sittliche Streben einer bestimmten Nation mit den sittlichen Gesetzen, die die Welt beherrschen, gleichzusetzen. Ebenso wie zwischen Wahrheit und Meinung, unterscheidet er auch zwischen Wahrheit und Götzenanbetung. Alle Nationen sind versucht - und nur wenige vermochten dieser Versuchung auf die Dauer zu widerstehen - ,
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ihr eigenes Streben und Handeln in den Mantel universeller sittlicher Ziele zu hüllen. (...) Andererseits bewahrt uns gerade der Begriff des als Macht verstandenen Interesses sowohl vor diesem sittlichen Exzeß, als auch vor dieser politischen Torheit. Betrachten wir nämlich alle Nationen, einschließlich der unseren, als politische Gebilde, die ihre jeweiligen Interessen, verstanden im Sinne von Macht, verfolgen, so können wir ihnen Gerechtigkeit erweisen. Und dies in zweifacher Hinsicht: Wir können andere Nationen so wie die unsere beurteilen und sind in der Lage, eine Politik zu verfolgen, die die Interessen anderer Nationen anerkennt, gleichzeitig aber die Interessen unserer Nation schützt und fordert. Politische Mäßigung muß damit die Mäßigung des moralischen Urteils widerspiegeln. (S. 56 f.) Aus: Hans J. Morgenthau, Macht und Frieden, mit einer Einleitung von GottfriedKarl Kindermann, Gütersloh 1963.
MICHEL FOUCAULT Die politische Macht durchdringt die Gesellschaft Wenn man die Machtwirkungen mit Hilfe des Begriffs der Unterdrückung definiert, so folgt daraus eine rein juristische Konzeption eben dieser Macht; sie wird mit einem Gesetz identifiziert, das nein sagt, sie wäre vor allem eine Instanz, die Verbote ausspricht. Ich glaube, daß dies in Wirklichkeit eine völlig negative, beschränkte, zu kurz gefaßte Auffassung der Macht ist, die seltsamer Weise ein wenig von allen Seiten geteilt wurde. Wenn sie nur repressive wäre, wenn sie niemals etwas anderes tun würde als nein sagen, ja glauben Sie dann wirklich, daß man ihr gehorchen würde? Der Grund dafür, daß die Macht herrscht, daß man sie akzeptiert, liegt
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ganz einfach darin, daß sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muß sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht. Was ich in »Überwachen und Strafen« zeigen wollte, ist, wie es seit dem 17./18. Jahrhundert tatsächlich zu einer neuen Technologie der Macht gekommen ist. Nicht nur, daß die Monarchien im klassischen Zeitalter große Staatsapparate - Heer, Polizei, Fiskus - entwickelten, es entstand vor allem zu dieser Zeit etwas, was man als »neue Ökonomie der Macht« bezeichnen könnte, d.h. Verfahren, die es ermöglichten, die Machtwirkungen ständig, in ununterbrochenem Fluß, angepaßt, sozusagen »individualisiert« im gesamten sozialen Körper zirkulieren zu lassen. Diese neuen Methoden sind zugleich sehr viel wirksamer und sehr viel weniger kostspielig (ökonomisch gesehen mit geringeren Kosten verbunden, weniger ungewiß in ihrem Ergebnis, mit geringeren Möglichkeiten, zu entkommen und Widerstand zu leisten) als die bis dahin angewandten Methoden, die sich auf eine Kombination mehr oder weniger erzwungener Toleranz (vom anerkannten Privileg bis zur Dauerkriminalität) und aufwendiger Schaustellung (laut starke, diskontinuierliche Eingriffe der Macht, deren gewaltsamste Form die »exemplarische«, da einmalige Bestrafung war) gründeten. (S. 34-36) Aus: Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978.
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MICHEL FOUCAULT Ein neuer Ansatz zur Analyse von Macht Man müßte sich von vier Arten der Analyse von Macht freimachen: 1. dem theoretischen Schema der Aneigung der Macht, das heißt von der Vorstellung, daß die Macht etwas ist, was man besitzt - was einige Bestimmte besitzen - was andere nicht besitzen. (...) 2. dem Thema der Lokalisation der Macht, das heißt der Vorstellung, daß die politische Macht immer in einer bestimmten Anzahl von Elementen und im wesentlichen in den Staatsapparaten lokalisiert ist. (...) 3. dem Thema der Unterordnung. (...) 4. dem Thema, nach dem die Macht innerhalb der Ordnungen der Erkenntnis nie anderes als ideologische Wirkungen produziert. [Zu] 1) Die Formel: »Sie haben die Macht« mag politisch ihren Wert haben; zu einer historischen Analyse taugt sie nicht. Die Macht wird nicht besessen, sie wirkt in der ganzen Dicke und auf der ganzen Oberfläche des sozialen Feldes gemäß einem System von Relais, Konnexionen, Transmissionen, Distributionen etc. Die Macht wirkt durch kleinste Elemente: die Familie, die sexuellen Beziehungen, aber auch: Wohnverhältnisse, Nachbarschaft etc. So weit man auch geht im sozialen Netz, immer findet man die Macht als etwas, das »durchläuft«, das wirkt, das bewirkt. (...) Die Macht ist niemals voll und ganz auf einer Seite. So wenig es einerseits die gibt, die die Macht »haben«, gibt es andererseits die, die überhaupt keine haben. Die Beziehung zur Macht ist nicht im Schema von Passivität-Aktivität enthalten. (S. 114 f.) [Zu] 2) Die Macht läßt sich nicht als etwas beschreiben, was in den Staatsapparaten lokalisiert wäre. Vielleicht reicht es nicht einmal zu sagen, daß die Staatsapparate der Einsatz in einem inneren oder äußeren Kampf sind. Der Staatsapparat ist eine konzentrierte Form - eine Hilfsstruktur - das Instrument eines Systems
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von Mächten, die weit darüber hinausgehen, so daß praktisch gesehen weder die Kontrolle noch die Zerstörung des Staatsapparats ausreichen können, um einen bestimmten Machttypus zum Verschwinden oder zur Veränderung zu bringen. (S.115) [Zu] 3) Den Mächtesystemen eine derartige Ausdehnung zu geben, heißt sein Augenmerk auf das eigentliche Funktionieren der Macht auf sehr tiefem Niveau zu richten. In dem Moment kann man die Macht nicht mehr als Garanten einer Produktionsweise begreifen; tatsächlich ist die Macht eines der konstitutiven Elemente der Produktionsweise, sie funktioniert im Herzen der Produktionsweise. Wir haben gesehen, daß das Funktionieren der Instrumente der Beschlagnahme [sequestration] (Fabrik, Gefängnis, Sparkassen, Asyle etc.) nicht die Garantie einer Produktionsweise, sondern gerade die Konstitution der Produktionsweise war. Tatsächlich bestand das erste Ziel der Beschlagnahme in der Unterwerfung der Zeit unter die Zeit der Produktion. (S. 116) [Zu] 4) Die Macht ist nicht begriffen in der Alternative: Gewalt oder Ideologie. Tatsächlich ist jeder Punkt der Machtausübung zur gleichen Zeit ein Ort der Wissensbildung. Und umgekehrt erlaubt und sichert jedes etablierte Wissen die Ausübung einer Macht. Anders gesagt, es gibt keinen Gegensatz zwischen dem, was getan, und dem, was gesagt wird. (S. 118) Aus: Michel Foucault, Die Macht und die Norm, in: ders., Mikrophysik der Macht, Berlin 1976, S. 114-123.
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ursprünglichen bürgerlichen Vereinbarung, mag sie ausdrücklich getroffen oder in der Sitte überDie drei Wurzeln der Politik: Politologik, kommen sein. Der dämonologische Friede (...) Dämonologik, Eschatologik wird ein imperialer oder zum wenigsten hegemonialer Friede sein, ein Friede durch ÜberVon der Frage nach der Bedeutung der Wörter, macht, der durch präsente Gewalt aufrechterhaldie von »polis« hergeleitet sind, war diese Unter- ten wird. Der eschatologische Friede schließlich suchung ausgegangen, von der Wahrnehmung, ist ein Zustand der Widerspruchslosigkeit, der daß der »Politik« eine verwirrende Vielfalt von Konfliktlosigkeit, worin der Antagonismus der Bedeutungen beigelegt wird, und von dem Interessen aufgehoben ist deswegen, weil die Bedürfnis nach Klärung. Eine gewisse Ordnung Interessen selbst in der Großen Veränderung hat sich inzwischen wohl hergestellt. Wir sehen untergegangen oder aber gänzlich einhellig drei unterscheidbare Bedeutungskomplexe: Poli- geworden sind. Es sind also dreierlei Frieden: tik als das staatliche, öffentliche, gemeinsame, der Friede durch Regelung des Streits, der Frieals bürgerliche Verfassung, als geordneter Zu- de durch Unterdrückung des Streits und der Friestand; Politik als subjektiver Kalkül, als kluge de durch Erlösung vom Streit. (S. 387) Ausübung von Führung und Herrschaft, als Der wahre Begriff von Politik ist der Begriff schlaue Planung der Mittel zum vorteilhaften der guten Politik. Welcher der drei Begriffe, die Zweck des Handelns; Politik als Vorgang der sich uns präsentiert haben, diesem Erfordernis gesellschaftlichen Veränderung und als diejeni- entspricht, ist längst entschieden. Das politisch ge Art Tätigkeit, welche diesen Vorgang auslöst, Gute kann nur dasjenige sein, welches den Menfordert und antreibt. Wer auf handliche Ver- schen möglich und welches den Menschen einfachung Wert legt, der mag also die institutio- zuträglich ist. Menschenmöglich ist zwar auch nelle, die intentionale und die prozessuale Be- das Un-menschliche, ja das Teuflische, das deutungsgruppe unterscheiden. (...) Die drei haben wir erfahren und wir tun gut daran, fortan Gruppen von Wortbedeutungen haben sich im mit den inhumanen Möglichkeiten der HumaniFortgang der Untersuchung in drei Begriffen tät zu rechnen, in der geschehenden Geschichte von »Politik« gleichsam zusammengezogen, die wie in der philosophischen Theorie. Doch sind drei Begriffe stellten sich, ausgearbeitet, in drei diese Möglichkeiten den Menschen gewiß nicht exemplarischen Theorien großer Autoren dar zuträglich. Zuträglich scheint ihnen indessen die (...) Die Namen des Aristoteles, des Machiavel- Aufhebung der Konflikte, die Abschaffung des li und des Augustinus bezeichnen also nicht Streites zwischen Mächten, Interessen und Dokallein drei klassische Theorien, worin jeweils trinen, die Befreiung vom »gesellschaftlichen einer jener drei Begriffe sich maßgeblich ausge- Antagonismus«, der absolute Friede. Von ihm prägt findet, sondern zugleich drei Phänomene, aber müssen wir bekennen, daß er den Mendrei Erfahrungsbereiche. Das ist es, was der Titel schen nicht möglich ist. (...) Weder die dämonodieses Buches ausdrücken möchte: sie bezeich- logische noch die eschatologische Politik in nen auch »drei Wurzeln« deijenigen »Politik«, irgendeiner ihrer Spielarten will die Menschenin die wir selbst handelnd und leidend verstrickt gleichhit anerkennen, die eine, weil sie den oder sind. (S. 383 f.) die Herrschenden von ihr ausnehmen, die andeEs ist dreierlei Politik, und es ist auch dreier- re, weil sie die Guten und die Bösen auseinanlei Frieden. Der politologische Friede ist der derhalten und unterschiedlich behandeln will. Friede der Verfassung, des gemeinsamen Le- Einzig die Politologik ist imstande, unsere phibens in den Institutionen, er beruht auf einer losophische Voraussetzung zu akzeptieren, Dolf
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indem sie nämlich die Menschen in Bürger zu verwandeln vermag oder als Bürger aufzufassen verlangt und das heißt als Gleiche. Das ist einer der Gründe, weswegen bürgerliche Politik den Menschen ebenso möglich wie zuträglich, weswegen sie also gute Politik ist. (S. 440 f.) Aus: Dolf Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, in: ders., Schriften, Bd. II, 1. Teil, Frankfurt/M. 1978.
JÜRGEN HABERMAS Volkssouveränität bedarf politischer Kommunikation Die Institutionen der öffentlichen Freiheit stehen auf dem schwankenden Boden der politischen Kommunikation derer, die sie, indem sie sie nutzen, zugleich interpretieren und verteidigen. Dieser Modus einer selbstbezüglichen Reproduktion der Öffentlichkeit verrät den Ort, an dem sich die Erwartung einer souveränen Selbstorganisation der Gesellschaft zurückgezogen hat. Die Idee der Volkssouveränität wird damit entsubstantialisiert. Zu konkretistisch ist selbst die Vorstellung, daß ein Netz von Assoziationen den Platz des verabschiedeten Volkskörpers - sozusagen als vakanten Sitz der Souveränität - einnehmen könnte. Die vollends zerstreute Souveränität verkörpert sich nicht einmal in den Köpfen assoziierter Mitglieder, sondern - wenn von Verkörperung überhaupt noch die Rede sein kann - in jenen subjektlosen Kommunikationsformen, die den Fluß der diskursiven Meinungs- und Willensbildung so regulieren, daß ihre falliblen Ergebnisse die Vermutung praktischer Vernunft für sich haben. Eine subjektlose und anonym gewordene, intersubjektivistisch aufgelöste Volkssouveränität zieht sich in die demokratischen Verfahren und in die anspruchsvollen kommunikativen
Voraussetzungen ihrer Implementierung zurück. Sie sublimiert sich zu jenen schwer greifbaren Interaktionen zwischen einer rechtsstaatlich institutionalisierten Willensbildung und kulturell mobilisierten Öffentlichkeiten. Die kommunikativ verflüssigte Souveränität bringt sich in der Macht öffentlicher Diskurse zur Geltung, die autonomen Öffentlichkeiten entspringt, aber in den Beschlüssen demokratisch verfaßter Institutionen der Meinungs- und Willensbildung Gestalt annehmen muß, weil die Verantwortung fur praktisch folgenreiche Beschlüsse eine klare institutionelle Zurechnung verlangt. Kommunikative Macht wird ausgeübt im Modus der Belagerung. Sie wirkt auf die Prämissen der Urteils- und Entscheidungsprozesse des politischen Systems ohne Eroberungsabsicht ein, um in der einzigen Sprache, die die belagerte Festung versteht, ihre Imperative zur Geltung zu bringen: sie bewirtschaftet den Pool von Gründen, mit denen die administrative Macht zwar instrumenteil umgehen kann, ohne sie aber, rechtsformig verfaßt wie sie ist, ignorieren zu können. Freilich wird auch eine derart prozeduralisierte »Volkssouveränität« nicht ohne die Rückendeckung einer entgegenkommenden politischen Kultur, nicht ohne jene durch Tradition und Sozialisation vermittelten Gesinnungen einer an politische Freiheit gewöhnten Bevölkerung operieren können: keine vernünftige politische Willensbildung ohne das Entgegenkommen einer rationalisierten Lebenswelt. (S. 625-627) Aus: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992.
Literatur zum I. Kapitel Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967; 6. Aufl., München/ Zürich 1989. Beck, Ulrich, Die Erfindung des Politischen. Zu
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einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt/M. 1993. Beyme, Klaus von, Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Von der Moderne zur Postmoderne, Frankfurt/M. 1991. Brunner, Otto, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, 1. Aufl., Brünn/München/Wien 1939. Gerhardt, Volker, Hg., Der Begriff der Politik, Stuttgart 1990. Hennis, Wilhelm, Politik als praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied am Rhein/ Berlin 1963. Hofmann, Hasso, Feindschaft - Grundbegriff des Politischen?, in: ders., Recht - Politik Verfassung. Studien zur Geschichte der politischen Philosophie, Frankfurt/M. 1986, S.212-241.
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Palonen, Kari, Politik als Handlungsbegriff Horizontwandel des Politikbegriffs in Deutschland 1890-1933, Helsinki 1985. Rohe, Karl, Politik. Begriffe und Wirklichkeiten, 2. Aufl., Stuttgart 1994. Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963. Sellin, Volker, Art. »Politik«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 789874. Sternberger, Dolf, Das Wort Politik und der Begriff des Politischen, Trierer Universitätsreden 1982. Weintraub, Jeff/Kumar, Krishan, ed., Public and Private in Thought and Practice. Perspectives on a Grand Dichotomy, Chicago 1997.
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II. Politisches Agieren und Akteure der Politik Das I. Kapitel zum Wesen des Politischen hat gezeigt, wie stark Vorannahmen über die Akteursstruktur in die Gesamtbestimmung des Politischen einfließen. In den anthropologischen Grundannahmen sind der Begriff des Politischen und die Theorie politischen Handelns miteinander verknüpft. Augustinus zeichnet den Menschen als Gottsuchenden, der bereit sein kann, um der ewigen Gerechtigkeit willen die hiesige Welt mit anderen Augen zu betrachten, ebenso Luther. Hobbes modelliert den Menschen als Fürchtenden, aber nicht mehr den Gottesfurchtigen, sondern den in innerweltlicher Form um sein nacktes Leben Fürchtenden. Leben und Glück lassen sich nur stabilisieren, wenn man freiwillig auf die völlige Freiheit verzichtet zu Gunsten einer von den Menschen errichteten, staatlichen Macht, auf die sie keinen Einfluss nehmen. Sigmund Freud malt das Bild des aggressiven Menschen, der aus der Triebstruktur seines Wesens heraus zu bestimmten politischen Verhaltensweisen neigt. Diese Annahmen sind von so fundamentaler Art, dass sie nicht nur die Akteursstruktur prägen, sondern alle weiteren politischen Grundfragen bestimmen. In dem Abschnitt zum politischen Akteur geht es um die politischen Handlungen als solche und die unterschiedlichen Akteursgruppen, die man voneinander unterscheiden kann. Als Teil der Sozialwissenschaften hat es die Politikwissenschaft mit individuellem Verhalten zu tun. Staat oder Gesellschaft werden nicht selbst tätig, sie erlangen soziale Existenz, weil Menschen sich so verhalten, als würden diese Gebilde selbständig existieren. Denkt man sich den modernen Staat ohne alle Menschen, so würde er nichts sein als eine leere Hülle. Menschen ohne Staat aber wären durch ihre Fähigkeit zu koordinierter Kooperation im Stande, einen neuen Staat zu errichten. Das Verhalten in Bezug auf politische Gebilde kann aus einem passiven Dulden oder Gewährenlassen bestehen, es kann ein aktives Unterstützen, ein planvolles Unterfangen sein. Der Gehorsam gegenüber staatlichen Befehlen, die Akklamation politischer Ideen, die Bereitschaft zur gezielten Gewaltanwendung, der Eingriff in tradierte Sozialverhältnisse bei der Neuverteilung des Eigentums und die Neuordnung politischer Macht in der Revolution lassen erkennen, wie vielfaltig das Verhalten sein kann, das politische Relevanz hat. Ressourcen werden konzentriert, um Handlungsmächtigkeit zu erzeugen, Handlungsweisen werden aufeinander abgestimmt und dadurch in ihren Ergebnissen intensiviert. Bestimmte Handlungsweisen werden privilegiert, andere diskriminiert. Politisches Handeln kommt in diesem II. Kapitel in doppelter Hinsicht zur Sprache: in seinen unterschiedlichen Formen und in den unterschiedlichen Typen von Handelnden. Zum Kernbestand der Politik zählt seit jeher die Steuerung von ganzen sozialen Systemen, von Staaten, von Menschen. Das kann ausdrücklich eine Weise der »Beherrschung« sein oder aber subtiler in den Bahnen der Disziplinierung bzw. der Regulierung verlaufen: Im
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II. Kapitel
einen Fall wird das menschliche Verhalten unmittelbar dirigiert und so die Beherrschung dieser Menschen erleichtert, im anderen Fall wird durch die Festlegung von Normen und Verhaltensstandards ein mittelbarer Effekt erzielt. Zur Schaffung von Ordnung kann man sich subtiler Mittel wie des Regierens, Steuerns und Kontrollierens bedienen, die oft von den Adressaten dieser Politik nicht mehr als Herrschaftsmittel erkannt werden und so unhinterftagt bleiben. Gelingt es, das Verhalten ganzer Populationen zu steuern, indem man die Alltagsnormen ihres Handelns definiert: den Wert der Arbeit, die Länge der Wegstrecke, den Tauschwert des Geldes oder den Inhalt des Wissens von der Lüge abgrenzt, das Gute vom Bösen unterscheidet, bedarf es nicht unbedingt äußerlicher Gewaltmittel, um die Konformität des Handelns zu erzeugen, die Herrschaftsformen stabilisiert. Der 1. Abschnitt: Herrschen, Disziplinieren und Regulieren zeigt, dass Standards nicht einfach nur intendierte Resultate gezielten Herrschaftshandelns sind. Sie können auch das Ergebnis sozialer und ethischer Hintergrundmilieus sein bzw. das Ergebnis eines Diskurses über Normen. Aus dem I. Kapitel zum Politischen ist der Beitrag Foucaults zur Diskussion des Politischen unmittelbar einschlägig. Politische Macht wird nicht nur mit Blick auf die (vermeintlich) persönlich Mächtigen sichtbar, sondern auch aus der Sicht deijenigen, über die sie ausgeübt wird. Die Vielfalt möglicher Verhaltensweisen bringt unterschiedliche Konstellationen und Situationen hervor, in denen typischerweise bestimmte Akteursgruppen hervortreten. Politisches Handeln verfolgt dabei verschiedene Ziele und verwendet hierzu unterschiedliche Mittel. Die Ziele und die Art und Weise des Handelns vermitteln sich durch die politischen Normen, die zu verwirklichen man sich verpflichtet fühlt bzw. als Rechtfertigung des Tuns herbeizitiert. Aber das Wesen des politischen Handelns lässt sich häufig nicht mit abstrakten Normen allein erfassen. Die Mittel entfalten ihre Eigengesetzlichkeit und können auf Grund ihrer Intensität ihrerseits das Handeln der sie Gebrauchenden bestimmen. Zum traditionellen Kernbestand politischer Phänomene zählen alle Formen des politisch intendierten Gewaltgebrauchs, so in der Gewalt zwischen politischen Ordnungen und der in ihrem Namen tätigen Akteure, dem Krieg zwischen Staaten, so auch bei dem Gebrauch von Gewaltmitteln zur Überwindung politischer Ordnungen von innen heraus, der Revolution. Bereits die Normierung setzt oft genug die zuvor stattgefundene Zerbrechung bislang geltender Normenordnungen voraus. Die Französische Revolution zerbrach mit blutigsten Gewaltmitteln die Geltung der alten Ordnung und erfand das Meter als vernünftiges Maß, das an Stelle historisch überlieferter Maßeinheiten gesetzt wurde. Mit kriegerischen Mitteln zwingen Akteure ganzen Bevölkerungen die Geltung ihrer Normen auf. Gewalt will häufig bestehende Ordnungen schützen, und zwar vor Angriffen von außen und von innen. Als polizeiliche Gewalt will sie die bestehende politische Ordnimg erhalten, und zwar sowohl gegenüber Kriminellen, die aus privaten Motiven Normen übertreten, als auch gegenüber den aus politischen Gründen zu Gewaltmitteln greifenden Gegnern der politischen Ordnung selbst.
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Das Monopol der physischen Gewaltmittel gehört daher zu den beständigsten Definitionsmerkmalen des modernen Staates. Krieg und Frieden werden im 2. Abschnitt behandelt als die beiden vielleicht herausragenden, jedenfalls spektakulärsten Handlungsweisen, ist hier doch der Mensch in seiner physischen Existenz betroffen. Der Krieg will die politische Ordnung vor einem äußeren Gegner schützen. Er gehört zu den ältesten politischen Handlungsformen. Die Annahme, dass der Krieg zu den erwartbaren und unausweichlichen Handlungsformen zählt, gibt ihm zugleich die Funktion, eine der ältesten Rechtfertigungsstrategien für die Errichtung und Erhaltung konzentrierter politischer Gewaltmittel zu sein. Neben den atavistischen Quellen kriegerischer Auseinandersetzung erweist sich der Krieg aber auch als evolutionärer Motor und wurde darin durchaus gefeiert. Den Krieg erfolgreich bewältigen zu können, ist Ansporn der Strukturierung der politischen Ordnung, oft genug auch zu ihrer Modernisierung. Dazu zählen schließlich auch friedliche Mittel der Effizienzsteigerung, der Ressourcenverwertung, die aber oft nur eine andere Form des Kräftemessens zwischen politischen Systemen darstellen, weshalb in diesem Bereich auch heute noch rasch militante Metaphern wie »Wirtschaftskrieg« oder »Handelskrieg« zur Hand sind. Umgekehrt dient im 3. Abschnitt: Revolution und Rebellion die Gewalt der Durchsetzung einer neuen Ordnungsvorstellung. Die Gewalt kann eingesetzt werden, um das verletzte Recht wieder gerade zu rücken, um zurückzukehren in den alten Zustand des Rechts und der Gerechtigkeit. Hierzu bedarf es der willentlichen Anstrengung von Akteuren, die sich der Revolution verschreiben. Die Theoretiker, oft genug selbst praktisch in revolutionäre Handlungen verstrickt oder ihre Augenzeugen, realisierten, dass mit dem Ausdruck »Revolution« ganze Bündel an zusammenwirkenden Handlungsweisen angesprochen sind. So etwa die Beobachtung, dass es zu vergleichbaren Verhaltensweisen ganzer Bevölkerungsgruppen ohne Absprache untereinander und an verschiedenen Orten gleichzeitig kommt. Der Begriff der Klasse zur Bezeichnung solcher Gruppen findet seine Geburtsstätte in der Revolutionstheorie. Die Akteure selbst haben ein Interesse am tieferen Verständnis dieser Vorgänge. Ihr Scheitern erzwingt eine Ursachenforschung, die über die Intentionen der Handelnden hinausreichen muss. Die Grenzen intendierten revolutionären Handelns verweisen auf mächtigere revolutionäre Mittel wie etwa anonym wirkende Mächte gesellschaftlicher und historischer Art. Die Berücksichtigung solcher anonymen Mächte dient zugleich der Rechtfertigung der im Zuge revolutionärer Handlungen auftretenden ethischen Probleme der Akteure. Führt man nur überpersönlich wirkende Gesetze der Geschichte aus, ist man moralisch exkulpiert. Bestimmte politische Handlungsformen bringen bestimmte politische Akteure hervor. Bereits die Abschnitte zur Steuerung, besonders aber zum Krieg und zur Revolution zeigen, inwieweit die dabei dargestellten Handlungsformen durch die Charakterisierung der entsprechenden Personen, die solche Handlungen ausführen, gekennzeichnet sind. Mit der Hervorhebung einzelner Akteurstypen, wie dem Kriegsmann, dem Feldherr, dem Solda-
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ten, dem Berufsrevolutionär, den Aufständischen, wird die Vielfalt individueller Hintergründe und Motive strukturiert und analysiert. Darüber hinaus lassen sich generelle Aussagen über politische Akteure machen. Angefangen mit den individuellen Akteuren, die auf Grund ihrer persönlichen, regelmäßig herausragenden Merkmale zur Wirkung in der Politik prädestiniert sind, beispielsweise dem »Staatsmann«, kommt es rasch zu Überlegungen, inwiefern Gruppen von Akteuren erkennbar sind, die ihrerseits ganze Handlungsräume entstehen lassen bzw. in solchen tätig sind. Die Analyse dieser Handlungsräume ist deshalb aufschlussreicher als der biographische Ansatz, politisches Handeln über die ständige Berücksichtigung der individuellen Merkmale zu erklären. Die hierbei in den Unterabschnitten thematisierten Handlungsräume »bürgerliche Gesellschaft«, »Nation« und »Eliten und Massen« sind immer auch Gegenstand soziologischer Untersuchungen gewesen. Ökonomie oder Kulturwissenschaften und selbst die Philosophie betrachten sie als Hintergrund ihrer Beweisführungen. Zum Gegenstand politikwissenschaftlicher Untersuchung und als Thema politischer Theoriebildung werden sie hauptsächlich dadurch, dass das Verständnis dieser Begriffe einen vertieften Einblick verschafft in politisches Handeln. Dies geht so weit, dass solchen Kollektivbegriffen wie »bürgerliche Gesellschaft« oder »Nation«, »Staat« (vgl. III. Kapitel: Politische Institutionen), oder anonymen Referenzen wie der »Öffentlichkeit« (vgl. III. Kapitel: Politische Institutionen, 3. Abschnitt: Die Demokratie und ihre Gefährdungen) geradezu der Status einer Person zugesprochen wird: Die Nation beispielsweise wird aufgefasst, als werde sie selber tätig, als sei sie verantwortlich für politisches Geschehen und deren Folgen, und ist häufig Referenz für das Selbstverständnis individuellen Handelns. Die Komplexität politischer Zusammenhänge und Handlungsabläufe ist so groß, dass der Rekurs auf kollektive Größen unvermeidlich erscheint.
1. Herrschen, Disziplinieren und Regulieren MATTHIAS BOHLENDER
Einleitung und Problemstellung Warum, auf welche Weise und zu welchem Zweck müssen die Menschen regiert, geführt oder beherrscht werden? Betrachtet man nur einige wenige Texte der politischen Theorieund Ideengeschichte, so wird man immer wieder auf die Problematisierung und Beantwortung dieser zentralen Fragestellung stoßen. Doch zugleich gibt es eine ganze Reihe von Unterschieden und Variationen bezüglich der Fragestellung selbst, wie auch ihrer Beantwortung: Unmündige, Frauen und Knechte - so kann man in den klassischen Vertragstheorien des 17. Jahrhunderts lesen - müssen anders regiert und geführt werden als selbstständige männliche Erwachsene. Waren die einen dem vernünftigen Regiment des Hausvaters unterworfen, so unterstanden die anderen dem rational oder konsensual erzeugten Souve-
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rän und dessen allgemeinen Gesetzen. Arbeiter in einer Manufaktur, Soldaten in einer Armee, Häftlinge einer Strafanstalt oder Kinder in einer Schule sollten dagegen - wenn man den politischen Schriften des 18. Jahrhunderts glauben darf - verfleißigt, zugerichtet, reformiert oder schlicht eingeübt und erzogen werden. Innerhalb dieser spezifischen Institutionen regierte daher nicht so sehr das allgemeine Gesetz oder die Souveränität, sondern die detaillierten Arrangements, die konkreten Techniken lind institutionellen Vorrichtungen - kurz: all das, was von den Autoren selbst als Disziplin bezeichnet wurde. Gegen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts kommt eine weitere Neuerung in der Reflexion und Problematisierung des Regierungsverhältnisses hinzu, nämlich die Frage nach der Lenkung und Regulierung einer Bevölkerung, einer Gesellschaft oder einer nationalen Ökonomie, die - wie man über erste soziologische, statistische und ökonomische Analysen feststellt - ihren eigenen natürlichen Regel- und Gesetzmäßigkeiten folgen, unabhängig von der künstlichen Rationalität menschlicher Gesetze und Einrichtungen. Mit den Begriffen »Souveränität«, »Disziplin« und »Regulation« sollen demnach in dieser Textauswahl differente, aber nicht unbedingt divergierende Weisen der Problematisierung und Thematisierung des Verhältnisses von Regierenden und Regierten bezeichnet werden. Dabei ist - wie schon angedeutet - dieses Verhältnis weiter gefasst, als dies bisweilen in der politischen Theorie verstanden wird. Es schließt nicht nur ein juridisch-politisches Verständnis von Regierung (staatlicher Administration) ein, sondern umfasst auch die Reflexion auf nicht- bzw. sub-staatliche Führungs- und Lenkungspraktiken, die auf einzelne Individuen (Geist, Seele, Körper) wie auf sozioökonomische Aggregate und Prozesse (Bevölkerung, Märkte, Klassen) ausgerichtet sind. Wenn hier von drei differenten Weisen oder genauer: Rationalitäten des Regierungsdenkens (Gouvernementalitäten) ausgegangen wird, um die Textauswahl zu strukturieren, so macht sich dies auch an der politischen Sprache oder der Artikulation des Regierungsverhältnisses fest. Der politisch-philosophische Diskurs der Souveränität wird zumindest seit dem 17. Jahrhundert das Verhältnis des Herrschers, des Fürsten oder Monarchen zu seinen Untertanen, Subjekten oder Bürgern als ein juridisches begreifen und die Sprache des Rechts, der gesetzlichen Gewalt und der legislativen Bindungen wie Auflösungen sprechen. Der institutionell-technologische Diskurs der Disziplin hingegen hat seinen politischen Ort in den konkreten Einrichtungen und Anstalten der Leitung, Führung und Überwachung von Individuen; dementsprechend wird man hier auf den ausführlichen Gebrauch einer Sprache der Gewohnheit, der habituellen Einübimg und der reflexionslosen Routine treffen. Wiederum anders scheint jener mit dem Aufstieg der politischen Ökonomie zur Wissenschaft verbundene sozioökonomische Diskurs der Regulation das Regierungsverhältnis zu fassen; mit der Ausrichtung des zu regierenden Objekts auf eine ganze Bevölkerung, eine Marktgesellschaft, eine prozessuale Gesamtheit der Produktion und Verteilung von Waren-, Informations- und Menschenströmen wird hier eine Sprache des Gleichgewichts, der Schwankungen und der ausbalancierenden Steuerung dominant.
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Es wäre jedoch voreilig, diese drei unterschiedlichen Artikulationsweisen in ihrer strikten Reinheit bei den Autoren und ihren Texten ausfindig zu machen. Vielmehr ist es so, dass die Sprachen und Rationalitäten sich kreuzen und überschneiden, so dass etwa Hobbes, Locke und Rousseau nicht nur als klassische Souveränitätstheoretiker erscheinen, sondern sie ebenso mit der Sprache der Gewohnheit und den disziplinären Einübungspraktiken ihrer Zeit vertraut waren. Der Wechsel der Register wird bei diesen Autoren nicht selten anhand der methodischen Unterscheidung zwischen einer »Wissenschaft« oder »Lehre« von der Regierung, der Politik und vom Staat einerseits und einer »Kunst« des Regierens und der Regierung andererseits festgemacht. Im einen Fall geht es um Ursprung und Legitimation der souveränen Macht, im anderen dagegen um die konkrete Praxis der Ausübung dieser Macht. Ein Wechsel der Register lässt sich aber auch in den ausgewählten Textstellen von Marx zeigen. In seiner historischen Analyse des Arbeitsprozesses in Manufaktur und Fabrik bedient er sich explizit der Sprache der Disziplin und weist in seiner Metaphorik des »Arbeiterheers« und der »industriellen Reservearmee« auf den genuine Zusammenhang von militärischer Disziplinierung und Fabrikdisziplin hin, den später Max Weber aufgreifen und auf den staatlichen Beamten- und Parteiapparat ausweiten wird. In der Analyse des gesamten kapitalistischen Produktionsprozesses dagegen verwendet Marx die sozioökonomische Sprache der Regulierung (Wertgesetz), der Schwankungen (Krisen) und des Gleichgewichts. »Souveränität«, »Disziplin« und »Regulation« als Rationalitäten und Artikulationsweisen des Regierungsdenkens sind noch unter einem weiteren Aspekt zu betrachten: nämlich dem ihrer eigenen Historizität und Transformation. Die Textauswahl wurde ganz bewusst auf den Zeitrahmen zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert einerseits und dem europäischen bzw. anglo-amerikanischen Sprachraum andererseits eingegrenzt. Innerhalb eines solchen ausgedehnten Zeitraumes kam es bezüglich der Problematisierungen des Regierungsverhältnisses zu massiven gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Veränderungen, Verschiebungen und Neuausrichtungen, die sich sowohl in den jeweils diflferenten Sprachen und Rationalitäten als auch auf das Verhältnis zwischen ihnen niederschlugen. Auf drei dieser epochalen Veränderungen möchte ich hier abschließend hinweisen: 1. Von der Fürsten-Souveränität zur demokratischen Volkssouveränität Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein wird die Sprache des Rechts und der Souveränität an die Person des Fürsten, des Monarchen oder des Herrschers geknüpft. Die Person des Fürsten kann zwar nicht unmittelbar mit »Souveränität« gleichgesetzt werden, jedoch ist er legitimerweise deqenige, der in letzter Instanz in der Sprache der Gesetze die Herrschaft ausübt. Vom antiken Tyrannen unterscheidet er sich durch die Gesetzesformigkeit seiner Regierungsweise, und von der mittelalterlichen Konstruktion eines »Ersten unter Gleichen« unterscheidet er sich durch die Unabhängigkeit seiner Handlungsweise von den selbst erlassenen gesetzlichen Bindungen (legibus solutus). Im letzten Drittel des 18. Jahr-
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hunderte und dann mit der Französischen Revolution tritt an die Stelle des Fürsten ein neues, kollektives Subjekt der legitimen Ausübung souveräner Macht: das Volk, die Nation, die Bürgerschaft. Die Sprache des Rechts wird demokratisiert, das heißt die Gesetzgebung und die souveräne Ausübung der Herrschaft wird letztendlich zurückgeführt auf den »Willen des Volkes«. Von nun an wird sich die Sprache des Rechts - insbesondere in Deutschland - mit den Problemen konstitutionelle Monarchie und Demokratie, Gesetzesstaat und Souveränität sowie mit der Frage nach dem Verhältnis von Rechtsstaat, Demokratie und Öffentlichkeit auseinander setzen. 2. Von der personifizierten Disziplinierung zur Disziplin als anonymes System Fast zeitlich parallel zur Umstellung der Fürsten-Souveränität auf Volkssouveränität kommt es auch in der Sprache der Disziplin zu einer Rationalisierung des Regierungsverhältnisses. Lockes »Gentleman-Erziehung«, Benjamin Franklins »methodische Selbstdisziplinierung« und auch noch Rousseaus Programm der »Menschenbildung« sind nach wie vor in Form einer dialogischen und personalen Einübungs- und Führungspraxis konzipiert; einem Kind, einem Zögling, einem unmündigen Ich steht immer ein allwissender, paternalistischer Lehrer, Erzieher oder ein tutoriales Ich gegenüber. Dies ändert sich mit der gesellschaftlichen Verbreitung von Schulen, Fabriken, Gefangnissen, Hospitälern etc. seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Aus Gründen der Effizienz, aber auch der Gerechtigkeit und Gleichheit setzt man nun auf anonyme Mechanismen, auf institutionelle Vorrichtungen und Arrangements, die gleichermaßen den Disziplinierenden wie den Disziplinierten einschließen. Paradigmatisch hierfür ist Jeremy Benthams Panoptikum oder Aufsichtsanstalt; was im 18. Jahrhundert allerdings noch als utopischer Entwurf gelesen werden konnte, wird im 19. und 20. Jahrhundert Teil eines wissenschaftlich aufgerüsteten Programms, das die menschliche Lebensführung zum Objekt des Regierens erklärt. Ein umfassendes System von Regeln, Techniken und Methoden soll auf möglichst alle menschlichen Aktivitäten angewendet werden. »Bisher«, so schreibt Frederick W. Taylor, »stand die Persönlichkeit an erster Stelle, in Zukunft wird die Organisation und das System an erste Stelle treten.« 3. Von der natürlichen Selbstregulation zur politischen Gleichgewichtssteuerung Wenn die Rationalität der Disziplinierung sich von einer personalen auf eine anonyme und systemische Regierungspraxis ausrichtet, so verdankt sie dies einer Reihe von Problematisierungen, die mit dem historischen und sozioökonomischen Komplex »industrielle Revolution« umschrieben werden können (Kriminalität, Pauperismus, Seuchen etc.). Die »große Transformation« (K. Polanyi) - insbesondere im Großbritannien des ausgehenden 18. Jahrhunderts - findet jedoch in der klassischen politischen Ökonomie eine weitere Sprache, das Verhältnis der Regierenden zu den Regierten zu artikulieren. (Selbst-)Regulierung von dynamischen und wachstumsorientierten Gleichgewichtsprozessen ist ein
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Gedanke, der Autoren wie Adam Smith, T. R. Malthus und Herbert Spencer beherrscht. Die moderne Gesellschaft folge - so der Chor des klassischen Liberalismus - eigenen, »natürlichen« Regel- und Gesetzmäßigkeiten, sei dies nun im Hinblick auf das Bevölkerungswachstum, auf den Geldfluss oder auf die Güter- und Einkommensverteilung. Kein Fürst und keine noch so mächtiger Staatsapparat ist bei Strafe des Untergangs in der Lage, diesen natürlichen Lauf (natural course) von Menschen, Dingen und Informationen zu regulieren. Mit der gegen Ende des 19. Jahrhunderts krisenhaft wahrgenommenen Selbstregulation des Arbeitsmarktes (»soziale Frage«) und einer stark anwachsenden Arbeiterbewegung, mit der Forderung nach »sozialer Politik«, »sozialer Sicherheit« und »sozialer Demokratie« - nicht selten im Verein mit nationalen und imperialen Bestrebungen kommt es auch in der sozioökonomischen Sprache der Regulation zu einer neuen Ausrichtung. Die so genannte »keynesianische Revolution«, nach Weltwirtschaftkrise und großer Depression, wirft die Frage auf nach einer neuen Abstimmung (Balancierung) des Verhältnisses von Wirtschaftsordnung und Staatsordnung, nach einer staatlich induzierten Steuerung und Lenkung aggregierter ökonomischer Transaktionen (Investition, Produktion und Konsumtion) im Hinblick auf einen stabilen, aber wachstumsorientierten Gleichgewichtszustand.
Souveränität/Unterdrückung/Gesetz JEAN BODIN
Souveränität und absolute Herrschaft Unter der Souveränität ist die dem Staat [republique] eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen, von den Lateinern »maiestas« (...) genannt. (...) An dieser Stelle eine Definition der Souveränität zu geben ist deshalb notwendig, weil sich noch nie ein Rechtsgelehrter oder ein Vertreter der politischen Philosophie dieser Mühe unterzogen hat, obwohl doch gerade die Souveränität den Kern jeder Abhandlung über den Staat darstellt und vor allem anderen begriffen sein will. Nachdem wir gesagt haben, daß der Staat gekennzeichnet ist durch eine am Recht orientierte souveräne Regierungsgewalt über eine Vielzahl von Haushaltungen und das was ihnen gemeinsam ist, ist nun zu erläutern, was souveräne Gewalt bedeutet.
Ich habe diese Gewalt eine zeitlich unbegrenzte genannt, weil es auch sein kann, daß man einzelnen oder mehreren Personen absolute Gewalt auf bestimmte Zeit verleiht, nach deren Ablauf sie dann nichts anderes mehr sind als schlichte Untertanen und auch solange sie diese Gewalt innehaben, können sie sich nicht als souveräne Fürsten bezeichnen, weil sie lediglich Verweser und Hüter dieser Macht und dies nur solange sind, bis es dem Volk oder dem Fürsten, die nach wie vor Herren dieser Macht sind, beliebt, sie zu widerrufen. (...) Wenden wir uns nun dem Begriff »absolute Gewalt« in unserer Definition zu. Was ist darunter zu verstehen? Ein Volk oder die Herren in einem Staat können wie erwähnt die souveräne, zeitlich unbegrenzte Gewalt schlicht und einfach einem anderen dazu übertragen, über die Menschen, ihr Eigentum, den ganzen Staat [etat] nach Belieben zu verfügen und ihn schließlich anderen zu überlassen. Schließlich kann ja auch der Eigentümer
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sein Eigentum ganz einfach einzig und allein aus Freigiebigkeit verschenken. Das macht ja gerade die echte Schenkung aus und ist sie einmal vollzogen, so duldet sie nachträglich keine Bedingungen mehr, denn Schenkungen unter Auflagen und Bedingungen sind im Grunde gar keine echten Schenkungen. »Souveränität«, die einem Fürsten unter Auflagen und Bedingungen verliehen wird, ist also eigentlich weder Souveränität noch absolute Gewalt, es sei denn, die bei der Wahl des Fürsten gemachten Bedingungen würden dem göttlichen Gesetz oder dem Naturrecht angehören. (...) Wer also souverän sein soll, darf in keiner Weise dem Befehl anderer unterworfen und muß in der Lage sein, den Untertanen das Gesetz vorzuschreiben, unzweckmäßige Gesetze aufzuheben oder für ungültig zu erklären und durch neue zu ersetzen. Dazu ist aber nicht im Stande, wer den Gesetzen oder anderen, die über ihn befehlen können, unterworfen ist. Darum heißt es im Gesetz, der Fürst ist von der Macht der Gesetze entbunden, wobei das Wort Gesetz auch im Lateinischen zugleich die Befehlsgewalt dessen bedeutet, der die Souveränität innehat. (S. 205-213) Aus: Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Bernd Wimmer, eingeleitet und hg. von P. C. Mayer-Tasch, 2 Bände, München 1981, Bd. 1, Kap. 8.
CHARLES DE MONTESQUIEU
Gesetz und Gemeingeist Was ist die Geisteshaltung eines Volkes? Verschiedene Dinge beherrschen die Menschen: Klima, Religion, Gesetze, Regierungsgrundsätze, Vorbilder der Vergangenheit, Sitten und Gebräuche; und aus alledem entspringt und formt sich die Geisteshaltung des Volkes. (...)
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Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, sich dem Volksgeist anzupassen, wenn dieser nicht den Regierungsgrundsätzen widerspricht; denn nichts tun wir so gut wie das, was wir aus freiem Willen und unserer Natur entsprechend tun. (...) Welches sind die natürlichen Mittel, um Sitten und Gebräuche eines Volkes zu ändern? Wir sagten, dass Gesetze besondere und genau bestimmte Anordnungen eines Gesetzgebers seien, Sitten und Gebräuche aber gemeinsames Gut des ganzen Volkes. Daraus folgt, daß, wenn man Sitten und Gebräuche ändern will, man das nicht durch Gesetze tun darf; das würde zu tyrannisch erscheinen; es ist besser, sie durch neue Sitten und Gebräuche abzuändern. Wenn daher ein Fürst große Wandlungen in seinem Volk herbeiführen will, dann muß er durch Gesetze verbessern, was in Gesetzen bestimmt, und durch Sitten das, was von der Sitte vorgeschrieben ist; und es wäre eine sehr schlechte Politik, wollte man durch Gesetze das ändern, was durch Gebräuche geändert werden muß. Das Gesetz, das die Russen zwang, sich den Bart und die Röcke abschneiden zu lassen, und das gewaltsame Vorgehen Peters I., der jedem, der die Städte betrat, die Röcke bis zum Knie abschneiden ließ, waren tyrannische Maßnahmen. Es gibt Mittel, um Verbrechen zu verhindern: das sind die Strafen; und es gibt welche, um Sitten zu ändern: das sind die Beispiele. (...) Man fragte Solon, ob die Gesetze, die er den Athenern gegeben habe, die besten seien. Da antwortete er: »Ich habe ihnen die besten gegeben, die sie ertragen konnten.« [Plutarch, Das Leben Solons, Kap. 9] Ein gutes Wort, das alle Gesetzgeber hören sollten. (S. 413-429) Aus: Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, übersetzt und herausgegeben von Ernst ForsthofF, 2. Aufl., Tübingen 1992, Buch XIX, Kap. 4,5,14 und 21.
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JEAN-JACQUES ROUSSEAU Ungleichheit der Menschen und Unterdrückung Sobald aber ein Mensch der Hilfe eines anderen zu bedürfen anfing, sobald man für nützlich hielt, daß ein Mensch Vorrat genug besaß, zwei zu unterhalten, so verschwand die Gleichheit, und das Eigentum ward an seiner Stelle eingeführt. Große, weit ausgedehnte Wälder wurden in lachende Felder verwandelt, die der Landmann mit seinem Schweiße befeuchten mußte und darauf man Elend und Sklaverei zugleich mit der Ernte aufkommen sah. (S. 239) Der Stärkere konnte mehr verfertigen, der Geschicktere aus seiner Arbeit mehr Nutzen ziehen und der Sinnreichere vieles mit weniger ausrichten. (...) So entwickelte sich die natürliche Ungleichheit unvermerkt mit deqenigen, die hinzugekommen ist, und die Verschiedenheit der Menschen, die sich in den verschiedenen Umständen, in welchen sie sich befanden, entwickelt hat, wird merklicher und anhaltender in ihren Wirkungen, bis sie endlich auf das Schicksal eines jeden einen großen Einfluß erlangt. (S. 242) Der Reiche war jetzt in bedenklichen Umständen. Er war allein gegen viele und die gegenseitige Eifersucht ließ ihm keine Hoffnung übrig, mit einigen seinesgleichen in ein Bündnis zu treten und seinen Feinden, die sich durch Raubsucht wider ihn vereinigt hatten, gemeinschaftlich zu widerstehen. Er geriet endlich auf den wohlausgesonnensten Anschlag, den der menschlichen Verstand je erdacht hat: die Kräfte seiner Feinde selbst wendete er zu seinem Besten an, und seine Gegner wurden seine Beschützer. Er flößte ihnen andere Maximen ein, er gab ihnen andere Gesetze, die ihm mehr Vorteil brachten, als er von dem Rechte der Natur Nachteile zu befurchten hatte. Demzufolge wird er seine Nachbarn vor Augen gestellt haben, wie greulich eine Situation sei, die alle einen wider
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den anderen in Harnisch bringt, in der der Besitz nicht weniger beschwerlich ist als das Bedürfnis und in der weder Reiche noch Arme froh und sicher leben können. Er wird ihnen Scheingründe genug eingebildet haben, um sie nach seinem Zwecke zu lenken: »Wir wollen uns vereinigen«, mag er zu ihnen gesagt haben, »wir wollen die Schwächeren vor Unterdrückung bewahren, die Ehrsüchtigen in Schranken halten und einen jeden dasjenige in Sicherheit besitzen lassen, was ihm gehört. Wir wollen Verordnungen der Gerechtigkeit und des Friedens vorschreiben, die die Menschen verpflichten sollen, miteinander verträglich zu sein. Niemand soll davon ausgenommen sein, und dadurch wollen wir dem Eigensinn des Glückes die Waage halten, indem wir Starke und Schwache einerlei Pflichten gegeneinander unterwerfen. Kurz, statt unsere Kräfte zu unserem Verderben anzuwenden, wollen wir sie lieber in eine einzige obere Gewalt versammeln, die uns nach weisen Gesetzen regieren, alle Glieder der Gesellschaft beschützen und verteidigen, den allgemeinen Feind zurücktreiben und uns in einer unveränderlichen Eintracht erhalten soll.« (...) Die Gesetze und die Gesellschaften, die auf diese Art entweder wirklich entstanden oder wenigstens entstehen konnten, hielten die Armen noch fester im Zaum und den Reichen legten sie neue Kräfte bei, richteten unsere natürliche Freiheit ohne Rettung zugrunde, setzten das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit auf ewig fest, verwandelten eine geschickte Usurpation in ein unwiderrufliches Recht, und einen Ehrsüchtigen zum Besten verdammten sie das ganze menschliche Geschlecht zu Arbeit, Dienstbarkeit und Jammer. (S. 245 f.) Aus: Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: ders., Schriften, Bd. 1, hg. von Henning Ritter, Frankfurt/M. 1981.
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JEAN-JACQUES ROUSSEAU Das Wunder des Gesetzes Aufwelch unbegreifliche Art und Weise hat man das Mittel gefunden, die Menschen zu unteqochen, um sie frei zu machen? um im Dienste des Staates die Güter, die Hände, das Lebens selbst aller ihrer Mitglieder einzufordern, ohne sie zu zwingen und ohne sie zu befragen? ihren Willen an ihre eigene Zustimmung zu ketten? ihre Einwilligung gegen ihre Verweigerung durchzusetzen und sie zu zwingen, sich selbst zu bestrafen, wenn sie tun, was sie nicht tun sollten? Wie kommt es, daß sie gehorchen und niemand befiehlt, daß sie dienen und doch keinen Herren haben? und um so freier sind unter einer scheinbaren Unterwerfung, als j eder nur das von seiner Freiheit verliert, was der Freiheit eines anderen schaden kann? Dieses Wunder ist das Werk der Gesetze. (S. 19) Aus: Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über die Politische Ökonomie, in: ders., Politische Schriften 1, hg. von Ludwig Schmidts, Paderborn 1977, S. 9-58.
CESARE BECCARIA Die Berechtigung zum Strafen Die Gesetze sind die Bedingungen, unter denen unabhängige und isolierte Menschen sich in Gesellschaft zusammenfanden, Menschen, die es müde waren, in einem ständigen Zustand des Krieges zu leben und eine infolge der Ungewißheit ihrer Bewahrung unnütz gewordene Freiheit zu genießen. Sie opferten davon einen Teil, um des Restes in Sicherheit und Ruhe sich zu erfreuen. Die Summe aller dieser Teile von Freiheit, welche für das Wohl eines jeden geopfert wurden, macht die Souveränität einer Nation aus
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und der Herrscher ist ihr gesetzmäßiger Wahrer und Verwalter. Aber diese Verwahrnis einzurichten genügte nicht (...) Man wollte fühlbare und hinreichende Motive haben, um den despotischen Geist eines jeden Menschen davor zu warnen, die Gesetze der Gesellschaft im vormaligen Chaos wieder untergehen zu lassen. Diese fühlbaren Motive sind die Strafen, die über Gesetzesbrecher verhängt wurden. (...) [J]eder Akt der Herrschaft eines Menschen über einen Menschen, der nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch. Dies also ist es, worauf das Recht des Herrschers zur Bestrafung von Verbrechen gegründet ist: auf die Notwendigkeit, das Verwahrnis des öffentlichen Wohls gegen partikulare Anmaßung zu verteidigen; und um so gerechter sind die Strafen, je heiliger und unverletzlicher die Sicherheit und je größer die Freiheit ist, welche der Herrscher für die Untertanen wahrt. (...) Es war somit die Notwendigkeit, welche die Menschen zur Dahingabe eines Teils der eigenen Freiheit zwang; demnach ist es gewiß, daß ein jeder nur den geringstmöglichen Teil seiner Freiheit in das öffentliche Verwahrnis einbringen will, nur so viel, wie hinreicht, um die anderen dazu zu bringen, auch ihn zu schützen. Die Gesamtheit dieser geringstmöglichen Teile macht das Recht zum Strafen aus; alles darüber hinaus ist Mißbrauch und nicht Gerechtigkeit; ist bloße Tatsache, aber nicht schon Recht. Man beachte, daß das Wort Recht dem Wort Macht nicht widerspricht; vielmehr ist das erste eine Modifikation des zweiten, und zwar die für die größte Zahl nützlichste Modifikation. (S. 58-60) Jene der Schwere ähnliche Kraft, die uns nach unserem Wohlbefinden streben heißt, wird nur im Maße der Hindernisse, die ihr entgegenstehen, gezügelt. Die Wirkungen dieser Kraft bestehen in der wirren Abfolge der menschlichen Handlungen: wenn diese aufeinanderstoßen und in Gegensatz zueinander geraten, so hindern die Strafen, die ich am liebsten als politische Hemmungen bezeichnen würde, nur die
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übliche Wirkung, ohne die antreibende Ursache zu zerstören, die nichts anderes darstellt als die vom Menschen unabtrennbare Empfindsamkeit; und der Gesetzgeber verfährt so wie ein geschickter Architekt, dessen Aufgabe es ist, nur der zerstörenden Richtung der Schwerkraft entgegenzuwirken und deren übrige Richtungen, die zur Festigkeit des Bauwerkes beitragen, zusammenzufassen. Ist die Notwendigkeit der Vereinigung der Menschen und sind die Verträge gegeben, welche notwendigerweise aus dem Widerstreit der Einzelinteressen entspringen, so findet man eine Stufenleiter von Störungen, bei der die oberste Stufe aus denjenigen besteht, welche unmittelbar zur Zerstörung der Gesellschaft führen, während die untersten das geringstmögliche Unrecht (...) einnimmt. Innerhalb dieser Endstufen liegen sämtliche gegen das öffentliche Wohl gerichteten Handlungen, die man Verbrechen nennt und die in kaum merklicher Abstufung vom Erhabenen bis hinab zum Niedrigen reiche. Wenn die Mathematik auf die unzähligen und unbekannten Kombinationen der menschlichen Handlungen anwendbar wäre, so müßte es eine entsprechende Stufenfolge von Strafen geben, und sie müßte von der schwersten bis zur leichtesten hinabreichen. Doch wird es dem weisen Gesetzgeber genügen, deren Hauptpunkte zu bezeichnen, ohne dabei die rechte Ordnung zu verletzen, und er würde dabei nicht auf die Verbrechen der obersten Stufe die Strafe der untersten setzen. Gäbe es eine exakte und umfassende Stufenfolge der Verbrechen und Strafen, so stünden uns annäherungsweise ein allgemeingültiges Maß für den Grad der Tyrannei und Freiheit, für das Vorhandensein von Menschlichkeit oder Bosheit innerhalb der verschiedenen Nationen zur Verfügung. (S. 69 f.) Aus: Cesare Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und hg. von Wilhelm Alff, Frankfurt/M. 1988.
FRANZ L. NEUMANN Der liberale Gesetzesbegriff Der liberale Staat war immer so stark, wie die politische und soziale Situation und die bürgerlichen Interessen es erforderten. Er führte Kriege und schlug Streiks nieder, er schützte seine Investitionen mit starken Flotten, er verteidigte und erweiterte seine Grenzen mit starken Heeren, er stellte mit der Polizei »Ruhe und Ordnung« her. Er war stark genau in den Sphären, in denen er stark sein mußte und wollte. Dieser Staat, in dem Gesetze, aber nicht Menschen herrschen sollen (die anglo-amerikanische Formel), dieser Rechtsstaat (die deutsche Formulierung) beruht auf zwei Elementen: auf Gewalt und Gesetz, auf Souveränität und Freiheit. Der Souveränität bedarf das Bürgertum, um lokale und partikulare Gewalten zu vernichten, die Kirche aus den weltlichen Angelegenheiten zurückzudrängen, eine einheitliche Verwaltung und Rechtssprechung herzustellen, die Grenzen zu sichern und Kriege zu führen und um alle diese Aufgaben zu finanzieren. Politische Freiheit braucht das Bürgertum, um seine ökonomische Freiheit zu sichern. Beide Elemente sind konstitutiv. Es gibt keine bürgerliche Rechts- und Staatstheorie, in der nicht Gewalt und Gesetz bejaht sind, wenn auch der Akzent, der auf beide Elemente gelegt wird, je nach der historischen Situation verschieden ist. Selbst da, wo behauptet wird, daß sich Souveränität ausschließlich aus der Konkurrenz entwickeln müsse, selbst da ist in Wahrheit die gesetzlose Gewalt unabhängig von der Konkurrenz gefordert. (S. 31) Der Antinomie von Souveränität und Gesetz entsprechen zwei verschiedene Gesetzesbegriffe: ein politischer und ein rationaler. Im politischen Sinn ist Gesetz jede Maßnahme der souveränen Gewalt ohne Rücksicht auf deren Inhalt. Kriegserklärung und Friedensschluß, das Steuergesetzbuch und das Zivilgesetzbuch, der Befehl des Polizisten und der des Gerichtsvoll-
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ziehers, das Urteil des Richters wie die Rechtsnormen, die in dem Urteil appliziert werden, sind alle Äußerungen des Souveräns. Als Äußerungen des Souveräns sind sie Gesetz. Dieser Gesetzesbegriff ist ausschließlich genetisch bestimmt. Gesetz ist voluntas und sonst nichts. Insoweit eine Rechtstheorie diesen Gesetzesbegriff akzeptiert, können wir sie dezisionistisch nennen. Daneben aber steht der rationale Gesetzesbegriff, der nicht durch seinen Ursprung, sondern durch seinen Inhalt bestimmt ist. Nicht jede Maßnahme des Souveräns und nicht nur Maßnahmen des Souveräns sind Gesetz. Gesetz ist hier eine Norm, die von der Vernunft durchdringbar, dem theoretischen Verständnis offen ist, die ein ethisches Postulat enthält, häufig das der Gleichheit. Gesetz ist dann ratio und nicht notwendig auch voluntas. Dieses rationale
Gesetz kann, muß aber nicht Emanation des Souveräns sein. Denn die Theorie, vor allem die des Naturrechts, behauptet die Existenz von materiellen Gesetzen ohne Bezug auf den Willen des Souveräns, die Geltung eines Normensystems auch dann, wenn das positive Staatsgesetz die Postulate dieses materiellen Gesetzes ignoriert. Diese beiden Gesetzesbegriffe sind heute streng geschieden. (S. 34 f.) Aus: Franz L. Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Demokratischer und Autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie, hg. und mit einem Vorwort von Herbert Marcuse, eingeleitet von Helge Pross, Frankfurt/M. 1986, S. 31 -81.
Disziplin/Gewohnheit/Einübung THOMAS HOBBES Von der Disziplinierung des Menschen zur Gesellschaft Ich bestreite daher nicht, daß die Menschen unter dem Zwang ihrer Natur einander aufsuchen; aber die bürgerlichen Gesellschaften sind nicht bloße Zusammenkünfte, sondern Bündnisse, zu deren Abschluß Treue und Verträge notwendig sind. Die Bedeutung dieser wird von Kindern und Unwissenden, ihr Nutzen aber von denen, welche die Nachteile der fehlenden Gesellschaft noch nicht selbst erfahren haben, nicht erkannt. Deshalb können jene diese Gesellschaft nicht eingehen, weil sie nicht wissen, was sie bedeutet, und diese kümmern sich nicht darum, weil sie ihren Nutzen nicht kennen. Also sind offenbar alle Menschen (da alle als Kinder geboren werden) zur Gesellschaft von Natur unfähig, und sehr viele (vielleicht die
meisten) bleiben entweder aus Schwachsinnigkeit oder aus Mangel an Zucht [disciplina] ihr ganzes Leben lang unfähig. Dennoch haben sowohl jene Kinder wie diese Erwachsenen die Menschennatur, und deshalb wird der Mensch nicht von Natur, sondern durch Zucht [disciplina] zur Gesellschaft geeignet. Ja selbst wenn der Mensch von Natur bestimmt wäre, nach der Gesellschaft zu verlangen, so folgt doch nicht, daß er von Natur zur Eingehung der Gesellschaft auch geeignet sei; denn das Verlangen und die Fähigkeit sind verschiedene Dinge. (S. 75 f., Fn.) Aus: Thomas Hobbes, Vom Menschen/ Vom Bürger, eingeleitet und hg. von Günter Gawlick, Hamburg 1994, Kap. 1.
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daran gewöhnt, bis zu einem gewissen Grade Schmerzen ohne Zucken zu ertragen, so ist das Praktiken der Einübung zum Bürger ein Gewinn für die Festigkeit an Geist und Gemüt und eine Grundlage für Mut und EntGewohnheiten [Habits]. - Bedenke aber bitte, schlossenheit in ihrem späteren Leben. daß man Kinder nicht durch Gebote (rules) Sie nicht zu bedauern und nicht zu dulden, belehren kann, die ihrem Gedächtnis immer daß sie sich selbst bei jedem kleinen Schmerz wieder entschlüpfen. Was sie nach deiner Mei- bedauern, den sie erleiden, ist der erste Schritt, nung unbedingt tun müssen, das festige ihnen den man tun muß. (...) durch unerläßliche Übung [practice], sooft die Der nächste ist, ihnen manchmal absichtlich Gelegenheit dazu wiederkehrt; und wenn es Schmerz zuzufügen; dabei ist jedoch zu beachmöglich ist, schaffe die Gelegenheiten. Das wird ten, daß es geschieht, wenn das Kind guter LauGewohnheiten [habits] in ihnen erzeugen, die, ne ist und von der guten Absicht und der Freundeinmal eingewurzelt, von selbst zwanglos und lichkeit dessen, der es verletzt, zu der Zeit, wo es selbstverständlich wirken, ohne Hilfe des geschieht, überzeugt ist. Keine Zeichen des Gedächtnisses. (S. 59) Zorns oder Mißfallens einerseits oder des MitÜbung [Practice]. - Diese Methode, Kinder leids und der Reue andererseits dürfen dabei durch wiederholte Übung zu lehren und dadurch, unterlaufen; und es muß sichergestellt sein, daß daß man sie unter den Augen und unter Anleitung nicht mehr geschieht, als das Kind ohne Unzudes Erziehers immer wieder dasselbe tun läßt, bis friedenheit ertragen kann, und daß es die Sache es ihnen zur Gewohnheit geworden ist, es gut zu nicht falsch auffaßt oder als Strafe ansieht. (...) tun, nicht aber die, sich auf Gebote zu verlassen, Die große Kunst besteht darin, mit nur ganz die man ihrem Gedächtnis anvertraut hat, diese geringem Schmerz anzufangen und unmerklich Methode bietet so viele Vorteile, von welcher weiterzugehen, wenn du mit ihm spielst und Seite man sie auch ansehen mag, daß ich mich fröhlich mit ihm zusammen bist und gut von ihm nur wundern kann (...), wie es möglich war, sie sprichst; und wenn du ihn einmal so weit gebracht hast, daß er sich durch das Lob, daß du so sehr zu vernachlässigen. (S. 60) Abhärtung [Hardiness]. - Da aber der Haupt- seinem Mute zollst, für den erlittenen Schmerz grund der Furcht bei Kindern der Schmerz ist, entschädigt glaubt; wenn er seinen Stolz dareinbesteht das Mittel, Kinder gegen Furcht und setzt, solche Zeichen der Mannhaftigkeit an den Gefahr abzuhärten und zu wappnen, darin, sie an Tag zu legen, und den Ruhm, tapfer und standdas Ertragen von Schmerzen zu gewöhnen. (...) haft zu sein, höher stellt als die Vermeidung Wie sehr die Erziehung junge Menschen an eines kleinen Schmerzes oder das angstvolle Schmerz und Leiden gewöhnen kann, zeigen die Zurückweichen vor ihm: dann hast du keinen Beispiele von Sparta zur Genüge; und wer sich Grund, daran zu zweifeln, daß du im Laufe der einmal selbst soweit gebracht hat, körperlichen Zeit und mit Hilfe der wachsenden Vernunft seiSchmerz nicht als größtes aller Übel zu betrach- ne Furchtsamkeit überwinden und die Schwäche ten oder als das Übel, vor dem er sich am meis- seiner natürlichen Veranlagung bessern wirst. ten zu fürchten hat, der hat keinen kleinen (S. 143 ff.) Schritt auf dem Weg zur Tugend voran getan. Ich bin jedoch nicht so töricht, in unserem Zeitalter Aus: John Locke, Gedanken über Erzieund bei unserer Staatsverfassung lakedämonihung, Übersetzung, Anmerkungen und sche Zucht [discipline] vorzuschlagen. Dennoch Nachwort von H. Wohlers, Stuttgart 1980, behaupte ich, wenn man Kinder allmählich §66 und §115. JOHN LOCKE
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JEAN-JACQUES ROUSSEAU
JEAN-JACQUES ROUSSEAU
Die große Kunst der Regierung
Gewohnheit und Freiheit als Erziehungsmittel
Es ist schon viel, wenn die Ordnung und der Friede in allen Teilen der Republik regieren; es ist viel, wenn der Staat ruhig ist und das Gesetz geachtet wird. Wenn man aber nicht mehr macht, dann ist das alles mehr Schein als Wirklichkeit, und man wird der Regierung schwerlich gehorchen, wenn sie sich nur auf den Gehorsam [l'obeissance] beschränkt. Wenn es gut ist, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, dann ist es viel besser, wenn man sie so macht [rendre], wie man sie braucht. Die absoluteste Autorität ist jene, die den Menschen völlig durchdringt und sich nicht weniger auf seinen Willen wie auf seine Handlungen auswirkt. Sicher ist, daß die Völker auf Dauer das sind, was die Regierung aus ihnen gemacht hat. Krieger, Bürger, Menschen, wenn sie will; Mob und Pöbel, wenn es ihr gefällt. Jeder Herrscher, der seine Untertanen verachtet, entehrt sich selbst, indem er zeigt, daß er es nicht verstanden hat, sie achtenswert zu machen [rendre estimables]. Bildet (Formez) Menschen, wenn ihr Menschen befehlen wollt [commander]; wenn ihr wollt, daß man den Gesetzen gehorcht, dann tut alles, daß man sie liebt; und um zu tun, was man tun muß, genügt der Gedanke, daß man es machen muß. Das war die große Kunst der antiken Regierungen [le grand art des gouvernements anciens] in jenen frühen Zeiten, wo die Philosophen den Völkern die Gesetze gaben und ihre Autorität nur dazu verwendeten, um sie weise und glücklich zu machen. (S. 23 f.) Aus: Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über die Politische Ökonomie, in: ders., Politische Schriften 1, Übersetzung und Einführung von Ludwig Schmidts, Paderborn 1977, S. 9-58.
Natur ist, so sagt man, nichts als Gewohnheit [l'habitude]. Was heißt das? Gibt es nicht Gewohnheiten, die man unter Druck annimmt und die niemals die Natur ersticken? Man verhindert ζ. B., daß eine Pflanze nach oben wächst. Gibt man ihr die Freiheit wieder, so behält sie zwar die Beugimg bei, aber der Wachstumstrieb bleibt derselbe. Genau so steht es mit den Neigungen der Menschen. Unter gleichbleibenden Verhältnissen behält man Gewohnheiten bei, die vielleicht unserer Natur am wenigsten entsprechen. Sobald die Verhältnisse sich ändern, hört der Zwang auf, und die Natur kehrt zurück. Die Erziehimg ist bestimmt nichts anderes als eine Gewohnheit. (...) Um Verwirrungen zu vermeiden, muß man also den Begriff der Natur auf die Gewohnheiten einschränken, die der Natur gemäß sind. (S. 11) Es ist doch seltsam, daß man, seitdem man Kinder erzieht, keine anderen Erziehungsmittel gefunden hat, als sie durch Wetteifer, Eifersucht, Neid, Eitelkeit, Habgier, Feigheit zu leiten, durch die gefährlichsten Leidenschaften also, die sich am raschsten aufblähen und die Seele verderben, ehe noch der Körper entwickelt ist. Mit jeder verfrühten Unterweisung, die man ihnen in den Kopf eintrichtert, pflanzt man ein Laster in ihr Herz. Es gibt sogar unzurechnungsfähige Lehrer, die ihre Kinder zum Bösen anleiten, um ihnen beizubringen, was gut ist, und die glauben, Wunder getan zu haben. Und dann sagen sie ganz ernst: »So ist der Mensch.« Ja, so ist der Mensch, den ihr erzogen habt. Man hat alle Mittel erprobt, außer dem einen, das zum Erfolg führen kann: die wohlgeordnete Freiheit. (...) Der ständige Zwang, den ihr euren Kindern auferlegt, peitscht ihre Lebhaftigkeit auf. Je ruhiger sie sich unter euren Augen halten müssen, desto zügelloser sind sie, wenn sie euch
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entwischen. Sie müssen sich doch für den Zwang schadlos halten. Zwei Stadtkinder richten auf dem Land mehr Schaden an als die ganze Dorfjugend. Sperrt so ein Herrchen und einen Dorfjungen zusammen in ein Zimmer ein, der erste hat alles umgeworfen und zerbrochen, ehe der andere seinen Platz verlassen hat. Warum? Der eine beeilt sich, seine kurze Freiheit zu mißbrauchen, während der andere, seiner Freiheit sicher, keine Eile hat, sie zu gebrauchen. (S. 70 f.) Aus: Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung, vollständige Ausgabe in neuer dt. Fassung besorgt von Ludwig Schmidts, 5. unveränderte Aufl., Paderborn u.a. 1981.
FRIEDRICH II. VON PREUSSEN Die militärische Disziplin Die Manneszucht führt im Heer blinden Gehorsam ein. Sie ordnet den Soldaten dem Offizier unter, den Offizier seinem Kommandanten, den Obersten dem General und sämtliche Generäle dem Höchstkommandierenden. Murrt ein Soldat gegen seinen Unteroffizier oder setzt sich mit dem Säbel zur Wehr, zieht ein Offizier den Degen gegen seinen Kommandanten usw. - über all diese ist die Todesstrafe verhängt. Ihnen gegenüber darf der Herrscher keine Gnade walten lassen. Das Beispiel wäre zu gefährlich! Die geringste Lockerung der Disziplin würde zur Verwilderung führen, diese zur Aufsässigkeit, und schließlich würden die Chefs nicht Herr ihrer Untergebenen sein, sondern ihnen gehorchen müssen. Aus diesem Grunde besitzen die Generale und Obersten unbeschränkte Vollmacht über ihre Regimenter. Sie haften dem König für sie Mann für Mann. Der Chef empfängt seine Befehle, und der König ist sicher, daß sie zur
Ausführung gelangen. Daher kommt es, daß Truppen, die vom Geiste straffer Disziplin erfüllt sind, keinen Ungehorsam, keine Widerrede, keine Klagen kennen. Ja, inmitten der größten Gefahren hören sie auf das Kommando und bieten dem Tode Trotz, wenn ihre Chefs es ihnen befehlen. Sie gehen, wohin sie geführt werden, und verrichten Wunder, wenn das Beispiel tapferer Offiziere sie anfeuert. Die Disziplin hält den Soldaten in Schranken und zwingt ihn zu vernünftiger und geregelter Lebensführung, hält ihn von jeder Gewalttat, von Diebstahl, Trunkenheit und Spiel zurück und nötigt ihn, beim Zapfenstreich in seinem Quartier zu sein. In einem gut disziplinierten Heere muß es ehrbarer zugehen als in einem Mönchskloster. Mit solcher strengen Subordination erreicht man, daß eine ganze Armee von der Führung eines einzigen abhängt. Der braucht, wenn er ein geschickter Feldherr ist, dann nur richtig zu denken und kann sicher sein, daß seine Ideen pünktlich ausgeführt werden. (S. 117 ff.) Aus: Friedrich der Große, Das Politische Testament von 1752, Stuttgart 1987.
BENJAMIN FRANKLIN Methodische Lebensführung Ungefähr um diese Zeit fasste ich den kühnen und ernsten Vorsatz, nach sittlicher Vervollkommnung zu streben. Ich wünschte, leben zu können, ohne irgendeinen Fehler zu irgendeiner Zeit zu begehen; ich wünschte, alles zu überwinden, wozu entweder natürliche Neigung, Gewohnheit oder Gesellschaft mich veranlassen könnten. (...) die Gewohnheit [habit] gewann die Übermacht über die Unachtsamkeit, und die Neigung [inclination] war zuweilen stärker als die Vernunft. Ich kam zuletzt zu dem Schlüsse, die bloße spekulative Überzeugung, dass es in unse-
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rem Interesse liege, vollkommen tugendhaft zu sein, reiche nicht hin, um uns vor dem Straucheln zu bewahren, und die gegenteiligen Gewohnheiten müssen gebrochen, gute dafür erworben und befestigt werden, ehe wir irgendein Vertrauen auf eine stetige gleichförmige Rechtschaffenheit des Wandels haben können. (...) Ich machte mir ein kleines Buch, worin ich jeder der Tugenden eine Seite anwies, liniierte jede Seite mit roter Tinte, so dass sie sieben Felder, für jeden Tag der Woche eines, hatte, und bezeichnete jedes Feld mit dem Anfangsbuchstaben des Tages. Diese Felder kreuzte ich mit dreizehn roten Querlinien und setzte and den Anfang jeder Linie den Anfangsbuchstaben von einer der Tugenden, um auf dieser Linie und in dem betreffenden Felde durch ein schwarzes Pünktchen jeden Fehler vorzumerken, den ich mir, nach genauer Prüfung meinerseits, an jenem Tag hinsichtlich der betreffenden Tugend hatte zuschulden kommen lassen. Ich nahm mir vor, auf jede dieser Tugenden der Reihe nach eine Woche lang genau acht zu geben. So ging in der ersten Woche mein hauptsächliches Augenmerk dahin, jeden auch noch so geringen Verstoß gegen die Mäßigkeit zu vermeiden, die anderen Tugenden ihrem gewöhnlichen Schicksal zu überlassen und nur jeden Abend die Fehltritte des Tages zu verzeichnen. Wenn ich daher auf diese Weise in der ersten Woche meine erste, mit Μ (...) bezeichnete Linie frei von schwarzen Punkten zu halten vermochte, so nahm ich an, die gewohnheitsmäßige Ausübung dieser Tugend sei so sehr gestärkt und ihr Gegenpart so sehr geschwächt, dass ich wagen konnte, mein Augenmerk auf die Mitbeachtung der nächsten auszudehnen und für die folgende Woche beide Linien frei von Punkten zu erhalten. (...) Aus: Benjamin Franklin, Autobiographie, Frankfurt/M. 1982, S. 124-129.
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Mäßigkeit Iß nicht bis zum Stumpfsinn, trink nicht bis zur Berauschung
S. M. D. M. D. F. S. Mäßigkeit Schweigen Ordnung
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Fleiß Aufrichtigkeit Gerechtigkeit Mäßigung Reinlichkeit Gemütsruhe Keuschheit Demut
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Entschlossenheit Genügsamkeit
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IMMANUEL KANT Habitus Wenn ich durch den Verstand urteile, daß die Handlung sittlich gut ist, so fehlt noch sehr viel, daß ich diese Handlung tue, von der ich so geurteilt habe. Bewegt mich aber dieses Urteil, Handlungen zu tun, so ist das das moralische Gefühl; das kann und wird auch keiner einsehen, daß der Verstand sollte eine bewegende Kraft zu urteilen haben. Urteilen kann der Verstand freilich, aber diesem Verstandesurteil eine Kraft zu geben, und daß es eine Triebfeder werde, den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen. (...) Woran liegt es nun, wenn die Handlung nicht moralisch ist? An dem Verstände oder am Willen? Fehlt der Verstand, wenn er nämlich nicht gut unterrichtet ist, in der Dijudikation der Handlung, so ist die Handlung moralisch unvollkommen; allein die Pravität oder Bösartigkeit der Handlung besteht nicht in der Dijudikation, liegt als nicht im Verstand, sondern besteht in der Triebfeder des Willens. Wenn der Mensch gelernt hat, alle Handlungen zu dijudizieren, so fehlt es ihm an der Triebfeder, solche auszuüben. Die Unsittlichkeit der Handlung besteht als nicht in dem Mangel des Verstandes, sondern in der Pravität des Willens oder des Herzens. (S.54) Worauf kommt es denn nun an, daß der Mensch ein solches moralisches Gefühl habe? Jeder kann einsehen, daß die Handlung verabscheuungswürdig ist, nur der aber, der diesen Abscheu fühlt, hat ein moralisches Gefühl. Der Verstand verabscheut nicht, sondern sieht die Abscheulichkeit ein und widersetzt sich derselben; aber die Sinnlichkeit muß nur verabscheuen; wenn nun die Sinnlichkeit dasjenige verabscheut, was der Verstand als abscheulich einsieht, so ist dieses das moralische Gefühl. Den Menschen dahin zu bringen, daß er die Abscheulichkeit des Lasters fühle, ist gar nicht möglich. (...) Der Mensch hat nicht solche feine
Organisation, durch objektive Gründe bewogen zu werden, es ist keine Feder von Natur, die da könnte aufgezogen werden, solches hervorzubringen. Allein wir können doch einen habitum hervorbringen, der nicht natürlich ist, aber doch die Natur vertritt, der durch die Nachahmung und öftere Ausübung zum habitus wird. (...) Ζ. E. das Kind, was da lügt, muß nicht bestraft, sondern beschämt werden; man muß einen Ekel, einen Abscheu, eine Verachtung gegen dasselbe hegen, so als wenn es mit Kot beworfen wäre; durch solche öftere Wiederholung können wir bei ihm einen solchen Abscheu wider das Laster erregen, der ihm zum habitus werden kann. (...) Es soll also die Erziehung und die Religion darauf hinausgehen, einen unmittelbaren Abscheu gegen die üblen Handlungen und eine unmittelbare Lust gegen die Sittlichkeit der Handlung einzuflößen. (S. 55) Aus: Immanuel Kant, Eine Vorlesung über Ethik, hg. von G. Gerhardt, Frankfurt/M. 1991.
IMMANUEL KANT Über Erziehung, Arbeit und Schuldisziplin Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß. Unter der Erziehung nämlich verstehen wir die Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Disziplin (Zucht) und Unterweisung nebst Bildung. (S. 697) Der Mensch hat aber von Natur einen so großen Hang zur Freiheit, daß, wenn er erst eine Zeitlang an sie gewöhnt ist, er ihr alles aufopfert. Eben daher muß denn die Disziplin auch, wie gesagt, sehr früh in Anwendung gebracht werden, denn wenn das nicht geschieht, so ist es schwer, den Mensch nachher zu ändern. Er folgt dann jeder Laune. Man sieht es auch an den wil-
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den Nationen, daß, wenn sie gleich den Europäern längere Zeit hindurch Dienste tun, sie sich doch nie an ihre Lebensart gewöhnen. Bei ihnen ist dieses aber nicht ein edler Hang zur Freiheit, wie Rousseau und andere meinen, sondern eine gewisse Rohigkeit, indem das Tier hier gewissermaßen die Menschheit noch nicht in sich entwickelt hat. Daher muß der Mensch frühe gewöhnt werden, sich den Vorschriften der Vernunft zu unterwerfen. (...) Bei dem Mensch ist, wegen seines Hanges zur Freiheit, eine Abschleifung seiner Rohigkeit nötig. (S. 698) Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht. Es ist zu bemerken, daß der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Menschen, die ebenfalls erzogen sind. (...) Es ist niemand, der nicht in seiner Jugend verwahrloset wäre, und es im reifern Alter nicht selbst einsehen sollte, worin, es sei in der Disziplin, oder der Kultur (so kann man die Unterweisung nennen) er vernachlässigt worden. Derjenige, der nicht kultiviert ist, ist roh, wer nicht diszipliniert ist, ist wild. Verabsäumung der Disziplin ist ein größeres Übel, als Verabsäumung der Kultur, denn diese kann noch weiterhin nachgeholt werden; Wildheit aber läßt sich nicht wegbringen, und ein Versehen in der Disziplin kann nie ersetzt werden. (S. 699-701) Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anfuhren, seine Freiheit gut zu gebrauchen. Ohne dies ist alles bloßer Mechanism, und der der Erziehung Entlassene weiß sich seiner Freiheit nicht zu bedienen. (S. 711) Wir kommen jetzt zur Kultur der Seele, die man gewissermaßen auch physisch nennen kann. Man muß aber Natur und Freiheit von
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einander unterscheiden. Der Freiheit Gesetze geben ist etwas ganz anderes, als die Natur bilden. Die Natur des Körpers und der Seele kommt doch darin überein, daß man ein Verderbnis bei ihrer beiderseitigen Bildung abzuhalten sucht, und daß die Kunst dann noch etwas bei jenem, wie bei dieser hinzusetzt. (S. 728) Es ist von der größten Wichtigkeit, daß Kinder arbeiten lernen. Der Mensch ist das einzige Tier, das arbeiten muß. Durch viele Vorbereitungen muß er erst dahin kommen, daß er etwas zu seinem Unterhalte genießen kann. Die Frage: ob der Himmel nicht gütiger für uns würde gesorgt haben, wenn er uns alles, schon bereit, hätte vorfinden lassen, so, daß wir gar nicht arbeiten dürften? ist gewiß mit Nein zu beantworten: denn der Mensch verlangt Geschäfte, auch solche, die einen gewissen Zwang mit sich fuhren. (...) Das Kind muß also zum Arbeiten gewöhnt werden. Und wo anders soll die Neigung zur Arbeit kultiviert werden, als in der Schule? Die Schule ist eine zwangsmäßige Kultur. Es ist äußerst schädlich, wenn man das Kind dazu gewöhnt, alles als Spiel zu betrachten. Es muß Zeit haben, sich zu erholen, aber es muß auch eine Zeit fur dasselbe sein, in der es arbeitet. Wenn auch das Kind es nicht gleich einsieht, wozu dieser Zwang nütze; so wird es doch in Zukunft den großen Nutzen davon gewahr werden. (...) Zwangsmäßig muß die Erziehung sein, aber sklavisch darf sie deshalb nicht sein. (S. 730 f.) Aus: Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: ders., Theorie-Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd.XII, S. 691-761.
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Jeremy Bentham Die Gewohnheit des Gehorchens Die Idee einer natürlichen Gesellschaft ist eine negative. Die Idee einer politischen Gesellschaft ist eine positive. Daher sollten wir mit der letzteren beginnen. Wenn eine Anzahl von Menschen (mögen wir sie Untertanen nennen) daran gewöhnt sein sollten, einer Person oder einer Versammlung von bekannter und genauer Bestimmung (mögen wir sie Regierender oder Regierende nennen) Gehorsam zu erweisen, so läßt sich von beiden (Untertanen und Regierende) sagen, sie befinden sich im Zustand einer politischen Gesellschaft. Die Idee vom Zustand einer natürlichen Gesellschaft ist, wie wir schon sagten, eine negative. Wenn eine Anzahl von Personen daran gewöhnt sein sollten, miteinander zu verkehren, ohne die oben erwähnte Gewohnheit angenommen zu haben, so läßt sich von ihnen sagen, sie befinden sich im Zustand einer natürlichen Gesellschaft. Wenn wir darüber ein wenig nachdenken, bemerken wir, daß zwischen beiden Zuständen nicht eine solch explizite Trennung besteht wie man hätte anhand der Namen und Definitionen auf den ersten Blick erwarten können. Es ist hier wie mit dem Licht und der Dunkelheit: so unterschiedlich die Vorstellungen - hervorgerufen durch die Namen - auch sein mögen, die Dinge selbst haben keine festgelegte Grenze, sie zu trennen. Die erwähnten Umstände, die zur Unterscheidung beider Zustände führen, sind die An- oder Abwesenheit einer Gewohnheit zu gehorchen. Demzufolge wurde einfach von der Anwesenheit (d.h. vollkommene Anwesenheit) gesprochen oder, in anderen Worten, wir sprachen so, also ob es in dem einen Fall eine vollkommene Gewohnheit zu gehorchen gäbe. Dagegen wurde im anderen Fall einfach von Abwesenheit (d.h. vollkommene Abwesenheit)
gesprochen oder - anders gesagt - wir taten so, als ob es hier keine Gewohnheit zu gehorchen gäbe. Wahrscheinlich aber sind keine dieser beiden Redeweisen im strikten Sinne richtig. Tatsächlich existieren wenn überhaupt nur wenige Fälle, in denen die Gewohnheit abwesend und sicherlich keine, in denen sie vollkommen anwesend ist. Demzufolge entfernen sich vom oder nähern sich Regierungen dem Naturzustand - je nachdem die Gewohnheit zu gehorchen mehr oder weniger ausgebildet ist; und es mag Fälle geben, in denen es schwer fallt zu sagen, ob eine Gewohnheit in ihrer Vollkommenheit - wie sie dem Grade nach sein müßte, um regierungskonstitutiv zu sein - überhaupt existiert oder nicht. (S. 40 ff., Übersetzung Matthias Bohlender) Aus: Jeremy Bentham, Α Fragment on Government, Cambridge 1995.
Jeremy Bentham Das Aufsichtshaus In einem Wort gesagt, wird es [das Aufsichtshaus oder Elaboratorium] sich fur solche Einrichtungen als dienlich erweisen (und zwar ausnahmslos, wie ich denke), in denen eine Reihe von Menschen innerhalb eines Areals unter Aufsicht gehalten werden soll, das nicht zu groß ist, um durch Gebäude abgeschirmt oder beherrscht werden zu können. Wie unterschiedlich oder sogar gegensätzlich auch immer der Zweck: ob es darum geht, die Unverbesserlichen zu bestrafen, die Irren zu bewachen, die Lasterhaften zu bessern, die Verdächtigen festzusetzen, die Müßiggänger zu beschäftigen, die Hilflosen zu versorgen, die Kranken zu heilen, die Beflissenen in jedwedem Zweig der Industrie zu unterrichten oder die aufstrebende Jugend den Weg der Bildung zu lehren: - in einem Wort, ganz
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gleich, ob das Bauwerk genutzt wird als dauerhaftes Gefängnis auf Lebenszeit oder als Gefängnis für sicheren Gewahrsam vor einem Prozess oder als Strafanstalt oder Besserungsanstalt oder Arbeitshaus oder Manufaktur oder Irrenhaus oder Hospital oder Schule. In all diesen Fällen ist es offensichtlich, dass das Ziel der Einrichtung umso vollkommener erreicht worden sein wird, je beständiger die zu beaufsichtigenden Personen den Blicken derer ausgesetzt sind, die sie beaufsichtigen sollen. Ideale Vollkommenheit, wäre es einem um sie zu tun, würde erfordern, dass jede Person sich in jedem Augenblick tatsächlich in dieser Lage befindet. Da dies unmöglich ist, kann man freilich immerhin anstreben, dass jede Person in jedem Augenblick Grund hat, es zu glauben, und sich ohne die Möglichkeit, zu einem gegenteiligen Ergebnis zu kommen, in dieser Lage wähnt. (...) Es mag bei all den Details, die ich Ihnen vor Augen geführt habe, hilfreich sein, klar zu unterscheiden, welche Einzelheiten wesentlich für den Plan sind und welche nicht. Wesentlich ist, nach alldem, die zentrale Position des Aufsehers in Verbindung mit den wohl bekannten und höchst wirksamen Vorrichtungen, um zu sehen, ohne gesehen zu werden. (...) Gestatten Sie mir, darauf hinzuweisen, dass zwar als vielleicht wichtigstes Ziel die zu beaufsichtigenden Personen sich jederzeit auch unter Aufsicht fühlen müssen, jedenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit, dass dies aber keinesfalls das einzige Ziel ist. Andernfalls ließe sich diese Errungenschaft in nahezu jeder Art von Bauwerk realisieren. Von großer Bedeutung ist auch die tatsächliche Überwachung aller über die größtmögliche Zeitspanne. In allen Fällen kommt es für den Aufseher darauf an, sich darüber Gewissheit verschaffen zu können, dass die Disziplin tatsächlich die gewünschte Wirkung zeitigt. (...) Doch damit nicht genug, denn je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine bestimmte
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Person zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich überwacht wird, umso stärker wird ihre Überzeugung sein - umso intensiver, wenn man so will, ihre Empfindung, dass es sich so verhält. Aus: Jeremy Bentham, Panoptikum oder Das Aufsichtshaus & C., aus dem Englischen von M. Adrian u. B. Engels, in: Neue Rundschau 114 (2003), Heft 2, S.14-35.
JOHN STUART MILL Zivilisierung durch Gehorsam und Arbeit Von den beiden Arten der Einwirkung einer Regierungsform (das heißt einer Anzahl politischer Institutionen) auf das Wohl des Gemeinwesens - ihrer Funktion als nationale Erziehungsinstitution einerseits und ihrer Vorrichtungen zur Erfüllungen der Gemeinschaftsaufgaben auf der Basis des jeweils bereits erreichten Erziehungsniveaus andererseits - ist offenbar letztere vom unterschiedlichen Zivilisationsniveau der einzelnen Länder weniger abhängig als erstere und berührt auch die fundamentale Frage der Staatsverfassung in weit geringerem Maße. (...) Anders verhält es sich mit jenen Interessen des Gemeinwesens, die sich auf eine bessere oder schlechtere Erziehung (training) des Volkes selbst beziehen. In ihrer Funktion als Instrument der Erziehung müssen politische Institutionen, je nach dem Stand des bereits erreichten Fortschritts, radikal verschieden sein. Die - wenn auch häufiger empirisch als philosophisch vollzogene - Anerkennung dieser Erkenntnis ist wohl der entscheidende Punkt, in dem die politischen Theorien der Gegenwart denen früherer Generationen überlegen sind, die für England und Frankreich die repräsentative Demokratie gewöhnlich mit Argumenten forderten, die jene
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auch als die einzige angemessene Regierungsform für Beduinen und Malayen erscheinen lassen. (...) So ist, um ein früheres Beispiel aufzugreifen, ein Volk im Zustand primitiver Ungebundenheit, in dem der einzelne, nur hier und da äußeren Kontrollen unterworfen, ganz für sich selbst lebt, praktisch so lange zu jedem zivilisatorischen Fortschritt außerstande, als es noch nicht zu gehorchen gelernt hat. Die unerläßliche Eigenschaft einer Regierung, die ein solches Volk zu lenken unternimmt, ist es also, daß sie sich Gehorsam zu verschaffen weiß. Um ihr dies zu ermöglichen, bedarf es einer mehr oder weniger despotischen Regierungsform. Ein auch nur einigermaßen demokratisches System, das vom freiwilligen Verzicht der Mitglieder des Gemeinwesens auf ihre individuelle Handlungsfreiheit abhängig ist, wäre nicht imstande, den Schülern die erste bei ihrem derzeitigen Entwicklungsstand unumgängliche Lektion mit genügend Nachdruck einzuschärfen. Demgemäß ist die Zivilisation solcher Stämme, sofern sie nicht aus der Berührung mit zivilisierten Völkern resultiert, fast stets das Werk eines absoluten Herrschers, dessen Macht sich entweder auf Religion oder auf militärische Tüchtigkeit, sehr oft auch auf die Bajonette fremder Mächte stützt. Außerdem haben unzivilisierte Völker (...) eine Abneigung gegen kontinuierliche Arbeit, der alles Aufregende abgeht. Und doch ist wirkliche Zivilisation nur um den Preis zu erreichen; ohne geregelte Arbeit können weder jene Denkund Verhaltensmuster, die Voraussetzung einer zivilisierten Gesellschaft sind, entwickelt (be disciplined), noch auch die materielle Basis für eine solche Gesellschaft geschaffen werden. Es bedarf einer seltenen Koinzidenz der Umstände und eben deshalb sehr oft einer sehr langen Zeitspanne, um ein solches Volk mit regelmäßiger Arbeit auszusöhnen, wenn es zu ihr nicht eine gewisse Zeit hindurch gezwungen wird. Daher kann selbst Sklaverei [personal slavery], indem sie den ersten Schritt zu industriellen Arbeitsfor-
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men [industrial life] darstellt, und diese dem überwiegenden Teil des Gemeinwesens als ausschließliche aufzwingt, den Übergang zu einer höheren Freiheit als der des Kämpfens und Plünderns beschleunigen. (...) Der typische Sklave (slave) ist ein Wesen, das es nicht gelernt hat, sich selbst zu helfen. Dem Wilden [savage] ist er zweifellos um einen Schritt voraus. Die erste Lektion politischer Erziehung braucht man ihm nicht mehr zu erteilen: er hat zu gehorchen gelernt. Aber er gehorcht nur dem ausdrücklichen Befehl. Es ist das Kennzeichen des geborenen Sklaven, daß er nicht imstande ist, sein Verhalten von selbst nach Regeln oder Gesetzen zu richten. Er kann nur das tun, was man ihm befiehlt, und dies nur dann, wenn man es ihm befiehlt. Er gehorcht, solange jemand neben ihm steht, den er fürchtet und der ihm mit Strafe droht; dreht der aber den Rücken, so bleibt die Arbeit ungetan. Das Motive, das ihn antreiben soll, darf sich nicht an seine Interessen, sondern muß sich an seine Instinkte wenden und unmittelbare Hoffnung bzw. Furcht wecken. Ein despotisches Regierungssystem, das ein primitives Volk vielleicht gefügig zu machen vermag, wird, insoweit es eben despotisch ist, die Sklaven nur in ihrer Unfähigkeit bestärken. Indes wären sie einer Regierungsform, in der sie selbst die Kontrolle über die Regierung ausübten, absolut nicht gewachsen. Eine Vorwärtsentwicklung ist ihnen aus eigener Kraft nicht möglich, sie muß ihnen aufoktroyiert werden. Der Schritt, den sie tun müssen und der allein sie dem Fortschritt näherbringt, besteht darin, daß sie aus der Willkürherrschaft [government of will] hinaus unter die Herrschaft des Gesetzes (government of law) gelangen. Man muß sie zur Selbstbeherrschung erziehen und in der ersten Phase bedeutet dies die Fähigkeit, nach abstrakten Geboten zu handeln. Die Regierung, die ihnen nottut, muß sie leiten, nicht mit Gewalt beherrschen. (...) Ein solches Regierungssystem, das man ein System der Gängelung [government of lead-
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ing-strings] nennen könnte, scheint erforderlich zu sein, um ein Volk unter diesen Umständen möglichst rasch auf die nächstfolgende Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung zu fuhren. (S. 51-55)
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Aus: John Stuart Mill, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, neu übersetzt von Hannelore Irle-Dietrich, hg. mit einer Einleitung von Kurt L. Shell, Paderborn 1971.
CHARLES BABBAGE Zeitdisziplin 5546 Stecknadeln, »Elfer« [elevens] wiegen ein Pfund; ein Dutzend = 6932 Stecknadeln, wiegen zwanzig Unzen und benötigen sechs Unzen Papier. Benennung des Prozesses
Arbeiter
Zeit, um 1 Pfund Nadeln zu machen (Stunden)
Kosten eines Pfundes Nadeln (Pence)
Täglicher Ertrag für den Arbeiter (Sch. D.)
Preis der Verfertigung jedes Teils einer Nadel in Millionenteilen eines Penny
1. Draht-Ziehen
Mann
0,3636
1,2500
3,3
225
0,3000 0,3000
0,2840 0,1420
1,0 0,6
51 26
2. Draht-Strecken Frau Mädchen 3. Zuspitzen
Mann
0,3000
1,7750
5,3
319
4. Drehen und Abschneiden der Nadelköpfe
Junge Mann
0,0400 0,0400
0,0147 0,2103
0,4 >/2 5,4 >/2
3 38
5. Anknöpfen
Frau
4,000
5,0000
1,3
901
6. Verzinnen oder Weißsieden
Mann Frau
0,1071 0,1071
0,6666 0,3333
6,0 3,0
121 60
7. Einbriefen
Frau
2,1314
3,1973
1,6
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7,6892
12,8732
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Zahl der angestellten Arbeiter: 4 Männer, 4 Frauen; 2 Kinder; Gesamt 10. (S. 142) Aus: Charles Babbage, Die Ökonomie der Maschine, mit einem Vorwort von Peter Brödner, Berlin 1999, § 236.
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KARL M A R X Die Fabrikdisziplin Obgleich nun die Maschinerie das alte System der Teilung der Arbeit technisch über den Haufen wirft, schleppt es sich zunächst als Tradition der Manufaktur gewohnheitsmäßig in der Fabrik fort, um dann systematisch vom Kapital als Exploitationsmittel der Arbeitskraft in noch ekelhaftrer Form reproduziert und befestigt zu werden. Aus der lebenslangen Spezialität, ein Teilwerkzeug zu fuhren, wird die lebenslange Spezialität, einer Teilmaschine zu dienen. Die Maschinerie wird mißbraucht, um den Arbeiter selbst von Kindesbeinen in den Teil einer Teilmaschine zu verwandeln. (...) In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der Fabrik existiert ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen, und sie werden ihm als lebendige Anhängsel einverleibt. (...) Während die Maschinenarbeit das Nervensystem aufs äußerste angreift, unterdrückt sie das vielseitige Spiel der Muskeln und konfisziert alle freie körperliche und geistige Tätigkeit. Selbst die Erleichterung der Arbeit wird zum Mittel der Tortur, indem die Maschine nicht den Arbeiter von der Arbeit befreit, sondern seine Arbeit vom Inhalt. Aller kapitalistischen Produktion, soweit sie nicht nur Arbeitsprozeß, sondern zugleich Verwertungsprozeß des Kapitals, ist es gemeinsam, daß nicht der Arbeiter die Arbeitsbedingung, sondern umgekehrt die Arbeitsbedingung den Arbeiter anwendet, aber erst mit der Maschinerie erhält diese Verkehrung technisch handgreifliche Wirklichkeit. (...) Die technische Unterordnung des Arbeiters unter den gleichförmigen Gang des Arbeitsmittels und die eigentümliche Zusammensetzung
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des Arbeitskörpers aus Individuen beider Geschlechter und verschiedenster Alterstufen schaffen eine kasernenmäßige Disziplin, die sich zum vollständigen Fabrikregime ausbildet und die schon früher erwähnte Arbeit der Oberaufsicht, also zugleich Teilung der Arbeiter in Handarbeiter und Arbeitsaufseher, in gemeine Industriesoldaten und Industrieunteroffiziere, völlig entwickelt. »Die Hauptschwierigkeit in der automatischen Fabrik bestand in der notwendigen Disziplin, um die Menschen auf ihre unregelmäßigen Gewohnheiten in der Arbeit verzichten zu machen und sie zu identifizieren mit unveränderlichen Regelmäßigkeit der großen Automaten. Aber einen den Bedürfnissen und der Geschwindigkeit des automatischen Systems entsprechenden Disziplinarkodex zu erfinden und mit Erfolg auszuführen war ein Unternehmen, des Herkules würdig, das ist das edle Werk Arkwrights! Selbst heutzutage, wo das System in seiner ganzen Vollendung organisiert ist, ist es fast unmöglich, unter den Arbeitern, die das Alter der Mannbarkeit zurückgelegt haben, nützliche Gehilfen für das automatische System zu finden.« (S. 444-447) Aus: Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1962.
FRIEDRICH NIETZSCHE Sittlichkeit der Sitte oder Genealogie des Gewissens Eben das ist die lange Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit. Jene Aufgabe, ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf, schliesst, wie wir bereits begriffen haben, als Bedingung und Vorbereitung die nähere Aufgabe in sich, den Menschen zuerst bis zu einem gewissen Grade nothwendig, einförmig, gleich
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unter Gleichen, regelmäßig und folglich berechenbar zu machen. Die ungeheure Arbeit dessen, was von mir »Sittlichkeit der Sitte« genannt worden ist ( . . . ) - die eigentliche Arbeit des Menschen an sich selber in der längsten Zeitdauer des Menschengeschlechts, seine ganze vorhistorische Arbeit hat hierin ihren Sinn, ihre große Rechtfertigung, wieviel ihr auch von Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus innewohnt: der Mensch wurde mit Hilfe der Sittlichkeit der Sitte und der sozialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht. Stellen wir uns dagegen an's Ende des ungeheuren Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt, wo die Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zutage bringt, wozu sie nur das Mittel war: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn »autonom« und »sittlich« schließt sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf - und in ihm ein stolzes, in allen Muskeln zuckendes Bewußtsein davon, was da endlich errungen und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und FreiheitsBewußtsein, ein Vollendungs-Gefühl des Menschen überhaupt. Dieser Freigewordene, der wirklich versprechen darf, dieser Herr des freien Willens, dieser Souverän - wie sollte er es nicht wissen, welche Überlegenheit er damit vor allem voraushat, was nicht versprechen und für sich selbst gutsagen darf, wie viel Vertrauen, wie viel Frucht, wie viel Ehrfurcht er erweckt - er »verdient« alles dreies - und wie ihm, mit dieser Herrschaft über sich, auch die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und alle willenskürzeren und unzuverlässigeren Kreaturen notwendig in die Hand gegeben ist? (...) Das stolze Wissen um das außerordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit, das Bewußtsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste
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Tiefe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden, zum dominierenden Instinkt: - wie wird er ihn heißen, diesen dominirenden Instinkt, gesetzt, daß er ein Wort dafür bei sich nöthig hat? Aber es ist kein Zweifel: dieser souveräne Mensch heißt ihn sein Gewissen... ( . . . ) - das ist, wie gesagt, eine reife Frucht, aber auch eine späte Frucht - wie lange musste diese Frucht herb und sauer am Baume hängen! Und eine noch viel längere Zeit war von einer solchen Frucht gar nichts zu sehn, - Niemand hätte sie versprechen dürfen, so gewiß auch alles am Baume vorbereitet und gerade auf sie hin im Wachsen war! - »Wie macht man dem Menschen-Tier ein Gedächtnis? Wie prägt man diesem teils stumpfen, teils faseligen AugenblicksVerstande, dieser leibhaftigen Vergeßlichkeit etwas so ein, daß es gegenwärtig bleibt?« (...) Dieses uralte Problem ist, wie man denken kann, nicht gerade mit zarten Antworten und Mitteln gelöst worden; vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. »Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis« - das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. Man möchte selbst sagen, daß es überall, wo es jetzt noch auf Erden Feierlichkeit, ernst, Geheimnis, düstere Farben im Leben von Mensch und Volk giebt, etwas von der Schrecklichkeit nachwirkt, mit der ehemals überall auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt worden ist: die Vergangenheit, die längst tiefste härteste Vergangenheit, haucht uns an und quillt in uns herauf, wenn wir »ernst« werden. Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Castration), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Kulte - alles Das hat in jenem Instinkte einen Ursprung, welcher
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im Schmerz das mächtigste Hilfsmittel der Mnemotechnik errieth. (S. 293-295) Aus: Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Aufl., München 1988, S. 245-412, Stück2 und 3.
EMILE DÜRKHEIM Vom Geist der Disziplin Sie wissen, wie die Moralisten gewöhnlich die Frage lösen. Sie gehen von dem Prinzip aus, daß jeder von uns das Wesentliche der Moral in sich trägt. Daraus folgt, daß man nur mit genügender Aufmerksamkeit in sich selber forschen muß, um es dort mit einem Blick zu entdecken. (...) Um eine Moral zu erstellen, braucht sie nicht beobachtet zu werden. Um zu bestimmen, was sie sein muß, scheint es nicht nötig zu sein, zuerst zu untersuchen, was sie ist oder was sie nicht ist. Man ist sofort bereit, Gesetze zu machen. Woher nimmt die Moral ein solches Privileg? (S. 76 f.) Eine derartige Auffassungwürde über die wahren Bestimmungen der Dinge nur vortäuschen. Beobachten wir die Moral, so wie sie existiert, so sehen wir, daß sie aus einer Unendlichkeit von speziellen, genauen und bestimmten Regeln besteht, die das Verhalten der Menschen in den verschiedenen Lagen, die am häufigsten vorkommen, festlegen. (...) Man braucht sich also die Moral nicht als etwas sehr Allgemeines vorzustellen, das nach Maßgabe der Notwendigkeit entschieden wird. Sie ist im Gegenteil eine Gesamtheit von bestimmten Regeln; ebensoviele Verhaltensmuster mit festen Umrissen, in die wir unsere Handlungen gießen müssen. Wir brauchen diese Regeln nicht erst in dem Augenblick zu erfinden und aus
höheren Prinzipien abzuleiten, in dem wir zum Handeln gezwungen sind. Sie existieren, sie sind vorgefertigt, sie leben und funktionieren rund um uns. Sie sind moralische Wirklichkeit unter ihrer konkreten Form. Diese erste Feststellung ist für uns von großer Wichtigkeit. Sie zeigt, daß die Rolle der Moral in erster Linie ist, das Verhalten zu bestimmen, es festzulegen und der individuellen Willkürlichkeit zu entziehen. (...) Mit anderen Worten: Das Verhalten zu regulieren ist eine wesentliche Funktion der Moral. Darum werden die Außenseiter, die Menschen, die sich keiner bestimmten Beschäftigung unterwerfen, immer mit Mißtrauen beobachtet. Das liegt daran, daß ihr Temperament schon an der Basis krankt und daher ihre Moralität im höchsten Grad ungewiß und zufällig ist. Wenn sie keine geregelten Funktionen einhalten, so darum, weil ihnen jede bestimmte Gewohnheit widerstrebt, weil es ihrer Tätigkeit widerstrebt, sich unter festgelegten Formen einfangen zu lassen, weil sie das Bedürfiiis spüren, frei zu bleiben. (...) Nun ist aber die Moral ihrem Wesen nach etwas Beständiges, sich immer Gleichbleibendes, so lange man nicht zu kurze Zeitläufe im Auge hat. Eine moralische Handlung muß auch morgen der heutigen gleichen, welche Neigungen die Person auch habe, die sie ausführt. Die Moralität setzt also eine gewisse Fähigkeit voraus, unter den gleichen Umständen die gleichen Handlungen zu vollziehen; sie setzt folglich ein gewisses Vermögen voraus, Gewohnheiten anzunehmen und ein gewisses Bedürfnis nach Regelmäßigkeit. Die Verwandtschaft zwischen der Gewohnheit und der praktischen Moral ist sogar so stark, daß jede kollektive Gewohnheit fast unweigerlich einen gewissen moralischen Charakter aufweist (...) Wenn auch nicht alle Kollektivgewohnheiten moralisch sind, so sind doch alle Moralpraktiken Kollektivgewohnheiten. Wer sich also dem widersetzt, was Gewohnheit ist, läuft Gefahr, sich auch der Moralität zu widersetzen.
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Die Regelmäßigkeit ist nur ein Element der Moralität. Wenn man den Begriff selbst der Regel richtig analysiert, so deckt man einen anderen, nicht weniger wichtigen Begriff auf (...) Es ist der Begriff der Autorität. Unter Autorität verstehen wir den Einfluß, den jede moralische Macht, die wir als uns überlegen anerkennen, auf uns ausübt. Auf Grund dieses Einflußes handeln wir in dem Sinn, der uns vorgeschrieben ist, nicht weil uns diese bestimmte Handlung anzieht, und auch nicht, weil wir auf Grund unserer natürlichen oder angenommenen inneren Anlagen dazu neigen, sondern weil in der Autorität, die sie uns vorschreibt, irgendetwas ist, was sie uns aufzwingt. Darin besteht der freiwillige Gehorsam. (...) Die Moral ist also nicht einfach ein System von Gewohnheiten, sie ist ein System von Befehlen. Wir haben behauptet, daß der Außenseiter ein moralisch Unvollständiger ist. Genauso ist es mit dem Anarchisten. (...) Damit stehen wir vor einer anderen Ansicht der Moralität: an der Wurzel des moralischen Lebens liegt, außer dem Geschmack an der Regelmäßigkeit, der Sinn für moralische Autorität. Diese beiden Ansichten sind im übrigen eng verwandt; ihre Einheit liegt in einem komplizierten Begriff, der sie umfaßt. Dieser Begriff ist die Disziplin. Die Disziplin hat in der Tat den Zweck, das Betragen zu regularisieren. Sie wirkt auf die Handlungen, die sich unter bestimmten Bedingungen immer wiederholen; aber sie geht nicht ohne Autorität. Sie ist eine regelrechte Autorität. Wir können also sagen, daß das erste Element der Moralität der Geist der Disziplin ist. (...) Wenn die vorhergehende Analyse richtig ist, so muß gesagt werden, daß die Disziplin ihre Daseinberechtigung in sich selbst hat, daß es gut ist, wenn der Mensch diszipliniert sei, abgesehen von den Handlungen, die er sowieso tun muß. (S. 79-86) Aus: Emile Dürkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne 1902/1903, Einleitung von Paul
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Fauconnet, Übersetzung von Ludwig Schmidts, Frankfurt/M. 1984.
FREDERICK W . TAYLOR Wissenschaftliche Betriebsführung Bei den alten Betriebssystemen hängt der Erfolg fast ausschließlich davon ab, ob man die Initiative des Arbeiters für sich gewinnen kann, was tatsächlich nur sehr selten der Fall ist. Beim neuen System wird die Initiative des Arbeiters, d.h. angestrengtes Arbeiten, guter Wille und Findigkeit, absolut gleichmäßig einen Tag wie den anderen und in größerem Maße gewonnen, als es unter dem alten System überhaupt möglich ist; abgesehen von dieser Erziehung und Verbesserung des Arbeitermaterials bürden sich die Leiter neue Lasten auf, neue Pflichten, eine Verantwortlichkeit, von der man sich bisher nichts träumen ließ. Den Leitern fallt es ζ. B. zu, all die überlieferten Kenntnisse zusammenzutragen, die früher Alleinbesitz der einzelnen Arbeiter waren, sie zu klassifizieren und in Tabellen zu bringen, aus diesen Kenntnissen Regeln, Gesetze und Formeln zu bilden, zur Hilfe und zum Besten des Arbeiters bei seiner täglichen Arbeit. Außer der Aufgabe, hieraus eine Wissenschaft aufzubauen, übernimmt die Leitung noch drei andere Arten von Pflichten, welche neue, schwere Lasten für sie bedeuten. So lassen sich alle diese neuen Pflichten der Verwaltungsorgane in vier Hauptgruppen teilen: Erstens: Die Leiter entwickeln ein System, eine Wissenschaft für jedes einzelne Arbeitselement, die an die Stelle der alten FaustregelMethode tritt. Zweitens: Auf Grund eines wissenschaftlichen Studiums wählen sie die passendsten Leute aus, schulen sie, lehren sie und bilden sie weiter, anstatt, wie früher, den Arbeitern selbst die Wahl ihrer Tätigkeit zu überlassen.
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Drittens: Sie arbeiten in herzlichem Einvernehmen mit den Arbeitern; so können sie sicher sein, dass alle Arbeit nach den Grundsätzen der Wissenschaft, die sie aufgebaut haben, geschieht. Viertens: Arbeit und Verantwortung verteilen sich fast gleichmäßig auf Leitung und Arbeiter. Die Leitung nimmt alle Arbeit, für die sie sich besser eignet als der Arbeiter, auf ihre Schulter, während bisher fast die ganze Arbeit und der größte Teil der Verantwortung auf die Arbeiter gewälzt wurde. (S. 37-39) In den meisten Fällen wird sich diese Wissenschaft (der Betriebsführung) mit Hilfe einer verhältnismäßig einfachen Analyse und Zeitmessung der zu einem der einzelnen Teile der Arbeit notwendigen Bewegungen aufbauen lassen und kann von jemand gemacht werden, dessen ganze Ausrüstung in einer Stoppuhr und einem entsprechend linierten Notizbuch besteht. (...) Im folgenden geben ich eine Zusammenstellung der Schritte, die im allgemeinen zur Ableitung eines einfachen derartigen Gesetzes nötig sind: Erstens: Man suche 10 oder 15 Leute (am besten aus ebenso vielen verschiedenen Fabriken und Teilen des Landes), die in der speziellen Arbeit, die analysiert werden soll, besonders gewandt sind. Zweitens: Man studiere die genaue Reihenfolge der grundlegenden Operationen, welche jeder einzelne dieser Leute immer wieder ausführt, wenn er die fragliche Arbeit verrichtet, ebenso die Werkzeuge, die jeder einzelne benutzt. Drittens man messe mit der Stoppuhr die Zeit, welche zu jeder dieser Einzeloperationen nötig ist, und suche dann die schnellste Art und Weise herauszufinden, auf die sie sich ausführen lässt. Viertens: Man schalte alle falschen, zeitraubenden und nutzlosen Bewegungen aus. Fünftens: nach Beseitigung aller unnötigen Bewegungen stelle man die schnellsten und besten Bewegungen, ebenso die Arbeitsgeräte
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tabellarisch in Serien geordnet zusammen. (S. 125-126) Aus: Frederick Winslow Taylor, Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, München/Berlin 1919.
M A X WEBER Disziplinierung und Versachlichung der Herrschaftsformen Von allen jenen Gewalten aber, welche das individuelle Handeln zurückdrängen, ist die unwiderstehlichste eine Macht, welche neben dem persönlichen Charisma auch die Gliederung nach ständischer Ehre entweder ausrottet oder doch in ihrer Wirkung rational umformt: die rationale Disziplin. Sie ist inhaltlich nichts anderes als die konsequent rationalisierte, d. h. planvoll eingeschulte, präzise, alle eigene Kritik bedingungslos zurückstellende, Ausführung des empfangenen Befehls, und die unablässige innere Eingestelltheit ausschließlich auf diesen Zweck. Diesem Merkmal tritt das weitere der Gleichförmigkeit des befohlenen Handelns hinzu, ihre spezifischen Wirkungen beruhen auf ihrer Qualität als Gemeinschaftshandeln eines Massengebildes, - wobei die Gehorchenden keineswegs notwendig eine örtlich vereinigte, simultan gehorchende oder quantitativ besonders große Masse sein müssen. Entscheidend ist die rationale Uniformierung des Gehorsams einer Vielheit von Menschen. (...) An Stelle der individuellen Heldenekstase, der Pietät, enthusiastischen Begeisterung und Hingabe an den Führer als Person, des Kultes der »Ehre« und der Pflege der persönlichen Leistungsfähigkeit als einer »Kunst« setzt sie die »Abrichtung« zu einer durch »Einübung« mechanisierten Fertigkeit und, soweit sie an starke Motive »ethischen« Charakters überhaupt appelliert [die Ausrich-
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tung auf] »Pflicht und Gewissenhaftigkeit« voraus (...) alles aber im Dienst des rational berechneten Optimum von physischer und psychischer Stoßkraft der gleichmäßig abgerichteten Massen. (S. 681 f.) Die Disziplin des Heeres ist aber der Mutterschoß der Disziplin überhaupt. Der zweite große Erzieher zur Disziplin ist der ökonomische Großbetrieb. Von den pharaonischen Werkstätten und Bauarbeiten an (...) zur karthagischrömischen Plantage, zum spätmittelalterlichen Bergwerk, zur Sklavenplantage der Kolonialwirtschaft und endlich zur modernen Fabrik führen zwar keinerlei direkte historische Übergänge, gemeinsam ist ihnen aber: die Disziplin. (...) Daß dagegen die »militärische Disziplin« ganz ebenso wie für die antike Plantage auch das ideale Muster für den modernen kapitalistischen Werkstattbetrieb ist, bedarf nicht des besonderen Nachweises. Die Betriebsdisziplin ruht, im Gegensatz zur Plantage, hier völlig auf rationaler Basis, sie kalkuliert zunehmend, mit Hilfe geeigneter Messungsmethoden, den einzelnen Arbeiter ebenso, nach seinem Rentabilitätsoptimum, wie irgendein sachliches Produktionsmittel. Die höchsten Triumphe feiert die darauf aufgebaute rationale Ablichtung und Einübung von Arbeitsleistungen bekanntlich in dem amerikanischen System des »scientific management«, welches darin die letzte Konsequenz der Mechanisierung und Disziplinierung des Betriebes zieht. Hier wird der psychophysische Apparat des Menschen völlig den Anforderungen, welche die Außenwelt, das Werkzeug, die Maschine, kurz die Funktion an ihn stellt, angepaßt, seines, durch den eigenen organischen Zusammenhang gegebenen, Rhythmus entkleidet und unter planvoller Zerlegung in Funktionen einzelner Muskeln und Schaffung einer optimalen Kräfteökonomie den Bedingungen der Arbeit entsprechend neu rhythmisiert. Dieser gesamte Rationalisierungsprozeß geht hier wie überall, vor allem auch im staatlichen bürokratischen Apparat, mit der Zentralisation der
sachlichen Betriebsmittel in der Verfügungsgewalt des Herrn parallel. (S. 686 f.) Aus: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. revidierte Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 1985.
NORBERT ELIAS Der gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang Aber es ist nicht mehr eine beständige Unsicherheit, die sie in das Leben des Einzelnen hineinträgt, sondern eine eigentümliche Form von Sicherheit. Sie wirft ihn nicht mehr als Schlagenden oder Geschlagenen, als körperlich Siegenden oder körperliche Besiegten zwischen mächtigen Lustausbrüchen und schweren Ängsten hin und her, sondern von dieser gespeicherten Gewalt in der Kulisse des Alltags geht ein beständiger, gleichmäßiger Druck auf das Leben des Einzelnen aus, den er oft kaum noch spürt, weil er sich völlig an ihn gewöhnt hat, weil sein Verhalten und seine Triebgestaltung von der frühesten Jugend an auf diesen Aufbau der Gesellschaft abgestimmt worden sind. Es ist in der Tat die ganze Prägeapparatur des Verhaltens, die sich ändert; und ihr entsprechend ändern sich, wie gesagt, nicht nur einzelne Verhaltensweisen, sondern das ganze Gepräge des Verhaltens, der ganze Aufbau der psychischen Selbststeuerung. Die Monopolorganisation der körperlichen Gewalt zwingt den Einzelnen gewöhnlich nicht durch eine unmittelbare Bedrohung. Es ist ein auf mannigfaltige Weise vermittelter und ein weitgehend voraussehbarer Zwang oder Druck, den sie beständig auf den Einzelnen ausübt. Sie wirkt zum guten Teil durch das Medium seiner eigenen Überlegungen
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hindurch. Sie selbst ist gewöhnlich nur als Potenz, als Kontrollinstanz in der Gesellschaft gegenwärtig; und der aktuelle Zwang ist ein Zwang, den der Einzelne nun auf Grund seines Wissens um die Folgen seiner Handlungen über eine ganze Reihe von Handlungsverflechtungen hinweg oder auf Grund der entsprechenden Erwachsenengesten, die seinen psychischen Apparat als Kind modelliert haben, auf sich selbst ausübt. (...) Was sich mit der Monopolisierung der Gewalttat in den befriedeten Räumen herstellt, ist ein anderer Typus von Selbstbeherrschung oder Selbstzwang. Es ist eine leidenschaftslosere Selbstbeherrschung. Der Kontroll- und Überwachungsapparatur in der Gesellschaft entspricht die Kontrollapparatur, die sich im Seelenhaushalt des Individuums herausbildet. Diese wie jene versucht nun das ganze Verhalten, alle Leidenschaften gleichermaßen, einer genaueren Regelung zu unterwerfen. (S. 325-328) Aus: Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bände, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt/M. 1997.
MICHEL FOUCAULT Die Disziplinargesellschaft Die »Disziplin« kann weder mit einer Institution noch mit einem Apparat identifiziert werden. Sie ist ein Typ von Macht; eine Modalität der Ausübung von Gewalt; ein Komplex von Instrumenten, Techniken, Prozeduren, Einsatzebenen, Zielscheiben; sie ist eine »Physik« oder eine »Anatomie« der Macht, eine Technologie. Und
sie kann von »spezialisierten« Institutionen (Strafanstalten oder Besserungshäusern des 19. Jahrhunderts) eingesetzt werden; oder von Institutionen, die sich ihrer zur Erreichung ganz bestimmter Ziele bedienen (Erziehungsheime, Spitäler); oder auch von vorgegebenen Institutionen, die ihre inneren Machtmechanismen damit verstärken oder verändern (so wird eines Tages zu zeigen sein, wie sich die innerfamiliären Beziehungen, vor allem in der Zelle Eltern/ Kind, »diszipliniert« haben, indem sie seit dem klassischen Zeitalter äußere Modelle (schulische, militärische, dann ärztliche, psychiatrische, psychologische Modelle) übernommen haben, wodurch die Familie zum Hauptort der Disziplinarfrage nach dem Normalen und Anormalen geworden ist); oder durch Apparate, die aus der Disziplin ihr inneres Funktionsprinzip gemacht haben (Disziplinierung des Verwaltungsapparates seit der napoleonischen Zeit); oder schließlich durch Staatsapparate, die nicht ausschließlich aber wesentlich die Aufgabe haben, die Disziplin in einer ganzen Gesellschaft durchzusetzen (Polizei). Eine Disziplinargesellschaft formiert sich also in der Bewegung, die von geschlossenen Disziplinen, einer Art gesellschaftlicher »Quarantäne«, zum endlos verallgemeinerungsfähigen Mechanismus des »Panoptismus« führt. Es ist nicht so, daß die Disziplinarfunktion der Macht alle übrigen Funktionen ersetzt hätte; vielmehr hat sie sich in sie und zwischen sie eingeschlichen und, indem sie sie gelegentlich modifiziert, sie miteinander verband und sie erweiterte, ließ sie die Machtwirkungen bis in die feinsten und entlegensten Elemente dringen. Die Disziplinarfunktion gewährleistet eine infinitesimale Verteilung der Machtbeziehungen. (S. 276 ff.) Aus: Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1977.
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Selbstregulation/Gleichgewicht/Steuerung DAVID HUME Die sich selbst ausgleichende Handelsbilanz Angenommen, vier Fünftel des gesamten Geldes in Großbritannien würden über Nacht vernichtet, und die Nation wäre in Hinsicht auf Hartgeld in den gleichen Zustand versetzt wie unter der Regierung der Heinrichs und Eduards, was wäre die Folge? Müßte nicht der Preis aller Arbeit und Waren entsprechend sinken und alles so billig verkauft werden wie zu jenen Zeiten? Welche Nation könnte dann mit uns auf ausländischen Märkten konkurrieren oder zu den gleichen Preisen Schiffahrt betreiben oder Waren verkaufen wollen, die uns ausreichenden Profit einbrächten? In welch kurzer Zeit müßte uns dies also das Geld zurückbringen, das wir verloren hätten und uns auf die Ebene aller benachbarten Nationen erheben? Wo wir, nachdem wir sie erreicht hätten, sofort allen Vorteil durch billige Arbeit und Waren verlieren würden und der weitere Geldfluß durch unsere Fülle und Sättigung gebremst würde. Nimmt man weiter an, daß alles Geld in Großbritannien in einer Nacht um das Fünffache vermehrt würde, müßte nicht der gegenteilige Effekt auftreten? Müßten nicht alle Arbeit und Waren in so astronomische Höhen steigen, daß keine benachbarte Nation es sich leisten könnte, von uns zu kaufen, während andererseits ihre Waren vergleichsweise so billig würden, daß sie uns trotz aller Gesetze, die man dagegen erlassen könnte, überschwemmen und uns unser Geld entziehen würden, bis wir auf eine Ebene mit den Ausländern gesunken wären und jene große Überlegenheit im Reichtum verloren hätten, die uns solche Nachteile gebracht hat? Die gleichen Ursachen, die diese übertriebenen Ungleichheiten korrigieren könnten, wenn sie wie durch ein Wunder entstehen würden,
müssen offensichtlich im gewöhnlichen Lauf der Dinge auch deren Auftreten verhindern und auf ewig in allen benachbarten Nationen das Geld in ungefähren Verhältnis zu Kunst und Fleiß jeder Nation erhalten. Wo Wasser in Verbindung steht [wherever it communicates], bleibt es immer auf einem Niveau. Fragt man Naturwissenschaftlernach dem Grund dafür, so erklären sie, daß wenn man es an einer Stelle erhöhen würde, die größere Schwerkraft dieses Teils nicht ausgeglichen und ihn daher drücken werde, bis er ein Gegengewicht fände, und daß die gleiche Ursache, die die Ungleichheit beseitige, wenn sie auftrete, sie ohne gewaltsame äußere Eingriffe auf ewig verhindern werde. (S. 234 ff.) Aus: David Hume, Über die Handelsbilanz, Politische und ökonomische Essays, Teilbd. 2, übersetzt von Susanne Fischer, hg. und eingeleitet von Udo Bermbach, Hamburg 1988.
A D A M SMITH Die »natürliche« Regulation der Preise Eine Ware wird dann zu dem verkauft, was man ihren natürlichen Preis bezeichnet, wenn der Preis genau dem Betrag entspricht, der ausreicht, um nach den natürlichen Sätzen die Grundrente, den Arbeitslohn und den Kapitalgewinn zu bezahlen, welche anfallen, wenn das Produkt erzeugt, verarbeitet und zum Markt gebracht wird. Die Ware wird dann genau zu ihrem Preis oder zu den tatsächlichen Kosten verkauft, die der Person entstehen, die sie auf dem Markt anbietet, denn da im allgemeinen Sprachgebrauch der sogenannte Einkaufspreis einer Ware
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den Gewinn desjenigen, der sie wiederverkauft, nicht einschließt, verliert der Betroffene offensichtlich bei einem Handel, wenn er zu einem Preis verkauft, der ihm nicht erlaubt, die ortsübliche Gewinnspanne einzukalkulieren. (...) Obwohl nun der Preis, der dem Händler diesen Gewinn sichert, nicht immer der niedrigste ist, zu dem er bisweilen seine Waren verkauft, so ist er doch der tiefste Preis, zu dem er auf längere Sicht wahrscheinlich anbieten wird, zumindest dort, wo vollkommene Gewerbefreiheit herrscht oder wo er seinen Erwerb beliebig oft wechseln kann. (...) Der Marktpreis eines einzelnen Gutes hängt (is regulated by) von dem Verhältnis der am Markt tatsächlich angebotenen Menge und der Nachfrage jener ab, welche bereit sind, den natürlichen Preis dafür zu bezahlen oder den vollen Wert der Rente, der Arbeit und des Gewinns, der gezahlt werden muß, damit das Gut überhaupt am Markte erscheint. (...) Ist die am Markt angebotene Menge einer Ware kleiner als die effektive Nachfrage, so kann nicht jeder, der bereit ist, den vollen Wert von Rente, Lohn und Gewinn, die ausgegeben werden mußten, zu bezahlen, die Menge davon erhalten, die er zu haben wünscht. Einige bieten bereitwillig mehr, ehe sie völlig darauf verzichten. Es setzt sofort ein Wettbewerb unter ihnen ein, so daß der Marktpreis mehr oder weniger hoch über den natürlichen Preis steigen wird, je nachdem, wie stark entweder Dringlichkeit oder Wohlstand und zügelloser Luxus der Wettbewerber die Konkurrenz unter ihnen verschärften. (...) Übersteigt indes das Angebot die effektive Nachfrage am Markt, so kann es nicht an jene abgesetzt werden, die bereit sind, den vollen Wert von Rente, Lohn und Gewinn, die ausgelegt werden mußten, zu bezahlen. Ein Teil muß an die Nachfrager verkauft werden, die weniger bieten, so daß der niedrige Preis, den sie dafür entrichten, zwangsläufig den Preis insgesamt drückt. Der Marktpreis wird umso mehr unter den natürlichen Preis fallen, je mehr die Höhe des Überschusses den Wettbewerb unter den
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Verkäufern verschärft oder je dringender diese ihre Ware gerade absetzen müssen. (...) Die am Markt angebotene Menge einer Ware paßt sich ganz von selbst der wirksamen Nachfrage an. Denn es liegt im Interesse aller, die Land, Arbeit und Kapital einsetzen, um ein Gut auf den Markt zu bringen, das Angebot niemals über die effektive Nachfrage steigen zu lassen. Umgekehrt sind alle anderen daran interessiert, daß es niemals darunterliegt. (...) Aus diesem Grunde ist der natürliche Preis gleichsam der zentrale, auf den die Preise aller Güter ständig hinstreben (gravitating). Verschiedene Zufalle mögen sie bisweilen ein gutes Stück über dem natürlichen Preis halten und sie gelegentlich zwingen, sogar etwas unter ihm zu bleiben, doch welche Hindernisse sie auch davon abhalten können, daß sie sich einpendeln und in diesem Zentrum zur Ruhe kommen, sie werden dennoch dauernd in diese Richtung drängen. (S. 48-51) Aus: Adam Smith, Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen, in einem Band nach der 5. Aufl. von 1789 (letzter Hand) hg. von Horst Claus Recktenwald, München 1993.
A D A M SMITH Die »natürliche« Regulation von Armut, Arbeit und Bevölkerung Jedes Lebewesen vermehrt sich natürlich nur in Einklang mit den Mitteln, die zu seiner Existenz notwendig sind, keines kann diese Grenze jemals überschreiten. In einer zivilisierten Gesellschaft kann indes die Knappheit an Lebensmitteln nur in den unteren Schichten Schranken setzen, wenn die Spezies Mensch sich weiter vermehren will. Da geschieht ausschließlich auf die Weise, daß die meisten der
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in diesen fruchtbaren Ehen geborenen Kinder sterben. Natürlich wird diese Grenze hinausgeschoben, wenn die Entlohnung der Arbeit reichlicher wird, was dazu führt, daß auch die Armen ihre Kinder besser versorgen und folglich mehr von ihnen aufziehen können. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, daß dies lediglich in dem Maße möglich ist, in dem die Nachfrage nach Arbeit zunimmt. Steigt sie fortwährend an, so muß das erhöhte Arbeitsentgelt Heiratslust und Fortpflanzung gerade so stark anregen, daß der ständig wachsende bedarf an Arbeitskräften durch die Zunahme der Bevölkerung gedeckt werden kann. Bleibt der Lohn einmal unter der erforderlichen Höhe, würde ihn der Mangel an Arbeitskräften bald wieder hochtreiben. Wäre er dagegen einmal höher, würde ihn die übermäßige Vermehrung sehr bald wieder auf die notwendige Höhe herabdrücken. In einem Falle wäre der Markt mit Arbeitskräften unterversorgt, im anderen überversorgt, so daß die Marktkräfte den Lohn auf einem Niveau einpendeln würden, das den jeweiligen Verhältnissen in dem Lande entspricht. Auf solche Art reguliert die Nachfrage nach Arbeitskräften [demand for men], wie bei jeder anderen Ware, das Wachstum der Bevölkerung (production of men). Sie beschleunigt es, wenn es zu langsam ist, und sie hindert es, wenn es zu schnell ist. (S. 69) Aus: Adam Smith, Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen, in einem Band nach der 5. Aufl. von 1789 (letzter Hand) hg. von Horst Claus Recktenwald, München 1993.
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JOSEPH TOWNSEND Biopolitische Regulation - Von Ziegen und Hunden In der Südsee gibt es eine Insel, die nach ihrem ersten Entdecker, Juan Fernandez, benannt wurde. Auf diesem abgesonderten Platz siedelte Juan Fernandez Ziegen an - eine männliche begleitet von seinem Weibchen. Dieses glückliche Paar fand Weideland in Fülle und konnte so bereitwillig dem ersten Gebot gehorchen: zu wachsen und sich zu vermehren, bis nach einer Weile die kleine Insel von ihnen angefüllt war. Bis zu diesem Zeitpunkt kannten sie weder Elend noch Mangel, ja sie schienen sich ihrer Zahl zu rühmen. Aber von diesem unglücklichen Zeitpunkt an begannen sie Hunger zu leiden; jedoch vermehrten sie sich noch für einen kurzen Zeitraum und wenn sie mit Vernunft ausgestattet gewesen wären, hätten sie die extreme Lage ihrer Hungersnot erfassen müssen. In dieser Situation starben zuerst die Schwächsten und die Fülle war wiederhergestellt. Auf diese Weise schwankten sie zwischen Glück und Elend; entweder litten sie an ihrer Not oder erfreuten sich ihrer Fülle, je nachdem ob ihre Zahl sich verringerte oder vermehrte; zwar niemals in einem bleibenden Zustand, so hielten sie sich doch fast immer im Gleichgewicht mit ihrer Nahrungsmenge. Dieses Gleichgewicht wurde von Zeit zu Zeit zerstört, teils durch epidemische Krankheiten, teils durch ankommende Schiffe in Not. (...) Als die Spanier herausfanden, daß englische Kaperschiffe diese Insel zur Proviantierung anliefen, beschlossen sie die völlige Ausrottung der Ziegen und zwar indem sie einen Windhund mit seiner Hündin am Ufer aussetzten. Diese wiederum nahmen zu und vermehrten sich im Verhältnis zur Nahrungsmenge, die sie fanden. Infolgedessen verminderte sich die Ziegenart wie die Spanier es vorausgesehen hatten. Wären sie völlig ausgerottet worden, so hätten auch die
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Hunde sterben müssen. Doch einige Ziegen zogen sich auf die Felsen zurück, wo die Hunde ihnen niemals folgen konnten; und sie stiegen nur für kurze Zeit hinab, um in den Tälern mit Furcht und Umsicht zu fressen, wobei nur wenige - neben den Leichtsinnigen und Ungestümen - zur Beute wurden. Nur die aufmerksamsten, sehnigsten und stärksten Hunde konnten genügend Nahrung fassen. Somit stellte sich ein neues Gleichgewicht ein: die Schwächsten jeder Art waren die ersten, die der Natur ihre Schuld zahlten; die Stärksten und Kräftigsten blieben am Leben (...) Der Lauf der Natur mag leicht zu stören sein, aber der Mensch wird niemals in der Lage sein, seine Gesetze umzukehren. (S. 36 ff., Übersetzung Matthias Bohlender) Aus: Joseph Townsend, Dissertation on the Poor Laws, Berkeley 1971.
THOMAS MALTHUS Die »natürliche« Regulation der Bevölkerung Meiner Ansicht nach kann ich mit Recht zwei Postulate aufstellen. Erstens: Die Nahrung ist für die Existenz des Menschen notwendig. Zweitens: Die Leidenschaft zwischen den Geschlechtern ist notwendig und wird in etwa in ihrem gegenwärtigen Zustand bleiben. Diese beiden Gesetze scheinen, seit wir überhaupt etwas über die Menschheit wissen, festgefügte Bestandteile unserer Natur zu sein. Da wir bisher keinerlei Veränderung an ihnen wahrnehmen konnten, haben wir keinen Anlaß zu der Folgerung, daß sie jemals aufhören, das zu sein, was sie jetzt sind, ohne einen direkten Machterweis jenes Wesens, das das System des Universums erschuf und es gemäß den festgefügten
Gesetzen zum Vorteil seiner Geschöpfe in seinem vielfältigen Geschehen erhält. (...) Indem ich meine Postulate als gesichert voraussetze, behaupte ich, daß die Vermehrungskraft der Bevölkerung unbegrenzt größer ist als die Kraft der Erde, Unterhaltsmittel für den Menschen hervorzubringen. Die Bevölkerung wächst, wenn keine Hemmnisse auftreten, in geometrischer Reihe an. Die Unterhaltsmittel nehmen nur in arithmetischer Reihe zu. Schon einige wenige Zahlen werden ausreichen, um die Übermächtigkeit der ersten Kraft im Vergleich zu der zweiten vor Augen zu führen. Aufgrund jenes Gesetzes unserer Natur, wonach die Nahrung für den Menschen lebensnotwendig ist, müssen die Auswirkungen dieser beiden ungleichen Kräfte im Gleichgewicht gehalten werden. Dies bedeutet ein ständiges, energisch wirkendes Hemmnis für die Bevölkerungszunahme aufgrund von Unterhaltsschwierigkeiten, die unweigerlich irgendwo auftreten und notwendigerweise von einem beachtlichen Teil der Menschheit empfindlich verspürt werden. (...) Die natürliche Ungleichheit, die zwischen den beiden Kräften - der Bevölkerungsvermehrung und der Nahrungserzeugung der Erde besteht, und das große Gesetz unserer Natur, das die Auswirkungen dieser beiden Kräfte im Gleichgewicht halten muß, bilden die gewaltige, mir unüberwindlich erscheinende Schwierigkeit auf dem Weg zur Vervollkommnungsfahigkeit der Gesellschaft. (S. 17-19) Wir wollen annehmen, daß die Unterhaltsmittel in einem Lande gerade ausreichen, um die Bewohner ohne Schwierigkeiten zu versorgen. Das stetige Bestreben nach Bevölkerungsvermehrung (...) läßt die Bevölkerungszahl anwachsen, ehe die Unterhaltsmittel zugenommen haben. Deshalb muß die Nahrung, die zuvor für sieben Millionen ausreichte, nunmehr an siebeneinhalb oder acht Millionen verteilt werden. Die Armen müssen zwangsläufig noch schlechter leben, und viele von ihnen werden in äußerste Not geraten. Da auch die Zahl der Arbeiter die
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Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt übersteigt, wird der Arbeitslohn eine fallende Tendenz zeigen, während gleichzeitig der Preis der Lebensmittel eine steigende Tendenz aufweisen wird. Der Arbeiter muß daher mehr Arbeit leisten, um dasselbe zu verdienen wie zuvor. Während dieser Zeit der Not sind die Bedenken gegenüber einer Heirat und die Schwierigkeit, eine Familie zu erhalten, so groß, daß die Bevölkerungszahl auf demselben Stand bleibt. Unterdessen ermutigt der niedrige Wert der Arbeit, der Überfluß an Arbeitskräften und die Notwendigkeit verstärkten Fleißes die Landbesitzer, mehr Arbeit auf ihren Boden zu verwenden, neues Land urbar zu machen und das bereits bebaute zu düngen und gründlicher zu bestellen, bis schließlich die Unterhaltsmittel wieder im gleichen Verhältnis zur Bevölkerung stehen, wie zu der Zeit, von der wir ausgegangen waren. (...) Oberflächliche Beobachter werden diese Art der Schwankungen [oscillations] nicht wahrnehmen, und es dürfte sogar dem aufmerksamsten Geist schwerfallen, ihre Perioden zu bestimmen. Kein denkender Mensch, der sich mit dem Gegenstand gründlich auseinandersetzt, wird mit gutem Recht bezweifeln können, daß in der Alten Welt ein derartiges Auf und Ab [vibration] stattfindet, wenn auch aus den verschiedensten Ursachen und in weit weniger auffallender und viel unregelmäßigererWeise, als ich es beschrieben habe. Es gibt viele Gründe, warum diese Schwankungen weniger wahrgenommen und mit geringerer Genauigkeit von der Erfahrung bestätigt worden sind, als man an sich erwarten könnte. (S. 24 f.) Aus: Thomas Malthus, Das Bevölkerungsgesetz, hg. und übersetzt von Christian M. Barth, München 1977.
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GEORG W . F. HEGEL System der Bedürfnisse Die Staatsökonomie ist die Wissenschaft, die von diesen Gesichtspunkten ihren Ausgang hat, dann aber das Verhältnis und die Bewegung der Massen in ihrer qualitativen und quantitativen Bestimmtheit und Verwicklung darzulegen hat. - Es ist dies eine der Wissenschaften, die in neuerer Zeit als ihrem Boden entstanden ist. Ihre Entwicklung zeigt das Interessante, wie der Gedanke (s. Smith, Say, Ricardo) aus der unendlichen Menge von Einzelheiten, die zunächst vor ihm liegen, die einfachen Prinzipien der Sache, den in ihr wirksamen und regierenden Verstand herausfindet. (...) Zusatz·. Es gibt gewisse allgemeine Bedürfnisse, wie Essen, Trinken, Kleidung, usw., und es hängt durchaus von zufälligen Umständen ab, wie diese befriedigt werden. Der Boden ist hier oder dort mehr oder weniger fruchtbar, die Jahre sind in ihrer Ergiebigkeit verschieden, der eine Mensch ist fleißig, der andere faul; aber dieses Wimmeln von Willkür erzeugt aus sich allgemeine Bestimmungen, und dieses anscheinende zerstreute und Gedankenlose wird von einer Notwendigkeit gehalten, die von selbst eintritt. Dieses Notwendige hier aufzufinden, ist Gegenstand der Staatsökonomie, einer Wissenschaft, die dem Gedanken Ehre macht, weil sie zu einer Masse von Zufälligkeiten die Gesetze findet. Es ist ein interessantes Schauspiel, wie alle Zusammenhänge hier rückwirkend sind, wie die besonderen Sphären sich gruppieren, auf andere Einfluß haben und von ihnen ihre Beförderung oder Hinderung erfahren. (S. 346 f.) Die verschiedenen Interessen der Produzenten und Konsumenten können in Kollision miteinander kommen, und wenn sich zwar das richtige Verhältnis im Ganzen von selbst herstellt, so bedarf die Ausgleichung auch einer über beiden stehenden, mit Bewußtsein vorgenommen Regulierung. Das Recht einer solchen für das Ein-
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zelne (ζ. B. Taxation der Artikel der gemeinsten Lebensbedürfnisse) liegt darin, daß [durch] das öffentliche Ausstellen von Waren, die von ganz allgemeinem, alltäglichem Gebrauche sind, [diese] nicht sowohl einem Individuum als solchem, sondern ihm als Allgemeinem, dem Publikum angeboten werden, dessen Recht, nicht betrogen zu werden, und die Untersuchung der Waren als ein gemeinsames Geschäft von einer öffentlichen Macht vertreten und besorgt werden kann. (...) Gegen die Freiheit des Gewerbes und Handels in der bürgerlichen Gesellschaft ist das andere Extrem die Versorgung sowie die Bestimmung der Arbeit aller durch öffentliche Veranstaltung, - wie etwa auch die alte Arbeit der Pyramiden und der anderen ungeheuren ägyptischen und asiatischen Werke, welche öffentliche Zwecke ohne die Vermittlung der Arbeit des Einzelnen durch seine besondere Willkür und sein besonderes Interesse hervorgebracht wurden. Dieses Interesse ruft jene Freiheit gegen die höhere Regulierung an, bedarf aber, je mehr es blind in den selbstsüchtigen Zweck vertieft [ist], um so mehr einer solchen, um zum Allgemeinen zurückgeführt zu werden und um die gefährlichen Zuckungen und die Dauer des Zwischenraumes, in welchem die Kollisionen auf dem Weg bewußtloser Notwendigkeit ausgleichen sollen, abzukürzen und zu mildern. (S. 384 f.) Aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriß, in: ders., Theorie-Werkausgabe, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt/M. 1969-1971, §§189 und 236.
KARL M A R X Widerspruch und Krise der Selbstregulation Diese beiden im Akkumulationsprozeß einbegriflhen Momente sind aber nicht nur in dem ruhigen Nebeneinander zu betrachten, worin Ricardo sie behandelt; sie schließen einen Widerspruch ein, der sich in widersprechenden Tendenzen und Erscheinungen kundgibt. Die widerstreitenden Agentien wirken gleichzeitig gegeneinander. Gleichzeitig mit den Antrieben zur wirklichen Vermehrung der Arbeiterbevölkerung, die aus der Vermehrung des als Kapital wirkenden Teils des gesellschaftlichen Gesamtprodukts stammen, wirken die Agentien, die eine nur relative Übervölkerung schaffen. Gleichzeitig mit dem Fall der Profitrate wächst die Masse der Kapitale, und geht Hand in Hand mit ihr eine Entwertung des vorhandnen Kapitals, welche diesen Fall aufhält und der Akkumulation von Kapitalwert einen beschleunigenden Antrieb gibt. Gleichzeitig mit der Entwicklung der Produktivkraft entwickelt sich die höhere Zusammensetzung des Kapitals, die relative Abnahme des variablen Teils gegen den konstanten. Diese verschiedenen Einflüsse machen sich bald mehr nebeneinander im Raum, bald mehr nacheinander in der Zeit geltend; periodisch macht sich der Konflikt der widerstreitenden Agentien in Krisen Luft. Die Krisen sind immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandenen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht fur den Augenblick wiederherstellen. Der Widerspruch ganz allgemein ausgedrückt, besteht darin, daß die kapitalistische Produktionsweise eine Tendenz einschließt nach absoluter Entwicklung der Produktivkräfte, abgesehn vom Wert und dem in ihm eingeschloßnen Mehrwert, auch abgesehn von den gesellschaftlichen Verhältnissen, innerhalb deren die
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kapitalistische Produktion stattfindet; während sie andrerseits die Erhaltung des existierenden Kapitalwerts und seine Verwertung im höchsten Maß (d. h. stets beschleunigtes Anwachsen dieses Werts) zum Ziel hat. (...) Die periodische Entwertung des vorhandnen Kapitals, die ein der kapitalistischen Produktionsweise immanentes Mittel ist, den Fall der Profitrate aufzuhalten und die Akkumulation von Kapitalwert durch Bildung von Neukapital zu beschleunigen, stört die gegebenen Verhältnisse, worin sich der Zirkulations- und Reproduktionsprozeß des Kapitals vollzieht, und ist daher begleitet von plötzlichen Stockungen und Krisen des Produktionsprozesses. (...) Die kapitalistische Produktion strebt beständig, diese ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerm Maßstab entgegenstellen. Die wahre Schranke der kapitalistischen
Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloß Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. (...) Das Mittel - unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte - gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandenen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen. (S. 259 f.) Aus: Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, in:
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Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 25, Berlin 1964.
HERBERT SPENCER Regierung und Gesellschaft Stellen wir uns also eine Anzahl von Menschen vor, die ohne anerkannte Gesetze zusammenleben, ohne Beschränkungen ihrer Handlungen, außer denen, die ihnen ihre eigene Furcht vor deren Folgen auferlegt; sie gehorchen lediglich den Impulsen ihrer Leidenschaften. Was ist das Ergebnis? Die Schwachen, diejenigen mit der geringste körperliche Stärke und dem geringsten Einfluß, werden von den Mächtigeren unterdrückt. Diese wiederum erfahren die Tyrannei jener, die in der Rangordnung noch höher stehen; und selbst die Einflußreichsten werden der gemeinsamen Rache jener unterworfen, die sie verletzt haben. Daher kommt jeder unmittelbar zu dem Schluß, das sowohl sein individuelles Interesse als auch das des Gemeinwesen [community] im Ganzen dann am besten berücksichtigt wird, wenn man sich in eine gegenseitige Schutzgemeinschaft [common bond of protection] begibt. Alle stimmen darin überein, sich den Entscheidungen ihrer Mitglieder zu beugen und bestimmten allgemeinen Übereinkünften zu gehorchen. Vermehrt sich nun nach und nach die Bevölkerung, so steigt die Zahl der Streitfälle und man findet es fortan bequemer, diese Entscheidungsmacht [arbitrary power] an eine oder mehrere Personen zu delegieren. Diese sollten in Anbetracht der Zeit, die sie dem öffentlichen Geschäft widmen - vom Rest der Gemeinschaft unterhalten werden. So entsteht die Regierung aus den natürlichen Erfordernissen des Gemeinschaftslebens. Doch worin bestehen diese Erfordernisse? Wurde die Regierung eingesetzt, um den Handel zu regulieren, um jedem Einzelnen vorzuschreiben, wo er kaufen und wo er verkau-
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fen soll? Verlangen die Leute nach Vorschriften, welche Religion sie glauben, welche Rituale und Zeremonien sie praktizieren oder wie oft sie am Sonntag zur Kirche gehen müssen? Ist Erziehung ein Gegenstand der staatlichen Aufinerksamkeit? Fragen die Leute nach Anweisungen darüber, wie sie ihre Wohltätigkeit ausüben sollen? Wollen sie gesagt bekommen, wem sie was, wieviel und in welcher Weise geben sollen? Benötigen Sie eine zentrale Planung und Konstruktion ihrer Kommunikationsmittel, ihrer Straßen und Schienen? (...) Kurz gesagt, brauchen sie deshalb eine Regierung, weil sie einsehen, dass der Allmächtige die Einrichtung jener sozialen Mechanismen vernachlässigte, ohne deren dauerhaftes Eingreifen alles schief laufen würde? Nein; sie wissen oder sollten wissen, dass die Gesetze der Gesellschaft von solcher Art sind, dass die natürlichen Übel sich von selbst zurechtrücken. In der Gesellschaft wie in jedem Teil der Schöpfung herrscht das bewundernswerte Prinzip der Selbstregulation [self-adjusting principle], das alle Elemente im Gleichgewicht [equilibrium] hält. Ja, mehr noch: sobald der Mensch in die äußere Natur eingreift, zerstört er nicht selten dieses rechte Gleichgewicht und erzeugt größere Übel als diejenigen, die es zu heilen galt. Der Versuch also, durch Gesetzgebung alle Handlungen des Gemeinwesen [community] zu regulieren, führt zu nichts als Elend und Verwirrung. (S. 186 f., Übersetzung Matthias Bohlender) Aus: Herbert Spencer, The Man Versus The State, Indianapolis 1981.
EMILE DÜRKHEIM Der aktive, regulierende Staat Wenn die Rechte des Individuums nicht ipso facto mit dem Individuum gegeben sind, wenn sie nicht so eindeutig durch die Natur der Dinge
vorgegeben sind, daß der Staat sie nur noch konstatieren und zu verkünden bräuchte, wenn sie vielmehr erst den widerstreitenden Mächten, die sie leugnen, abgetrotzt werden müssen und wenn der Staat allein in der Lage ist, diese Aufgabe zu übernehmen, dann kann er sich nicht auf die Rolle eines obersten Schiedsrichters, auf die Verwaltung einer bloß negativen Gerechtigkeit beschränken, wie es der utilitaristische oder der Kantische Individualismus behaupten. Vielmehr muß er Energien in bezug auf jene Kräfte freisetzen, zu denen er ein Gegengewicht bilden soll. Er muß sogar in die Sekundärgruppen, Familien, Zünfte, Kirchen, territorialen Einheiten usw. eindringen, die, wie wir gesehen haben, die Persönlichkeit ihrer Mitglieder zu absorbieren versuchen, und zwar mit dem Ziel, diese Absorption zu verhindern, den einzelnen zu befreien und diesen Teilgemeinschaften in Erinnerung zu rufen, daß sie nicht allein da sind und daß es ein Recht gibt, das über dem ihren steht. Der Staat muß sich also in das Leben dieser Gruppen einmischen, muß ihre Aktivitäten überwachen und kontrollieren, muß sich in alle Richtungen verzweigen. Wenn er diese Aufgabe erfüllen soll, darf er sich nicht in die Gerichtssäle zurückziehen; vielmehr muß er in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens präsent sein und aktiv werden. (S. 96) Früher war das staatliche Handeln nach außen gerichtet; jetzt ist es dazu bestimmt, sich mehr und mehr nach innen zu wenden. (...) Es bieten sich wahrhaftig genügend Betätigungsfelder für den Staat, wenn es darum geht, das soziale Milieu so zu gestalten, daß die Person sich darin voll verwirklichen kann, die Gemeinschaftsmaschinerie so zu steuern, daß sie den einzelnen möglichst wenig belastet, und zugleich für einen friedlichen Austausch und den Wettbewerb aller wohlgesonnenen Kräfte im Blick auf ein Ideal sorgen, dem man friedlich und gemeinschaftlich zustrebt. (...) Der Staat ist also weder dazu bestimmt, zum bloßen Zuschauer des sozialen Lebens zu werden, in des-
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sen Gang er allenfalls negativ eingreift, wie es die Nationalökonomen wollen, noch ist er ein bloßes Rädchen der ökonomischen Maschine, wie es den Sozialisten vorschwebt. (S. 104 f.) Aus: Emile Dürkheim, Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, übersetzt von Michael Bischoff, hg. von Hans-Peter Müller, Frankfurt/M. 1991.
JOHN M . KEYNES Regulation von Investition, Konsumtion und Vollbeschäftigung Der Umriss unserer Theorie kann wie folgt ausgedrückt werden. Wenn die Beschäftigung zunimmt, nimmt das gesamte Realeinkommen zu. Das psychologische Verhalten der Bevölkerung ist nun derart, daß bei einer Zunahme des gesamten Realeinkommens auch der gesamte Verbrauch zunimmt, obschon nicht im gleichen Maße wie das Einkommen. Daher würden die Unternehmer Verluste machen, wenn der gesamte Beschäftigungszuwachs der Befriedigung der erhöhten Konsumgüternachfrage gewidmet würde. Um eine gegebene Beschäftigungsmenge zu rechtfertigen, ist somit eine laufende Investitionssumme erforderlich, die groß genug ist, um den Überschuß der gesamten Produktion über die Menge zu absorbieren, die die Bevölkerung auf dem gegebenen Beschäftigungsniveau verbraucht. Denn ohne diese Investitionssumme werden die Einnahmen der Unternehmer kleiner sein, als notwendig ist, um sie zu veranlassen, die gegebene Beschäftigungsmenge anzubieten. Daraus folgt, daß, wenn das, was wir den Hang zum Verbrauch [propensity to consume] der Bevölkerung nennen, gegeben ist, das Beschäftigungsgleichgewicht - das heißt jenes Niveau, auf dem die Unternehmer in ihrer Ge-
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samtheit keine Veranlassung haben, die Beschäftigung zu steigern oder zu verringern - von der Summe der laufenden Investition abhängt. Die Summe der laufenden Investition wird wiederum von dem abhängen, was wir die Veranlassung zur Investition [inducement to invest] nennen, und wir werden sehen, daß die Veranlassung zur Investition vom Verhältnis zwischen der Grenzleistungskurve des Kapitals und den Zinssätzen für Anleihen verschiedener Laufzeit und Risiken abhängt. Einmal den Hang zum Verbrauch und die Rate der Neuinvestition vorausgesetzt, kann es somit nur ein Beschäftigungsniveau geben, das mit dem Gleichgewichtszustand vereinbar ist; denn jedes andere Niveau würde zu einem Ungleichgewicht zwischen dem gesamten Angebotspreis der Produktion und dem gesamten Nachfragepreis führen. Dieses Niveau kann nicht über der Vollbeschäftigung liegen, daß heißt der Reallohn kann nicht niedriger als der Grenznachteil der Arbeit sein. Aber es besteht kein allgemeiner Grund, anzunehmen, daß es gleich der Vollbeschäftigung sei. Die effektive Nachfrage verbunden mit Vollbeschäftigung ist ein Sonderfall, der nur eintritt, wenn der Hang zum Verbrauch und die Veranlassung zur Investition in einem spezifischen Verhältnis zueinander stehen. Dieses spezifische Verhältnis, das den Annahmen der klassischen Theorie entspricht, ist in gewisser Weise ein Optimumsverhältnis. Es kann aber nur bestehen, wenn, zufällig oder absichtlich, die laufende Investition eine Nachfragemenge schafft, die genau gleich ist dem Überschuß des gesamten Angebotspreises der Produktion, die von Vollbeschäftigung herrührt, über die Menge, die die Bevölkerung bereit ist zu verbrauchen, wenn sie vollbeschäftigt ist. (S. 23 ff.) Wir müssen (...) erkennen, daß nur die Erfahrung uns zeigen kann, wie weit der im Staat verkörperte Gemeinwille darauf ausgerichtet werden sollte, die Veranlassung zur Investition zu fordern und zu ergänzen und inwieweit es sinn-
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voll ist, den durchschnittlichen Hang zum Verbrauch anzuregen, ohne unser Ziel - nämlich dem Kapital innerhalb einer oder zwei Generationen seinen Knappheitswert zu entziehen - zu verfehlen. Es mag sich herausstellen, daß der Hang zum Verbrauch schon durch den Effekt fallender Zinssätze so gestärkt wird, daß Vollbeschäftigung mit einer Akkumulationsrate erreicht werden kann, die nicht viel höher liegt als gegenwärtig. In diesem Fall könnte ein Plan zur höheren Besteuerung von großen Einkommen und Erbschaften dem Einwand ausgesetzt sein, daß dieser Weg zur Vollbeschäftigung mit einer Akkumulationsrate erkauft würde, die beträchtlich unterhalb des gegenwärtigen Niveaus läge. Ich kann die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit eines solchen Ergebnisses nicht ausschließen - zumal jede Vorhersage darüber, wie der Durchschnittsbürger auf veränderte Umstände reagieren wird, unsicher ist. (...) In einigen anderen Beziehungen ist die vorhergehende Theorie in ihren Folgerungen eher konservativ. Denn während sie auf die lebenswichtige Bedeutung der Etablierung gewisser zentraler Kontrollmechanismen über [ökonomische] Prozesse hinweist, die im Moment noch hauptsächlich der individuellen Initiative überlassen sind, bleiben doch auch weite Tätigkeitsfelder davon unberührt. Der Staat wird einen führenden Einfluß auf den Hang zum Verbrauch ausüben müssen, teilweise durch sein System der Besteuerung, teilweise durch die Festlegung des Zinssatzes und auch durch andere Mittel. Ferner scheint es unwahrscheinlich, daß der Einfluß der Bankpolitik auf den Zinssatz ausreichen wird, um eine optimale Investitionsrate zu gewährleisten. Ich denke mir daher, daß eine relativ umfassende Verstaatlichung [socialisation] der Investition sich als das einzige Mittel erweisen wird, um eine Annäherung an Vollbeschäftigung zu erreichen; obschon dies nicht alle Arten von Kompromissen und Verfahren ausschließen muß, durch welche die Regierungsbehörden in der Lage sind, mit der privaten Initiative zusam-
menzuarbeiten. Aber darüber hinaus wird kein zwingendes Argument für ein System des Staatssozialismus vorgebracht, welches den größten Teil des wirtschaftlichen Lebens der Bevölkerung umfassen würde. Es ist nicht der Besitz der Produktionsmittel, deren Aneignung für den Staat von Bedeutung ist. Wenn der Staat in der Lage ist, die Gesamtheit der Ressourcen zu bestimmen, die der Vermehrung der Produktionsmittel dienen, sowie die grundlegende Gewinnrate der Eigentümer dieser Produktionsmittel festzulegen, so hat er alles Notwendige erfüllt. Die notwendigen Maßnahmen der Verstaatlichung können überdies schrittweise und ohne Bruch mit den allgemeinen gesellschaftlichen Traditionen eingeführt werden. (S. 318 f., modifizierte Übersetzung von Matthias Bohlender) Aus: John M. Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 1983.
WALTER EUCKEN Planung, Lenkung, Ordnung Alle Gedanken über die heutige ordnungspolitische Aufgabe, über das Scheitern der vielen wirtschaftspolitischen Experimente und über die Wettbewerbsordnung drängen auf eine Frage hin: Wer soll diese Ordnung verwirklichen? (...) Es ist eine schwierige Frage. Man denkt bei der Beantwortung zunächst unwillkürlich an den Staat. Inwieweit aber darf man etwas von ihm erhoffen, nachdem die geschichtliche Entwicklung so viele Enttäuschungen gebracht hat und der Staat sich nur zu oft als schwach, als Spielball in den Händen von Interessengruppen erwiesen hat? Wie kann der moderne Staat zu einer Potenz werden, die eine brauchbare Wirtschaftsordnung verwirklicht? (S. 327)
Politisches Agieren und Akteure der Politik
Die Ordnung des Staates ist ebenso eine Aufgabe wie die Ordnung der Wirtschaft. Die ganze Gefahr des totalitären Staates muß in gleicher Weise gesehen werden wie die Notwendigkeit eines stabilen Staatsapparates, der genug Macht besitzt, um bestimmte, genau umschriebene Ordnungsaufgaben zu erfüllen (...)? Wie kann ein leistungsfähiger Rechtsstaat aufgebaut werden. Das Problem ist noch offen. Auch gedanklich ist seine Bewältigung kaum begonnen. Die großen Staatsdenker des 17. und 18. Jahrhunderts (...) bereiteten die Verfassung und den Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts vor. Aber die Problematik der modernen industriellen Gesellschaft mit ihren Massen und ihren neuen wirtschaftlichen und sozialen Machtgebilden existierte für sie noch nicht. (...) Aber unsere industrialisierte Gesellschaft stellt neue Aufgaben. Zwar nicht neu insofern, als die Ziele, die der Rechtsstaat ehedem verwirklichen wollte, veraltet wären (...) Neu aber insoweit, als zur Erreichung dieses Zieles in einer verwandelten Wirtschaft und Gesellschaft auch andere praktische Prinzipien realisiert werden müssen als früher. (...) Auf die Interdependenzen beider Ordnungen- der Wirtschaftsordnung und der Staatsordnung - stieß unsere Untersuchung vielfach. (...) Zentrale Planung führt zu einem Übergewicht der Verwaltung und zu einer Zurückdrängung der gesetzgebenden und rechtssprechenden Gewalten. Und umgekehrt: Ein vorhandener Verwaltungsapparat tendiert zur Festhaltung oder Einführung der Rationierung und zentralen Planung, weil er dadurch Beschäftigung findet. Weiter: Mit der Beseitigung der Planungsfreiheit der einzelnen Betriebe und Haushalte und mit ihrer Subordination unter zentrale Planstellen und ihrer Weisungen ist eine Aufhebung gewisser Freiheitsrechte, die in den Verfassungen bestehen, verknüpft. (...) Wie die Wirtschaftspolitik eines aktionsfähigen Staates bedarf, so bedarf es einer bestimmten Wirtschaftsordnungspolitik, um den Staat aktionsfähig zu machen. Nunmehr spitzt sich
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also die Frage darauf zu: Welche Grundsätze sind in der Wirtschaftpolitik zu befolgen, damit ein unabhängiger Staat entsteht, der selbst eine ordnende Potenz werden kann? (...) Erster Grundsatz: Die Politik des Staates sollte darauf gerichtet sein, wirtschaftliche Machtgruppen aufzulösen oder ihre Funktion zu begrenzen. Viele neuere wirtschaftpolitische Bestrebungen beachten diese Erfahrung nicht, was, wie wir sahen, zur Gleichgewichtslosigkeit, zu Störungen in der Lenkung des volkswirtschaftlichen Prozesses, darüber hinaus aber auch zur Schwächung des Staates führt. Sobald solche Machtgebilde staatliche Privilegien erhalten, macht sich ein circulus vitiosus geltend. Ähnlich wie in der Zeit des mittelalterlichen Lehnswesens werden die verliehenen Hoheitsrechte und Privilegien dazu benutzt, erneut weitere Rechte und Privilegien zu erkämpfen. (...) Zweiter Grundsatz: Die wirtschaftspolitische Tätigkeit des Staates sollte auf die Gestaltung der Ordnungsformen der Wirtschaft gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des Wirtschaftsprozesses. Wohin es führt, wenn Staaten, wie wir es im 20. Jahrhundert erlebt haben, sich daran gewöhnen, in Expansion ihrer Tätigkeit Aufgaben übernehmen, die staatliche Organe nicht zu bewältigen vermögen, wissen wir. (...) Ob wenig oder mehr Staatstätigkeit - diese Frage geht am wesentlichern vorbei. Es handelt sich nicht um ein quantitatives, sondern um ein qualitatives Problem. So unerträglich es ist die Gestaltung der Wirtschaftsordnung im Zeitalter der Industrie, der modernen Technik, der großen Städte und der Massen sich selbst zu überlassen, so unfähig ist der Staat zur Führung des Wirtschaftsprozesses selbst. (S. 331-336) Aus: Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, hg. von Edith Eucken und K.P. Hensel, 6. durchgesehene Aufl., mit einem Vorwort zur Neuausgabe 1990 von E.-J. Mestmäcker, Tübingen 1990.
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FRIEDRICH HAYEK Spontane Ordnung und Organisation Obwohl es vorstellbar ist, daß die spontane Ordnung, die wir Gesellschaft nennen, ohne Regierung bestehen könnte, wenn jenes Minimum von Regeln, das für die Bildung einer solchen Ordnung erforderlich ist, ohne einen organisierten Apparat zur Erzwingung ihrer Einhaltung beachtet wird, wird unter den meisten Umständen die Organisation, die wir Regierung nennen, unentbehrlich, um sicherzustellen, daß jenen Regeln gehorcht wird. Diese besondere Funktion der Regierung ist in etwa vergleichbar mit der des Wartungspersonals einer Fabrik, da ihr Zweck nicht ist, bestimmte Leistungen oder Produkte hervorzubringen, die von den Bürgern konsumiert werden sollen, sondern eher, dafür zu sorgen, daß der Mechanismus, der die Produktion dieser Güter und Dienstleistungen regelt, in arbeitsfähigem Zustand erhalten bleibt. Die Zwecke, fur die diese Maschinerie jeweils verwendet wird, wird von denen bestimmt, die ihre Teile bedienen und in letzter Instanz von den Käufern der Erzeugnisse. Von derselben Organisation, die damit betraut ist, eine funktionierende Struktur in der Ordnung zu halten, die die Individuen für ihre Zwecke gebrauchen, wird jedoch zusätzlich zu der Aufgabe, die Befolgung von Regeln zu erzwingen, auf denen jene Ordnung beruht, gewöhnlich erwartet, daß sie auch noch andere Dienste leistet, die die spontane Ordnung nicht ausreichend erbringen kann. Diese beiden verschiedenen Funktionen der Regierung werden gewöhnlich nicht klar voneinander getrennt; trotzdem ist, wie wir sehen werden, die Unterscheidung zwischen Erzwingungsfunktionen, in denen die Regierung Verhaltensregeln Geltung verschafft, und ihren Dienstleistungsfunktionen, in denen sie nur die Ressourcen verwalten muß, die ihr zur Verfügung gestellt sind, von grundlegender Bedeutung. (S. 71)
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Wir werden sehen, daß es unmöglich ist, nicht nur die spontane Ordnung durch Organisation zu ersetzen und zugleich so viel wie möglich von den verstreuten Kenntnissen ihrer Mitglieder Gebrauch zu machen, sondern auch, diese Ordnung zu verbessern und zu berichtigen, indem man in sie durch direkte Befehle eingreift. Eine solche Kombination von spontaner Ordnung und Organisation einzuführen, kann niemals rational sein. Während es vernünftig ist, die Befehle, die eine Organisation bestimmen, durch subsidiäre Regeln zu ergänzen und Organisationen als Elemente einer spontanen Ordnung zu benutzen, kann es nie vorteilhaft sein, die Regeln, die eine spontane Ordnung bestimmen, durch isolierte und subsidiäre Befehle hinsichtlich jener Tätigkeit zu ergänzen, bei denen die Handlungen durch allgemeine Verhaltensregeln geleitet werden. Das ist wesentlicher Gehalt des Arguments gegen »Eingriffe« oder »Interventionen« in die Marktordnung. Der Grund, weshalb solche isolierten Befehle, die bestimmten Handlungen von Mitgliedern der spontanen Ordnung fordern, diese Ordnung nie verbessern können, sondern sie zerstören müssen, ist, daß sie sich auf einen Teil eines Systems von interdependenten Handlungen beziehen, die nur den einzelnen handelnden Personen, aber nicht der dirigierenden Autorität bekannt sind. Die spontane Ordnung entsteht dadurch, daß alle Elemente die verschiedenen Faktoren, die auf sie wirken, in eine Balance bringen und alle ihre Handlungen einander anpassen, eine Balance, die zerstört wird, wenn einige Handlungen von einer anderen Macht auf Grund anderer Kenntnisse und im Dienst anderer Zwecke bestimmt werden. (S. 74 f.) Aus: Friedrich Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Eine neue Darstellung der liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie, Bd. I: Regeln und Ordnung, München 1980.
Politisches Agieren und Akteure der Politik
WILHELM HENNIS Modernes Regieren Sich der Mechanik und Technik des modernen Regierens zuzuwenden, scheint mir aber noch aus anderen Gründen wichtig zu sein. Die große politische Leistung der Neuzeit, eine Leistung, an der wir Deutschen mehr partizipierend als aktiv beteiligt waren, war die Herausbildung des modernen Rechts- und Verfassungsstaates. Auf seine Ergebnisse können wir nicht verzichten, aber er bietet nicht eigentliche die Antwort auf die heutige Lage. Diese wird, vom einzelnen aus gesehen, nicht sosehr bestimmt durch die Sorge um Freiheit und Recht, sondern durch die Sorge, daß die über Freiheit und Recht hinausgehenden, unter Umständen vitaleren Ansprüche des einzelnen vom Staate befriedigt werden. Ansprüche, die sich erstrecken nicht nur auf die Sorge um den Schutz des Lebens vor äußerer Gewalt (...), sondern auf die Möglichkeit, das Leben überhaupt führen zu können: wohnen, heizen, essen, trinken zu können. Das Problem des modernen Staates liegt nicht mehr allein in der Sicherung von Rechten, sondern vor allem in der Erfüllung von Leistungen. Er hat Leistungen und Aufgaben von gewaltigen Dimensionen zu bewältigen. Die Fähigkeit dazu - das Ausmaß seiner Effizienz - bestimmt sich unter anderem nach dem Grad seiner organisatorisch-instrumentalen Adaption an diese neue Lage. Gewaltenteilung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Richter, Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit waren die großartigen Antworten auf das alte Problem des Schutzes der Rechte; für die Sicherung der Ansprüche und die Gewährleistung seiner Leistungen haben wir Vergleichbareres nur in ersten Ansätzen. Wenn diese Sicht richtig ist, so wird die Politische Wissenschaft der Zukunft, will sie so wie die alte die Probleme ihrer Zeit beantworten, Verfassungslehre zwar in sich aufnehmen, ihren Schwerpunkt aber in
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Regierungs- und Verwaltungslehre finden müssen. (S. 88 f.) Aus: Wilhelm Hennis, Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968.
KARL W . DEUTSCH Regieren, Steuern, Regeln Man wird sich erinnern, daß das englische Wort für »Regierung«, government, auf ein griechisches Stammwort zurückgeht, das die Kunst des Steuermanns bezeichnet. Der gleiche Begriff liegt auch dem neu-englischen Wort governor zugrunde, das eine Doppelbedeutung hat und einmal einen »Regierenden« bezeichnet, also einen Menschen, der die administrative Lenkung eines politischen Gemeinwesens ausübt, und zum anderen den »Fliehkraftregler«, also eine mechanische Vorrichtung, welche die Leistung einer Dampfmaschine oder eines Automobils steuert. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß tatsächlich eine gewisse grundsätzliche Ähnlichkeit besteht zwischen der Steuerung oder Selbststeuerung von Schiffen oder Maschinen und der Lenkung menschlicher Organisationen. Das Steuern eines Schiff besteht darin, daß das zukünftige Verhalten des Schiffes anhand von gewissen Informationen gelenkt wird, die dasfrühereVerhalten und die gegebene Position des Schiffes in eine Beziehung setzen zu einem außenliegenden Kurs, Ziel oder Bestimmungsort. (S. 255) Die Ähnlichkeit zwischen solchen Prozessen der Steuerung, zielstrebigen Bewegungen und autonomen Regelung einerseits und gewissen Vorgängen in der Politik andererseits erscheint verblüffend. Eine Regierung strebt gewöhnlich nach Zielen in der Innen- und Außenpolitik. Um
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diesen Zielen näherzukommen, muß sie ihr Verhalten mit Hilfe eines Stromes von Informationen regeln, der ihre jeweilige Position gegenüber diesen Zielen, die noch verbleibende Entfernung von diesen Zielen und die tatsächlichen (und nicht die beabsichtigten) Resultate ihrer neuesten Schritte oder Versuche zur Annäherung an diese Ziele anzeigt. (S. 258) Auf den ersten Blick mag der Vorgang des zielstrebigen Verhaltens, den wir oben beschrieben haben, dem Vorgang gleichen, durch den ein einfaches Gleichgewicht wiederhergestellt wird. Tatsächlich unterscheiden sich diese Vorgänge jedoch zumindest in vierfacher Hinsicht. Zunächst und vor allem liegt bei jedem Rückkopplungsprozeß die angestrebte Zielsituation [goal situation sought] nicht innerhalb, sondern außerhalb des zielstrebigen Systems. Zweitens ist das System nicht von seiner Umwelt isoliert, sondern es ist vielmehr darauf angewiesen, einen ständigen Zustrom von Informationen aus seiner Umwelt zu beziehen und damit den ständigen Strom von Informationen über seine eigene Leistung zu ergänzen. Drittens kann das Ziel ein sich veränderndes Ziel sein. Es kann seine Position verändern wie beispielsweise ein Vogel oder ein Flugzeug, und es kann auch noch seine Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung ändern wie etwa ein Hase, der von einem Hund verfolgt wird. (...) Viertens kann die Annäherung an ein Ziel auch indirekt (auf einem Umweg oder auf mehreren Umwegen) erfolgen. Dieses Problem entspricht dem, was wir als Zweck oder Zweckbestimmung bezeichnet haben: ein Ziel, eine Präferenz oder ein Wert von strategischer Bedeutung wird über mehrere Zwischenbewegungen, die in die Richtung von Zwischenzielen fuhren oder Zwischenhindernisse umgehen, angestrebt. In einer einfachen Form ergibt sich dieses Problem bei der Konstruktion von automatischen Torpedos und ferngelenkten Raketen. In der Politik ist es das Problem, wie ein strategischer Zweck durch eine Reihe von veränderlichen taktischen Zie-
len hindurch unverändert beibehalten werden kann. (S. 260 f.) Aus: Karl W. Deutsch, Politische Kybernetik. Modell und Perspektiven, 2. Aufl., Freiburg 1970.
RALF DAHRENDORF Herrschaft versus Gleichgewicht Wie ist Gesellschaft möglich? Das ist die Frage, die Parsons als das Hobbes'sche Problem der Ordnung beschreibt, wenngleich er eine sehr Rousseausche Antwort darauf gibt. Gesellschaft ist möglich durch eine erschlossene allgemeine Übereinstimmung der Menschen im Hinblick aufjene Werte, die den elementaren Zusammenhang sozialer Gruppen erst zu begründen vermögen. Gesellschaften unterscheiden sich - und wandeln sich - im Grad ihrer inneren Differenzierung; aber zu jedem gegebenen Zeitpunkt wird die Integration ihrer Institutionen bewirkt durch den (»funktionalen«) Beitrag jeder einzelnen von ihnen zur Erhaltung des Ganzen als einem laufenden Unternehmen. Dieses laufende Unternehmen ist in der Lage, sich an wechselnde Umweltbedingungen anzupassen, wie es auch die inneren Prozesse der Differenzierung und funktionalen Umordnungen zu bewältigen vermag. Es mag sogar in der Lage sein, Situationen der Spannung, die durch innere Faktoren (von unbekanntem Ursprung) verursacht werden, zu überwinden. Eine Methode, durch die solche Anpassungen möglich gemacht werden, liegt in jenen Prozessen des Austausches, die je nach metaphorischer Präferenz als Rückkopplungsprozesse, als input-output-Btzidmmgm, oder als Fluß der Macht in einem System von Unterstützung und Initiative beschrieben werden. Es ist relativ leicht, auf konkrete historische Erfahrungen - wie Revolutionen - oder auf die
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Zwänge zu verweisen, die die Ausübung von Herrschaft stets mit sich bringt, und damit diesen Ansatz als sehr abstrakt und formal oder gar absurd erscheinen zu lassen. Aber was die Erklärung der Persistenz von Gesellschaft angeht, läßt sich der modernen Gleichgewichtsansatz so leicht nicht abtun. An diesem Punkt läßt sich nur sagen, daß es einen anderen Ansatz gibt, der ebenso allgemein, wenn nicht allgemeiner ist, den Erfahrungen des Historiker und Politikers nähersteht und sich bei der Lösung jener Probleme, die der Gleichgewichtsansatz nicht zu erklären vermag, als nützlicher erweist. Der Fortbestand von Gruppen (Gesellschaften) ist ohne Zweifel eines der ersten Rätsel sozialen Lebens. Aber man kann die Persistenz sozialer Strukturen auch als Ergebnis von Zwang, wenn nicht von Gewalt, verstehen. Während im Gleichgewichtsansatz der Gedanke der Herrschaft nur einen marginalen Ort hat - Macht, sagt Karl Deutsch in seinem Resümee der Parsonschen Theorien, ist daher »weder das Zentrum noch das Wesen der Politik«, ganz zu schweigen von der Gesellschaft (wie wir hinzufügen könnten) ist sie der fundamentale Begriff des Zwangsansatzes zur sozialen Analyse. (S. 303-305) Aus: Ralf Dahrendorf, Pfade aus Utopia, 3. Aufl., München 1974.
NIKLAS LUHMANN Gesellschaft ohne Steuerungszentrum Hierfür ist eine der wichtigsten, das Problem nochmals dramatisch zuspitzenden Einsichten: daß eine Gesellschaft, die in Funktionssysteme gegliedert ist, über keine Zentralorgane verfügt. Sie ist eine Gesellschaft ohne Spitze und ohne
Zentrum. (...) Die moderne Gesellschaft ist ein System ohne Sprecher und ohne innere Repräsentanz. Eben deshalb werden ihre Grundorientierungen zu Ideologien. Vergeblich sucht man innerhalb der gesellschaftlichen Funktionssysteme nach einem a priori, und ebenso vergeblich klagt man über den Niedergang der Kultur und die Krise der Legitimation. Es handelt sich um ein strukturell bedingtes Phänomen: um die Bedingung der Komplexität und der jeweils funktionsspezifischen Leistungsfähigkeit der modernen Gesellschaft. Die politische Theorie hat immer wieder von Hegel über Treitschke bis Leo Strauss und Hannah Arendt — versucht, dieser Diagnose zu widersprechen und den Staat oder die Politik als das Steuerungszentrum der Gesellschaft und als ethische Grundverantwortung für das, was in ihr und mit ihr geschieht, zu begreifen. Dies geschieht typisch - und bezeichnenderweise! im Rückgang auf den griechischen, den platonischen oder den aristotelischen Begriff von Politik. Ein überalterter, längst nicht mehr passender Begriffsapparat scheint durch neuartige Anforderungen neue Plausibilität zu gewinnen. Eine der Grundfragen der theoretischen und politischen Orientierung in der Gegenwart ist damit: ob man die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Zentrum aushalten kann und gerade darin die Bedingungen für eine demokratisch-leistungsfähige Politik sieht; oder ob man glaubt, der Politik angesichts der Gesamtlage des Gesellschaftssystems wiederum eine Zentralverantwortung zuweisen zu können oder gar zu müssen, an der möglicherweise ihre derzeitigen Grenzen und die schwerfälligen Prozeduren demokratischer Meinungsbestimmung zerbrechen werden. (S. 22-24) Aus: Niklas Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981.
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II. Kapitel
Ergebnis und Ausblick Der Versuch, die hier vorgelegten Texte und Textfragmente entlang dreier unterschiedlicher Problematisierungen des Regierens auszuwählen und zu strukturieren, wirft berechtigterweise die Frage auf, wie diese drei Sprachen, diese drei Register zueinander in Beziehung stehen. »Souveränität«, »Disziplin« und »Regulation« durchkreuzen nicht nur die Werke der Autoren, und sie haben nicht nur eine eigene Geschichte. Von wesentlicher Bedeutung dürfte sein, ob die Sprache des souveränen Gesetzes, der disziplinierenden Einübungen und des (selbst-)regulierenden Gleichgewichts einander in spezifischen Punkten ergänzen oder widersprechen. Zunächst lässt sich dazu vielleicht Folgendes sagen: Die jeweils differenten Artikulationsweisen des Regierens und Führens lösen sich nicht historisch - wie in einem Staffellauf - gegenseitig ab oder ersetzen einander. Dies würde voraussetzen, dass sie trotz ihrer jeweiligen Unterschiedlichkeit auf ein und derselben epistemologischen Ebene operierten. Die Ordnung des politischen Körpers und seiner Rechtssubjekte, die technologische Formierung der Individuen innerhalb und durch die Disziplinarinstitutionen, wie auch die Beobachtung und Regulierung der grundlegenden Bewegungsgesetze des sozioökonomischen Raumes sind jedoch gerade deshalb unterschiedlich, weil sie sich in ihren Regierungszielen, Regierungsobjekten und in ihrem Regierungswissen unterscheiden. Auf der Ziel-, Objekt- oder Wissensebene können daher Widersprüche, Konflikte und Auseinandersetzungen auftreten. Das mit einem »freien Willen« ausgestattete bürgerliche Rechtssubj ekt kann nicht ohne weiteres der »willenlosen« Mechanik einer Disziplinierung von Körper und Geist unterworfen werden; und die mikrophysikalische Gehorsamsproduktion endet dort, wo man die Vermehrung des nationalen Reichtums (Menschen, Waren, Kapital) in den nichtintendierten Effekten vielfältiger gesellschaftlicher Transaktionen und Tauschprozesse erblickt. Um das freie Rechtsubjekt der Disziplin unterwerfen zu können, müssen diesem bestimmte Rechte entzogen oder deren Gebrauch eingeschränkt werden (Rechts- und Vernunftfähigkeit). Umgekehrt taugt das gefügige und »gelehrige Subjekt« der Disziplinen nicht unbedingt für eine Handels- oder Marktgesellschaft, deren Grundlagen - so zumindest Hume und Smith - die Begehren, Leidenschaften und Wünsche der Menschen sind. Diese gilt es nicht zu disziplinieren, sondern zu regulieren, das heißt sie in ein produktives Verhältnis von dauerhaftem Anreiz und Befriedigung zu setzen. Gleichwohl müssen diese Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheit nicht per se in Konflikt geraten. Es lässt sich zunächst auch eine Gleichzeitigkeit und gleiche Bedeutsamkeit der jeweiligen Sprachen und Rationalitäten denken, die beispielsweise auf der Ebene des Wissens arbeitsteilig vollzogen wurden. Die Jurisprudenz, die Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie sollten nicht der Pädagogik, Moralphilosophie und Psychologie im Wege stehen; wie auch die im 19. Jahrhundert aufkommende Nationalökonomie mit ihren statistischen Hilfswissenschaften und etwas später die Sozialwissenschaften durchaus Anerkennung fanden. Der »Streit der Fakultäten« konnte nicht immer, aber überwiegend in Grenzen gehalten werden. Geht man einen Schritt weiter, so lassen sich Souveränität, Disziplin und
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Regulation auch als Ergänzungen und Komplementierungen begreifen. So hat der Historiker Gerhard Oestreich auf den historisch-politischen Zusammenhang zwischen Disziplinierungs- und Demokratisierungsprozessen hingewiesen: »Der soziale Disziplinierungsprozeß im Zeitalter des Absolutismus kann vielleicht mit einem anderen großen Vorgang des modernen Staates, mit der Fundamentaldemokratisierung des 19. Jahrhunderts verglichen werden. Gewiß ist dieser politische Prozeß gerade aus der Freiheitsbewegung im Gegenschlag zum Absolutismus hervorgegangen. (...) Aber die Demokratie setzt neben der Diskussions- und Informationsfreiheit auch eine Disziplin der Staatsbürger voraus, eine Disziplin, die sich in den Dienst des Gemeinwohls stellt. Der wenig beachtete strukturgeschichtliche Vorgang der Fundamentaldisziplinierung in Staat und Kirche, in Wirtschaft und Kultur während der absolutistischen Ära und unter der weitgehenden Leitung der absoluten Monarchie bildet eine Voraussetzung für jene Fundamentaldemokratisierung des bürgerlich-demokratischen Gemeinwesens, für den modernen Staat und seine Gesellschaft.« Der Gedanke einer gegenseitigen Ergänzung, ja eines Bedingungszusammenhanges der Regierungsrationalitäten im Verlauf der Demokratisierung und Nationalisierung der modernen westlichen Gesellschaften ist keineswegs neu. Schon Tocqueville und Marx, schon Nietzsche, Max Weber und die Kritische Theorie sowie Norbert Elias und zuletzt Michel Foucault haben auf je eigene Weise darauf aufmerksam gemacht, dass die Regierungsmächte in der Moderne sich nicht so sehr verflüchtigt, sondern eher neu formiert, vervielfältigt, pluralisiert und intensiviert haben. Die hier vorgelegte Auswahl hat nicht zuletzt den Sinn, der Diskussion und Weiterführung dieser These das entsprechende grundlegende Textmaterial zu liefern.
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2. Krieg und Frieden HERFRIED MÜNKLER
In normativer Perspektive bedarf der Krieg der Rechtfertigung, und zwar in einer immer anspruchsvolleren Form, während der Frieden als Normalzustand gilt, der auf keinerlei ausdrückliche Legitimation angewiesen ist. Dass der Frieden als das Wünschbare, der Krieg dagegen als das größte vorstellbare Übel angesehen wird, ist eine Gegenüberstellung der beiden politischen Ordnungszustände, die bis weit in die Antike zurückreicht. Doch der Frieden wurde, wenn er nicht als eine kurze Phase zwischen zwei Kriegen, sondern als ein stabiler, langewährender Zustand angesehen wurde, als etwas in weiter Ferne Liegendes, tendenziell Unerreichbares begriffen. Das zeigt sich nicht nur in jenen Passagen des Propheten Jesaja, in denen der Beginn des Friedens mit einem grundlegenden Wandel nicht nur der sozio-politischen Konstellationen, sondern auch einer Veränderung der Natur und des Menschen verbunden wird. Beim jungen Marx finden sich ähnliche Überlegungen in der Formel von der »Naturalisierung des Menschen und der Humanisierung der Natur«. Für Jesaja jedenfalls war ein solcher Frieden nur als das Ergebnis eines unmittelbaren Eingreifen Gottes in Natur und Geschichte vorstellbar. Moderne Autoren haben dann versucht, das Verschwinden des Krieges und den Übergang der Menschheit in eine Periode dauerhaften Friedens als einen in der Entwicklungsrichtung der Geschichte angelegten Vorgang zu begreifen, der durch kluges politisches Agieren und die Herstellung bestimmter Rahmenbedingungen beschleunigt werden könne. Es kommt nur darauf an, dass man die Grundtendenz der geschichtlichen Entwicklung kennt und an ihr seine Handlungen ausrichtet. Mit Kant, Engels und Schumpeter sind hier unterschiedliche Ansätze dieser Betrachtungsweise versammelt. Ursprünglich war der Frieden wohl eine bäuerliche Utopie, die gegen die gewaltdurchsetzte Lebensweise der Nomaden und den Zwang zu beständiger Verteidigungsbereitschaft angesichts der Einbrüche nomadisierender Völkerschaften oder kleinerer Streifscharen gerichtet gewesen ist. Die bäuerliche Produktions- und Lebensweise, wie sie sich nach der
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neolithischen Revolution, der Entstehung des Ackerbaus und der Zähmung von Tieren, entwickelt hatte, konnte erstmals auf Gewalt als Bestandteil der Überlebenssicherung verzichten - wenn sie nicht von außen dazu gezwungen wurde. Der griechische Dichter Hesiod war der erste, der die Ideale eines friedlichen Lebens gegen die bis dahin hegemoniale Welt heroischer Bewährung im Kriege, wie man sie etwa in der Ilias findet, beschrieben hat.1 Gerade der Blick auf die Ilias zeigt, in welchem Maße Krieg und Raub ursprünglich miteinander verbunden waren - als eine Form bloßer Subsistenzsicherung, aber auch als Vergrößerung der Macht und Erhöhung der Ehre bei den Krieg Führenden. Aus der bäuerlichen Sicht Hesiods war der Krieg eine eitle Form der Selbstbestätigung, die einige Männer pflegten, vor allem aber eine Form gewaltsamer Mehrproduktaneignung, die auf Kosten der Allgemeinheit ging. Dagegen wird in den Heldenliedern, wie sie sich in allen Kulturen finden, von der Bewährung eines Einzelnen im Kampf erzählt, wobei für die Erzählung wichtig ist, dass die Helden der Allgemeinheit dienen, indem sie die Welt von Ungeheuern und wilden Tieren befreien und so deren Zivilisierung betreiben. Herakles ist dafür ebenso ein Beispiel wie Siegfried.2 Krieg wie Frieden haben sich von Anfang an mit ihrer Bedeutung fur den Fortschritt der Zivilisation gerechtfertigt. - Aber sie haben es dabei nicht belassen: Was in der Darstellung des Friedens die Schilderung des großen Festes war, in dem die Gemeinschaft in Sättigung im Übermaß und friedlichem Wettstreit vereint ist, ist in der Darstellung des Krieges die Schilderung eines Zweikampfes oder einer Schlacht, in der sich nicht bloß die physischen Fähigkeiten, sondern auch die moralischen Eigenschaften der Kämpfenden zeigen. Je stärker dieser Zweikampf ritualisiert und symmetriert wurde, desto mehr traten physische Ungleichheiten zurück und die moralischen Eigenschaften der Kämpfer wurden entscheidend. Der Ausgang eines Kampfes bzw. Krieges war dann nicht nur das Ende eines physischen Ringens, sondern ein ethisch-ästhetisches Ergebnis, das gefeiert und glorifiziert werden konnte, ein Bericht über die Selbststeigerung des Menschen im Kampf. Doch die Feier des Krieges und seiner Helden, für die sich weniger im politischen Denken als vielmehr in Kunst und Literatur Beispiele finden lassen, war auf kleine Gruppen von Kriegs- und Gewaltspezialisten beschränkt, die darin ihr Gemeinschaftsethos darstellten und sich auf diese Weise von der überwiegenden Mehrheit der Menschen abgrenzten. Erst im Zeitalter des Nationalismus, also vom späten 18. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde die Feier des Krieges zu einem die gesamte Nation erfassenden Vorgang, zur feierlichen Selbstbestätigung der Nation und ihrer Bedeutung, und nichts konnte diese alleserfassende Bedeutung der Nation deutlicher machen als der Tod furs Vaterland, der damit 1 Zu Hesiods bäuerlicher Friedensutopie vgl. Hermann Frankel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 31976, S. 104 ff., insbes. S. 124 ff.; zur Darstellung des Krieges bei Homer vgl. Georg Peter Landmann, Das Gedicht vom Kriege. Homers Ilias, Heidelberg 1992. 2 Eine Zusammenstellung dessen findet sich bei Cecil Maurice Bowra, Heldendichtung. Eine vergleichende Phänomenologie der heroischen Poesie aller Völker und Zeiten, Stuttgart 1964, insbes. S. 98-142.
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zum Gütesiegel für den Selbstbehauptungswillen der Nation avancierte.3 Gleichzeitig wurde Krieg nicht mehr fatalistisch als ein unvermeidbares Schicksal hingenommen, vor dem zu bewahren man Gott bitten konnte, sondern er wurde als politische Entscheidung begriffen, als etwas, das gewollt war und also auch nicht gewollt werden konnte. Die Zeit zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert ist die Spanne in der Geschichte der politischen Ideen, in der Krieg und Frieden als politische Aggregatzustände am stärksten gegeneinander konturiert und normativiert worden sind und in der - nicht zuletzt angesichts der bis dahin unvorstellbaren Steigerung der Kriegsgewalt - verstärkt über die Herstellung eines dauerhaften Friedens nachgedacht wurde. Es kommt darum nicht von ungefähr, dass die meisten der nachfolgend zusammengestellten Texte diesem Zeitraum entstammen. Dabei ging esfreilichnicht nur um die Abschaffung oder zumindest Begrenzung des Krieges durch seine Regulierung, sondern zugleich um dessen Nutzung fur hochstehende Ziele der Menschheitsgeschichte. Der Krieg verband sich mit der politischen wie der sozialen Revolution, und je entschlossener die Revolutionäre auftraten, desto entschiedener setzten sie auf den Krieg als Mittel zur Erreichung ihrer Ziele. Der Friede wurde hierbei zu einem Projekt, das nicht etwa durch die Vermeidung und Ächtung des Krieges, sondern nur durch dessen Intensivierung und revolutionäre Nutzung zu erreichen war. Das gilt für Danton und Robespierre auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution und geht über Fichte und Heinrich von Kleist, den Verfechtern einer Natiogenese durch den Krieg, bis zu Lenin, der den imperialistischen Krieg der großen Mächte in den revolutionären Krieg der Klassen verwandeln wollte, oder auch zu Mao Tse-tung und Ernesto Che Guevara, die den Partisanenkrieg als einzig erfolgreiche Form des Kampfes gegen Kapitalismus und Imperialismus propagierten. Aber auch der amerikanische Präsident Woodrow Wilson hat den 1917 erfolgten Kriegseintritt der USA mit der Formel »a war to end all wars« gerechtfertigt und geltend gemacht, es gehe in diesem Krieg darum, »to make the world safe to democracy«. Die Debatte über Krieg und Frieden, wie sie in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten geführt worden ist,4 erschöpft sich also keineswegs in der Gegenüberstellung eines hehren Friedensideals mit der schlechten Wirklichkeit immer wieder aufflammender Kriege, bei der es darum geht, die Mechanismen der Kriegsverhinderung zu stärken, um auf diese Weise Kriege seltener zu machen und schließlich zum Verschwinden zu bringen. Vielmehr han-
3 Dazu George L. Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993; Reinhart Koselleck/Michael Jeismann, Hg, Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994. 4 Am Anfang dieser Zeitspanne steht eine verbreitete Friedenserwartung, die mit dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert durch einen verschärften Kriegsdiskurs abgelöst wird. Zu den Friedensvorstellungen vgl. Anita und Walter Dietze, Hg., Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800, München 1989, sowie zu Frankreich: Olaf Asbach, Die Zähmung der Leviathane. Die Idee einer Rechtsordnimg zwischen den Staaten bei Abbe de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseau, Berlin 2002; Zum Kriegsdiskurs vgl. Johannes Kunisch/Herfried Münkler, Hg., Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, Berlin 1999.
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delt es sich um eine Debatte, in der auch mit mehr oder weniger guten Gründen für den Krieg nicht nur als effektiven Problemloser, sondern auch als Wegbeschleuniger zu Gerechtigkeit und Freiheit plädiert worden ist. Das erst hat diese Debatte für eine systematische Darstellung der Geschichte des politischen Denkens interessant gemacht: Dass sich die Positionen des Pazifismus wie des Bellizismus immer wieder vermischen und ineinander übergehen. Die Folge dessen ist, dass jedes Argument einzeln gewichtet werden muss und nicht ohne weiteres in ein als gut oder schlecht etikettiertes Kästchen einsortiert werden kann. Die Debatte über Krieg5 und Frieden ist also auch dann, wenn der Frieden längst zur Norm und der Krieg als ein so weit wie möglich zu vermeidender Ausnahmefall angesehen wird, im Detail zu fuhren, und jede Stellungnahme ist für sich gesondert in Augenschein zu nehmen.
Die Rechtfertigung des Krieges unter der Norm des Friedens Spätestens mit der Renaissance hat sich der Frieden als Norm der politischen Ordnung durchgesetzt und die Durchbrechung oder Verletzung dieser Norm steht seitdem unter einem verschärften Rechtfertigungszwang.6 Die Zeiten, in denen die Kriegerelite der Ritterschaft den Krieg feiern und als die einzig angemessene Form männlicher Selbstverwirklichung preisen konnte, wie dies bei Bertrand de Born der Fall ist, waren vorbei, seitdem sich die neu entstehenden Territorialstaaten anschickten, das Kriegswesen schrittweise unter ihre Kontrolle zu bringen und die Kämpfer samt Kampfgerät als Bestandteil der »politischen Betriebsmittel« (Max Weber) zu verstaatlichen. Tatsächlich gelang es den Territorialstaaten im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts, nicht nur den Feudaladel mit seinem Anspruch, seine Vorstellungen gegen andere auch mit Gewalt durchzusetzen, sondern auch die Söldnerhaufen, die aus dem Krieg ein Geschäft und eine Lebensform gemacht hatten, unter ihre Kontrolle zu bringen und so die Souveränität des Staates auf diesem entscheidenden Gebiet durchzusetzen. Ausschlaggebend dafür war die Entwertung von Burg und Ritterrüstung als Kriegsinstrumente durch die Einführung von Kanonen und die daraus erwachsende Verteuerung des Krieges. Es war die Kanone als das militärische Großgerät der Frühen Neuzeit, die den Krieg so kostenintensiv machte, dass schließlich nur noch Territorialstaaten mit einem entsprechend hohen Steueraufkommen kriegführungsfahig waren.7
5 Zu einer politikwissenschaftlichen Definition unterschiedlicher Typen des Krieges vgl. Herfried Münkler, Krieg; in: Gerhard Göhler u.a., Hg., Politische Theorie, Wiesbaden 2004, S. 227-243, sowie Andreas Herberg-Rothe, Der Krieg. Geschichte und Gegenwart, Frankfurt/M., 2003; zu einem ideengeschichtlichen Längsschnitt vgl. Ulrike Kleemeier, Grundfragen einer philosophischen Theorie des Krieges, Berlin 2002. 6 Dazu Hans Joachim Diesner, Stimmen zu Krieg und Frieden im Renaissance-Humanismus, Göttingen 1990, sowie Konrad Repgen, Kriegslegitimationen in Alteuropa. Entwurf einer historischen Typologie, München 1985. 7 Vgl. Carlo M. Cipolla, Segel und Kanonen. Die europäische Expansion zur See, Berlin 1999, sowie Geoffrey Parker, Die militärische Revolution. Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens, Frankfurt/New York 1990.
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Mit der Monopolisierung des Krieges durch den Staat und der Kriegfiihrungsfahigkeit durch das Militär als Teil des Staatsapparats hatte die Debatte über Krieg und Frieden einen Adressaten erhalten: den Staat. Infolgedessen kam es zu einem regelrechten Schub völkerrechtlicher Schriften, in denen es vor allem um Krieg und Frieden ging, zunächst um die Rechte und Pflichten der Europäer in der neu entdeckten Welt, insbesondere um das Recht auf kriegerische Eroberung, sodann aber auch um die Rechtspflichten, die den europäischen Staaten im Krieg gegeneinander oblagen. Von seinen Anfängen in der Schule von Salamanca über Hugo Grotius bis zur Haager Landkriegsordnung und den Genfer Konventionen wurde parallel zur allgemeinen Völkerrechtsentwicklung auch das Kriegsrecht spezifiziert und verfeinert, und zwar in seinen beiden Teilen, dem Recht zum Kriege (ius ad bellum) und dem Recht im Kriege (ius in hello)* Die vormalige Ethisierung von Kriegsregeln, die im Ideal der Ritterlichkeit ihren Niederschlag gefunden hatte, wurde nun ergänzt durch eine Form der Juridifizierung, deren Durchsetzungsanspruch jedoch daran hing, dass das Politische wesentlich an den Staat gebunden war. Wie eng die Juridifizierung des Krieges, dessen Monopolisierung durch den Territorialstaat und die Sozialdisziplinierung der Krieger miteinander verbunden sind, zeigt sich zunehmend in jüngster Zeit, da die Steuerungsfähigkeit des Staates nachlässt und unter den Fähigkeiten und Kompetenzen, die der Staat im 16./17. Jahrhundert an sich gezogen hatte, auch der Krieg einen Prozess der sukzessiven Entstaatlichung durchschreitet.9 Das war Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts anders, als sich der Krieg unter der Kontrolle des Staates befand und auch die Dynamik der Französischen Revolution sowie die entsprechenden Gegenreaktionen daran nur wenig ändern konnten. Aus dieser Konstellation heraus hat Hegel den Krieg als den Modus der Entscheidung im Streit der Staaten begriffen, wenn diese nicht in der Lage waren, den Konflikt in Form einer Übereinkunft beizulegen. Nüchterner hat Clausewitz diesen Gedanken formuliert, als er schrieb: »Die Führung des Krieges in seinen Hauptumrissen ist daher die Politik selbst, welche die Feder mit dem Degen vertauscht, aber darum nicht aufgehört hat, nach ihren eigenen Gesetzen zu denken.«10 Der Diplomat und der Krieger standen für die beiden Formen, in denen Staaten politisch miteinander in Kontakt traten. Clausewitz hat die Rationalität der Politik und die Interessen des Staates herausgestellt, während Hegel daneben auch die Versagung von Anerkennung und die Verletzung von Ehre ins Spiel gebracht hat. In einer bemerkenswerten Wendung hat er dabei den Grad der Reizbarkeit eines Staates mit der Dauer des Friedens in Zusammenhang gebracht: Je länger der Friede währte, desto wahrscheinlicher
8 Hierzu als eingehende Darstellung Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 163 ff.; in knapper Zusammenfassung Otto Kimminich, Die Entstehung des neuzeitlichen Völkerrechts; in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hg. von Iring Fetscher und Herfried Münkler, Bd. 3, München 1985, S. 73-100. 9 Vgl. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2002, sowie Sabine Kurtenbach/Peter Lock, Hg., Kriege als (Über-)Lebenswelten, Bonn 2004. 10 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 19. Aufl., hg. von Werner Hahlweg, Bonn 1980, S. 998.
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wurde der Krieg. Das war unübersehbar gegen Kant gerichtet, der in seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen dem Krieg zunächst die Aufgabe zugewiesen hatte, für die Besiedlung auch der weniger wirtlichen Regionen der Erde zu sorgen, für die eigene Zeit aber davon ausgegangen war, dass der Krieg nunmehr, da er diese Aufgabe erfüllt habe, nur noch Kosten verursache, ohne von Nutzen zu sein, er also durch kluge politische Arrangements zum Verschwinden gebracht werden könne: Dieser Vorstellung, dass »durch eine gemeinschaftliche Verabredung und Gesetzgebung« der Krieg verschwinden werde, hat Hegel misstraut - nicht zuletzt auch deswegen, weil in seinen Überlegungen dem Krieg nach wie vor eine Aufgabe zukam, auf deren Erledigung man nicht verzichten konnte und bei der es kein Funktionsäquivalent für den Krieg gab: die sittliche Erneuerung des Volkes. Was bei heutigen Lesern auf entschiedenen Widerspruch stoßen dürfte, war zu Hegels Zeit eine eher selbstverständliche Überlegung des Republikanismus, wonach der kriegerische Konflikt ein probates Mittel zur Revitalisierung politischer Tugend sei. An der Tugend der Bürger aber hing nach republikanischer Auffassung die Lebensfähigkeit der Republik. Verlor sich die Tugend, so ging auch die Republik unter. Maximilien Robespierre war von dem Zusammenhang zwischen Tugend und Republik so sehr überzeugt, dass er versuchte, die französischen Bürger mit den Mitteln des Terrors zur Tugend zu erziehen. Robespierre ist daran bekanntlich gescheitert, und kein anderer als Hegel hat dieses Scheitern in seiner Phänomenologie des Geistes philosophisch ratifiziert.11 Aber dem Krieg zwischen den Staaten glaubte er derlei doch anmuten zu können. Von Hegels Aufnahme republikanischer Revitalisierungsvorstellungen ist Fichtes Feier des Krieges als existenzielle Selbstverwirklichung zu unterscheiden, in der sich Fichte gegen die Vorstellung vom Krieg als Instrument zur Verfolgung begrenzter Zwecke wendet, etwa der Verteidigung von Besitz und Eigentum. Der wahrhaftige Krieg, so Fichte im Frühjahr 1813 zu seinen Studenten, ist derjenige, der um die Freiheit der Person wie der politischen Gemeinschaft geführt wird.12 Im Unterschied zu diesen Überlegungen über Sinn und Zweck von Kriegen hat Clausewitz sich die Frage vorgelegt, unter welchen Umständen man von einem Krieg sprechen könne und worin dessen Beginn zu sehen sei. Dabei ist er zu dem Ergebnis gelangt, dass Kriege nicht mit dem Angriff, sondern mit der Verteidigung beginnen; dem Angriff geht es nämlich um die bloße Inbesitznahme, der Verteidigung als deren Abwehr aber ums Kämpfen. Clausewitz' Überlegung, die an vielen historischen Beispielen bestätigt werden kann, ist womöglich auch die Erklärung dafür, warum der in der Völkerrechtsgeschichte nach 1918 unternommene Versuch einer allgemein verbindlichen Definition des Angriffskriegs zu keinen befriedigenden Ergebnissen geführt hat. Das völkerrechtliche Verbot des
11 Einschlägig ist das Kapitel »Die Tugend und der Weltlauf«; Geoig Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. von Johannes Hoflmeister, Hamburg 61952, S. 274 if. 12 Zur Idee des existenziellen Krieges vgl. Herfried Münkler, Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Weilerswist 2002, S. 53 ff. sowie 91 ff.
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Angriffskrieges sollte eine weitere Selbstzerstörung Europas, wie Friedrich Engels sie hellsichtig vorausgesagt hatte, verhindern. Engels selbst hat den entscheidenden Grund für einen solchen Krieg im Übrigen nicht im Angriff einer Seite, sondern im System der gegenseitigen Überbietung bei Rüstungsanstrengungen gesehen. Wege zum Frieden Aber wenn der Krieg das größte zu vermeidende Unglück in der Geschichte einer politischen Gemeinschaft ist, ja, wenn seine Eskalation im Zeitalter nuklearer Massenvernichtungswaffen auf die sichere Selbstauslöschung des Menschengeschlechts hinausläuft13 wo sind dann über die bloße Kriegsvermeidung hinaus die Mechanismen für die Herstellung eines dauerhaften Friedens zu finden? Grundsätzlich sind zwei Formen der Friedenssicherung zu unterscheiden: der imperiale und der republikanische Frieden. Beruht ersterer auf einer Übermacht im Zentrum des imperialen Raums, die notfalls auch mit Gewalt für Ruhe und Sicherheit, also für Frieden, sorgt, so gründet sich der republikanische Frieden auf einer Übereinkunft Gleicher, die durch die Stiftung eines Völkerbundes übereinkommen, das unfriedliche Gegeneinander der Staaten in ein friedliches Miteinander zu verwandeln. Der Florentiner Politiker und Dichter Dante Alighieri, der zu Beginn des 14. Jahrhunderts schrieb, hat den Kaiser in die Rolle einer obersten Entscheidimgsinstanz eingewiesen, durch deren Installierung verhindert werden sollte, dass der »Krieg das letzte Auskunftsmittel« (Clausewitz) im Streit der Staaten war. An die Stelle des Krieges trat der Kaiser als inappellable Entscheidungsinstanz, der die friedliche Regelung von Konflikten ermöglichen sollte. In dieser Tradition stehen auch die Friedensentwürfe Boteros und Campanellas, die Spanien als Garanten des europäischen Friedens ansahen, sowie der Autoren Ludwigs XIV., die diese Rolle Frankreich zuwiesen.14 Es war die überlegene Macht innerhalb eines politischen Großraums, die als Friedensgarant fungierte. In diesem Sinne wird von der pax romana, der pax britannica und inzwischen der pax americana gesprochen. Diese Rolle des Friedensgaranten hat in Kants republikanischer Friedensordnung der Völkerbund übernommen, in dem nicht die Übermacht des Einen, sondern das Zusammenwirken gleichartiger politischer Akteure den Frieden stiftet und erhält. Kant bildet damit den Höhepunkt einer Tradition von Friedensentwürfen, die in Frankreich in scharfer Abkehr vom imperialen Friedensmodell mit dem Abbe St. Pierre und Jean-Jacques Rousseau ihren Anfang genommen hat.15 Für Kants Argumentation ist der Blick auf die innere
13 Die nach wie vor intensivste Auseinandersetzung mit dieser Frage findet sich bei Günther Anders in den Büchern: Endzeit und Zeitenende, München 1972, sowie: Die Antiquiertheit des Menschen, München 1956 und 1980; vgl. Ludger Lütkehaus, Philosophieren nach Hiroshima. Über Günther Anders, Frankfurt/M. 1992. 14 Dazu Franz Bosbach, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit, Göttingen 1988. 15 Dazu Iring Fetscher, Modelle der Friedenssicherung, München 1972.
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politische Ordnung der Mitglieder des Völkerbundes zentral, die republikanisch sein muss, damit nicht kleine politische Eliten gegen den Willen der Mehrheit Kriege zu ihrem Zeitvertreib und als Form individueller Selbststeigerung fuhren können. Eine wesentliche Voraussetzung für die friedensstiftende Rolle des Völkerbundes ist der Umstand, dass seine Mitgliedsstaaten Republiken sind, also die Bürger selbst darüber entscheiden, ob Krieg sein soll oder nicht. Dass die Bürger für den Frieden und gegen den Krieg optieren werden, steht für Kant fest, weil sie selbst fur die Kosten eines Krieges aufkommen müssen und er davon überzeugt ist, dass Kriege mehr kosten als einbringen. Es war also die Kombination eines politischen Mechanismus mit einer ökonomischen Entwicklung, die Kant zu dem Ergebnis kommen ließ, ein Völkerbund könne die Rolle des zuverlässigen Friedensgaranten übernehmen. Dass Kriege mehr kosten als einbringen und eine Mehrheit der Bürger darum, wenn sie darüber zu entscheiden hat, für den Frieden optieren wird, ist freilich alles andere als selbstverständlich. Die Theorie des demokratischen Friedens, wonach demokratische Staaten gegeneinander keine Kriege führen, weswegen die Demokratisierung der Staatenwelt im globalen Maßstab der Weg zum ewigen Frieden sei,16 ist die Fortführung des Kantschen Entwurfs durch die neuere Politikwissenschaft. Gegen die angenommene Friedensinteressiertheit der Bürger lassen sich zwei Argumente anfuhren: Zum einen, dass sie durch nationalistische Ideologien indoktriniert sind und nicht gemäß ihren tatsächlichen Eigeninteressen agieren. Das ist eine Erklärung dafür, warum von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg die Bürger, entgegen den Annahmen Kants, mit großer Begeisterung in Kriege gezogen sind. Es ist dies das Argument zeitweiliger Irrationalität, gegen die aber mit den Mitteln der Aufklärung anzukommen ist: Wenn die Menschen erst erkannt haben, was ihre wirklichen Interessen sind, werden sie für den Frieden optieren. Man kann die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert als einen solchen Lernprozess beschreiben. Man kann aber auch bezweifeln, dass Krieg prinzipiell mehr kostet, als er einbringt, und dann weist Kants Friedensschrift und mit ihr die Theorie des demokratischen Friedens eine Lücke auf, die mit den Mitteln der Aufklärung und einer konsequenten Orientierung am Eigeninteresse nicht zu schließen ist. Die Beschreibung eines auf dieser Grundlage gefällten Kriegsbeschlusses durch die Versammlung der Bürger findet sich in Thukydides' »Geschichte des Peloponnesischen Krieges«, und zwar im Entschluss der Athener zum Krieg gegen Syrakus, der ein reiner Angriffskrieg war und mit Verteidigung nicht das Geringste zu tun hatte. Etwas Derartiges werde und könne nicht mehr stattfinden, wenn sich der Kapitalismus im Weltmaßstab durchgesetzt habe, lautet die Versicherung Joseph Schumpeters. Dabei sieht Schumpeter den Pazifismus und die internationale Moral nicht durch eine wie auch immer entwickelte Vernünftigkeit der Menschen gesichert, sondern durch die Klassenin16 Vgl. Michael E. Brown u.a., Hg., Debating the Democratic Peace, Cambridge/Mass, und London 1996.
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teressen der Bourgeoisie und deren Direktionsgewalt in globalem Maßstab. Das ist die polemische Gegenposition zu der von Friedrich Engels vertretenen Auffassung, dass allein die Machtübernahme des Proletariats Garant eines dauerhaften und stabilen Friedens sein können, weil die nationalen Proletariate keine antagonistischen Interessen hätten, sondern diese sich in einen proletarischen Internationalismus auflösten. Der Krieg und die Sitten
Hatte der klassische Republikanismus gelegentliche Kriege als Erneuerer der Sittlichkeit eines Volkes angesehen, so hat es daneben aber immer auch die Beobachtung gegeben, dass der Krieg die Sitten der Völker ruiniert und an seinem Ende nicht nur physische Zerstörungen, sondern auch moralische Wüsten stehen. Der griechische Historiker Thukydides hat diese ethosdestruktive Seite des Krieges vor allem mit dem innergesellschaftlichen Krieg, dem Bürgerkrieg, verbunden. Dabei ist vor allem bemerkenswert, dass Thukydides mit den Verheerungen des Krieges einen Verfall der politisch-moralischen Semantik verbindet, in deren Folge die Möglichkeiten eines Widerstands gegen die Dynamik der Gewalt und die Chancen zu friedlicher Verständigung erodieren. Thomas Hobbes, der Thukydides' Kriegsanalyse ins Englische übersetzt hat, war darum davon überzeugt, dass es zur friedensstiftenden Aufgabe des Souveräns auch gehöre, diesem die Macht über die Sprache und die Festlegung von Wortbedeutungen zu übertragen. Das Uneindeutigwerden zentraler politischer Begriffe, wie etwa der Unterscheidimg zwischen Monarchie und Tyrannis, sei der erste Schritt in den Bürgerkrieg.17 Demgegenüber bleibt in Sallusts Analyse des römischen Bürgerkrieges letztlich offen, ob vom Krieg oder vom Frieden die verderblicheren Auswirkungen auf die sittliche Beschaffenheit einer Gesellschaft ausgingen. Es ist die Verbindung imperialer Expansion mit einer Phase der Ruhe und Spannungslosigkeit zum Innern der Gesellschaft, die er für die Erosion der alten Sitten, durch die Rom groß geworden sei, verantwortlich macht. Sallust hat damit das Paradigma konservativer Kulturkritik entfaltet: Um sich greifende Habsucht und Ehrgeiz, die sich vor allem bei der Jugend zeigt, gleichzeitig Verweichlichung und Verfall der Sitten, als Resultat dessen schließlich Bürgerkrieg, der im Kern nichts anderes ist als eine gewaltsame Umverteilung der Vermögen. Die Therapie dieser Entwicklung liegt auf der Hand: Krieg gegen einen Gegner, der eine wirkliche Herausforderung darstellt. Es ist erstaunlich, wie nahe Marx' Bürgerkriegsbeschreibung, hier der Niederschlagung der Pariser Commune, der Sallustschen Analyse ist. Auch Machiavellis Betrachtungen über die verderblichen Folgen des Söldnerwesen zielen wesentlich auf die sittliche Seite: der Sold ist ein zu schwaches Band, um eine belastbare Loyalität zwischen Auftrag-
17 Thomas Hobbes, Leviathan, hg. von Iring Fetscher, Frankfurt/M. 1984, S. 31, 37 und insbes. 78 f. Dazu Herftied Münkler, Thomas Hobbes, Frankfurt/New York 2001, S. 72 - 79.
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geber und Auftragnehmer zu schaffen, und zu guter letzt wendet sich das professionelle Personal, das zum Kampf gegeneinander aufgeboten wurde, gemeinsam gegen die unterlegene Seite, um deren Besitz zu plündern und die Frauen zu vergewaltigen. Machiavelli hat daraus die Konsequenz gezogen, man solle auf die Anwerbung von Söldnern verzichten und stattdessen eine Miliz mit Landeskindern aufstellen. Davon hat er sich obendrein eine grundlegende Erneuerung der virtu eines Volkes versprochen.18 Prinzipiell keine positiven ethischen Effekte hat Thomas Hobbes vom Krieg erwartet. Für ihn ist Krieg definitorisch nicht auf einen Zustand begrenzt, in dem politisch organisierte Großverbände gegeneinander Gewalt anwenden, sondern beginnt dort, wo eine Macht fehlt, die Menschen an der Gewaltanwendung hindert und dafür sorgt, dass sie voreinander keine Angst haben müssen. Solange es keinen Souverän gibt bzw. sobald es ihn nicht mehr gibt, befinden sich die Menschen in einem latenten Kriegszustand. Der Krieg ist das von Natur aus zu Erwartende, und der Frieden muss ihm durch einen Vertrag, den jeder mit jedem schließt und durch den ein mit absoluter Gewalt ausgestatteter Souverän eingesetzt wird, erst abgerungen werden. Der Prozess menschlicher Selbstzivilisierung ist an diesen Frieden gebunden. Dagegen ist der Krieg immer wieder auch als ein Kampf unterschiedlicher Sitten und Wertsysteme begriffen worden. In jüngster Zeit hat sich im Anschluss an Samuel Huntington dafür die Bezeichnung »Krieg der Kulturen« durchgesetzt.19 Unbeschadet der Frage, ob Huntingtons aktuelle Diagnose zutreffend ist oder nicht, hat ein Krieg zwischen unterschiedlichen Zivilisationen bzw. Kulturen eine sehr viel größere Intensität des ideologischen Gegensatzes als der klassische zwischenstaatliche Krieg, in dem die Gewalt auf die blutige Konfrontation gegensätzlicher Interessen beschränkt ist. Das heißt freilich nicht, dass interessenkonfrontative Kriege von geringerer Gewaltintensität seien als sittenund wertkonfrontative Kriege. Gerade der Umstand, dass im Falle des klassischen zwischenstaatlichen Krieges die gegeneinander kämpfenden Parteien in der Regel derselben Zivilisation angehören, also denselben Stand bei der Entwicklung ihrer produktiven und organisatorischen Fähigkeiten haben, kann dazu führen, dass sie zu einer Intensität bei der Gewaltanwendung in der Lage sind, wie sie bei Kriegen zwischen Akteuren unterschiedlicher produktiver und organisatorischer Fähigkeiten nicht anzutreffen sind. Intrazivilisatorische Kriege werden mit hoher Wahrscheinlichkeit als symmetrische Kriege geführt, interzivilisatorische Kriege dagegen sind zumeist asymmetrische Kriege.20 Symmetrische Kriege kulminieren in der Entscheidungsschlacht, die überaus verlustreich sein
18 Dazu Herfried Münkler, Machiavelli, Frankfurt/M. 1982 u.ö., S. 381ff. 19 Samuel Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München und Wien 1996. 20 Zur Unterscheidung zwischen symmetrischen und asymmetrischen Kriegen vgl. Herfried Münkler, Symmetrische und asymmetrische Kriege; in: Merkur, 58. Jg., 2004, Heft 8, S. 649-659, sowie Josef Schröfl/Thomas Pankratz, Hg., Asymmetrische Kriegführung - ein neues Phänomen der Internationalen Politik?, Baden-Baden 2004.
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kann; asymmetrische Kriege hingegen haben eine starke Tendenz, dass zumindest eine Seite sie nach den Grundsätzen der Ermattungsstrategie führt, also auf die Entscheidung in einer großen Schlacht verzichtet und statt dessen auf die Ausdehnung des Krieges in der Zeit setzt. Die Führung eines Partisanenkrieges folgt diesen Grundsätzen. Die Unterscheidung zwischen symmetrischen und asymmetrischen Kriegen ist weniger für die Gewaltintensität als für die Gewaltextensität bedeutsam: Symmetrische Kriege sind von eher kurzer Dauer und lassen sich durch Kriegerethos sowie Rechtsregeln regulieren und hegen. Bei asymmetrischen Kriegen ist dies nicht der Fall; hier gewinnt die waffentechnisch und militärorganisatorische Seite dadurch an Durchhaltefähigkeit, dass sie sich allen Regeln der Begrenzung von Gewalt, wie sie in der Haager Landkriegsordnung und den Genfer Konventionen formuliert worden sind, systematisch entzieht. Asymmetrische Kriege sind nicht unbedingt gewaltintensiver, aber durchweg grausamer als symmetrische Kriege. Sie sind darum auch ungleich schwerer zu beenden. Ein frühes Beispiel für die Beschreibung eines asymmetrischen Krieges bzw. eines Krieges als asymmetrisch ist die Darstellung der Perserkriege durch den griechischen Historiker Herodot. Dabei stellt er weniger waffentechnische oder militärorganisatorische, sondern politische Unterschiede in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und lässt diese in der Entgegensetzung von Despotie und Freiheit gipfeln. Es ist die gerade bei der Beschreibung asymmetrischer Konstellationen immer wieder aufscheinende DavidGoliath-Konstellation, die auch dieser Darstellung zu Grunde liegt - nur dass hier schon vor dem Aufeinandertreffen der Kontrahenten das Geheimnis der Kampfkraft der zahlenmäßig Unterlegenen gelüftet wird: die Selbstbindung durch das Gesetz. Eine andere Normasymmetrie findet sich im Kreuzzugsaufruf Papst Urbans II. auf dem Konzil von Clermont im Jahre 1095: Zunächst begründet sich der Kreuzzugsaufruf auf einem defensiven Grundverständnis; es geht um die Verteidigung des Heiligen Landes, das von Arabern und Türken erobert worden ist. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis ist die Grunddisposition des Kreuzzugsaufrufs also defensiver Art. Was ihn von anderen Kriegen unterscheidet ist das Versprechen der Sündenvergebung für diejenigen, die in diesem Kriege getötet werden. Der Papst verspricht jedoch nicht den Zugang zum Paradies, über den er theologisch nicht verfugt, sondern die Vergebung der Sünden kraft seiner Binde- und Lösegewalt. An dieses Versprechen schließt er ein politisches Argument an, wonach die Indienstnahme der Kämpfer für eine gute und gerechte Sache aus dem Haudegen und Söldner einen Kämpfer für die Sache Gottes, einen miles christianus mache.21 Das ist aber nur möglich, wenn die Reziprozität zwischen beiden Konfliktparteien aufgelöst und 21 Die Idee der Ritterlichkeit und desritterlichenTugendsystems ist entscheidend durch diese Heiligung des Krieges und die damit verbundene Lenkung der Gewalt beeinflusst worden; vgl. dazu Josef Fleckenstein, Rittertum und ritterliche Welt, Berlin 2002, insbes. S. 109 ff., Maurice Keen, Das Rittertum, München und Zürich 1987, S. 71 ff., sowie allgemein Arno Borst, Hg., Das Rittertum im Mittelalter, Darmstadt 1976, sowie Günter Eifler, Hg., Ritterliches TUgendsystem, Darmstadt 1970.
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eine Seite zum Träger von Recht und Gerechtigkeit wird, während die andere Unrecht und Ungerechtigkeit verkörpert. Diese scharfe Normasymmetrie, die wir heute als eine Verpolizeilichung des Krieges bezeichnen würden, kann in der Idee des gerechten bzw. des Heiligen Krieges ihren Ausdruck finden.22 Welchen Einfluss beide Konzeptionen auf die Rechtfertigung und Führung von Kriegen haben, ist weniger ein ideengeschichtliches Problem, sondern von den Machtkonstellationen und politischen Ordnungsmodellen abhängig, unter denen und auf die hin Kriege gedacht und konzipiert werden. Im europäischen Staatensystem, wie es sich während des 15./16. Jahrhunderts entwickelte und im Westfälischen Frieden kodifiziert wurde, hatte die Idee des gerechten oder gar des heiligen Krieges keinen Platz; statt dessen wurde hier das Modell des symmetrischen Krieges und das auf ihm beruhende Kriegsvölkerrecht entwickelt. In den imperialen und kolonialen Kriegen, die von den europäischen Mächten an den Grenzen ihrer außereuropäischen Besitzungen geführt wurden, stellte es sich anders dar. Hier lebte die Idee des gerechten Krieges fort, und von hier ist sie in jüngster Zeit auch wieder unter der Überschrift der humanitären militärischen Intervention in unsere politische Vorstellungswelt zurückgekehrt.
Professionalismus, Wehrpflicht und Volkskrieg Immer wieder hat in der Geschichte des politischen Denkens die Frage eine Rolle gespielt, welches die geeignetere Form zur Verteidigung einer politischen Gemeinschaft sei: die Bereitstellung professioneller Gewaltspezialisten oder die Aufbietung aller Kräfte eines politischen Verbandes. Die Extrempole dieser Alternative werden durch das Söldnerwesen und den Volkskrieg markiert. Lässt sich das Söldnerwesen als eine Art Freikauf der Bürger von der Last der Verteidigung ihres Gemeinwesens bzw. der Kriegführung überhaupt beschreiben, so ist der Volkskrieg, sei es in der Form des totalen Krieges oder in der des Partisanenkrieges, das genaue Gegenteil dessen: Hier wird jeder, unabhängig von Alter und Geschlecht, für die Zwecke des Krieges in Anspruch genommen. Alle Hegungen werden niedergerissen und der Krieg dehnt sich auf sämtliche Bereiche der Lebensführung aus. Erich von Ludendorff hat dafür in scharfer Abgrenzung gegen die Clausewitzsche Konzeption des Krieges den Begriff des totalen Krieges geprägt. Als einer der entschiedensten Gegner des Söldnertums ist Niccolo Machiavelli aufgetreten: In strikter Orientierung am republikanischen Vorbild Roms hat er das in Italien seit dem späten 14. Jahrhundert entstandene System der Condottieri, der Kriegsunternehmer, kritisiert und dagegen die Vorstellung einer Miliz entwickelt, die nicht auf der Basis von Soldzahlung, sondern patriotischer Pflicht in den Krieg zieht. Im Principe hat er seine Ein-
22 Vgl. Michael Walzer, Gibt es den gerechten Krieg?, Stuttgart 1982; Reiner Steinweg, Red., Der gerechte Krieg: Christentum, Islam, Marxismus, Frankfurt/M. 1980, sowie Carsten Colpe, Der »Heilige Krieg«. Benennung und Wirklichkeit, Begründung und Widerstreit, Bodenheim 1994.
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wände gegen die Condottieri pointiert zusammengefasst: »Ein Herrscher, der sich auf Söldner stützt, wird niemals auf festem Boden stehen und sicher sein, denn Söldner sind uneinig, machtgierig, ohne Disziplin und treulos, überheblich gegenüber den Freunden, feig vor dem Feind, ohne Furcht vor Gott, ohne Redlichkeit gegen die Menschen. [...] Im Frieden wird das Land von ihnen ausgeplündert, im Krieg vom Feind. Der Grund hierfür ist der, dass sie sich durch nichts gebunden fühlen und kein anderes Motiv sie im Feld hält als das bißchen Sold, der nicht ausreicht, um sie gerne für dich sterben zu lassen. Sie wollen wohl deine Soldaten sein, solange du keinen Krieg führst; doch wenn wirklich Krieg kommt, so werden sie fahnenflüchtig und ziehen ab.«23 Die Folgen dessen hat Machiavelli in zahlreichen Varianten beschrieben. Für John Miliar dagegen stellt das Söldnerwesen nur eine Durchgangsetappe auf dem Weg vom Aufgebot freiwilliger Milizen zur Entwicklung stehender Heere dar. Folgten in ersteren die Mitstreiter dem Anführer aus Beutegier oder Abenteuerlust auf dem Kriegszug, so bildet erst das stehende Heer ein wirklich politisches Instrument, mit dem großräumige Kriege geführt werden können und das zugleich wie eine Waffe in der Hand des Politikers liegt. Davon konnte im früheren Milizwesen nicht die Rede sein. Dagegen betont Adam Ferguson den Freikauf von gefährlichen Aufgaben, als den er die Entwicklung des Söldnerwesens begreift, und stellt heraus, dass dadurch diejenigen begünstigt werden, die über die materiellen Möglichkeiten zum Freikauf verfügen. Ferguson kritisiert hier eine Entwicklung, in deren Gefolge die besitzenden Schichten, also im wesentlichen das Bürgertum, vom Militärdienst freigestellt wurde, der zu einer Angelegenheit des Adels und der unterbürgerlichen Schichten wurde. Dies sei das Ende der Freiheit und die Machtübernahme durch das Militär. Dieses Argument gegen die Professionalisierung des Militärs und für die Wehrpflicht der Bürger hat eine lange Tradition, an deren Anfang Aristoteles steht: In der Politik unterscheidet er Monarchie und Tyrannis u.a. dadurch, dass im ersten Fall Bürger, in letzterem hingegen Söldner den Herrscher schützen.24 Demgegenüber sieht Adam Smith mit dem technischen Fortschritt eine Entwicklung zur Professionalisierung des Militärwesens verbunden, da die aufwendigen und teuren Waffensysteme nur von Spezialisten effektiv bedient werden könnten. Im Prinzip wendet Smith das Argument der Produktivitätsfortschritte durch Arbeitsteilung auf das Militärwesen an und argumentiert mit der Überlegenheit von in militärisches Großgerät investiertem Kapital mit Spezialisten zu seiner Bedienung gegenüber der durchschnittlichen Kampfkraft undifferenzierten Kriegertums. Die armen Barbaren werden in Folge dessen nicht mehr in der Lage sein, reiche Zivilisationen zu überrennen. Gegen die damit entwickelte Vorstellung einer asymmetrischen Überlegenheit technologisch avancierter Zivilisationen hat Mao Tse-tung das Konzept des Partisanenkrieges als asymmetrische Kriegführung ent-
23 Niccolö Machiavelli, Der Fürst (»II Principe«), hg. von Rudolf Zorn, Stuttgart 1972, S. 49 f. 24 Aristoteles, Politik III, 14; 1285a 25-29.
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worfen, die aus einer gesteigerten Opferbereitschaft des Volkes erwächst. Gegen die Asymmetrie der Stärke entwickelt er eine Asymmetrie aus Schwäche, in der die Ressource Zeit gegen die überlegenene Technologie des Angreifers ins Spiel gebracht wird. Demgegenüber hat Erich Ludendorff auf die Verbindung von fortgeschrittener Technologie und Volkskrieg gesetzt und ist davon ausgegangen, dass die gegeneinander kriegfuhrenden Parteien dazu gleichermaßen in der Lage seien. LudendorfFs totaler Krieg ist eher auf symmetrische denn auf asymmetrische Konstellationen hin entworfen. Der Zweite Weltkrieg ist streckenweise nach diesen Vorstellungen geführt worden. Diese Erfahrung hat den Krieg aus der europäischen Politik weitgehend verschwinden lassen. Überhaupt ist der klassische zwischenstaatliche Krieg seit Mitte des 20. Jahrhunderts offenbar ein historisches Auslaufmodell, während kleine Kriege, in denen Staaten nur noch eine Rolle unter anderen Akteuren spielen, sich ausgebreitet haben. Ob es sich dabei um »neue Kriege« handelt, ist umstritten.25
ALTES TESTAMENT Der eschatologische Frieden Das Volk, das im Finstern wandelt, schaut ein helles Licht; über denen, die im Lande der Dunkelheit wohnen, erstrahlt ein Licht. (...) Denn jeder Soldatenstiefel, der dröhnend auftritt, und jeder Mantel, der in Blut gewälzt, wird verbrannt und eine Speise des Feuers. Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt; die Herrschaft ruht auf seinen Schultern. Man nennt seinen Namen: Wunderrat, starker Gott, Ewigvater, Friedensfürst. Groß ist die Herrschaft, und endlos der Friede (...). (S. 805) Dann wohnt der Wolf bei dem Lamm und lagert der Panther bei dem Böcklein. Kalb und Löwenjunges weiden gemeinsam, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Die Kuh wird sich der Bärin zugesellen und ihre Jungen liegen beieinander; der Löwe nährt sich wie das Rind von
Stroh. Der Säugling spielt am Schlupfloch der Otter und in die Höhle der Natter streckt das entwöhnte Kind seine Hand. Sie schaden nicht und richten kein Verderben an auf meinem ganzen heiligen Berg. Denn das Land ist voll der Erkenntnis Jahwes, wie die Wasser das Meer bedecken. (S. 807) Aus: Jesaja 9,1 - 6 und 11,6-9.
HERODOT Der Krieg als Kampf der politischen Kulturen Xerxes ließ Demaratos zu sich rufen und fragte ihn: (...) »Du bist doch ein Hellene (...). Jetzt sage mir also, ob die Hellenen sich unterstehen werden, die Hände gegen mich zu erheben. Sie
25 Das Theorem der neuen Kriege findet sich vor allem bei Martin van Creveld, Die Zukunft des Krieges, München 1998; Mary Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt/M. 2000, sowie Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek b. Hamburg 2002. Zur Diskussion vgl. Siegfried Frech/Peter I. Trümmer, Hg., Neue Kriege. Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie, Schwalbach/Ts. 2005.
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werden ja, wie mir dünkt, auch nicht, wenn alle Hellenen und alle übrigen im Westen wohnenden Menschen sich versammeln, stark genug sein, mir im Kampfe standzuhalten, wenn ich gegen sie ziehe, vorausgesetzt, daß sie nicht vereinigt zusammenstehen. Gleichwohl will ich auch von dir erfahren, was du über sie zu sagen hast.« Diese Frage stellte er an Demaratos. Dieser gab zur Antwort: »Großkönig! Soll ich dir gegenüber die Wahrheit sagen oder dir zu Gefallen reden?« Er forderte ihn auf, der Wahrheit die Ehre zu geben, und fügte hinzu, er werde ihm in keiner Weise weniger gewogen sein, als er es bisher gewesen sei. Als Demaratos, dies hörte, sagte er folgendes: »Großkönig! Da du mich aufforderst, unbedingt der Wahrheit zu entsprechen und das zu sagen, womit später keiner von dir als Lügner ertappt werden wird, so wisse, in Hellas ist die Armut von jeher heimisch gewesen, die Mannestüchtigkeit ist aber hinzuerworben, gewonnen aus der Quelle der Klugheit und des strengen Gesetzes, und mit Hilfe dieser Mannestüchtigkeit wehrt Hellas der Armut und der Tyrannei. Ich lobe also alle Hellenen, die überall in jenen dorischen Gebieten wohnen. Ich will aber gleich hinzufugen, daß folgendes nicht für alle, sondern allein für die Lakedaimonier gilt: erstens werden sie nimmermehr deine Vorschläge, die für Hellas Knechtschaft bringen, annehmen, und zweitens werden sie sich dir zur Schlacht stellen, selbst wenn die anderen Hellenen sämtlich auf deine Seite treten. Was aber ihre Zahl betrifft, so frage nicht, wie stark sie sind, um dazu imstande zu sein. Wenn nämlich auch nur tausend ausgezogen sind, so werden diese mit dir kämpfen, gleichgültig, ob es nun weniger oder mehr als tausend sind.« Als Xerxes dies hörte, brach er in ein Gelächter aus und sagte: »Wir könnten wohl Tausend oder Zehntausend oder auch fünfmal Zehntausend, die alle gleichermaßen frei sind und nicht unter dem Befehl eines einzigen Mannes stehen, einem so großen Heer entgegentreten? Denn es
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kommen doch mehr als tausend Mann aufjeden einzelnen, wenn jene fünftausend Mann stark sind. Wenn sie unter dem Befehl eines Einzigen stünden, wie es unserem Brauch entspräche, könnten sie wohl aus Furcht vor diesem und entgegen ihrer eigenen Veranlagung sich tapferer zeigen und dürften unter dem Zwang von Peitschenhieben als Minderheit gegen eine Übermacht ziehen. Wird ihnen aber ihr freier Wille gelassen, so tun sie wohl keines von beiden. (...) Es gibt ja unter meinen persischen Speerträgern solche, die entschlossen sein werden, mit drei hellenischen Männern gleichzeitig den Kampf aufzunehmen. Doch mit diesen hast du noch keine Bekanntschaft gemacht, und deshalb schwatzt du so viel törichtes Zeug.« Darauf sagte Demaratos: »Großkönig! Von Anfang an wußte ich, daß ich nichts Angenehmes sage, wenn ich mich zur Wahrheit bekenne. (...) Sollte aber eine Zwangslage bestehen oder ein hoher Preis zum Kampfe anspornen, dann würde ich am allerliebsten mit einem dieser Männer kämpfen, die behaupten, daß jeder einzelne von ihnen es mit drei Hellenen aufnehmen würde. So sind auch die Lakedaimonier im Einzelkampf nicht weniger tapfer wie jeder andre, im Gesamtkampf aber sind sie die tüchtigsten von allen Männern. Sie sind zwar frei, aber doch nicht ganz frei. Denn über ihnen steht als Herr das Gesetz, vor dem sie sich noch viel mehr furchten als die Deinigen vor dir. Auf alle Fälle tun sie, was jenes befiehlt. Es befiehlt aber immer das gleiche: es verbietet, vor irgendeiner Übermacht in der Schlacht zu fliehen, es gebietet, in Reih und Glied zu bleiben und entweder zu siegen oder zu sterben. Wenn ich dir aber mit solchen Worten töricht zu schwatzen scheine, will ich sonst künftig schweigen.« (S. 33-36) Aus: Herodot, Die Bücher der Geschichte, VII, 101-104, hg. von W. Sontheimer, Stuttgart 1979.
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THUKYDIDES
THUKYDIDES
Der demokratische Krieg
Der Bürgerkrieg als Sittenzerstörer
Die Athener aber ließen sich ihr Verlangen nach dem Feldzug durch die riesigen Ausmaße der Rüstung nicht nehmen, waren im Gegenteil noch viel mehr darauf versessen, und so ergab sich für ihn [Nikias, der, um den Feldzug zu verhindern, größere Rüstungen gefordert hatte] gerade die gegenteilige Wirkung; denn man fand, sein Rat sei gut und umfassende Sicherheit werde jetzt doch gegeben sein. Und eine Sucht nach diesem Unternehmen überkam alle in gleicher Weise: die Älteren, [das Land] zu unterwerfen, gegen das sie ausführen - zumindest würde eine so große Streitmacht keinesfalls zugrunde gehen - , die in ihren besten Jahren Stehenden aus Sehnsucht, die Ferne zu sehen und kennen zu lernen, voll Vertrauen, heil davonzukommen, und die große Masse der Soldaten in der Hoffnung, fürs Erste Geld zu verdienen und dann eine Macht zu gewinnen, durch die ihnen dauernde Soldzahlung gewährleistet werde. Wegen der übermächtigen Leidenschaft der Menge verhielt sich auch mancher, dem die Sache missfiel, ruhig aus Furcht, er könnte, wenn er dagegenstimme, in den Ruf eines Staatsfeindes kommen. (...) Danach begann die Rüstung, auch zu den Bundesgenossen sandten sie Boten und veranstalteten in der Stadt selbst Aushebungen. Gerade aber hatte sich die Stadt erholt von der Seuche und dem ununterbrochenen Krieg hinsichtlich der Zahl kampffähiger Jugend, die nachgewachsen war, und der Anhäufung von Geld infolge des Waffenstillstandes; daher konnte alles leichter bereitgestellt werden. (S. 480 f.)
Und bei solcher Zwietracht brach viel Schweres über die Städte herein, wie es nun einmal ist und immer sein wird, solange das Wesen der Menschen gleich bleibt, manchmal heftiger, manchmal ruhiger [erschien es] und immer verschieden in den Erscheinungsformen, wie es eben die Wechselfälle der Ereignisse mit sich bringen; denn in Frieden und Wohlstand leben Städte und Menschen nach besseren Grundsätzen, weil sie nicht in ausweglose Not geraten. Der Krieg aber, der die Annehmlichkeit des täglichen Lebens raubt, ist ein harter Lehrmeister und gleicht die Leidenschaften der Menge den Gegebenheiten des Augenblicks an.
Aus: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, VI, 24 und 26, hg. von H. Vretska und W. Rinner, Stuttgart 2000.
So wütete also Zwietracht in allen Städten, und die, die vielleicht erst später davon ergriffen wurden, überboten jene auf die Kunde von dem bereits Geschehenen noch bei weitem durch ihren bisher ungeahnten Scharfsinn im Ausklügeln von Anschlägen und maßloser Rache. Auch änderten sie die gewohnten Bezeichnungen für die Dinge nach ihrem Belieben. Unüberlegte Tollkühnheit galt als aufopfernde Tapferkeit, vorausdenkendes Zaudern als aufgeputzte Feigheit, Besonnenheit als Deckmantel der Ängstlichkeit, alles bedenkende Klugheit als alles lähmende Trägheit; wildes Draufgängertum hielt man für Mannesart, vorsichtig wägendes Weiterberaten wurde als schönklingender Vorwand der Ablehnung angesehen. Wer schalt und zürnte, war immer zuverlässig, wer widersprach, eben dadurch verdächtig. (...) Denn lieber lassen sich die meisten Menschen gewitzte Bösewichter nennen als einfaltige Ehrenmänner; des einen schämen sie sich, mit dem andern brüsten sie sich. An all dem ist die Herrschsucht schuld, die sich in Habgier und Ehrgeiz äußert, und daraus erwächst dann, wenn erst der Hader hinzutritt, wilde Leidenschaft. Denn die Führer in den Städten - bei beiden Parteien mit schönklin-
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genden Worten: sie vertreten die Gleichberechtigung des Volkes oder die gemäßigte Herrschaft der Besten - machten das Staatsgut, dem sie ihren Worten nach dienten, zu ihrem persönlichen Kampfpreis; in ihrem Ringen, aufjede Art den anderen zu überbieten, erkühnten sie sich zu den verwegensten Taten und übersteigerten dann noch ihre Rache. Dabei aber hielten sie sich nicht im Rahmen des Rechtes und des Staatswohls, nein, jede Partei fand jeweils ihre Richtschnur nur in ihrer Leidenschaft; und ob sie durch betrügerische Abstimmung oder mit Gewalt zur Herrschaft gelangt sind, sie waren entschlossen, die Kampfwut des Augenblicks zu sättigen. (S. 253 ff.) Aus: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, III, 82, hg. von H. Vretska und W. Rinner, Stuttgart 2000
SALLUST Der imperiale Krieg als Sittenzerstörer Dazu kam, daß Lucius Sulla sein Heer, das er in Kleinasien gefuhrt hatte, um es sich ergeben zu machen, gegen den Brauch der Vorfahren üppig und allzu großzügig gehalten hatte. Die Reize und Verlockungen dieser Gegenden hatten dann während der Friedensruhe die wilden Krieger rasch verweichlicht. Dort gewöhnte sich das Heer des römischen Volkes erstmals daran, zu lieben und zu saufen, Bildwerke, Gemälde und gepunzte Gefäße zu bewundern, sie aus privatem und öffentlichem Besitz zu rauben, Tempel auszuplündern, alles zu schänden, mochte es Göttern oder Menschen gehören. (...) Seitdem der Reichtum allmählich Ehre einbrachte und Ruhm, Herrschaft und Macht im Gefolge hatte, da begann die moralische Kraft zu erlahmen, Armut als Schande zu gelten, Redlichkeit als Böswilligkeit ausgelegt zu werden. Infolge des
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Reichtums riß dann bei der Jugend Genußsucht und Habgier sowie Überheblichkeit ein: man raubte, verschwendete, schätzte den eigenen Besitz gering, begehrte fremden, hielt Ehrgefühl und Sittsamkeit, göttliche und menschliche Ordnung für belanglos, hatte keine Gewichtungen und keine Maßstäbe mehr. (...) Der Trieb zu Unzucht, Schlemmerei und sonstigen Finessen aber war ebenso stark eingerissen: Männer gaben sich als Weiber her, Weiber boten ihre Keuschheit offen feil; für Leckerbissen durchsuchte man alles zu Lande und im Meer; man schlief, bevor man das Bedürfnis zum Ausruhen hatte; Hunger oder Durst, Kühle und Müdigkeit wartete man nicht ab, sondern nahm das alles genießerisch vorweg. Dies entfachte die Jugend zu Verbrechertaten, wenn die eigenen Geldmittel ausgegangen waren: Wer von den üblen Praktiken einmal angesteckt war, konnte nur noch schwer auf seine Lüste verzichten; um so hemmungsloser war er dann mit allen Mitteln auf Gelderwerb und Verbrauch versessen. (S. 19-23) Aus: Sallust, Die Verschwörung Catilinas, 11 -13, lat. und dt. von W. Eisenhut und J. Lindauer, München und Zürich 1985.
PAPST URBAN II. Aufruf zum Kreuzzug: Vielgeliebte Brüder! Getrieben von den Forderungen dieser Zeit, bin ich, Urban, der ich nach der Gnade Gottes die päpstliche Krone trage, oberster Priester der ganzen Welt, hierher zu euch, den Dienern Gottes gekommen, gewissermaßen als Sendbote, um euch den göttlichen Willen zu enthüllen... Es ist unabweislich, unseren Brüdern im Orient eiligst die so oft versprochene und so dringend notwendige Hilfe zu bringen. Die Türken und
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die Araber haben sie angegriffen. (...) Wenn ihr ihnen jetzt keinen Widerstand entgegensetzt, so werden die treuen Diener Gottes im Orient ihrem Ansturm nicht länger gewachsen sein. Deshalb bitte und ermahne ich euch, und nicht ich, sondern der Herr bittet und ermahnt euch als Herolde Christi, die Armen wie die Reichen, daß ihr euch beeilt, dieses gemeine Gezücht aus den von euern Brüdern bewohnten Gebieten zu verjagen und den Anbetern Christi rasche Hilfe zu bringen. Ich spreche zu den Anwesenden und werde es auch den Abwesenden kundtun, aber es ist Christus, der befiehlt (...). Wenn diejenigen, die dort hinunterziehen, ihr Leben verlieren, auf der Fahrt, zu Lande oder zu Wasser oder in der Schlacht gegen die Heiden, so werden ihnen in jener Stunde ihre Sünden vergeben werden, das gewähre ich nach der Macht Gottes, die mir verliehen wurde (...). Mögen diejenigen, die vorher gewöhnt waren, in privater Fehde verbrecherisch gegen Gläubige zu kämpfen, sich mit den Ungläubigen schlagen und zu einem siegreichen Ende den Krieg führen, der schon längst hätte begonnen sein sollen; mögen diejenigen, die bis jetzt Räuber waren, Soldaten werden (...); mögen diejenigen, die sonst Söldlinge waren um schnöden Lohn, jetzt die ewige Belohnung gewinnen; mögen diejenigen, die ihre Kräfte erschöpft haben zum Schaden ihres Körpers wie ihrer Seele, jetzt sich anstrengen für eine doppelte Belohnung. Was soll ich noch hinzufügen? Auf der einen Seite werden die Elenden sein, auf der andern die wahrhaft Reichen; hier die Feinde Gottes, dort Seine Freunde. Verpflichtet euch ohne zu zögern; mögen die Krieger ihre Angelegenheiten ordnen und aufbringen, was nötig ist, um ihre Ausgaben bestreiten zu können; wenn der Winter endet und der Frühling kommt, sollen sie fröhlich sich auf den Weg machen unter der Führung des Herrn (S. 21 f.). Aus: Papst Urban II., nach Fulcher von Chartres, zit. nach: Die Kreuzzüge in Au-
genzeugenberichten, hg. von Regine Pernoud, Berlin und Darmstadt 1965.
BERTRAND DE BORN Krieg als adlige Lebensform Sehr mag ich die lustige Osterzeit, die die Blumen und Blätter sprießen läßt, und ich liebe es der Freude der Vögel zuzuhören, die ihr Tirilieren im Gehölz erklingen lassen. Aber mir gefällt es auch, wenn ich auf den Wiesen Zelte und gehisste Flaggen erblicke, und mein Jubel ist groß, wenn ich bewaffnete Ritter auf ihren Pferden in Schlachtordnung aufgestellt sehe; und es gefällt mir, wenn das Volk mit dem Vieh vor den schnellen Reitern flieht, in deren Gefolge eine große Schar bewaffneter Männer kommt. Und mein Herz schlägt schneller vor Freude, wenn ich feste Burgen belagert und die Palisaden zerbrochen und zerstört sehe und das Heer am Ufer, umgeben von Wassergräben, mit einem starken Geflecht von Latten (...) Waffen, Schwerter, Helme in Hülle und Fülle, die Schilde werden durchstoßen und zerstückelt sein, sobald der Kampf beginnt und viele Vasallen werden niedergestreckt sein, ihre Pferde und die der Verwundeten irren dann umher. Und wenn die Schlacht tobt, darf keiner mehr, der aus vornehmem Geschlechte stammt, an etwas anderes denken, als daran, Köpfe zu spalten und Glieder abzuschlagen, denn besser ist es zu sterben als besiegt weiterzuleben. Ich sage Euch, weder am Essen, Trinken noch Schlafen finde ich soviel Gefallen wie daran, den Schrei: »Auf sie!« zu hören, der von beiden Seiten ertönt, das Wiehern reiterloser Pferde und die Rufe: »Zu Hilfe, zu Hilfe«, oder daran, jenseits der Gräben Hoch oder Niedrig sterbend auf das Gras sinken zu sehen und schließlich die Toten zu erblicken, die in ihren Leibern noch die Schäfte der Lanzen mit den daran befestigen Wimpeln stecken haben. (S. 352 f.)
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Aus: Bertrand de Born, zit. nach Marc Bloch, Die Feudalgesellschaft, Berlin/ Wien 1982.
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Aus: Dante Alighieri, Monarchie, 1,4, hg. von C. Sauter, Freiburg/Br. 1913, Ndr. Aalen 1974.
DANTE ALIGHIERI
NICCOLÖ MACHIAVELLI
Der imperiale Frieden
Plündernde Söldner
Wie es aber im einzelnen ist, so verhält es sich auch in der Gesamtheit. Der einzelne Mensch vermag nur in ruhiger Gelassenheit, in Klugheit und Weisheit vollkommen zu werden. In ähnlicher Weise kann auch das gesamte Menschengeschlecht nur in vollkommenem Frieden am freiesten und leichtesten an seine eigentliche Aufgabe herantreten, die man fast eine göttliche heißen kann, wie ja geschrieben steht: »Nur ein Weniges hast du ihn unter die Engel gestellt.« Daraus ergibt sich klar, daß der Weltfnede das beste unter allen Gütern ist, die zu unserer Glückseligkeit hingeordnet sind. Darum klang der Ruf aus Himmelshöhen an die Hirten nicht von Reichtümern, Vergnügungen, Ehren, nicht von langem Leben, Gesundheit, Kraft und Schönheit, sondern vom Frieden. Die himmlische Heerschar sang: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind.« »Der Friede ist mit euch«, war der Gruß des Heilandes der Welt. Der höchste Retter mußte sich auch des erhabensten Grußes bedienen. Diese Sitte wollten auch seine Schüler bewahren, und Paulus bekundet sie in feinen Begrüßungen, wie ja allen bekannt ist. Aus all dem ergibt sich klar, auf welchem Wege die Menschheit eher, ja am ehesten ihre eigentliche Aufgabe erreichen kann. Darum leuchtet es auch ein, daß der Weltfnede das nächstgelegene Hilfsmittel für jene große Aufgabe ist, nach der alle unsere Handlungen letzten Endes zielen. (S. 92 f.)
Mit dieser Antwort zurückgekehrt, rüsteten sich die Volterraner zur Verteidigung, indem sie die Stadt befestigten und an alle italienischen Fürsten sandten, um Hilfstruppen zusammenzubringen. (...) Die Florentiner andrerseits (...) brachten 10 000 Mann zu Fuß und 2 000 Reiter zusammen, die unter den Befehlen Federigos, Herrn von Urbino, in die Landschaft Volterra einrückten und dieselbe leicht gänzlich wegnahmen. Hierauf legten sie sich vor die Stadt, welche, auf einem hohen Punkte gebaut, mit steilen Abhängen auf fast allen Seiten, nur auf der Seite angegriffen werden konnte, wo die Kirche S. Alessandro steht. Die Volterraner hatten zu ihrer Verteidigung ungefähr 1000 Soldaten in Sold genommen. Diese, als sie die kräftige Belagerung der Florentiner sahen, mißtrauten der Möglichkeit, sich halten zu können, und waren in der Verteidigung langsam, in den Unbilden dagegen, die sie täglich den Völterranern zufügten, sehr rasch. So wurden diese armen Bürger außen von den Feinden angegriffen, innen von den Freunden unterdrückt. An ihrem Heile verzweifelnd, fingen sie an, auf einen Vergleich zu denken, und als sie keinen bessern fanden, begaben sie sich in die Arme der Kommissäre. Diese ließen sich die Toren öffnen und den größeren Teil des Heeres einmarschieren. Hierauf gingen sie in den Palast, wo die Prioren von Volterra waren, und befahlen ihnen, in ihre Häuser zurückzukehren. Unterwegs wurde einer der Prioren von einem Soldaten aus Verachtung ausgeplündert. Von diesem Anfang - da die Menschen bereiter zum Bösen sind als
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zum Guten - entstand die Verheerung und Plünderung der Stadt. Einen ganzen Tag lang dauerte das Rauben und Plündern; weder Weiber noch Klöster und Kirchen wurden verschont; und im Verein beraubten die Soldaten, sowohl die, welche sie schlecht verteidigt, als die, welche sie angegriffen hatten, die Stadt ihrer Habe. (S. 457 f.) Aus: Niccolö Machiavelli, Geschichte von Florenz, 7. Buch; in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von H. Floerke, München 1925, Bd. 4.
THOMAS HOBBES Der Naturzustand als Krieg eines jeden gegenjeden Die ersten wenden Gewalt an, um sich zum Herrn über andere Männer und deren Frauen, Kinder und Vieh zu machen, die zweiten, um dies zu verteidigen und die dritten wegen Kleinigkeiten wie ein Wort, ein Lächeln, eine verschiedene Meinung oder jedes andere Zeichen von Geringschätzung, das entweder direkt gegen sie selbst gerichtet ist oder in einem Tadel ihrer Verwandtschaft, ihrer Freunde, ihres Volks, ihres Berufs oder ihres Namens besteht. Daraus ergibt sich klar, daß die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden. Denn Krieg besteht nicht nur in Schlachten oder Kampfhandlungen, sondern in einem Zeitraum, in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist. Und deshalb gehört zum Wesen des Krieges der Begriff Zeit, wie zum Wesen des Wetters. Denn wie das Wesen des schlechten Wetters nicht in ein oder zwei Regenschauern liegt, sondern in einer Neigung hierzu
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während mehrerer Tage, so besteht das Wesen des Kriegs nicht in tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann. Jede andere Zeit ist Frieden. Deshalb trifft alles, was Kriegszeiten mit sich bringen, in denen jeder eines jeden Feind ist, auch fur die Zeit zu, während der die Menschen keine andere Sicherheit als diejenige haben, die ihnen ihre eigene Stärke und Erfindungskraft bieten. In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann; und folglich gibt es keinen Ackerbau, keine Schiffahrt, keine Waren, die auf dem Seeweg eingeführt werden können, keine bequemen Gebäude, keine Geräte, um Dinge, deren Fortbewegung viel Kraft erfordert, hin- und herzubewegen, keine Kenntnis von der Erdoberfläche, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Literatur, keine gesellschaftlichen Beziehungen, und es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes - das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz [solitary, poor, nasty, brutish and short], (S. 96) Aus: Thomas Hobbes, Leviathan, I, 13, hg. von I. Fetscher, Frankfurt/M. 1984.
JOHN MILLAR Miliz und stehendes Heer In der einfachen Frühzeit sind die Menschen grundsätzlich immer zu Krieg bereit, sooft es nur die Umstände erfordern. Schon aus ihrer einformig-trägen Lebensweise heraus ist eine militärische Expedition selten etwas Unerwünschtes; im Gegenteil, die Aussicht auf Bereicherung durch Beute, auf Auszeichnung durch Tapferkeit macht sie immer hochwillkom-
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men. So sind die Angehörigen eines Clans ebenso sehr darauf aus, mit ihrem Oberhaupt zu ziehen und seine Feindschaften auszufechten, wie er selbst ihre Gefolgschaft braucht und verlangt. Für sie ist es ein Privileg und nicht eine Last, wenn sie ihm dienstbar sind, wenn sie Gefahren und nicht zuletzt Ruhm und Profit auf allen seinen Unternehmen mit ihm teilen. Bei den zahlreichen Gefechten mit den Feinden bleiben sie in ständiger Waffenübung und sammeln die Erfahrungen des Kriegshandwerks, so wie ihre Zeit es betreibt. Auf diese Weise ist ohne große Mühe und Kosten immer ein starkes Milizheer vorhanden, das auf den geringsten Wink ins Feld gefuhrt werden kann und zur Landesverteidigung bereitsteht. (...) Kriegerische Gesinnung dieser Art, eine Begleiterscheinung der fortdauernd wirren Lebensumstände einer einfachen Gesellschaft, verliert sich natürlich, sobald die Zeiten ruhiger werden und Ordnung einzukehren beginnt. Wenn die Autorität der Regierung stark genug ist, um die Bürger vor Gewalt zu beschützen und den überkommenen Privatfehden einzelner Familien Einhalt zu gebieten - wenn die Menschen militärische Unternehmungen nur noch für die Sache der ganzen Nation ausführen, so muß ihnen das Kämpfen mehr und mehr ungewohnt werden, und die Kriegslust legt sich entsprechend. Noch mehr aber trägt die Höherentwicklung des Lebens in Handwerk und Gewerbe zur Milderung der Härte im Menschen bei, weil nun der Luxus einsetzt: die Abneigung gegen Gefahren und Entbehrungen des Kriegswesens wächst bei den Menschen, je mehr Freuden sie dem ruhigen Leben zuhause abgewinnen lernen, und was der Krieg an Ruhm und Ansehen bringen kann, wird nicht mehr hoch eingeschätzt. Gleichzeitig schafft der Aufschwung an Arbeitsmöglichkeiten eine Menge einträglicher Tätigkeitszweige, denen man sich kontinuierlich widmen muß, bestimmte gewerbliche und besondere technische Berufe in vielerlei Form kommen auf, wo
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man es sich nicht leisten kann, seine Geschäfte zugunsten so vorübergehender, ungewisser Vorteile liegen zu lassen, wie sie die Ausplünderung der Feinde abwerfen mögen. Unter solchen Verhältnissen kann oder will auf die Dauer die Mehrzahl des Volkes einfach nicht mehr in den Krieg ziehen, und wenn man jetzt die Leute nach altem Brauch zum Waffendienst aufruft, so werden sie statt ihrer persönlichen Teilnahme lieber eine Geldsumme anbieten. Ein Vergleich dieser Art wird vom Herrscher oder Staatsoberhaupt gerne angenommen, denn das erlaubt ihm, Soldaten anzuwerben unter Leuten, die keine bessere Arbeit haben oder eben an solcher Beschäftigung Geschmack finden. Die auf diese Weise rekrutierten Truppen erhalten regelmäßig ihren Sold, anderen Lebensunterhalt gibt es für sie nicht, sie sind folglich ganz und gar auf die Führung ihres Befehlshabers angewiesen und werden auch bereitwillig in seinen Diensten bleiben, solange er sie behalten möchte. Bei diesen veränderten Umständen läßt sich in der Armee nun systematisch die regelrechte Unterordnung einfuhren. Diese Armee wird also immer kampftüchtiger, läßt sich in allen Operationen leichter manövrieren und dirigieren, weshalb er sich mit ihr bald schwierige Unternehmungen zutraut und gleichzeitig auch weitausgreifende, ehrgeizige Pläne schmiedet. (...) Das Soldatenhandwerk wird zu einem regelrechten Beruf, der in der menschlichen Gesellschaft einem eigenen Stand zugeordnet wird, während alle übrigen Bewohner ganz in ihren verschiedenen Tätigkeiten aufgehen und so den Waffendienst völlig verlernen. Und die Bewahrung ihres Lebens und Vermögens wird ausschließlich denen übertragen, die sie sich zu diesem bestimmten Zweck halten müssen. (S. 214-217) Aus: John Miliar, Vom Ursprung des Unterschieds in den Rangordnungen und Ständen der Gesellschaft, Kap. V, 1, dt. von H. Zirker, Frankfurt/M. 1985.
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A D A M FERGUSON Arbeitsteiligkeit und Wehrverfassung Wir haben einige der Hauptklassen aufgezählt, in die ein Volk eingeteilt werden kann, sobald es aus dem Zustand der Barbarei auftaucht. Solche sind der Adel, das Volk und die Anhänger des Fürsten; sogar die Priesterschaft wurde nicht vergessen: Sobald wir aber in Zeiten der Verfeinerung angelangt sind, muß auch die Armee dieser Liste hinzugefügt werden. Sind die Geschäftskreise der Regierung und Kriegführung getrennt, so gebührt dem Staatsmann der Vorrang. Der Ehrgeizige wird den Militärdienst dann natürlich auf diejenigen abwälzen, die sich mit einer untergeordneten Stellung zufrieden geben. Diejenigen, welche den größten Vermögensanteil besitzen und somit das größte Interesse an der Verteidigung ihres Landes haben, sie müssen, wenn sie sich vom Schwert losgesagt haben, für dasjenige bezahlen, was sie zu betreiben aufgehört haben. Heere werden nicht nur dann durch Bezahlung unterhalten, wenn sie weit von zu Hause entfernt sind, sondern auch noch dann, wenn sie sich inmitten ihres Landes befinden. Um den Soldaten zu veranlassen, jetzt diejenigen gefährlichen Pflichten, aus Gewohnheit und aus Furcht vor Bestrafung, routinemäßig zu vollziehen, die nicht mehr länger von der Liebe zum öffentlichen Wohl oder zum Nationalgeist inspiriert werden, ersinnt man eine militärische Disziplin. (S. 296) Die Unterteilung der Künste und Berufe dient in gewissen Fällen dazu, ihre Ausübung zu verbessern und ihre Endzwecke zu befördern. Durch die Trennung der Gewerbe des Tuchmachers von denen des Lohgerbers werden wir mit Schuhen und mit Tuch desto besser versorgt. Aber die Trennung der Künste, welche den Bürger und den Staatsmann bilden, der Staats- und der Kriegskunst, bedeutet einen Versuch, den menschlichen Charakter zu zerreißen und eben diejenigen Künste zu zerstören, die wir beför-
dern wollen. Durch eine solche Trennung berauben wir in Wirklichkeit ein freies Volk gerade dessen, was es zu seiner eigenen Sicherheit nötig hat. Wir treffen so zwar Verteidigungsanstalten gegen Einfalle von auswärts. Sie eröffnen aber zugleich die Aussicht auf eine Usurpation der Staatsgewalt und bedrohen uns mit der Aufrichtung eines Militärregiments im Inneren. (S.404f.) Aus: Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Buch III, Kap. 5, und Buch Y Kap. 4, hg. von Zwi Batscha/Hans Medick, Frankfurt/M. 1988.
A D A M SMITH Technischer Fortschritt und Kriegskosten Die erste Pflicht des Herrschers, das Land vor Gewalt und Unrecht anderer Staaten zu schützen, ist nun mit fortschreitender Entwicklung laufend kostspieliger geworden. Verursachte ihm die Streitmacht zunächst weder im Krieg noch im Frieden irgendwelche Kosten, mußte er im Laufe der Zeit das Heer zuerst nur für die Dauer des Krieges, später sogar im Frieden unterhalten. Auch die Veränderung in der Kriegstechnik, ausgelöst durch die Erfindung der Feuerwaffen, hat dazu beigetragen, daß die Kosten für Ausbildung und Ausrüstung der Soldaten im Frieden und für deren Einsatz im Krieg noch weiter angestiegen sind. Ihre Waffen und auch ihre Munition sind teurer geworden. Eine Muskete kostet mehr als ein Speer oder als Pfeil und Bogen, und eine Kanone oder ein Mörser ist teurer als eine Bailiste oder ein Katapult. Das Pulver, das bei einer modernen Truppenübung verschossen wird, ist unwiederbringlich verloren und verursacht beträchtliche Ausgaben. Die
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Speere und Pfeile, mit denen früher geübt wurde, konnte man dagegen wieder einsammeln und verwenden. Zudem waren sie auch erheblich billiger. Kanonen und Mörser sind nicht nur wesentlich teurer, sie sind vor allem auch sehr viel schwerer als eine Balliste oder ein Katapult. Zu den hohen Aufwendungen für ihren Einsatz im Krieg kommen also auch noch größere Transportkosten. Außerdem ist die moderne Artillerie viel schlagkräftiger als alle ihre Vorgänger. Daher ist es immer schwieriger und entsprechend auch immer teurer geworden, eine Stadt so zu befestigen, daß sie dem Angriff einer solch überlegenen Artillerie auch nur wenige Wochen widerstehen kann. So sind es vielerlei Gründe, die in unserer Zeit zu einer Steigerung der Verteidigungsausgaben beitragen. So gesehen, scheint ein bloßer Zufall, nämlich die Erfindung des Schießpulvers, die Kriegstechnik gewaltig verändert und damit die unvermeidlichen Auswirkungen des technischen Fortschritts noch verstärkt zu haben. In einem modernen Krieg bedeuten die hohen Kosten der Feuerwaffen unbestreitbar einen Vorteil für jene Nation, die diese Ausgaben am ehesten aufbringen kann. Deshalb ist eine reiche und zivilisierte Nation einem armen und wenig entwickelten Lande stets überlegen. Im Altertum konnten sich die reichen Länder kaum gegen die armen Barbarenstämme verteidigen. Heute hingegen ist es für ein unterentwickeltes Volk schwerer, sich gegen ein zivilisiertes Land zur Wehr zu setzen. Die Erfindung der Feuerwaffen erscheint damit auf den ersten Blick verderblich. Sie begünstigt jedoch mit Sicherheit den Fortbestand und die weitere Ausbreitung der Zivilisation. (S. 599 f.) Aus: Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, Y 1, hg. von Horst Claus Recktenwald, München 1978.
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IMMANUEL KANT Selbstvervollkommnung durch Krieg und das Ende aller Kriege Die Natur hat also die Unvertragsamkeit der Menschen, selbst der großen Gesellschaften und Staatskörper dieser Art Geschöpfe, wieder zu einem Mittel gebraucht, um in dem unvermeidlichen A n t a g o n i s m derselben einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden; d.i. sie treibt, durch die Kriege, durch die überspannte und niemals nachlassende Zurüstung zu denselben, durch die Not, die dadurch endlich ein jeder Staat, selbst mitten im Frieden, innerlich fühlen muß, zu anfänglich unvollkommenen Versuchen, endlich aber, nach vielen Verwüstungen, Umkippungen, und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte, zu dem, was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können, nämlich: aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen, und in einen Völkerbund zu treten; wo jeder, auch der kleinste, Staat seine Sicherheit und Rechte, nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurteilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde (Foedus Amphictyonum), von einer vereinigen Macht, und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens, erwarten könnte. (...) Alle Kriege sind demnach so viel Versuche (zwar nicht in der Absicht der Menschen, aber doch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zu Stande zu bringen, und durch Zerstörung, wenigstens Zerstückelung alter, neue Körper zu bilden, die sich aber wieder, entweder in sich selbst oder neben einander, nicht erhalten können, und daher neue ähnliche Revolutionen erleiden müssen; bis endlich einmal, teils durch die bestmögliche Anordnung der bürgerlichen Verfassung innerlich, teils durch eine gemeinschaftliche Verabredung und Gesetzgebung äußerlich, ein Zustand errichtet wird, der, einem bürgerlichen gemeinen Wesen
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ähnlich, so wie ein Automat sich selbst erhalten kann. (S. 42 f.) Aus: Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 7. Satz, in: ders., Werke in zehn Bänden, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 1970, Bd. 9.
dazu allezeit fertigen diplomatischen Korps die Rechtfertigung desselben gleichgültig überlassen kann. (S. 205 f.) Aus: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, in: ders.: Werke in zehn Bänden, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 1970, Bd. 9.
IMMANUEL KANT
GEORG W . F. HEGEL
Der republikanische Frieden
Der Krieg als Entscheidung im Streit der Staaten
Nun hat aber die republikanische Verfassung, außer der Lauterkeit ihres Ursprungs, aus dem reinen Quell des Rechtsbegriffs entsprungen zu sein, noch die Aussicht in die gewünschte Folge, nämlich den ewigen Frieden; wovon der Grund dieser ist. - Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, »ob Krieg sein solle, oder nicht«, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen) sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen: Da hingegen in einer Verfassung, wo der Untertan nicht Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist, es die unbedenklichste Sache von der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigentümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u.d.gl. durch den Krieg nicht das mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art von Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen beschließen, und der Anständigkeit wegen dem
Der Streit der Staaten kann deswegen, insofern die besonderen Willen keine Übereinkunft finden, nur durch Krieg entschieden werden. Welche Verletzungen aber, deren in ihrem weit umfassenden Bereich und bei den vielseitigen Beziehungen durch ihre Angehörigen leicht und in Menge vorkommen können, als bestimmter Bruch der Traktate oder Verletzung der Anerkennung und Ehre anzusehen seien, bleibt ein an sich Unbestimmbares, indem ein Staat seine Unendlichkeit und Ehre in jede seiner Einzelheiten legen kann und um so mehr zu dieser Reizbarkeit geneigt ist, je mehr eine kräftige Individualität durch lange innere Ruhe dazu getrieben wird, sich einen Stoff der Tätigkeit nach außen zu suchen und zu schaffen. (S. 286) Aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 334; hg. von Joh. Hoffmeister, Hamburg 1955.
Politisches Agieren und Akteure der Politik
GEORG W . F. HEGEL Krieg als Erneuerer der Sittlichkeit Der Krieg als der Zustand, in welchem mit der Eitelkeit der zeitlichen Güter und Dinge, die sonst eine erbauliche Redensart zu sein pflegt, Ernst gemacht wird, ist hiermit das Moment, worin die Idealität des Besonderen ihr Recht erhält und Wirklichkeit wird; - er hat die höhere Bedeutung, daß durch ihn, wie ich es anderwärts ausgedrückt habe, »die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen das Festwerden der endlichen Bestimmtheiten erhalten wird, wie die Bewegung der Winde die See vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Ruhe, wie die Völker ein dauernder oder gar ein ewiger Friede versetzen würde«. (S. 280 f.) Aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 324, hg. von Joh. Hoffmeister, Hamburg 1955.
JOHANN G . FICHTE Krieg als existenzielle Selbstversicherung 6) Eine Menschenmenge, durch gemeinsame sie entwickelnde Geschichte zu Errichtung eines Reiches vereint, nennt man ein Volk. Dessen Selbstständigkeit und Freiheit besteht darin, in dem angehobenen Gange aus sich selber sich fortzuentwickeln zu einem Reiche. 7) Des Volkes Freiheit und Selbstständigkeit ist angegriffen, wenn der Gang dieser Entwicklung durch irgend eine Gewalt abgebrochen werden soll; es einverleibt werden soll einem anderen sich entwickelnden Streben zu einem Reiche, oder auch wohl zur Vernichtung alles Reiches und alles Rechtes. Das Volksleben, ein-
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geimpft einem fremden Leben, oder Absterben, ist getödtet, vernichtet und ausgestrichen aus der Reihe. 8) Da ist ein eigentlicher Krieg, nicht der Herrscherfamilien, sondern des Volkes: die allgemeine Freiheit, und eines Jeden besondere ist bedroht; ohne sie kann er leben gar nicht wollen, ohne sich fiir einen Nichtswürdigen zu bekennen. Es ist darum jedem für die Person und ohne Stellvertretung, - denn jeder soll es ja für sich selbst thun, - aufgegeben der Kampf auf Leben und Tod. Sein Charakter: Nurfreihat das Leben Werth: ich muss darum, da die Ueberwindung meiner Freiheit mich beraubt, nicht leben, ohne als Sieger. Der Tod ist dem Mangel der Freiheit weit vorzuziehen. Mein ewiges Leben - dies ist sicher - dies verdiene ich eben durch den Tod, verwirke es durch ein sklavisches Leben. Also das Leben werde ich unbedingt aufopfern, wie vielmehr denn die Güter. Wozu kann ich denn die Güter gebrauchen, wenn ich nicht leben kann? Aber ich kann unter dieser Bedingung nicht leben! Kein Friede, kein Vergleich, von Seiten des Einzelnen zuvörderst. Das, worüber gestritten wird, leidet keine Theilung: die Freiheit ist, oder ist nicht. Kein Kommen und Bleiben in der Gewalt, vor allem diesem steht ja der Tod, und wer sterben kann, wer will denn den zwingen? Auch nicht, falls etwa der zeitige Herrscher sich unterwürfe, und den Frieden schlösse. Ich wenigstens habe den Krieg erklärt, und bei mir beschlossen, nichtfiirseine Angelegenheit, sondern für die meinige, meine Freiheit: giebt auch er mir mein Wort zurück, so kann ich selbst doch es mir nicht zurückgeben. Er ist, und die, welche bei ihm bleiben, auf diesen Fall als Staat, als möglicher Entwicklungspunct eines Reiches des Rechtes gestorben. Was soll den, der frisches Leben in sich fühlt, bewegen, innerhalb der Verwesung zu verharren? Anstrengung aller Kräfte, Kampf auf Leben und Tod, keinen Frieden ohne vollständigen
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Sieg, das ist, ohne vollkommene Sicherung gegen alle Störung der Freiheit. Keine Schonung, weder des Lebens, noch Eigenthums, keine Rechnung auf künftigen Frieden. (S. 412 f.) Aus: Johann Gottlieb Fichte, Die Staatslehre, oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche, in: ders., Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, Bd. IV: Zur Rechts- und Sittenlehre.
CARL VON CLAUSEWITZ Krieg als Fortsetzung der Politik
II. Kapitel
folglich mehr oder weniger schnell die Spannungen lösend und die Kräfte erschöpfend; (...) Bedenken wir nun, daß der Krieg von einem politischen Zweck ausgeht, so ist es natürlich, daß dieses erste Motiv, welches ihn ins Leben gerufen hat, auch die erste und höchste Rücksicht bei seiner Leitung bleibt. Aber der politische Zweck ist deswegen kein despotischer Gesetzgeber, er muß sich der Natur des Mittels fügen und wird dadurch oft ganz verändert, aber immer ist er das, was zuerst in Erwägung gezogen werden muß. Die Politik also wird den ganzen kriegerischen Akt durchziehen und einen fortwährenden Einfluß auf ihn ausüben, soweit es die Natur der in ihm explodierenden Kräfte zuläßt. (...) So sehen wir also, daß der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit andern Mitteln. (S. 209 f.)
Der Krieg einer Gemeinheit - ganzer Völker und namentlich gebildeter Völker geht immer von einem politischen Zustande aus und wird nur durch ein politisches Motiv hervorgerufen. Aus: Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Er ist also ein politischer Akt. Wäre er nun ein Buch I, Kap. 1, hg. von Werner Hahlweg, vollkommener, ungestörter, eine absolute Äuße19. Aufl., Bonn 1980. rung der Gewalt, so würde er von dem Augenblicke an, wo er durch die Politik hervorgerufen ist, an ihre Stelle treten als etwas von ihr ganz Unabhängiges, sie verdrängen und nur seinen eigenen CARL VON CLAUSEWITZ Gesetzen folgen, so wie eine Mine, die sich entladet, keiner anderen Richtung und Leitung Krieg als Verteidigung mehr fähig ist, als die man ihr durch vorbereitende Einrichtungen gegeben. So hat man sich die Wenn wir uns die Entstehung des Krieges philoSache bisher auch wirklich gedacht, sooft ein sophisch denken, so entsteht der eigentliche Mangel an Harmonie zwischen der Politik und Begriff des Krieges nicht mit dem Angriff, weil Kriegführung zu theoretischen Unterscheidun- dieser nicht sowohl den Kampf als die Besitzgen dieser Art geführt hat. Allein so ist es nicht, nahme zum absoluten Zweck hat, sondern er und die Vorstellung ist eine grundfalsche. Der entsteht erst mit der Verteidigung, denn diese hat Krieg der wirklichen Welt ist, wie wir gesehen den Kampf zum unmittelbaren Zweck, weil haben, kein solches Äußerstes, was seine Span- Abwehren und Kämpfen offenbar eins ist. Das nung in einer einzigen Entladung löst, sondern Abwehren ist nur auf den Anfall gerichtet, setzt er ist das Wirken von Kräften, die nicht vollkom- ihn also notwendig voraus, der Anfall aber nicht men gleichartig und gleichmäßig sich entwi- auf das Abwehren, sondern auf etwas anderes, ckeln (...) so ist er gewissermaßen ein Pulsieren nämlich die Besitznahme, setzt also das letztere der Gewaltsamkeit, mehr oder weniger heftig, nicht notwendig voraus. Es ist daher in der Natur
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der Sache, dass deijenige, welcher das Element des Krieges zuerst in die Handlung bringt, von dessen Standpunkt aus zuerst zwei Parteien gedacht werden, auch die ersten Gesetze für den Krieg aufstelle, nämlich d e r V e r t e i d i g e r . (S. 644) Freilich faßt der Eroberer seinen Entschluß zum Kriege früher als der harmlose Verteidiger, und wenn er seine Maßregeln gehörig geheim zu halten weiß, wird er diesen wohl oft mehr oder weniger überfallen, aber das ist etwas dem Kriege selbst ganz Fremdes, denn es sollte nicht so sein. Der Krieg ist mehr für den Verteidiger als für den Eroberer da, denn der Einbruch hat erst die Verteidigung herbeigeführt und mit ihr erst den Krieg. Der Eroberer ist immer friedliebend (wie Bonaparte auch stets behauptet hat), er zöge ganz gern ruhig in unseren Staat ein; damit er dies aber nicht könne, darum müssen wir den Krieg wollen und also auch vorbereiten, d.h. mit anderen Worten: es sollen gerade die Schwachen, der Verteidigung Unterworfenen, immer gerüstet sein und nicht überfallen werden; so will es die Kriegskunst. (S. 634)
Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahl fressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstung des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse. Das ist die Aussicht, wenn das auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen endlich seine unvermeidlichen Früchte trägt. (S. 350 f.)
Aus: Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Buch V, Kap. 5 und 7, Bonn 1980.
Aus: Friedrich Engels, Einleitung zu Sigismund Borkheim, Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806— 1807, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1969.
FRIEDRICH ENGELS Die Selbstzerstörung Europas im Krieg FRIEDRICH ENGELS Sollte es wieder zum Kriege kommen, so wird die preußisch-deutsche Armee, schon weil sie allen andern Organisationsvorbild war, bedeutende Vorteile haben vor ihren Gegnern wie vor ihren Verbündeten. Aber nie wieder solche, wie in den letzten zwei Kriegen. (...) Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen
Der proletarische Frieden Die Armee ist Hauptzweck des Staates, ist Selbstzweck geworden; die Völker sind nur noch dazu da, die Soldaten zu liefern und zu ernähren. Der Militarismus beherrscht und verschlingt Europa. Aber dieser Militarismus trägt auch den Keim seines eignen Untergangs in sich. Die Konkurrenz der einzelnen Staaten untereinan-
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der zwingt sie einerseits, jedes Jahr mehr Geld aufArmee, Flotte, Geschütze etc. zu verwenden, also den finanziellen Zusammenbruch mehr und mehr zu beschleunigen; andrerseits mit der allgemeinen Dienstpflicht mehr und mehr Ernst, und damit schließlich das ganze Volk mit dem Waffengebrauch vertraut zu machen; es also zu befähigen, in einem gewissen Moment seinen Willen gegenüber der Kommandierenden Militärherrlichkeit durchzusetzen. Und dieser Moment tritt ein, sobald die Masse des Volks - ländliche und städtische Arbeiter und Bauern - einen Willen hat. Auf diesen Punkt schlägt das Fürstenheer um in ein Volksheer; die Maschine versagt den Dienst, der Militarismus geht unter an der Dialektik seiner eignen Entwicklung. Was die bürgerliche Demokratie von 1848 nicht fertig bringen konnte, eben weil sie bürgerlich war und nicht proletarisch, nämlich den arbeitenden Massen einen Willen geben, dessen Inhalt ihrer Klassenlage entspricht - das wird der Sozialismus unfehlbar erwirken. Und das bedeutet die Sprengung des Militarismus und mit ihm aller stehenden Armeen von innen heraus. (S. 158 f.) Aus: Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, 3. Aufl., in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1975.
KARL M A R X Bürgerkriegsmuster - geschichtlich Der selbstopfernde Heldenmut, womit das Pariser Volk - Männer, Weiber und Kinder - acht Tage lang nach dem Einrücken der Versailler fortkämpften, strahlt ebenso sehr zurück die Größe ihrer Sache, wie die höllischen Taten der Soldateska zurückstrahlen den eingebornen Geist jener Zivilisation, deren gemietete Vorkämpfer und Rächer sie sind. Eine ruhmvolle Zivilisation
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in der Tat, deren Lebensfrage darin besteht: wie die Haufen von Leichen loswerden, die sie mordete, nachdem der Kampf vorüber war! Um ein Seitenstück zu finden für das Benehmen des Thiers und seiner Bluthunde, müssen wir zurückgehn zu den Zeiten des Sulla und der beiden römischen Triumvirate. Dieselbe massenweise Schlächterei bei kaltem Blut; dieselbe Mißachtung, beim Morden, von Alter und Geschlecht; dasselbe System, Gefangne zu martern; dieselben Ächtungen, aber diesmal gegen eine ganze Klasse; dieselbe wilde Jagd nach den versteckten Führern, damit auch nicht einer entkomme; dieselbe Angeberei gegen politische und Privatfeinde; dieselbe Gleichgültigkeit bei der Niedermetzlung von dem Kampf ganz fremden Leuten. Nur der eine Unterschied ist da, daß die Römer noch keine Mitrailleusen hatten, um die Geächteten schockweise abzutun, und daß sie nicht »in ihren Händen das Gesetz« trugen, noch auf ihren Lippen den Ruf der »Zivilisation«. Und nach diesen Schandtaten, seht jetzt auf die andre, noch ekelhaftere Seite dieser Bourgeoiszivilisation, beschrieben durch ihre eigne Presse! »Während«, schreibt der Pariser Korrespondent eines Londoner Tory-Blattes, »während noch einzelne Schüsse in der Ferne ertönen und unverpflegte Verwundete zwischen den Grabsteinen des Pere-Lachaise verenden, während 6 000 erschreckte Insurgenten im Todeskampf der Verzweiflung in den Irrgängen der Katakomben sich verloren haben und man Unglückliche noch durch die Straßen treiben sieht, um von den Mitrailleusen schockweise niedergeschossen zu werden - es ist empörend, die Cafes gefüllt zu sehen mit Absinthtrinkern, Billard- und Dominospielern; zu sehn, wie weibliche Verworfenheit sich auf den Boulevards breit macht, und zu hören, wie der laute Schall der Schwelgerei aus den Privatzimmerchen vornehmer Restaurants die Nachtruhe stört. (S. 355 f.) Aus: Karl Marx, Der Bürgerkrieg in
Politisches Agieren und Akteure der Politik
Frankreich, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, Berlin 1968.
ERICH LUDENDORFF Der totale Krieg Wie sich so das Wesen des Krieges geändert hat, und zwar unter der Einwirkung unabänderlicher, nicht rückgängig zu machender Tatsachen, ich möchte sagen gesetzmäßig, so hätten sich auch der Aufgabenkreis der Politik erweitern und die Politik selbst ändern müssen. Diese muß, wie der totale Krieg, totalen Charakter gewinnen. Sie muß, im Hinblick auf die Höchstleistung eines Volkes im totalen Kriege, ausgesprochen die Lehre von der auf sie zugeschnittenen Lebenserhaltung eines Volkes sein und genau beachten, was das Volk auf allen Gebieten des Lebens, nicht zuletzt auf dem seelischen Gebiete, zu seiner Lebenserhaltung bedarf und beansprucht. Da der Krieg die höchste Anspannung eines Volkes für seine Lebenserhaltung ist, muß sich eben die totale Politik auch schon im Frieden auf die Vorbereitung dieses Lebenskampfes eines Volkes im Kriege einstellen und die Grundlage für diesen Lebenskampf in einer Stärke festigen, daß sie nicht in dem Ernst des Krieges verschoben, brüchig oder durch Maßnahmen des Feindes völlig zerstört werden kann. Das Wesen des Krieges hat sich geändert, das Wesen der Politik hat sich geändert, so muß sich auch das Verhältnis der Politik zur Kriegsführung ändern. Alle Theorien von Clausewitz sind über den Haufen zu werfen. Krieg und Politik dienen der Lebenserhaltung des Volkes, der Krieg aber ist die höchste Äußerung völkischen Lebenswillens. Darum hat die Politik der Kriegführung zu dienen. (S. 10) Aus: General Ludendorff, Der totale Krieg, München 1940.
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JOSEPH A . SCHUMPETER Der kapitalistische Frieden Die kapitalistische Zivilisation ist rationalistisch, und sie ist »anti-heroisch«. Beides geht natürlich zusammen. Erfolg in Industrie und Handel verlangt zwar eine Menge Ausdauer; aber die industrielle und kommerzielle Tätigkeit ist ihrem Wesen nach unheroisch, vom Ritter aus gesehen - kein Schwingen von Schwertern um sie, nicht viel physischer Heldenmut, keine Chance, mit gepanzertem Roß gegen den Feind, am liebsten einen Ketzer oder Heiden, zu galoppieren - , und die Ideologie, die die Idee des Kampfes um des Kampfes willen und des Sieges um des Sieges willen verherrlicht, verdorrt verständlicherweise im Bureau zwischen all den Zahlenreihen. Da die industrielle und kommerzielle Bourgeoisie im Besitz von Vermögenswerten ist, die leicht Räuber oder Steuereinzüger anlocken, und da sie die kriegerische Ideologie, die ihrem »rationalen« Utilitarismus widerstreitet, nicht teilt oder sogar verabscheut, so ist sie grundsätzlich pazifistisch und ist geneigt, auf der Anwendung der sittlichen Gebote des Privatlebens auf die internationalen Beziehungen zu bestehen. Zwar sind - im Gegensatz zu den meisten, doch in Übereinstimmung mit andern Zügen der kapitalistischen Zivilisation - Pazifismus und internationale Moralität auch in nicht-kapitalistischem Milieu und durch präkapitalistische Vermittlung, im Mittelalter zum Beispiel durch die katholische Kirche, verfochten worden. Der moderne Pazifismus und die moderne internationale Moral sind nichtsdestoweniger Produkte des Kapitalismus. (S. 209) Aus: Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 6. Aufl., Tübingen 1987.
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M A O TSE-TUNG Volksaufstand und Partisanenkrieg
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schen? Die Armee muß eins werden mit dem Volk, das Volk die Armee als die seinige erkennen. Eine solche Armee wird unbesiegbar sein, und eine imperialistische Macht wie Japan wäre ihr nicht gewachsen. (S. 274 f.)
In der Armee sollten wir in höherem Maße demokratische Methoden zur Wirkung kommen lassen; vor allem die feudalen Gepflogenheiten Aus: Mao Tse-tung, Über den langdauernEinschüchterung und Prügel - müssen wir ausden Krieg, in: ders., Vom Kriege, hg. von merzen und die Offiziere und einfachen Soldaten H. Karst, Gütersloh 1969. dazu bringen, Gutes und Schlechtes gleichermaßen miteinander zu teilen. Ist das verwirklicht, so wird die völlige Einigkeit zwischen Komman- Literatur zum 2. Abschnitt deuren und Mannschaften erreicht sein, die Kampfkraft der Armee wird beträchtlich zuneh- Daase, Christopher, Kleine Kriege - Große Wirmen, und die Zweifel an dem eigenen Vermögen, kung. Wie unkonventionelle Kriegführung den langen, grausamen Krieg durchzustehen, die internationale Politik verändert, Badenwerden verschwinden. Baden 1999. Delbrück, Hans, Geschichte der Kriegskunst im Die reichste Quelle unserer Widerstandskraft Rahmen der politischen Geschichte, 4 Bänliegt in den Massen unseres Volkes; wären sie de, Neuaufl. Berlin 2000. nicht so unzureichend organisiert, könnte es Heins, Volker/Warburg, Jens, Kampf der ZiviJapan nie wagen, derart mit uns umzuspringen. listen. Militär und Gesellschaft im Wandel, Wenn dieser Mangel einmal behoben ist, wird Bielefeld 2004. sich der japanische Aggressor - wie ein wilder Stier, der in einen Flammenring eingebrochen Howard, Michael, Die Erfindung des Friedens. Über den Krieg und die Ordnung der Welt, ist - von den kampfbereiten Hundert-MillionenLüneburg 2001. Massen unseres Volkes eingeschlossen sehen, Joas, Hans, Kriege und Werte. Studien zur wird vor dem bloßen Ton ihrer Stimmen in EntGewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Weisetzen erzittern und in den Flammen jämmerlich lerswist 2000. umkommen. Die Armeen Chinas sind auf einen ununterbrochen fließenden Truppennachschub Kolko, Gabriel, Das Jahrhundert der Kriege, angewiesen, und die Mißstände zwangsweiser Frankfurt/M. 1999. und gewaltsamer Rekrutierung und der gekauf- Krumwiede, Heinrich-W./Waldmann, Peter, Hg., ten Ersatzmänner, die man auf den unteren EbeBürgerkriege: Folgen und Regulierungsmögnen noch antreffen kann, müssen augenblicklich lichkeiten, Baden-Baden 1998. verboten werden und einer umfassenden und Lenk, Jürgen, Kriegskunst in Europa 1650— mitreißenden politischen Mobilisierung Platz 1800, Köln u.a. 2004. machen, welche mit Leichtigkeit Millionen von McNeill, William H., Krieg und Macht. Militär, Freiwilligen in unsere Reihen ziehen würde. Wirtschaft und Gesellschaft vom Altertum Gegenwärtig haben wir noch große Schwierigbis heute, München 1984. keiten, das Geld für den Krieg aufzubringen; Meyers, Reinhard, Begriff und Probleme des doch dieses Problem wird sich von selbst lösen, Friedens, Opladen 1994. wenn das Volk erst einmal mobilisiert ist. Münkler, Herfried, Über den Krieg. Stationen Warum sollte in einem so großen und volkreider Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theorechen Land wie China auch Geldmangel herrtischen Reflexion, Weilerswist 2002.
Politisches Agieren und Akteure der Politik
Nowosadtko, Jutta, Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte, Tübingen 2002. Paret, Peter, Hg., Makers of Modern Strategy from Machiavelli to the Nuclear Age, Princeton/N.J. 1986. Ruf, Werner, Hg., Politische Ökonomie der Gewalt. Staatszerfall und die Privatisierung von Gewalt und Krieg, Opladen 2003.
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Sahm, Astrid, u.a., Hg., Die Zukunft des Friedens. Eine Bilanz der Friedens- und Konfliktforschung, Wiesbaden 2002. Voigt, Rüdiger, Hg., Krieg-Instrument der Politik? Bewaffnete Konflikte im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2002. Wolfrum, Edgar, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003.
3. Revolution und Rebellion MARCUS LLANQUE
Vor der friedlichen Evolution von Regierungssystemen hat die spektakuläre gewalttätige Überwindung existierender politischer Formen oder der Austausch des politischen Führungspersonals immer schon die theoretische Aufmerksamkeit erregt. Solche Ereignisse gelten aus der Sicht der Machthaber als widerrechtliches Vorgehen. Daher müssen sich Aufständische ihre eigene normative Rechtfertigung zurechtlegen, und dies nicht nur, um ihr gewalttätiges Vorgehen ethisch zu begründen, sondern besonders, um die kollektive Handlungsfähigkeit der Rebellierenden zu gewährleisten. Der Aufstand bedarf eines Zieles, das nicht schon mit der Äußerung des Wunsches, auch einmal die Macht übernehmen zu wollen, eine tragfähige Bestimmung findet. Der Inhalt des noch heute verwendeten Revolutionsbegriffs lag in seinen Grundzügen bereits vor der Französischen Revolution, dem historischen Paradigma aller Revolutionen, fest. Er umfasst neben den Komponenten der Staatsumwälzung und der heilsamen Regeneration auch und besonders das Merkmal der Gewalttätigkeit. Mit der Französischen Revolution etablierte sich das Attribut »revolutionär« in der politischen Begriffssprache: Was zuvor als durchaus objektiv verwendete Bezeichnung im Umlauf war, erhielt nun eine progressiv-dynamische und zugleich legitimatorische Bedeutung. Die Revolution verleiht politischen Vorgängen der Gegenwart als Überwindung der durch Vorgriff auf die zukünftig zu erwartenden Wirkungen eine spezifische Rechtfertigung. Der eigentliche Revolutionär ist für Rousseau der Gesetzgeber: »Wer es wagt, einem Volk eine Verfassung zu geben, muß auch wagen, sozusagen die menschliche Natur umzuwandeln.« Dieser Anspruch radikalen Wandels, der Umkehr der Verhältnisse und der Wandlung des Menschen hat nicht nur viele Revolutionäre inspiriert, sondern er ist der Angelpunkt des breiten gesellschaftstheoretischen Zugriffs auf die Revolution: Die Änderung der Natur, der gesamten Gesellschaft sowie ihres politischen Körpers stehen in einem engen Zusammenhang. Bei Rousseau ist der aufklärerische Optimismus wirksam, mit gezielten politischen Mitteln die Struktur der Gesellschaft und den Menschen zu verän-
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dem, der als Teil der Gesellschaft von ihr bedingt wird. Immerhin unterstellt selbst der Rousseausche Ruf nach der »Rückkehr zur Natur« die Möglichkeit, eine solche Rückkehr überhaupt antreten zu können. An welcher Stelle der menschlichen Natur soll die Revolution jedoch ansetzen? Immanuel Kant folgt den Spuren Rousseaus, wenn er sich die Forderung nach einer Revolution zu Eigen macht. Jedoch führt ihn die abschreckende Beobachtung des gewaltförmigen Verlaufs der Revolution in Frankreich dazu, den Angelpunkt, an dem eine wirkliche Revolution ansetzen müsste, tiefer anzulegen: im menschlichen Denken. Kant fordert daher eine »Revolution der Denkungsart«. Hierzu ist eine politische Revolution weder möglich noch nötig, sondern die Philosophie. Dieses spätaufklärerische Motiv wirkt sich im 19. Jahrhundert auf die Thematisierung der Nation wie auf die vielfachen Programme aus, die Menschen in ihrer sozialen Gemeinschaft als »Nation« zu aufgeklärten Menschen zu erziehen (vgl. Abschnitt: Der soziale Ort politischen Handelns: Bürgerliche Gesellschaft, Nation und Klasse). Ist aber eine gewillkürte Revolution überhaupt möglich? Muss nicht der Strukturwandel gesellschaftlicher Verhältnisse viel tiefer greifen, als eine politische Revolution es bewirken kann? Das ist die entscheidende Frage, die auch das Aufkommen der Gesellschaftslehre prägt. Wenngleich bei Rousseau eine Vielzahl von Ideen vorgedacht ist, so entsteht die Gesellschaftswissenschaft, eine Wissenschaft, die sich auf die vom Staat unterschiedene Gesellschaft bezieht, erst am Anfang des 19. Jahrhunderts. Die theoretische Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution und ihren Folgen sowie die weiteren europäischen Revolutionen 1830 und 1848 und ihr Bezug auf die sich entwickelnde industrielle Gesellschaft sind Hauptpunkte der Diskussion. War Rousseau ein Ideengeber, so sind Saint Simon und Comte postrevolutionäre Denker, die die Revolution aus einer gesellschaftlichen Krisendiagnose deuten und keine bloß politische Lösung anvisieren, weil sie für eine stabile Ordnung nicht mehr ausreicht. So bahnbrechend dieser Ansatz ist, so hat er doch große Einseitigkeiten. Diese liegen a) in der unzureichenden Analyse der Gesellschaft selbst, die idealistisch-aufklärerisch bleibt; und b) sind die Lösungsvorschläge autoritativ-elitär: Es sollen Sachverständige wie Philosophen und Sozialtechnologen an die Macht gelangen, um die Gesellschaft sinnvoll und rational zu steuern. Das setzt noch voraus, dass so komplexe Vorgänge wie Revolutionen im Besonderen und Gesellschaftssteuerung im Allgemeinen überhaupt intentional möglich sind.
Soziale und bürgerliche Revolutionstheorien Bei der Rebellion steht immer der revoltierende Mensch im Mittelpunkt, der sich erhebt oder befreien möchte von bestehenden Herrschaftsverhältnissen. Bei der Revolution hingegen zeigt sich in der politischen Theorie schon bald eine Tendenz, hinter den rebellierenden Menschen gesellschaftliche und historische Kräfte am Werk zu sehen. Bereits die Analysen der Französischen Revolution, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts vorgelegt
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wurden (Lorenz von Stein), erklären die Tatsache des anhaltenden revolutionären Drucks in Frankreich mit längerfristigen, strukturellen Gründen, auf die Menschen eher reagieren, als dass sie ihrer Herr wären. Hier ist dann von sozialen Bewegungen die Rede, von Parteien und Interessengruppen, die von einzelnen, in den Vordergrund der Szenerie tretenden Personen nur repräsentiert, nicht beherrscht werden. Den Höhepunkt dieser Analyse markiert Karl Marx. Marx verbindet und vertieft verschiedene theoretische Perspektiven. Er amalgamiert die bürgerliche politische Ökonomie mit der Tradition des sozialutopischen Sozialismus, dem er eine wissenschaftliche Grundierung zu geben versucht, und stellt darüber hinaus eine gesellschaftsgeschichtliche Entwicklungstheorie zur Verfugung. Er verbindet den weiten geschichtsphilosophischen Hintergrund mit einem stärker operationablen systemtheoretischen Konzept der Ökonomie und einem makroskopischen Konfliktmodell. Die eigenen Tendenzen gehorchende Entwicklung der Wirtschaft ist für Marx nicht nur für die gesamte Struktur der Gesellschaft entscheidend, sondern die Wirtschaftskrisen stellen letztlich den Ausgangspunkt für politische Revolutionen dar. Als Verbindungsstück der makrotheoretischen Perspektive mit einer mesopolitischen Handlungsebene dienen die Klassen, die mittels ihres Verhältnisses zum Eigentum an Produktionsmitteln definiert werden. Die Übertragung eines solchen genetischen Modells auf ein stärker historisch-deskribierendes Modell zeigt jedoch rasch Grenzen der Erklärungsfähigkeit tatsächlicher Handlungsabläufe. In den historischen Arbeiten (Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte u. a.) ist Marx stärker am tatsächlichen Ablauf der politischen Kämpfe interessiert und ermittelt eine Vielzahl von Klassen, Schichten und Übergangsklassen. Hier dominiert ein konflikttheoretischer Ansatz, der auf die Veränderung und Erzeugung neuer Umstände durch Akteure setzt. Dieser zweite Ansatz lässt sich nicht ohne weiteres mit dem systemtheoretischen, auf die Ökonomie konzentrierten Konzept verbinden. Normative Erwartungen und Vorstellungen, etwa die künftige Rolle des Proletariats oder »objektive« Aufgaben des Bürgertums betreffend, überspielen die Kluft zwischen objektiver Erklärung des historischen Ablaufs und subjektivem Selbstverständnis der Akteure. Mehrere Generationen marxistischer Theoretiker versuchten, diese Kluft zwischen den makrotheoretischen Erklärungsambitionen einer mikropolitischen Analyse zu überbrücken. Erschwerend tritt zum beibehaltenen wissenschaftlichen Anspruch des Sozialismus die im 19. Jahrhundert einsetzende Ideologisierungstendenz hinzu, die zu einer Verwischung der Grenze zwischen wissenschaftlicher Analyse und gesellschaftspolitischen Optionen beiträgt. Die Einordnung des Marx'schen Werks als gesellschaftstheoretische Analyseform oder als Ausgangspunkt einer politischen Handlungsstrategie führt zu erheblichen Spannungen innerhalb des marxistischen Lagers. Sie werden rückblickend im Wesentlichen zwischen deutschen und russischen Autoren ausgetragen. Karl Kautsky gilt am Ende des 19. Jahrhunderts als unangefochtener Cheftheoretiker der deutschen Sozialdemokratie, steht aber
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inmitten der Flügelkämpfe von links und rechts. Die Anhänger einer im Wesentlichen parlamentarischen Zusammenarbeit mit den politischen Repräsentanten des Bürgertums auf kommunaler, regionaler und schließlich nationaler Ebene (Bernstein) opponieren gegen die Befürworter einer dynamischeren Strategie des revolutionären Vorgehens unter Verwendung neuartiger Mittel wie dem des Generalstreiks (Luxemburg). Die eigentliche Herausforderung stellen schließlich die russischen Marxisten dar. Mit der Erfahrung des gescheiterten Revolutionsversuches aus dem Jahr 1905 und angesichts des stark rückständigen Industrialisierungsgrades des immer noch überwiegend agrarischen Russland verficht Lenin die Theorie der berufsrevolutionären Avantgarde. Danach wird die Revolution nicht als reife Frucht der ökonomischen Entwicklung in den Schoß der Sozialdemokraten fallen, sondern als Resultat eines forcierten politischen Kampfes, den vorzubereiten es einer besonderen Gruppe von professionellen Revolutionären bedarf. Die Gelegenheit des Ersten Weltkrieges ergreifend, kamen die Bolschewisten 1917 an die Macht und schränkten anschließend die Mitherrschaft anderer sozialistischer und gewerkschaftlicher Gruppen immer stärker ein. Das provoziert die scharfe Kritik Rosa Luxemburgs, die zwar dem linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie zugehört und später die Kommunistische Partei Deutschlands mitbegründet, aber unter Sozialismus eine aufgeklärte und keine despotische Herrschaftsform verstanden wissen will. Mit Berdjajew dagegen kommt eine andere Variante des russischen Sozialismus zu Wort, die in der religiösen Tradition wurzelt und die Revolution im Lichte eines messianischen Geschichtsmodells buchstabiert. Hier wird die Dimension utopischer Energie der Revolutionserwartung sichtbar, die an die Stelle einer nüchternen Revolutionsanalyse tritt. Sie war von jeher ein wichtiger Bestandteil der Revolutionsidee gewesen und vermochte es, eine besondere Handlungs- und Opferbereitschaft sowohl bei den Eliten als auch in der Bevölkerung wachzurufen. Antonio Gramsci denkt während seiner Gefangnishaft der 1930er Jahre darüber nach, ob die sozialistische Revolution nur in politischen und ökonomischen Buchstaben verfasst ist, oder ob ihr nicht die kulturelle Hegemonie vorausgehen muss. Die bürgerliche Geisteswelt übt unabhängig von der ökonomischen Entwicklungsstufe der Gesellschaft gegenwärtig eine Art Hegemonie aus. Wie im Stellungskrieg kann sich das Bürgertum im Falle einer ökonomischen Krise auf seine hiervon nicht ohne weiteres betroffene geistige Welt zurückziehen und so weiterhin dominieren. Die sozialistische Revolutionsdiskussion lebt davon, sich von dem ideologischen Pendant, dem »Bürgertum«, abzugrenzen. Dabei war die Revolution zunächst eine bürgerliche. Im Verlaufsschema bei Karl Marx geht der sozialistischen Revolution auch die bürgerliche voraus, im Sinne der Überwindung der feudalen Gesellschaftsordnung durch die Freiheit und Gleichheit verbürgende bürgerliche Ordnung. Gerade die Schaffung dieser formalen Rechtsstrukturen sollte die Vollendung der Demokratieidee erst ermöglichen. Die bürgerliche Geisteswelt gilt es nicht nur zu überwinden, sondern aufzuheben, also die tragfahigen Bestandteile zu rezipieren und in neue Formen zu gießen. Die bürgerliche
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Revolutionstheorie steht jedoch im 19. Jahrhundert vor dem Dilemma, die revolutionären Erschütterungen, die nicht mit der Machtergreifung des Bürgertums und der Hinrichtung des Königs endeten, sondern die sozialen und ökonomischen Grundlagen des Bürgertums angriffen, in ihr eigenes Selbstverständnis zu integrieren. Diese Vorgänge mussten zunächst begreiflich gemacht werden, was zur Entdeckung des modernen Gesellschaftsbegriffs führte (Lorenz von Stein). Dann behaupten nicht-sozialistische Autoren wie Alexis de Tocqueville oder Werner Sombart, dass nicht alle revolutionären Ereignisse und Abläufe primär sozio-ökonomische Ursachen haben und daher auch nicht mit rein sozialistischen Mitteln analysiert werden können. Der französische Amerika-Forscher und aristokratische Liberale Tocqueville erklärt die Revolution in Analogie zu religiösen Ereignissen, der englische Historiker Seeley erkennt darin ein Bestreben nach Wandelfähigkeit, auf das der Parlamentarismus die institutionelle Antwort parat hält und so revolutionäre Krisen überflüssig macht: eine Erklärung dafür, warum es in England nicht zu revolutionären Ereignissen kam, die denen auf dem Kontinent vergleichbar sind, obwohl die industrielle Revolution in England am deutlichsten ihre sozialen und ökonomischen Spuren hinterlassen hat. Sombart schließlich, einer der besten Marx-Kenner zu Beginn des 20. Jahrhunderts, entwirft eine soziologische Gegentheorie zum Marxismus. Moderne
Revolutionstheorie
In dem sozialistischen Diskurs der Revolution hat die Gewalt noch eine durchaus positiv konnotierte Stellung: Immerhin dient die Gewalt der Durchbrechung von Fremdherrschaft und dem Aufbau einer rationalen Welt, in welcher Menschen sich nicht nur formell, sondern auch materiell als Gleiche und Freie begegnen können. Dieses emanzipatorische Element des Revolutionsbegriffs rechtfertigte die Gewaltmittel, die zu seiner Erzielung gebraucht werden. Spätestens mit dem Ersten Weltkrieg wurde die Gewalt immer stärker nur mit Zerstörung und Vernichtung in Verbindung gebracht. Gewalt als Mittel der Politik bedurfte nun einer eigenständigen Rechtfertigimg. Die moderne Revolutionsproblematik stellt stärker die Motivation und das ethische Problem der Rebellion in den Mittelpunkt. Die traditionelle Strukturanalyse der Gesellschaft, aus welcher gleichsam von alleine die handlungstheoretischen Strategien zur Überwindung der Situation folgen, neigt dazu, das Problem persönlicher Verantwortung für die während und durch die Revolution verursachten Handlungen in den Hintergrund zu drängen. Je komplexer und schwieriger aber die Situation erscheint, desto stärker drängt sich das persönliche Verhältnis des Handelnden zum Gegenstand seines Tuns in den Vordergrund. Einer der Ausgangspunkte des Wandels der Revolutionstheorie liegt in den Schriften Henry David Thoreaus. Auf den ersten Blick wirkt dieser amerikanische Hinterwäldler wie ein Exzentriker und Anarchist. Der Protest gegen den Mexiko-Krieg der amerikanischen Regierung in den 1840er Jahren veranlasst seine einflussreichen Überlegungen zur Frage
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der persönlichen Verantwortung eines Bürgers für die Taten seiner Regierung, deren Politik er persönlich ablehnt. Als Antwort bietet Thoreau nun nicht die Gründung einer Partei oder die Initiierung einer revolutionären Bewegung an, sondern verlangt von jedem einzelnen Bürger Taten. Denn selbst wenn man nicht persönlich an den Handlungen der Regierung beteiligt ist, die man verurteilt, so trägt doch bereits der Gehorsam gegenüber der Regierung in allen anderen Gebieten dazu bei, dass sie im Stande ist, diese Handlungen zu verüben. Daher verlangt Thoreau ohne Umschweife und in unmittelbarer Ansprache an seine Mitbürger ganz einfach, dass sie den Gehorsam aufkündigen sowie die Beamten der Regierung dazu auffordern sollen, ihre Ämter niederzulegen. Den Gehorsam verweigern kann man überall dort, wo man der Regierung begegnet. Das war in Thoreaus eigener Lebenswelt der Steuereinzieher, dessen Anweisungen er verweigerte; dafür war er bereit, ins Gefängnis zu gehen. Es ist also keineswegs nur die Steuerverweigerung, die Thoreau in Betracht zieht, sie war es nur in seinem konkreten Fall. Das hat Mahatma Gandhi klar erkannt, als er Thoreaus Essay las und sich begeistert zur Begrifflichkeit äußerte, die er dann zur Formulierung seiner eigenen politischen Handlungsstrategie übernahm: der zivile Ungehorsam. Civil disobedience nannte Thoreau nämlich später seinen Essay, der ursprünglich unter dem Titel The Resistance to Civil Government publiziert wurde. Was Thoreau kaum erörterte, war Gandhi sehr bewusst: Passiver Ungehorsam funktioniert nur bei mehr oder weniger freiheitlichen Regierungen, die überhaupt noch empfanglich sind für moralische Appelle. Die persönliche Ernsthaftigkeit des Protestes, der bis zur Opferung der eigenen physischen Unversehrtheit fuhren kann, soll dem Adressaten signalisieren, dass es um moralische Prinzipien und nicht um ökonomische Interessen oder andere verhandelbare Bedürfhisse geht. Thoreaus Strategie würde in einem weniger freiheitlichen Staat ohne weiteres zum Scheitern verurteilt sein, wenn er nicht wenigstens zur Vergemeinschaftung der Protestierenden führt, wie es Gandhi verlangt. Dort nämlich wird die ethische Verantwortung zum Ausgangspunkt einer moralischen Assoziation Gleichgesinnter, aus deren Mitte dann auch der Keim der neuen politischen Ordnung erwächst. Die Friedfertigkeit ist es dabei keineswegs, die politisch wirksam ist; es ist eher ein subtiler moralischer Zwang, der ausgeübt wird: Er soll zunächst die Apparatur der Regierung treffen, die nicht aus Automaten besteht, sondern aus Menschen, deren eigenes ethisches Urteil provoziert wird. Am Ende der Adressatenkette steht die öffentliche Meinung, welche die Umformulierung der Regierungspolitik verursachen soll. Doch auch im Falle des zivilen Ungehorsams soll dem politischen Gegner der eigene Wille aufgezwungen werden, nur nicht mit physischer, sondern mit moralischer Macht. Die frühe Soziologie bot sich an als eine gleichsam ideologisch neutrale Wissenschaft zur Erklärung menschlichen Verhaltens. Sie relativiert die starken normativen Implikationen des sozialistischen Revolutionsbestrebens und formalisiert diese Vorgänge idealtypisch. So verbleibt für die Revolution aus moderner Sicht im Wesentlichen das Merkmal der Gewalt. Das faszinierte bereits Sombart, und für Max Weber wird die Gewalt zu einem
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wesentlichen Merkmal der Politik überhaupt: in ihrer dynamischen Form revolutionären Aufbegehrens und in ihrer kanalisierten und institutionalisierten Form als Inbegriff des modernen Staates, der erfolgreich das Monopol der physischen Gewaltmittel behauptet. Aber diese Perspektive blieb nicht unwidersprochen. Eine andere Linie der Soziologie stellt nämlich physische Gewalt und friedliche Zivilisation stärker in einen Gegensatz zueinander: die friedlich-zivilisierte Konfliktaustragung auf der einen Seite und die blinde, gewaltsame Durchsetzung des politischen Willens auf der anderen Seite (Norbert Elias). Allerdings heißt dies nicht, dass nun Gewalt als solche verschwindet. Sie richtet sich immer stärker nach innen, wird zu einem sozialen Habitus und so zu einem ethischen Problem. Dieses Problem beherrscht die Diskussionen nach dem Zweiten Weltkrieg ganz besonders. Die blutigen Befreiungskämpfe der afrikanischen und asiatischen Kolonien stellen für Autoren wie Frantz Fanon ein Dilemma dar. In existenzieller Betroffenheitfragensie sich: Wie kann man sich von der Dominanz bürgerlicher Normen befreien, ohne dabei gegen diese bürgerlichen Normen zu verstoßen? In der Tradition des französischen Humanismus erzogen und die somit transportierten Werte des Humanismus verinnerlicht, erweist sich deren Vorherrschaft als eine subtile Herrschaftsform. Neben der Durchbrechung der Kolonialherrschaft erscheint auch das Durchschneiden des normativen Kokons erforderlich, der den Revoltierenden mit dem Kolonialherren verbindet. Dieses Durchschneiden bedeutet eine Revolte unter gezielter Einsetzung von Gewalt. Erst die Gewalt ermöglicht die Abnabelung und so die wirkliche Emanzipation. Hier wird nichts weniger gerechtfertigt als die mitunter terroristische Handlungsstrategie der Aufständischen. In diesem Ringen findet Fanon die Unterstützung von Jean-Paul Sartre, aber nicht die von Albert Camus. Camus war Algerien-Franzose und erlebte diesen Terror mit. Er sympathisierte mit dem Bestreben der Algerier nach Unabhängigkeit, verurteilte jedoch die Ziellosigkeit des Terrors, der bereit war, das Leben Unschuldiger zu vernichten. Er sieht hier eine Grenze überschritten, in welcher sich die Täter in einen Zirkel der Selbstrechtfertigung verstricken. Camus lehnt es ab, erst und wesentlich in dem Gebrauch der Gewalt die eigene Existenz zu definieren. Die Revolte muss selbst ein ethisches Programm haben und nicht nur aus der Negation bestehen. Was ausgangs des Zweiten Weltkrieges das Problem der Herrschaftsseite der humanistischen Werte war, ist in den 1960er Jahren die Unterdrückung aller politischen Energien durch den Konsumismus der westlichen Wohlfahrtsgesellschaft. Mit der Studentenbewegung dieser Zeit, die sich besonders in den USA gegen den Konformismus der EisenhowerGesellschaft wehrte, erwuchs ein neuer Akteur, der bei seiner Revolte bewusst auf die herkömmlichen Gewaltmittel verzichtete, darin der gewaltfreien Bürgerrechtsbewegung oder den Strategien der indischen Unabhängigkeitsbewegung namentlich Gandhis ähnlich. Herbert Marcuse ist einer der bedeutendsten Wortführer dieser Bewegung, die rasch nach Europa überschwappte. Hannah Arendt dagegen betrachtete die besonders an den Universitäten sichtbar werdende Revolte mit Sorge. Sie unterscheidet Revolution und Rebellion
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sowie Macht und Gewalt voneinander. Rebellionen, die nicht auf die Gründung neuer politischer Ordnung abzielen, die sich keine Verfassung geben und somit auch keine politische Macht aus sich begründen, verharren in dem Stadium der Gewalt und sind fruchtlos. Expressive Rebellionen, auch gewaltfreie, sind ihrer Ansicht nach unpolitisch, wenn sie nur einer gewissen Unzufriedenheit Ausdruck geben möchten. Die kulturalistische Wende hatte auch mit einer gewissen Ernüchterung seitens der sozialistischen Theoretiker zu tun und verstärkte die Rezeption der Schriften Antonio Gramscis. Die kulturalistische Wende in der Revolutionsanalyse war nur der Beginn einer Vielzahl von Verschiebungen innerhalb der Revolutionstheorie, die mit einer erneut einsetzenden gesellschaftstheoretischen Wende immer stärker Strukturbedingungen der modernen Gesellschaft wie Informationen und Bildung als gewichtige Komponenten einer vollständigen Revolutionstheorie deutet (Talcott Parsons). Die Idee der Revolution verliert hier den Charakter eines politischen Vorgangs, in dem Akteure gezielt gesellschaftliche Bedingungen verändern können. Das verbindet sich mit einer Grundlagenkritik der Philosophie an dem Subjektbegriff der Politikwissenschaft, wie sie etwa Michel Foucault übte. In dieser Situation war die Theorie Michael Walzers wegweisend, Revolution und Rebellion nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer politischen Verwirklichung von Zielen anzusehen, die mittlerweile utopisch anmuten, sondern als Handlungsweise, mit welcher solchen Normen zum Sieg verholfen werden soll, die dem bestehenden politischen System bereits eingeschrieben sind. Die Revolution gewinnt hier also ihre ursprüngliche Sinndimension der Rückkehr zurück: Rückkehr im Sinne des Erreichens eines Zustandes, welcher als normative Programmatik bereits Geltung erheischt, der jedoch noch der vollständigen Umsetzung in die politische Wirklichkeit bedarf. Vorbild hierfür ist die Beobachtung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre, die unter Rückgriff auf das Exodus-Kapitel des Alten Testaments den (gewaltfreien) Kampf für die in der Verfassung vorgesehenen Individualrechte für alle Bürger mit dem Zug durch die Wüste in das gelobte Land verglich und hieraus wesentliche Handlungsmotivationen bezog.
Bürgerliche und sozialistische Revolution JEAN JACQUES ROUSSEAU Gesellschaftliche Ursachen der Revolution Vergebens versichert ihr, die Quellen des Übels zerstören zu wollen, vergebens nimmt man ihnen alles, was die Eitelkeit, den Müßiggang und den Luxus nährt, vergebens auch fuhrt ihr
die Menschen zu jener ursprünglichen Gleichheit zurück, die die Unschuld erhält und die Quelle der Tugend ist. Ihre Herzen sind einmal verdorben und werden es bleiben. Es gibt kein anderes Heilmittel als eine große Revolution, die vielleicht ebensosehr zu furchten wäre wie das Übel, welches dadurch geheilt werden könnte, und es ist ebenso verwerflich, sie zu
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wünschen, wie unmöglich, sie vorherzusehen. (S.91) Aus: Jean Jacques Rousseau, Bemerkungen über die Antwort des Königs von Polen (1751), in: ders., Schriften, hg. von Henning Ritter, Bd. 1., Frankfurt/M. 1988, S. 67-92. Wollten wir den Fortgang der Ungleichheit in diesen verschiedenen Revolutionen betrachten, so würden wir finden, daß die Festsetzung des Eigentumsrechts und der Gesetze der erste Zeitpunkt, die Einführung der Magistratswürde der zweite und die Verwandlung der rechtmäßigen Gewalt in eine willkürliche der dritte und letzte gewesen ist. In dem ersten Zeitraum kam also der Stand des Reichtums und der Armut auf, in dem zweiten der Stand der Macht und der Schwäche und in dem dritten der Stand der Herrschaft und der Sklaverei. Dieses ist die letzte Stufe der Ungleichheit, worauf alle übrigen Stufen zuletzt hinfuhren, bis endlich neue Revolutionen hinzukommen und die Regierung entweder gar aufheben oder näher an die rechtmäßige Einrichtung heranführen. (S. 257 f.) Mitten in dieser Unordnung, in diesen Revolutionen erhebt die despotische Gewalt ihr scheußliches Haupt, verschlingt alles, was sie in einem Staate Gutes und gesundes angetroffen hat, und gelangt endlich dahin, daß sie Volk und Gesetze mit Füßen tritt und auf den Ruinen der Republik ihren Tempel aufrichtet. (...) Dieses ist die letzte Stufe der Ungleichheit und der äußerste Zeitpunkt, der den Zirkel schließt und an den Punkt grenzt, mit welchem wir angefangen haben. Die Menschen werden wieder einander gleich, weil sie alle nichts sind. Die Untertanen haben kein anderes Gesetz als den Willen ihres Oberherren, und der Regent keine andere Richtschnur als seine Leidenschaften, und die Begriffe vom Guten, die Grundsätze der Gerechtigkeit sind wiederum dahin. (...) Ein Aufruhr, in welchem ein Sultan strangu-
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liert oder entthront wird, geschieht ebensowohl nach allen Rechten wie das Urteil, welches eben dieser Sultan tags vorher über das Leben und die Glücksgüter seiner Untertanen abgefaßt hatte. Die Gewalt hat ihn erhoben, die Gewalt kann ihn auch wieder stürzen. Alles geht nach der natürlichen Ordnung, und es mag aus diesen kurzen und häufigen Revolutionen entstehen, was da will, es darf sich niemand über andere Ungerechtigkeit beschweren, sondern nur über seine Unvorsichtigkeit und über seinen Unstern. (S. 262 f.) Aus: Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: ders., Schriften, Bd. 1, hg. von Henning Ritter, Frankfurt/M 1988, S. 165-303. Ihr verlaßt euch auf die bestehende Gesellschaftsordnung und bedenkt nicht, daß sie unvermeidlichen Veränderungen unterworfen ist, und daß ihr diejenigen, die eure Kinder erleben werden, weder voraussehen noch verhindern könnt. Der Große wird klein, der Reiche arm, der Monarch Untertan. Sind denn solche Schicksalsschläge so selten, daß ihr damit rechnen könnt davon verschont zu bleiben? Wir nähern uns einer Krise und dem Jahrhundert der Revolutionen. Wer kann für das, was aus euch wird, verbürgen? Alles, was der Mensch aufgebaut hat, kann er wieder zerstören. Unvergänglich ist nur die Natur, und sie bringt weder Fürsten noch Richter oder große Herren hervor. (S. 192) Aus: Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung (1762), hg. von Ludwig Schmidts, 5. unveränderte Aufl. Paderborn u.a. 1981
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MAXIMILIEN ROBESPIERRE Revolution im Kampf gegen die Tyrannis (...) Man zieht euch von der eigentlichen Frage ab. Es liegt hier kein Prozeß vor. Ludwig ist kein Angeklagter, ihr seid keine Richter. Ihr habt kein Urteil für oder gegen einen Menschen zu fällen, sondern eine Maßregel des öffentlichen Wohls zu ergreifen, einen Akt nationaler Providenz zu üben. (Beifall.) Welches ist der Entschluß, den die gesunde Politik vorschreibt, um die werdende Republik zu zementieren? Daß man die Verachtung des Königtums tief in die Herzen eingrabe und alle Anhänger des Königs mit Betäubung schlage. Wenn man also ein Verbrechen der Welt als ein Problem, seinen Prozeß als einen Gegenstand der imposantesten Diskussion, der inbrünstigsten Beratung darstellt, die jemals geschehen ist, wenn man zwischen die Erinnerung seiner Vergangenheit und seinen Bürgertitel eine unermeßliche Distanz legt, so hat man gerade das Mittel gefunden, das ihn der Freiheit gefährlicher macht. Ludwig XVI. ist König gewesen, und die Republik ist gegründet. Die große Frage, die euch beschäftigt, ist durch dieses einzige Wort schon entschieden. Ludwig ist durch seine Verbrechen entthront. Er hat gegen die Republik konspiriert; er wird verurteilt, oder die Republik wird nicht freigesprochen. (Beifall.) Wenn man vorschlägt, Ludwig XVI. den Prozeß zu machen, so stellt man die Revolution in Frage. Kann er gerichtet werden, so kann er freigesprochen werden, kann er freigesprochen werden, so kann er unschuldig sein. Ist er aber unschuldig, was wird aus der Revolution? Ist er unschuldig, was dann sind wir anderes als seine Verleumder? Die Manifeste der fremden Höfe gegen uns sind dann gerecht. Selbst sein Gefängnis ist dann eine Mißhandlung. Die Föderierten, das Pariser Volk, alle Patrioten des französischen Reiches sind dann strafbar, und der große Prozeß, seit so vielen Jahrhunderten vor dem Tribunal der Natur, der Prozeß zwi-
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schen dem Verbrechen und der Tugend, zwischen der Freiheit und der Tyrannei, ist endlich zugunsten des Verbrechens und des Despotismus entschieden. Bürger, seid auf eurer Hut! Ihr werdet hier von falschen Begriffen getäuscht. Die majestätischen Bewegungen eines großen Volkes, die erhabenen Regungen der Tugend erscheinen uns wie vulkanische Ausbrüche und als der Umsturz der politischen Gesellschaft. Wenn eine Nation gezwungen ist, zum Recht der Insurrektion zu greifen, so tritt sie dem Tyrannen gegenüber in den Naturzustand zurück. Wie könnte der Tyrann den Gesellschaftsvertrag für sich anrufen? Er hat ihn vernichtet! Welche Gesetze sind an seine Stelle getreten? Die Gesetze der Natur: das Volkswohl. Das Recht, einen Tyrannen zu bestrafen, und das Recht, ihn zu entthronen, ist ein und dasselbe. Das eine verträgt keine andere Form als das andere. Der Prozeß des Tyrannen ist der Aufruhr. Sein Urteil ist Sturz seiner Gewalt. Seine Strafe ist die, die die Freiheit des Volkes erheischt. Die Völker schleudern den Blitz, das ist ihr Urteil; sie klagen die Könige nicht an, sie schaffen sie ab, sie versenken sie in das Nichts! In welcher Republik war das Recht strittig, die Könige zu bestrafen? Wurde Tarquinius vor Gericht gezogen? Was hätte man in Rom gesagt, wenn sich Bürger zu seinen Verteidigern erklärt hätten? Und wir, wir berufen Advokaten, um die Sache Ludwigs XVI. zu fuhren? Vielleicht werden wir ihnen noch einmal Bürgerkronen zuerkennen! Denn wenn sie eine Sache verteidigen, so können sie hoffen, sie zum Triumph zu führen; sonst würden wir der Welt ja nur eine lächerliche Justizkomödie zeigen. (Beifall.) Und wir wagen es, von der Republik zu reden! Ah, wir sind so zart gegen die Unterdrücker, weil wir ohne Erbarmen gegen die Unterdrückten sind! Was ist das für eine Republik, die von ihren eigenen Gründern in Frage gestellt wird, und gegen die sie selbst Gegner hervorrufen, um sie in der Wiege anzugreifen! Wer hätte vor zwei Monaten auch nur ahnen können, daß man hier von Unverletzlichkeit der
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Könige reden würde? Und heute präsentiert euch hier ein Mitglied des Nationalkonvents, der Bürger Petion, diesen Gedanken als den Gegenstand einer ernsten Beratung! Ο Verbrechen! Ο Schande! Die Tribüne des französischen Volkes hallte vom Panegyrikus Ludwigs XVI. wider! Ludwig kämpft noch gegen uns aus der Tiefe seines Kerkers, und ihr fragt, ob er schuldig ist und ob man ihn als Feind behandeln kann! Gestattet ihr, daß man zu seinen Gunsten die Verfassung anruft? Wenn dem so ist, so verurteilt euch die Verfassung; denn sie verbot euch, ihn zu stürzen! So geht doch, werft euch dem Tyrannen zu Füßen und erfleht euch seine Verzeihung und seine Milde!. (...) Aber eine neue Schwierigkeit: zu welcher Strafe sollen wir ihn verurteilen? Die Todesstrafe ist zu grausam, sagt der eine. Nein, sagt der andere, das Leben ist noch grausamer; man muß ihn zum Leben verurteilen. Advokaten! Wollt ihr ihn aus Mitleid oder aus Grausamkeit der Strafe seiner Verbrechen entziehen? Ich persönlich verabscheue die Todesstrafe, ich hege gegen Ludwig weder Liebe noch Haß, ich hasse nur seine Vergehen. Ich habe in der Verfassunggebenden Versammlung die Abschaffung der Todesstrafe verlangt, und es ist nicht meine Schuld, wenn die ersten Grundsätze der Vernunft als moralische und juristische Ketzereien galten. Aber ihr, die ihr euch niemals habt entschließen können, die Abschaffung der Todesstrafe zugunsten der Unglücklichen zu verlangen, deren Delikte individuell und verzeihlich sind: warum erinnert ihr euch an eure Menschlichkeit, durch welche Fatalität, um für die Sache des größten aller Verbrecher zu plädieren? Ihr verlangt eine Ausnahme von der Todesstrafe einzig für den, der sie allein legitimieren könnte: für einen entthronten König im Schöße einer noch nicht gefestigten Republik! Ein König, dessen Name allein schon der Nation den auswärtigen Krieg zuzieht! Weder Gefängnis noch Verbannung können seine Existenz unschuldig machen. Ich spreche mit Schmerz diese traurige Wahrheit aus: lieber soll Ludwig
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sterben als Hunderttausende guter Bürger! Ludwig muß sterben, weil das Vaterland leben muß! (S. 45 ff.) Aus: Maximilien Robespierre, Rede gegen Ludwig XVI. vom 15. Sept. 1792, zit. nach: Ulrich Friedrich Müller, Hg., Die französische Revolution. Umbruch in Europa 1789-1815, München um 1965.
IMMANUEL KANT Revolution der Denkungsart So schädlich ist es, Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen, die, oder deren Vorgänger, ihre Urheber gewesen sind. Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurteile werden, eben sowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen. (S. 54 f.) Aus: Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders., Theorie-Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. XI, S. 53-61. Daß aber jemand nicht bloß gesetzlich, sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d. i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus noumenon), werde, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf, als dieser Vorstellung der Pflicht selbst: das kann nicht durch allmähliche Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine
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Revolution der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden. (...) Wenn der Mensch aber im Grunde seiner Maximen verderbt ist, wie ist es möglich, daß er durch eigne Kräfte diese Revolution zu Stande bringe, und von selbst ein guter Mensch werde? Und doch gebietet die Pflicht, es zu sein, sie gebietet uns aber nichts, als was uns tunlich ist. Dieses ist nicht anders zu vereinigen, als daß die Revolution für die Denkungsart, die allmähliche Reform aber für die Sinnesart (welcher jene Hindernisse entgegenstellt), notwendig, und daher auch dem Menschen möglich sein muß. (...) Hieraus folgt, da die moralische Bildung des Menschen nicht von der Besserung der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart, und von Gründung eines Charakters anfangen müsse; ob man zwar gewöhnlicherweise anders verfährt, und wider Laster einzeln bekämpft, die allgemeine Wurzel derselben aber unberührt beläßt. (S. 698 f.) Aus: Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: ders., Theorie-Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. VIII, S. 649-879.
AUGUSTE COMTE Revolution als Reorganisation der Gesellschaft Das Ziel der Revolution sollte die Reorganisation der Gesellschaft sein, aus der sie selbst hervorging, denn ihr Gegenstand war keineswegs der Sturz der alten Wirtschaftsweise. Allein der empirische Gang und der besondere Gang des positiven Fortschritts hatten dessen wahrhafte politische Richtung nicht deutlich gemacht, und so wurde die soziale Erneuerung der Metaphysik anvertraut, die vorher die Bewegung geleitet
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hatte. Durch diesen Irrtum kann der revolutionäre Gedanke nur ungefähr die Voraussetzungen einer Erneuerung andeuten, deren Prinzip unbestimmt bleibt. (...) Der Lauf der Begebenheiten in den letzten 50 Jahren zeigt, daß die Bedingungen der Ordnung und des Fortschritts nur durch eine wahrhafte Reorganisation verwirklicht werden können. Die ganze Politik schwankt wie vor der Revolution zwischen den rückschrittlichen Bestrebungen einer Macht, die unter Ordnung nur das alte Vorbild versteht, und zwischen dem anarchistischen Instinkt einer Gesellschaft, die nur einen rein negativen Fortschritt im Sinne hat. (S. 411 f.) Die Regeln der Moral sind gegenwärtig erschüttert, weil sie sich immer noch auf theologische Begriffe stützen, aber sie werden eine unwiderstehliche Macht wieder erhalten, wenn sie an positive Ideen geknüpft werden. In politischer Hinsicht kann sich die Erneuerung der Gesellschaftslehre nicht vollziehen, wenn sie nicht zugleich damit eine neue geistige Autorität sich erheben läßt, die, nachdem sie das Wissen geregelt und die Sitten neu geformt, die Grundlage der neuen Herrschaft der Menschlichkeit wird. (S. 414) Die neue Philosophie wird an Stelle der Rechte die der entsprechenden Pflichten setzen. Der erste Gesichtspunkt hat vorgeherrscht, solange die Reaktion gegen das alte Regime nicht vollständig vollendet war; der andere Gesichtspunkt muß bei der Organisation des neuen sozialen Zustandes vorherrschen. Anstatt die einzelnen Pflichten aus den allgemeinen Rechten abzuleiten, wird man umgekehrt die Rechte eines jeden aus den Pflichten der anderen gegen ihn ableiten, und dies ist nicht dasselbe; denn dieser Gegensatz zeigt entweder das Übergewicht des metaphysischen oder des positiven Geistes, indem jener zu einer beinahe passiven Moral führt, bei der der Egoismus herrscht, der andere aber zu einer lebendigen Moral, die von der Nächstenliebe geleitet ist. (S. 420 f.)
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Aus: Auguste Comte, Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, hg. von Friedrich Blaschke, 2. Aufl., mit einer Einleitung von Jürgen von Kempski, Stuttgart 1974.
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die Bewegung vollzogen hat. (Bd. 3, S. 98 -100) Dies Proletariat nun fordert im Sinne der sozialen Idee der Gleichheit von der besitzenden Klasse, was diese ihm weder geben will noch kann. Es fordert vom Staate, daß er tun soll, was entweder seinem Begriffe oder seinem Gesetz widerspricht. Es erkennt alsbald, daß es von dieser Staats- und Gesellschaftsordnung nicht die Erfüllung jener Forderungen zu hoffen hat. Da LORENZ VON STEIN es nun sieht, daß die besitzende Klasse, von der Der Begriff der Gesellschaft es gesellschaftlich abhängig ist, auch die Staatsgewalt in ihren Händen hat, so entsteht bei ihm Dieser Kampf der beiden großen gesellschaftli- die Meinung, daß der Staat nur deshalb ihm in chen Klassen, dessen Voraussetzung der durch seinen Forderungen nicht helfe, weil eben diejeArbeit erworbene Besitz der gesellschaftlichen nigen, welche die Staatsmacht besitzen, in ihrem Güter in der Klasse der Abhängigen, dessen Not- gesellschaftlichen und persönlichen Interesse wendigkeit die Erfüllung der Rechtsidee, dessen durch eine solche Hilfe angegriffen werden Ziel eine dieser Rechtsidee entsprechende neue müßten. Es hält sich die Erkenntnis fern, daß der Verfassung, dessen Folge die Verschärfung oder Staat in jeder Form unfähig wäre, die sozialen die Aufhebung des gesellschaftlichen Rechts ist, Ideen zu verwirklichen, weil sie in dieser Form ist die Revolution oder die Staatsumwälzung. an sich unmöglich sind. Und so entsteht in ihm der Glaube, daß es selber alleine berufen und (...) Indem aber die Bewegung der Revolution auf imstande sein werde, durch die Staatsgewalt sich diesem gesellschaftlichen Besitze beruht, kann zu helfen; und folglich, daß es berechtigt sei, sie auch in ihren Forderungen an Staat und Ge- diese Staatsgewalt an sich zu reißen, um mit sellschaft nicht weiter gehen, als dieser Besitz derselben seine soziale Idee zu vollziehen. selber es verlangt. Da nun jene Bewegung das Es ist nun allerdings sehr schwer, daß dies Prinzip der Gleichheit für sich in Anspruch wirklich geschehe. (...) Es kann indessen in nimmt, selber aber auf dem wirklich erworbe- einzelnen Fällen allerdings vorkommen, daß es nen, und mithin ungleichen Besitz in der abhän- sich durch ein Zusammentreffen von Ereignisgigen Klasse sich stützt, so enthält jede revolu- sen der Staatsgewalt wirklich bemächtigt. Dies tionäre Bewegung einen tiefen Widerspruch in geschieht immer durch Verbindung mit der sich. Sie nimmt prinzipiell ein gleiches Recht für demokratischen Partei; und diese Revolution, in die ganze abhängige Klasse, tatsächlich aber welcher das Proletariat und die Demokratie sich den Erfolg der Revolution nur für den Teil der- den Staat und seine Gewalt unterwirft, ist die selben in Anspruch, der wirklich im Besitz jener eigentliche soziale Revolution. gesellschaftlichen Güter ist. Keine revolutionäHalten wir nun diesen Begriff der sozialen re Bewegung ist imstande, diesen Widerspruch Revolution zusammen mit den Grundsätzen, von sich abzuwenden. (...) Jede Revolution ge- welche wir über das Wesen des Staats und der braucht daher ihrer unabänderlichen Natur nach Gesellschaft früher aufgestellt haben, so ist es eine Klasse der Gesellschaft, der sie weder nüt- keine Frage, daß jede soziale Revolution ein zen will noch nützen kann; jede Revolution fin- absoluter Widerspruch mit beiden, und daher det aus demselben Grunde, sowie sie fertig ist, nicht ein Fortschritt oder eine Bedingung des einen Gegner in derselben Masse, welche eben Fortschritts, sondern an sich ein Unglück, und in
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ihren Tendenzen eine reine Unmöglichkeit ist. Indem nämlich die soziale Revolution die Staatsgewalt für das Proletariat oder die kapitallose Arbeit erwirbt, fallt jene Gewalt, ihrer höheren Natur nach die absolut allgemeine, in die Hände einer einzelnen Klasse der Gesellschaft. Auch diese Klasse hat ihr sehr bestimmtes, das ganze Leben der Gesellschaft umfassendes Interesse. Sie wird daher die Staatsgewalt für dieses Sonderinteresse ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung gebrauchen. (S. 126 f.) Aus: Lorenz von Stein, Der Begriff der Gesellschaft und die soziale Geschichte der französischen Revolution bis zum Jahre 1830, mit einem Vorwort von Gottfried Salamon, München 1921.
ALEXIS DE TOCQUEVILLE Französische Revolution als religiöse Revolution Die Franzosen haben im Jahr 1789 die größte Anstrengung gemacht, der ein Volk sich jemals unterzogen hat, um ihre Geschichte sozusagen in zwei Teile zu spalten und durch eine tiefe Kluft das, was sie bis dahin waren, von dem zu scheiden, was sie fortan sein wollten. (...) Ich war stets der Ansicht, daß ihnen dieses sonderbare Unternehmen weit weniger gelungen sei, als man im Ausland geglaubt und als sie es anfangs selbst geglaubt haben. Ich war überzeugt, daß sie, ohne es zu wissen, großenteils die Gesinnungen, Gewohnheiten, ja sogar die Ideen des alten Staates beibehalten hätten, mit deren Hilfe sie die Revolution, die ihn vernichtete, bewerkstelligten, und daß sie, ohne es zu wollen, sich seiner Trümmer bedient hätten, um das Gebäude der neuen Gesellschaft aufzuführen, so daß man, um die Revolution und ihr Werk richtig zu verstehen, das gegenwärtige Frankreich
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einen Augenblick vergessen und das ehemalige Frankreich in seinem Grabe befragen müsse. (S.9) Alle bürgerlichen Revolutionen haben ein Vaterland gehabt und sich auf dieses beschränkt. Die französische Revolution hat kein bestimmtes Gebiet gehabt; (...) Man hat gesehen, wie sie die Menschen verband und trennte, und zwar den Gesetzen, den Traditionen, dem Charakter, der Sprache zum Trotz, indem sie bisweilen Landsleute zu Feinden und Fremde zu Brüdern machte; oder vielmehr sie hat über alle besonderen Nationalitäten ein gemeinsames geistiges Vaterland gegründet, dessen Bürger die Menschen aus allen Nationen werden konnten. Man durchblättere die Annalen der Geschichte und man wird keine einzige Revolution finden, die diesen Charakter gehabt hätte; man wird ihn nur in gewissen religiösen Revolutionen wiederfinden. Also sind es religiöse Revolutionen, mit denen man die Französische Revolution vergleichen muß, wenn man sich mit Hilfe der Analogie verständlich machen will (...) Die französische Revolution ist also eine politische Revolution, die in der Art einer religiösen Revolution zu Werke gegangen ist und gewissermaßen das Aussehen einer solchen angenommen hat. Man bemerke, durch welche besonderen und charakteristischen Züge sie dieser letzteren vollends ähnlich wird: sie breitet sich nicht nur wie sie in der Ferne aus, sondern bricht sich auch ebenso Bahn durch Predigt und Propaganda. Eine politische Revolution, die Bekehrungseifer einflößt und die man mit demselben Feuereifer dem Fremden predigt, womit man sie daheim bewerkstelligte: welch ein neues Schauspiel! (S. 26 f.) Dieser in der Geschichte neue Umstand, daß die ganze politische Erziehung eines großen Volkes ausschließlich durch Schriftsteller geschah, trug vielleicht am meisten dazu bei, der Französischen Revolution ihren eigentümlichen Geist zu geben und aus ihr das hervorgehen zu lassen, was wir vor uns sehen. Die Schriftsteller
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gaben dem Volke, das diese Revolution machte, nicht nur ihre Ideen, sondern auch ihr Temperament und ihre Stimmung. Unter ihrer langen Disziplin, in Ermangelung aller anderen Führer und in ihrer vollständigen Unbekanntheit mit der Praxis, nahm die ganze Nation, in dem sie diese Schriftsteller las, endlich deren Neigungen, Anschauungen, Vorlieben, ja sogar die natürlichen Verkehrtheiten an, so daß sie, als sie endlich zum Handeln kam, alle Gewohnheiten der Literatur in die Politik hinübernahm. Studiert man die Geschichte unserer Revolution, so sieht man, daß sie genau in demselben Geiste geleitet worden ist, der so viele abstrakte Bücher über die Regierung hervorgebracht hat: gleicher Geschmack an allgemeinen Theorien, vollständigen Systemen der Gesetzgebung und genauer Symmetrie in den Gesetzen; gleiche Verachtung des tatsächlich Bestehenden; gleiches Vertrauen auf die Theorie; gleiche Vorliebe für das Originelle, Sinnreiche und Neue in den Institutionen; gleiche Lust, auf einmal die ganze Verfassung nach den Regeln der Logik und nach einem einheitlichen Plan neu zu bilden, anstatt zu versuchen, sie in ihren Teilen zu verbessern. Schreckenvolles Schauspiel! Denn was bei einem Schriftsteller ein Vorzug ist, wird beim Staatsmann manchmal zum schweren Fehler, und dieselben Dinge, die of schöne Bücher entstehen lassen, können zu großen Revolutionen fairen. (S. 149) Da die Französische Revolution nicht allein den Zweck hatte, eine alte Regierung zu beseitigen, sondern auch die alte Form der Gesellschaft abzuschaffen, so mußte sie gleichzeitig alle bestehenden Gewalten angreifen, alle anerkannten Einflüsse vernichten, die Tradition in Vergessenheit bringen, die Sitten und Gebräuche erneuern und den menschlichen Geist gewissermaßen aller Ideen entledigen, auf denen bis dahin Respekt und Gehorsam beruht hatten. Daher ihr so besonders anarchischer Charakter. Aber man räume diese Trümmer weg: man gewahrt dann eine ungeheure Zentralgewalt, die
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in ihrer Einheit alle Bestandteile von Autorität und Einfluß an sich gezogen und verschlungen hat, die vorher unter einer Menge von untergeordneten Gewalten, Orden, Klassen, Professionen, Familien und Individuen zersplittert und gleichsam im ganzen Gesellschaftskörper zerstreut waren. (S. 25) Man gelangt nicht immer nur dann zur Revolution, wenn eine schlimme Lage zur schlimmsten wird. Sehr oft geschieht es, daß ein Volk, das die drückendsten Gesetze ohne Klage und gleichsam, als fühlte es sie nicht, ertragen hatte, diese gewaltsam beseitigt, sobald ihre Last sich vermindert. Die Regierung, die durch eine Revolution vernichtet wird, ist fast stets besser als die unmittelbar voraufgegangene, und die Erfahrung lehrt, daß der gefährlichste Augenblick für eine schlechte Regierung der ist, wo sie sich zu reformieren beginnt. (...) Das Übel, das man als unvermeidlich mit Geduld ertrug, erscheint unerträglich, sobald man auf den Gedanken kommt, sich ihm zu entziehen. (...) Die geringsten Willkürakte Ludwig XVI. schienen schwerer zu ertragen als der ganze Despotismus Ludwig XIV (S. 176) Aus: Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, hg. von Jacob P. Mayer, München 1978.
JOHN ROBERT SEELEY Das Parlament als permanente Revolution Wir sind es ferner gewohnt zu sagen, es gäbe in England keine Revolutionen. Das ist natürlich eine begründete Aussage, aber präziser wäre es zu sagen, daß wir in England immer Revolutionen haben. Nirgendwo stürzen Regierungen öfter oder plötzlicher als in England. Warum wirken wir dann aber im Vergleich mit den meisten anderen Staaten so ungewöhnlich fest und
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stabil? Das ist nicht so, weil wir keine Revolutionen haben, sondern weil wir Revolutionen in ein System gebracht und ihr legale Formen gegeben haben. Wir haben stets Revolutionen, und deshalb haben wir, in einem gewissen Sinne, nie Revolutionen. (S. 194 f., Übersetzung: Marcus Llanque)
zen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden. (S. 69 f.)
Aus: John Robert Seeley, Introduction to political science - two series of lectures, London 1896.
Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerstreit geraten. (...) Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese. (S. 440)
KARL M A R X Politische Emanzipation und Revolution Schließlich erhalten wir noch folgende Resultate aus der entwickelten Geschichtsauffassung: (...) 3. daß in allen bisherigen Revolutionen die Art der Tätigkeit stets unangetastet blieb und es sich nur um eine andere Distribution dieser Tätigkeit, um eine neue Verteilung der Arbeit an andere Personen handelte, während die kommunistische Revolution sich gegen die bisherige Art der Tätigkeit richtet, die Arbeit beseitigt und die Herrschaft aller Klassen mit den Klassen selbst aufhebt, weil sie durch die Klasse bewirkt wird, die in der Gesellschaft für keine Klasse mehr gilt, nicht als Klasse anerkannt wird, schon der Ausdruck der Auflösung aller Klassen, Nationalitäten etc., innerhalb der jetzigen Gesellschaft ist; und 4. daß sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; daß also diese Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Art und Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den gan-
Aus: Karl Marx/Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie, in: dieselben, Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S. 9-438.
Aus: Karl Marx, Neue Rheinische Revue, Mai bis Oktober 1850, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, Berlin 1960, S. 421-463. Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist des Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzu-
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werfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodos, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze! (S. 118) Aus: Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, Berlin 1969, S. 111-208. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Indiviuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. (S. 9)
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Aus: Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1972, S. 3 160.
KARL KAUTSKY Soziale Revolution und Eroberung der Staatsgewalt Jeder Sozialist strebt die soziale Revolution im weiteren Sinne an, und doch gibt es Sozialisten, welche die Revolution verwerfen und die soziale Umwälzung nur durch die Reform erreichen wollen. Man setzt der sozialen Revolution die soziale Reform entgegen. Dieser Gegensatz ist es, der heute in unseren Reihen diskutiert wird. Nur von der sozialen Revolution in diesem engeren Sinne, als besonderer Methode der sozialen Umwälzung, will ich hier handeln. Der Gegensatz zwischen Reform und Revolution liegt nicht darin, daß in dem einen Fall Gewalt angewendet wird, in dem anderen nicht. Jede juristische und politische Maßregel ist eine Gewaltmaßregel, die durch die Gewalt des Staates durchgesetzt wird. Auch besondere Arten der Gewaltanwendung - Straßenkämpfe oder Hinrichtungen - bilden nicht das Wesentliche einer Revolution im Gegensatz zur Reform. Sie entspringen besonderen Umständen, sind nicht notwendig mit einer Revolution verbunden und können Reformbewegungen begleiten. (...) Die Eroberung der Staatsgewalt durch eine bis dahin unterdrückte Klasse, also die politische Revolution, ist demnach ein wesentliches Merkmal der sozialen Revolution im engeren Sinne, im Gegensatz zur sozialen Reform. Wer die politische Revolution als Mittel der sozialen Umwälzung prinzipiell abweist und diese Umwälzung auf solche Maßregeln beschränken will, die von den herrschenden Klassen zu erlangen sind, der ist ein Sozialreformer. (S. 8 f.)
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Der Streik als politisches Kampfesmittel wußt werden und eine Änderung fordern; zur wird kaum je, sicher nicht in absehbarer Zeit, die Revolution ist es notwendig, daß die Ausbeuter Form eines Streikes aller Arbeiter eines Landes nicht mehr in der alten Weise leben und regieren annehmen, er kann auch nicht die Aufgabe können. Erst dann, wenn die »Unterschichten« haben, die übrigen Mittel des politischen Kamp- das Alte nicht mehr wollen und die »Oberschichfes des Proletariates zu ersetzen, sondern nur ten« in der alten Weise nicht mehr können, erst die, sie zu ergänzen und zu verstärken. Wir ge- dann kann die Revolution siegen. Mit anderen hen einer Zeit entgegen, wo gegenüber der Über- Worten kann man diese Wahrheit so ausdrücken: macht der Unternehmerorganisationen der iso- Die Revolution ist unmöglich ohne eine gesamtlierte, unpolitische Streik ebenso aussichtslos nationale (Ausgebeutete und Ausbeuter erfassein wird, wie gegenüber dem Druck der von den sende) Krise. Folglich ist zur Revolution notKapitalisten abhängigen Staatsgewalt die iso- wendig: erstens, daß die Mehrheit der Arbeiter lierte parlamentarische Aktion der Arbeiterpar- (oder jedenfalls die Mehrheit der klassenbewußteien. Es wird immer notwendiger werden, daß ten, denkenden, politisch aktiven Arbeiter) die beide sich ergänzen und aus ihrem Zusammen- Notwendigkeit des Umsturzes völlig begreift wirken neue Kräfte saugen. (S. 55). und bereit ist, seinetwegen in den Tod zu gehen; Der Sozialismus beseitigt Not und Übersätti- zweitens, daß die herrschenden Klassen eine gung und Unnatur, macht den Menschen lebens- Regierungskrise durchmachen, die sogar die froh, schönheitsfreudig und genußfähig. Und rückständigsten Massen in die Politik hineindabei bringt er die Freiheit wissenschaftlichen zieht (das Merkmal einer jeden wirklichen und künstlerischen Schaffens für alle. Dürfen Revolution ist die schnelle Verzehnfachimg, ja wir nicht annehmen, daß unter diesen Bedingun- Verhundertfachung der Zahl der zum politigen ein neuer Typus des Menschen entstehen schen Kampf fähigen Vertreter der werktätigen wird, der die höchsten Typen überragt, welche und ausgebeuteten Masse, die bis dahin apadie Kultur bisher geschaffen? Ein Übermensch, thisch war), die Regierung kraftlos macht und es wenn man will, aber nicht als Ausnahme, son- den Revolutionären ermöglicht, diese Regierung schnell zu stürzen. (S. 71 f.) dern als Regel. (S. 112) Aus: Karl Kautsky, Die soziale Revolution, 2. Aufl., Berlin 1907.
Aus: Wladimir I. Uljanow (Lenin), Der »linke Radikalismus«, die Kinderkrankheit des Kommunismus (1920), in: Lenin, Werke, Berlin 1959, Bd. 31, S. 1 -91.
WLADIMIR I. ULJANOW (LENIN) Die Voraussetzungen der Revolution Das Grundgesetz der Revolution, das durch alle Revolutionen und insbesondere durch alle drei russischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts bestätigt worden ist, besteht in folgendem: Zur Revolution genügt es nicht, daß sich die ausgebeuteten und unterdrückten Massen der Unmöglichkeit, in der alten Weise weiterzuleben, be-
WLADIMIR I. ULJANOW (LENIN) Die Revolution ist ein politischer Vorgang Die Lehre vom Klassenkampf, von Marx auf die Frage des Staates und der sozialistischen Revolution angewandt, fuhrt notwendig zur Anerkennung derpolitischen Herrschaft des Proletariats, seiner Diktatur, d.h. einer mit niemand geteilten
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und sich unmittelbar auf die bewaffnete Gewalt des Proletariats erstreckt. (...) Der Opportunisder Massen stützenden Macht. Der Sturz der mus macht in der Anerkennung des KlassenBourgeoisie ist nur zu verwirklichen durch die kampfes gerade vor der Hauptsache halt, vor der Erhebung des Proletariats zur herrschenden Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Klasse, die fähig ist, den unvermeidlichen, ver- Kommunismus, vor der Periode des Sturzes der zweifelten Widerstand der Bourgeoisie nieder- Bourgeoisie und ihrer völligen Vernichtung. In zuhalten und für die Neuordnung der Wirtschaft Wirklichkeit ist diese Periode unvermeidlich alle werktätigen und ausgebeuteten Massen zu eine Periode unerhört erbitterten Klassenkamporganisieren. (...) Durch die Erziehung der fes, unerhört scharfer Formen dieses Kampfes, Arbeiterpartei erzieht der Marxismus die Avant- und folglich muß auch der Staat dieser Periode garde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu unvermeidlich auf neue Art demokratisch (für ergreifen und das ganze Volk zum Sozialismus die Proletarier und überhaupt für die Besitzlozu fuhren, die neue Ordnung zu leiten und zu sen) und auf neue Art diktatorisch (gegen die organisieren, Lehrer, Leiter, Führer aller Werk- Bourgeoisie) sein. (S. 424 f.) tätigen und Ausgebeuteten zu sein bei der Gestaltung ihres gesellschaftlichen Lebens ohne Aus: Wladimir I. Uljanow (Lenin), Staat die Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie. Der und Revolution. Die Lehre des Marxismus heute herrschende Opportunismus dagegen ervom Staat und die Aufgaben des Proletarizieht in der Arbeiterpartei die Vertreter der besats in der Revolution, (geschrieben serbezahlten Arbeiter, die sich den Massen entAugust-September 1917), in: Lenin, Werfremden und sich unter dem Kapitalismus ke, Berlin 1960, Bd. 25, S. 393-507. leidlich »einzurichten« wissen, die ihr Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkaufen, d.h. auf die Rolle revolutionärer Führer des Volkes gegen die Bourgeoisie verzichten. (S. 416 f.) EMIL LEDERER Das Wesentliche der Lehre von Marx sei der Klassenkampf. (...) Doch das ist unrichtig, und Revolution als Idee und als soziale Kraft aus dieser Unrichtigkeit ergibt sich auf Schritt und Tritt eine opportunistische Entstellung des Zweierlei ist jeder echten Revolution wesentMarxismus, seine Verfälschung in einem Geiste, lich: daß sie Idee ist und daß sie eine soziale der ihn für die Bourgeoisie annehmbar macht. Kraft mobilisieren kann. Als Idee muß sie Denn die Lehre vom Klassenkampf ist nicht von umfassend sein, sie muß eine wahrhaft universaMarx, sondern vor ihm von der Bourgeoisie le Idee sein, um jene allgemeine Ergriffenheit zu geschaffen worden und ist, allgemein gespro- erregen, welche der psychische Nährboden für chen, für die Bourgeoisie annehmbar. Wer nur die revolutionäre Bewegung ist. Und sie muß den Klassenkampf anerkennt, ist noch kein Mar- eine soziale Kraft mobilisieren, stark genug, um xist, er kann noch in den Grenzen des bürgerli- den herrschenden Apparat niederzuwerfen; demchen Denkens und bürgerlicher Politik geblie- nach mit dem Schwerpunkt in einer großen ben sein. Den Marxismus auf die Lehre vom sozialen Schicht, aber doch nicht ganz auf diese Klassenkampf beschränken heißt den Marxis- beschränkt, wie ja jede große und weithin wirmus stutzen, ihn entstellen, ihn auf das reduzie- kende Revolution auch Angehörige der herrren, was für die Bourgeoisie annehmbar ist. Ein schenden Klasse für sich zu gewinnen weiß.(...) Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klas- Wie immer man zur Revolution und in einer senkampfes auf die Anerkennung der Diktatur Revolution stehen mag: es ist unmöglich, zu
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bezweifeln, daß der Kampf um Ideen geht, während alle die Kriegsideologien allmählich zerflattern und als Objekte des Ringens sich immer deutlicher Machtpositionen enthüllen. (...) Wenn wir die Ideen, welche zu revolutionärer Ausprägung gediehen sind, betrachten, so können wir sehen, daß sie stets eine Vorformung des kommenden Zeitalters darstellen. Ohne eine solche Vorformung, welche eben die Idee der Revolution darstellt, ist sie gar nicht denkbar, würde eine noch so große gesellschaftliche Katastrophe eben in der Katastrophe stecken bleiben, würde ein Zusammenbruch, aber kein neuer Aufbau möglich sein. Sind also die revolutionären Ideen einerseits ein Sprengstoff, der unter gewissen Bedingungen das Bestehende zertrümmern kann, so sind sie doch zugleich der Bauplan der Zukunft und ermöglichen den Aufbau einer neuen Gesellschaft. (...) So vollzieht sich die Entwicklung in drei Stufen: das Auftauchen der Idee; ihre Wandlung zur revolutionären Idee; ihr Durchbruch zur Wirklichkeit in der Revolution. Wovon hängt es nun ab, daß eine Idee revolutionär werden kann, und daß sie den Weg zur Realität findet? In erster Linie sind wichtig die Art und Natur der Intellektuellenschichten eines Landes. Denn in diesen muß die Idee erstmals Wurzel fassen, hier muß sie sich mit dem geistigen und seelischen Leben der Zeit verschmelzen und dieses umbilden. Nur wenn die revolutionäre Idee als eine revolutionäre, mit aller Glut der Leidenschaft durchgefühlte Forderung die Menschen packt, so daß sie die ganze Welt und ihre Gestaltung nur unter diesem Aspekt sehen und nur unter ihm sehen können, dann ist überhaupt eine Weiterwirkung, ein Lebendigwerden der Idee möglich. (S. 13-18) Für die revolutionäre Idee ist es nun bedeutsam, daß sie sich nicht anders als in einer für jede Idee wesensfremden Art realisieren kann: nämlich durch Gewalt. Denn das Eigenartige der revolutionären Idee besteht ja darin, daß sie irgendein Kompromiß mit der Gegenwart aus-
schließt, daß sie an den Widerständen, welche die Reallität bietet, nur um so heftiger entbrennt. Denn die Träger der Revolution sind notwendigerweise die breiten Massen der Bevölkerung, welche zwar mit den Intellektuellenschichten und deren Ideen durch Instinkt, Temperament und eine Gruppe von Zwischenführern zusammenhängen, aber im übrigen doch ihren Tagesinteressen nachstreben. Für diese breiten Massen ist die leitende Idee der Revolution nicht unwesentlich: sie wird ihnen eine Ideologie, welche psychische Hemmungen beseitigt, ihre oft bloß egoistischen Handlungen mit dem Glorienschein einer höheren Gerechtigkeit umstrahlt. Aber die Idee ist doch nicht in dem Sinn in den Massen lebendig, daß sie hauptsächlich um ihrer willen den Kampf wagen. Immer sind es konkrete Fragen, sei es der Ernährung oder des politischen Einflusses oder der Abstellung irgendwelcher »Mißbräuche«, welche die Masse bewegen. Aber auch konkrete Forderungen können ja prinzipielle Bedeutung haben und können in ihrer Realisierung weit über sich hinausführen. (S. 22 f.) Aus: Emil Lederer, Einige Gedanken zur Soziologie der Revolutionen, Leipzig 1918.
WERNER SOMBART Antimarxistische Soziologie der Revolution Wir können drei Formen des illegalen, gewaltsamen Kampfes unterscheiden: das Attentat, den Aufstand und die Revolution. (...) Aufstand (Revolte) und Revolution bedeuten beide einen Einbruch der Masse in die Gesellschaft. Sie unterscheiden sich dadurch voneinander, daß die Revolte Teilziele hat (Bauernaufstände!), die Revolution aber »auf das Ganze« geht, d.h.
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einen Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung (wenn auch nur in bezug auf einzelne Kulturgebiete) bezweckt. (...) [Ich habe] im folgenden nicht den materiellen Revolutionsbegriff (grundsätzliche Umgestaltung eines Zustandes, Verhältnisses, Verfahrens), sondern den formalen im Sinne (...), wonach unter Revolution jeder gewaltsame Umsturz der bestehenden Staats- und (soweit sie auf einer Rechtsbasis ruht) Gesellschaftsordnung von unten her oder außen (zum Unterschiede vom Staatsstreich) verstanden werden soll. Marx hat nun diesen geschichtlichen Vorgang in das Prokrustesbett seiner Klassenkampftheorie gezwängt, indem er alle Revolutionen als Klassenbewegungen gekennzeichnet hat. Damit versperrt er sich aber von vornherein den Weg zu einer richtigen Beurteilung der verschiedenen Revolutionen. (...) Wir können die verschiedenen Arten von Revolutionen bestimmen nach dem Ziel und nach den Trägern, wobei zu beachten ist, daß die Tatsachenkomplexe, die wir aus den verschiedenen, empirischen Revolutionen kennen, in den meisten Fällen Mischtypen sind. Nach dem Ziel oder, wie man auch sagen kann: nach dem Sinngehalt müssen wir unterscheiden: 1. Personalrevolutionen: gewaltsamer Umsturz des Monarchen; (...) 2. Verfassungsrevolutionen: gewaltsame Beseitigung der bestehenden Staatsverfassung; (...) 3. soziale Revolutionen (...) in dem formalen Sinne eines gewaltsamen Umsturzes der Rechtsgrundlage, auf der das gesellschaftliche Leben ruht. Derartige soziale Revolutionen werden nun in der Regel eine Seite des Kulturlebens vor allem betreffen und danach insbesondere sein: a) nationale Revolutionen, die eine Beseitigung der Fremdherrschaft bezwecken und weiter nichts (...); b) religiöse (kirchliche) Revolutionen (...); c) wirtschaftliche Revolutionen: der seltenste Fall. Wichtige Fälle dieses Typs sind die große Französische Revolution und die russische von 1917. Nach den Trägern lassen sich ebenfalls ver-
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schiedene Typen der Revolution unterscheiden, und es ist wiederum ein großer Irrtum der Marxisten, in allen Revolutionen als Träger eine »soziale Klasse« zu erblicken. Vielmehr gibt es: 1. Militärrevolutionen (denen wir die »PalastRevolutionen angliedern können): Hier ist der Träger der Revolution die Armee (...) 2. Parlamentsrevolutionen: Hier spielt sich die ganze Revolution innerhalb der Mauern des Parlaments, und zwar unter denselben, nicht neugewählten Abgeordneten ab (...) 3. Massenrevolutionen: Unorganisierte oder sich erst organisierende Massen haben einen bestimmenden Einfluß aufAusbruch und Verlauf der Revolution. (...) In den allerseltensten Fällen besteht eine Homogenität der handelnden Massen. Meist setzt sie sich aus sehr heterogenen Elementen zusammen, unter denen wir regelmäßig die folgende klassenmäßig gar nicht ohne weiteres und eindeutig bestimmten Bestandteile antreffen: a) den großstädtischen Mob; b) die (meist jugendlichen) Ideologen; die Boheme, das Kaffeehaus; c) die jeweils unterste Schicht der sozialen Stufenleiter (meist gemischt); auf dem Lande: Einlieger, Häusler, landarme Bauern; in der Stadt: Gesellen, Kleindhandwerker aus den Kreisen des Handwerks, Proletarier aus den Kreisen des Kapitalismus. (...) Da ist es denn nun zunächst mit aller Entschiedenheit gegen die Notwendigkeits- und Gesetzmäßigkeitstheorie der marxistischen Gemeinde der Satz zu stellen: Alle Revolutionen sind zufällig. (...) [Ich will] unter soziologischem Zufall ein Ereignis verstehen, dessen Eintritt nicht mit innerer Notwendigkeit aus der konstitutionellen Wesenheit einer gesellschaftlichen Einrichtung folgt, nicht in der Idee einer solchen Einrichtung enthalten, ihr nicht immanent ist. Auf den uns hier interessierenden Fall angewandt: zur Idee des Kapitalismus gehört das Proletariat. (...) Zu diesen Formen gehört nun aber die Revolution nicht. Diese vielmehr tritt nur ein, wenn Ursachen heterogener Natur wirksam sind, Ursachen, die nicht aus dem
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Sachverhalt des kapitalistisch-proletarischen Verhältnisses entspringen, also im Verhältnis zu diesem als äußerliche, »zufällige« Ursachen zu gelten haben. Die wichtigsten dieser Revolutionsursachen sind: Not des Volks, herbeigeführt durch Mißernte oder sonst ein beliebiges Ereignis; Not des Staates, herbeigeführt durch Finanzmißwirtschaft, namentlich aber durch den unglücklichen Ausgang eines Krieges; ferner Revolutionstradition und Ansteckung. Daß alle diese Ursachen vom Standpunkt der sozialen Bewegung aus »zufällig« sind, ist evident: hätte Deutschland im Weltkrieg gesiegt, dann hätte Frankreich die »proletarische« Revolution bekommen, nicht wir. (S. 124-130) Aus: Werner Sombart, Die Formen des gewaltsamen sozialen Kampfes, (Kölner Vierteljahreshefte zur Soziologie, Jg. 1924, Heft Nr. 5), in: Urs Jaeggi/Sven Papcke, Hg., Revolution und Theorie, Bd. 1: Materialien zum bürgerlichen Revolutionsverständnis, Frankfurt/M. 1974, S. 124-134.
THEODOR GEIGER Die Masse und ihrer Aktion Wir haben hier als selbstverständlich eine funktionale Verbindung zwischen Masse und Revolution unterstellt, wissend, daß wir damit keineswegs allgemeine Zustimmung finden werden. Zwar haben wir nicht behauptet, alle Revolutionen seien Massenrevolutionen; im Gegenteil keine Revolution ist von der Masse allein getragen, sondern der Masse kommt eine revolutionäre Funktion zu, - die destruktive. Dagegen behaupten wir allerdings, daß es keine echte Revolution gäbe, an der nicht die Masse funktionell beteiligt wäre. (...) Das doppelte Gesicht der Revolution - Vernichtung und Aufbau -
haben wir schon hervorgehoben. Wir befinden uns darin in Übereinstimmung mit Vierkandt, der die Revolution »einen Umsturz und eine Neubildung von Werten« nennt. Die Parallelität eines destruktiven und eines konstruktiven Prozesses in revolutionären Zeiten kann nicht geleugnet werden. (...) Wer unter Revolution nur gewaltsame Destruktion versteht, kommt denn auch regelmäßig zu dem Ergebnis, sie sei sinnlos. (S. 53 f.) Unter Revolution verstehen wir also den jähen Umsturz sozialer Gestaltsysteme. Revolution besteht aber nicht nur in einzelnen explosiven (Umsturz-) Akten, sondern ebenso in den Neugestaltungsakten. Revolutionen pflegen daher Prozesse von längerer Dauer zu sein, in deren Verlauf eine oder mehrere Massenexplosionen auftreten können. Ebenso können andere Gewaltakte im Zusammenhang mit ihr erscheinen: Revolten, Staatsstreiche, Putscheu, dgl. Sie können als Einzelakte in einer Revolution ihre Begründung haben. So gesehen gehört die Gegenrevolution zur Revolution - aber nicht: sie ist eine Revolution; sie gehört zu ihr, folgt aus ihr als rückläufige Bewegung, als Re-Aktion in wörtlicher Bedeutung. (S. 58 f.) Aus: Theodor Geiger, Die Masse und ihrer Aktion. Ein Beitrag zur Soziologie der Revolution, Stuttgart 1967.
PlTIRIM A . SOROKIN Die Revolution als Krankheit Die Revolution hat nicht so sehr das Streben, das Volk zu sozialem Denken zu erziehen, als es zu verwildern; sie läßt nicht nur die Summe der Freiheiten wachsen, sondern auch abnehmen; sie verbessert nicht allein, sondern verschlechtert auch die wirtschaftliche und geistige Lage der arbeitenden Klassen. Was für Gewinne sie
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auch bringen mag, sie werden mit reichlichen, unverhältnismäßig hohen Kosten erkauft. Sie bestraft nicht nur und nicht so sehr jene aristokratischen Klassen, die wegen ihrer parasitären, zügellosen Lebensführung, ihrer Unfähigkeit und ihrer Nichtachtung sozialer Pflichten, wenn nicht Strafe, so doch wenigstens Entsetzung von hohen Stellungen verdienen, sondern bestraft auch Millionen der armen und arbeitenden Klassen, die sich in einem Anfall von Verzweiflung dem Glauben hingeben, das Ende ihres Elends in der Revolution zu finden. Wenn dieses die tatsächlichen Ergebnisse der Revolution sind, dann ist es im Namen des Menschen, seines Wohlergehens, seiner Rechte, seiner Freiheit und zum Wohl des materiellen und geistigen Fortschritts der arbeitenden Klassen nicht nur mein Recht, sondern meine Pflicht, mich der Verherrlichung der Revolution zu enthalten. (...) Trotz der vielen Millionen Menschen, die diesem »Gott« geopfert werden, hören seine Anbeter nicht auf, neue und immer neue Hekatomben zu fordern. Ist es nicht an der Zeit, diese Forderungen abzulehnen und dem Opfern ein Ende zu machen? Wie jede gefahrliche Krankheit ist die Revolution ein Ergebnis vieler Ursachen. Aber die Unvermeidlichkeit einer Krankheit zwingt mich nicht, sie zu begrüßen oder sie zu loben. Wenn diese Auffassung »Reaktion« bedeutet, so nehme ich gerne die Bezeichnung »Reaktionär« an. Die Geschichte des sozialen Fortschritts lehrt uns, daß alle wesentlichen und wahrhaft fortschrittlichen Errungenschaften das Ergebnis von Wissen, Frieden, Solidarität, Zusammenarbeit und Liebe gewesen sind; aber nicht das Ergebnis von Haß, Roheit und wildem Kampf, wie sie unvermeidlich mit jeder großen Revolution verbunden sind. (S. 38 f.) Aus: Pitirim A. Sorokin, Die Soziologie der Revolution, ins Deutsche übertragen und mit einer Einleitung versehen von Hans Krasspohl, München 1928.
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NIKOLAI BERDJAJEW Proletarischer Messenianismus Die Kompliziertheit des russischen Kommunismus und die Schwierigkeit seiner Auffassung bestehen darin, daß er eine internationale Erscheinung einerseits und eine rein russische Angelegenheit andererseits ist. Die rationalistische Doktrin des Marxismus und seine irrationalen Elemente haben hier eine Strahlenbrechung an der russischen irrationalen Urenergie erfahren und wurden durch diese Begegnung mit dem russischen Geiste umgeprägt. Die Revolutionen werden durch die irrationalen Urkräfte erzeugt und steigen empor aus dem dunklen Unterbewußtsein der Volksseele. Zugleich aber auch pflegen Revolutionen die Aufgabe der Rationalisierung des Lebens zu stellen und werden im Zeichen einer rationalen Lehre ausgeführt, die die Bedeutimg einer konventionellen Symbolik des Kampfes erhält. (...) Die russische Revolution strebte nach der äußersten Rationalisierung des Lebens - bis zur Ausmerzung jedes Geheimnisses und jedes kleinsten irrationalen Elementes. Zugleich aber auch vollzieht sich in ihr ein Hochgang der irrationalen dämonischen Urenergien, die jede rationale Doktrin in eine Symbolik ihrer Abgründe verwandeln. (...) Die Idee einer Revolution enthält immer ein rationales Element. Dieses Element wurde von der russischen Revolution dem Marxismus entlehnt. Wo aber ist die Quelle, die die irrationalen Energien der russischen Revolution gespeist hat? Was ist im Marxismus fiir eine Kraft enthalten, die die Volksmassen zu einer gewaltigen und andauernden revolutionären Bewegung erheben und begeistern kann? (S. 18 f.) Das messianische Gefühl, das messianische Bewußtsein löst gewaltige Energien aus; es erfüllt mit Begeisterung, Enthusiasmus, Opferbereitschaft. Von dieser Idee wird auch die sozialistische Arbeiterbewegung getragen. In
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der Sozialdemokratie, die dem bürgerlichen Geist zum Opfer gefallen ist, erfuhr das messianische Bewußtsein eine Schwächung; im Kommunismus aber wurde es mit neuer Kraft entfacht. Die Kommunisten leben und schaffen im Glauben, daß die schicksalsschwere historische Stunde eingetreten, die Weltkatastrophe im Gange ist und eine neue Aera der Weltgeschichte bevorsteht. Dieser Glaube verleiht ihnen übermenschliche Energie und begeistert sie zu einer ungeheuren Aktivität. (...) In der russischen Revolution hat sich die Begegnung und die Vereinigung von zwei messianischen Strömungen vollzogen - die Vereinigung des Messianismus des Proletariats mit dem des russischen Volkes. Das russische Volk hat sich dabei mit dem Proletariat gleichsam identifiziert, mit dem es in Wirklichkeit keine Verwandtschaft aufweist. (S. 28 f.) Der russische Kommunismus glaubt an das »ex Oriente lux«: das Licht der russischen Revolution soll die bürgerliche Finsternis des Abendlandes erleuchten. Das russische Volk hat die alte Idee von Moskau, dem Dritten Rom nicht erfüllt. Das kaiserliche Rußland war weit davon entfernt, dem Dritten Rom ähnlich zu werden. An Stelle des Dritten Roms hat aber das russische Volk die Dritte Internationale realisiert. In dieser Dritten Internationale vollzog sich die verhängnisvolle Vermählung der russischen nationalen messianischen Idee mit dem internationalen proletarischen Messianismus. (S. 30)
M A X WEBER Aufstand und Freiheitssicherung Gegen Putsch, Sabotage und ähnliche politisch sterile Ausbrüche, wie sie in allen Ländern - bei uns seltener als anderwärts - vorkommen, würde jede, auch die demokratischste und sozialistischste Regierung, das Standrecht anwenden müssen, wenn sie nicht Konsequenzen wie jetzt in Rußland riskieren will [gemeint ist der dortige Bürgerkrieg - M. L.]. Aber: die stolzen Traditionen politisch reifer und der Feigheit unzugänglicher Völker haben sich dann immer und überall darin bewährt: daß sie ihre Nerven und ihren kühlen Kopf behielten, zwar die Gewalt durch Gewalt niederschlugen, dann jedoch rein sachlich die in dem Ausbruch sich äußernden Spannungen zu lösen suchten, vor allem aber sofort die Garantien derfreiheitlichenOrdnung wiederherstellten und in der Art ihrer politischen Entschließungen sich überhaupt durch derartiges nicht beirren ließen. (S. 405) Aus: Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: ders., Gesammelte politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 306-443.
M A X WEBER Aus: Nikolai Berdjajew, Wahrheit und Lüge des Kommunismus, Darmstadt 1953.
Ethisch motivierte politische Gewalt Sachlich, »ohne Ansehen der Person«, »sine ira et studio«, ohne Haß und daher ohne Liebe, verrichtet der bureaukratische Staatsapparat und der ihm eingegliederte rationale homo politicus, ebenso wie der homo oeconomicus, seine Geschäfte einschließlich der Bestrafung des Unrechtes gerade dann, wenn er sie im idealsten Sinne der rationalen Regeln staatlicher Gewalt-
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Ordnung erledigt (...) Denn der gesamte Gang der innerpolitischen Funktionen des Staatsapparates in Rechtspflege und Verwaltung reguliert sich trotz aller »Sozialpolitik« letzten Endes unvermeidlich stets wieder an der sachlichen Pragmatik der Staatsräson; an dem absoluten - für jede universalistische Erlösungsreligion letztlich sinnlos erscheinenden - Selbstzweck der Erhaltung (oder Umgestaltung) der inneren und äußeren Gewaltverteilung. Erst recht galt und gilt dies für die Außenpolitik. Der Appell an die nackte Gewaltsamkeit der Zwangsmittel nach außen nicht nur, sondern auch nach innen ist jedem politischen Verband schlechthin wesentlich. Vielmehr: er ist das, was ihn für unsere Terminologie zum politischen Verband erst macht: der »Staat« ist derjenige Verband, der das Monopol legitimer Gewaltsamkeit in Anspruch nimmt, - anders ist er nicht zu definieren. Dem: »Widersteht nicht dem Übel mit Gewalt« der Bergpredigt setzt er das: »Du sollst dem Recht auch mit Gewalt zum Siege verhelfen, - bei
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eigener Verantwortung für das Unrecht« entgegen. Wo das fehlte, da fehlte der »Staat«: der pazifistische »Anarchismus« wäre ins Leben gerufen. Gewalt und Bedrohung mit Gewalt gebiert aber nach dem unentrinnbaren Pragma alles Handelns unvermeidlich stets erneut Gewaltsamkeit. Die Staatsräson folgt dabei, nach außen wie nach innen, ihren Eigengesetzlichkeiten. Und der Erfolg der Gewalt oder Gewaltandrohung selbst hängt natürlich von den Machtverhältnissen und nicht vom ethischen »Recht« ab, selbst wenn man objektive Kriterien eines solchen überhaupt als auffindbar ansieht. (S. 546 f.) Aus: Max Weber, Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 1920, Nachdruck der 8. Aufl., Tübingen 1988, S. 536-573.
Moderner Revolutionsbegriff: Revolte und Emanzipation HENRY DAVID THOREAU Ziviler Ungehorsam Alle Menschen bekennen sich zum Recht auf Revolution; das heißt zu dem Recht, der Regierung die Gefolgschaft zu verweigern und ihr zu widerstehen, wenn ihre Tyrannei oder ihre Undichtigkeit zu groß und unerträglich wird. Aber fast alle sagen, das sei jetzt nicht der Fall. (S. 11) Es gibt Tausende, die im Prinzip gegen Krieg und Sklaverei sind und die doch praktisch nichts unternehmen, um sie zu beseitigen; die sich auf den Spuren Washingtons und Franklins glauben und zugleich ruhig sitzen bleiben, die Hände in den Taschen, sagen, sie wüßten nicht, was zu tun sei, und eben auch nichts tun; (...) Sie zögern, sie bedauern, und manchmal unterschreiben sie
auch Bittschriften, aber sie tun nichts ernsthaft und wirkungsvoll. Sie warten - wohlsituiert - , daß andere den Übelstand abstellen, damit sie nicht mehr daran Anstoß nehmen müssen. Höchstens geben sie ihre Stimme zur Wahl, das kostet nicht viel, und der Gerechtigkeit geben sie ein schwaches Kopfnicken und die besten Wünsche mit auf den Weg, während sie an ihnen vorübergeht. (S. 13) Der Mensch ist nicht unbedingt verpflichtet, sich der Austilgung des Unrechts zu widmen, und sei es noch so monströs. Er kann sich auch anderen Angelegenheiten mit Anstand widmen; aber zum mindesten ist es seine Pflicht, sich nicht mit dem Unrecht einzulassen, und wenn er schon keinen Gedanken daran wenden will, es doch wenigstens nicht praktisch zu unterstützen. (...)
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Wer nach Grundsätzen handelt, das Recht wahrnimmt und es in Taten umsetzt, verändert die Dinge und Verhältnisse; dies ist das Wesen des Revolutionären, es gibt sich nicht mit vergangenen Zuständen zufrieden. Es trennt nicht nur Staaten und Kirchen, es spaltet Familien. Ja, es spaltet den Einzelmenschen, indem es das Teuflische in ihm von dem Göttlichen scheidet. Es gibt ungerechte Gesetze: sollen wir ihnen befriedigt gehorchen, oder sollen wir es auf uns nehmen, sie zu bessern, und ihnen nur so lange gehorchen, bis wir das erreicht haben, oder sollen wir sie vielleicht sofort übertreten? Die Leute glauben im allgemeinen, unter einer Regierung, wie wir sie jetzt haben, sollten sie warten, bis sie die Mehrheit zu den Änderungen überredet haben. Wenn sie Widerstand leisteten, so glauben sie, wäre die Kur schlimmer als die Krankheit. Aber es ist die Regierung, die allein schuld hat, daß die Kur schlimmer als die Krankheit ist. Sie macht sie schlimmer. Warum tut sie nicht mehr dafür, Reformen vorzusehen und einzuleiten? (...) Es scheint, daß eine bewußte und aktive Verleugnung ihrer Staatsgewalt der einzige Angriff ist, auf den die Regierung nicht gefaßt war; oder warum hat sie dafür keine angemessene Strafe eingeführt? (S. 15 -17) Wenn die Ungerechtigkeit einen Ursprung hat, ein Zahnrad oder einen Übertragungsriemen oder eine Kurbel, wovon sie ausschließlich herstammt, dann kannst du vielleicht erwägen, ob die Kur vielleicht schlimmer wäre als das Übel; wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, daß es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten. Jedenfalls muß ich zusehen, daß ich mich nicht zu dem Unrecht hergebe, das ich verdamme. Was die Auswege angeht, die der Staat angeblich bietet, um das Übel zu heilen, so kenne ich sie nicht. Sie sind zu langwierig, und ein Menschenleben ginge darüber hin. Ich habe schließ-
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lich andere Angelegenheiten, um die ich mich kümmern muß. Ich bin in diese Welt gekommen, um darin zu leben, ob nun schlecht oder recht, aber nicht unbedingt, um sie so zu verbessern, daß man darin gut lebt. Ein Mensch soll nicht alles tun, sondern etwas; und weil er nicht alles tun kann, soll er nicht ausgerechnet etwas Unrechtes tun. Meine Sache ist es nicht, mehr Bittschriften an den Gouverneur oder an die Gesetzgeber zu richten als sie an mich; und wenn sie dann meine Bitten gar nicht anhören wollten, was sollte ich dann tun? Für einen solchen Fall hat der Staat eben keine Abhilfe vorgesehen; der Fehler liegt in der Verfassung selbst. (S. 18) Ich begegne dieser amerikanischen Regierung, oder vielmehr ihrer Vertretung, der Regierung dieses Bundesstaates, einmal im Jahr unmittelbar, Auge in Auge und zwar in der Person des Steuereinnehmers; das ist die einzige Art und Weise, in der jemand in meiner Lage ihr unweigerlich begegnet; und dann sagt sie klar und deutlich: Erkenne mich an. Nun, dann ist die einfachste, wirkungsvollste, und - so wie die Dinge jetzt liegen - unumgänglichste Methode des Verkehrs mit ihr, durch welche ich zugleich auch meine winzige Zuneigung und Liebe für sie ausdrücke: meine Weigerung. (S. 19) Wenn tausend Menschen dieses Jahr keine Steuern bezahlen würden, so wäre das keine brutale und blutige Maßnahem - das wäre es nur, wenn sie sie zahlten und damit dem Staat erlaubten, Brutalitäten zu begehen und Blut zu vergießen. Das erstere ist, was wir unter einer friedlichen Revolution verstehen - soweit sie möglich ist. Wenn nun aber - wie es geschehen ist - der Steuereinnehmer oder irgendein Beamter mich fragt: »Was soll ich aber jetzt tun?«, so ist meine Antwort: »Wenn du wirklich etwas tun willst, dann gib dein Amt auf.« Wenn einmal der Untertan den Gehorsam verweigert und der Beamte sein Amt niedergelegt hat, dann hat die Revolution ihr Ziel erreicht. (S. 21)
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Aus: Henry David Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, in: ders., Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays, hg. von Walter E. Richartz, Zürich 1973, S. 7-35.
NORBERT ELIAS Antagonismus zwischen Zivilisation und Gewalt? Die staatliche Form des Zusammenlebens und die Pazifizierung, die sie mit sich bringt, ist selbst auf Gewalt gegründet. Der Antagonismus von Zivilisation und Gewalt, der auf den ersten Blick als absolut erscheinen konnte, enthüllt sich bei näherem Zusehen als relativ. Was hinter ihm steckt, ist im Grunde der Unterschied zwischen Menschen, die anderen im Namen des Staates, unter dem Schutz der Gesetze Gewalt androhen oder mit Waffen und Muskelkraft zu Leibe gehen, und Menschen, die das gleiche tun ohne die Erlaubnis des Staates und ohne den Schutz der Gesetze. (S. 227 f.) Aus: Norbert Elias, Zivilisation und Gewalt. Über das Staatsmonopol der körperlichen Gewalt und seine Durchbrechungen, in: ders., Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Michael Schröter, Frankfurt/M. 1990, S. 223-270.
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M A X HORKHEIMER Die Unteqochung der Natur Der Mensch teilt im Prozeß seiner Emanzipation das Schicksal der übrigen Welt. Naturbeherrschung schließt Menschenbeherrschung ein. Jedes Subjekt hat nicht nur an der Unteqochung der äußeren Natur, der menschlichen und der nichtmenschlichen, teilzunehmen, sondern muß, um das zu leisten, die Natur in sich selbst unterjochen. Herrschaft wird um der Herrschaft willen »verinnerlicht«. Was gewöhnlich als Ziel bezeichnet wird - das Glück des Individuums, Gesundheit und Reichtum - , gewinnt seine Bedeutung ausschließlich von seiner Möglichkeit, funktional zu werden. Diese Begriffe kennzeichnen günstige Bedingungen fur geistige und materielle Produktion. Deshalb hat die Selbstverleugnung des Individuums in der Industriegesellschaft kein Ziel, das über die Industriegesellschaft hinausgeht. Solcher Verzicht bringt hinsichtlich der Mittel Rationalität und hinsichtlich des menschlichen Daseins Irrationalität hervor (...) Da die Unterjochung der Natur innerhalb und außerhalb des Menschen ohne ein sinnvolles Motiv vonstatten geht, wird Natur nicht wirklich transzendiert oder versöhnt, sondern bloß unterdrückt. Widerstand und Aufbegehren, wie sie aus dieser Unterdrückung der Natur erwachsen, haben die Zivilisation seit ihren Anfängen bestürmt, in Gestalt gesellschaftlicher Rebellionen - wie die spontanen Bauernerhebungen des 16. Jahrhunderts oder die klug inszenierten Rassentumulte unserer Tage - ebenso wie in Gestalt individuellen Verbrechens und der Geistesstörung. Typisch für unsere gegenwärtige Ära ist die Manipulation dieser Revolte durch die herrschenden Kräfte der Zivilisation selbst, die Benutzung der Revolte als eines Mittels der Verewigung eben jener Bedingungen, durch welche sie hervorgerufen wird und gegen die sie sich richtet. (S. 94 f.)
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So läuft die theoretische Leugnung des Antagonismus von Geist und Natur (...) in der Praxis häufig darauf hinaus, sich dem Prinzip der fortwährenden und extremen Herrschaft des Menschen über die Natur zu verschreiben. Die Vernunft als ein natürliches Organ zu betrachten, entkleidet sie nicht der Tendenz zur Herrschaft, stattet sie nicht mit größeren Möglichkeiten zur Versöhnung aus. Im Gegenteil, die Abdankung des Geistes im populären Darwinismus führt zur Ablehnung j eglicher Elemente des Denkens, die über die Anpassungsftinktion hinausgehen und folglich keine Instrumente der Selbsterhaltung sind. Die Vernunft rückt ab von ihrem eigenen Primat und bekennt sich als bloßer Diener der natürlichen Zuchtwahl. Oberflächlich gesehen, scheint diese neue empirische Vernunft bescheidener gegenüber der Natur zu sein als die Vernunft der metaphysischen Tradition. In Wirklichkeit ist es jedoch der anmaßende praktische Verstand, der rücksichtslos über das »nutzlose Geistige« sich hinwegsetzt und jede Ansicht von der Natur aufgibt, in der diese für mehr gehalten wird als für einen Anreiz zu menschlicher Tätigkeit. Die Wirkungen dieser Ansicht sind nicht auf die moderne Philosophie beschränkt. Die Lehren, die die Natur oder den Primitivismus auf Kosten des Geistes erhöhen, begünstigen die Versöhnung mit der Natur nicht; im Gegenteil, sie drücken emphatisch Kälte und Blindheit gegenüber der Natur aus. Immer wenn der Mensch vorsätzlich Natur zu seinem Prinzip macht, regrediert er auf primitive Triebe. (...) Kurzum, wir sind zum Guten oder Schlechten die Erben der Aufklärung und des technischen Fortschritts. Sich ihnen zu widersetzen durch Regression aufprimitive Stufen, mildert die permanente Krise nicht, die sie hervorgebracht haben. Im Gegenteil, solche Auswege führen von historisch vernünftigen zu äußerst barbarischen Formen gesellschaftlicher Herrschaft. Der einzige Weg, der Natur beizustehen, liegt darin, ihr scheinbares Gegenteil zu entfesseln, das unabhängige Denken. (S. 122 f.)
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Aus: Max Horkheimer, Kritik der instrumenteilen Vernunft, übersetzt von Alfred Schmidt, Frankfurt/M. 1967.
HANNAH ARENDT Revolte oder Revolution? Was die Revolutionen wieder in den Vordergrund menschlicher Erfahrungen rückten, war die Erfahrung des In-Freiheit-Handelns (...) Und diese relativ neue Erfahrung, neu jedenfalls für diejenigen, die sie machten, war gleichzeitig die Erfahrung der menschlichen Fähigkeit, etwas Neues anfangen zu können. Beides zusammen: eine neue Erfahrung, in der die menschliche Fähigkeit für Anfangen überhaupt erfahren wurde, bildet die Wurzel für das ungeheure Pathos, mit dem die Amerikanische wie die Französische Revolution darauf bestanden, daß nichts an Größe und Bedeutung Vergleichbares sich je in der gesamten überlieferten Geschichte ereignet habe; (...) Nur wo dieses Pathos des Neubeginns vorherrscht und mit Freiheitsvorstellungen verknüpft ist, haben wir das Recht, von Revolution zu sprechen. Woraus folgt, daß Revolutionen prinzipiell etwas anderes sind als erfolgreiche Aufstände, daß man nicht jeden Staatsstreich zu einer Revolution auffrisieren darf und daß nicht einmal jeder Bürgerkrieg bereits eine Revolution genannt zu werden verdient. (...) Alle diese politischen Phänomene haben mit der Revolution die Gewalttätigkeit gemein, und das ist der Grund, warum sie so oft revolutionär genannt werden. Aber die Kategorie der Gewalt wie die Kategorie des bloßen Wechsels oder Umsturzes ist für eine Beschreibung des Phänomens der Revolution ganz unzulänglich; nur wo durch Wechsel ein Neuanfang sichtbar wird, nur wo Gewalt gebraucht wird, um eine neue Staatsform zu konstituieren, einen neuen politischen Körper
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zu gründen, nur wo der Befreiungskampf gegen den Unterdrücker die Begründung der Freiheit wenigstens mitintendiert, können wir von einer Revolution im eigentlichen Sinne sprechen. (S. 43 f.) Worte, die im Sprachgebrauch der Renaissance geläufig sind, um »revolutionäre« Ereignisse zu bezeichnen, sind »Rebellion« und »Revolte«, und ihre Bedeutung steht bereits im späten Mittelalter sogar definitionsmäßig fest. Sie beinhalten niemals eine revolutionäre Befreiung, und nichts berechtigt uns zu der Annahme, daß in ihnen gar so etwas wie eine Neugründung der Freiheit, eine wirkliche constitutio libertatis, mitschwang. Denn Befreiung im Sinne der Revolutionen meint, daß alle diejenigen, die - nicht nur in der Gegenwart, sondern überhaupt in der überlieferten Geschichte, nicht nur als Einzelne, sondern als Glieder der überwältigenden Mehrheit des Menschengeschlechts - im Stande der Armut und Unterdrückung gelebt hatten, nun plötzlich aus der Finsternis und der Untertänigkeit aufsteigen und selbst die Macht ergreifen sollen. (S. 51) Aus: Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1965.
HANNAH ARENDT Totalitäre Herrschaft erfordert permanente Revolution Die Gefahr für die Bewegung zur Zeit der Machtergreifung bestand darin, daß sie einerseits durch die Übernahme des Staatsapparates »erstarren« und in einer absoluten Staatsform untergehen, und daß sie andererseits durch die Grenzen des Territoriums, in welchem sie offiziell zur Macht gekommen war, in ihrer Bewegungsfreiheit begrenzt werden konnte. Im Sinne der totalitären Bewegung sind beide Gefahren
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gleich tödlich; eine Entwicklung zum Absolutismus würde der Bewegung im Innern ein Ende setzen, und eine Nationalisierung würde die Expansion nach außen, auf die sie angewiesen ist, unmöglich machen. Sobald die totalitären Bewegungen an die Macht kommen, sind sie daher auf das angewiesen, was Trotzki die »permanente Revolution« nannte und worunter er sich nicht mehr vorstellte als eine Serie von Revolutionen, die von einer Klasse zur anderen, von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution, und von einem Land zum anderen, von den hochentwickelten industrialisierten Ländern zu den Kolonialvölkern, sich unwiderstehlich fortsetzt. Für totalitäre Herrschaft ist (...) die Art und Weise [entscheidend], wie Stalin die Trotzkische Theorie benutzte und die permanente Revolution als Herrschaftsform in Rußland etablierte. Dies geschah, indem er die Parteisäuberungen, die ursprünglich als demokratische Kontrollmaßnahmen gegen die Bürokratisierung und Korrumpierung des Parteiapparates gedacht waren, in jene gigantischen »Reinigungswellen« verwandelte, die ab 1934 in periodischen Abständen über dem ganzen Land zusammenschlugen und sich in der Tat wie Revolutionen auswirkten, nur mit dem Unterschied, daß keine wirkliche Revolution, auch nicht die russische, je so ungeheure Opfer an Menschenleben gefordert hat wie die künstliche, permanente Revolution des Stalinregimes. (S. 610 f.) Aus: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1991.
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ALBERT CAMUS Die Revolte des Humanismus und die Revolution Die vollständige Gewaltlosigkeit begründet auf negative Weise die Knechtschaft und ihre Gewalttätigkeit; die systematische Gewalt zerstört positiv die lebendige Gemeinschaft. (...) Ist das Ziel absolut, d.h. geschichtlich gesprochen: glaubt man es gewiß, so kann man soweit gehen, alle anderen zu opfern (...) Rechtfertigt das Ziel die Mittel? Das ist möglich. Doch wer wird das Ziel rechtfertigen? Auf diese Frage, die das geschichtliche Denken offen läßt, antwortet die Revolte: die Mittel. (S. 236 f.) Der Faschismus will die Heraufkunft von Nietzsches Übermenschen betreiben. Er entdeckt alsbald, daß Gott, wenn es ihn gibt, vielleicht dies oder jenes ist, aber zuerst der Herr des Todes. Will der Mensch sich zum Gott aufschwingen, maßt er sich das Recht über Leben und Tod der anderen an (...) Die rationale Revolution will ihrerseits den totalen Menschen von Marx verwirklichen. Sobald die Logik der Geschichte völlig hingenommen wird, führt sie entgegen ihrer höchsten Leidenschaft nach und nach dazu, den Menschen zusehends zu verstümmeln und sich selbst in objektives Verbrechen zu verwandeln (...) Im Gehorsam vor dem Nihilismus hat sich die Revolution in der Tat von ihren in der Revolte liegenden Ursprüngen abgewandt (...) Aber diese äußersten Entartungen schreien gleichzeitig die Sehnsucht nach den ursprünglichen Werten der Revolte hinaus. (S. 200) Wenn wir an den Punkt sind, wo die Revolte an ihren äußersten Widerspruch stößt, indem sie sich selbst verneint, dann ist sie gezwungen, mit der Welt, die sie hervorgerufen hat, unterzugehen oder eine Treue und einen neuen Schwung wiederzufinden. Bevor wir weitergehen, müssen wir diesen Widerspruch aufklären. Er wird nicht ganz bestimmt, wenn man sagt, wie unse-
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re Existentialisten ζ. B. (...) es gäbe einen Fortschritt von der Revolte zur Revolution, und der Revoltierende sei nichts, wenn er nicht Revolutionär sei. Der Widerspruch ist in Wirklichkeit viel verwickelter. Der Revolutionär ist zu gleicher Zeit ein Revoltierender, oder er ist nicht mehr Revolutionär, sondern Polizist und Beamter, der sich gegen die Revolte wendet. Aber wenn er ein Revoltierender ist, wird er sich schließlich gegen die Revolution erheben. Derart, daß es von einer Haltung zur anderen keinen Fortschritt gibt, sondern nur Gleichzeitigkeit und unausgesetzt wachsenden Widerspruch. Jeder Revolutionär endet als Unterdrücker oder als Ketzer. In der rein geschichtlichen Welt, die sie erwählt haben, münden Revolte und Revolution in dasselbe Dilemma ein: entweder Polizist oder Wahnsinn (...) Die absolute Revolution setzte tatsächlich die absolute Formbarkeit der menschlichen Natur voraus, ihre mögliche Rückbildung auf den Stand einer Geschichtskraft. Aber die Revolte ist die Weigerung des Menschen, als Ding behandelt und auf die bloße Geschichte zurückgeführt zu werden. Sie ist die Bekräftigung einer allen Menschen gemeinsamen Natur, die sich der Welt der Macht entzieht. Die Geschichte ist zweifellos eine der Grenzen des Menschen; in diesem Sinn hat der Revolutionär recht. Aber der Mensch setzt in seiner Revolte seinerseits der Geschichte eine Grenze. An dieser Grenze steigt das Versprechen eines Wertes auf. (...) »Ich rebelliere, also sind wir«, sagte der Sklave. Die metaphysische Revolte fügte dann das »Wir sind allein« hinzu, von dem wir noch heute leben. Aber wenn wir allein sind unter einem leeren Himmel, wenn wir für immer sterben müssen, wie können wir dann wirklich sein? Die metaphysische Revolte versuchte dann, das Sein abzuleiten aus dem Erscheinen. Worauf das rein geschichtliche Denken sagte: Sein ist Tun. Wir waren nicht, aber wir mußten mit allen Mitteln sein. Unsere Revolution ist der Versuch, ein neues Sein zu erobern, durch das Tun, außerhalb
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jedes Moralgesetzes. Aus diesem Grund verurteilt sie sich dazu, nur für die Geschichte und im Terror zu leben (...) Genau an diesem Punkt ist die Grenze überschritten, die Revolte zuerst verraten und dann logischerweise erstickt, denn sie hat immer in ihrer reinsten Bewegung nur das Bestehen gerade einer Grenze bestätigt und die Tatsache, daß wir geteilte Wesen sind: sie ist in ihrem Beginn nicht die totale Verneinung alles Seins. Im Gegenteil, sie sagt gleichzeitig ja und nein, sie verwirft einen Teil der Existenz im Namen eines anderen, den sie verherrlicht. (...) Aber die Bejahung einer Grenze, einer Würde und einer den Menschen gemeinsamen Schönheit zieht nur die Notwendigkeit nach sich, diesen Wert auf alle und alles auszudehnen und auf die Einheit zuzugehen, ohne die Ursprünge zu verleugnen. In diesem Sinn rechtfertigt die Revolte in ihrer ursprünglichen Echtheit kein rein geschichtliches Denken. Die Forderung der Revolte ist die Einheit, die Forderung der geschichtlichen Revolution die Totalität. (...) Die eine ist schöpferisch, die andere nihilistisch. Erstere ist dem Erschaffen geweiht, um immer mehr zu sein, letztere ist gezwungen, immer mehr zu produzieren, um immer besser verneinen zu können. Die geschichtliche Revolution ist genötigt, immer zu handeln in der stets enttäuschten Hoffnung, eines Tages zu sein. (...) Um diesem absurden Schicksal zu entgehen, ist die Revolution und wird sie dazu verurteilt sein, auf ihre eigenen Prinzipien: den Nihilismus und den rein geschichtlichen Wert zu verzichten, um die schöpferische Quelle der Revolte wiederzufinden. Um schöpferisch zu sein, kann die Revolution auf ein moralisches oder metaphysisches Gesetz nicht verzichten, das das geschichtliche Delirium ausgleicht. Sie hat zweifellos nur eine berechtigte Verachtung für die formale und mystifizierende Moral übrig, die sie in der bürgerlichen Gesellschaft findet. Aber ihr Wahnwitz war, diese Verachtung auf jede moralische Forderung auszudehnen. (...) Halten wir nur vorher fest, daß dem »Ich rebelliere, also sind wir«,
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dem »Wir sind allein« der metaphysischen Revolte die mit der Geschichte ringende Revolte hinzufügt: statt zu töten und zu sterben, um das Sein hervorzubringen, das wir nicht sind, müssen wir leben und leben lassen, um zu schaffen, was wir sind. (S. 202-204) Aus: Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek bei Hamburg 1969.
FRANTZ FANON Emanzipation von der Gewalt der fremden Zivilisation Die Gewalt, die hinter der Einrichtung der kolonialen Welt steht, die zur Zerstörung der eingeborenen Gesellschaftsformen unermüdlich den Rhythmus schlägt, das ökonomische Bezugssystem, das Erscheinungsbild, die Kleidung ohne Einschränkung zugrunderichtet,wird vom Kolonisierten in dem Moment für sich beansprucht und übernommen werden, da die kolonisierte Masse, entschlossen, zur aktiven Geschichte zu werden, sich auf die verbotenen Städte stürzen wird. Die koloniale Welt in die Luft zu sprengen, das ist von jetzt an ein sehr klares, sehr verständliches Aktionsbild (...) Die Infragestellung der kolonialen Welt durch den Kolonisierten ist keine rationale Konfrontation von Gesichtspunkten. Sie ist keine Abhandlung über das Universale, sondern die wilde Behauptung einer absolut gesetzten Eigenart. Die koloniale Welt ist eine manichäische Welt. (S. 31) In den kolonisierten Gebieten, wo ein wirklicher Befreiungskampf geführt wurde, wo das Blut des Volkes geflossen ist und die Dauer der bewaffneten Phase die Rückkehr der Intellektuellen zur Massenbasis begünstigt hat, wird der ganze Überbau abgerissen, den diese Intellektuellen den kolonialistischen bürgerlichen Kreisen entlehnt hatten. In ihrem narzißtischen Monolog
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hatte nämlich die kolonialistische Bourgeoisie ständnissen Anlaß geben kann. Die Unkultur der mit Hilfe ihrer Universitätslehrer in die Köpfe Neger, die der Kolonialismus proklamierte, die des Kolonisierten die Vorstellung verankert, daß angeborene Barbarei der Araber mußte logisch es »bleibende Werte« gäbe, allen menschlichen zu einer Schwärmerei nicht nur für die nationaIrrtümern zum Trotz. Die »bleibenden Werte« len, sondern auch für die kontinentalen und des Westens, versteht sich. Der Kolonisierte bemerkenswert rassisierten Erscheinungen fühnahm die Berechtigung dieser Ideen hin, und ren. man konnte in einem Winkel seines Gehirns Es stimmt, daß das Verhalten des kolonisiereinen wachsamen Posten entdecken, der sich für ten Intellektuellen manchmal die Aspekte eines die Verteidigung des abendländischen Sockels Kults, einer Religion annimmt. Aber bei einer verantwortlich fühlte. Während des Befreiungs- genauen Analyse dieser Haltung erkennt man kampfes geschieht es jedoch, in einem Moment, leicht, daß sie das Bewußtsein einer Gefahr spieda der Kolonisierte wieder Kontakt zu seinem gelt, die letzte Verbindung zum Volk zu verlieVolk bekommt, da dieser künstliche Wachposten ren. Der offen bekannte Glaube an die Existenz sich in Staub auflöst. Alle abendländischen Wer- einer nationalen Kultur ist im Grunde der leidente, Triumph der Menschenwürde, des Wahren schaftliche, verzweifelte Rückgriff auf irgend und des Schönen, werden zu leb- und farblosen etwas. Um sein Heil zu finden, um der VorherrNippsachen. Alle diese Reden erscheinen als schaft der weißen Kultur zu entgehen, sieht der eine Anhäufung leerer Wörter. Diese Werte, die Kolonisierte sich gezwungen, zu unbekannten die Seele zu adeln schienen, erweisen sich als Wurzeln zurückzukehren und, komme was wolunbrauchbar, weil sie nicht den konkreten le, in diesem barbarischen Volk aufzugehen. Kampf betreffen, in den das Volk eingetreten ist. (S.166) (S. 36) Nachdem er sich jahrelang dem Irrealen, den erstaunlichsten Phänomenen hingegeben hat, geht der Kolonisierte endlich, das Maschinengewehr in der Faust, gegen die einzigen Kräfte vor, die sein Dasein streitig gemacht haben: die des Kolonialismus (...) Wir haben gesehen, daß diese Gewalt während der ganzen Kolonialperiode, obwohl sie sich unter der Haut ansammelt, leerläuft. Wir haben gesehen, wie sie durch die emotionalen Entladungen des Tanzes oder der Besessenheit kanalisiert wird. Wir haben gesehen, wie sie sich in Bruderkämpfen erschöpft. Das Problem ist jetzt, zu begreifen, wie diese Gewalt sich reorientiert. Während sie sich zuvor in Mythen gefiel und Gelegenheiten für einen kollektiven Selbstmord suchte, werden ihr nun neue Bedingungen ermöglichen, die Richtung zu wechseln. (S. 45) Man sieht also, daß das kulturelle Problem, wie es in den kolonisierten Ländern heute manchmal gestellt wird, zu ernsten Mißver-
Aus: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, deutsch von Traugott König, mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre, Frankfurt/M. 1968.
HERBERT MARCUSE Subkultur und Widerstand gegen den Kapitalismus Und doch hängen die radikale Verneinung des Establishments und die Kommunikation des neuen Bewußtseins immer deutlicher von einer eigenen Sprache ab, da alle Kommunikation von der eindimensionalen Gesellschaft monopolisiert und für gültig befunden wird. Sicherlich war die Sprache der Verneinung ihrem »Material« nach immer die gleiche wie die Sprache der Affirmation: die sprachliche Kontinuität bestä-
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tigt sich nach jeder Revolution aufs neue (...) Indes fand die Sprache der Anklage und Befreiung in der Vergangenheit, obgleich sie ihr Vokabular mit den Herren und deren Wortführern teilte, ihre eigene Bedeutung und Gültigkeit in den tatsächlichen revolutionären Kämpfen, die schließlich die etablierten Gesellschaften umgestalteten. Das gängige (und mißbrauchte) Vokabular der Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit konnte auf diese Weise nicht nur einen neuen Sinn, sondern auch eine neue Wirklichkeit erlangen (...) Heute ist der Bruch mit dem sprachlichen Universum des Establishment radikaler: in den militantesten Formen des Protestes steigert er sich bis zu einer methodischen Umkehrung der Bedeutung. Es ist ein bekanntes Phänomen, daß subkulturelle Gruppen ihre eigene Sprache entwickeln, indem sie die harmlosen Ausdrücke der Alltagskommunikation aus ihrem Kontext lösen und sie zur Bezeichnung von Objekten oder Tätigkeiten gebrauchen, die vom Establishment tabuiert sind. (...) Eine weitaus subversivere Sprachstruktur meldet sich jedoch in der Redeweise der »black militant« an. Hier liegt eine systematische sprachliche Rebellion vor, die den ideologischen Zusammenhang, in dem die Wörter angewandt und definiert werden, zertrümmert und sie in den entgegengesetzten Kontext rückt - als Negation des etablierten (...) Beispielsweise wurde »soul« ( . . . ) - der traditionelle Sitz all dessen, was im Menschen wirklich menschlich, fundamental, unsterblich ist - das Wort, das im etablierten sprachlichen Universum peinlich, kitschig und falsch geworden war, entsublimiert und ist in dieser Transsubstantiation in die Negerkultur eingegangen: die Neger sind »soul brothers«; die Seele ist schwarz, gewaltsam und orgiastisch (...) Auf ähnliche Weise bestimmt die kämpferische Losung »black is beautiful« einen anderen Hauptbegriff der traditionellen Kultur dadurch neu, daß sie seinen symbolischen Wert umkehrt und ihn mit der Gegen-Farbe, mit Dunkelheit, tabuierter
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Magie, dem Moment des Unheimlichen verknüpft. Der Einbruch des Ästhetischen ins Politische erscheint auch am anderen Pol der Rebellion gegen die Gesellschaft des ÜberflußKapitalismus, bei den nonkonformistischen Jugendlichen (...). Diese politischen Bekundungen einer neuen Sensibilität zeigen die Tiefe der Rebellion, des Bruchs mit dem Kontinuum von Unterdrückung. Sie zeugen von der Kraft der Gesellschaft, die gesamte Erfahrung, den ganzen Stoffwechsel zwischen dem Organismus und seiner Umwelt zu prägen. Jenseits des physiologischen Bereichs entwickeln sich die Erfordernisse der Sensibilität als geschichtliche: die Objekte, die den Sinnen gegenüberstehen, von denen sie wahrgenommen werden, sind Produkte einer spezifischen Zivilisationsstufe und Gesellschaft, und die Sinne wiederum sind auf ihre Objekte hingeordnet. Diese historische Wechselbeziehung beeinflußt selbst die primären Sinneseindrücke: allen ihren Mitgliedern erlegt eine etablierte Gesellschaft dasselbe Medium der Wahrnehmung auf; und durch alle Unterschiede individueller und klassenmäßiger Perspektiven, Horizonte und Hintergründe hindurch liefert die Gesellschaft dieselbe allgemeine Erfahrungswelt. Folglich würde der Bruch mit dem Kontinuum von Aggression und Ausbeutung auch mit der Sinnlichkeit brechen, die auf diese Welt eingestellt ist. (...) Die heutigen Rebellen wollen neue Dinge in einer neuen Weise sehen, hören und fühlen; sie verbinden Befreiung mit dem Auflösen der gewöhnlichen und geregelten Art des Wahrnehmens. (...) [D]ie Revolution muß gleichzeitig eine Revolution der Wahrnehmung sein, welche den materiellen und geistigen Umbau der Gesellschaft begleitet und die neue Umwelt hervorbringt. (S. 270-272) Aus: Herbert Marcuse, Einbruch des Ästhetischen in das Politische in der Kulturrebellion der Jugend, in: ders., Versuch über die Befreiung, in: ders., Schriften, Bd. VIII, Frankfurt/M. 1984.
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MICHEL FOUCAULT Gegen die Repressionshypothese Besonders gegenüber dem Begriff der Unterdrückung bin ich immer mißtrauisch gewesen: gerade im Zusammenhang mit den Genealogien, von denen ich soeben sprach, im Zusammenhang mit der Geschichte des Strafrechts, der Macht der Psychatrie, der Kontrolle der kindlichen Sexualität usw. habe ich Ihnen zu zeigen versucht, daß die Mechanismen, die in diesen Machtformationen wirksam sind, etwas ganz anderes als Unterdrückung, jedenfalls sehr viel mehr als Unterdrückung sind. Die Notwendigkeit, den Begriff der Unterdrückung stärker zu reflektieren, entsteht also daraus, daß ich den Eindruck habe, daß er, der heute so geläufig zur Beschreibung der Machtmechanismen und -Wirkungen verwendet wird für ihre Analyse völlig unzureichend ist. (S.74) Aus: Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978.
WALT WHITMAN ROSTOW Revolution und säkulare Stagnation Das Argument dieses Buches war bisher, daß, als der Mensch die Abhängigkeit seiner physischen Umwelt von erkennbaren, konsistenten Gesetzen erkannte, er auch begann, diese zu seinem wirtschaftlichen Vorteil zu nutzen; und nachdem es erwiesen war, daß ein Wachstum möglich ist, hoben die Folgen dieses Wachstums und der Modernisierung, insbesondere die militärischen Folgen, eine traditionelle Gesellschaft nach der anderen aus den Angeln, stellten sie in die tückische Anlaufperiode, aus denen die meisten, aber doch nicht alle Gesellschaften der Welt nunmehr
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herausgetreten sind und führten sie in eine Periode des stetigen Wachstums durch den Aufstiegsmechanismus (...) Die Revolution hat keinen bestimmten Weg der Entwicklung hervorgebracht, dem sich jede Gesellschaft anzuschließen hat; aber aufjeder Stufe wurden jeder Gesellschaft ähnliche Wahlmöglichkeiten gegeben, die durch die Probleme und Möglichkeiten des Wachstumsprozesses vorgegeben waren (...) Lassen wir einmal den Rüstungswettlauf und die Kriegsdrohungen außer acht und fragen uns, was kommt nach dem Massenkonsum? Was wird mit den Gesellschaften geschehen, wenn das Einkommen praktisch allen erlaubt, sich so gute Nahrungsmittel zu kaufen, daß gerade wegen ihrer Güte neue Gesundheitsprobleme auftreten; (...) Wird der Mensch in eine säkulare geistige Stagnation verfallen, ohne eine ihm angemessene Möglichkeit fur den Einsatz seiner Tatkraft, seiner Fähigkeiten und für sein Streben nach Unsterblichkeit zu finden? (...) Werden die Menschen lernen, Kriege zu führen mit gerade soviel Gewalt, daß es wie ein guter Sport aussieht, und werden sie lernen, den Kapitalverschleiß zu beschleunigen, ohne den Planeten in die Luft zu sprengen? Wird die Erforschung des Weltenraums ein gleichermaßen interessantes und kostspieliges Ziel für den Einsatz ihrer Mittel und ihres Ehrgeizes bieten? Oder werden sich die Menschen einer der heutigen Zeit angepaßten Version der Ideale eines Landedelmannes des 18. Jahrhunderts zuwenden (...)? (...) Salvadore de Madariaga hat kürzlich diese Frage aufgeworfen (...):»(...) Gut regierte Menschen langweilen sich zu Tode.« (S. 112 -115) Aus: Walt Whitman Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, mit einem Geleitwort von Waither G. Hoffmann, übersetzt von Elisabeth Müller, Göttingen 1967.
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CHALMERS JOHNSON Revolutionärer Wandel Der Schlüssel zum Studium und zur begrifflichen Erfassung der revolutionären Gewalt liegt in der Analyse des sozialen Systems. Wenn wir den Begriff des sozialen Systems benutzen, können wir unterscheiden zwischen denjenigen Fällen der Gewaltanwendung innerhalb des Systems, die revolutionär sind, und jenen, die kriminelle oder andere Formen gewaltsamen Verhaltens darstellen. Wenn wir uns auf Fälle von zielgerichteter politischer Gewalt konzentrieren, können wir das soziale System auch als Bezugspunkt benutzen, um zwischen jenen Formen der Gewalt zu unterscheiden, die als Krieg und als Revolution bekannt sind. Revolution ist eine Form intrasystemischer Gewalt, Krieg eine Form intersystemischer Gewalt. Mit Hilfe der System-Analyse können wir auch diejenigen Fälle von zielgerichteter politischer Gewalt isolieren und vergleichen, die weder Kriege noch Revolutionen sind. Ein irreduzibles Merkmal eines sozialen Systems ist die Tatsache, daß seine Mitglieder eine gemeinsame Wertstruktur besitzen. Eine Wertstruktur legitimiert symbolisch die besondere Struktur der Interaktion und Schichtung der Mitglieder eines sozialen Systems, das heißt, sie macht sie moralisch akzeptabel. (S. 27 f.) Revolution machen, heißt Gewalt zum Zwecke der Veränderung des Systems akzeptieren; genauer bedeutet es: absichtliche Anwendung einer Strategie der Gewalt mit dem Ziel, einen Wandel in der Sozialstruktur herbeizuführen. Revolution entwickelt sich zum Teil auch deshalb, weil einige Menschen Ziele haben, die denen der Revolutionäre im Hinblick auf Wünschbarkeit, Ausmaß und Richtung des Wandels entgegengesetzt sind. Derartiger Widerstreit der Ziele in bezug auf Strukturwandel kommt jedoch nicht vor in einem System, das sich in homöostatischen Gleichgewicht befindet. Er
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erhebt sich nur im dysfünktionalen sozialen System, dessen Werte nicht mit seiner Arbeitsteilung synchronisiert sind. Die Unterscheidung zwischen Veränderungen, die gewohnheitsmäßig vorgenommen werden, um ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, und Veränderungen, die vorgenommen werden, um ein Gleichgewicht neu zu schaffen, liefert den Schlüssel zu einer grundlegenden Typologie des sozialen Wandels. Die Basis der Typologie ist der Faktor des absichtlichen Wandels der Sozialstruktur. Eine Art von Wandel, die einzige, die mit homöostatischem Gleichgewicht vereinbar ist, ist »evolutionärer« Wandel. Derartige evolutionäre Veränderungen werden von den Handelnden in Systemen bewirkt, aber die Handelnden haben dabei nicht die Absicht, Strukturwandel herbeizuführen, sei er evolutionär oder sonstwie beschaffen. Wenn unter diesen Umständen Strukturwandel eintritt, ist er eine unbeabsichtigte Folge von Handlungen, die zu anderen Zwecken unternommen wurden. Unbeabsichtigte, evolutionäre Veränderungen bilden somit eine Klasse von Strukturveränderungen, und Veränderungen dieser Klasse sind die einzigen, die eintreten können, ohne das Gleichgewicht eines Systems zu stören. Die andere Hauptklasse von Veränderungen umfaßt die Resultate bewußter, von Handelnden innerhalb des Systems verfolgter Politik des Strukturwandels (einschließlich möglicher unbeabsichtigter Resultate einer bewußten Politik des Strukturwandels). Diese zweite Klasse von Veränderungen läßt sich in zwei Typen unterteilen: 1) »konservativer« Wandel, der zwei Zwecken dient: der Strukturveränderung und der Vermeidung von Gewalt; 2) »aufrührerischer« Wandel, der nur dem Zwecke des Wandels selbst dient. (S.74f.) Unserer Meinung nach gibt es für jede Revolution zwei Gruppen notwendiger, indirekter Ursachen, die sich gegenseitig beeinflussen. Das sind einmal die Drücke, die ein ungleichgewichtiges soziales System erzeugt - eine Gesell-
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schaft, die sich wandelt und noch mehr Wandel braucht, wenn sie fortbestehen soll. Von allen Merkmalen des ungleichgewichtigen Systems trägt eines am unmittelbarsten zur Revolution bei: die Machtdeflation, d.h. die Tatsache, daß in einer Periode des Wandels die Integration eines Systems zunehmend davon abhängt, daß die Inhaber des formalen Autoritäts-Status Gewalt einsetzen. Die zweite Gruppe notwendiger Ursachen ist verbunden mit der Qualität des Wandels, der planmäßig ins Werk gesetzt wird, während sich ein System außer Gleichgewicht befindet. Diese Qualität hängt ab von den Fähigkeiten der legitimen Führer. Sind sie unfähig, mit ihrer Politik das Vertrauen nicht-abweichender Handelnder zum System und zu dessen Fähigkeit zur Resynchronisierung lebendig zu erhalten, so kommt es zum Autoritätsverlust. Das bedeutet, daß Gewaltanwendung seitens der Elite nicht mehr als legitim angesehen wird; es bedeutet nicht notwendig, daß sofort eine Revolution ausbricht. Solange die Führer noch in der Lage sind, mit Hilfe der bewaffneten Kräfte soziale Interaktionen zu erzwingen, wird das System fortbestehen. (...) Die unmittelbare, zureichende Ursache einer Revolution ist irgendeine - gewöhnlich vom Zufall gelieferte - Zutat, die entweder die Elite ihrer Hauptwaffe zur Durchsetzung sozialen Verhaltens beraubt (z.B. eine Meuterei des Militärs) oder die eine Gruppe von Revolutionären veranlaßt zu glauben, sie besitze die Mittel, die Elite ihrer Zwangswaffen zu berauben. In der vorliegenden Studie sollen solche unmittelbaren Ursachen der Revolution »Auslöser« genannt werden. Es sind dies Drücke, die funktionale Gesellschaften meist ohne weiteres aushalten; wirken sie aber auf eine Gesellschaft ein, die eine Machtdeflation und einen Autoritätsverlust durchmacht, so katalysieren sie diese alsbald in den Aufstand hinein. Das sind auch die Faktoren, die wenn es zum Aufstand kommt, darüber entscheiden, ob es den Revolutionären gelingt,
neue Autoritäts-Status aufzustellen und zu besetzen. (S. 110 f.) Bisher haben wir die Revolution vom makroskopischen oder systemischen Standpunkt analysiert; das heißt, wir haben die Motive und die Persönlichkeitsveränderungen der Teilnehmer an einer Revolution unberücksichtigt gelassen. Unsere Aufmerksamkeit galt ausschließlich verschiedenen Konfigurationen des Systems und dem Fehlfunktionieren gewisser wesentlicher Prozesse, die, wenn sie zusammenfallen, zur Revolution fuhren. Aus dieser Analyse ergab sich das Prinzip: Machtdeflation plus Autoritätsverlust plus ein Auslöser erzeugen Revolution. (S. 126) Aus: Chalmers Johnson, Revolutionstheorie, Köln/Berlin 1971.
TALCOTT PARSONS/ GERALD M . PLATT Revolutionärer Strukturwandel der modernen Gesellschaft Was wir als moderne Gesellschaft bezeichnen, nahm im siebzehnten Jahrhundert Gestalt an, und zwar in der nordwestlichen Ecke des europäischen Systems von Gesellschaften, in Großbritannien, Holland und Frankreich. Die nachfolgende Entwicklung der modernen Gesellschaft umfaßte drei Prozesse revolutionären Strukturwandels: die industrielle Revolution, die demokratische Revolution und die Revolution des Bildungswesens. Die drei Umwälzungen waren nicht im selben Maße von politischer Gewalt begleitet. (S. 11) Auf die Revolution des Bildungswesens müssen wir ausführlicher eingehen. Sie hat die Unwissenheit verringert und die Fähigkeit des einzelnen wie auch der Gesellschaft entwickelt, Wissen im Interesse der Verwirklichung mensch-
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licher Ziele und Werte zu nutzen. Wissen entspricht auf der kulturellen Ebene dem, was auf der Ebene der gesellschaftlichen Organisation die ökonomischen Ressourcen sind. Wissen erhöht die Fähigkeit zu rationalem Handeln. Trotz verbreiteter Bedenken wegen der Kosten dieser Fortschritte, etwa der unterstellten Beeinträchtigung der nichtrationalen oder expressiven Aspekte menschlichen Seins, werden wir die Auffassung vertreten, daß der Einfluß der Bildungsrevolution per saldo als konstruktiv zu bewerten ist. Die moderne Universität ist - insbesondere in ihrer amerikanischen Ausprägung - der augenblickliche Gipfelpunkt dieser Revolution. Sie ist zur fuhrenden Komponente in einem umfassenden Wandlungsprozeß geworden, der die moderne Gesellschaft auf zahlreichen Ebenen durchdringt. (S. 13 f.)
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plexe Reihe von Stufen des Sozialisationsprozesses vermittelt ist. In zunehmendem Maße ergeben sich Chancen für die relativ Benachteiligten, durch Auslese, die ungewöhnlich stark durch universalistische Normen reguliert wird, zum Erfolg zu kommen. (...) Die Bildungsrevolution hat gegenwärtig tiefgreifende und wachsende Auswirkungen auf die Berufsstruktur der Gesellschaft, besonders in die Richtung der allgemeinen Standardhebung. Die zunehmende Wichtigkeit der »Berufsstände« [professions] ist besonders bezeichnend. (S. 123 f.) Aus: Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, München 1972.
GABRIEL ALMOND Aus: Talcott Parsons/Gerald Μ. Platt, Die amerikanische Universität. Ein Beitrag zur Soziologie der Erkenntnis, Frankfurt/M. 1990.
Politische Systeme und politischer Wandel
Unter politischem Wandel verstehen wir, daß ein politisches System Kapazitäten entwickelt hat, die es vorher nicht besaß. (...) Wir bezeichnen jede dieser Wandlungen als »Systemwandel«, weil mit der Erlangung neuer Kapazitäten funTALCOTT PARSONS damentale Veränderungen der politischen KulDie Bildungsrevolution tur und Struktur zusammenhängen. Mit der Integrationskapazität entwickelt sich ein Gefühl der nationalen Identität; zugleich entsteht eine speDas 20. Jahrhundert eröffnete eine neue Phase im zialisierte Zentralbürokratie. Die Entwicklung Übergang von einer Schichtung auf der Grundder internationalen Anpassungskapazität geht lage erblicher Zuweisung zu einer Schichtung, in zusammen mit der Entwicklung einer offeneren, der die Zuweisung keinerlei Rolle mehr spielt. Der Kern der neuen Phase ist die Bildungsrevo- kosmopolitischen Kultur, die reguläre Auslution, die in gewissem Sinn die Themen der tauschprozesse über die nationalen Grenzen hinindustriellen und der demokratischen Revoluti- weg ermöglicht; zugleich erfordern auswärtige on, Chancengleichheit und Gleichheit als Bür- Dienststellen, Diplomaten und Streitkräfte eine ger, miteinander verbindet. Es wird nicht länger Erweiterung der Bürokratie. Die Entwicklung angenommen, der einzelne könne aufgrund sei- der Beteiligungskapazität wird von der Entner »angeborenen Fähigkeiten« direkt durch die wicklung und Ausbreitung einer politischen Marktkonkurrenz zu einem ihm gerechten Stand Kultur begleitet, in der die Bürgerrechte und gelangen. Stattdessen wird eingesehen, daß eine Bürgerpflichten fixiert sind; zugleich entwiSchichtung nach Fähigkeiten durch eine kom- ckeln sich die verschiedenen Komponenten
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einer demokratischen Infrastruktur: politische Parteien, Interessenverbände und Kommunikationsmedien. Die Entwicklung der Umverteilungskapazität wird begleitet von der Entwicklung und umfassenden Ausbreitung einer »Wohlfahrtskultur«; von weiteren bürokratischen Veränderungen; und von der Entstehung von Anpassungsmechanismen, die zwischen politischer Struktur und politischen Prozessen auf der einen und Sozialstruktur und gesellschaftlichen Prozessen auf der anderen Seite vermitteln. (S. 216 f.) Aus: Gabriel Almond, Politische Systeme und politischer Wandel, in: Wolfgang Zapf, Hg., Theorien des Wandels, 3. Aufl., Köln und Berlin 1971, S. 211 -227.
JÜRGEN HABERMAS Die kulturalistische Wendung der Problemstellung Nun konstituiert sich die Lebenswelt stets in Form eines von den Angehörigen intersubjektiv geteilten Globalwissens; so könnte das gesuchte Äquivalent zu den nicht mehr verfügbaren Ideologien einfach darin bestehen, daß das in totalisierter Form auftretende Alltagswissen diffus bleibt, jedenfalls das Artikulationsniveau gar nicht erst erreicht, auf dem Wissen nach Maßstäben der kulturellen Moderne allein als gültig akzeptiert werden kann. Das Alltagsbewußtsein wird seiner synthetisierenden Kraft beraubt, es wirdfragmentiert. (...) Das Alltagsbewußtsein sieht sich an Traditionen verwiesen, die in ihrem Geltungsanspruch bereits suspendiert sind, und bleibt doch, wo es sich dem Bannkreis des Traditionalismus entzieht, hoffnungslos zersplittert. An die Stelle des »falschen« tritt heute dasfragmentierte Bewußtsein, das der Aufklärung über den Mechanismus
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der Verdinglichung vorbeugt. Erst damit sind die Bedingungen einer Kolonialisierung der Lebenswelt erfüllt: die Imperative der verselbständigten Subsysteme dringen, sobald sie ihres ideologischen Schleiers entkleidet sind, von außen in die Lebenswelt - wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft - ein und erzwingen die Assimilation; aber die zerstreuten Perspektiven der heimischen Kultur lassen sich nicht soweit koordinieren, daß das Spiel der Metropolen und des Weltmarktes von der Peripherie her durchschaut werden könnte. Die in System/Lebenswelt-Begriffen reformulierte Theorie der spätkapitalistischen Verdinglichung bedarf also der Ergänzung durch eine Analyse der kulturellen Moderne, die den Platz einer überholten Theorie des Klassenbewußtseins einnimmt. Statt der Ideologiekritik zu dienen, hätte sie die kulturelle Verarmung und die Fragmentierung des Alltagsbewußtseins zu erklären; statt den verwehten Spuren eines revolutionären Bewußtseins nachzujagen, hätte sie die Bedingungen für eine Rückkoppelung der rationalisierten Kultur mit einer auf vitale Überlieferungen angewiesenen Alltagskommunikation zu untersuchen. (S. 521 f.) Aus: Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der fiinktionalistischen Vernunft, Frankfurt/M. 1981.
SHMUEL N . EISENSTADT Die Transformation der Gesellschaft Dieser Ansatz basiert auf einigen Annahmen, deren wichtigste besagt, daß die Kombination von Komponenten sozialen Handelns, wie sie im Begriff der reinen Revolution impliziert sind, einen spezifischen Prozeß darstellt, in dem sozialer Wandel und gesellschaftliche Transfor-
Politisches Agieren und Akteure der Politik
mation stattfinden. (...) Mit anderen Worten, während sozialer Konflikt, Heterodoxie, Rebellion, Wandel und Transformation Immanenzen menschlicher Gesellschaften sind, ist die spezifische Konstellation von Elementen, wie sie die Vorstellung von der echten Revolution impliziert, nicht der einzig natürliche Weg »wirklichen« Wandels - in traditionalen ebensowenig wie in modernen Gesellschaftssystemen - , sondern eben nur einer von verschiedenen möglichen Wegen. (S. 27 f.) Die bisherige Argumentation läßt sich etwa wie folgt zusammenfassen: Die Existenz von Potential für Spannungen, Konflikte und Widersprüche in der menschlichen Gesellschaft hat mehrere Ursachen. So basiert erstens die Konstruktion jeder konkreten sozialen Ordnung auf der Auswahl und Heraushebung bestimmter kultureller Orientierungen bei gleichzeitiger Zurückdrängung oder Unterdrückung anderer. Die Mitglieder der Gesellschaft sind sich dieses Prozesses bis zu einem bestimmten Grade bewußt und versuchen, ihn wenigstens zum Teil zu überwinden. Zweitens verbindet sich der Prozeß von Auswahl und Ausschluß, den die Institutionalisierung der sozialen und kulturellen Ordnung mit sich bringt, engstens (wiewohl er nicht notwendig damit identisch ist) mit den Erfordernissen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und mit der Aufrechterhaltung der Verteilung von Macht und Reichtum und den daraus folgenden Ungleichheiten. Damit erzeugt dieser Selektionsprozeß ein Potential für Entfremdung und Dissens in der Gesellschaft; als Folge bilden sich eine grundsätzliche Protesthaltung und konkrete Protestinhalte ebenso heraus wie Protestbewegungen, Rebellion und Konflikt. Ein Protestmotiv resultiert aus der Spannung zwischen der Komplexität und der gleichzeitigen Fragmentierung der menschlichen Beziehungen, wie die institutionelle Arbeitsteilung sie impliziert, einerseits, und der Möglichkeit einer totalen, bedingungslosen, unmittelbaren Partizipation an der sozialen und kulturellen Ordnung
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andererseits. Ein weitverbreitetes Protestthema ist deshalb die Aufhebung der Arbeitsteilung und ihre Ersetzung durch das Ideal der Gemeinschaft, der direkten, unmittelbaren Partizipation. Ein ähnliches Motiv geht auf die Spannung zurück, die in der Zeitdimension der menschlichen und sozialen Natur begründet ist - aufgeschobene gegenüber unverzüglicher Gratifikation. Protest konzentriert sich deshalb häufig auf Gratifikationsmuster und die Allokation von Belohnungen in dem Versuch, Spontaneität und Disziplin miteinander in Einklang zu bringen und die Spannung zwischen dem inneren Selbst und der Sozialperson zu überwinden. Proteste intendieren auch die Auflösung der Spannung zwischen Produktion und Distribution; diese beiden Seiten des ökonomischen Lebens sollen in einer Vision der Fülle, des Überflusses miteinander verschmelzen. Bei anderen Protesten geht es darum, die Kluft zwischen der Realität des institutionellen Lebens und dem Modell von der idealen Gesellschaft mit ihren Prinzipien der ausgleichenden Gerechtigkeit zu verringern, die Ungleichheit in der Machtverteilung zu vermindern und dem inneren Selbst in der sozialen und kulturellen Ordnung zu seinem vollen Ausdruck zu verhelfen.(...) In den meisten Gesellschaften sind Protestinhalte und Symbole persönlicher Identität, die physischen Merkmalen, körperlicher Autonomie und der Spontaneität körperlicher Äußerungen und Gesten gelten, eng miteinander gekoppelt: Freiheit in sexuellen Beziehungen, Freiheit des emotionalen Ausdrucks und Freiheit von Zwängen, die sich auf Unterschiede in Alter und Geschlecht berufen. Die Protestinhalte, die sich in den einzelnen Gesellschaften herausbilden, tendieren dazu, vor allem jene Kodes und Orientierungen anzugreifen, die am stärksten institutionalisiert sind. Wenn also eine Gesellschaft streng rational ist, dann wird der Protest eher mystische und gefühlige Bestrebungen begünstigen.
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Mit den Protestinhalten stellen sich in jeder Gesellschaft viele und vielfältige Veränderungsprozesse ein. Veränderungen in den Beziehungen zwischen Untergruppen haben im allgemeinen eine ganze Skala von sozialen Bewegungen zur Folge - Rebellionen, Heterodoxiebestrebungen, millenarische Visionen und ähnliches, aber auch zentralere politische Konflikte und Kämpfe die den verschiedenen Protestthemen einen konkreten Ausdruck verleihen. (...) Solche Konflikte, die Systemveränderungen hervorrufen können, entwickeln sich gewöhnlich in einer institutionellen Ordnung, in der Spannungen zwischen den Gruppen das Gefüge und die Koalitionen zu unterminieren beginnen, die die Grundregeln des Systems und ihre institutionellen Derivate tragen. Die Aushöhlung der Grundregeln und ihrer Derivate kann die Zentren der Systems oder der Ordnung mit neuen Forderungen konfrontieren, Forderungen zum Beispiel nach konkreten Vergünstigungen, nach neuen Prinzipien der Machtverteilung und des Zugangs zu den Zentren, nach neuen Mustern der Partizipation an der Gemeinschaft oder nach Mitbestimmung bezüglich ihrer Grenzen und der Kriterien für Zugehörigkeit. Zu Systemveränderungen kann es auch kommen, wenn der Strom der Ressourcen, die den Fortbestand der institutionellen Derivate der Grundregeln sozialer Interaktion gewährleisten, unterbrochen wird, oder wenn die Kontrollpositionen und das Institutionengefüge, das diese Derivate strukturiert, in Zweifel gezogen werden. (...) Darüber hinaus können Systemveränderungen auch einer direkten Konfrontation zwischen Amtseliten und Verfechtern alternativer Grundregeln erwachsen, wenn zum Beispiel ideologische oder religiöse Gruppierungen oder andere institutionelle Unternehmer neue Sozialordnungsmodelle vorlegen und für neue Sozialkodes eintreten. Wenn verschiedene Eliten um die Ausübimg von und die Kontrolle über wichtige gesellschaftliche Funktionen, wie die Zentren sie jederzeit zu vergeben haben, konkurrieren
und wenn die Eliten die Koalitionen unterminieren, die die geltenden Grundregeln tragen, dann kommt es zu Systemveränderungen. (S. 57 - 60) Aus: Shmuel N. Eisenstadt, Revolution und die Transformation von Gesellschaft. Eine vergleichende Untersuchung verschiedener Kulturen, Opladen 1982.
MICHAEL WALZER Der biblische Exodus als Paradigma revolutionärer Politik Ich will deutlich machen, daß es sich beim politischen Gebrauch des Textes nicht um Entweihungen, nicht um Erfindungen handelte, jedenfalls nicht um bloße Erfindungen: Der Exodus, wie wir ihn aus dem Text kennen, ist auch im politischen Sinne plausiblerweise als Befreiung und Revolution verstanden worden - obwohl er, im selben Text, auch als Akt Gottes erscheint. (...) Ich werde ihr Aufmerksamkeit schenken und den Exodus als ein Paradigma revolutionärer Politik vorstellen. (...) Der Exodus ist eine Geschichte, eine große Geschichte, die sich in das kulturelle Bewußtsein des Westens einfügte, so daß eine ganze Reihe politischer Ereignisse (verschiedene Ereignisse, aber eine ganz bestimmte Reihe) im Rahmen dieser Erzählung angesiedelt und verstanden werden konnte. (S. 16 f.) Die Israeliten wandern in der Wüste nicht umher, wie man manchmal hört, sondern der Exodus ist eine nach vorn gerichtete Reise nicht nur in Zeit und Raum. Er ist ein Marsch auf ein Ziel zu, ein moralischer Fortschritt, eine tiefgreifende Verwandlung. Die Männer und Frauen, die Kanaan erreichen, sind, im buchstäblichen und übertragenen Sinne, nicht mehr dieselben Männer und Frauen, die Ägypten verließen. Das Thema des Marsches sind die »Kin-
Politisches Agieren und Akteure der Politik
der Israels«, eine Wendung, die zum erstenmal im ersten Kapitel des Buches Exodus benutzt wird. (...) Das Buch Exodus ist im Gegensatz dazu [zur Genesis] die Geschichte eines Volkes, also nicht nur eine Erzählung, sondern Geschichte. (...) dies ist eine politische Geschichte: über Sklaverei und Freiheit, Gesetz und Rebellion. Wie die Wanderung, die sie beschreibt, hat auch die Geschichte ein Ziel. (...) Als politische Geschichte mit einer stark linearen Ausrichtung, einer starken Vorwärtsbewegung verleiht der Exodus jüdischen Zeitauffassungen permanente Gestalt, und er dient schließlich auch als Vorbild für nichtjüdische Begriffe. Wir können den Exodus als zielgerichtete Bewegung, als die entscheidende Alternative zu allen mythischen Vorstellungen von ewiger Wiederkehr begreifen - und folglich zu jenem zyklischen Verständnis politischen Wandels, von dem sich unser Wort »Revolution« ableitet. (S. 21 f.) Der Exodus mag oder mag nicht das gewesen sein, wofür viele seiner Kommentatoren ihn hielten: die erste Revolution. Aber das Buch Exodus (zusammen mit dem Buch Numeri) ist unzweifelhaft die erste Beschreibung revolutionärer Politik. Der Exodus - oder spätere Interpretationen des Exodus - legt das Muster fest. Und dadurch, daß die Bibel im westlichen Gedankengut eine zentrale Rolle spielt und die Geschichte endlos wiederholt wurde, hat sich das Muster tief in unsere politische Kultur eingegraben. Nicht genug damit, daß Ereignisse sich fast spontan in eine Exodus-Gestalt fügen, sondern wir tragen auch aktiv dazu bei, ihnen diese Gestalt zu verleihen. Wir klagen über Unterdrückung; wir hoffen (gegen jede historische Erfahrung der Menschheit) auf Befreiung; wir schließen uns in Bünden und Verfassungen zusammen; wir streben nach einer neuen und besseren Gesellschaftsordnung. Das ExodusDenken scheint, wenn auch in abgeschwächter Form, die Säkularisierung der politischen Theorie überlebt zu haben. (S. 141 f.)
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Aus: Michael Walzer, Exodus und Revolution, Berlin 1988.
MICHAEL WALZER Regeln gegen Gewalt und Regeln gegen Unterdrückung Ist es möglich, zwischen diesen beiden Sorten von Regeln - den Regeln gegen Gewalt und den Regeln gegen Unterdrückung - eine sinnvolle Unterscheidung zu treffen? Beide haben dieselbe sprachliche Form. Jede der beiden greift auf die andere über, und es wird immer eine beträchtliche Überschneidung zwischen ihnen geben. Der Minimalcode ist für die Entwicklung substantieller gesellschaftlicher Werte relevant und spielt vermutlich eine Rolle bei dieser Entwicklung; und der Minimalcode nimmt, je nachdem, wie sich diese Werte entwickeln, eine besondere Form an. Und doch sind beide Arten von Regeln nicht dasselbe. Die Regeln gegen Gewalt entspringen aus der Erfahrung sowohl internationaler als auch gesellschaftlicher Binnenverhältnisse; die Regeln gegen Unterdrückung entspringen aus Binnenverhältnissen allein. Die ersten steuern unsere Beziehungen zu allen Menschen, zu Fremden ebenso wie zu Mitbürgern; die zweiten steuern nur unser Gemeinschaftsleben. Die ersten sind in ihrer Form und Anwendung weitgehend stereotyp; sie werden auf dem Hintergrund von standardisierten Erwartungen auf der Basis einer schmalen Anzahl von Standarderfahrungen (deren hervorstechendste der Krieg ist) formuliert. Die zweiten sind ihrer Form nach komplex und in ihrer Anwendung unterschiedlich; sie werden vor dem Hintergrund vielfältiger und konfliktreicher Erwartungen formuliert, die in einer langen und dichten gesellschaftlichen Geschichte verwurzelt sind. Die ersten Regeln tendieren zur Universalität, die zweiten zur Partikularität. (S. 107)
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Aus: Michael Walzer, Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Berlin 1990.
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II. Kapitel
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Politisches Agieren und Akteure der Politik
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4. Der soziale Ort politischen Handelns: Bürgerliche Gesellschaft, Nation und Klasse MARCUS LLANQUE
Die Abschnitte zu Krieg und Frieden sowie zu Revolution und Rebellion haben bereits gezeigt, dass mit besonderen Handlungsformen und Handlungsbereichen immer auch besondere Typen und Muster von Handelnden verbunden sind. Aus der Handlungsweise der Kriegführung ergeben sich zwanglos die eigentümlichen Akteurstypen des Soldaten, des Feldherrn oder des Kriegers. Lenins Berufsrevolutionär ist aus Problemen der Revolutionstheorie erwachsen, beschreibt aber zugleich einen Typus, der weit über die Revolution hinausreicht und Einblick bietet in die Parteistruktur des Bolschewismus und aller ihr nachgeahmten Formationen. Daher finden sich die entsprechenden Einlassungen Lenins in diesem Abschnitt. Denn es geht Lenin im Wesentlichen um die Ausbildung einer Alternative zur Handlungsstrategie von Gewerkschaften einerseits und der herkömmlichen Partei der Sozialdemokratie, wie er sie in Deutschland beobachtete. Neben solch genuin politischen Handlungskontexten wie Krieg und Revolution gibt es weitere soziale Strukturen, die unmittelbare Auswirkungen haben auf die Art und Weise politischen Handelns. Die prominentesten Beispiele hierfür sind die sozialen Formationen der bürgerlichen Gesellschaft, die soziale Klasse und die Nation. Ihre Relevanz zeigt sich in aufschlussreicher Weise besonders in Neuzeit und Moderne, wo mit der rapiden Zunahme der an der Politik unmittelbar beteiligten Personen die Komplexität politischer Vorgänge immer größer wird. In der Antike konnte man diejenigen, die nicht zur Teilnahme an der institutionell verankerten Politik berechtigt sind, noch einfach als »Sklaven« und Ähnliches bezeichnen und aus dem Bereich der Akteure ausschließen, außer in Fällen der von Sklaven ausgehenden Störungen. Aber auch das waren nicht mehr als Rebellionen und Aufstände, über deren Ursachen wenig Gedanken verloren wurden. Ähnliches gilt für die Bauern in der Feudalgesellschaft. In der Neuzeit hingegen und schließlich mit der zunehmenden Demokratisierung der Politik sieht sich die politische Theorie vor die Aufgabe gestellt, die tatsächliche Bevölkerung als potenziellen Akteur ansehen zu müssen. Bereits die Politische Ökonomie erkannte ja den Zusammenhang einfachster privater Tauschgeschäfte mit der nationalen Politik, wenn diese Tauschgeschäfte nur massenhaft getätigt werden. Es bedarf beim Verhalten keiner politischen Intention mehr, um sie als politisch relevant zu begreifen. So lag es nahe, solch analoge Verhaltensweisen unter dem Gesichtspunkt ganzer sozialer Gruppen und Akteure zusammenzufassen. Ob es je eine »bürgerliche Gesellschaft« gegeben hat, ist eine Frage sozialhistorischer Zuweisung. Es existieren jedenfalls Theorien zur bürgerlichen Gesellschaft, die über Angaben zu sozialen Strukturen hinaus mit ihr besondere Umstände und Ziele politischen Handelns verbinden. Die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft beinhaltet auch Überlegungen zum Bürger als politischem Akteur. Theorien über soziale Schichten, Stände und
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Klassen machen Angaben zu typischen Mustern des Handelns in diesen sozialen Kontexten. Im Falle der Klassentheorie wird man sogar sagen können, dass es ihr Ziel war, verallgemeinernde Angaben zu machen über Menschen, die in bestimmten sozialen Konflikten bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legen und deshalb in einer politischen Theorie berücksichtigt werden müssen. Aus Sammelbegriffen für vergleichbares individuelles Handeln werden schließlich Kollektivbegriffe, welchen am Ende ähnliche Wirkungen zugerechnet werden, wie sie individuellen Akteuren zukamen. Der Ausdruck »bürgerliche Gesellschaft« oder »civil society« ist zunächst die Bezeichnung für die Gemeinschaft der Bürger gewesen, wie sie vor allem Aristoteles geradezu kanonisch geprägt hat. Neben den mehr oder weniger natürlichen Verbindungen zwischen Menschen zum Zwecke der Familiengründung, der Haushaltsführung und des Zusammenlebens in Siedlungen kennt Aristoteles das Leben der Menschen in einem Stadtstaat (um den schwer übersetzbaren Ausdruckpolis zu übertragen). Darin begegnen sich Menschen nicht nur nach ihrer sozialen Verortung als Mann und Frau, Eltern oder Kinder, Werkstattbetreiber oder arbeitendes Werkzeug (denn das Haus, das heißt griechisch oikos, birgt auch die arbeitende und produzierende Tätigkeit, woraus sich der moderne Begriff der Ökonomie entwickelte); Menschen begegnen sich als Teilhaber an der Politik und insofern als Freie und Gleiche. Die Politik bezeichnet demnach eine besondere Sphäre des menschlichen Lebens, welcher Aristoteles den Namen bürgerliche Gesellschaft oder Gemeinschaft gab. Mit der zunehmenden Komplexität der sozialen Verhältnisse in Neuzeit und Moderne wurde die bürgerliche Gesellschaft zunehmend über wirtschaftliche Aspekte definiert. Die Politische Ökonomie, zu deren Mitbegründern Autoren der Schottischen Aufklärung wie Adam Ferguson und Adam Smith zählen, beschreibt die bürgerliche Gesellschaft als einen Bereich, in welchem durch die wirtschaftende Tätigkeit der Bevölkerung Wohlstand produziert wird. Genuin politische Tätigkeiten wie Verteidigung und Ausbildung werden unter dem Gesichtspunkt thematisiert, inwiefern sie die Strukturvoraussetzungen des Wohlstandes schaffen. Das ruht auf der Theorie von der Gesellschaft als einer vor-staatlichen Zweckgemeinschaft von Menschen, die sich über Arbeit Natur aneignen und aus ihrer sozialen Stellung als Eigentümer auch ihren politischen Status bestimmen. Diese Auffassung knüpft an die Vorarbeiten von John Locke an (vgl. III. Kapitel, 1. Abschnitt: Das Eigentum). Da auf den britischen Inseln der arbeitende und dergestalt Wohlstand produzierende Bevölkerungsteil sukzessive an der politischen Macht beteiligt wurde, war es nicht nötig, die bürgerliche Gesellschaft als politischen Akteur zu begreifen, der sich der staatlichen Steuerungsmittel, zumal der wirtschaftspolitischen Gesetzgebimg, erst bemächtigen muss. Dies war auf dem Kontinent unter den Regierungsverhältnissen des Absolutismus anders. Dort definiert die politische Theorie die bürgerliche Gesellschaft zur Nation um. Sie ist nun sozialer und politischer Bezugspunkt der gesamten Bevölkerung, und zwar auch jener Bestandteile, welche nicht sozial zur bürgerlichen Gesellschaft zählen. Einer der einflussreichsten Theoretiker der Französischen Revolution, Emmanuel Sieyes, Abgeordneter des Dritten Standes auf der
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Ständeversammlung von Versailles 1789, macht den Vorschlag, diese Ständevertretung in Nationalversammlung umzubenennen, und setzt den Dritten Stand mit der Wohlstand produzierenden Bevölkerung gleich (im Gegensatz zu Klerus und Adel, die jedenfalls in der französischen Gesellschaft eher zu den Konsumenten gehörten). Die Nation erhält auch einen über die Wirtschaft hinausgehenden Sinn als Bezugspunkt der gesamten Leistungen einer bestimmten Gesellschaft, einschließlich Kunst und Wissenschaft. Als politische Nation und damit als Kollektivsubjekt definieren auch viele Gründerväter der USA jenen Teil der Bevölkerung, der sich aktiv am Allgemeinleben beteiligt. Von vornherein changiert der Ausdruck Nation zwischen einer deskriptiven und einer normativen Funktion: Er beschreibt das Zusammenspiel gesellschaftlicher Leistungen, einschließlich wirtschaftlicher und jener des Geistes, er legt aber auch fest, wie sich Menschen zu verhalten haben, die der Nation zugehören. Die Nation ist nämlich ein Integrationsbegriff, welcher vergleichbar dem aristotelischen Begriff der bürgerlichen Gesellschaft jedem Menschen ungeachtet seiner sozialen Herkunft die Beteiligung am Gemeinschaftsleben ermöglichen will. Die Nation beinhaltet ein Integrationsangebot mit universalistischem Überschuss. Daher kann sich die Idee der Nation auch mit der Idee der Menschen- und Bürgerrechte verbinden (vgl. IV Kapitel, 3. Abschnitt: Kosmopolitismus und Menschenrechte). Ist aber dieser Anspruch Teil der zu beschreibenden Wirklichkeit, oder ist er nur programmatische Behauptung? Anders gesagt: Ist die Nation nicht bereits ein ideologischer Begriff? Während das Bürgertum sich als staats- und gesellschaftstragende Mittelschicht versteht und hieraus auch einen gewissen Vorrang bei der politischen Partizipation ableitet, hebt die sozialistische Gesellschaftsanalyse bei Karl Marx den ideologischen Charakter dieser Selbstbeschreibung hervor: Die mit der Nation verbundenen normativen Ansprüche sind nur die Fassade und somit der Schein der sozialen Interessen, die das Bürgertum vertritt und bei aller humanitären Rhetorik durchzusetzen versteht. Zur Analyse ihres politischen Verhaltens als Kollektiv greift Marx daher hinter der Nation und bürgerlichen Gesellschaft auf den Klassenbegriff zurück. Mehr noch als der Standesbegriff vermittelt der Klassenbegriff das Verhaltenselement, wonach sich aus dem Interesse der diesem sozialen Ort zugehörigen Individuen ihr Gruppenverhalten ableitet, und zwar ungeachtet ihres Selbstverständnisses (das als »falsches Bewusstsein« sogar in die Irre gehen kann). Die Politische Ökonomie hat sich demnach mit den politischen Konsequenzen des ökonomisch zu definierenden Interesses von Bevölkerungsteilen zu beschäftigen. Marx behauptet nun, dass von einem Klassenkampf als Signum der menschlichen Vergesellschaftungsgeschichte auszugehen ist. Menschen formen sich zu Klassen und kämpfen gegeneinander an den Grenzscheiden ihrer jeweiligen Klasseninteressen. Das fuhrt in die allgemeine Revolutionstheorie Marxens. Aus dieser Perspektive erscheinen dann besondere normative Geltungsansprüche der Nation als Schicksals- oder Solidargemeinschaft sowie die Verbindung mit den Menschenrechten als intellektuelle Reflexe (»Überbau«) des nicht immer bewusst reflektierten materiellen Klasseninteresses.
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II. Kapitel
Die weitere sozialistische Diskussion hat sich dennoch immer intensiver mit dem Begriff der Nation auseinander gesetzt. Eine rein deskriptive wissenschaftliche Betrachtung musste zu dem Ergebnis gelangen, dass die Nation Menschen, die sich einer Nation zugehörig fühlen, zu Verhaltensweisen motiviert, die nicht ohne weiteres oder nur in verwinkelten Ableitungen mit dem objektiven Klasseninteresse übereinstimmen. Was Fichte beispielsweise als Sittlichkeit bezeichnet und John Stuart Mill oder auch Ernest Renan als moralisches Band zwischen den Zugehörigen einer Nation definieren, ergibt eine Leistungsbereitschaft, die sich vor allem in zwei Bereichen zeigt: in den kulturellen Leistungen und in der Binnensolidarität. So zählt Renan die Solidarität zu den Merkmalen der Nation, was sich daran zeigt, dass Personen, die sich persönlich nicht kennen, dennoch einander verantwortlich fühlen. Das schlägt sich in bestimmten politischen Verhaltensmustern nieder, die Unbekannte voneinander erwarten und einander gewähren. Dazu gehört am Ende auch der imperialistische Wettbewerb zwischen den Nationen, den Max Weber zu den modernen Erscheinungsformen des Nationalismus zählt und mit dem er Aspekte des außenpolitischen Gebarens erklärt. Im Zeitalter des Imperialismus kommt es auch zur nationalistischen Verengimg des Nationenbegriffs. Der Wettbewerb unter den Nationen fordert eine Umwandlung vom integrierenden zum exkludierenden Nationenbegriff. Das führt zum Minderheitenproblem kleinerer nationaler Bevölkerungsbestandteile im Verhältnis zu nationalistischen Mehrheiten und den damit verbundenen Ansprüchen kultureller und sozialer Vormacht. Der Erste Weltkrieg widerlegte die im Sozialismus zuvor behauptete Internationalität der Arbeiterklasse, als die Arbeiter, selbst die Proletarier, sich den nationalen Mustern unterordneten. Nach dem Krieg kam es zu einer ganzen Welle nationaler Staatsgründungen (Masaryk), welche unterstreicht, dass eine Tendenz zur Identifizierung von staatlichen und nationalen Grenzen wirkt. Friedrich Meinecke hatte zuvor bereits nach den Grenzen der Nation gefragt und sie in zwei unterschiedlichen Modi gefunden: Je nachdem, ob sich eine Nation stärker über die ihr gemeinsame Kultur oder über die verbindende politische Gemeinschaft definiert, weist die Nation unterschiedliche Grenzen mit unterschiedlicher politischer Intensität auf. Die Debatte um die Nation innerhalb des sozialistischen Diskurses musste mit diesem Faktum umgehen lernen. Zwischen Internationalisten wie Luxemburg und Realisten wie Otto Bauer, der erheblichen Anteil daran hatte, der österreichischen Nation zur eigenen Staatlichkeit zu verhelfen, war der Frontverlauf gezogen. Die Intensität der Debatte hatte damit zu tun, dass ihr Ergebnis Angaben über die natürlichen Kooperationspartner der Arbeiterbewegung und ihrer Partei machte: Behielt man die internationalistische Tendenz bei, so lag eine Kooperation mit dem dann mächtigsten sozialistischen Staat der Welt, der Sowjetunion, nahe; stärkte man den möglichen Zusammenhang zwischen Sozialismus und Nation, so lag eine Kooperation mit den anderen Klassen nahe, sofern man sich der gleichen Nation zugehörig wähnt.
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Die moderne Diskussion sah die nationalistische Bewegung, die mit dem Ersten Weltkrieg einen erheblichen Schub erlebt hatte, mit größerer Skepsis. Nun treten eher Wünsche nach inter- und transnationaler Kooperation in den Vordergrund. Auch ändert sich die soziologische Betrachtungsweise der Nation: Sie wird stärker funktionalistisch thematisiert, und in diesem Sinne greift sie auch wieder den Klassenbegriff auf (Deutsch; Luhmann). Stark normativ ausgerichtete Theorien wie die Kritische Theorie von Jürgen Habermas fragen weniger nach dem substanziellen Gehalt der Nation als vielmehr nach ihrer möglichen rationalen Tätigkeit und ihrem Selbstverständnis.
Tapferkeit, sie verdoppeln den Eifer der Freundschaft und entzünden eine Flamme in den MenTraditionale und bürgerliche Gesellschaft schen, die selbst durch Erwägungen persönlichen Interesses oder persönlicher Sicherheit Geben wir von Handlungen Rechenschaft ab, so nicht ausgelöscht werden kann. (...) vergessen wir oft, daß wir selbst gehandelt Die Erfahrung der Gesellschaft formt jede haben. Anstatt der Gefühle, die uns in der unmit- Leidenschaft der menschlichen Seele. Deren telbaren Gegenwart ihres Objekts zum Handeln Triumphe und Glück, Unglück und Sorgen anspornen, geben wir als Beweggründe unseres bezeugen eine Abwechslung und Stärke der Verhaltens anderen Menschen gegenüber jene Emotionen, wie sie nur in der Gesellschaft unseErwägungen an, die uns in den Stunden der Ein- rer Mitmenschen stattfinden können. Hier lernt samkeit und der kalten Überlegung einfallen. In der Mensch, seine Schwächen, die Sorge um seidieser Stimmung kommen wir oft auf nichts ne Sicherheit und sein Auskommen zu vergesWichtiges, außer auf die überlegten Aussichten sen. Der lernt aber auch, mit jener Leidenschaft des Interesses. Ein so großes Werk, wie es die zu handeln, die ihn seine Stärken entdecken läßt. Gründung der Gesellschaft ist, muß dann unse- Hier findet er, daß seine Pfeile schneller fliegen rem Verständnis nach das Resultat tiefen Nach- als der Adler und seine Waffen tiefer verwunden denkens sein und im Hinblick auf diejenigen als die Tatze des Löwen oder der Zahn des Ebers. Vorteile erfolgen, welche die Menschen aus dem Es ist nicht allein das Bewußtsein naher Hilfe, Handel und aus wechselseitiger Unterstützung noch der Wunsch nach Auszeichnung durch die ziehen. Aber weder die Neigung, sich mit der öffentliche Meinung seines Stammes, die seinen Herde zu vermischen, noch der Gedanke an die Mut entflammen oder sein Herz mit einem Maß Vorteile, deren man sich in dieser Lage erfreut, anvertrauen erfüllen, welche dasjenige Vertrauumfassen alle Prinzipien, durch die Menschen en übersteigt, das sich aus seiner eigenen physimiteinander verbunden sind. Solche Bande sind schen Kraft ergeben würde. (...) sogar aus einem vergleichsweise schwachen GeDie Menschen sind weit davon entfernt, die webe, werden sie mit dem beherzten Eifer ver- Gesellschaft nur wegen ihrer äußerlichen glichen, mit dem der Mensch seinem Freunde Annehmlichkeiten zu schätzen. Sie sind in der oder seinem Stamme anhängt, nachdem sie für Regel dort am anhänglichsten, wo diese Aneine Zeitlang die Laufbahn des Schicksals mit- nehmlichkeiten am seltensten sind. Dort, wo der einander durcheilt haben. Wechselseitige Erfah- Tribut ihrer Anhänglichkeit mit Blut bezahlt rungen von Großmut, gemeinsame Proben der werden muß, sind sie zugleich am treuesten. A D A M FERGUSON
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Zuneigung entwickelt dort die größte Kraft, wo sie auf die größten Schwierigkeiten stößt. (...) Laßt uns diese Beispiele mit dem Geist vergleichen, der in einem Handelsstaat herrscht, wo anzunehmen ist, daß die Menschen in vollem Umfange das Interesse erkannt haben, welches Personen an der Erhaltung ihres Landes haben. Wenn überhaupt jemals, so findet sich in der Tat hier der Mensch zuweilen als ein losgelöstes und einsames Wesen. Hier hat er ein Objekt gefunden, das ihn in Wettbewerb mit seinen Mitmenschen versetzt; er handelt mit ihnen, wie er es mit seinem Vieh und mit seinem Boden tut, des Gewinnes wegen, den sie ihm bringen. Die mächtige Maschine, von der wir annehmen, daß sie die Gesellschaft gebildet hat, sie dient hier nur dazu, ihre Mitglieder zu entzweien oder ihren Verkehr fortzusetzen, nachdem die Bande der Zuneigung zerrissen sind.(S. 118-121) Aus: Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hg. und eingel. von Zwi Batscha und Hans Medick, Frankfurt/M. 1986.
A D A M FERGUSON Nationalgeist und Arbeitsteilung Die Teilung der Berufe scheint, ganz abgesehen von diesen Erwägungen, eine Vervollkommnung der Geschicklichkeit zu versprechen. Sie ist auch tatsächlich die Ursache dafür, daß die Erzeugnisse jeder Kunst um so vollkommener werden, je mehr der Handel voranschreitet. Doch am Ende und in ihren letztlichen Folgen führt diese Teilung der Berufe in gewissem Maße dazu, die Bande der Gesellschaft zu zerbrechen, leere Formeln an die Stelle des Erfindergeists zu setzen und die Individuen von jenem gemeinsamen Schauplatz ihrer Beschäftigung abzuziehen, auf dem die Gefühle des
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Herzens und der Geist am glücklichsten Verwendung finden. (S. 388) Aus der ganzen Tendenz dieser Überlegungen sollte sich ergeben, daß ein bestimmter Nationalgeist häufig nur von vorübergehender Beschaffenheit ist, imd zwar nicht infolge einer unheilbaren Krankheit der menschlichen Natur, sondern aufgrund von freiwilligen Versäumnissen und von Korrumpiertheit. Länger hat sich dieser Nationalgeist vielleicht einzig und allein bei der Durchführung einiger Unternehmungen zur Erwerbung von territorialem Zugewinn oder von Reichtum erhalten. Doch wie eine unnütze Waffe wird er auch hier alsbald zur Seite gelegt, sobald sein Ziel erreicht ist. Gewöhnliche Einrichtungen endigen schließlich mit einem Nachlassen ihrer Kraft. Sie sind zur Erhaltung von Staaten unfähig, weil sie die Menschen dazu verleiten, sich auf ihre Fertigkeiten statt auf ihre Tugenden zu verlassen und dasjenige schon für eine Verbesserung der Menschennatur zu halten, das doch nur ein bloßer Zuwachs an Bequemlichkeit oder an Reichtum ist. Einrichtungen dagegen, die den Geist kräftigen, die Mut einflößen und nationale Glückseligkeit befördern, können niemals zum Untergang einer Nation führen. (S. 396) Aus: Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hg. und eingel. von Zwi Batscha und Hans Medick, Frankfurt/M. 1986.
A D A M SMITH Die Arbeit der Nation schafft Wohlstand und Verhehrung der Arbeiter Die jährliche Arbeit eines Volkes ist die Quelle, aus der es ursprünglich mit allen notwendigen und angenehmen Dingen des Lebens versorgt wird, die es im Jahr über verbraucht. Sie bestehen stets entweder aus dem Ertrag dieser Arbeit
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oder aus dem, was damit von anderen Ländern gekauft wird. Ein Volk ist daher um so schlechter oder besser mit allen Gütern, die es braucht, versorgt, je mehr oder weniger Menschen sich in den Ertrag der Arbeit oder in das, was sie im Austausch dafür erhalten, teilen müssen. Zwei Faktoren bestimmen nun in jedem Land diese Pro-Kopf-Versorgung: Erstens die Produktivität der Arbeit als Ergebnis von Geschicklichkeit, Sachkenntnis und Erfahrung, und zweitens das Verhältnis der produktiv Erwerbstätigen zur übrigen Bevölkerung. Von beiden Umständen muß es jeweils abhängen, ob in einem Land das Warenangebot im Jahr über reichlich oder knapp ausfällt, gleichgültig, wie groß ein Land ist oder welchen Boden und welches Klima es hat. (...) Die Ursachen dieser Verbesserung in den produktiven Kräfte der Arbeit untersuche ich im ersten Buch, ebenso die Ordnung, nach der sich der Ertrag der Arbeit natürlicherweise auf die einzelnen Schichten und nach der sozialen Stellung der Menschen verteilt. (S. 3) Die Arbeitsteilung dürfte die produktiven Kräfte der Arbeit mehr als alles andere fordern und verbessern. Das gilt wohl auch für die Geschicklichkeit, Sachkenntnis und Erfahrung, mit der sie überall eingesetzt oder verrichtet wird. (S. 9) Die Arbeitsteilung, die so viele Vorrteile mit sich bringt, ist in ihrem Ursprung nicht etwa das Ergebnis menschlicher Erkenntnis, welche den allgemeinen Wohlstand, zu dem erstere führt, voraussieht und anstrebt. Sie entsteht vielmehr zwangsläufig, wenn auch langsam und schrittweise, aus einer natürlichen Neigung des Menschen, zu handeln und Dinge gegeneinander auszutauschen. (...) In einer zivilisierten Gesellschaft ist der Mensch ständig und in hohem Maße auf die Mitarbeit und Hilfe anderer angewiesen, doch reicht sein ganzes Leben gerade aus, um die Freundschaft des einen oder anderen zu gewinnen. Fast jedes Tier ist völlig unabhängig und selbständig, sobald es ausgewachsen ist,
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und braucht in seiner natürlichen Umgebung nicht mehr die Unterstützung anderer. Dagegen ist der Mensch fast immer auf Hilfe angewiesen, wobei er jedoch kaum erwarten kann, daß er sie allein durch das Wohlwollen der Mitmenschen erhalten kann. (S. 16 f.) Mit fortschreitender Arbeitsteilung wird die Tätigkeit der überwiegenden Mehrheit deijenigen, die von der Arbeit leben, also der Masse des Volkes, nach und nach auf einige wenige Arbeitsgänge eingeengt, oftmals auf nur einen oder zwei. Nun formt aber die Alltagsbeschäftigung ganz zwangsläufig das Verständnis der meisten Menschen. Jemand, der tagtäglich nur wenige einfache Handgriffe ausführt, die zudem immer das gleiche oder ein ähnliches Ergebnis haben, hat keinerlei Gelegenheit, seinen Verstand zu üben. Denn da Hindernisse nicht auftreten, braucht er sich auch über deren Beseitigung keine Gedanken zu machen. So ist es ganz natürlich, daß er verlernt, seinen Verstand zu gebrauchen, und so stumpfsinnig und einfaltig wird, wie ein menschliches Wesen nur eben werden kann. Solch geistige Trägheit beraubt ihn nicht nur der Fähigkeit, Gefallen an einer vernünftigen Unterhaltung zu finden oder sich daran zu beteiligen, sie stumpft ihn auch gegenüber differenzierteren Empfindungen, wie Selbstlosigkeit, Großmut oder Güte ab, so daß er auch vielen Dingen gegenüber, selbst jenen des täglichen Lebens, seine gesunde Urteilsfähigkeit verliert. (...) Dies aber ist die Lage, in welche die Schicht der Arbeiter, also die Masse des Volkes, in jeder entwickelten und zivilisierten Gesellschaft unweigerlich gerät, wenn der Staat nichts unternimmt, sie zu verhindern. (S. 662 f.) Aus: Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, in einem Band nach der 5. Aufl. von 1789 (letzter Hand) hg. von Horst Claus Recktenwald, München 1974.
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EMMANUEL JOSEPH SIEYES Der Dritte Stand Wer wagte es also zu sagen, daß der Dritte Stand [im Gegensatz zu Kirchenstand und Erbadel] nicht alles in sich besitzt, was nötig ist, um eine vollständige Nation zu bilden? Er ist der starke und kraftvolle Mann, der an einem Arm noch angekettet ist. Wenn man den privilegierten Stand wegnähme, wäre die Nation nicht etwas weniger, sondern etwas mehr. Also, was ist der Dritte Stand? Alles, aber ein gefesseltes und unterdrücktes Alles. Was wäre er ohne den privilegierten Stand? Alles, aber ein frei blühendes Alles. Nichts kann ohne ihn gehen; alles ginge unendlich besser ohne die anderen.
II. Kapitel
Ist es nicht nur zu gewiß, daß der adlige Stand Vorrechte und Befreiungen genießt, die er sogar sein Recht zu nennen wagt und die von den Rechten der großen Körperschaft der Bürger gesondert sind? Dadurch stellt er sich außerhalb der gemeinschaftlichen Ordnung und des gemeinschaftlichen Gesetzes. Also schon seine bürgerlichen Rechte machen aus ihm ein eigenes Volk in der großen Nation. (...) Der Dritte Stand umfaßt also alles, was zur Nation gehört; und alles, was nicht der Dritte Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation ansehen. Was also ist der dritte Stand ALLES. (S. 123-125) Aus: Emmanuel Joseph Sieyes, Politische Schriften, hg. von Eberhard Schmitt und Rolf Reichardt, 2. Aufl., München und Wien, 1981.
Aber es genügt nicht gezeigt zu haben, daß die Privilegierten, weit entfernt, ein Nutzen für die Nation zu sein, nur eine Schwächung und ein Schaden für sie sein können; vielmehr muß noch bewiesen werden, daß der adlige Stand sich nicht in die Gesellschaftsorganisation einfügt; daß er EMMANUEL JOSEPH SIEYES wohl eine Last für die Nation sein kann, nicht aber einen Teil von ihr zu bilden vermag. Zu- Die Nation als Souverän nächst ist es nicht möglich, die Kaste der Adligen unter den Grundelementen der Nation irgendei- Die Nation selbst aber - kann man uns sagen, ne Stelle einzuräumen. (...) Am schlechtesten nach welchen Gesichtspunkten, aufgrund welvon allen wäre deijenige Staat geordnet, in dem chen Interessen man ihr eine Verfassung geben nicht nur vereinzelte Privatleute, sondern eine soll? Ist die Nation doch zuerst da, ist sie doch ganze Klasse von Bürgern ihren Ruhm darin der Ursprung von allem. Ihr Wille ist immer sähe, inmitten der allgemeinen Bewegung unbe- gesetzlich, denn er ist das Gesetz selbst. Vor und weglich zu bleiben, indem sie es verstünde, den unter ihr gibt es nur das Naturrecht. Wenn wir besten Teil der Erzeugnisse zu verzehren, ohne uns eine zutreffende Vorstellung von der Folge irgend etwas zu ihrer Entstehung beigetragen zu positiver Gesetze bilden, die sich allein aus haben. Eine solche Klasse ist ohne Frage der ihrem Willen ableiten können, so betrachten wir Nation fremd durch ihre totale Untätigkeit. zunächst die Verfassungsgesetze, die sich in Nicht weniger fremd ist in unserer Mitte der zwei Gruppen gliedern: die einen regeln OrganiAdelsstand durch seine bürgerlichen und politi- sation und Aufgaben der gesetzgebenden Körperschaft; die anderen bestimmen Organisation schen Vorrechte. Was ist eine Nation? Eine Körperschaft von und Aufgaben der ausföhrenden KörperschafGesellschaftern, die unter einem gemeinschaftli- ten. Das nennt man die Grundgesetze, doch chen Gesetz leben und durch dieselbe gesetzge- nicht in dem Sinne, daß sie sich vom Nationalwillen unabhängig machen können, sondern bende Versammlung repräsentiert werden usw.
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weil sie für die Körperschaften, die durch sie bestehen und handeln, unantastbar sind. Beide Teile der Verfassung sind das Werk der verfassungsgebenden Gewalt, nicht aber der von der Verfassung gesetzten Gewalt. Keine übertragene Gewalt, welcher Art sie auch sei, kann an den Bedingungen ihrer Übertragung irgend etwas ändern. Nur so verstanden und nicht anders sind die Verfassungsgesetze Grundgesetze. Die einen - diejenigen Gesetze, welche die Gesetzgebungskörperschaft errichtet - beruhen auf dem Nationalwillen, der jeder Verfassung vorgegeben ist; sie bilden die erste Stufe der Verfassung. Die anderen Gesetze bedürfen ebenso der Beschließung durch einen besonderen stellvertretenden Willen. Letzen Endes bürgen also alle Teile der Regierung für die Nation und hängen von ihr ab. (...) Wir haben gesehen, daß die Verfassung in der zweiten Epoche entsteht. Es versteht sich, daß sie nur die Regierung bindet. Es wäre lächerlich anzunehmen, die Nation binde sich selbst durch die Regeln oder die Verfassung, die sie ihren Beauftragten gibt. Hätte sie, um eine Nation zu werden, eine positive Existenzform abwarten müssen, wäre sie nie eine geworden. Allein nach natürlichem Recht bildet sich die Nation. Die Regierung dagegen gehört notwendig in den Bereich des positiven Rechts. Schon durch ihre bloße Existenz ist die Nation alles, was sie sein kann. Es steht nicht in ihrem Belieben, sich mehr oder weniger Rechte zu nehmen als sie hat. In der ersten Epoche erhält sie alle Rechte einer Nation. In der zweiten Epoche übt sie sie aus; in der dritten Epoche überträgt sie die Ausübung alles dessen, was zur Aufrechterhaltung der guten Ordnung der Gemeinschaft erforderlich ist, ihren Vertretern. Wenn man sich nicht an diese einfachen Wahrheiten hält, fallt man notwendig von einem Widersinn in den anderen. Die Regierung übt nur insofern eine wirkliche Gewalt aus, als sie verfassungsmäßig ist; sie handelt nur insofern gesetzlich, als sie die ihr vorgeschriebenen Gesetze befolgt. Der Natio-
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nalwille dagegen braucht, um immer gesetzlich zu sein, nur seine bloße Existenz, denn er ist der Ursprung aller Gesetzlichkeit. Nicht nur daß die Nation keiner Verfassung unterworfen ist, sie kann und darf es auch nicht sein, was soviel bedeutet, als daß sie es eben nicht ist. (...) Doch selbst wenn sie es könnte, eine Nation darf sich auch nicht die Fesseln einer bestimmten Verfassungsform anlegen. Dadurch würde sie sich der Gefahr aussetzen, ihre Freiheit unwiederbringlich zu verlieren, denn die Tyrannei bedürfte nur eines Augenblicks des Erfolgs, um die Bevölkerung unter dem Vorwand einer Verfassung einer solchen Form zu unterwerfen, daß sie ihren Willen nicht mehr frei äußern und so die Ketten des Despotismus nicht mehr abschütteln könnte. Man muß sich die Nationen auf der Erde als Individuen ohne gesellschaftliche Bindung oder, wie man sagt, im Naturzustand befindlich vorstellen. Die Ausübung ihres Willens ist frei und unabhängig von allen gesetzlichen Formen. (S.166-168) Aus: Emmanuel Joseph Sieyes, Politische Schriften, hg. von Eberhard Schmitt und Rolf Reichardt, 2. Aufl., München und Wien, 1981.
JOHN JAY Das Volk handelt als Nation Nichts ist unzweifelhafter gewiß, als daß jedes Volk eine Regierung braucht. Ebensowenig ist zu leugnen, daß das Volk, wann auch immer und wie auch immer diese Regierung eingesetzt wird, einige seiner natürlichen Rechte an sie abtreten muß, um sie mit den erforderlichen Kompetenzen ausstatten zu können. Deshalb ist es wohl wert, erwogen zu werden, was dem Interesse des amerikanischen Volkes eher dienen würde: wenn es sich im Hinblick auf alle allge-
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meinen Zielsetzungen zu einer Nation unter einer gemeinsamen Bundesregierung vereinte oder wenn es sich in getrennte Konföderationen aufteilte und der Führung von jedem dieser Bündnisse dieselbe Art von Machtbefugnissen zuwiese, die einer nationalen Regierung zu verleihen ihm angeraten wird. (...) Dieses Volk und dieses Land scheinen füreinander gemacht zu sein. Es erscheint wie eine Absicht der Vorsehung, daß ein Erbe, so geeignet für einen Bund von Brüdern, die durch die stärksten Bande vereint sind, niemals in eine Reihe von uneinigen, miteinander rivalisierenden und einander fremden souveränen Staaten aufgeteilt werden sollte. Ähnliche Gefühle haben bisher bei Menschen aller Stände und Bekenntnisse vorgeherrscht. Immer, wenn es um allgemeine Ziele ging, waren wir ein einheitliches Volk. Jeder einzelne Bürger genoß überall dieselben nationalen Rechte, Privilegien, denselben Schutz. Als eine Nation haben wir Frieden geschlossen und Krieg geführt; als eine Nation haben wir unsere gemeinsamen Feinde bezwungen; als eine Nation haben wir Allianzen gebildet, Verträge geschlossen, sind wir verschiedenen Pakten und Übereinkünften mit fremden Nationen beigetreten. (S. 57 f.) Aus: Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die Federalist Papers, übersetzt, eingel. und mit Anmerkungen versehen von Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993, Federalist No. 2, S. 57-61.
JOHANN G . FICHTE Nation als sittliche Gesamtheit des Volkes Wir wollen durch die neue Erziehung die Deutschen zu einer Gesamtheit bilden, die in allen ihren einzelnen Gliedern getrieben und belebt sei durch dieselbe Eine Angelegenheit; (...) Es
II. Kapitel
bleibt sonach uns nichts übrig, als schlechthin an alles ohne Ausnahme, was deutsch ist, die neue Bildung zu bringen, so daß dieselbe nicht Bildung eines besonderen Standes, sondern daß sie Bildung der Nation schlechthin als solcher, und ohne Ausnahme einzelner Glieder desselben, werde, in welcher, in der Bildung zum innigen Wohlgefallen am Rechten nämlich, aller Unterschied der Stände, der in andern Zweigen der Entwicklung auch fernerhin stattfinden mag, völlig aufgehoben sei, und verschwinde; und daß auf diese Weise unter uns keineswegs Volkserziehung, sondern eigentliche deutsche Nationalerziehung entstehe. (S. 276 f.) Volk und Vaterland in dieser Bedeutung, als Träger und Unterpfand der irdischen Ewigkeit, und als dasjenige, was hienieden ewig sein kann, liegt weit hinaus über den Staat, im gewöhnlichen Sinne des Worts, - über die gesellschaftliche Ordnung, wie dieselbe im bloßen klaren Begriffe erfaßt, und nach Anleitung dieses Begriffs errichtet und erhalten wird. (...) Dieses alles ist nur Mittel, Bedingung und Gerüst dessen, was die Vaterlandsliebe eigentlich will, des Aufblühens des Ewigen und Göttlichen in der Welt, immer reiner, vollkommener und getroffener im unendlichen Fortgange. Eben darum muß diese Vaterlandsliebe den Staat selbst regieren, als durchaus oberste, letzte und unabhängige Behörde, zuvörderst, indem sie ihn beschränkt in der Wahl der Mittel für seinen nächsten Zweck, den innerlichen Frieden. (S. 384 f., Orthographie modernisiert) Aus: Johann G. Fichte, Reden an die deutsche Nation, in: ders., Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. 7: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte, Berlin 1971, S. 259-499.
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GEORG W . F. HEGEL
ALEXIS DE TOCQUEVILLE
Die bürgerliche Gesellschaft
Die politische Bedeutung von zivilen Assoziationen
§ 243 Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet, so ist sie innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen. - Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer - denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte Gewinn gezogen auf der einen Seite, wie auf der anderen Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheit und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt. (S. 389) § 250 Der ackerbauende Stand hat an der Substantialität seines Familien- und Naturlebens in ihm selbst unmittelbar sein konkret Allgemeines, in welchem er lebt; der allgemeine Stand hat in seiner Bestimmung das Allgemeine für sich zum Zwecke seiner Tätigkeit und zu seinem Boden. Die Mitte zwischen beiden, der Stand des Gewerbes, ist auf das Besondere wesentlich gerichtet und ihm ist daher vornehmlich die Korporation eigentümlich. (S. 393) Aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriß, in: ders., Theorie-Werkausgabe, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt/M. 1969-1971.
Die Amerikaner jeden Alters, jeden Standes, jeder Geistesrichtung schließen sich fortwährend zusammen. Sie haben nicht nur kaufmännische und gewerbliche Vereine, denen alle angehören, sie haben auch noch unzählige andere Arten: religiöse, sittliche, ernste, oberflächliche, sehr allgemeine und sehr besondere, gewaltige und ganz kleine; die Amerikaner tun sich zusammen, um Feste zu geben, Seminarien zu begründen, Gasthöfe zu bauen, Kirchen zu errichten, Bücher zu verbreiten, Missionare zu den Antipoden zu entsenden; sie errichten auf diese Weise Spitäler, Gefangnisse, Schulen. Handelt es sich schließlich darum, eine Wahrheit zu verkünden oder ein Gefühl mit Hilfe eines großen Beispiels zu fördern, so gründen sie Vereinigungen. Überall wo man in Frankreich die Regierung und in England einen großen Herrn an der Spitze eines neuen Unternehmens sieht, wird man in denVereinigten Staaten mit Bestimmtheit eine Vereinigung finden. Ich traf in Amerika Vereinsarten, von denen ich, wie ich gestehe, nicht einmal eine Vorstellung hatte, und ich habe oft die außerordentliche Kunst bewundert, mit der die Bewohner der Vereinigten Staaten es fertigbrachten, den Anstrengungen einer großen Menschenzahl ein gemeinsames Ziel zu setzen und sie freiwillig danach streben zu lassen. (...) So erweist sich das demokratischste Land der Erde als dasjenige, in dem die Menschen die Kunst, gemeinsam das Ziel ihres gemeinschaftlichen Begehrens zu erstreben, in unserer Zeit am vollkommensten entwickelt und diese neue Wissenschaft auf die größte Anzahl von Zwecken angewandt haben. Ist dies Zufall, oder gibt es tatsächlich eine zwangsläufige Beziehung zwischen den Vereinigungen und der Gleichheit? In den aristokratischen Gesellschaften findet
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sich, inmitten einer Menge von Menschen, die aus eigener Kraft nichts vermögen, stets eine kleine Zahl sehr mächtiger und sehr reicher Bürger; von diesen kann jeder für sich allein große Unternehmungen durchführen. Die Menschen brauchen in den aristokratischen Gesellschaften keine Vereinigungen zu bilden, um zu handeln, weil ihr Zusammenhalt stark ist. Jeder Bürger, der reich und mächtig ist, stellt darin gleichsam das Haupt eines beständigen und zwangsmäßigen Vereins dar, der aus allen denen besteht, die von ihm abhängig sind und die er an der Ausführung seiner Absicht teilnehmen läßt. In den demokratischen Völkern sind im Gegensatz dazu alle Bürger unabhängig und schwach; sie vermögen aus eigener Kraft fast nichts, und keiner kann seinesgleichen zwingen, ihm Hilfe zu leisten. Sie verfallen mithin alle der Ohnmacht, wenn sie nicht lernen, sich freiwillig beizustehen. (Bd. 2, S. 123 f.) Aus: Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. von J. P. Mayer, übersetzt von Hans Zbinden, 2 Bände, Stuttgart 1959 und 1962.
ALEXIS DE TOCQUEVILLE Die Industrienation Wie kommt es, daß in den Vereinigten Staaten, wo die Einwohner gestern erst den Boden betraten, den sie innehaben, wohin sie weder Bräuche noch Erinnerungen mitbrachten, wo sie sich als Fremde zum erstenmal begegnen; wo es mit einem Wort, ein ursprüngliches Vaterlandsgefühl kaum geben kann: wie kommt es, daß jeder sich mit den Angelegenheiten seiner Gemeinde, seines Kantons und des ganzen Staates wie mit seinen eigenen beschäftigt? Weil jeder in seinem Lebensbereich tätigen Anteil an der Lenkung der Gesellschaft nimmt.
II. Kapitel
Der Mann aus dem Volk hat in den Vereinigten Staaten den Einfluß des allgemeinen Wohlergehens auf sein eigenes Glück erkannt - ein so einfacher und doch vom Volk so wenig begriffener Gedanke. Er hat sich außerdem daran gewöhnt, dieses Gedeihen als sein eigenes Werk anzusehen. So findet er im öffentlichen Raum seinen eigenen wieder, und er arbeitet für das Wohl des Staates nicht bloß aus Pflicht oder aus Stolz, sondern, ich möchte fast sagen, aus Begehrlichkeit. Man braucht sich nicht eingehend mit den Einrichtungen und mit der Geschichte der Amerikaner zu befassen, um die Wahrheit des Gesagten zu erkennen, die Sitten lehren es deutlich genug. Da der Amerikaner an allem Geschehen seines Landes Anteil nimmt, glaubt er sich gehalten, alles zu verteidigen, was man bemängelt, denn man greift ja nicht nur sein Land an, sondern ihn selbst: auch sieht man seinen Nationalstolz zu allen Schlichen greifen und zu allen Kindereien persönlicher Eitelkeit hinabsteigen. (Bd. I, S. 272 f.) Bei den modernen Nationen Europas gibt es eine bedeutsame Ursache, die unabhängig von all den eben erwähnten ständig dazu beiträgt, den Wirkungsbereich der Staatsgewalt zu erweitern oder seine Vorrechte zu mehren; man hat zuwenig darauf geachtet. Diese Ursache ist die Entwicklung der Industrie, die durch die Fortschritte die Gleichheit begünstigt. Die Industrie ballt gewöhnlich eine Menge Menschen am gleichen Ort zusammen; sie erzeugt zwischen ihnen neue und verwickelte Beziehungen. Sie setzt sie großen und plötzlichen Wechseln zwischen Reichtum und Elend aus; während denen die öffentliche Ruhe bedroht ist. Es kann endlich auch vorkommen, daß diese Arbeiten die Gesundheit und sogar das Leben derer gefährden, die daraus Nutzen ziehen oder die sie verrichten. Daher müssen für die industrielle Klasse mehr als für andere Klassen Vorschriften erlassen, sie muß stärker überwacht und im Zaum gehalten werden, und damit wach-
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sen natürlich die Amtsgewalten der Regierung. (Bd. II, S. 333) Aus: Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. von J. P. Mayer, übersetzt von Hans Zbinden, 2 Bände, Stuttgart 1959 und 1962.
FRIEDRICH LIST Nationalökonomie als Schlüssel zur nationalen Unabhängigkeit Jetzt erst fing ich an, sie [die Transportmittel wie Eisenbahnen] aus dem Gesichtspunkt der Theorie der produktiven Kräfte und in ihrer Gesamtwirkung als Nationaltransportsystem, folglich nach ihrem Einfluß auf das ganze geistige und politische Leben, den geselligen Verkehr, die Produktivkraft und die Macht der Nationen zu betrachten. Jetzt erst erkannte ich welche Wechselwirkung zwischen der Manufakturkraft und dem Nationaltransportsystem besteht, und daß die eine ohne das andere nirgends zu hoher Vollkommenheit gedeihen könne. (S. 9) Wenn wir aber das Bestreben in Deutschland, die monarchische Gewalt und die Existenz des Adels zu untergraben, für ein gemeinschädliches und törichtes halten, so erscheint uns Haß, Mißtrauen, Eifersucht gegen das Aufkommen eines freien, industriellen und reichen Bürgertums und gegen die Gesetzesherrschaft als ein noch größerer Fehler, weil in ihnen für Dynastie und Adel die Hauptgarantie ihrer Prosperität und Fortdauer liegt. Ein solches Bürgertum in zivilisierten Ländern im gesetzlichen Weg nicht wollen, heißt der Nation die Wahl stellen zwischen fremdem Joch oder innerlichen Konvulsionen. Darum ist es auch so traurig, wenn man die Übel, womit in unseren Tagen die Industrie begleitet ist, als Motive geltend machen will, die Industrie selbst von sich abzuweisen. Es gibt weit größe-
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re Übel als einen Stand von Proletariern: leere Schatzkammern - National-Unmacht - National-Knechtschaft - Nationaltod. (S. 28 f.) Als charakteristischen Unterschied des von mir aufgestellten Systems bezeichne ich die Nationalität. Auf die Natur der Nationalität als des Mittelgliedes zwischen Individualität und Menschheit ist mein ganzes Gebäude gegründet. (S. 25) Erhaltung, Ausbildung und Vervollkommnung der Nationalität ist daher zur Zeit ein Hauptgegenstand des Strebens der Nation, und muß es sein. Es ist dies kein falsches und egoistisches, sondern ein vernünftiges, mit dem wahren Interesse der gesamten Menschheit vollkommen im Einklang stehendes Bestreben; denn es führt naturgemäß zur endlichen Einigung der Nationen unter dem Rechtsgesetz, zur Universalunion, welche der Wohlfahrt des menschlichen Geschlechts nur zuträglich sein kann, wenn viele Nationen eine gleichmäßige Stufe von Kultur und Macht erreichen, wenn also die Universalunion auf dem Wege der Konfdderation realisiert wird. (S. 38 f.) Aus: Friedrich List, Das nationale System der politischen Ökonomie. Volksausgabe auf Grund der Ausgabe letzter Hand und Randnotizen in Lists Handexemplar, hg. und eingel. von Artur Sommer, Tübingen 1959.
KARL M A R X Vom Standesinteresse zum Gesellschaftsbedürfnis Wenn die kommunistischen Handwerker sich vereinen, so gilt ihnen zunächst die Lehre, Propaganda etc. als Zweck. Aber zugleich eignen sie sich dadurch ein neues Bedürfnis, das Bedürfnis der Gesellschaft an, und was als Mittel erscheint,
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ist zum Zweck geworden. Diese praktische Bewegung kann man an ihren glänzendsten Resultaten anschauen, wenn man die französischen ouvriers vereinigt sieht. Rauchen, Trinken, Essen etc. sind nicht mehr da als Mittel der Verbindung oder als verbindende Mittel. Die Gesellschaft, der Verein, die Unterhaltung, die wieder Gesellschaft zum Zweck hat, reicht ihnen hin, die Brüderlichkeit der Menschen ist keine Phrase, sondern Wahrheit bei ihnen, und der Adel der Menschheit leuchtet uns aus den von der Arbeit verhärteten Gestalten entgegen. (S. 553 f.)
II. Kapitel
Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat. (S. 462 f.) Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. (...) Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. (S. 465) Den Kommunisten ist ferner vorgeworfen Aus: Karl Marx, Ökonomisch-philosophiworden, sie wollten das Vaterland, die Nationalische Manuskripte, in: Karl Marx/Friedtät abschaffen. rich Engels, Werke, Ergänzungsband, Teil 1, Berlin 1968, S. 465-588. Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben. Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist KARL M A R X es selbst noch national, wenn auch keineswegs Klassenkämpfe im Sinne der Bourgeoisie. Die nationalen Absonderungen und GegenDie Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist sätze der Völker verschwinden schon mehr und die Geschichte von Klassenkämpfen. (...) In den mehr mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit früheren Epochen der Geschichte finden wir fast der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichüberall eine vollständige Gliederung der Gesell- förmigkeit der industriellen Produktion und der schaft in verschiedene Stände, eine mannigfalti- ihr entsprechenden Lebensverhältnisse. ge Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen. Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebe- mehr verschwinden machen. Vereinigte Aktion, jer, Sklaven; im Mittelalter Feudalherren, Vasal- wenigstens der zivilisierten Länder, ist eine der len, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und ersten Bedingungen seiner Befreiung. noch dazu in fast jeder dieser Klassen wieder In dem Maße, wie die Exploitation des einen besondere Abstufungen. Individuums durch das andere aufgehoben wird, Die aus dem Untergange der feudalen Gesell- wird die Exploitation einer Nation durch die schaft hervorgegangene moderne bürgerliche andere aufgehoben. Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Be- Nation fallt die feindliche Stellung der Nationen dingungen der Unterdrückung, neue Gestaltun- gegeneinander. (S. 479) gen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, Aus: Karl Marx/Friedrich Engels, Manizeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die fest der Kommunistischen Partei, in: die-
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selben, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 459493.
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Aus: Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, Berlin 1969, S. 111-208.
KARL M A R X Stände ohne gesellschaftliches Interessenbewußtsein Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zu einander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. (...) Ihr Produktionsfeld, die Parzelle, läßt in seiner Kultur keine Teilung der Arbeit zu, keine Anwendung der Wissenschaft, also keine Mannigfaltigkeit der Entwickelung, keine Verschiedenheit der Talente, keinen Reichtum der gesellschaftlichen Verhältnisse. (...) Die Parzelle, der Bauer und die Familie, daneben eine andere Parzelle, ein andrer Bauer und eine andre Familie. Ein Schock davon macht ein Dorf, und ein Schock von Dörfern macht ein Departement. So wird die große Masse der französischen Nation gebildet durch eine einfache Addition gleichnamiger Größen, wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet. Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse. Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden. (S. 198)
JOHN STUART MILL Nation als gemeinschaftlicher Bezug des Volkes Wenn wir unter Klasse im politischen Sinne des Wortes eine Anzahl von Personen mit den gleichen sinistren Interessen verstehen, das heißt von Personen, deren unmittelbares und vermeintliches Interesse auf dieselben schädlichen Maßnahmen abzielt, so müßte das Ziel sein, daß keine Klasse und keine überhaupt vorstellbare Klassenkombination in der Lage wäre, dominierenden Einfluß auf die Regierung zu gewinnen. Man kann sich einen modernen Staat, der nicht durch starke Ressentiments rassischer, sprachlicher oder nationaler Art in sich zerrissen ist, grundsätzlich in zwei Lager geteilt denken, die, von partiellen Abweichungen abgesehen, mit zwei verschiedenen Richtungen des scheinbaren Interesses korrespondieren. Um der terminologischen Kürze willen wollen wir die einen Gruppe als die der Arbeiter, die andere als die der Arbeitgeber bezeichnen, wobei wir zu den Arbeitgebern außer den Kapitalisten, die sich vom Geschäft zurückgezogen haben, und außer den Besitzern eines ererbten Vermögens noch alle jene hochbezahlten Arbeiter rechnen (etwa die Angehörigen der akademischen Berufe), deren Erziehung und Lebensweise sie den Reichen angleicht und die die Aussicht und den Ehrgeiz haben, sich in diese Klasse emporzuarbeiten. Als Arbeiter werden wir dagegen auch jene Kleinunternehmer einstufen, deren Interessen, Gewohnheiten und Bildungsstand sie in ihren Wünschen, Neigungen und Zielen den arbeitenden Klassen gleichstellt; hierzu gehört
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ein großer Teil der kleinen Geschäftsleute. (S. 118) Man kann sagen, eine Gruppe von Menschen konstituiere eine Nation, wenn diese Menschen untereinander durch gegenseitige Sympathien verbunden sind, die zwischen ihnen und irgendwelchen anderen nicht bestehen; aus diesem Gefühl heraus nämlich sind sie eher zur Kooperation untereinander bereit als mit anderen und wünschen sich eine gemeinsame Regierung und zwar eine Regierung, die ausschließlich durch sie selbst oder aber durch einen Teil von ihnen gebildet wird. Ein solches Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit kann aus den verschiedensten Ursachen entstanden sein. Mitunter wird es durch gleiche Rasse und Abstammung hervorgerufen; Gemeinsamkeit der Sprache und Religion fördern es entscheidend. Auch geographische Grenzen stellen eine der Ursachen für die Entstehung des Nationalgefühls dar. Am stärksten in diesem Sinne aber wirkt eine gemeinsame politische Vergangenheit: der Besitz einer nationalen Geschichte und die sich daraus ergebende Gemeinsamkeit der Erinnerungen - kollektive Gefühle des Stolzes und der Scham, der Freude und des Leides, die sich an die nämlichen Ereignisse der Vergangenheit knüpfen. Allerdings stellt keines dieser Momente eine unerläßliche Bedingung dar, wie auch keines allein für sich schon ausreichend muß. (S. 241) Aus: John Stuart Mill, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, neu übersetzt von Hannelore Irle-Dietrich, hg. mit einer Einleitung von Kurt L. Shell, Paderborn 1971.
II. Kapitel
ERNEST RENAN Die Solidargemeinschaft des täglichen Zugehörigkeitsplebiszits Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Das eine liegt in der Vergangenheit, das andere in der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat. Der Mensch improvisiert sich nicht. Wie der einzelne, so ist die Nation der Endpunkt einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, Opfern und Hingabe. Der Ahnenkult ist von allen der legitimste; die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind. Eine heroische Vergangenheit, große Männer, Ruhm (ich meine den wahren) - das ist das soziale Kapital, auf dem man eine nationale Idee gründet. Gemeinsamer Ruhm in der Vergangenheit, ein gemeinsames Wollen in der Gegenwart, gemeinsam Großes vollbracht zu haben und weiter vollbringen zu wollen - das sind die wesentlichen Voraussetzungen, um ein Volk zu sein. Man liebt es im Verhältnis zu den Opfern, in die man eingewilligt, zu den Übeln, die man erlitten hat. Man liebt das Haus, das man erbaut hat und das man vererbt. Das Lied Spartas: »Wir sind, was ihr wart; wir werden sein, was ihr seid«, ist in seiner Einfachheit die verkürzte Hymne jedes Vaterlandes. In der Vergangenheit ein gemeinsames Erbe von Ruhm und Reue, für die Zukunft ein gemeinsames Programm; gemeinsam gelitten, gejubelt, gehofft haben - das ist mehr wert als gemeinsame Zölle und Grenzen, die strategischen Vorstellungen entsprechen. Das ist es, was man ungeachtet der Rasse und Sprache versteht. Ich habe soeben gesagt: »gemeinsam gelitten haben«. Jawohl, das gemeinsame Leiden verbindet mehr als die Freude. In den gemeinsamen
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Erinnerungen wiegt die Trauer mehr als die Triumphe, denn sie erlegt Pflichten auf, sie gebietet gemeinschaftliche Anstrengungen. Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus und muß in der Gegenwart zu einem greifbaren Faktor zusammenzufassen sein: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Die Existenz einer Nation ist - erlauben Sie mir diese Metapher - ein Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt, so wie die Existenz eines Individuums eine dauernde Bestätigung des Lebensprinzips ist. Ich weiß sehr wohl, daß dies weniger metaphysisch ist als das göttliche Recht und weniger brutal als das angeblich historische Recht. In der Logik der Ideen, die ich hier vortrage, hat eine Nation nicht mehr Recht als ein König, zu einer Provinz zu sagen: »Du gehörst mir, ich nehme dich.« Eine Provinz, das sind für uns ihre Einwohner. Wenn in dieser Frage jemand das Recht hat, gehört zu werden, dann diese Einwohner. Niemals kann eine Nation ein echtes Interesse daran haben, ein Land gegen dessen Willen zu annektieren oder zu behalten. Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ist ein für allemal das einzige legitime Kriterium, auf das man immer zurückgehen muß. Wir haben die metaphysischen und theologischen Abstraktionen aus der Politik verbannt. Was bleibt über? Es bleibt der Mensch, seine Wünsche, seine Bedürfnisse. Man wird einwenden, daß die Spaltungen und, auf lange Sicht, die Auflösung der Nationen die Folgen eines Systems sind, das die alten Organismen auf Gedeih und Verderb einem Willen ausliefert, der oft wenig aufgeklärt ist. Es versteht sich, daß in solchen Dingen kein Prinzip ins Extrem getrieben werden darf. Derartige Wahrheiten sind nur insgesamt und in einer sehr allgemeinen Weise anwendbar. Das Wollen der Menschen ist einem ständigen Wandel unterworfen, aber was ändert
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sich nicht hienieden? Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal begonnen, sie werden einmal enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen. Aber das ist nicht das Gesetz des Jahrhunderts, in dem wir leben. Gegenwärtig ist die Existenz der Nationen etwas Gutes, sogar Notwendiges. Ihre Existenz ist die Garantie der Freiheit, die verloren wäre, wenn die Welt nur ein Gesetz, nur einen Herrn hätte. Durch ihre verschiedenen, einander oft entgegengesetzten Fähigkeiten dienen die Nationen dem gemeinsamen Werk der Zivilisation. Jede trägt zu dem großen Konzert der Menschheit eine Note bei, das, als Ganzes, die höchste ideale Realität ist, die wir erreicht haben. Voneinander isoliert, haben sie ihre Schwachstellen. (S. 56-58) Aus: Ernest Renan, Was ist eine Nation. Vortrag an der Sorbonne, gehalten am 11. März 1882, zit. nach: ders., Was ist eine Nation und andere politische Schriften, mit einem einleitenden Essay von Walter Euchner und einem Nachwort von Silvio Lanaro, Wien/Bozen 1995.
M A X WEBER Nation im sozialen Daseinskampf Nicht Frieden und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art. Und wir dürfen uns nicht der optimistischen Hoffnung hingeben, daß mit der höchstmöglichen Entfaltung wirtschaftlicher Kultur bei uns die Arbeit getan sei und die Auslese im freien und »friedlichen« ökonomischem Kampfe höher entwickelten Typen alsdann von selbst zum Siege verhelfen werde. (...) Und der Nationalstaat
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ist uns nicht ein unbestimmtes Etwas, welches man um so höher zu stellen glaubt, je mehr man sein Wesen in mystisches Dunkel hüllt, sondern die weltliche Machtorganisation der Nation, und in diesem Nationalstaat ist für uns der letzte Wertmaßstab auch der volkswirtschaftlichen Betrachtung die »Staatsraison«. (S. 14) Entscheidend ist auch für unsere Entwicklung, ob eine große Politik uns wieder die Bedeutung der großen politischen Machtfragen vor Augen zu stellen vermag. Wir müssen begreifen, daß die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte. (...) Nicht - wie diejenigen glauben, welche hypnotisiert in die Tiefen der Gesellschaft starren - bei den Massen liegt die Gefahr. Nicht eine Frage nach der ökonomischen Lage der Beherrschten, sondern die vielmehr nach der politischen Qualifikation der herrschenden und aufsteigenden Klassen ist auch der letzte Inhalt des sozialpolitischen Problems. Nicht Weltbeglückung ist der Zweck unserer sozialpolitischen Arbeit, sondern die soziale Einigung der Nation, welche die moderne ökonomische Entwicklung sprengte, für die schweren Kämpfe der Zukunft. (...) Und so (...) sind es nicht die Jahrtausende einer ruhmreichen Geschichte, unter deren Last eine große Nation altert. Sie bleibt jung, wenn sie die Fähigkeit und den Mut hat, sich zu sich selbst und den großen Instinkten, die ihr gegeben sind, zu bekennen, und wenn ihre führenden Schichten sich hinaufzuheben vermögen in die harte und klare Luft, in welcher die nüchterne Arbeit der deutschen Politik gedeiht, die aber auch durchweht ist von der ernsten Herrlichkeit des nationalen Empfindens. (S. 23-25) Aus: Max Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftslehre (Freiburger Antrittsrede 1895), in: ders., Gesammelte Politi-
sche Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 1-25.
M A X WEBER Stand, Klasse, Nation als sozialwissenschaftliche Begriffe »Nation« ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an. Weder darüber aber, wie jene Gruppen abzugrenzen seien, noch darüber, welches Gemeinschaftshandeln aus jener Solidarität zu resultieren habe, herrscht Übereinstimmung. »Nation« im üblichen Sprachgebrauch ist zunächst identisch mit »Staatsvolk«, d.h. der jeweiligen Zugehörigkeit [zu] einer politischen Gemeinschaft. Daß »nationale« Zugehörigkeit nicht auf realer Blutsverwandtschaft ruhen muß, versteht sich vollends von selbst: überall sind gerade besonders radikale »Nationalisten« oft von fremder Abstammung. Und vollends ist Gemeinsamkeit eines spezifischen anthropologischen Typus zwar nicht einfach gleichgültig, aber weder ausreichend zur Begründung einer »Nation«, noch auch dazu erforderlich. (S. 528) Zwischen der emphatischen Bejahung, emphatischen Ablehnung und endlich völliger Indifferenz gegenüber der Idee der »Nation« (...) steht eine lückenlose Stufenfolge sehr verschiedenen und höchst wandelbaren Verhaltens zu ihr bei den sozialen Schichten auch innerhalb der einzelnen Gruppe, denen der Sprachgebrauch die Qualität von »Nationen« zuschreibt. Feudale Schichten, Beamtenschichten, erwerbs-
Politisches Agieren und Akteure der Politik
tätiges »Bürgertum« der untereinander verschiedenen Kategorien, »Intellektuellen«-Schichten verhalten sich weder gleichmäßig noch historisch konstant dazu. Nicht nur [sind] die Gründe, auf welche der Glaube, eine eigene »Nation« darzustellen, gestützt wird, sondern ist auch dasjenige empirische Verhalten, welches aus der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur »Nation« in der Realität folgt, qualitativ höchst verschieden. (S. 529) Phänomene der Machtverteilung innerhalb einer Gemeinschaft sind nun die »Klassen«, »Stände« und »Parteien«. »Klassen« sind keine Gemeinschaften in dem hier festgehaltenen Sinn, sondern stellen nur mögliche (und häufige) Grundlagen eines Gemeinschaftshandelns dar. Wir wollen da von einer »Klasse« reden, wo 1. einer Mehrzahl von Menschen eine spezifische ursächliche Komponente ihrer Lebenschancen gemeinsam ist, soweit 2. diese Komponente lediglich durch ökonomische Güterbesitz- und Erwerbsinteressen und zwar 3. unter den Bedingungen des (Güterund Arbeits-) Marktes dargestellt wird (»Klassenlage«). (...) Immer aber ist für den Klassenbegriff gemeinsam: daß die Art der Chance auf dem Markt diejenige Instanz ist, welche die gemeinsame Bedingung des Schicksals der Einzelnen darstellt. »Klassenlage« ist letztlich »Marktlage.« (S. 531 f.) Jede Klasse kann also zwar Träger irgendeines, in unzähligen Formen möglichen »Klassenhandelns« sein, aber sie muß es nicht sein, und jedenfalls ist sie selbst keine Gemeinschaft, und es führt zu Schiefheiten, wenn man sie mit Gemeinschaften begrifflich gleichwertig behandelt. (S. 533) Stände sind, im Gegensatz zu Klassen, normalerweise Gemeinschaften, wenn auch oft solche von amorpher Art. Im Gegensatz zur rein ökonomisch bestimmten »Klassenlage« wollen wir als »ständische Lage« bezeichnen jede typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifische,
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positive oder negative, soziale Einschätzung der »Ehre« bedingt ist, die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft. Diese Ehre kann sich auch an eine Klassenlage knüpfen: die Unterschiede der Klassen gehen die mannigfaltigsten Verbindungen mit ständischen Unterschieden ein, und der Besitz als solcher gelangt, wie schon bemerkt, nicht immer, aber doch außerordentlich regelmäßig auf die Dauer auch zu ständischer Geltung. (...) Inhaltlich findet die ständische Ehre ihren Ausdruck normalerweise vor allem in der Zumutung einer spezifisch gearteten Lebensfiihrung an jeden, der dem Kreise angehören will. Damit zusammenhängend in der Beschränkung des »gesellschaftlichen«, d. h. des nicht ökonomischen oder sonst geschäftlichen, »sachlichen« Zwecken dienenden Verkehrs, einschließlich des namentlich des normalen Konnubium [Eheschließung], auf den ständischen Kreis bis zu völliger endogener Abschließung. (S. 534 f.) Aus: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. revidierte Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 1985.
FRIEDRICH MEINECKE Kulturnation und Staatsnation Was sondert innerhalb des universalen Rahmens der Menschheitsgeschichte einzelne Nationen voneinander ab? Die Antwort kann nur sein, daß es keine Formel gibt, welche allgemeingültig die Merkmale dafür angibt. Nationen, so sieht man wohl auf den ersten Blick sind große, mächtige Lebensgemeinschaften, die geschichtlich in langer Entwicklung entstanden und in unausgesetzter Bewegung und Veränderung begriffen sind, aber deswegen hat das Wesen der Nation
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auch etwas Fließendes. Gemeinsamer Wohnsitz, gemeinsame Abstammung - oder genauer gesagt, da es keine im anthropologischen Sinne rassenreinen Nationen gibt - , gemeinsame oder ähnliche Blutmischung, gemeinsame Sprache, gemeinsames geistiges Leben, gemeinsamer Staatsverband oder Föderation mehrerer gleichartiger Staaten - alles das können wichtige und wesentliche Grundlagen oder Merkmale einer Nation sein, aber damit ist nicht gesagt, daß jede Nation sie alle zusammen besitzen müßte, um eine Nation zu sein. Unbedingt vorhanden sein muß in ihr wohl ein naturhafter Kern, der durch Blutsverwandtschaft entstanden ist. Auf diesen gestützt, kann das erwachsen, was den Stammesverband erst zur Nation erhebt und ihn befähigt, auch fremde Stämme und Elemente sich zu assimilieren: eine eigenartige und inhaltsreiche geistige Gemeinschaft und ein mehr oder minder helles Bewußtsein von ihr. Wie aber diese höhere Gemeinschaft entsteht und welcher Art ihre Inhalte sind, darüber belehrt uns kein allgemeines Erfahrungsgesetz, sondern nur die Untersuchung des konkreten Einzelfalles. (S. 9) Man wird, trotz aller sogleich zu machenden Vorbehalte, die Nationen einteilen können in Kulturnationen und Staatsnationen, in solche, die vorzugsweise auf einem irgendwelchen gemeinsam erlebten Kulturbesitz beruhen, und solche, die vorzugsweise auf der vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und Verfassung beruhen. Gemeinsprache, gemeinsame Literatur und gemeinsame Religion sind die wichtigsten und wirksamsten Kulturgüter, die eine Kulturnation schaffen und zusammenhalten. (S. 10) Also das logische Einteilungsprinzip ist hier ein anderes als das oben angewandte. Jenes ging vom Staate aus, dieses von der Nation, der Kulturnation. Jenes führte zu dem Urteile, daß es verschiedene Arten von Staaten gibt, die eine Staatsnation enthalten, d.h. eine Bevölkerung von regerem politischen Gemeinschaftsgefühl. Dieses dagegen gipfelt in dem Urteile, daß die
Nation mancherlei Kinder des Geistes hervorbringt, darunter auch Nationalstaaten, d.h. Staaten, die den eigenartigen Charakter einer besonderen nationalen Kultur tragen. Wir werden sehen, daß es sich hier nicht um müßige Distinktionen handelt, sondern um Gegensätze, die gerade in der Entstehungsgeschichte der deutschen nationalstaatlichen Ideale sich bedeutend geregt haben. (S. 20) Aus: Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, in: ders., Werke, hg. von Hans Herzfeld u.a., Bd. 5, München 1962.
ROSA LUXEMBURG Sozialismus und Nation Die mit doktrinärer Hartnäckigkeit immer wieder proklamierte Formel von dem Recht der verschiedenen Nationalitäten des russischen Reichs, ihre Schicksale selbständig zu bestimmen »bis einschließlich der staatlichen Lostrennung von Rußland«, war ein besonderer Schlachtruf Lenins und Genossen (...) Zunächst frappiert an der Hartnäckigkeit und starren Konsequenz, mit der Lenin und Genossen an dieser Parole festhielten, daß sie sowohl in krassem Widerspruch zu ihrem sonstigen ausgesprochenen Zentralismus der Politik wie auch zu der Haltung steht, die sie den sonstigen demokratischen Grundsätzen gegenüber eingenommen haben. (...) Der Widerspruch, der hier klafft, ist um so unverständlicher, als es sich bei den demokratischen Formen des politischen Lebens in jedem Lande, wie wir das noch weiter sehen werden, tatsächlich um höchst wertvolle, ja, unentbehrliche Grundlagen der sozialistischen Politik handelt, während das famose »Selbstbestimmungsrecht der Nationen« nichts als hohle kleinbürgerliche Phraseologie und Humbug ist.
Politisches Agieren und Akteure der Politik
In der Tat, was soll dieses Recht bedeuten? Es gehört zum ABC der sozialistischen Politik, daß sie, wie jede andere Art von Unterdrückung, so auch die einer Nation durch die andere bekämpft. Wenn trotzalledem sonst so nüchterne und kritische Politiker wie Lenin und Trotzki mit ihren Freunden, die für jede Art utopische Phraseologie wie Abrüstung, Völkerbund etc. nur ein ironisches Achselzucken haben, diesmal eine hohle Phrase von genau derselben Kategorie geradezu zu einem Steckenpferd machten, so geschah es, wie uns scheint, aus einer Art Opportunitätspolitik. Lenin und Genossen rechneten offenbar darauf, daß es wohl kein sicheres Mittel gäbe, die vielen fremden Nationalitäten im Schöße des russischen Reiches an die Sache der Revolution, an die Sache des sozialistischen Proletariats zu fesseln, als wenn man ihnen im Namen der Revolution und des Sozialismus die äußerste unbeschränkteste Freiheit gewährte, über ihre Schicksale zu verfügen. Es war dies einen Analogie zu der Politik der Bolschewiki den russischen Bauern gegenüber, deren Landhunger die Parole der direkten Besitzergreifung des adeligen Grund und Bodens befriedigt und die dadurch an die Fahnen der Revolution und der proletarischen Regierung gefesselt werden sollten. In beiden Fällen ist die Berechnung leider gänzlich fehlgeschlagen. Während Lenin und Genossen offenbar erwarteten, daß sie als Verfechter der nationalen Freiheit »bis zur staatlichen Absonderung« Finnland, die Ukraine, Polen, Litauen, die Baltenländer, die Kaukasier usw. zu ebenso vielen treuen Verbündeten der Revolution machen würden, erlebten wir das umgekehrte Schauspiel: Eine nach der anderen von diesen »Nationen« benutzte die frisch geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbünden und unter seinem Schutze die Fahnen der Konterrevolution nach Rußland selbst zu tragen. (S. 550 - 552)
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Aus: Rosa Luxemburg, Die russische Revolution, in: dies., Politische Schriften, hg. von Ossip Flechtheim, Frankfurt/M. 1987, S. 536-571.
OTTO BAUER Sozialismus und Nation Die Frage der Nation kann nur aufgerollt werden aus dem Begriff des Nationalcharakters. (...) Vor allem hat man dem Nationalcharakter mit Unrecht eine Dauerhaftigkeit zu geschrieben, die sich geschichtlich widerlegen läßt; (...) Der Nationalcharakter ist veränderlich. Charaktergemeinschaft verknüpft die Zugehörigen einer Nation während eines bestimmten Zeitalters, keineswegs aber die Nation unserer Zeit mit ihren Ahnen vor zwei oder drei Jahrtausenden. Wo wir von einem deutschen Nationalcharakter sprechen, meinen wir die gemeinsamen Charaktermerkmale der Deutschen eines bestimmten Jahrhunderts oder Jahrzehnts. Mit Unrecht hat man oft auch übersehen, daß es neben der nationalen Charaktergemeinschaft eine ganze Reihe anderer Charaktergemeinschaften gibt, von denen die der Klasse und des Berufes die weitaus wichtigsten sind. Der deutsche Arbeiter stimmt in gewissen Merkmalen mit jedem anderen Deutschen überein; das verknüpft die Deutschen zu einer nationalen Charaktergemeinschaft. Aber der deutsche Arbeiter hat mit seinen Klassengenossen aller anderen Nationen gemeinsame Merkmale. Das macht ihn zum Gliede der internationalen Charaktergemeinschaft der Klasse (...) Es wäre eine müßige Frage, ob etwa die Charaktergemeinschaft der Klasse intensiver ist als die nationale Charaktergemeinschaft oder umgekehrt. Fehlt es doch für die Messung der Intensität solcher Gemeinschaften an jedem objektiven Maßstab. (S. 2 - 4) Dies also, daß zwischen den Gliedern einer
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Nation eine Verkehrsgemeinschaft besteht, eine stete Wechselwirkung im mittelbaren und unmittelbaren Verkehr miteinander, das scheidet die Nation von der Charaktergemeinschaft der Klasse. Man darf vielleicht sagen, daß die wirkenden Einflüsse der Lebensweise, des Schicksals die Arbeiter verschiedener Nationen gleichartiger bestimmen als die verschiedenen Klassen einer und derselben Nation, daß daher auch dem Charakter nach die Arbeiter verschiedener Länder einander viel ähnlicher sind als Bourgeois und Arbeiter desselben Landes. Aber das scheidet trotz alldem die Charaktergemeinschaft der Nation von der der Klasse, daß jene aus Schicksalsgemeinschaft, diese aus bloßer Gleichartigkeit des Schicksals entsteht. (S. 113) So gelangen wir erst zu einer vollständigen Begriffsbestimmung der Nation. Die Nation ist die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen. Durch Schicksalsgemeinschaft: dieses Merkmal scheidet sie von der internationalen Charaktergesamtheit des Berufes, der Klasse, des Staats volkes, die auf Gleichartigkeit des Schicksals, nicht auf Schicksalsgemeinschaft beruhen. Die Gesamtheit der Charaktergenossen: das scheidet sie von den engeren Charaktergemeinschaften innerhalb der Nation, die niemals eine sich selbst bestimmende, durch eigenes Schicksal bestimmte Naturund Kulturgemeinschaft bilden, sondern in engem Verkehr mit der Gesamtnation stehen und daher auch durch ihr Schicksal bestimmt werden. (S. 135 f.) Aus: Otto Bauer: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, 2. Aufl. Wien 1924.
THOMAS MASARYK Sozialismus und Nation Sehr wichtig für das Verständnis und die Wertung des Nationalitätenprinzips ist es, das Verhältnis der Nationalität zum Staate zu bestimmen. Die Pangermanen stellen, obwohl sie sich auf das Nationalitätsprinzip berufen, den Staat über die Nationalität; im Staate sehen sie den Gipfel der gesellschaftlichen Organisation, die höchste und führende Macht, und sie wiederholen öffentlich, das nationale Prinzip sei bereits überholt. Ähnlich erklären andere die Kirche für die höchste Organisation, andere wieder die Proletarierklasse. Ich glaube, es sei richtig, die Nationen und Nationalität als Ziel gesellschaftlichen Strebens anzusehen, den Staat als Mittel; de facto strebt jede bewußte Volksgemeinschaft ihren eigenen Staat an. (S. 51 f.) Der Sozialismus, oder besser gesagt, die Sozialdemokratie, welche sich auf den Marxismus stützt, hat sich unfähig erwiesen, diesen Krieg [der Erste Weltkrieg] zu begreifen und richtig zu beurteilen; der marxistische historische (ökonomische) Materialismus verfügt nicht über die richtige Psychologie, ist nicht imstande, die individuellen und gesellschaftlichen Kräfte, welche sich nicht auf die sogenannten wirtschaftlichen Verhältnisse reduzieren lassen, scharf genug zu erfassen und zu werten. Der Marxist begreift darum nicht, daß die Nationalität, die nationale Idee und das nationale Prinzip eine selbständige politische Kraft neben den wirtschaftlichen Interessen darstellen, und ebenso ist er unfähig, die anderen Kräfte zu begreifen, so die Religion usw. Die Reduktion aller gesellschaftlichen Triebkräfte auf wirtschaftliche Interessen ist eine psychologische Unmöglichkeit. Nur ein Teil der Marxisten hat sich von dieser marxistischen Einseitigkeit befreit, und nur ein Teil hat die Fähigkeit, die wichtige Rolle der Nationalität in diesem Kriege einzusehen. (S. 83)
Politisches Agieren und Akteure der Politik
Aus: Thomas Masaryk, Das neue Europa. Der slavische Standpunkt, Berlin 1991.
HERMANN HELLER Sozialismus und Nation Die Idee der gerechten Gemeinschaft hat allgemeine, nicht nur auf eine Klasse oder Nation bezogene Gültigkeit. (...) Die Verwirklichung des sozialistischen Gemeinschaftsgedankens darf von keinem Wunder erwartet werden, am allerwenigsten von dem Wunder der sich selbst vollziehenden Dialektik der Geschichte. Wir sind heute vor persönliche und gesellschaftliche Wirklichkeiten gestellt und haben diese mit Geist und Tat zu durchdringen. Vor keiner dieser Wirklichkeiten dürfen wir in eine unfruchtbare Negation ausbiegen, alle wollen gewogen und positiv oder negativ zum Aufbau verwertet sein. Zu den Wirklichkeiten, mit denen die tatbereite Auseinandersetzung des Sozialismus am dringendsten erscheint, gehört die Nation. (S. 445) Wir kommen also auf Grund aller vorausgegangenen Darlegungen zu dem bedeutungsvollen Schluß: Die Nation ist eine endgültige Lebensform, die durch den Sozialismus weder beseitigt werden kann noch beseitigt werden soll. Sozialismus bedeutet keineswegs das Ende, sondern die Vollendung der nationalen Gemeinschaft, nicht die Vernichtung der nationalen Volksgemeinschaft durch die Klasse, sondern die Vernichtung der Klasse durch eine wahrhaft nationale Volksgemeinschaft. (S. 468) Aus: Hermann Heller, Sozialismus und Nation, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2. Aufl., Tübingen 1992, S. 437526.
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THEODOR W . ADORNO Totalität der Gesellschaft und moderne Zivilisation Wenn die Theorie erweist, daß es mit dem gerechten Tausch, der bürgerlichen Freiheit und Humanität fragwürdig bestellt ist, so fallt Licht damit auf den Doppelcharakter der Klasse. Er besteht darin, daß ihre formale Gleichheit die Funktion sowohl der Unterdrückung der anderen Klasse hat wie die der Kontrolle der eigenen durch die Stärksten. (...) In der Marktwirtschaft war die Unwahrheit am Klassenbegriff latent: unterm Monopol ist sie so sichtbar geworden wie seine Wahrheit, das Überleben der Klassen, unsichtbar. Mit der Konkurrenz und ihrem Kampf ist auch soviel von der Einheit der Klasse verschwunden, wie als Spielregel des Kampfes, als Gemeininteresse die Konkurrenten zusammenhielt. Es wird der Bourgeoosie so leicht, dem Proletariat gegenüber ihren Klassencharakter zu verleugnen, weil in der Tat ihre Organisation die Form des Consensus der Interessengleichen abwirft (...) Die Prognose der Theorie von den wenigen Eigentümern und der überwältigenden Masse der Besitzlosen ist erfüllt, aber anstatt, daß damit das Wesen des Klassengegensatzes eklatant geworden wäre, wird es von der Massengesellschaft verzaubert, in der die Klassengesellschaft sich vollendet. (S. 379 f.) Die Menschen sind, vermöge ihrer Bedürfhisse und der allgegenwärtigen Anforderungen des Systems, wahrhaft zu dessen Produkten geworden: als ihre eigene erfassende Verdinglichung, nicht als unerfaßte Roheit vollendet unterm Monopol die Entmenschlichung sich an den Zivilisierten, ja sie fallt mit ihrer Zivilisation zusammen. Die Totalität der Gesellschaft bewährt sich daran, daß sie ihre Mitglieder nicht nur mit Haut und Haaren beschlagnahmt, sondern nach ihrem Ebenbild schafft. Darauf ist es in letzter Instanz mit der Polarisation der Spannung in Macht und Ohnmacht abgesehen. (S. 390)
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Aus: Theodor W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt/M. 1990, S. 373-391.
bunden ist, so daß sie sogar in Notzeiten die Nation vermutlich unterstützen werden und somit ihren Bestand sichern. (Diese nationale Legitimität, die in den Überzeugungen der eigenen Bevölkerung verankert ist, kann von der Meinung anderer Bevölkerungen oder fremder Regierungen in hohem Maße unabhängig sein.) (S. 24)
KARL W . DEUTSCH Ein moderner Begriff der Nation Nach diesen Überlegungen werden wir wahrscheinlich die gedankenreiche Definition Carl Friedrichs der Nation zu würdigen wissen. Wenn ich sie richtig verstanden habe, scheint seine weiter ausgeführte Definition mindestens fünf Hauptpunkte zu implizieren. Nach seiner Definition ist eine Nation jede umfangreiche Bevölkerung oder Personengruppe, die folgende Kriterien ausweist: 1. sie ist unabhängig in dem Sinne, daß sie nicht von außen beherrscht wird; 2. sie ist kohäsiv aufgrund ihrer bedeutend effektiveren Verhaltensweisen hinsichtlich flüssiger und mannigfaltiger sozialer Kommunikation und Kooperation verglichen mit den entsprechenden Fähigkeiten und Motivationen für die Kommunikation und Kooperation mit der Außenwelt; 3. sie ist politisch organisiert in dem Sinne, daß sie ein Wahlgebiet, über das die Regierung die effektive Herrschaft ausübt; 4. sie ist autonom insofern, als sie dieser Regierung ausreichend Zustimmung, Konsensus, Fügsamkeit und Unterstützung entgegenbringt, um ihre Herrschaft effektiv zu machen; 5. sie ist national legitimiert in dem Sinne, daß die Gewöhnung, der Regierung Folge zu leisten und sie zu unterstützten - oder zumindest die Gewöhnung an die gegenseitige politische Zusammenarbeit und an die Mitgliedschaft in der Nation - , mit breiteren Glaubensvorstellungen über das Ganze und über ihr eigenes Wesen, über ihre Persönlichkeiten und über ihre Kultur ver-
Aus: Karl W. Deutsch, Nationenbildung und nationaler Entwicklungsprozeß. Einige Fragen für die politikwissenschaftliche Forschung, in: ders, Nationenbildung, Nationalstaat, Integration, hg. von A. Ashkenasi, P. Schulze, Düsseldorf 1972, S. 16-25.
DANIEL BELL Die nachindustrielle Gesellschaft Und schließlich läßt sich die Bedeutung der nachindustriellen Gesellschaft in vier Punkten zusammenfassen: 1. Sie stärkt die Rolle der Wissenschaft und der Erkenntniswerte, die für die Institutionen der Gesellschaft eine Grundnotwendigkeit darstellen. 2. Indem sie die Entscheidungen mehr und mehr zu einer Angelegenheit der Technik macht, bezieht sie Wissenschaftler und Ökonomen unmittelbarer in den politischen Prozeß mit ein. 3. Indem sie die bereits bestehenden Tendenzen zur Bürokratisierung der Kopfarbeit vertieft, stellt sie die traditionellen Definitionen geistiger Zielsetzungen und Werte in mehrerlei Hinsicht in Frage. 4. Durch die Heranbildung einer zahlenmäßig stetig zunehmenden technischen Intelligentsia macht sie die Beziehungen zwischen technisch und geisteswissenschaftlich gebildeten Intellektuellen zum Problem. Kurzum, das Aufkommen einer neuen Ge-
Politisches Agieren und Akteure der Politik
sellschaft stellt die für jede Gesellschaft zentrale Verteilung von Macht, Reichtum und Status in Frage. Nun sind Macht, Reichtum und Status keineswegs Dimensionen einer Klasse, sondern von Klassen angestrebte oder erworbene Werte. (...) In der westlichen Gesellschaft sind die zwei wichtigsten Schichtungsachsen Eigentum und Wissen. Daneben gibt es noch ein politisches System, das die beiden anderen in zunehmendem Maße dirigiert und zeitweise Eliten hervorbringt (zeitweise insofern, als die Amtsfiinktionen einer bestimmten sozialen Gruppe die Kontinuität der Macht nicht ebenso sicher garantieren wie der Besitz und der besondere Vorzug, einer Meritokratie anzugehören, die Kontinuität einer Familie oder Klasse). (S. 52 f.) All diese Veränderungen vollziehen sich innerhalb einer Gesellschaft, die sich (besonders, was die Angehörigen der wissenschaftlichen und technischen Berufe betrifft) fortwährend ausweitet, die technokratische und politische Entscheidungen kombiniert und den Aufstieg einer neuen Klasse erlebt. Diese Klasse wird u. U. darauf ausgehen, sich als neue herrschende Klasse mit festem Zusammenhalt in der Gesellschaft zu etablieren. All dies sind für eine nachindustrielle Gesellschaft spezifische Probleme. (...) In der heutigen Gesellschaft verläuft die Trennlinie nicht mehr zwischen dem Eigentümer der Produktionsmittel und einem homogenen »Proletariat«; entscheidend sind nunmehr die bürokratischen und die Autoritätsbeziehungen zwischen Leuten mit und solchen ohne Entscheidungsbefugnissen in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Organisationen aller Art. (S. 119 f.) Nach meiner Definition setzt sich die wissenschaftlich-akademische Klasse also aus vier Ständen zusammen: Wissenschaftlern, Technologen, Verwaltungsexperten und Kulturschaffenden. Diese Stände sind wohl durch ein gemeinsames Ethos verbunden, haben aber abgesehen von der Bereitschaft, die Bildungsidee zu verteidigen, keine gemeinsamen Interessen, ja, in Wirklichkeit steht sogar allerlei Tren-
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nendes zwischen ihnen. (...) Diese Kluft zwischen Sozialstruktur und Kultur wird sich in der nachindustriellen Gesellschaft vertiefen und so fraglos den Zusammenhalt, bzw. das Zusammengehörigkeitsgefühl der vier Stände noch weiter beeinträchtigen. Lassen sich die Klassen nach ihrem Status horizontal mit den vier Ständen an der Spitze darstellen, so ist die Gesellschaft dem jeweiligen Situs, d.h. dem faktischen Ort der beruflichen Aktivitäten und Interessen entsprechend auch vertikal organisiert. Ich bediene mich hier des ungebräuchlichen Soziologenbegriffs Situs, um die Tatsache zu unterstreichen, daß im heutigen Berufsleben die eigentlichen Interessenverquickungen und -konflikte eher zwischen den Organisationen, denen der einzelne angehört, stattfinden, und daß demgegenüber Statusidentität und Ethos nur eine diffuse und untergeordnete Rolle spielen. Gibt es für die Klasse der Eigentümer oder Geschäftsleute in der kapitalistischen Gesellschaft einen und nur einen Ort der Tätigkeit, nämlich den Geschäftsbetrieb oder die AG, d.h. fallen Status und Situs zusammen, so verteilen sich die vier Stände der nachindustriellen Gesellschaft auf die verschiedensten Situs. Manche Wissenschaftler arbeiten für Wirtschaftsunternehmen, andere für die Regierung, wieder andere für Universitäten, gesellschaftliche Institutionen oder das Militär (...) Und ein ganz ähnliches Verteilungsschema gilt auch für die Technologen und Manager. Auf Grund dieser »Streuung« aber sinkt die Wahrscheinlichkeit, daß die vier Stände politisch jeweils ein eigenes »Standesbewußtsein« entwickeln werden. (S. 274 f.) Aus: Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt/M. und New York 1985. Im Verlaufe des Vierteljahrhunderts nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Vereinigten Staaten zum erstenmal zu einer nationalen Gesell-
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schaft. Sie waren schon lange eine »Nation«, da sie eine nationale Identität und nationale Symbole erlangt hatten. Aber erst im Gefolge der Revolutionierung von Kommunikation und Verkehrswesen nach dem Kriege entwickelten sie sich zu einer nationalen Gesellschaft - in dem umfassenden Sinne, daß Veränderungen in einem Bereich der Gesellschaft nun begannen, eine unmittelbare und widerhallende Auswirkung auf alle anderen Bereiche zu haben. (S. 230) Aus: Daniel Bell, Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technologie im Widerstreit, Frankfurt/M. 1976.
JÜRGEN HABERMAS Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität einnehmen? Die Frage, ob eine komplexe, beispielsweise unsere Gesellschaft eine vernünftige Identität ausbilden könne, verweist auf den Sinn, in dem ich das Wort Identität verwenden möchte: eine Gesellschaft hat nicht in dem trivialen Sinne eine ihr zugeschriebene Identität (...) Eine Gesellschaft bringt ihre Identität in gewisser Weise hervor; sie verdankt es der eigenen Leistung, wenn sie ihre Identität nicht verliert. Die Rede von der vernünftigen Identität verrät überdies den normativen Gehalt des Begriffs. Wir unterstellen damit, daß eine Gesellschaft ihre »eigentliche« oder »wahre« Identität verfehlen kann. (S. 92) Denn nach universalistisch zu rechtfertigenden Nonnen lassen sich bestimmte Gruppen von identitätsbildender Kraft (wie Familie, Stadt, Staat oder Nation) nicht mehr privilegieren. An die Stelle der eigenen Gruppe tritt vielmehr die Kategorie des »anderen«, der nicht länger durch seine Nicht-Zugehörigkeit als ein Fremder definiert ist, sondern für das Ich beides in einem ist:
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absolut gleich und absolut verschieden, Nächster und Fernster in einer Person. Entsprechend müßte die staatsbürgerliche oder nationale Identität zu einer weltbürgerlichen oder universalen Identität erweitert werden. Aber kann eine solche Identität überhaupt einen genauen Sinn haben? Die Menschheit im ganzen ist eine Abstraktum und nicht eine Gruppe im Weltmaßstab, die in ähnlicher Weise wie Stämme oder Staaten eine Identität ausbilden könnte (...) Und wenn nicht die Menschheit im ganzen oder eine Weltgesellschaft, wer sonst könnte den Platz einer übergreifenden kollektiven Identität einnehmen, an der sich post-konventionelle IchIdentitäten bilden? (S. 96 f.) Ich vermute, daß die Frage nach den Möglichkeiten einer kollektiven Identität überhaupt anders gestellt werden muß: solange wir nach Ersatz für eine religiöse Lehre suchen, die das normative Bewußtsein einer ganzen Bevölkerung integriert, unterstellen wir, daß auch moderne Gesellschaften ihre Einheit noch in Form von Weltbildern konstituieren, die eine gemeinsame Identität inhaltlich festschreiben. Davon können wir nicht mehr ausgehen. Eine kollektive Identität können wir heute allenfalls in den formalen Bedingungen verankert sehen, unter denen Identitätsprojektionen erzeugt und verändert werden. (S. 107) Wenn wir uns alle diese Schwierigkeiten vor Augen führen - folgt daraus, daß die Frage, ob und wie komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden können, gar keine sinnvolle Frage ist? Diese Konsequenz wird in der Tat von Niklas Luhmann sehr energisch gezogen. Luhmann behauptet, daß komplexe Gesellschaften eine Identität durch das Bewußtsein ihrer Systemmitglieder hindurch nicht mehr herstellen können. Die über symbolische Deutungsund Wertsysteme erzeugte Intersubjektivität des Erkennens, Erlebens und Handelns in einer sozialen Lebenswelt hat eine zu geringe Kapazität, um den Steuerungsbedarf hochdifferenzierter Teilsysteme aufeinander abzustimmen. Die
Politisches Agieren und Akteure der Politik
Hülle der normativ strukturierten Lebenswelt, die in den Hochkulturen über Religion, Recht und politische Institutionen geformt und zusammengehalten worden ist, wird von den wachsenden Systemproblemen aufgesprengt (...). Die Identität der Weltgesellschaft kann, das ist die These, nur noch auf der Ebene der Systemintegration, also so, daß die hochdifferenzierten Teilsysteme füreinander angemessene Umwelten darstellen, und nicht mehr auf der Ebene der Sozialintegration zustande kommen. (S. 112) Der Generaleinwand gegen diese Kette von Behauptungen ist einfach. In der Sprache der Systemtheorie lautet er: eine hinreichende Systemintegration der Gesellschaft ist kein funktionelles Äquivalent für ein erforderliches Maß an SozialintegTation. Das soll heißen: die Erhaltung eines Gesellschaftssystems ist nicht möglich, wenn nicht die Erhaltungsbedingungen der Systemmitglieder erfüllt werden. Die im Entstehen begriffene Weltgesellschaft mag ihre Steuerungskapazitäten noch so sehr erhöhen; wenn dies nur um den Preis der humanen Substanz möglich ist, müßte jeder weitere evolutionäre Schub die Selbstzerstörung der vergesellschafteten Individuen und ihrer Lebenswelt bedeuten. (S.114) Aus: Jürgen Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, in: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1982, S. 92-126.
Niklas Luhmann Soziale Klassen Wenn man aber den Zentralgedanken festhalten will, daß das Verteilen des Verteilens durch die Einheit der Differenz von Klassen vermittelt wird, oder wenn man zumindest klären will, ob
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und wieweit das der Fall ist, braucht man dafür einen funktionsfähigen Begriff. (...) Wenn der Klassenbegriff die Verteilung der Verteilung bezeichnen soll - und welcher andere Begriff stünde heute dafür zur Verfügung? - , gehört er als Begriff für einen reflexiven Sachverhalt in die Semantik der Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems. Er bezeichnet keinen primären Sachverhalt, auch nicht die soziale Ungleichheit als solche: vielmehr beschreibt die Gesellschaft im Klassenbegriff sich selbst als ein System, das Individuen aufVerteilungen verteilt und zu verkraften hat, daß dies ein Vorgang ist, der auch anders möglich wäre. Nur in dieser Form läßt sich ein Verteilungsbewußtsein vom Grundsachverhalt der Ungleichheit abheben, und nur so kann man zur Diskussion stellen, ob Ungleichheit nicht anders gesteuert werden sollte - etwa nach Maßgabe von Bedürfnissen und Verdiensten und nicht nach Maßgabe der Stellung im Produktionsprozeß. Diese Zuordnung zum Selbstbeschreibungssyndrom der Gesellschaft bedeutet zugleich, daß der Klassenbegriff in einem spezifischen Sinne als historischer Begriffbehandelt werden muß, und zwar als ein Begriff, der in den Sachverhalt, den er bezeichnet, mit eingeschlossen ist. Er bezeichnet und leistet einen Beitrag zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft in einer bestimmten Phase ihrer Evolution. Dementsprechend bestimmen wir den Begriff der sozialen Klasse vor dem Hintergrund einer Gesellschaftsordnung, deren Zusammenbruch die Klassentheorie motiviert hat. Bis ins 18. Jahrhundert hinein konnte die europäische Gesellschaft sich ähnlich wie alle anderen entwickelten Gesellschaften als eine stratifizierte Ordnung begreifen. Sie war in erster Linie in Schichten gegliedert. (S. 129) In etwas anderer Formulierung kann man den Unterschied von stratifizierten Gesellschaften und Gesellschaften mit Klassenbildung auch dadurch bezeichnen, daß Klassen größere Freiheiten der Rollenkombination im Individuum
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zulassen als die Schichten der älteren Gesellschaftsordnung. Stratifizierte Gesellschaftsordnungen müssen die für den Einzelnen zulässige Rollenkombination unter Beschränkungen setzen, weil gerade darin die Schichtzugehörigkeit des Einzelnen und die Erwartungen, die an seiner Interaktionsteilnahme gestellt werden können, zum Ausdruck kommen. Das hat eine negative und eine positive Seite: bestimmte Rollen werden durch Schichtzugehörigkeit ausgeschlossen, andere gefordert. Die Klassengesellschaft konzediert demgegenüber größere Freiheiten der Rollenwahl. (...) Eine der wichtigsten Konsequenzen des Überganges von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung mit Klassenbildung betrifft schließlich die Bewußtseinslage. In einer ständischen Ordnung war als selbstverständlich vorausgesetzt, daß jeder Einzelne weiß, welchen Standes er ist. Ohne dieses Wissen wüßte er nicht, wer er ist, und wüßte er auch nicht, welcher Erwartungen er zu erfüllen hat. Ohne Kenntnis seines Standes könnte er nicht in Interaktion treten. Eine Gesellschaft, die Schichtung nur noch als Klassenbildung realisiert, muß diese Prämisse aufgeben. Arbeiten kann auch, wer nicht weiß, daß er ein Proletarier ist, und nicht unter Entfremdung leidet, sondern unter Hypothekenzinsen und Abzahlungsbedingungen. (S. 131 f.)
II. Kapitel
schaft, durch formale Organisation und durch individuelle Ansprüche. Die einzelne Interaktion verliert ihren Schichtenzugehörigkeitsindex, und dieser Index wird auch nicht ersetzt. (S. 141 f.) In der Theorie von Karl Marx wird die funktionale Differenzierung unterbelichtet - gerade weil es im »Kapital« auf so überzeugende Weise gelungen ist, den Gegensatz der Klassen mit Hilfe einer Theorie der Wirtschaft zu artikulieren. Die Theorie der funktional differenzieren Gesellschaft hat dagegen einen Platz für den Klassenbegriff. Sie kann zeigen, daß bei funktionaler Differenzierung Schichtunterschiede erzeugt und vielleicht sogar verschärft werden, obwohl sie funktional ohne Bedeutung sind, ja vielleicht sogar negativ auf die Gesellschaft zurückwirken. Und sie legt es nahe, anzunehmen, daß die Semantik der sozialen Klassen ihrerseits die Funktion hat, die Funktionslosigkeit der Klassendifferenz auf der Folie der Gleichheit aller Menschen sichtbar zu machen und als Thema der Kommunikation präsent zu halten. (S. 151) Aus: Niklas Luhmann, Zum Begriff der sozialen Klasse, in: ders., Hg., Soziale Differenzierung. Geschichte einer Idee, Opladen 1985, S. 119-162.
Um erkennen zu können, worin die Anpassung an die Bedingungen eines funktional differenzierten Gesellschaftssystems liegt, müssen wir aber die Eigenart dieser Ordnung mit in den ERNEST GELLNER Blick ziehen. Und dann wendet sich auch die negative Formulierung, das Verzichten auf Inter- Nationalismus und Moderne aktionsregulierung, in eine positive Formulierung: die Interaktionssysteme werden in stärke- An der Basis der modernen sozialen Ordnung rem Maße freigegeben für Regulative anderer steht nicht der Henker, sondern der Professor. Art. Die Gesellschaft wird auf der Ebene der Nicht die Guillotine, sondern das (passend beInteraktion, was die Schichtung angeht, entstabi- nannte) doctorat d'etat — oder das deutsche lisiert, um Zugriffe anderer Art zu ermöglichen. »Staatsexamen« - bildet das wichtigste WerkDiese Zugriffe können nun sehr viel komplexer zeug und Symbol moderner staatlicher Macht. konditioniert werden als durch Schichtung, näm- Das Erziehungsmonopol ist heute weitaus wichlich durch die Funktionssysteme der Gesell- tiger und zentraler als das Monopol auf die legiti-
Politisches Agieren und Akteure der Politik
me Gewalt. Sobald man dies verstanden hat, kann man auch den Imperativ des Nationalismus und seine Wurzeln verstehen - denn diese liegen nicht in der menschlichen Natur als solcher, sondern in einer bestimmten Art von Gesellschaftsordnung, die inzwischen alles durchdringt. (S. 56 f.) Das große reale Paradox lautet: Nationen können nur in Begriffen des Zeitalters des Nationalismus definiert werden, und nicht wie man hätte denken sollen, umgekehrt. Es stimmt nicht, daß die »Ära des Nationalismus« eine bloße Summe des Erwachens und der politischen Selbstbehauptung dieser, jener undjener anderen Nation darstellt. Vielmehr entsteht erst, wenn die allgemeinen sozialen Verhältnisse nach standardisierten, homogenen und durch staatliche Zentralgewalt geschützten Hochkulturen rufen nach Hochkulturen also, die die Gesamtbevölkerung und nicht nur die Minderheiten der Elite durchdringen -, eine Situation, in der klar definierte, durch Ausbildung sanktionierte und vereinheitlichte Kulturen fast schon die einzige Art Einheit bilden, mit der sich Menschen bereitwillig und glühend identifizieren. Nunmehr scheinen die Kulturen die natürlichen Lagerstätten der politischen Legitimität zu sein. Erst jetzt wird jede Verletzung kultureller Grenzen durch politische Einheiten als Skandal empfunden. Unter diesen Bedingungen wollen die Menschen mit all jenen - und nur mit denjenigen politisch vereinigt werden, die ihre Kultur teilen. Politische Staatswesen streben nunmehr danach, ihre Grenzen bis zu den Grenzen ihrer Kulturen zu erweitern, und die Kultur in den Grenzen ihres Machtbereichs zu schützen und durchzusetzen. Die Fusion von Wille, Kultur und staatlicher Einheit wird damit zur Norm, die nicht leicht oder häufig verletzt wird. (Früher war diese Norm fast überall straflos verletzt worden, und dies blieb durchweg unbemerkt und unbestritten) Diese Bedingungen definieren nicht die menschliche Situation als solche, sondern nur eine ihrer Varianten: die der Menschen in modernen Industriegesellschaften.
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Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, und nicht umgekehrt. (S. 86 f.) Der Nationalismus ist seinem Wesen nach die allgemeine Durchsetzung einer Hochkultur in einer Gesellschaft, in der zuvor niedrige Kulturen das Leben der Mehrheit und in manchen Fällen der Gesamtheit der Bevölkerung ausgemacht hatten. Er bedeutet die generalisierte Ausbreitung eines durch das Schulwesen vermittelten und durch Akademien überwachten Idioms, das für die Erfordernisse einigermaßen präziser bürokratischer und technologischer Kommunikation kodifiziert wird. Der Nationalismus steht somit für die Errichtung einer anonymen, unpersönlichen Gesellschaft aus austauschbaren atomisierten Individuen, die vor allem anderen durch eine solche gemeinsame Kultur zusammengehalten wird - anstelle der früheren komplexen Strukturen lokaler Gruppen, zusammengehalten durch Volkskulturen, die sich lokal und nach ihren eigenen Traditionen innerhalb dieser Mikro-Gemeinschaften selbst reproduzierten. (S. 89) Aus: Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991.
MANCUR OLSON Soziale Gruppen verhindern das nationale Gemeinwohl Das Argument dieses Buches beginnt mit einem Paradox im Verhalten von Gruppen. Oft wird als erwiesen angenommen: Wenn jeder in einer Gruppe von Individuen oder Unternehmen ein bestimmtes gemeinsames Interesse teilt, dann wird die Gruppe dazu neigen dieses Interesse zu fördern. So haben viele Politikwissenschaftler in denVereinigten Staaten lange Zeit angenommen, daß Bürger mit einem gemeinsamen politischen Interesse sich organisieren und eine
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Lobby bilden werden, um diesem Interesse zu dienen. (...) Entsprechend erwartet man von den großen sozialen Klassen, daß sie im Interesse ihrer Mitglieder handeln; (...) Wenn wir über die Logik der vertrauten Annahme nachdenken, die wir im vorstehenden Absatz erläutert haben, werden wir sehen, daß sie grundsätzlich und unbestreitbar falsch ist. (...) Die bloße Tatsache, daß das Ziel oder Interesse der Gruppe gemeinsam ist oder von ihr geteilt wird, bedeutet, daß der Gewinn aus jedem Opfer, das der einzelne im Dienste des gemeinsamen Zwecks macht, mit jedem in der Gruppe geteilt wird. Der erfolgreiche Boykott oder Streik oder Gesetzgebungseinfluß wird einen günstigeren Preis oder Lohn für jeden in der betreffenden Kategorie bewirken, daher wird der einzelne in jeder großen Gruppe mit einem gemeinsamen Interesse nur einen winzigen Teil der Vorteile irgendeines der Opfer ernten, die er des gemeinsamen Interesses willen auf sich genommen hat. Da jeder Vorteil jedem in der Gruppe zugute kommt, werden diejenigen, die zur Leistung nichts beigetragen haben, genausoviel erhalten wie diejenigen, die ihren Beitrag geleistet haben. Es lohnt sich Hannemann vorangehen zu lassen, aber auch Hannemann hat nur geringen oder gar keinen Anreiz, etwas im Gruppeninteresse zu machen; daher wird es (...) ein Gruppenhandeln nur in geringem Umfang geben, wenn überhaupt. Das Paradox ist daher, daß (in Abwesenheit von besonderen Vorkehrungen oder Umständen, denen wir uns später zuwenden werden) große Gruppen nicht in ihrem Gruppeninteresse handeln werden, zumindest nicht dann, wenn sie aus rationalen Individuen bestehen. (S. 20 f.) Folgerungen: 1. Es wird keine Länder geben, die eine symmetrische Organisation aller Gruppen mit einem gemeinsamen Interesse erlangen und die dabei durch umfassende Verhandlungen optimale Ergebnisse erzielen. - 2. Stabile Gesellschaften mit unveränderten Grenzen neigen dazu, im Laufe der Zeit mehr Zusammenschlüsse und Organisationen fur kollektives Handeln
II. Kapitel
zu akkumulieren. - 3. Mitglieder von »kleinen« Gruppen haben vergleichsweise große Organisationsmacht für kollektives Handeln; dieses Mißverhältnis verringert sich mit der Zeit in stabilen Gesellschaften, aber es verschwindet nicht. - 4. Im Ergebnis vermindern Sonderinteressengruppen und Kollisionen die Effizienz und das Gesamteinkommen der Gesellschaften, in denen sie wirken, und sie machen das politische Leben zwieträchtiger. - 5. Umfassende Organisationen haben einen Anreiz, die Gesellschaft, in der sie tätig sind, blühender zu machen, und einen Anreiz, Einkommen an ihre Mitglieder mit möglichst geringen sozialen Kosten umzuverteilen und solche Umverteilungen zu beenden, wenn der umverteilte Betrag im Verhältnis zu den sozialen Kosten der Umverteilung nicht erheblich ist. - 6. Verteilungskoalitionen treffen Entscheidungen langsamer als die Individuen und Unternehmen, die sie umfassen, sie neigen dazu, überfüllte Tagesordnungen und Verhandlungstische zu haben und setzen häufiger Preise statt Mengen fest. - 7. Verteilungskoalitionen verringern die Fähigkeit einer Gesellschaft, neue Technologien anzunehmen und eine Reallokation von Ressourcen als Antwort auf sich verändernde Bedingungen vorzunehmen, und damit verringern sie die Rate des ökonomischen Wachstums. - 8. Verteilungskoalitionen sind exklusiv, sobald sie groß genug sind, um erfolgreich zu sein, und sie versuchen die Unterschiedlichkeit der Einkommen und Werte ihrer Mitglieder zu begrenzen. - 9. Die Zunahme von Verteilungskoalitionen erhöht die Komplexität der Regulierung, die Bedeutung des Staates und der Komplexität von Übereinkommen, und sie ändert die Richtung der sozialen Evolution. (S. 98) Aus: Mancur Olson, Aufstieg und Niedergang der Nationen. Ökonomisches Wachstum, Stagflation und soziale Starrheit, Tübingen 1985.
Politisches Agieren und Akteure der Politik
Literatur zum 4. Abschnitt
Anderson, Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/New York 1988. Becher, Ursula, Politische Gesellschaft. Studien zur Genese bürgerlicher Öffentlichkeit in Deutschland, Göttingen 1978. Brunner, Otto, Das »ganze Haus« und die alteuropäische »Ökonomik«, in: ders., Neue Wege der Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze, Göttingen 1956, S. 33-61; 2. Aufl., Göttingen 1968, S. 103 ff. Emtmann, Anette, Die Zivilgesellschaft zwischen Revolution und Demokratie. Die »samtene Revolution« im Licht von Antonio Gramscis Kategorien der »societa civile«, Hamburg 1998. Gellner, Ernest, Nationalismus und Moderne, übersetzt von Meino Büning, Berlin 1991. Giesen, Bernhard, Hg., Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kulturellen Bewußtseins in der Neuzeit, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1991. Haltern, Utz, Bürgerliche Gesellschaft. Sozialtheoretische und sozialhistorische Aspekte, Darmstadt 1985. Hobsbawn, Eric, Nation und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt/ New York 1991.
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5. Politische Akteure: Politiker, Eliten und Massen MARCUS LLANQUE
Die Bewältigung politischer Komplexität durch politisches Handeln wird oft als eine so große Herausforderung dargestellt, dass sie nach einer exzeptionellen Gestalt verlangt. Doch selbst exzeptionelle Persönlichkeiten können ihre Fähigkeiten nur in bestimmten Konstellationen und nicht in einem beliebigen Umfeld entfalten. Der Spielraum des individuellen Handelns hängt von Kontingenzen oder Strukturen ab, auf die sie selber kaum Einfluss ausüben können, selbst wenn sie - wie der revolutionäre Politiker - genau diese Strukturen verändern wollen. Praktiker müssen die Ohnmacht ihrer Handlungsintentionen
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erkennen und beginnen, den Wandel der Gesellschaft tief greifender auf die hierbei zum Zuge kommenden Kräfte hin zu analysieren, so dass immer stärker kollektive Akteure wie ganze Völkerschaften oder Nationen in Augenschein genommen, schließlich anonyme Akteure als eigentliche Subjekte des politischen Geschehens thematisiert werden. Vom »Staatsmann« bis zur »charismatischen Führerpersönlichkeit« hat sich die politische Theorie daher nie dabei aufgehalten, nur die Singularität des Handelnden zu beschreiben, sondern die Einzelpersönlichkeiten jeweils als Fall bestimmter Akteursgattungen zu begreifen. Die Singularität individueller Persönlichkeit wird in der politischen Theorie nach den Begleitumständen ihres Wirkens hinterftagt auf der Suche nach verallgemeinerungsfähigen Strukturbedingungen individuellen Handelns: Individuen werden zu Akteursgattungen zusammengezogen. In der griechischen Ideengeschichte war es zunächst der Tyrann, der als besonderer Politikertypus diskutiert wurde. Tyrannis meinte zunächst verhältnismäßig wertneutral die Position desjenigen, der als Einziger die verbindlichen politischen Entscheidungen fällt. Das konnte gerade für die Durchsetzung der demokratischen Regierungsform förderlich sein, stützt sich der Tyrann doch oft genug in seinem Kampf gegen die ererbten Positionen des Adels auf die Zustimmung und Unterstützung der breiten, unprivilegierten Bevölkerung. Mit der etablierten Demokratie kommt ein neuer Akteurstypus zum Tragen: der Demagoge, der über die Beeinflussung der öffentlichen Meinung wirkt und lenkt. Perikles etwa, das unbestrittene Haupt der athenischen Demokratie vor und während der ersten Zeit des peleponnesischen Krieges gegen Sparta, verkörpert für Thukydides den Inbegriff des demokratischen Politikers. Gleichrangig mit den anderen Bürgern und ohne institutionelle Spitzenstellung, die alleine seinen tatsächlichen Einfluss begründen könnte, ermöglicht es ihm seine besondere Fähigkeit als Redner, zum Sprachrohr und damit zum Meinungsführer der demokratischen Bürgerschaft zu avancieren. Der Demagoge ist aber auch der Volksverführer, der weniger über vernunftgeleitete Argumente als vielmehr durch die Aufwühlung von Emotionen wirkt. Damit wird dem Demagogen eine intentionale Manipulationsabsicht, die absichtsvolle Verführung des Publikums, ob in der Völksversammlung auf der Pnyx oder als Publikum massenmedialer Kommunikation, unterstellt. Daher klagt Piaton Perikles an, nicht das Amt des politischen Führers ernstlich wahrzunehmen, denn dann müsste er das Volk erziehen wollen, sondern es nur mit Worten zu bestimmten Taten oder Unterlassungen zu verfuhren. Das Dilemma von politischer Führung und ethisch bedenklichem Gebrauch der politischen Fähigkeiten begleitet die Ideengeschichte bis in die Gegenwart. Ob es nun Fürstenspiegel des Mittelalters sind oder Ethik-Kodices der Gegenwart: Die Korruption, also der Missbrauch anvertrauter Macht, ist ein ständiger Begleiter der Politik. Erst Niccolo Machiavelli durchbricht den traditionellen Vorwurf des Ethikmangels und definiert, dass gerade die besonderen Begleitumstände politischen Handelns die herkömmlichen Ethikmaßstäbe untauglich machen. Im Kampf um das politische Überleben muss der Politiker
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Fähigkeiten entwickeln, die ihn im zwischenmenschlichen Zusammenleben verdächtig machen. Er muss zugleich Löwe sein können und Fuchs, sich an rasch wandelnde Situationen anpassen können, das Handeln der Kontrahenten antizipieren und schließlich selbst rücksichtslos handeln oder aber die Rücksichtslosigkeit anderer erleiden müssen. Während Machiavelli singuläre Politiker thematisiert, die politische Ordnungen gewaltsam erwerben und ihre Herrschaft sichern wollen, beschäftigt sich Tocqueville mit dem einfachsten politischen Akteur einer auf breitem Konsens ruhenden Demokratie, dem Bürger ohne Mandat und ohne politische Ambition. Damit beschäftigt sich Tocqueville am anderen Ende des Spektrums mit demjenigen Akteur, der aus der Sicht von Machiavellis Fürst nur Gegenstand seines politischen Gebarens ist. Tocquevilles Theorie des wohl verstandenen Eigeninteresses ist kein Menschenbild, sondern die Beschreibung des Agierens von gleichen Bürgern in einer Demokratie, die es verstehen, ihren Egoismus zu einer kooperationsiähigen, deswegen aber keineswegs altruistischen Form der Einkalkulierung der Interessen anderer Menschen zu erweitern. Tocqueville ist der Meinung, einen Begriff tatsächlichen Verhaltens zu geben und nicht nur ein Modell, das in der Weise der politischen Philosophie ein Bild zeichnet, wie der Mensch handeln sollte. Denn der im wohl verstandenen Eigeninteresse Handelnde wird unter den konkreten Bedingungen einer egalitären Demokratie tätig und wäre in anderen strukturellen Kontexten vielleicht geneigt, anders zu agieren. Zu den politischen Akteuren zählen auch die Verwaltungsstäbe der Politiker, wie sie Max Weber nennt, klassischerweise die Beamten. Obschon bereits den politischen Systemen der Antike bekannt, widmete ihnen die politische Theorie erst mit der Entstehung des modernen Staates ihre Aufmerksamkeit. Das beginnt nicht überraschend mit Jean Bodin, der die politische Theorie, wie sie ihm aus antiken und frühneuzeitlichen Schriften vertraut ist, erweitert, um das Phänomen der Staatlichkeit angemessen beschreiben zu können, das er anhand der zeitgenössischen Regierungspraxis beobachtet. Dazu zählt ein präziser Begriff des Beamten, seiner Aufgaben und Pflichten. Je bedeutender die Rolle des Staates im zivilisatorischen Prozess eingeschätzt wird, desto anspruchsvoller sind die Erwartungen an das Beamtentum. Diesem spricht Hegel eine herausragende Bedeutung bei der Verwirklichung der Idee der politisch organisierten Freiheit im welthistorischen Verlauf zu. Das demokratische Ziel, die gesamte Bevölkerung an der Politik zu beteiligen, war mit großen Erwartungen und Hoffnungen verbunden. Die Politik sollte dadurch zivilisiert werden, dass man sie aus den Händen sozialer Eliten in die Verantwortung jener stellt, die von der Politik am ehesten betroffen sind. Immanuel Kant etwa erwartete mit der Demokratisierung auch eine Verminderung der Kriegsbereitschaft, würde doch das Volk, welches als Erstes unter den Kriegslasten zu leiden habe, am geringsten ein Interesse daran verspüren, Kriege überhaupt erst zu beginnen. Die Demokratisierung der Politik kann aber auch ganz anders thematisiert werden: als Niveauverlust, als Regime der Straße, als Willkürherrschaft der schieren Zahl, deren Argumente deswegen aber noch nicht größeres Gewicht
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haben müssen. Statt nun die Akteurstypen mit zunehmender quantitativer Partizipation auch immer mehr nach qualitativen Merkmalen zu differenzieren, verband sich der Vertrauensverlust, den die Demokratie am Ende des 20. Jahrhundert erlitt, mit einer eigentümlichen Reaktion der politischen Theorie, nur noch zwei Haupttypen in der politischen Arena zu erkennen: die Elite und die Masse. Kollektive Akteurstypen werden immer abstrakter und generalisierter modelliert, bis sie in der Idee der »Masse« den Höhepunkt an Verallgemeinerung erlangen: Hier ist der Verlust an Differenz, das Ablegen aller individuellen Eigenschaften ausdrückliches Merkmal des Phänomens. Eliten und Massen agieren meist informell und bilden so den Gegenpol zu den offiziellen Institutionen. Gustave Le Bon hat Vorarbeiten italienischer Kriminalpsychologen (Sighele, Tarde) aufgegriffen. Die dort gestellte Frage lautet, ob Menschen, die in großen Mengen zusammenkommen, in Versammlungen oder auf Straßen, fur die in dieser Masse verübten Taten ebenso verantwortlich sind, als wenn sie sie einzeln verübten. Von diesem Punkt aus hat dann Le Bon den Begriff der politischen Masse nachhaltig geprägt, in dem er zunächst die zahllosen Varianten massenhaften Auftretens von Bürgern phänomenal untersuchte, dabei stets mit der Annahme, eine verringerte Rationalität vermuten zu dürfen. Italienische (Mosca, Pareto) und später deutsche Soziologen (Robert Michels) haben dann in großem Umfang die einander kontrastierenden Akteurstypen Elite und Masse erörtert. Dabei sind die Eliten bisweilen ebenso anonym konturiert wie die Massen. Einzelpersönlichkeiten spielen in der Elite keine besondere Rolle, sondern sind austauschbar. Die Macht der Eliten hängt von den Ressourcen ab, welche die Masse zur Verfügung stellt; die Schlagkraft der Masse hängt von ihrer Führung ab, die ihnen Richtung und Ziel ihres Tuns vorgibt. Außerhalb der engeren Machtzirkel der Politik bewegen sich die Intellektuellen, die in indirekter Weise an politischen Handlungen teilnehmen, sie aber in besonderer Weise präfigurieren. Intellektuelle öflhen und schließen die Handlungsräume, indem sie sie normativ rechtfertigen oder verdammen und ferner die Zielvorgaben des Handelns bestimmen. Sie sind darin selbst politisch tätig. Die Konfrontation unterschiedlicher Gruppierungen von Intellektuellen hat Antonio Gramsci unter der nachhaltig wirksamen Denkfigur der Hegemonie beschrieben: Revolutionen, überhaupt politische Kämpfe finden nicht nur auf der Grundlage tatsächlicher Machtressourcen statt oder im Werben um die Zustimmung der Bevölkerung, sondern werden vorbereitet durch die Ideenkämpfe von Intellektuellen, die lange vor der politischen Machtergreifung oder Revolution das Terrain sondieren, Kooperationspartner ermitteln, die Begriffe der öffentlichen Kommunikation prägen und so die Perzeption der politischen Vorgänge beim Publikum mitbestimmen. Diese Vorgänge interessierten Gramsci besonders am Beispiel der italienischen Nationalbewegung, die er bereits geistig durch Intellektuelle gewonnen sah, bevor in sozialer Hinsicht der Träger dieser Bewegung, das Bürgertum, die Vormacht in der Gesellschaft erringen konnte. Daraus folgt für Gramsci, dass auch der Sozialismus den Kampf um die kulturelle Hegemonie aufnehmen muss.
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Intellektuelle sind aber selber determiniert. Hannah Arendt analysiert die Machtergreifung der Faschisten und Nationalsozialisten unter dem Gesichtspunkt, inwiefern eine sozial deklassierte Schicht entwurzelter Intellektueller sich geistig und politisch mit dem sozial deklassierten Mob der Straße verbünden konnte und das Chaos und die Barbarei zum philosophischen Programm erhob. Intellektuelle als politische Akteure thematisieren heißt immer auch, die Tätigkeit politischer Theoretiker unter dem Gesichtspunkt ihres politischen Beitrages zu befragen. Die Beobachtung der Beobachter ist für Michael Walzer eine Frage des durch die theoretische Beobachtimg eingenommenen Standpunkts der Gesellschaft gegenüber. Da politische Theoretiker nicht wie Historiker über vergangene Zeiten urteilen, sondern über die gegenwärtige Gesellschaftsformation, deren Mitglied sie sind, bestimmt sich die Situation des Intellektuellen als Gesellschaftskritiker aus der Nähe und Ferne zu seinem Gegenstand. Zwei ideengeschichtliche loci communi sind zum Ausgangspunkt der modernen Wahlentscheidungstheorie geworden, die in der Ökonomie Furore machte und von dort in die Politikwissenschaft einwanderte: das Hobbes'sche Gesellschaftsvertragsmodell und David Humes berühmtes Beispiel der Grenzen privater Kooperation in gemeinnütziger Tätigkeit. Hobbes' Prämisse, den vergesellschafteten Menschen als Wolf unter Wölfen darzustellen, der prinzipiell nach eigensüchtiger Rationalität vorgeht und nur aus diesem Motiv heraus sich seiner Gewaltmittel begibt, weil er sich dadurch bessere Entwicklungschancen verspricht, dient immer wieder als Ausgangsmodell der Rationalwahltheorie, in welcher Individuen in rationaler Kalkulation ihrer Gewinnchancen die Isolation ihrer Handlungen durchbrechen und sich zur Kooperation durchringen. Da hier das Gesellschaftsvertragsmodell als gedankliches Entscheidungsmodell ernst genommen wird und historische Hintergründe keinerlei Rolle spielen, ist so der Hobbes'sehen Theorie eine universale Gültigkeit verliehen. In der modernen Rationalwahltheorie dient Hobbes als Ausgangspunkt des Gefangenendilemmas als einem der Grundmodelle sozialer Kooperationsprobleme der Verlässlichkeit der Zusammenarbeit mit anderen, über deren Entscheidungen man keinerlei Informationen vorab besitzt und keinerlei Mittel, sie zu beeinflussen, außer sie rational zu antizipieren und das eigene Handeln entsprechend einzurichten. Zusätzlich erschwert wird die Kooperation, wenn der durch die Kooperation erwirtschaftete Nutzen nicht ausschließlich den Kooperierenden zukommt und dadurch die Investition in die Ermöglichung von Kooperation zusätzliche Kosten verursacht. Der vielleicht wichtigste Theoretiker, der sich zu den Dilemmata kollektiver Handlung äußerte, Mancur Olson, benutzt hierzu ein Modell, das David Hume 1740 erstellte: Benachbarte Bauern können den Nutzen des Vorhabens, eine Wiese zu entwässern, einsehen und doch die damit verbundenen Investitionen scheuen, wenn unklar bleibt, wer welche Arbeit aufzuwenden hat und wie sich der Nutzen dann auf die Investoren verteilt, oder wenn der Nutzen gar der Allgemeinheit zu Gute kommt und so den Nutzen der Investoren zusätzlich schmälert.
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THUKYDIDES Der demokratische Politiker [Die fiihrende Stellung von Perikles] kam daher, daß er, mächtig durch sein Ansehn und seine Einsicht und in Gelddingen makellos unbeschenkbar, die Masse in Freiheit bändigte, selber führend, nicht von ihr gefuhrt, weil er nicht, um mit unsachlichen Mitteln die Macht zu erwerben, ihr zu Gefallen redete, sondern genug Ansehn hatte, ihr wohl auch im Zorn zu widersprechen. Sooft er wenigstens bemerkte, daß sie zur Unzeit sich in leichtfertiger Zuversicht überhoben, traf er sie mit seiner Rede so, daß sie ängstlich wurden, und aus unbegründeter Furcht hob er sie wiederum auf und machte ihnen Mut. Es war dem Namen nach eine Volksherrschaft, in Wirklichkeit eine Herrschaft des Ersten Mannes. Aber die Späteren, untereinander eher gleichen Ranges und nur bemüht, jeder der erste zu werden, gingen sogar so weit, die Führung der Geschäfte den Launen des Volkes auszuliefern. (S. 277). Aus: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, griechischdeutsch, übersetzt und mit einer Einfuhrung und Erläuterung versehen von Georg Peter Landmann, München 1993, Buch II, Kap. 65, und Buch VI, Kapitel 19 und 24.
PLATON Der Belehrende und überredende Politiker Sokrates: Wohlan denn, Gorgias, denke dir, du werdest so von jenen sowohl als von mir gefragt, und beantworte uns, was doch das ist, wovon du behauptest, es sei das größte Gut für die Menschen und du der Meister davon. Gorgias: Was auch in der Tat das größte Gut ist, Sokrates, und kraft dessen die Menschen
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sowohl selbst frei sind als auch über andere herrschen, jeder in seiner Stadt. Sokrates: Was meinst du nun also damit? Gorgias: Wenn man durch Worte zu überreden imstande ist, sowohl an der Gerichtsstätte die Richter, als in der Ratsversammlung die Ratmänner und in der Gemeinde die Gemeindemänner, und so in jeder anderen Versammlung, die eine Staatsversammlung ist. Denn hast du dies in deiner Gewalt, so wird der Arzt dein Knecht sein, der Turnmeister dein Knecht sein, und von diesem Erwerbsmann wird sich zeigen, daß er andern erwirbt und nicht sich selbst, sondern dir, der du verstehst zu sprechen und die Menschen zu überreden. (...) Sokrates: Dünkt dich dies nun einerlei, gelernt haben und geglaubt, und erlerntes Wissen und Glauben, oder verschieden? Gorgias: Ich, ο Sokrates, meine, es ist verschieden. (...) Sokrates: Willst du also, wir sollen zwei Arten der Überredung setzen, die eine, welche Glauben hervorbringt ohne Wissen, die andere aber, welche Erkenntnis? Gorgias: Allerdings. Sokrates: Welche von beiden Überredungen also bewirkt die Redekunst an der Gerichtsstätte und in den andern Volksversammlungen in Beziehung auf das Gerechte und Ungerechte? Aus welcher das Glauben entsteht ohne Wissen oder aus welcher das Wissen? Gorgias: Offenbar doch, Sokrates, aus welcher das Glauben. Sokrates: Die Redekunst also, Gorgias, ist, wie es scheint, Meisterin in einer glaubenmachenden, nicht in einer belehrenden Überredung in Bezug auf Gerechtes und Ungerechtes? Gorgias: Ja. Sokrates: Also belehrt auch der Redner nicht in den Gerichts- und andern Versammlungen über Recht und Unrecht, sondern macht nur glauben. Auch könnte er wohl nicht einen so großen Haufen in kurzer Zeit belehren über so wichtige Dinge.
Politisches Agieren und Akteure der Politik
Gorgias: Wohl nicht. (Stephanus 452d455a, S. 206-209) Aus: Piaton, Gorgias, in: ders., Sämtliche Werke, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, mit der Stephanus-Numerierung, hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck, Bd. 1, Hamburg 1957, S. 197-284.
ARISTOTELES Die Eigenschaften des Amtsinhabers Wer die entscheidenden Regierungsämter ausüben will, muß drei Eigenschaften besitzen: erstens Treue zur bestehenden Verfassung, dann die größte Fähigkeit in der Ausübung der Amtspflichten und drittens die der jeweiligen Verfassung entsprechende Tugend und Gerechtigkeit (wenn nämlich das Gerechte nicht in allen Verfassungen dasselbe ist, dann auch nicht die Gerechtigkeit). Wenn aber nicht alle diese Eigenschaften an einer Person zu finden sind, so erhebt sich die Schwierigkeit, wie man dann wählen soll. So kann einer ein guter Feldherr sein, aber ungerecht und Gegner der Verfassung, ein anderer ist gerecht und loyal (aber unfähig im Amt). Wie soll man sich da entscheiden? Man muß da wohl auf zwei Dinge achten, nämlich darauf, welche Eigenschaften häufiger sind und welche seltener. So muß beim Feldherrenamt mehr auf die Erfahrung als auf die Tugend geachtet werden (denn es gibt mehr Menschen, die anständig sind, als solche, die Kriegserfahrung haben), bei Polizei- und Finanzämtern umgekehrt (denn da braucht es mehr Tugend, als sie die Menschen in der Regel besitzen; das nötige Wissen dagegen hat jedermann). (S. 185) Aus: Aristoteles, Politik, übersetzt und hg.
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von Olof Gigon, München 1981, Buch Y9.
MARCUS TULLIUS CICERO Die Pflichten des guten Bürgers [57] Aber wenn du alles mit Vernunft und Überlegung betrachtest, dann ist von allen Gesellschaftsbindungen [omnium societatum] keine wichtiger, keine teurer als diejenige, die ein jeder von uns mit dem Gemeinwesen [res publica] hat. Geliebt sind die Eltern, geliebt auch die Kinder, Verwandte und Vertraute, aber alle Liebesbande zu allen umschlingt die eine Vaterstadt [patria]. Und welcher gutgesinnte Mann wollte zögern, in den Tod zu gehen, wenn er ihr damit nützen wird? Um so verdammenswürdiger ist die Verkommenheit der Kreaturen, die durch jedes erdenkliche Verbrechen der Vaterstadt Wunden geschlagen haben und am Werke sind und waren, sie bis in die Grundlagen hinein zu zerstören. (S. 53) [124] Und es ist auch das nicht fehl am Platze, über die Verpflichtungen der Beamten, der Privatpersonen, der Bürger und der Fremden zu sprechen. Es ist die eigentliche Aufgabe des Beamten einzusehen, daß er in der Rolle der Bürgerschaft handelt, ihre Würde und ihr Ansehen aufrechterhalten, Gesetze wahren, Rechte bestimmen und daran denken muß, daß sie seiner Verläßlichkeit \fides\ anvertraut sind. Für einen Privatmann aber ist es in der Ordnung, nach gleichem und unterschiedslosem Recht mit den Bürgern weder kriecherisch und unterwürfig noch herablassend zu verkehren, ferner in der Politik das zu wollen, was im Sinne der inneren Ordnung, d.h. ehrenvoll ist. Einen solchen nämlich pflegen wir als gutgesinnten Mann [cives bonus] zu betrachten und zu bezeichnen. (S. 109) [153] Jene Weisheit (...), die ich als die vor-
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rangige Tugend bezeichnet habe, ist das Wissen um göttliche und menschliche Dinge, worin die Gemeinschaft und Gesellschaft [communitas et societates] der Götter und Menschen untereinander besteht. Wenn diese die wichtigste ist, wie es der Fall ist, dann muß sicherlich die Pflicht, die sich aus der Gemeinschaft herleitet, die wichtigste sein. Denn Erkennen und Betrachten [der Natur] sind gewissermaßen bruchstückhaft und unvollständig, wenn keine Verwirklichung durch Taten folgt. Diese Verwirklichung wird aber in der Wahrung der Interessen der Mitmenschen am meisten sichtbar. Sie ist also wichtig für die Gesellschaft der Menschheit. Also ist diese höher als Erkenntnis einzustufen.
Niccolö Machiavelli Alleinherrscher oder regierendes Volk
Ich widerspreche daher der allgemeinen Ansicht, die behauptet, die Völker wären, wenn sie regieren, unbeständig, veränderlich und undankbar. Ich behaupte vielmehr, daß solche Fehler bei ihnen geradeso vorkommen wie bei einzelnen Machthaber. (...) Die Verschiedenheit ihrer Handlungsweise rührt aber nicht von der Verschiedenheit ihrer Natur her; denn diese ist überall dieselbe (wenn allerdings gute Eigenschaften irgendwo überwiegen, so sicherlich beim Volk). Sie hängt vielmehr von dem Grad [154] Und dies zeigen in der Tat gerade die der Achtung vor den Gesetzen ab, unter denen Besten und urteilen danach. Denn wer ist so lei- das Volk oder Machthaber leben. (...) Und was denschaftlich dabei, die Naturordnung zu durch- die Klugheit und Beständigkeit anbelangt, so schauen und zu erkennen, daß er, wenn ihm über behaupte ich, daß das Volk klüger und beständisein Bemühen und Betrachten der der Erkennt- ger ist und ein richtigeres Urteil hat als ein Allnis würdigsten Gegenstände plötzlich die leinherrscher. Nicht ohne Grund vergleicht man Bedrängnis und Gefahr des Vaterlandes gemel- die Stimme des Volkes mit der Stimme Gottes. det wird, dem er zum Beistand kommen und (...) Was die richtige Beurteilung der Dinge Hilfe bringen könnte, nicht all das aufgäbe und betrifft, so wird man äußerst selten beobachten, darauf verzichtete, auch wenn er glaubte, die daß das Volk, das zwei gleich gute Redner von Sterne zählen oder die Unermeßlichkeit des verschiedenen Parteien hört, nicht dem besseren Himmels ergründen zu können? Und ebenso Vorschlag folgt und die Wahrheit nicht zu erfashandelt er auch bei einem Vorteil oder einer sen versteht. (...) Ferner sieht man, daß das Volk bei der Besetzung von Ämtern eine viel bessere Gefahr für seinen Vater, für einen Freund. Auswahl trifft als ein Alleinherrscher. Nie wird [155] Aus diesen Gründen läßt sich einsehen, man das Volk überzeugen können, daß es von daß höher als das Ringen um Wissen und seine Vorteil sei, einen minderwertigen, verderbten Verpflichtungen die Pflichten der Gerechtigkeit Menschen mit einer hohen Würde zu bekleiden, einzustufen sind, die sich auf den Nutzen der während man einen Alleinherrscher leicht und Menschheit beziehen, dem Wertvollsten, was es mit tausend Mitteln dazu überreden kann. (...) für einen Menschen geben darf. (S. 135) Vergleicht man beide in gesetzlosem Zustand, so wird man beim Volk weniger, kleinere und leichAus: Marcus Tbllius Cicero, De ofFiciis/ ter zu bessernde Fehler finden als bei einem Vom pflichtgemäßen Handeln, lat.-dt., Alleinherrscher. Denn zu einem zügellosen, aufübersetzt, kommentiert und hg. von Heinz rührerischen Volk kann ein Mann von rechter Gunermann, Ditzingen 2003, Buch I, §§ Gesinnung sprechen und es leicht wieder auf 57,124, 153-155. den rechten Weg zurückfuhren, mit einem schlechten Alleinherrscher aber kann niemand reden, gegen ihn gibt es kein anderes Mittel als
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den Dolch. Hieraus läßt sich auf die Bedeutung der Krankheit bei beiden schließen: Wenn zur Heilung der Krankheit des Volkes Worte ausreichen und zur Heilung der Krankheit eines Alleinherrschers der Dolch nötig ist, so wird jeder sagen, daß da, wo es einer kräftigeren Kur bedarf, auch schwerere Fehler sein müssen. (...) Die Grausamkeiten des Volkes richten sich gegen den, von dem es fürchtet, daß er sich am öffentlichen Gut vergreift, die Grausamkeiten eines Alleinherrschers aber gegen die, die fürchten, daß er ihnen ihr Eigentum nehmen muß. Die ungünstige Meinung über das Volk entsteht daraus, daß jeder dem Volk, auch dann, wenn es regiert, frei und ohne Scheu Übel nachreden kann, während man über einen Gewalthaber immer nur unter tausend Ängsten und mit tausend Rücksichten sprechen darf. (S. 150-153) Aus: Niccolö Machiavelli, Discorsi, übersetzt, hg. und eingeleitet von Rudolf Zorn, 2. Aufl., Stuttgart 1977, Buch I, Kap. 58.
NICCOLÖ MACHIAVELLI Wo das Löwenfell nicht zureicht, muß man den Fuchspelz anziehen Da also ein Fürst gezwungen ist, von der Natur der Tiere den rechten Gebrauch machen zu können, muß er sich unter ihnen den Fuchs und den Löwen auswählen; denn der Löwe ist wehrlos gegen Schlingen und der Fuchs gegen Wölfe. Man muß also ein Fuchs sein, um die Schlingen zu erkennen, und ein Löwe, um die Wölfe zu schrecken. Diejenigen, welche sich einfach auf die Natur des Löwen festlegen, verstehen hiervon nichts. Ein kluger Herrscher kann und darf daher sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Nachteil gereicht und wenn die Gründe fortgefallen sind, die ihn veranlaßt hatten, sein Versprechen zu geben. Wären alle Menschen gut,
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dann wäre diese Regel schlecht; da sie aber schlecht sind und ihr Wort dir gegenüber nicht halten würden, brauchst auch du dein Wort ihnen gegenüber nicht zu halten. Auch hat es noch nie einem Fürsten an rechtmäßigen Gründen gefehlt, um seinen Wortbruch zu verschleiern. Hierfür könnte man zahllose Beispiele aus neuerer Zeit geben und zeigen, wieviel Friedensverträge und wieviel Versprechungen durch die Treulosigkeit der Fürsten wertlos und nichtig geworden sind; und wer es am besten verstanden hat, von der Fuchsnatur Gebrauch zu machen, hat es am besten getroffen. Aber man muß eine solche Fuchsnatur zu verschleiern wissen und ein großer Lügner und Heuchler sein: die Menschen sind so einfältig und gehorchen so sehr den Bedürfnissen des Augenblicks, daß derjenige, welcher betrügt, stets jemanden finden wird, der sich betrügen läßt. (...) Man muß nämlich einsehen, daß ein Fürst, zumal ein neu zur Macht gekommener, nicht all das befolgen kann, dessentwegen die Menschen für gut gehalten werden, da er oft gezwungen ist - um seine Herrschaft zu behaupten [per mantenere lo stato]-, gegen die Treue [fede], die Barmherzigkeit [carita], die Menschlichkeit [umanitä] und die Religion zu verstoßen. Daher muß er eine Gesinnung haben, aufgrund deren er bereit ist, sich nach dem Wind des Glücks [fortuna] und dem Wechsel der Umstände [variazoni delle cose] zu drehen und - wie ich oben gesagt habe - vom Guten so lange nicht abzulassen, wie es möglich ist, aber sich zum Bösen zu wenden, sobald es nötig ist [necessitato]. (S. 137-139) Aus: Niccolö Machiavelli, II Principe/Der Fürst, italienisch-deutsch, hg. und eingeleitet von Philipp Rippel, Stuttgart 1986, Kap. 18.
II. Kapitel
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chen Strafe auch, wie bei Eidesbrechern üblich, ihre Ehre. Noch nicht veröffentlichte Edikte und Beamte und Kommissare Anweisungen dagegen, die ihnen zur Begutachtung vorgelegt werden, dürfen sie ohne EinIch sagte, ein Beamter ist eine öffentliche Person. schränkung überprüfen, um dem Fürsten vor Daran kann kein Zweifel bestehen, denn der ihrer Veröffentlichung etwaige Bedenken vorzuBeamte unterscheidet sich dadurch von der Pri- tragen (...) Es ist dem Staat viel mehr gedient vatperson, daß er im Gegensatz zu ihr ein öffent- und steht der Würde des Magistrats besser an liches Amt bekleidet. Ich sagte weiter, daß er ein (nach dem Vorbild des Kanzlers des Herzogs öffentliches Amt bekleidet, weil er sich dadurch Philipps II. von Burgund) lieber auf sein Amt zu vom Kommissar unterscheidet, der eine außeror- verzichten als eine ungerechte Sache zu unterdentliche, von der jeweiligen Situation bestimm- stützen! So hat denn auch der Herzog angesichts te öffentliche Aufgabe hat, ähnlich wie in der der unerschütterlichen Entschlossenheit seines Antike der Diktator (...) [Schließlich] sagte ich, Kanzlers, sein Siegel zurückzugeben, seinen muß das Amt eine gesetzliche Grundlage haben. Befehl widerrufen. Derartige vom Magistrat Das kommt daher, daß ordentliche öffentliche bewiesene Standhaftigkeit und Festigkeit hat oft Ämter ausdrücklich als solche geschaffen wer- schon in Fragen, bei denen es um die natürliche den, wohingegen es sich dort, wo ein ausdrückli- Billigkeit ging, zur Ehrenrettung der Fürsten ches Edikt oder Gesetz fehlt, nicht um ein Amt geführt und dem Staat sein hohes Ansehen bewahrt. (S. 471) handelt. (S. 430) JEAN BODIN
Ein weiterer Unterschied zwischen dem Beamten und dem Kommissar liegt darin, daß die mit dem Amt verbundene Machtbefugnis nicht nur ordentliche Machtbefugnisse sind, sondern darüber hinaus immer auch weiter reichen und umfassender sind, als die des Kommissars. Deshalb überlassen Gesetze und Verordnungen vieles der Gewissensentscheidung und dem Ermessen der Beamten, die je nach Fallgestaltung notfalls die Gesetze in billiger Auslegung der gegebenen Situation anpassen. Kommissare dagegen sind sehr viel stärker und an den Wortlaut ihrer Instruktionen gebunden (...) Hierzu zählen die Aufgaben von Gesandten und der zu Verhandlungen mit Fürsten entsandten Unterhändler. (S. 441) [Gehorsamspflicht:] Nun besteht allerdings ein großer Unterschied zwischen schon verkündeten Edikten und Verordnungen und solchen, die erst zum Zweck ihrer Publikation [dem Beamten] vorgelegt werden. Mit dem Eid, den alle Magistrate bei ihrem Amtsantritt leisten, schwören sie, die Gesetze zu achten. Verstoßen sie dagegen, so verwirken sie außer der gesetzli-
Aus: Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Bernd Wimmer, eingeleitet und hg. von P.C. Mayer-Tasch, Bd. 1, München 1981.
A D A M SMITH Handeln aus Eigenliebe In einer zivilisierten Welt ist der Mensch ständig und in hohem Maße auf die Mitarbeit und Hilfe anderer angewiesen, doch reicht sein ganzes Leben gerade aus, um die Freundschaft des einen oder anderen zu gewinnen. Fast jedes Tier ist völlig unabhängig und selbständig, sobald es ausgewachsen ist, und braucht in seiner natürlichen Umgebung nicht mehr die Unterstützung anderer. Dagegen ist der Mensch fast immer auf Hilfe angewiesen, wobei er jedoch kaum erwarten kann, daß er sie allein durch das Wohlwollen
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der Mitmenschen erhalten wird. Er wird sein Ziel wahrscheinlich viel eher erreichen, wenn er deren Eigenliebe zu seinen Gunsten zu nutzen versteht, indem er ihnen zeigt, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, das für ihn zu tun, was er von ihnen wünscht. Jeder, der einem anderen irgendeinen Tausch anbietet, schlägt vor: Gib mir, was ich wünsche, und du bekommst, was du benötigst. Das ist stets der Sinn eines solchen Angebotes, und auf diese Weise erhalten wir nahezu alle guten Dienste, auf die wir angewiesen sind. Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil. Niemand möchte weitgehend vom Wohlwollen seiner Mitmenschen abhängen, außer einem Bettler, und selbst der verläßt sich nicht allein darauf. (S. 16 f.) Aus: Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, in einem Band nach der 5. Aufl. von 1789 (letzter Hand) hg. von Horst Claus Recktenwald, München 1974.
GEORG W . F. HEGEL Der Beamtenstand § 294 Der Staat zählt nicht auf willkürliche, beliebige Leistungen (eine Rechtspflege ζ. B., die von fahrenden Rittern ausgeübt wurde), eben weil sie beliebig und willkürlich sind und sich die Vollfuhrung der Leistungen nach subjektiven Ansichten ebenso wie die beliebige Nichtleistung und die Ausführung subjektiver Zwecke vorbehalten. Das andere Extrem zum
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fahrenden Ritter wäre in Beziehung auf den Staatsdienst das des Staatsbedienten, der bloß nach der Not, ohne wahrhafte Pflicht und ebenso ohne Recht seinem Dienste verknüpft wäre. Der Staatsdienst fordert vielmehr die Aufopferung selbständiger und beliebiger Befriedigung subjektiver Zwecke und gibt eben damit das Recht, sie in der pflichtmäßigen Leistung, aber nur in ihr zu finden. Hierin liegt nach dieser Seite die Verknüpfung des allgemeinen und besonderen Interesses, welche den Begriff und die innere Festigkeit des Staats ausmacht (§ 260). Das Amtsverhältnis ist gleichfalls kein Veriragyverhältnis (§ 75), obgleich ein gedoppeltes Einwilligen und ein Leisten von beiden Seiten vorhanden ist. Der Bedienstete ist nicht für eine einzelne zufällige Dienstleistung berufen wie der Mandatarius, sondern legt das Hauptinteresse seiner geistigen und besonderen Existenz in dies Verhältnis. (S.462) Im Benehmen und in der Bildung der Beamten liegt der Punkt, wo die Gesetze und Entscheidungen der Regierung die Einzelheit berühren und in der Wirklichkeit geltend gemacht werden. Dies ist somit die Stelle, von welcher die Zufriedenheit und das Zutrauen der Bürger zur Regierung sowie die Ausführung oder Schwächung und Vereitelung ihrer Absichten nach der Seite abhängt, daß die Art und Weise der Ausführung von der Empfindung und Gesinnung leicht so hoch angeschlagen wird als der Inhalt des Auszuführenden selbst, der schon für sich eine Last enthalten kann. (§ 295, S. 463) § 296 Daß aber die Leidenschaftslosigkeit, Rechtlichkeit und Milde des Benehmens Sitte werde, hängt teils mit der direkten sittlichen und Gedankenbildung zusammen, welche dem, was die Erlernung der sogenannten Wissenschaften der Gegenstände dieser Sphären, die erforderliche Geschäftseinübung, die wirkliche Arbeit usf. von Mechanismus und dergleichen in sich hat, das geistige Gleichgewicht hält; teils ist die Größe des Staats ein Hauptmoment, wodurch sowohl das Gewicht von Familien- und anderen
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Privatverbindungen geschwächt als auch Rache, Haß und andere solche Leidenschaften ohnmächtiger und damit stumpfer werden; in der Beschäftigung mit den in dem großen Staate vorhandenen großen Interessen gehen fur sich diese subjektiven Seiten unter und erzeugt sich die Gewohnheit allgemeiner Interessen, Ansichten und Geschäfte. (S. 464) § 297 Die Mitglieder der Regierung und die Staatsbeamten machen den Hauptteil des Mittelstandes aus, in welchen die gebildete Intelligenz und das rechtliche Bewußtsein der Masse eines Volkes fällt. Daß er nicht die isolierte Stellung einer Aristokratie nehme und Bildung und Geschicklichkeit nicht zu einem Mittel der Willkür und einer Herrenschaft werde, wird durch die Institutionen der Souveränität von oben herab und der Korporationsrechte von unten herauf bewirkt. (S. 464) Aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriß, in: ders., Theorie-Werkausgabe, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt/M. 1969-1971, §§294-297.
ALEXIS DE TOCQUEVILLE Der Bürger und sein wohlverstandenes Eigeninteresse In Europa ist die Nützlichkeitslehre viel gröber als in Amerika, aber sie ist da zugleich weniger verbreitet und wird weniger ausgesprochen, und man heuchelt täglich immer noch große Hingabe, die man nicht mehr übt. Die Amerikaner hingegen lieben es, fast sämtliche Handlungen ihres Lebens aus dem wohlverstandenen Eigennutzen abzuleiten; sie zeigen selbstzufrieden, wie die aufgeklärte
II. Kapitel
Selbstliebe sie ständig dazu drängt, sich gegenseitig zu helfen, und fur das Wohl des Staates bereitwillig einen Teil ihrer Zeit und ihres Reichtums zu opfern. (...) Die Lehre vom wohlverstandenen Eigennutz steht nicht besonders hoch, aber sie ist klar und sicher. Sie erstrebt keine großen Ziele; aber ohne zu große Mühe erreicht sie alle diejenigen, auf die sich gerichtet ist. Da sie für jeden verständlich ist, begreift sie jeder leicht und behält sie mühelos. Da sie den menschlichen Schwächen wunderbar angepaßt ist, gewinnt sie leicht überall einen beherrschenden Einfluß, und es fällt ihr nicht schwer, diesen zu bewahren, denn sie kehrt den Eigennutz gegen diesen selbst und bedient sich zur Lenkung der Leidenschaften seines spornenden Stachels. Die Lehre vom wohlverstandenen Eigennutz löst keine großen Opfertaten aus, regt aber täglich zu kleinen Opfern an; für sich allein vermag sie den Menschen nicht zur Tugend zu führen; sie formt aber eine Menge Bürger, die ordentlich, mäßig, ausgeglichen, vorsorgend, selbstbeherrscht sind; und lenkt sie auch nicht unmittelbar durch den Willen zur Tugend, so führt sie durch Gewöhnung nahe an diese heran. (...) Ich glaube nicht, daß es im ganzen genommen bei uns mehr Selbstsucht gibt als in Amerika; der einzige Unterschied besteht darin, daß er dort aufgeklärt ist und bei uns nicht. Jeder Amerikaner versteht es, einen Teil seiner Privatvorteile zu opfern, um das übrige zu retten. Wir möchten alles behalten, und oft entgleitet uns alles. Ich sehe um mich nur Leute, die anscheinend durch ihre Worte und durch ihr Beispiel ihre Zeitgenossen Tag für Tag belehren wollen, das Nützliche sei nie unehrenhaft. Werde ich denn niemals solche entdecken, die ihnen begreiflich zu machen suchen, wie das Ehrenvolle nützlich sein kann? Keine Macht auf Erden kann verhindern, daß die zunehmende gesellschaftliche Einebnung des menschlichen Geistes dazu drängt, das Nützliche zu suchen, und daß jeder Bürger sich nach außen abschließt. Man muß also damit
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rechnen, daß der persönliche Vorteil mehr denn je zur hauptsächlichen, wenn nicht einzigen Triebkraft der menschlichen Handlungen wird; es bleibt aber abzuwarten, was jeder einzelne unter seinem persönlichen Vorteil versteht. Bleiben die Bürger mit dem Gleichwerden unwissend und ungebildet, so ist schwer vorauszusehen, bis zu welchem sinnlosen Übermaß ihre Selbstsucht sich steigern könnte, und es ist kaum vorauszusagen, in welches schimpfliche Elend sie sich stürzen würden aus Angst, ein Stückchen ihres Wohlstandes dem Wohlergehen ihrer Mitmenschen zu pofern. Die Lehre vom Eigennutz, so wie man sie Amerika predigt, ist, glaube ich, nicht durchwegs überzeugend; sie enthält jedoch eine große Zahl so einleuchtender Wahrheiten, daß es genügt, die Menschen zu bilden, damit sie sie einsehen. Bilde man sie also um jeden Preis; denn das Zeitalter der blinden Hingabe und der ursprünglichen Tugenden ist uns schon weit weg gerückt, und ich sehe die Zeit kommen, da die Freiheit, der öffentliche Friede und selbst die soziale Ordnung ohne Bildung nicht mehr bestehen können. (Bd. 2, S. 139-141) Aus: Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. von J. P. Mayer, übersetzt von Hans Zbinden, 2 Bände, Stuttgart 1959 und 1962.
JOHN STUART MILL Minderheitenschutz für die Elite Das Repräsentativsystem hat, wie die moderne Zivilisation überhaupt, eine Tendenz zur kollektiven Mittelmäßigkeit, die durch jede Herabsetzung der Wahlrechts Voraussetzungen und jede Erweiterung des Wahlrechts noch verstärkt wird, da diese Maßnahmen darauf hinauslaufen, die Staatsgewalt zunehmend in die Hände von Klas-
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sen zu legen, die weit unter dem optimalen Bildungsstandard der Gesellschaft stehen. Obwohl aber intellektuell und charakterlich hervorragende Persönlichkeiten notwendig immer in der Minderheit sind, ist es doch keineswegs gleichgültig, ob sie gehört werden oder nicht. In der falschen Demokratie, in der nicht alle Bürger, sondern nur die lokalen Majoritäten repräsentiert sind, besitzt die gebildete Minorität in der Repräsentativkörperschaft unter Umständen überhaupt keine Sprecher. (...) Gerade gegen diesen Mißstand bietet das System persönlicher Repräsentation, wie es Hare [Erfinder der Reststimmenzählung bei Wahlen] vorschlägt, geeignete Abhilfe. Die auf alle Wahlbezirke verstreute Minorität der Gebildeten würde sich vereinigen und die ihrer Stärke proportionale Zahl der fähigsten Männer des Landes zu Vertretern wählen. Sie wären darauf angewiesen, solche Männer zu wählen, da sie bei ihrer geringen Zahl nur auf diesem Wege ernstzunehmende Bedeutung erlangen können. Die Vertreter der Majorität, die nun auch ihrerseits ihre Qualitäten unter Beweis stellen müßten - dies nur als Nebeneffekt des Systems - , würden nicht länger allein das Feld beherrschen. Zwar könnten sie die anderen in demselben Verhältnis überstimmen, wie die zahlenmäßig stärkste Klasse unter den Wählern den übrigen Wählergruppen überlegen ist, aber wenn sie dazu auch stets in der Lage wären, müßten sie doch in Gegenwart der Minderheitsvertreter sprechen und stimmen und wären deren Kritik ausgesetzt. Bei allen Meinungsverschiedenheiten wären sie gezwungen, den Argumenten der gebildeten Minderheit mit Gründen entgegenzutreten, die zumindest scheinbar ebenso überzeugend sein müßten; und da sie die Richtigkeit ihrer Ansicht nicht, wie wenn sie zu Leuten gleicher Meinimg sprechen, einfach als erwiesen voraussetzen könnten, würden sie sich vielleicht doch gelegentlich davon überzeugen lassen, dass sie im Unrecht sind. Da sie in der Regel nicht böswillig sein dürften (und soviel darf man einer ohne Korruption gewähl-
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ten Nationalversammlung schon zutrauen), würden ihr Denken und Bewußtsein durch den Einfluß der Männer, mit denen sie ständig in Kontakt stünden oder Meinungsverschiedenheiten austrügen, allmählich angehoben. Die Vorkämpfer unpopulärer Meinungen würden ihre Argumente nicht mehr bloß in Büchern und Zeitschriften darlegen, die nur ihre eigene Partei liest; die Gegner würden Mann gegen Mann den Streit persönlich austragen und die Kraft ihrer Argumente vor den Augen des ganzen Volkes im fairen Wettkampf messen. Es würde sich dann bald herausstellen, ob die Meinung, welche die rein numerische Mehrheit besäße, auch dominieren würde, wenn man die Stimmen nicht nur zählen, sondern auch wägen würde. Die Menge beweist oft einen sehr richtigen Instinkt bei der Würdigung eines fähigen Mannes, wenn man ihm nur eine faire Chance bietet, ihr seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Wenn ein solcher Mann nicht den ihm gebührenden Einfluß erlangt, liegt das an Institutionen oder einer politischen Tradition, die ihn aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit heraushalten. (...) Wenn aber die Präsenz auch nur einiger weniger der fuhrenden Köpfe des Landes in der Volksvertretung gesichert ist, wird sich deren Einfluß, obschon die übrigen Abgeordneten nur durchschnittlich befähigt sind, ganz sicher bei den allgemeinen Beratungen deutlich bemerkbar machen - selbst wenn man weiß, daß sie mit den Ansichten und der Stimmung des Volkes in vielen Punkten durchaus nicht übereinstimmen. (S. 131 f.) Aus: John Stuart Mill, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, neu übersetzt von Hannelore Irle-Dietrich, hg. mit einer Einleitung von Kurt L. Shell, Paderborn 1971.
GUSTAVE L E B O N Masse und Führer Wir müssen uns damit abfinden, die Herrschaft der Massen zu ertragen, da unvorsichtige Hände allmählich alle Schranken, die jene zurückhalten konnten, niedergerissen haben. Wir kennen diese Massen, von denen man jetzt so viel spricht. Die Psychologen von Fach, die nicht in ihrer Nähe leben, haben sie stets ignoriert und sich mit ihnen nur in bezug auf die Verbrechen beschäftigt, zu denen sie fähig sind. Zweifellos gibt es verbrecherische Massen, aber es gibt auch tugendhafte, heroische und noch viele andersartige Massen. Die Massenverbrechen bilden lediglich einen Sonderfall ihres Seelenlebens und lassen ihre geistige Beschaffenheit nicht besser erkennen als die eines Einzelwesens, von dem man nur seine Laster kennt. (S. 5) Im gewöhnlichen Wörtsinn bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher einzelner von beliebiger Nationalität, beliebigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlaß der Vereinigung. Vom psychologischen Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck »Masse« etwas ganz anderes. Unter bestimmten Umständen, und nur unter diesen Umständen, besitzt eine Versammlung von Menschen neue, von den Eigenschaften der einzelnen, die diese Gesellschaft bilden, ganz verschiedene Eigentümlichkeiten. Die bewußte Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele, die wohl veränderlich, aber von ganz bestimmter Art ist. Die Gesamtheit ist nun das geworden, was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder, wenn man lieber will, als psychologische Masse bezeichnen werde. Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der seelischen Einheit der Massen [loi de l'unite mentale des foules]. Die Tatsache, daß viele Individuen sich
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zufallig zusammenfinden, verleiht ihnen noch tung [contagion mentale], bewirkt gleichfalls nicht die Eigenschaften einer organisierten das Erscheinen der besonderen Wesenszüge der Masse. Tausend zufallig auf einem öffentlichen Masse und zugleich ihre Richtung. Die ÜbertraPlatz, ohne einen bestimmten Zweck versam- gung ist leicht festzustellen, aber noch nicht zu melte einzelne bilden keineswegs eine Masse im erklären; man muß sie den Erscheinungen hyppsychologischen Sinne. Damit sie die besonde- notischer Art zuordnen, mit denen wir uns ren Wesenszüge der Masse annehmen, bedarf es sogleich beschäftigen werden. In der Masse ist des Einflusses gewisser Reize, deren Wesensart jedes Gefühl, jede Handlung übertragbar, und wir zu bestimmen haben. zwar in so hohem Grade, daß der einzelne sehr Das Schwinden der bewußten Persönlichkeit leicht seine persönlichen Wünsche den Gesamtund die Orientierung der Gefühle und Gedanken wünschen opfert. Diese Fähigkeit ist seiner nach einer bestimmten Richtung, die ersten Vor- eigentlichen Natur durchaus entgegengesetzt, stöße der Masse auf dem Weg, sich zu organisie- und nur als Bestandteil einer Masse ist der ren, erfordern nicht immer die gleichzeitige Mensch dazu fähig. Anwesenheit mehrerer einzelner an einem einziNoch eine dritte, und zwar die wichtigste gen Ort. Tausende von getrennten einzelnen Ursache, ruft in den zur Masse vereinigten einkönnen im gegebenen Augenblick unter dem zelnen besondere Eigenschaften hervor, welche Einfluß gewisser heftiger Gemütsbewegungen, denen der alleinstehenden einzelnen völlig etwa eines großen nationalen Ereignisses, die widersprechen: ich rede von der BeeinflussbarKennzeichen einer psychologischen Masse keit [suggestibilite], von der die obenerwähnte annehmen. Irgendein Zufall, der sie vereinigt, geistige Übertragung übrigens nur eine Wirkung genügt dann, daß ihre Handlungen sogleich die ist. (...) besondere Form der Massenhandlungen annehDie Hauptmerkmale des einzelnen in der men. In gewissen historischen Augenblicken Masse sind also: Schwinden der bewußten Perkann ein halbes Dutzend Menschen eine psy- sönlichkeit, Vorherrschaft des unbewußten chologische Masse ausmachen, während hun- Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle derte zufällig vereinigte Menschen sie nicht bil- durch Beeinflussung und Übertragung in der den können. Andererseits kann bisweilen ein gleichen Richtung, Neigung zur unverzüglichen ganzes Volk ohne sichtbare Zusammenscharung Verwirklichung der eingeflößten Ideen. Der einunter dem Druck gewisser Einflüsse zur Masse zelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat werden. (S. 10 f.) geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr Das Auftreten besonderer Charaktereigen- in der Gewalt hat. tümlichkeiten der Masse wird durch verschiedeAllein durch die Tatsache, Glied einer Masse ne Ursachen bestimmt. Die erste dieser Ursa- zu sein, steigt der Mensch also mehrere Stufen chen besteht darin, daß der einzelne in der Masse von der Leiter der Kultur hinab. Als einzelner schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in unüberwindlicher Macht erlangt, welches ihm der Masse ist er ein Triebwesen, also ein Barbar. gestattet, Trieben zu frönen, die er für sich allein Er hat die Unberechenbarkeit, die Heftigkeit, die notwendig gezügelt hätte. Er wird ihnen um so Wildheit, aber auch die Begeisterung und den eher nachgeben, als durch die Namenlosigkeit Heldenmut ursprünglicher Wesen, denen er und demnach auch Unverantwortlichkeit der auch durch die Leichtigkeit ähnelt, mit der er Masse das Verantwortungsgefühl, das die ein- sich von Worten und Vorstellungen beeinflussen zelnen stets zurückhält, völlig verschwindet. und zu Handlungen verführen läßt, die seine Eine zweite Ursache, die geistige Übertre- augenscheinlichsten Interessen verletzen. In der
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Masse gleicht der einzelne einem Sandkorn in einem Haufen anderer Sandkörner, das der Wind nach Belieben emporwirbelt. Aus diesem Grunde sprechen Schwurgerichte Urteile aus, die jeder Geschworene als einzelner mißbilligen würde, Parlamente nehmen Gesetze und Vorlagen an, die jedes Mitglied einzeln ablehnen würde. Einzeln genommen waren die Männer des Konvents aufgeklärte Bürger mit friedlichen Gewohnheiten. Zur Masse vereinigt zauderten sie nicht, unter dem Einfluß einiger Führer die offenbar unschuldigsten Menschen aufs Schafott zu schicken, brachen unter Außerachtlassung ihres eignen Vorteils deren Unverletzlichkeit und verringerten ihre Schar. (S.10-18) Aus: Gustave le Bon, Psychologie der Massen, mit einer Einführung von Helmut Dingeldey, Stuttgart 1973.
WLADIMIR I. ULJANOW (LENIN) Die revolutionäre Avantgarde Worin bestand der Ursprung unserer Meinungsverschiedenheit? Nun, gerade darin, daß die Ökonomisten sowohl bei den organisatorischen als auch bei den politischen Aufgaben ständig vom Sozialdemokratismus in Trade-Unionismus verfallen. Der politische Kampf der Sozialdemokratie ist viel umfassender und komplizierter als der ökonomische Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer und die Regierung. Genauso (und infolgedessen) muß die Organisation der revolutionären sozialdemokratischen Partei unvermeidlich anderer Art sein als die Organisation der Arbeiter für diesen Kampf. Die Organisation der Arbeiter muß erstens eine gewerkschaftliche sein; zweitens muß sie möglichst umfassend sein; drittens muß sie möglichst wenig konspirativ sein (ich spreche natürlich hier und weiter unten nur vom Rußland der
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[zaristischen] Selbstherrschaft). Die Organisation der Revolutionäre muß dagegen vor allem und hauptsächlich Leute erfassen, deren Beruf die revolutionäre Tätigkeit ist (...). (S. 123) Und nun behaupte ich, daß 1. keine einzige revolutionäre Bewegung ohne eine stabile und die Kontinuität wahrende Führerorganisation Bestand haben kann; 2. je breiter die Masse ist, die spontan in den Kampf hineingezogen wird, die die Grundlage der Bewegung bildet und an ihr teilnimmt, um so dringender ist die Notwendigkeit einer solchen Organisation und um so fester muß diese Organisation sein (denn um so leichter wird es für allerhand Demagogen sein, die rückständigen Schichten der Masse mitzureißen); 3. eine solche Organisation muß hauptsächlich aus Leuten bestehen, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit beschäftigen; (...). (S. 133 f.) Ein halbwegs talentierter und »zu Hoffnungen berechtigender« Agitator aus der Arbeiterklasse soll nicht elf Stunden in der Fabrik arbeiten. Wir müssen dafür sorgen, daß er aus Parteimitteln unterhalten wird, daß er imstande ist, rechtzeitig in die Illegalität unterzutauchen, daß er den Ort seiner Tätigkeit oft wechselt, denn sonst wird er keine große Übung erlangen, wird seinen Gesichtskreis nicht erweitern, wird nicht imstande sein, sich wenigstens einige Jahre im Kampf gegen die Gendarmen zu halten. Je breiter und tiefer der spontane Elan der Arbeitermassen wird, um so eher bringen sie nicht nur talentierte Agitatoren hervor, sondern auch talentvolle Organisatoren, Propagandisten und »Praktiker« im guten Sinn des Wortes (deren es unter unseren Intellektuellen, die größtenteils nach russischer Art etwas nachlässig und schwerfällig sind, so wenige gibt). Haben wir erst Kolonnen speziell geschulter Revolutionäre aus der Arbeiterklasse, die eine lange Lehrzeit durchgemacht haben (und zwar natürlich von Revolutionären »aller Waffengattungen«), dann wird keine Polizei der Welt mit diesen Kolonnen fertig werden können, denn diese Kolonnen der
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Revolution vorbehaltlos ergebener Menschen werden auch das vorbehaltlose Vertrauen der breitesten Arbeitermassen genießen. (S. 141 f.)
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in der regierenden Elite Leute, die das Etikett politischer Funktionen von einem gewissen Rang tragen, z.B. Minister, Senator, Abgeordneter, Staatssekretär, Obergerichtspräsident, GeAus: Wladimir I. Uljanow (Lenin), Was neral, Oberst usw., mit einem unvermeidlichen tun?, in: ders., Studienausgabe, hg. von Anteil solcher, denen das Eindringen in diese Iring Fetscher, Frankfurt/M. 1970, Bd. 1, Ränge gelungen ist, ohne daß sie die dem Etikett S. 37-179. entsprechende Eignung besitzen. (S. 222 f.) § 2053 Die Aristokratien haben keine Dauer. Was auch die Ursachen davon sein mögen, unbestreitbar ist, daß sie nach einer gewissen Zeit verschwinden. Die Geschichte ist ein Friedhof VlLFREDO PARETO von Aristokratien. (...) Der Kreislauf der Eliten § 2056 Durch den Kreislauf der Eliten ist die herrschende Elite in einer beständigen langsa§ 246 Jedes Volk wird von einer Elite regiert, und men Umbildung begriffen. Sie strömt wie ein um genauer zu sein, müssen wir sagen, daß es Fluß. Heute ist sie eine andere als gestern. Von eben der seelische Zustand dieser Elite ist, den Zeit zu Zeit beobachtet man plötzlich heftige wir beobachtet haben. Höchstens können wir Störungen, ähnlich den Überschwemmungen hinzufügen, daß der von ihr gegebene Antrieb eines Flusses. Dann beginnt auch die neue herrvon der übrigen Bevölkerung aufgenommen schende Elite sich langsam umzubilden: Der wurde. Fluß ist in sein Bett zurückgekehrt und strömt Eine Elite kann sich durch den Wechsel der wieder regelrecht. sie zusammensetzenden Menschen oder ihrer § 2057 Revolutionen entstehen, weil sich bei Nachkommen ändern oder auch durch Eindrin- langsamer werdendem Kreislauf der Eliten oder gen fremder Elemente aus der Nation selbst oder aus anderen Ursachen Elemente mit unterlegeeiner anderen. (S. 44) nen Eigenschaften in den Oberschichten ansam§ 2034 Wir haben also in einer Bevölkerung meln. Diese Elemente besitzen nicht mehr die zwei Schichten. 1. Die niedere, elitefremde Residuen, die sie an der Macht halten können; Schicht; im Augenblick untersuchen wir nicht, sie meiden die Anwendung von Gewalt. Zuwas für einen Einfluß sie auf die Regierung aus- gleich entwickeln sich in den Unterschichten üben kann; 2. die obere, die Elite selbst, die wie- Elemente von überlegener Beschaffenheit, die der zerfällt in a) die regierende, b) die nicht- die zum Herrschen notwendigen Residuen besitregierende. zen und zur Gewaltanwendung entschlossen § 2035 In der Wirklichkeit gibt es keine Prü- sind. fungen, mittels derer in diesen Klassen jedes § 2058 Im allgemeinen werden bei RevoluIndividuum seinen Platz erhalten könnte. Man tionen die Menschen der Unterschichten von muß sich mit anderen Mitteln behelfen: Be- Menschen der Oberschichten geleitet, weil diestimmte Etiketten ersetzen die Prüfung schlecht se die für den Kampf nützlichen geistigen Fähigund recht. Auch so es Prüfungen gibt, gibt es sol- keiten besitzen, nicht aber die Residuen, über che Etiketten. Das Etikett Rechtsanwalt z.B. die gerade die Menschen der Unterschichten bezeichnet einen Mann, der das Recht kennen verfügen. (S. 229-231) sollte, oft auch wirklich kennt, manchmal aber nichts davon versteht. Entsprechend finden sich Aus: Vilfredo Pareto, Allgemeine Sozio-
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logie, ausgewählt, eingeleitet und übersetzt von Karl Brinkmann, Tübingen 1955.
GAETANO MOSCA Die Politische Klasse als Aristokratie
II. Kapitel
Bedeutung dieses Tatbestandes übertreiben: Die Mitglieder einer solchen Aristokratie verdanken ihre besonderen Eigenschaften nicht so sehr dem Blut, das in ihren Adern fließt, als ihrer besonderen Erziehung, die bestimmte geistige und moralische Neigungen gefördert und andere unterdrückt hat. Offenbar genügt dies, um die intellektuelle Überlegenheit einer solchen Aristokratie zu erklären, nicht aber ihre besonderen Charakterzüge, wie Willensstärke, Mut, Stolz und Energie. In Wahrheit aber tragen soziale Stellung, Familientradition und das Verhalten der Umgebung mehr zur Entwicklung solcher Vorzüge bei, als man meist glaubt. Wenn Individuen von einer Klasse in die andere aufsteigen oder absinken, dann verändert das neue Milieu ihren Verstand viel weniger als ihren Charakter. Studium und Erfahrung vermitteln den Angehörigen der Oberschicht (außer den ganz Dummen) einen weiteren Gesichtskreis, aber im übrigen behält jeder den Verstand, den die Natur ihm gegeben hat, sei er Schreiber oder Minister, Feldwebel oder General, Millionär oder Bettler. (S. 61 -63)
Es fehlt nicht an Beispielen, daß lange Erfahrung in führenden Stellungen in Krieg und Frieden in der Spitze der politischen Klasse eine wahre Kunst des Regierens hervorbringt, die mehr ist als banaler praktischer Sinn und mehr als bloße persönliche Erfahrung. Unter solchen Umständen entstehen jene Aristokratien von Staatsdienern wie der römische Senat, die venezianische Nobilität und in gewissem Sinne die englische Aristokratie, die die Bewunderung von John Stuart Mill hervorriefen. Sie haben Regierungen hervorgebracht, deren Leistungen an Reife des Planens und an Beständigkeit und Klugheit der Durchführung zum Allerbesten gehören. Diese Kunst des Regierens ist gewiß Es ist auch sonderbar, daß die Menschen nicht dasselbe wie die Wissenschaft der Politik, zwar meist ihre Herren voll hoher moralischer doch hat sie in der Praxis manche ihrer Grund- Eigenschaften, voll Pflichtgefühl und Uneigensätze vorweggenommen. So hat sich diese Kunst nützigkeit zu sehen wünschen, daß sie sich aber, bei den traditionellen Trägern der politischen wenn es sich um sie selbst handelt und vor allem, Macht eingebürgert, aber ihr Besitz öffnete nor- wenn sie selbst an die Spitze gelangen wollen, malerweise den Nichtzugehörigen gewiß nicht um die Vorschriften wenig kümmern, nach den Zugang zur herrschenden Schicht. Ob denen ihre Vorgesetzten sich nach ihrer Meijemand die Kunst des Regierens besitzt, läßt sich nung richten sollten. Alles, was man von der übrigens in der Regel nur schwer feststellen, ehe herrschenden Schicht mit Recht verlangen kann, der betreffende in der Praxis gezeigt hat, was er ist doch, nicht unter das durchschnittliche morakann. (...) Nun gibt die Geschichte unzweideu- lische Niveau der von ihnen beherrschten tig Auskunft über die sehr ausgeprägten beson- Gesellschaft herabzusinken. Sie sollten bis zu deren Vorzüge und Mängel von Aristokratien, einem gewissen Grade ihr Privatinteresse mit die sich völlig abgeschlossen oder den Zugang dem öffentlichen Interesse identifizieren und zu ihrem Kreis sehr erschwert haben. Das altrö- keine niedrigen und abstoßenden Handlungen mische Patriziat, der englische und der deutsche begehen, die sie nach den Begriffen ihres Adel bis vor fünfzig Jahren geben eine gute Vor- Milieus entehren würden. stellung von diesem Typ. Aber ein und derselbe Aber im politischen Leben bedeutet das Einwand gilt gegenüber allen Theorien, die die Attribut »Beste« meist Menschen, die zur
Politisches Agieren und Akteure der Politik
Regierung ihrer Mitmenschen am besten geeignet sind. In diesem Sinn kann das Adjektiv in normalen Zeiten stets fiir die herrschende Klasse gebraucht werden, denn die Tatsache, daß sie herrscht, beweist schon, daß sie aus den Elementen besteht, die zu dieser Zeit und in diesem Lande am besten zum Herrschen geeignet sind; was nicht heißt, daß es sich dabei immer um die intellektuell und vor allem moralisch »besten« Elemente handelt. Denn um die Menschen zu regieren, sind Umsicht, schnelles Verständnis der Psychologie der einzelnen und der Massen und vor allem Selbstvertrauen und Willenskraft viel wichtiger als Gerechtigkeitssinn, Altruismus und schon gar Weite der Bildung und des Blickes. (...) In diesem Zusammenhang lohnt es sich, die heute bereits weit verbreitete Unterscheidung zwischen dem Staatsmann und dem Regierungsmenschen zu analysieren. Ein Staatsmann ist jener, der dank der Weite seiner Kenntnisse und der Tiefe seiner Einsichten ein klares Verständnis der Bedürfnisse der Gesellschaft seiner Zeit besitzt und die besten Wege findet, um sie mit möglichst geringen Erschütterungen und Leiden ihrem vorgegebenen Ziel entgegenzuführen. (...) Ein Regierungsmensch ist hingegen jeder, der das Zeug hat, zu den höchsten Stellen der politischen Stufenleiter zu gelangen und sich dort zu halten. Es ist ein wahres Glück für ein Volk, wenn an seiner Spitze Männer stehen, die die seltenen Eigenschaften des Staatsmannes mit den zweitrangigen aber unentbehrlichen Eigenschaften des Regierungsmenschen verbinden. Es ist ein kleineres, aber immer noch beachtliches Glück, wenn die Regierungsmenschen es verstehen, die Gesichtspunkte der Staatsmänner zu benützen. (S. 363) Aus: Gaetano Mosca, Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft (Elementi di Scienza Politica), nach der 4. Aufl. (1947) übersetzt von Franz Borkenau, München 1950.
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ROSA LUXEMBURG Die Masse ist wie das Meer Es gibt nichts Wandelbareres als menschliche Psychologie. Zumal die Psyche der Masse birgt stets in sich, wie die Thalatta, das ewige Meer, alle latenten Möglichkeiten: tödliche Windstille und brausender Sturm, niedrigste Feigheit und wildester Heroismus. Die Masse ist stets das, was sie nach Zeitumständen sein muß, und sie ist stets auf dem Sprunge, etwas total anderes zu sein, als sie scheint (...) Die »Enttäuschung über die Massen« ist stets das blamabelste Zeugnis für die politischen Führer. Ein Führer großen Stils richtet seine Taktik nicht nach der momentanen Stimmung der Massen, sondern nach ehernen Gesetzen der Entwicklung, hält an seiner Taktik fest trotz aller Enttäuschungen und läßt im übrigen ruhig die Geschichte ihr Werk zur Reife bringen. (S. 328 f.) Aus: Rosa Luxemburg, Brief an Mathilde Wurm vom 16.2.1917, in: dies., Herzlichst Ihre Rosa. Ausgewählte Briefe, hg. von Annelies Laschitza und Georg Adler, 2. Aufl., Berlin 1990.
M A X WEBER Politiker aus Beruf oder aus Berufung Es gibt zwei Arten, aus der Politik seinen Beruf zu machen. Entweder: man lebt »für« die Politik, - oder aber: »von« der Politik. Der Gegensatz ist keineswegs ein exklusiver. In aller Regel vielmehr tut man, mindestens ideell, meist aber auch materiell, beides: wer »für« die Politik lebt, macht im innerlichen Sinne »sein Leben daraus«: er genießt entweder den nackten Besitz der Macht, die er ausübt, oder er speist sein inneres Gleichgewicht und Selbstgefühl aus dem
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Bewußtsein, durch Dienst an einer »Sache« seinem Leben einen Sinn zu verleihen. In diesem innerlichen Sinn lebt wohl jeder ernste Mensch, der für eine Sache lebt, auch von dieser Sache. Die Unterscheidung bezieht sich also auf eine viel massivere Seite des Sachverhaltes: auf die ökonomische. »Von« der Politik als Beruf lebt, wer danach strebt, daraus eine dauernde Einnahmequelle zu machen, - »für« die Politik der, bei dem dies nicht der Fall ist. Damit jemand in diesem ökonomischen Sinn »für« die Politik leben könne, müssen unter der Herrschaft der Privateigentumsordnung einige, wenn Sie wollen, sehr triviale Voraussetzungen vorliegen: er muß unter normalen Verhältnissen - ökonomisch von den Einnahmen, welche die Politik ihm bringen kann, unabhängig sein. Das heißt ganz einfach: er muß vermögend oder in einer privaten Lebensstellung sein, welche ihm auskömmliche Einkünfte abwirft. (S. 513) Dem vermögenden Mann ist die Sorge um die ökonomische »Sekurität« seiner Existenz erfahrungsgemäß - bewußt oder unbewußt - ein Kardinalpunkt seiner ganzen Lebensorientierung. Der ganz rücksichts- und voraussetzungslose politische Idealismus findet sich, wenn nicht ausschließlich, so doch wenigstens gerade bei den infolge ihrer Vermögenslosigkeit ganz außerhalb der an der Erhaltung der ökonomischen Ordnung einer bestimmten Gesellschaft (interessierten Kreise) stehenden Schichten: das gilt zumal in außeralltäglichen, also revolutionären, Epochen. Sondern nur dies bedeutet es: daß eine nicht plutokratische Rekrutierung der politischen Interessenten, der Führerschaft und ihrer Gefolgschaft, an die selbstverständliche Voraussetzung gebunden ist, daß diesen Interessenten aus dem Betrieb der Politik regelmäßige und verläßliche Einnahmen zufließen. Die Politik kann entweder »ehrenamtlich« und dann von, wie man zu sagen pflegt, »unabhängigen«, d. h. vermögenden Leuten, Rentnern [gemeint sind Personen, die von ihren Kapitaleinkünften leben - M. L.] vor allem, gefuhrt werden. Oder aber
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ihre Führung wird Vermögenslosen zugänglich gemacht, und dann muß sie entgolten werden. Der von der Politik lebende Berufspolitiker kann sein: reiner »Pfründner« oder besoldeter »Beamter«. Entweder bezieht er dann Einnahmen aus Gebühren und Sportein für bestimmte Leistungen - Trinkgelder und Bestechungssummen sind nur eine regellose und formell illegale Abart dieser Kategorie von Einkünften oder er bezieht ein festes Naturaliendeputat oder Geldgehalt, oder beides nebeneinander. Er kann den Charakter eines »Unternehmers« annehmen, wie der Kondottiere oder der Amtspächter oder Amtskäufer der Vergangenheit oder wie der amerikanische Boss, der seine Unkosten wie eine Kapitalanlage ansieht, die er durch Ausnutzung seines Einflusses Ertrag bringen läßt. Oder er kann einen festen Lohn beziehen, wie ein Redakteur oder Parteisekretär oder ein moderner Minister oder politischer Beamter. In der Vergangenheit waren Lehen, Bodenschenkungen, Pfründen aller Art, mit Entwicklung der Geldwirtschaft aber besonders Sportelpfründen das typische Entgelt von Fürsten, siegreichen Eroberern oder erfolgreichen Parteihäuptern für ihre Gefolgschaft; heute sind es Ämter aller Art in Parteien, Zeitungen, Genossenschaften, Krankenkassen, Gemeinden und Staaten, welche von den Parteiführern für treue Dienste vergeben werden. Alle Parteikämpfe sind nicht nur Kämpfe um sachliche Ziele, sondern vor allem auch: um Ämterpatronage. (S. 513 - 516) Aus: Max Weber, Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 505-560.
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Offenbarung oder aktuelle Schöpfung, Tat und Beispiel, Entscheidung von Fall zu Fall, jedenDer Charismatiker als besondere Form des falls also - am Maßstab gesatzter Ordnungen Politikers gemessen - irrational, charakterisiert sie. An Tradition ist sie nicht gebunden: »es steht geCharismatische Herrschaft, kraft affektueller schrieben, ich aber sage Euch« gilt für den ProHingabe an die Person des Herrn und ihre Gna- pheten; für den Kriegshelden schwinden die dengaben (Charisma), insbesondere: magische legitimen Ordnungen gegenüber der NeuschafFähigkeiten, Offenbarungen oder Heldentum, fung kraft [der] Gewalt des Schwertes, für den Macht des Geistes und der Rede. Das ewig Demagogen kraft des von ihm verkündeten und Neue, Außerwerktägliche, Niedagewesene und suggerierten revolutionären »Naturrechtes« die emotionale Hingenommenheit dadurch sind [dahin], (S. 481f.) hier Quellen persönlicher Hingebung. Reinste Es versteht sich, daß der Ausdruck »CharisTypen sind die Herrschaft des Propheten, des ma« hier in einem gänzlich wertfreien Sinn Kriegshelden, des großen Demagogen. Der gebraucht wird. Der manische Wutanfall des Herrschaftsverband ist die Vergemeinschaftung nordischen »Berserkers«, die Mirakel und in der Gemeinde oder Gefolgschaft. Der Typus Offenbarungen irgendeiner Winkelprophetie, des Befehlenden ist der Führer. Der Typus des die demagogischen Gaben des Kleon sind der Gehorchenden ist der »Jünger«. Ganz aus- Soziologie genau so gut »Charisma« wie die schließlich dem Führer rein persönlich um sei- Qualitäten eines Napoleon, Jesus, Perikles. ner persönlichen, unwerktäglichen Qualitäten Denn für uns entscheidend ist nur, ob sie als willen wird gehorcht, nicht wegen gesatzter Charisma galten und wirkten, d. h. Anerkennung Stellung oder traditionaler Würde. Daher auch fanden. Dafür ist »Bewährung« die Grundvonur, solange ihm diese Qualitäten zugeschrieben raussetzung: durch Wunder, Erfolge, Wohlergewerden; sein Charisma sich durch deren Erwei- hen der Gefolgschaft oder der Untertanen muß se bewährt. Wenn er von seinem Gotte »verlas- sich der charismatische Herr als »von Gottes sen« oder seiner Heldenkraft oder des Glaubens Gnaden« bewähren. Nur solange gilt er dafür, der Massen an seine Führerqualität beraubt ist, als er das kann. Ist ihm Erfolg versagt, so wankt fällt seine Herrschaft dahin. Der Verwaltungs- seine Herrschaft. (S. 483 f.) stab ist ausgelesen nach Charisma und persönliDie charismatische Herrschaft ist eine spezicher Hingabe: dagegen weder nach Fachqualifi- fisch außeralltägliche und rein persönliche kation (wie der Beamte), noch nach Stand (wie soziale Beziehung. Bei kontinuierlichem Beder ständische Verwaltungsstab), noch nach stand, spätestens aber mit dem Wegfall des perHaus- oder anderer persönlicher Abhängigkeit sönlichen Charismaträgers, hat das Herrschafts(wie im Gegensatz dazu der patriarchale Verwal- verhältnis - in letzterem Fall dann, wenn es nicht tungsstab). Es fehlt der rationale Begriff der zugleich erlischt, sondern in irgendeiner Art »Kompetenz« ebenso wie der ständische des fortbesteht, und also die Autorität des Herrn auf »Privilegs«. Maßgebend für den Umfang der Nachfolger übergeht, - die Tendenz, sich zu verLegitimation des beauftragten Gefolgsmannes alltäglichen: oder Jüngers ist lediglich die Sendung des Herrn 1. durch Traditionalisierung der Ordnungen. und seine persönliche charismatische Qualifika- Anstelle der kontinuierlichen charismatischen tion. Der Verwaltung - soweit dieser Name adä- Neuschöpfung im Recht und Verwaltungsbefehl quat ist - fehlt jede Orientierung an Regeln, sei durch den Charismaträger oder charismatisch es gesatzten, sei es traditionalen. Aktuelle qualifizierten Verwaltungsstab tritt die Autorität M A X WEBER
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der Präjudizien und Präzedenzien, die sie schufen oder die ihnen zugeschrieben werden; 2. durch Übergang des charismatischen Verwaltungsstabes: der Jüngerschaft oder Gefolgschaft, in einen legalen oder ständischen Stab durch Übernahme von internen oder von durch Privileg appropriierten Herrschaftsrechten (Lehen, Pfründe); 3. durch Umbildung des Sinnes des Charisma selbst. Dafür ist maßgebend die Art der Lösung der aus ideellen wie (sehr oft vor allem) materiellen Gründen brennenden Frage des Nachfolgeproblems. (S. 485) Aus: Max Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 7. Aufl.,Tübingen 1988, S. 475-488.
ROBERT MICHELS Die Führungsbedürftigkeit der politischen Massen Die inhärente Ohnmacht der Masse als solcher resultiert am klarsten daraus, daß sie, sobald sie im Kampfe ihrer Führer beraubt wird, in chaotischer Flucht den Kampfplatz verläßt und sich wie ein scheinbar jeden Reorganisationinstinktes barer, aufgestörter Ameisenhaufen benimmt, es sei denn, daß sich aus ihr spontan sofort neue Führer herausbilden, welche die verlorenen zu ersetzen imstande wären. Unzählige abgebrochene Streiks oder im Sande verlaufene politische Bewegungen lassen sich aus der einfachen Tatsache erklären, daß die Regierung bezeiten daran dachte, die Führer hinter Schloß und Riegel zu setzen. (...) Das Bedürfiiis der Masse nach Führung und ihre Unfähigkeit, die Initiative anders als von außen und oben her zu empfangen, bürden dem Führer aber auch gewaltige
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Lasten auf. Die Leiter der modernen demokratischen Parteien fuhren kein Drohnenleben. Ihre Stellen sind keine Sinekuren. Sie müssen ihre Führerschaft hart erkaufen. Ihr ganzes Leben steht im Zeichen des Fleißes. Die zähe, konsequente, unermüdliche Agitationsarbeit der Sozialdemokratie, die durch keinen Mißerfolg abgeschwächt, durch keinen Erfolg zum Stillstand gebracht wird, und die ihr noch von keiner anderen Partei nachgemacht wurde, hat mit Recht die Bewunderung selbst der Kritiker und Gegner hervorgerufen. Im Anfangsstadium der Bewegung bedeutet die Überhäufung der Führer mit Posten oft eine außerordentliche Mühewaltung. (S. 52 f.) Außer der politischen Indifferenz wirkt aber noch ein anderes, ethisch erfreulicheres, psychologisches Moment zur Entstehung des Phänomens der Führerschaft mit: die Dankbarkeit der Massen gegen Persönlichkeiten, die im Namen der Masse reden und schreiben und sich als Schützer und Anwalt der Masse einen Namen gemacht, vielfach auch als Exponenten der Masse gelitten haben und, während die »wirtschaftlich unentbehrliche« Masse, ihrer täglichen Beschäftigung nachgehend, ruhig und ungeschoren an ihrem Platze blieb, der gemeinsamen Idee zuliebe häufig Verfolgungen, Verbannung und Gefängnis haben über sich ergehen lassen müssen. (...) Diese Männer, die sich eine Art Märtyrerheiligenschein erworben haben, fordern von den Massen als Gegengeschenk für ihre für sie vollbrachten Leistungen Dankbarkeit. Dankbarkeit ist ein treffliches Herrschaftsmittel, ein ausgezeichneter Boden für weitgehende Forderungen. (...) Von (...) Ausnahmen abgesehen, ist die Masse ihren Führern gegenüber von ehrlicher Dankbarkeit, die als eine heilige Pflicht aufgefaßt wird, erfüllt. Diese heilige Pflicht setzt sich aber nur in der Weise in die Praxis um, daß die dankbare Masse dem Manne, dem sie Dank schuldet, sein Mandat als ihr Vertreter immer mehr, in vielen Fällen bis zur Lebenslänglichkeit verlängert,
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mit anderen Worten, daß sie ihn dauernd über Sinne höchster Bewertung dieser Existenzweisich stellt. Es ist eine in den Massen vielfach ver- se; oder aber sie standen als Moralisten über den breitete Auffassung, es würde »undankbar« Kampf menschlicher Egoismen gebeugt und sein, einen »altverdienten« Führer nicht stets predigten, wie etwa Erasmus, Kant oder Renan, von neuem wieder in seiner Funktion zu bestäti- die Übernahme eines »Menschlichkeit« oder gen. (S. 55-57) »Gerechtigkeit« genannten abstrakten Prinzips, das jenen Passionen übergeordnet und entgegengerichtet ist. Gewiß, das Wirken dieser IntelAus: Robert Michels, Zur Soziologie des lektuellen trat meist nicht aus der theoretischen Parteiwesens in der modernen DemokraEbene heraus - auch wenn sie den modernen tie. Untersuchungen über die oligarStaat, insoweit er Individualegoismen zügelt, chischen Tendenzen des Gruppenlebens, mit aus der Taufe gehoben haben. Sie konnten 4., erg. Aufl., mit einer Einfuhrung von nicht verhindern, daß der weltliche Stand die Frank R. Pfetsch, Stuttgart 1989. ganze Geschichte von Haßgeschrei und Schlachtenlärm widerhallen ließ; aber sie haben ihn davon abgehalten, diesen triebhaften Anwandlungen bekennerhaft zu huldigen und aus der JULIEN BENDA Arbeit an ihrer vollen Entfaltung noch Größe Der Verrat der Intellektuellen beziehen zu wollen. Ihretwegen läßt sich von der Menschheit sagen, daß sie über zwei JahrtausenGemeint ist eine Klasse von Menschen, die ich de hin zwar Böses tat, aber das Gute verehrte. die clercs nennen will - das heißt, all jene, deren Die Ehre des Menschengeschlechtes beruhte auf Aktivitäten schon vom Wesen her nicht auf prak- diesem Widerspruch: dem Spalt, durch den die tische Ziele ausgerichtet sind; Menschen, die Kultur eindringen konnte. ihre Befriedigung in Kunst, Wissenschaft oder Zu Ende des 19. Jahrhunderts jedoch vollmetaphysischer Spekulation - , kurz, im Besitz zieht sich ein gewaltiger Umschwung: die clercs immaterieller Güter suchen und damit zu sagen beginnen, beim Spiel der politischen Leidenscheinen: »Mein Reich ist nicht von dieser schaften mitzuhalten. Die Männer, die einst den Welt.« Und in der Tat zieht sich durch zweitau- Realismus der Völker zügelten, geben ihm nun send Jahre Geschichte bis in die jüngste Zeit die Sporen. Mehrere Wege führen zu diesem eine ununterbrochene Reihe von Philosophen Einbruch auf dem Gebiet der menschlichen und Kirchenleuten, Schriftstellern, Künstlern Moralität. (...) Vergegenwärtigen wir uns neben und Wissenschaftlern (meiner Ansicht nach leb- den schon genannten Größen die lange Reihe ten fast alle Vertreter dieser Kategorien in eben der Thomas von Aquin, Roger Bacon, Galilei, diesem Zeitraum), deren Wirken in förmlicher Rabelais und Montaigne, der Descartes, Racine, Opposition zum Realismus der Menge stand. Pascal, Leibniz, Kepler, Huyghens und Newton, Speziell auf die politischen Leidenschaften einschließlich der Voltaire, Buffon und Montesbezogen, lassen sich zweierlei oppositionelle quieu, um nur einige zu nennen, so geht auch Verhaltensweisen der clercs unterscheiden: Ent- daraus anschaulich hervor, daß bis in unsere weder lebten sie, - wie etwa ein Leonardo, ein Tage hinein die Intellektuellen in ihrer GesamtMalebranche oder ein Goethe - völlig abge- heit einen von zwei Wegen beschritten haben: wandt von derlei Passionen für die rein vorteilsEntweder stehen sie den politischen Leidenlos zweckfreie Tätigkeit des Geistes, und wirkschaften gänzlich fremd gegenüber und meinen ten durch ihr Beispiel meinungsbildend im mit Goethe, man solle die Politik den Diploma-
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ten und Soldaten überlassen, oder aber sie neh- keiten, wobei ihre leidenschaftliche Heftigkeit men sich ihrer, wenn überhaupt, unter kritischer sich vervielfacht. Um zu ermessen, bis zu welStellungnahme an (wie z.B. Voltaire), was chem Perfektionsgrad unsere Epoche diese Sysnichts mit einer unreflektierten Übernahme zu teme ausgebaut hat, mit welcher Inbrunst und tun hat. Und selbst wenn es zu einer Identifika- Hartnäckigkeit sich jede Leidenschaft Theorien tion kommt, wie etwa bei einem Rousseau, bei zu ihrer Befriedigung geschaffen hat, mit welde Maistre, Chateaubriand, Lamartine oder cher Präzision diese Theorien für diese Aufgabe Michelet, dann vollzieht sie sich über eine Uni- zugerichtet worden sind, mit welchem Arbeitsversalität der Gefühle, über einen Bezug auf ab- aufwand an Grundlagenforschung sie in alle strakte Anschauungen und über eine Verachtung Richtungen vorangetrieben wurden, braucht des Unmittelbaren, für die »Leidenschaft« kaum man sich nur das ideologische System des deutdie passende Bezeichnung abgibt. Heute hinge- schen Nationalismus - den sogenannten Pangergen demonstrieren Namen wie Mommsen, manismus - und den französischen MonarchisTreitschke, Ostwald, Brunetiere, Barres, Lemai- mus vor Augen zu halten. Unsere Zeit wird man tre, Peguy, Maurras, D'Annunzio oder Kipling, einst das Jahrhundert der intellektuellen Organidaß die clercs den politischen Passionen mit sation des politischen Hasses nennen. Dies wird allen Merkmalen der Leidenschaftlichkeit frö- einer der großen Titel sein, unter denen sie in die nen: mit Tatendrang und mit der Gier nach Moralgeschichte der Menschheit eingeht. unmittelbaren Resultaten, mit bornierter ZielVon Anfang an hatten diese Systeme die Aufstrebigkeit, die Argumenten unzugänglich ist, gabe, jeweils für ihre Passion zu versichern, sie mit Maßlosigkeit, Haß und fixen Ideen. Der sei die Agentin des Guten auf Erden und ihr moderne clerc überläßt es nicht länger dem Lai- jeweiliger Gegner der Geist des Bösen. Heute en, in die politische Arena hinabzusteigen. Eine indessen will jede Passion diese Lehre nicht nur staatsbürgerliche Gesinnung hat er sich zugelegt auf politischer Ebene verankert wissen, sondern und läßt sie voll durchschlagen; stolz ist er auf auch auf moralischer, intellektueller und ästhediese Gesinnung, und sein Schrifttum strotzt von tischer: Antisemitismus, Pangermanismus, franVerachtung für den, der sich ins künstlerische zösischer Monarchismus und Sozialismus sind oder wissenschaftliche Schaffen zurückzieht nicht nur politische Programmatiken: sie verund an den Leidenschaften der polis kein Inte- fechten jeweils spezifische Arten von Moralität, resse findet. (S. 110-113) Intelligenz, Sensibilität, Literatur, Philosophie Schließlich sei auf eine letzte beträchtliche und Kunstverständnis. (S. 102 f.) Perfektionierung hingewiesen, die heute kennzeichnend ist für alle Passionen politischer Art, Aus: Julien Benda, Der Verrat der Intelob Rassen-, Klassen-, Partei- oder Nationalleilektuellen, mit einem Vorwort von Jean denschaften. Früher bestanden diese Passionen, Amery, aus dem Französischen von so scheint mir, aus bloßen LeidenschaftsschüArthur Merin, Frankfurt/M. 1988. ben, naiven Instinktausbrüchen, die sich kaum jemals in Ideengebäuden und Systemen fortsetzten. (...) Heute dagegen versieht sich jede politische Leidenschaft mit einem ganzen System ausgefeilter Doktrinen, die einzig die Aufgabe haben, ihr den unübertrefflichen Wert ihres Tuns in jeder Hinsicht vor Augen zu führen. In ihnen findet sie auch neue Ausdrucksmöglich-
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ANTONIO GRAMSCI
Der Kampf zwischen Eliten ist der Kampf um Hegemonie Das methodologische Kriterium, auf welches die eigene Untersuchimg gegründet werden muß, ist folgendes: daß sich die Suprematie einer gesellschaftlichen Gruppe auf zweierlei Weise äußert, als »Herrschaft« und als »intellektuelle und moralische Führung«. Eine gesellschaftliche Gruppe ist herrschend gegenüber den gegnerischen Gruppen, die sie »auszuschalten« oder auch mit Waffengewalt zu unterwerfen trachtet, und sie ist führend gegenüber den verwandten und verbündeten Gruppen. Eine gesellschaftliche Gruppe kann und muß sogar bereits führend sein, bevor sie die Regierungsmacht erobert (das ist eine der Hauptbedingungen für die Eroberung der Macht); danach, wenn sie die Macht ausübt und auch fest in Händen hält, wird sie herrschend, muß aber weiterhin auch »führend« sein. Die Moderati führten die Aktionspartei auch nach 1870 und 1876 weiter, und der sogenannte »Transformismus« ist lediglich der parlamentarische Ausdruck dieses intellektuellen, moralischen und politischen hegemonialen Handelns gewesen. Man kann sogar sagen, daß das gesamte staatliche Leben Italiens seit 1848 durch den »Transformismus« geprägt ist, das heißt durch die Herausbildung einer immer breiteren fuhrenden Klasse innerhalb des nach 1848 und nach dem Fall der neoguelfischen und föderalistischen Utopien von den Moderati festgesetzten Rahmens, unter schrittweise, aber stetiger und mit in ihrer Wirksamkeit unterschiedlichen Methoden erreichter Absorption der aktiven Elemente, die aus den verbündeten Gruppen hervorgegangen sind und auch aus den gegnerischen, die unversöhnlich feindlich schienen. In diesem Sinne ist die politische Führung zu einem Aspekt der Herrschaftsfunktion geworden, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Gruppen zu deren Enthauptung und Vernichtung
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für einen oftmals sehr langen Zeitraum führt. Aus der Politik der Moderati geht klar hervor, daß es eine »hegemoniale Tätigkeit« auch vor der Machtübernahme geben kann und muß und daß man nicht nur auf die materielle Stärke, welche die Macht verleiht, zählen darf, um eine wirkungsvolle Führung auszuüben: gerade die brillante Lösung dieser Probleme hat das Risorgimento in den Formen und in den Grenzen ermöglicht, in denen es sich vollzogen hat, ohne »Terreur«, als »Revolution ohne Revolution« (...) In welchen Formen und mit welchen Mitteln gelang es den Moderati, den Apparat (den Mechanismus) ihrer intellektuellen, moralischen und politischen Hegemonie zu errichten? In Formen und mit Mitteln, die »liberal« genannt werden können, das heißt durch die individuelle, »molekulare«, »private« Initiative (das heißt nicht durch ein Parteiprogramm, das vor der praktischen und organisatorischen Tätigkeit nach einem Plan ausgearbeitet und aufgestellt worden wäre). (...) Es erweist sich hier die methodologische Konsistenz eines Kriteriums politisch-historischer Forschung: es gibt keine unabhängige Intellektuellenklasse, sondern jede gesellschaftliche Gruppe hat eine eigene Intellektuellenschicht oder tendiert dazu, sie sich zu bilden; aber die Intellektuellen der historisch (und realistisch gesehen) progressiven Klasse üben unter den gegebenen Umständen eine solche Anziehungskraft aus, daß sie sich schließlich und endlich die Intellektuellen der anderen gesellschaftlichen Gruppen unterordnen und folglich ein System der Solidarität aller Intellektuellen mit Bindungen psychologischer (Eitelkeit usw.) und häufig kastenmäßiger (rechtlich-technischer, korporativer usw.) Art schaffen. Dieser Tatbestand tritt »spontan« in den geschichtlichen Phasen auf, in denen die gegebene gesellschaftliche Gruppe wirklich progressiv ist, das heißt, die ganze Gesellschaft wirklich vorantreibt, indem sie nicht nur ihren existen-
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ziellen Erfordernissen nachkommt, sondern ihre eigenen Kader durch eine fortwährende Inbesitznahme neuer produktiv-ökonomischer Tätigkeitsbereiche erweitert. Sobald die herrschende gesellschaftliche Gruppe ihre Funktion erschöpft hat, neigt der ideologische Block zum Zerfall, und die »Spontaneität« kann dann ersetzt werden durch den »Zwang« in immer weniger verhüllten und indirekten Formen bis hin zu regelrechten Polizeimaßnahmen und Staatsstreichen. (S. 1947-1949) Aus: Antonio Gramsci, Gefängnishefte, hg. von Klaus Bochmann/Wolfgang Fritz Haug/Peter Jehle, Bd. 8, Hamburg 1998, Heft 19(1934/1935), §24.
HANNAH ARENDT Das Bündnis von Mob und Intellektuellen Der Mob setzt sich zusammen aus allen Deklassierten. In ihm sind alle Klassen der Gesellschaft vertreten. Er ist das Volk in seiner Karikatur und wird deshalb so leicht mit ihm verwechselt. Kämpft das Volk in allen großen Revolutionen um die Führung der Nation, so schreit der Mob in allen Aufständen nach dem starken Mann, der ihn führen kann. Der Mob kann nicht wählen, er kann nur akklamieren oder steinigen. (S. 188) Daß totalitäre Bewegungen auf rückhaltlose Ergebenheit ihrer Mitglieder, daß totalitäre Regierungen oft auf echte Popularität in den von ihnen unterdrückten Völkern rechnen können, ist erschreckend genug. Erstaunlicher und beunruhigender ist die unzweifelhafte Anziehungskraft, die sie auf die geistige und künstlerische Elite ausüben. Weder Weltfremdheit noch Naivität können erklären, daß eine erschreckend große Zahl der wirklich bedeutenden Männer unserer Zeit sich unter den Sympathisierenden oder den eingeschriebenen Mit-
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gliedern totalitärer Bewegungen befinden oder zu irgendeiner Zeit ihres Lebens befunden haben. (...) [Man muß beachten], daß weder die Elite noch der Mob irgendeine Rolle in dem eigentlichen totalitären Herrschaftsapparat spielen, daß ihre Rolle vielmehr ausgespielt ist, sobald die Bewegungen an die Macht kommen. Sie sind wesentlich nur für das Verständnis der allgemeinen geschichtlichen Situation, der Atmosphäre, in welcher der Aufstieg der totalitären Bewegung statthat. (...) Die Elite, die aus guten Gründen sich von der Gesellschaft lossagte, bevor der Zusammenbruch des Klassensystems die Massenindividuen erzeugte, und der Mob, dies frühe Abfallprodukt der Herrschaft der Bourgeoisie, die zu ihr gehörige Unterwelt, standen beide lange genug außerhalb der Gesellschaft, um die Massen verstehen und organisieren zu können. Dabei wurde das Verstehen die Sache der Elite und das Führen die Sache des Mob. (S. 528 f.) Der Mangel an wirklicher Urteilskraft geht hier Hand in Hand mit der eigentümlichen, modernen Selbstlosigkeit, und beides findet nur zu sehr seine Entsprechung in dem Drang der Massen in eine fiktive Welt und ihre Ungebundenheit durch kollektive Interessen. Es gehörte zu den großen Chancen der totalitären Bewegungen - und ist einer der Gründe dafür, daß ein zeitweiliges Zusammengehen von Elite und Mob zustande kommen konnte daß in einem primitiven, undifferenzierten Sinn die Probleme der Elite und des Mob sich nicht mehr voneinander unterschieden und daß sie beide aufs engste mit den Problemen und der Mentalität der heimatlos gewordenen Massen verbunden waren. (S. 539) Das beunruhigende Bündnis zwischen Mob und Elite, die merkwürdige Koinzidenz ihrer Überraschungen und Bestrebungen hatten ihren Ursprung in dem Umstand, daß innerhalb des Zerfalls des Nationalstaats und der Klassengesellschaft diese Schichten als erste sozial und politisch heimatlos geworden waren. Sie fanden
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so leicht, wenn auch nur vorübergehend, zueinander, weil sie beide fühlten, da sie repräsentativ waren für das Schicksal der Zeit, daß große Massen hinter ihnen standen, die nach und mit ihnen den Weg in die Heimatlosgkeit würden antreten müssen, ja, daß früher oder später die europäischen Völker in ihrer Mehrheit mit ihnen gehen würden - bereit, wie sie meinten, ihre Revolution zu machen. (S. 541) Aus: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1991.
MICHAEL WALZER Der Gesellschaftskritiker und seine Distanz zur Gesellschaft Zweifellos kritisieren sich Gesellschaften nicht selbst: Gesellschaftskritiker sind Individuen, aber sie sind ebenso - wenigstens in den allermeisten Fällen - auch Mitglieder der Gesellschaften, die sie kritisieren; und sie reden in der Öffentlichkeit zu anderen Gesellschaftsmitgliedern, die ihrerseits am Gespräch teilnehmen und deren Rede eine kollektive Reflexion auf die Bedingungen kollektiven Zusammenlebens darstellt. (...) Kritik verlangt kritische Distanz. Es ist allerdings nicht klar, wieviel an Distanz kritische Distanz verlangt. Wo müssen wir stehen, um Gesellschaftskritiker zu sein? Nach der üblichen Auffassung müssen wir dazu völlig außerhalb der gemeinsamen kollektiven Lebensumstände stehen. Kritik ist eine Tätigkeit von außen; sie wird erst durch radikalen Abstand möglich - und zwar in doppeltem Sinne. Erstens müssen Kritiker von ihrer eigenen Mitgliedschaft in ihrer Gesellschaft einen gefühlsmäßigen Abstand gewonnen und sich der Intimität und Wärme der Zugehörigkeit entwunden haben: Sie haben
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unparteilich und leidenschaftslos zu sein. Zweitens müssen Kritiker einen intellektuellen Abstand gewonnen und sich von den (für gewöhnlich als selbstverherrlichend geltenden) Kirchturmauffassungen ihrer eigenen Gesellschaft freigemacht haben: Sie haben vorurteilsfrei und objektiv zu sein. (...) Dieser radikale Abstand hat zudem das nicht unbedeutende Verdienst, daß durch ihn der Kritiker selbst zum Helden wird. Schließlich ist es ein hartes Geschäft (wenngleich in einigen Gesellschaften härter als in anderen), sich selbst emotional oder intellektuell aus seinen Bindungen zu befreien. »Allein und im Dunkeln« voranzuschreiten läßt frösteln, selbst wenn man sich auf der Straße der Aufklärung befindet. Kritische Distanz ist eine Leistung, und der Kritiker zahlt einen harten Preis in Sachen Annehmlichkeit und Solidarität. Es muß jedoch gleichfalls gesagt werden, daß die Schwierigkeit, eine Position wahrhaften Abstands zu finden, durch die Leichtigkeit kompensiert wird, mit der man das kritische Geschäft betreiben kann, sobald man sich einmal dort befindet. Es dürfte keine Überraschimg für den Leser sein, daß für mich ein radikaler Abstand keine Vorbedingung für Gesellschaftskritik, nicht einmal für radikale Gesellschaftskritik darstellt. Man braucht nur eine Liste von Kritikern zusammenzustellen - angefangen bei den Propheten des alten Israel - , um festzustellen, auf wie wenige Menschen diese Bedingung tatsächlich zutrifft. Diese Beschreibung hat sich teilweise wohl auch aufgrund einer Verwechslung zwischen Abstand und Randständigkeit eingebürgert. Die Propheten Israels standen nicht einmal am Rande ihrer Gesellschaft, aber viele ihrer Nachfolger taten das. Randständigkeit [marginality] war oft ein Zustand, der einen Beweggrund für Kritik abgab und den charakteristischen Tonfall des Kritikers sowie die Art und Weise seines Auftretens bestimmte. Sie ist jedoch kein Zustand, der eine Garantie für Unparteilichkeit, Leidenschaftslosigkeit, Vorurteilsfreiheit oder gar Objektivität
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darstellte. Und ebensowenig ist sie ein Zustand außerhalb (der Gesellschaft). (S. 45 -47) Ich möchte ein alternatives Modell vorschlagen, auch wenn ich keine Absicht habe, den leidenschaftslosen Fremden oder den entfremdeten Einheimischen zu verbannen. Auch sie haben ihren Platz in der Geschichte der Kritik, doch spielen sie nur eine Nebenrolle und stehen im Schatten einer ganz anderen und weitaus vertrauteren Figur: Der Figur des örtlichen Richters, des mit seiner Gesellschaft verbundenen Kritikers, der seine Autorität aus der Auseinandersetzung mit seinen Gesellschaftsgenossen gewinnt (oder auch nicht gewinnt) - der mit Leidenschaft und ohne Unterlaß, manchmal mit hohem persönlichen Risiko (auch er kann ein Held sein) Einspruch erhebt, protestiert und Einwendungen macht. Dieser Kritiker ist einer von uns. Vielleicht hat er Reisen gemacht und im Ausland studiert, doch er beruft sich auf örtliche und vor Ort geltende Grundsätze; wenn er auf seinen Reisen neue Ideen gewonnen hat, so versucht er, diese mit der heimischen Kultur zu verknüpfen, wobei er sich auf seine ureigene Kenntnis stützen kann; er steht seiner Gesellschaft nicht mit intellektuellem Abstand gegenüber. Ebensowenig steht er im emotionalen Abstand zu ihr; er will nicht das Beste fiir die Einheimischen, sondern bemüht sich, ihr gemeinsames Unterfangen zum Erfolg zu fuhren. (S. 45-49) Aus: Michael Walzer, Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Berlin 1990.
II. Kapitel
Literatur zum 5. Abschnitt Almond, Gabriel Abraham/Verba, Sidney, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963. Arendt, Hannah, Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1967; 6. Aufl., München 1989. Dagger, Richard, Civic Virtues. Rights, Citizenship and Republican Liberalism, New York/Oxford 1997. Elshtain, Jean Bethke, Public Man, Private Women. Women in Social and Political Thought, Princeton 1981. Elster, Jon/Hylland, Aanund, Foundations of Social Choice Theory, Cambridge 1990. Heins, Volker, Weltbürger und Lokalpatrioten, Opladen 2002. Joas, Hans, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. 1992. Klein, Ansgar/Schmalz-Bruns, Rainer, Hg., Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen, Baden-Baden 1997. Okin, Susan, Women in Western Political Thought, Princeton 1979. Parsons, Talcott, The Structure of Social Action, New York/London 1937. Putnam, Robert D., Making the Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton 1993.
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III. Politische Institutionen MARCUS LLANQUE
Die Organisierung menschlichen Handelns ist am ehesten dort auf Dauer erfolgreich, wo sie institutionalisiert wird. Mit der Schaffung von Organisationen kann sich das Politische bis zu einem gewissen Grade gegenüber dem Handeln einzelner Akteure verselbständigen. Institutionen sind geregelte menschliche Verhaltensweisen, die sich derart verdichten können in Gebäuden, Verfahren und Symbolen, dass sie diskutiert werden, als wären sie von den konkreten Menschen unabhängig. Institutionen sind Schnittstellen zwischen gesellschaftlicher und politischer Erfahrung. Das zeigt sich nirgendwo so stark wie am Beispiel des Eigentums. Institutionen zur Koordinierung menschlicher Kooperation entwickeln sich in verschiedenen Gebieten: in der Wirtschaft (Geld) ebenso wie in sozialen Beziehungen (Familie, Verein). Diese Regelsysteme sind auch fur die Politik von Bedeutung, weshalb sie sie mehr und mehr zu reglementieren versucht. Hierzu wurden wiederum Institutionen ausgebildet, wie vor allem der Staat selbst oder die Demokratie mit ihren Verfahren der Beratung und Entscheidung. Genese, Funktionsweise und Geltung solcher Institutionen stehen daher seit jeher im Mittelpunkt der politischen Theoriebildung. Die Beobachtung historischer Institutionen, beispielsweise athenischer oder amerikanischer Provenienz, dient nie alleine der angemessenen Beschreibung der jeweiligen politischen Systeme, sondern immer auch der allgemeinen Klärung der politischen Institution. Der Ausdruck »Institution« wird hier in einem allgemeinsten Sinne verwendet. Darüber hinaus existiert eine spezielle politische Theorierichtung, der Institutionalismus und jüngst auch der Neo-Institutionalismus, die disziplinübergreifend in der Ökonomie, Jurisprudenz, Soziologie und auch in der Politikwissenschaft versucht, menschliches Verhalten unter Absehung normativer Fragen zu erklären.
Literatur zum III. Kapitel
Held, Martin, Hg., Institutionen prägen Menschen. Bausteine zu einer allgemeinen Institutionenökonomik, Frankfurt/New York 1999. Knight, Jack, Institutionen und gesellschaftlicher Wandel, Tübingen 1997. March, James G./01sen, Johan P., Rediscovering Institutions. The Organizational Basis of Politics, New York 1989. Nedelmann, Brigitta, Hg., Politische Institutionen im Wandel, KZfSS-Sonderheft, Bd. 35, Opladen 1995. North, Douglass C., Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge 1990.
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III. Kapitel
Ostrom, Elinor, Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Action, Cambridge 1990. Scharpf, Fritz W., Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, Opladen 2000.
1. Das Eigentum Eigentum zählt zu den ältesten theoretisch behandelten Institutionen mittlerer Reichweite. Kaum eine politische Volltheorie kann einsetzen, ohne eine Erläuterung zu geben, was Eigentum ist. Allgemeinere Theorien wie etwa Revolutionstheorien oder Gesellschaftstheorien transportieren häufig den Eigentumsbegriff mit. Allerdings wird das Eigentum meist in Zusammenhang mit der Klärung der geltenden Gesellschaftsformation erläutert. So beinhaltet der Verweis auf die »bürgerliche Gesellschaft« oft zugleich den Hinweis auf den »bürgerlichen«, das heißt den privatrechtlichen Eigentumsbegrifif. Aber sowohl die Verengung des Konzepts der bürgerlichen Gesellschaft auf eine bestimmte Eigentumsordnung als auch die Synonymität von Eigentum und bürgerlicher Gesellschaft berauben die jeweiligen Begriffe ihrer möglichen Konturen. Die hier unterlassenen Klärungen wirken sich nachteilig auch auf die Theorie anderer Gesellschaftsformationen aus. Die moderne Zivilgesellschaftsdebatte wird sich selten über einen eigenständigen Eigentumsbegriff klar: Sie setzt ihn und seine Gewährleistung voraus. Dabei sind die komplexen Möglichkeiten körperschaftlicher Eigentumsregelung, die weit über privatrechtliche Modelle hinausreichen, von großem Interesse für die Frage des organisatorischen Aufbaus zivilgesellschaftlicher Gebilde. Die ökologische Bewegung expliziert selten ihren Begriff von natürlichen Ressourcen und die Frage, wer in welcher Weise über sie verfugen darf. Die Menschenrechtsdebatte spricht immer vom Plural dieser Rechte und fragt selten nach den internen Verhältnissen, zumal den Spannungsverhältnissen, die zwischen den Rechten auf Freiheit und Gleichheit einerseits und dem Recht auf Eigentum anderseits angelegt sind. Mit dem Zusammenbruch des dominierenden Konflikts zwischen marktwirtschaftlicher und planwirtschaftlicher Ordnung und der neuen Frage des Verhältnisses von Selbstregulierung des privaten Marktes oder staatlicher Beaufsichtigung und Intervention zum Zwecke des Schutzes der öffentlichen Wohlfahrt wird auch wieder der Eigentumsbegriff prominent werden müssen. Immer stellt sich die gleiche Grundsatzfrage: Wer darf wie worüber verfügen und die Verfügung anderer dabei ausschließen? Die zwei Hauptstränge der Argumentationsstrategien lauten: alle oder jeder für sich. Piaton hat die Eigentumsordnung in das Zentrum seiner Überlegungen zur gerechten Organisierung von Politik und Gesellschaft gestellt. Die durch Erziehung auserlesenen Wächter haben grundsätzlich eigentumslos zu leben, das Eigentum ist dem Zugriff der Politik ausgesetzt und alle eigentumsähnlichen Strukturen, die private Interessen und Ansprüche
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erwecken könnten, werden vergemeinschaftet. Wenn nämlich der Mensch willkürliche Herrschaft besitzt über Dinge, so wird er andere hiervon ausschließen wollen und so einen Keil in das Band der Gesellschaftsmitglieder treiben. Es sind also politische Motive, die Piaton veranlassen, Privateigentum möglichst zu vermeiden und auf der Ebene der Wächter sogar mit aller Rigorosität. Diesem Argument hat bereits wenige Jahre später Aristoteles das bis heute anhaltende Gegenargument präsentiert: Mit dem Privateigentum ist auch eine besondere Sorgeleistung des Menschen verbunden, die er der Sache angedeihen lässt. Sind alle fur alles verantwortlich, so ist effektiv niemand verantwortlich, und die der gemeinsamen Verantwortung überlassenen Dinge müssen verwahrlosen. Daher definiert Aristoteles die Politik geradezu als den Bereich, in welchem bestimmte Bereiche der Allgemeinverantwortung unterstellt werden, wozu im Gebiet des Eigentums nur der allgemeine Finanzhaushalt zählt, über den jeder Vollbürger mitbestimmen darf. Hier ist die Allgemeinverfugung sinnvoll, im Bereich des Haushalts (der Ökonomie) dagegen nicht. Die Antworten von Piaton einerseits und Aristoteles andererseits sind im Laufe der politischtheoretischen Diskussion laufend wiederholt, aktualisiert und verfeinert worden. Piatons Argumente finden ihre Wiederholung und Ausarbeitung in Thomas Morus' Utopia ebenso wie in der vielleicht elaboriertesten Fortführung im Werk von Karl Marx. Aristoteles war das Fundament, von dem sich die politische Ökonomie der Neuzeit abstieß, um den selbstregulierenden Mark privater Güter zu erfassen. Das Christentum hat ein zwiespältiges Verhältnis zum Eigentum. Oft hat es das Eigentum als Teil der Verfallsgeschichte menschlicher Sittlichkeit gedeutet. Der Mensch ist zur Befriedigung seiner Bedürfnisse aus eigener Kraft angewiesen, weil er den Geboten Gottes nicht zu gehorchen vermochte und so aus dem Paradies in den Gesellschaftszustand der Mühsal und der Sünde verwiesen wurde. Diese Überlegung brachte die Frage nach der Genese des Eigentums in die Diskussion ein: Woher rührt das Eigentum des Menschen? Wenn Gott dem Menschen die Natur zur Verfügung stellte, so konnte im Mittelalter das Recht am Eigentum aus der langen Übertragungskette legitimiert werden. Politisch war mit der genetischen Theorie der Vorrang der monarchischen Macht in Hinblick auf die Verfugung über Sachen mitgeliefert, die sich nahtlos in die Legitimationskette zurück zu Gottes ursprünglicher Schöpfung einfügt. Zu einer Relativierung dieses Modells kam es erst mit John Locke, der als Erster nach einem Entstehungsgrund des Eigentums außerhalb des biblischen Kontextes suchte und ihn in der menschlichen Arbeit fand. An Stelle des feudalen Aneignungsbegriffs einer Kriegerkaste tritt die Erarbeitung des Besitzes durch intellektuelle Verarbeitung. Der Mensch findet im Naturzustand alle Sachen als Natur vor, die insofern allgemein verfügbar sind. Fügt er den Naturdingen jedoch ein Stück seiner Persönlichkeit hinzu, individualisiert er diese Sache und kann sie sich aneignen. Es ist die Arbeit an den Dingen, welche Eigentum begründet. Nun geben sich die aus eigener Kraft zu Eigentümern emporarbeitenden Menschen eine eigene Regierung, die hauptsächlich den Schutz von property zum Auftrag hat.
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III. Kapitel
Der umfangreiche Inhalt von property bei Locke, der das Leben des Menschen ebenso umschließt wie den Besitz an Dingen, zeigt, von welch elementarer Bedeutung das Eigentum für Locke ist. Die Regelung des tuum et meum, des Dein und Mein ist in der Gesellschaftsvertragstradition eine der wichtigsten Schnittstellen von Naturzustand und Gesellschaftszustand. Die Frage ist nur, ob sich die Definition des Eigentums unabhängig von politischer Setzung oder in völliger Abhängigkeit von ihr ergibt. Für Locke ist die Reihenfolge klar: Bereits im vor-staatlichen Zustand erarbeiten die Eigentümer die Ressourcen, mit deren Hilfe die politische Ordnung überhaupt erst handlungsfähig wird. Daher bleiben die Handlungen des Staates immer rückgebunden an die (ausgesprochene oder unausgesprochene) Zustimmung der Eigentümer. Vor Locke hatte Thomas Hobbes eine gänzlich andere Antwort gegeben. Für ihn ist das Streben nach Eigentum ein Bestandteil der menschlichen Natur, aber es ist dem Menschen ohne die Stabilität gewährende Instanz des Staates nicht gegeben, sicher über seinen Besitz zu verfügen. Da alle Menschen nach Eigentum streben und darin andere ausschließen wollen, treten sie gewollt-ungewollt in einen permanenten Kriegszustand zueinander. Dieser Kriegszustand ist von MacPherson in einer bahnbrechenden Studie als Metapher für die tatsächlichen Wettbewerbsverhältnisse der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft gedeutet worden. Die Konkurrenz der Eigentümer auf dem Markt setzt die Marktordnung des Staates voraus, welcher durch Gesetz und Gewalt die dort festgelegten Normen und Standards sichert und so allererst den Prozess des Warentauschs ermöglicht. Das hat für Hobbes aber zur Folge, dass der Staat auch ohne die Zustimmung der Eigentümer in deren Besitz eingreifen kann: Steuern sind nicht zustimmungsbedürftig, denn ohne den Staat gebe es gar kein Eigentum. Anders Locke: In seinem Modell bleiben alle Steuern Eingriffe in das Eigentum der Bürger und sind nur legitim, wenn sie, zumeist in gesetzlicher Form, dem Eingriff wenigstens prinzipiell zugestimmt haben. Das Eigentum ist in den meisten Beiträgen der politischen Theorie als Institution mittlerer Reichweite behandelt worden, welche das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. Staat klärt. Es ist aber daneben auch immer in Hinblick auf die moralischen Grundlagen einer Gesellschaft untersucht worden. Das betrifft besonders die moderne Geldwirtschaft und die damit verbundene Abstrahierung des Eigentums. Bereits John Locke betonte die schädlichen Auswirkungen des Geldes, da er einen durchaus moralischen Begriff des Eigentums hat: Was mit eigener Arbeit der Natur entrissen und durch Kultivierung zu Eigentum gleichsam veredelt wird, verpflichtet den Eigentümer auch zur Pflege. Die mit dem Geld verbundene Auflösung des moralischen Verhältnisses zu einer bloßen Nutzenkalkulation war Locke unheimlich. Und doch ist sie der logische Ausgangspunkt für die dynamische Kapitalisierung der Wirtschaft, die Karl Marx zum Ausgangspunkt seiner Gesellschaftstheorie nimmt. Er steht am Ende des Diskurses der klassischen politischen Ökonomie. In Verarbeitung der Literatur seiner Zeit über Wirtschafts- und Sozialgeschichte interessiert ihn, wie sich an den konkreten Regelungen der Eigentums-
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Verhältnisse wie in einem Brennglas die verschiedenen auf die Gesellschaftsgeschichte einwirkenden Faktoren abzeichnen. Die Wirtschaft ist nicht nur die große Produktionsstätte zur Schaffung des nationalen Reichtums, wie dies etwa Adam Smith formulierte, sie ist gerade in dieser Hinsicht zugleich der größte Desintegrator sozialer Verhältnisse und löst beispielsweise die moralische Tauschwirtschaft durch die abstrakte Geldwirtschaft ab. Der Mensch ist mit seiner Arbeit von den Sachen losgelöst, er findet sich in der wirtschaftlichen Betätigung nicht mehr wieder, mehr noch, Marx diagnostiziert eine zunehmende Verelendung: eine vielfach geteilte Auffassung im 19. Jahrhundert. Zuvor hatte sich Tocqueville gefragt, inwiefern scheinbar harmlose Gesetze zur Eigentumsregelung weitreichende Auswirkungen haben können. Er zählt das Erbrecht zu den wichtigsten Formen politischer Gesellschaftssteuerung mit geradezu revolutionärer Wirkung. Es kann das Kollektiwermögen ganzer Familiengeschlechter dauerhaft vernichten und hat in seinen Augen auf diese Weise den Vorrang der Erb-Aristokratie zermürbt und so die Demokratisierung der Gesellschaft, die er anhand des Beispiels Amerika ja nur als Speerspitze einer weltweiten Entwicklung untersuchen wollte, vorbereitet. Das vom Staat unabhängige dynastische Vermögen ermöglichte es der Aristokratie, der Zentralgewalt der absoluten Monarchie eine effektive Gegenmacht entgegenzusetzen. Interessanter Weise argumentieren weder Tocqueville noch Marx über den Schutz des Eigentums in den Menschenrechtserklärungen ihrer Zeit. Wie man im betreffenden Abschnitt sehen kann, äußert sich Marx äußerst skeptisch über die soziale und politische Wirkung der Menschenrechte. Gerade das Eigentum ist fur beide eine Größe, die von politischen und ökonomischen Faktoren beeinflusst ist und nicht von normativen. Eine völlig andere Perspektive nimmt der Soziologe Georg Simmel ein. Was die klassische Ökonomie und die moralisch induzierte Eigentumstheorie an der Abstraktion des Eigentums durch die Geldwirtschaft kritisiert, das sieht Simmel als Freiheitsgewinn des Individuums. Denn die Ablösung der Identität des Individuums von den Eigentumsverhältnissen, seien sie bürgerlicher, seien sie aristokratischer Art, eröffnet dem Individuum zahlreiche Optionen der Lebensführung, die zuvor durch die gesellschaftlichen Festlegungen, zu welchen das Eigentum erheblich beitrug, eingeengt war. Simmel betont die Chancen der Moderne gegenüber denjenigen, die ständig nur ihre Gefahren hervorheben. Doch auch ein Realist wie der Ökonom Joseph Schumpeter, der nach seiner Auswanderung in die USA eine nachhaltige Wirkung entfaltete und mit seinem Werk zur Demokratie einen Klassiker der realistischen Demokratietheorie schrieb, betont die politischen Gefahren, die mit dem abstrakten Eigentum verbunden sind. Nun handelt es sich aber nicht um das Geld, sondern um das Aktienvermögen, welches eine rein zweckrationale und somit aller gesellschaftlichen Verantwortung enthobene Verwendung des Eigentums an den Sachen und Gütern erlaubt. Das sieht Schumpeter auch aus ökonomischen Gründen fur nachteilig an, glaubt er doch an die wirtschaftliche Produktivkraft des Unternehmers, der freilich nur als Eigentümer und nicht als angestellter Manager die Konjunktur belebt.
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Der moderne Wohlfahrtsstaat und seine Theoretiker wie John Rawls gehen oft stillschweigend davon aus, das Eigentum als einen der Politik grundsätzlich verfügbaren Gegenstand anzusehen, der durch Steuern und Eigentumsentzug im Falle ungerecht erscheinender Verteilungen gesteuert werden kann. John Rawls' Differenzprinzip (vgl. IV Kapitel: Politische Normen) setzt ein Primat des Politischen gegenüber ökonomischen Verteilungen voraus, was libertäre Theoretiker wie Nozick scharf kritisieren. Auf der internationalen Ebene diskutieren Autoren wie Charles Beitz die Ressourcenverteilung unter den Nationen vor allem im Verhältnis der entwickelten zu den unterentwickelten Nationen. Er geht von der Kontingenz der tatsächlichen Verteilung aus und nimmt ein Recht der Gesellschaft an, soziale Faktizität nach normativen Prinzipien rückgängig zu machen und abzugleichen.
PLATON Gemeineigentum Sokrates: Wird nun nicht dies der Anfang der Verständigung sein, daß wir uns selbst fragen, was wir wohl als das größte Gut anzuführen haben für das Bestehen eines Staates, auf welches zielend der Gesetzgeber alle Gesetze geben muß, und was als das größte Übel; (...) Gibt es nun wohl ein größeres Übel für den Staat als das, welches ihn zerreißt und zu vielen macht, anstatt eines? Oder ein größeres Gut als das, was ihn zusammenbindet und zu einem macht? (...) Nun bindet doch die Gemeinschaft der Lust und Unlust zusammen, wenn, soviel möglich, alle Bürger, sooft etwas entsteht und versteht, sich auf gleiche Weise freuen und betrüben? (...) Dagegen die Sonderung in dergleichen löst auf, wenn einige tief betrübt und andere hoch erfreut werden über dieselben Ereignisse des Staats oder derer im Staat. (...) Entsteht nun dergleichen nicht daraus, wenn die im Staat nicht zusammen aussprechen solche Worte wie »mein« und »nicht mein«, dieser ist am besten eingerichtet? (...) Und derjenige also, welcher dem einzelnen Menschen am allernächsten kommt? So wie, wenn einem unter uns der Finger verwundet ist, die gesamte, sich über den
Leib hin zur Seele als zur einen Zusammenordnung des in ihr Herrschenden sich erstreckende Gemeinschaft es zu fühlen pflegt und insgesamt zugleich mit zu leiden mit einem schmerzenden Teile, sie, die ganze, und wir sodann sagen, daß der Mensch Schmerzen hat am Finger. Und ebenso verhält es sich mit jeglichem andern am Menschen, sowohl bei Unlust, wenn ein Teil leidet, als bei Lust, wenn einer sich wohlbefindet. Glaukon: Ganz ebenso freilich, sagte er, und, wonach du fragst, einem solchen zu allernächst steht der am besten eingerichtete Staat. Sokrates: Wenn nun, denke ich, einem unter den Bürgern irgend etwas betrifft, sei es nun Gutes oder Schlimmes, wird ein solcher Staat vorzüglich sagen, das Betroffene gehöre ihm zu, und wird sich also ganz mit freuen oder mit betrüben. (462 a ff., S. 183) Sokrates: Als Ursache also an dem größten Gut hat sich uns gezeigt die Gemeinschaft der Weiber und Kinder unter den Helfern. (...) Denn wir hatten gesagt, diese dürften weder Häuser zu eigen haben noch Land noch sonst ein Besitztum, sondern müßten den von den übrigen als Lohn für ihre Hut gereichten Lebensunterhalt gemeinsam verzehren, wenn sie wahrhaft Hüter sein sollten. (...) Macht nun nicht, wie ich sagte, sowohl das vorher
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Bestimmte als das jetzt Gesagte sie noch mehr zu wahren Hütern und verursacht, daß sie den Staat nicht zerreißen dadurch, daß sie nicht alle dasselbe »mein« nennen, sondern jeder etwas anderes, indem der eine in sein Haus zieht, was er nur kann, um es anschließend vor den andern zu besitzen, und ein anderer ebenso in das seinige, welches ein anderes ist, und indem sie verschiedene Frauen und Kinder haben, so daß nun jedem seine eigenen für sich auch eigene Lust und Unlust verursachen; sondern vielmehr, daß sie vermöge einer und derselben Festsetzung über das Angehörige auch nach Vermögen alle auf dasselbe hinstreben und möglichst auf gleiche Weise bewegt werden durch Lust und Unlust? (...) Wird nicht Rechtsstreit und Klage ganz verschwunden sein unter ihnen, um es kurz zusammenzufassen, weil keiner etwas Eigenes hat außer seinem Leibe, alles andere aber gemeinsam ist? Woraus denn folgt, daß keine Zwietracht unter diesen stattfindet, soweit aus Veranlassimg des Vermögens oder der Kinder und Verwandten den Menschen Zwietracht entsteht? (464b-e, S. 185) Aus: Piaton, Politeia, in: ders., Sämtliche Werke, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, mit der Stephanus-Numerierung, hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck, Bd. 3, Hamburg 1958, S. 67-310, Buch 5, Kap. 10.
ARISTOTELES Der Fehler des Gemeinschaftsbesitz Aber ist es für einen Staat, der gut eingerichtet sein soll, am besten, daß die Bürger möglichst viel gemeinsam haben, oder nur einiges? Denn die Bürger können ja auch Frauen, Kinder und Besitz untereinander gemeinsam haben, wie es im Staate Piatons der Fall ist. (...) Es ist aber
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doch klar, daß ein Staat, der immer mehr eins wird, schließlich gar kein Staat mehr ist. Seiner Natur nach ist er eine Vielheit. Wird er immer mehr eins, so wird aus dem Staat ein Haus und aus dem Hause ein einzelner Mensch. (...) Außerdem hat jene Lehre einen weiteren Fehler. Was den meisten gemeinsam ist, erfährt am wenigsten Fürsorge. Denn um das Eigene kümmert man sich am meisten, um das Gemeinsame weniger oder nur soweit es den einzelnen angeht. Denn, abgesehen vom übrigen, vernachlässigt man es eher, weil sich doch ein anderer darum kümmern wird, so wie auch in den häuslichen Dienstleistungen viele Diener zuweilen weniger leisten als wenige. Nun bekommt aber jeder Bürger tausend Söhne, und diese nicht als Söhne eines einzelnen, sondern jeder beliebige ist gleichmäßig Sohn von jedem beliebigen. Also werden sie alle gleichermaßen vernachlässigen. (1261al- 1262b40, S. 69-71) Die Gemeinschaft des Besitzes hat also diese und ähnliche Schwierigkeiten. Dagegen dürfte die gegenwärtige Einrichtung, durch Sitten und Anordnung richtiger Gesetze verbessert, nicht wenige Vorzüge bieten. Sie würde das Gute von beidem haben, ich meine vom Prinzip des gemeinsamen Besitzes und dem Prinzip des Privatbesitzes. Denn im bestimmten Sinne müssen die Güter gemeinsam sein, im allgemeinen dagegen privat. Wenn jeder für das Seinige sorgt, werden keine Anklagen gegeneinander erhoben werden, und man wird mehr vorankommen, da jeder am Eigentum arbeitet. Die Tugend wiederum wird den Gebrauch nach dem Sprichwort: »Den Freunden ist alles gemeinsam« regeln (...) Jeder hat da einen Privatbesitz, aber manches stellt er seinen Freunden zur Benutzung zur Verfügung, anderes benutzt er als gemeinsames Gut (...) Es ist also offenbar besser, daß der Besitz privat bleibt, aber durch die Benutzung gemeinsam wird. Daß aber die Bürger sich entsprechend verhalten, ist die besondere Aufgabe des Gesetzgebers. (Bekker 1262a21-37, S. 74 f.)
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Aus: Aristoteles, Politik, hg. von Olof Gigon, München 1981, Buch 2, Kap. 1 - 3 und 5.
THOMAS MORUS Gemeineigentum und Arbeitsorganisation Das wichtigste und beinahe einzige Geschäft der Syphogranten [Haushaltsvorsteher; wörtlich: Älteste des Schweinestalles] ist, dafür zu sorgen und Maßregeln zu treffen, daß keiner müßig herumsitzt, sondern jeder fleißig sein Gewerbe treibt, ohne indessen vom frühen Morgen bis tief in die Nacht wie ein Lasttier sich beständig abzurackern. Das wäre ja eine mehr als sklavische Schinderei! Und doch ist es fast überall das Los der Handwerker, außer bei den Utopiern, die den Tag einschließlich der Nacht in vierundzwanzig Stunden teilen und nur sechs davon der Arbeit widmen (...) Indessen, um keine falschen Vorstellungen aufkommen zu lassen, müssen wir an dieser Stelle innehalten und einen Punkt noch genauer ins Auge fassen. Weil nämlich die Utopier nur sechs Stunden bei der Arbeit sind, könnte man vielleicht der Meinung sein, es müsse daraus ein Mangel an lebensnotwendigen Arbeitsprodukten entstehen. Weit gefehlt! Im Gegenteil genügt diese Arbeitszeit nicht nur zur Herstellung des nötigen Vorrats an allen Erzeugnissen, die zu den Bedürfnissen oder Annehmlichkeiten des Lebens gehören, sondern es bleibt sogar noch davon übrig. Auch ihr werdet das begreiflich finden, wenn ihr euch überlegt, ein wie großer Teil der Menschen bei andern Völkern untätig dahinlebt; erstens fast alle Frauen, das macht die Hälfte des Ganzen, oder wo etwa die Frauen tätig sind, faulenzen statt dessen meistens die Männer; dazu dann die Priester und sogenannten »frommen« Ordensbrüder, was für eine gewaltige, was für eine faule Schar! Nimm hinzu alle die reichen Leute, insbesondere die
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Großgrundbesitzer, die man gewöhnlich »Standespersonen« und »Edelleute« nennt! Zähle weiter deren Dienerschaft dazu, diesen ganzen Kehricht bewaffneter Tagediebe! Endlich nimm dazu die kräftigen und gesunden Bettler, die alle möglichen Krankheiten zum Vorwand ihres Müßigganges nehmen (...) Aber wenn alle die vielen, deren Arbeitskraft jetzt auf müßige Gewerbe verzettelt ist, und wenn obendrein der Schwärm von Tagedieben, die jetzt in Nichtstun und Langeweile erschlaffen - und von denen jeder einzelne so viel von den Dingen verbraucht, die aus dem Schweiße anderer Leute beschafft werden müssen, wie zwei, die daran arbeiten - wenn also diese alle miteinander zur Arbeit, und zwar zu nützlicher Arbeit angestellt würden: da solltest du einmal sehen, wie wenig Zeit noch reichlich, ja überflüssig genügen würde, um alles das zu beschaffen, was notwendig oder nützlich ist zum Leben, ja setze ruhig hinzu, auch zum Vergnügen, wenigstens zum echten und natürlichen Vergnügen. Und eben diese Wahrheit bestätigen in Utopien die Tatsachen selber. Denn dort gibt es in einer ganzen Stadt einschließlich ihrer nächsten Umgebung aus der ganzen Zahl der nach Alter und Körperkräften zur Arbeit tauglichen Männer und Frauen kaum fünfhundert, die davon befreit sind. (S. 70-73) Ich habe Euch so wahrheitsgemäß, als mir möglich war, die Form dieses Staates beschrieben, der nach meiner festen Oberzeugung der beste, ja der einzige ist, der mit Recht den Namen eines staatlichen »Gemeinwesens« für sich beanspruchen kann. Denn wer anderswo vom »Gemeinwohl« spricht, denkt doch überall nur an seinen Privatvorteil; hier dagegen, wo es kein Privateigentum gibt, betreibt man ernsthaft die Interessen der Allgemeinheit. Und gewiß geschieht beides mit Recht. Denn wer wüßte nicht, daß er anderswo als in Utopien trotz noch so großer Blüte des Staates für seine Person Hungers sterben muß, wenn er nicht für seinen Sondernutzen sorgt? Und somit drängt jeden die
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Not, sich mehr für seine eigene Person als für sein Volk, das heißt für die anderen, verantwortlich zu fühlen. Dagegen hier, wo alles Eigentum Gemeingut ist, zweifelt niemand, daß es keinem für seine Privatbedürfhisse an etwas fehlen wird, solange nur dafür gesorgt wird, daß die öffentlichen Speicher gefüllt sind. Da gibt es ja keine ungerechte Güterverteilung, keine Armen und keine Bettler, und obschon keiner etwas besitzt, sind doch alle reich. Denn gibt es einen größeren Reichtum als: befreit von jeder Sorge, fröhlichen und ruhigen Herzens zu leben, ohne um seinen Lebensunterhalt zittern zu müssen, ohne gequält zu werden von den klagenden Geldforderungen der Gattin, ohne Furcht, daß der Sohn in Not geraten werde, ohne Sorge um die Mitgift der Tochter, sondern statt dessen gewiß zu sein, daß für das eigene Auskommen gesorgt ist wie für das Glück aller Angehörigen, der Gattin, der Kinder, der Enkel, der Urenkel und der Ururenkel und für die ganze Reihe der Nachkommen, so lang, wie sie der Edelmann im voraus sich vorstellt? Zuversichtlich zu sein auch deshalb, weil durchaus nicht weniger für die gesorgt ist, die jetzt entkräftet sind von früherer Arbeit, als für die, die jetzt arbeiten? (S. 149f.) Aus: Thomas Morus, Utopia, übertragen von Gerhard Ritter, Nachwort von Eberhard Jäckel, Stuttgart 1980.
THOMAS HOBBES Eigentum existiert erst durch den Staat Eine weitere Folge dieses Krieges eines jeden gegen jeden ist, daß nichts ungerecht sein kann. Die Begriffe von Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben hier keinen Platz. Wo keine allgemeine Gewalt ist, ist kein Gesetz, und wo kein Gesetz, keine Ungerechtigkeit. Gewalt und Betrug sind im Krieg die bei-
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den Kardinaltugenden. (...) Eine weitere Folge dieses Zustandes ist, daß es weder Eigentum noch Herrschaft, noch ein bestimmtes Mein und Dein gibt, sondern daß jedem nur das gehört, was er erlangen kann, und zwar so lange, wie er es zu behaupten vermag. (S. 98) Bevor man deshalb von »gerecht« und »ungerecht« reden kann, muß es eine Zwangsgewalt geben, um die Menschen gleichermaßen durch die Angst vor einer Bestrafung zur Erfüllung ihrer Verträge zu zwingen, die gewichtiger ist als der Vorteil, den sie sich vom Bruch ihres Vertrages erhoffen, und um das Eigentum zu sichern, das die Menschen durch gegenseitigen Vertrag als Entschädigung für das aufgegebene universale Recht erwerben. Eine solche Macht gibt es aber vor Errichtung eines Staates nicht. (...) Und deshalb gibt es dort, wo es kein »Mein«, das heißt, kein Eigentum gibt, keine Gerechtigkeit, und wo keine Zwangsgewalt errichtet wurde, das heißt, wo es keinen Staat gibt, gibt es kein Eigentum. (S. 110) Eine fünfte, zur Auflösung des Staates führende Lehre lautet: jeder Privatmann besitzt das uneingeschränkte Eigentum an seinem Vermögen, so daß das Recht des Souveräns daran ausgeschlossen ist. Jedermann besitzt in der Tat ein Recht auf Eigentum, das das Recht jedes anderen Untertanen ausschließt, und er hat es allein von der souveränen Gewalt, ohne deren Schutz jeder andere das gleiche Recht daraufhätte. Wird aber das Recht des Souveräns ebenfalls ausgeschlossen, so kann er die ihm von jedermann übertragene Aufgabe, nämlich ihre Verteidigung gegen äußere Feinde und gegen das Unrecht, das sie sich untereinander zufügen, nicht wahrnehmen, und folglich hört der Staat zu Bestehen auf. (S. 248) Aus: Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und eingeleitet von Iring Fetscher, übersetzt von Walther Euchner 1966, 3. Aufl., Frankfürt/M. 1989, Kap. 13,15 und 29.
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GERRARD WINSTANLEY Gemeineigentum und Freiheit Laßt euch gesagt sein, daß das Volk von England nicht eher frei sein wird, als bis die Armen, die kein Land haben, frei und unbehelligt auf den Gemeindeweiden graben und arbeiten dürfen und mithin genauso sorgenfrei leben können wie die Grundherren auf ihrem eingehegten Boden. Denn das Volk hat ja doch nicht dafür sein Geld hergegeben und sein Blut vergossen, daß die durch seine Grundherren verkörperte normannische Gewalt das Recht und die Freiheit behalten solle, ihre Tyrannenherrschaft auch fürderhin in Gestalt von Gutsherren, Landbesitzern, Gerichtshaltern, Richtern, Amtsvorstehern und Staatsbeamten auszuüben, sondern vielmehr dafür, daß die Unterdrückten in Freiheit gesetzt, die Gefängnistore sich auftun und die Armen in ihrem Herzen Trost durch die allgemeine Übereinkunft finden würden, die Erde in eine gemeinschaftliche Schatzkammer zu verwandeln, damit sie, in brüderlicher Liebe zu einem Geist vereint und mit den reichen Gütern ihrer gemeinsamen Mutter Erde in gleicher Weise gesegnet, als das eine Haus Israel einträchtig zusammenleben können. (S. 29 f.) Aus: Gerrard Winstanley, Wofür das Banner der Wahren Levellers weht, in: ders., Gleichheit im Reiche der Freiheit, übertragen von Klaus Udo Szudra, hg. von Hermann Klenner, Leipzig 1983, S. 17-38.
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nen Person. Auf diese hat niemand ein Recht als nur er selbst. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind, so können wir sagen, im eigentlichen Sinne sein Eigentum. Was immer er also den Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat, hat er mit seiner Arbeit gemischt und ihm etwas eigenes hinzugefügt. Er hat es somit zu seinem Eigentum gemacht. Da er es dem gemeinsamen Zustand, in den es die Natur gesetzt hat, entzogen hat, ist ihm durch seine Arbeit etwas hinzugefügt worden, was das gemeinsame Recht der anderen Menschen ausschließt. (S. 216 f.) Wenn auch das Wasser, das aus der Quelle fließt, Eigentum aller ist, wer kann zweifeln, daß es dennoch im Kruge nur demjenigen gehört, der es geschöpft hat? Seine Arbeit hat es aus den Händen der Natur genommen, wo es Gemeingut war und allen ihren Kindern gleichmäßig gehörte, und er hat es sich dadurch angeeignet. (S. 218) Es ist also die Arbeit, die dem Boden den größten Teil seines Wertes verleiht. Denn ohne sie würde er kaum etwas wert sein. Ihr haben wir den größten Teil seiner nützlichen Erzeugnisse zu verdanken. Denn alles, was das Stroh, die Kleie, das Brot von jenem Acre Weizen wertvoller macht als den Ertrag eines Acres ebenso guten Landes, das brach legt, ist ausschließlich die Folge der Arbeit. Denn es ist nicht allein die schwere Arbeit des Pflügens, die Mühen des Schneidens und des Dreschens und der Schweiß des Bäckers, was bei dem Brot, das wir essen, berechnet werden muß, sondern auch die Arbeit derjenigen, die die Ochsen zähmten, die Steine gruben und das Eisen schmiedeten, die das Holz fällten und bearbeiteten (...) Das alles muß dem Konto der Arbeit zugeschrieben werden und als ihre Auswirkungen betrachtet werden. (S. 227)
Menschliche Gemeinschaft ruht auf Arbeit Obwohl die Erde und alle niederen Lebewesen allen Menschen gemeinsam gehören, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner eige-
Aus: John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, hg. v. Walter Euchner, Frankfurt/M. 1977, II, §§ 27,29 und 43.
Politische Institutionen
A D A M SMITH Ordnung wie durch unsichtbare Hand Nun ist aber das Volkseinkommen eines Landes immer genau so groß wie der Tauschwert des gesamten Jahresertrages oder, besser, es ist genau dasselbe, nur anders ausgedrückt. Wenn daher jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch diese so lenkt, daß ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten läßt, dann bemüht sich jeder einzelne ganz zwangsläufig, daß das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird. Tatsächlich fordert er in der Regel nicht bewußt das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie hoch der eigene Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er eigentlich nur an die eigene Sicherheit und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, daß ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat. Auch für das Land selbst ist es keineswegs immer das schlechteste, daß der einzelne ein solches Ziel nicht bewußt anstrebt, ja, gerade dadurch, daß er das eigene Interesse verfolgt, fördert er häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun. Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten der Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan. (...) Der einzelne vermag ganz offensichtlich aus seiner Kenntnis der örtlichen Verhältnisse weit besser zu beurteilen, als es irgendein Staatsmann oder Gesetzgeber für ihn tun kann, welcher Erwerbszweig im Lande für den Einsatz seines Kapitals geeignet ist und welcher einen Ertrag abwirft, der den höchsten Wertzuwachs verspricht. Ein Staatsmann, der es versu-
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chen sollte, Privatleuten vorzuschreiben, auf welche Weise sie ihr Kapital investieren sollten, würde sich damit nicht nur, höchst unnötig, eine Last aufbürden, sondern sich auch gleichzeitig eine Autorität anmaßen, die man nicht einmal einem Staatsrat oder Senat, geschweige denn einer einzelnen Person getrost anvertrauen könnte, eine Autorität, die nirgendwo so gefährlich wäre wie in der Hand eines Mannes, der, dumm und dünkelhaft genug, sich auch noch für fähig hielte, sie ausüben zu können. Wird dem Erzeugnis irgendeines Handwerks oder Gewerbes auf dem einheimischen Markt eine Monopolstellung eingeräumt, so heißt das letzten Endes nichts anderes, als Privatleuten vorzuschreiben, auf welche Weise sie ihr Kapital eigentlich investieren sollten, ein Eingriff, der in den meisten Fällen nutzlos, ja, obendrein noch schädlich ist. (S. 370 f.) Aus: Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, in einem Band nach der 5. Aufl. von 1789 (letzter Hand) hg. von Horst Claus Recktenwald, München 1974,4. Buch, 2. Kap.
MAXIMILIEN ROBESPIERRE Eigentum als politisch verfugbare Konvention Es wäre sicherlich keine Revolution notwendig, um der Welt zu zeigen, daß extreme Mißverhältnisse der Besitztümer die Quelle für viele Mißstände und viele Verbrechen sind, aber wir sind nicht weniger überzeugt, daß eine Gleichheit des Besitzes ein Traumgespinst ist. Ich persönlich glaube, daß eine solche Gütergleichheit weit weniger für das Glück des Einzelnen notwendig ist als für das Heil der Allgemeinheit. Es geht eher darum, die Armut zu einem ehrba-
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ren Stand zu machen, als den Reichtum zu ächten. (...) Fragt einen dieser Händler mit Menschenfleisch [Sklavenhändler], was Eigentum ist; er wird euch einen langen Sarg zeigen, den er ein Schiff nennt und in den er lebendige Menschen eingepfercht und festgekettet hat, und er wird euch sagen: »Diese Menschen sind mein Eigentum, ich habe sie für so und so viel pro Kopf gekauft.« Befragt jenen Edelmann, der Ländereien und Untertanen besitzt oder für den, wenn er sie nicht mehr besitzt, die Welt aus den Fugen geraten ist, er wird euch die gleichen Ideen über das Eigentum vor euch entwickeln. (...) In den Augen all dieser Leute hat das Eigentum gar keine moralische Grundlage. Warum scheint Eure Erklärung der Rechte den gleichen Irrtum zu enthalten? Als ihr die Freiheit definiert habt, das erste Gut und das heiligste Recht des Menschen, das er von der Natur empfangen hat, da habt ihr ganz richtig gesagt, daß die Freiheit ihre Grenzen in den Rechten des Nächsten hat; warum habt ihr diesen Grundsatz nicht auch auf das Eigentum angewandt, das doch ebenfalls eine soziale Einrichtung ist? Als ob die ewigen Gesetze der Natur weniger unverletzbar wären als die Konventionen der Menschen. Ihr habt eine Vielzahl von Artikeln verfaßt, um eine möglichst große Freiheit in der Ausübung des Eigentumsrechtes zu gewährleisten, und ihr habt nicht ein einziges Wort gesagt, um den legitimen Charakter des Eigentums zu bestimmen, so daß eure Erklärung nicht für die Menschen im allgemeinen, sondern für die Reichen, die Spekulanten, die Wucherer und die Tyrannen gegeben zu sein scheint. Ich schlag vor, die Mängel zu beseitigen und die folgenden Wahrheiten einzusetzen:
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schränkt, die Rechte des Nächsten zu respektieren. Artikel 3 - Das Eigentum darf weder die Sicherheit, die Freiheit, die Existenz noch das Eigentum unserer Mitmenschen beeinträchtigen. Artikel 4 - Jeder Besitz und jeder Handel, der diesen Grundsatz verletzt, ist unlauter und unmoralisch. (S. 397-399) Aus: Maximilien Robespierre, Rede über das Eigentum vom 24. April 1793 vor dem Nationalkonvent, in: ders., Ausgewählte Texte, deutsch von Manfred Unruh, eingeleitet von Carlo Schmid, 2. Aufl., Hamburg 1989, S. 394-407.
ALEXIS DE TOCQUEVILLE Das Erbrecht als politisches Steuerungsinstrument
Aber es war das Erbrecht, das den letzten Schritt zur Gleichheit brachte. Ich bin erstaunt, daß die alten und neuen Schriftsteller dem Erbrecht keinen größeren Einfluß auf die Entwicklung der menschlichen Verhältnisse beimessen. Zwar gehören diese Gesetze zum bürgerlichen Recht, sie sollten aber an der Spitze aller politischen Einrichtungen stehen, denn sie beeinflussen in unglaublicher Weise die Gesellschaftsordnung der Völker, die sich in den politischen Gesetzen ausprägt. Sie wirken ferner in bestimmter und gleichmäßiger Art auf die Gesellschaft ein; sie erfassen sozusagen die Geschlechter vor ihrer Geburt. Sie verleihen Artikel 1 - Das Eigentum ist das Recht eines dem Menschen die Waffe einer fast göttlichen jeden Bürgers, über den Teil der Güter frei zu Gewalt über die Zukunft ihrer Mitmenschen. verfügen, der ihm durch das Gesetz garantiert (...) Sie vereint gemäß ihrer bestimmten Anlage, verdichtet und sammelt das Eigentum und wird. bald darauf die Macht um irgendein Haupt; sie Artikel 2 - Das Eigentumsrecht ist wie jedes läßt gewissermaßen die bodenständige Aristoandere Recht durch die Verpflichtung einge-
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kratie stehen. Wird sie von anderen Grundsätzen gelenkt und treibt sie in eine andere Richtung, ist ihre Wirkung noch rascher; sie teilt, zerstückelt, zerstreut den Besitz und die Macht; dann ist die Schnelligkeit ihres Ganges bisweilen erschreckend. (...) Sie zermalmt oder zersprengt alles, was ihr auf dem Wege begegnet, sie erhebt sich und stürzt unaufhörlich auf den Boden hinab, bis dieser nur noch den Anblick rieselnden Staubs bietet, auf dem die Demokratie sich niederläßt. (Bd. 1,S. 55 f.)
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sen verarmt ist.« Indem die Interessen auf das Geld gestellt werden und soweit der Besitz in Geld besteht, muß der Einzelne die Tendenz und das Gefühl einer selbständigeren Bedeutung dem sozialen Ganzen gegenüber bekommen, er verhält sich zu diesem nun wie Macht zu Macht, weil er frei ist, sich seine Geschäftsbeziehungen und Kooperationen überall, wo er will, zu suchen; das Warengeschäft dagegen, selbst wenn es sich räumlich so weit erstreckt wie das der Venetianer, muß vielmehr Mitwirkende und Angestellte im nächsten Kreis suchen, seine umständlichere und substanziellere Technik legt Aus: Alexis de Tocqueville, Über die ihm überhaupt lokale Bedingungen auf, von Demokratie in Amerika, hg. von J. P. Maydenen das Geldgeschäft frei ist. Noch entschieer, übersetzt von Hans Zbinden, 2 Bände, dener tritt dies natürlich an dem Unterschied Stuttgart 1959 und 1962. zwischen Grund- und Geldbesitz hervor. Es beweist die Tiefe dieses soziologischen Zusammenhanges, daß man hundert Jahre nach jener Äußerung Boteros gerade an sie die Betrachtung GEORG SIMMEL geknüpft hat, welche Gefahr es für den Staat Auswirkungen der Geldwirtschaft auf wäre, wenn das Hauptvermögen der herrschenSozialverpflichtungen den Klasse aus Mobiliarbesitz besteht, den man in Zeiten der öffentlichen Not in Sicherheit brinDiese äußerst bedeutsame Kraft des Geldes, gen kann, während die Grundbesitzer durch ihr dem Individuum eine neue Selbständigkeit den Interesse unlösbar mit dem Vaterlande verbununmittelbaren Gruppeninteressen gegenüber zu den sind. In England ist das steigende Übergeverleihen, äußert sich keineswegs nur gelegent- wicht des industriellen Reichtums über den in lich des fundamentalen Gegensatzes zwischen Grundbesitz angelegten dafür verantwortlich Natural- und Geldwirtschaft, sondern auch gemacht worden, daß das kommunal-soziale innerhalb der letzteren. Gegen Ende des Interesse der obersten Klasse sich verloren hat. 16. Jahrhunderts schrieb der italienische Publi- Das alte Self-Government ruhte auf der persönzist Botero: * »Wir haben in Italien zwei blühen- lichen Staatstätigkeit der letzteren, die jetzt de Republiken, Venedig und Genua. Die Vene- immer mehr direkten Staatsorganen Platz tianer, welche sich mit reellem Warenhandel macht. Die bloße Geldsteuer, mit der man sich beschäftigen, sind zwar als Privatleute nur jetzt abfindet, dokumentiert den Zusammenmäßig reich geworden, haben aber dafür ihren hang, der zwischen der gewachsenen GeldmäStaat außerordentlich groß und reich gemacht. ßigkeit aller Verhältnisse und dem Niedergang Die Genuesen dagegen haben sich ganz dem jener alten Sozialverpflichtungen stattfindet. Geldgeschäft ergeben und hierdurch ihren Pri- (S. 463 f.) vatbesitz sehr vermehrt, während ihr Staatswe-
* Simmel bezieht sich auf Giovanni Botero, Ragion di Stato, Venedig 1606, Buch 1, Kap. 15, Ende.
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Aus: Georg Simmel, Philosophie des Geldes, 1901, 2. Aufl. 1907, zit. nach: ders., Gesamtausgabe, Bd. 6, hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt/M. 1989.
JOSEPH SCHUMPETER Eigentum ohne Person und Materie verpflichtet nicht mehr So schiebt der kapitalistische Prozeß alle jene Institutionen, namentlich die Institutionen des Eigentums und des freien Vertragsrechts, die einst die Bedürfnisse und die Formen der wahrhaft »privaten« Wirtschaftstätigkeit ausgedrückt hatten, in den Hintergrund. Wo er sie nicht abschafft, wie er bereits den freien Vertrag auf dem Arbeitsmarkt abgeschafft hat, da erreicht er das gleiche Ziel, indem er die relative Bedeutung bestehender gesetzlicher Formen verschiebt zum Beispiel die die Aktiengesellschaft betreffenden gesetzlichen Formen gegenüber jenen, die sich auf die Teilhaberschaft oder die Einzelfirma beziehen - oder indem er ihren Inhalt oder ihren Sinn verändert. Indem der kapitalistische Prozeß ein bloßes Aktienpaket den Mauern und den Maschinen einer Fabrik substituiert, entfernt er das Leben aus der Idee des Eigentums. Er vermindert den Zugriff, der einmal so stark war - den Zugriff im Sinn des gesetzlichen Rechts und der tatsächlichen Möglichkeit, mit dem, was einem gehört, zu tun, was einem beliebt; den Zugriff auch in dem Sinn, daß der Inhaber des Titels den Willen verliert, ökonomisch, physisch, politisch für »seine« Fabrik und seine Kontrolle über sie zu kämpfen und wenn nötig auf ihrer Schwelle zu sterben. Und diese Verflüchtigung dessen, was wir die materielle Substanz des Eigentums - seine sichtbare und fühlbare Wirklichkeit - nennen können, beeinflußt nicht nur die Haltung der Aktienbesit-
zer, sondern auch die der Arbeiter und die der Öffentlichkeit im Allgemeinen. Ein Eigentum, das von Person und Materie gelöst und ohne Funktion ist, macht keinen Eindruck und erzeugt keine moralische Treupflicht, wie es die lebenskräftige Form des Eigentums einst tat. Zuletzt bleibt niemand mehr übrig, der sich wirklich dafür einsetzen will - niemand innerhalb und niemand außerhalb der Bezirke der großen Konzerne. (S. 230) Aus: Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Einleitung von Edgar Salin, Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Preiswerk, 6. Aufl.,Tübingen 1987.
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2. Der Staat Der Staat ist die Bezeichnung für die intensive Gestalt politischer Ordnung, wie sie der Neuzeit und der Moderne eigentümlich sind. Der Staat sammelt ungeheure Ressourcen, die er nicht selber produziert, sondern seinen Bürgern abverlangt; der Staat fordert von seinen Bürgern im Grenzfall der Güter höchstes ein: das Leben. Der Staat ist selbst in Ländern mit einer ausgesprochen liberalen, das heißt hier: staatsfernen, Ideologie typischerweise der größte Arbeitgeber. Der Staat ist also selber Akteur in Wirtschaft und Recht, er ist der größte Landbesitzer und es gibt praktisch keinen Lebensbereich, der sich dem steuernden, wenigstens beaufsichtigenden Zugriff des Staates entziehen könnte. Er setzt die Normen, denen sich die Bevölkerung unterzieht, er teilt Lebensräume zu und kann sie wieder entziehen. Beruht der Staat auf Strukturen und Ressourcen, die unabhängig seiner Mitglieder bestehen, oder besteht er vornehmlich aus seinen Mitgliedern? Ist der Staat Macht, oder ist er Vereinbarung? Gehen Aufbau und Erhalt der Macht allen Vereinbarungen voraus, setzt also jede anspruchsvolle Normverwirklichung infreierAushandlung unter freien und gleichen Bürgern immer schon die Macht voraus? Oder konstituiert sich der Staat allererst durch die Macht, die ihm seine Bürger übertragen, und ist er ohne seine Bürger nichts? Zwei große Stränge innerhalb der politischen Theorie klären das Verhältnis von politischen Institutionen und menschlichem Handeln: 1) Menschliches Handeln besteht in dem Aufbau staatlicher Macht. Staatliche Akteure haben einen privilegierten Zugang zum Politischen. Mit dem Staat als dem Inbegriff einer politischen Institution kommt es zur Differenzierung der relevanten Akteure: Eine elitäre Führungsschicht steht dem weitaus größeren Teil der Bevölkerung, der regiert wird, gegenüber. 2) Auf der anderen Seite steht die Meinung, dass selbst politische Institutionen und auch Macht nur das Ergebnis sich stets erneuernder menschlicher Kooperation sind. Macht beruht auf Vereinbarung, menschliches Handeln ermächtigt erst bestimmte Personen, in ihrem Namen tätig zu werden. Die Macht weicht der Gewalt, wenn die Vereinbarung ausbleibt und einzelne Willkür sich technischer Instrumente bedienen muss, um andere Menschen zum Handeln zu bewegen. Diese Form politischer Gewalt ist eine verarmte und ver-
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ödete Form der Politik. Sie ist langfristig selbst in totalitärer Gestalt zum Untergang verurteilt. Im ersten Fall folgt der Staat, und das heißt immer: folgen diejenigen Akteure, die sich auf besondere Weise dem Staat verpflichtet fühlen oder in seinem Namen agieren, seinen eigenen Gesetzen. Diese Gesetze sind nicht jedem einsichtig, und sie verlangen eine besondere Leistungsfähigkeit ab, um sie zu erfüllen. Daher existiert im Machtstrang des Staatsverständnisses eine Neigung, die Steuerung des Staates nicht von der aktuellen Zustimmung der breiten Bevölkerung abhängig machen zu wollen. Selbst im gegenwärtigen Zeitalter der unhinterfragten Demokratie findet man Situationen, in welchen Machteliten einen Strukturwandel von erheblicher Tragweite einleiten möchten und sich nur zögerlich der Zustimmung der Adressaten dieses Wandels in Gestalt beispielsweise von Referenden unterziehen wollen. Das für diesen Fall am häufigsten gebrauchte Sinnbild ist das des Staates als Schiff. Das Schiff ist Fährnissen ausgesetzt, auf die weder das Schiff als Ganzes noch ein Teil seiner Besatzung Einfluss nehmen; es gilt vielmehr, ungeachtet der eigenen Wünsche und Vorstellungen diese gleichsam natürlichen Gesetze zu erkennen und ihnen entsprechend zu handeln. Das Schiff kann nur in eine Richtung gleichzeitig fahren, es kann nicht alle Wünsche befolgen, sondern verlangt Einigung über den Kurs. Diese Einigung muss notfalls festgelegt werden, am besten aber wird sie dem Zugriff der Besatzung entzogen. Ferner ist das Schiff zahlreichen Gefahren ausgesetzt, die vom Schiff, besser gesagt: von seiner Besatzung, ausgehen. Meuterei, Ungehorsam, Unwilligkeit, die erforderlichen Pflichten zu erfüllen, Sorge vor selbst gemachten Bränden, vor der Verausgabung der an Bord befindlichen Ressourcen und vieles mehr bedrohen die Mission des Schiffes. Schließlich verlangt die angemessene Schiffsführung eine klare Hierarchie, am besten ein einheitliches Kommando. Immerhin sind die Techniken, die zur Führung eines Schiffes erforderlich sind, so ausgeklügelt und setzen so große Kenntnisse voraus, dass eine Gleichverteilung der Kommandogewalt unter der Besatzung ungeachtet ihrer individuellen Fähigkeiten eine weitere Gefahr darstellt. Und letztlich: Das Staatsschiff ist nicht alleine auf hoher See, es begegnet anderen, mitunter feindlich gesonnenen Schiffen, Kaperern, Piraten, Konkurrenten. Für diesen Fall muss das Schiff vorbereitet sein, was einen weiteren und sehr intensiven Grund abgibt, die zuvor genannten Regeln einzurichten und zu befolgen, und zwar schon lange bevor es zu einem Konfliktfall mit der Natur oder mit anderen Schiffen kommt. Der Staat als Macht ist nicht oder nicht alleine auf der Zustimmung von Individuen begründet. Er verkörpert eine über den aktuellen Willen der Bürger hinausweisende Idee, wie es Hegel formuliert, der entsprechend auch die Gesellschaftsvertragstradition als kurzschlüssig zurückweist. Der Staat hat eine historische Aufgabe, oder er ist ein Werkzeug Gottes und der Vorsehung (de Maistre). Selbst wenn man nur den Menschen in Betracht zieht und sich aller Metaphysik enthält, kann man mit Edmund Burke den Staat und seine
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Verfassung als das Produkt vieler Generationen politischer Tätigkeit begreifen, die eine einzige Generation von Revolutionären nicht handstreichartig außer Kraft setzen darf. Der Staat ist nämlich nicht nur den lebenden Bürgern verpflichtet, sondern auch den Toten sowie den künftigen Bürgern, die jetzt noch gar nicht geboren sind. In all diesen Fällen wird der theoretische Versuch unternommen, den Staat dem Zugriff der Bürger zu entziehen und seine wahre Perspektive jenseits der Lebenden zu situieren. Der Staat kann nicht vom Willen der Bürger abhängig gemacht werden. Er beruht nicht auf Vereinbarung, sondern, wie es Treitschke drastisch formuliert, auf Macht, Macht und nochmals Macht. Darunter sollte man nicht kurzschlüssig eine Apotheose der reinen Macht verstehen, deren Ursachen in der persönlichen Psyche des Autoren zu suchen sind. Treitschke will vielmehr drastisch auf die äußeren Rahmenbedingungen der Entstehung und der Existenzfähigkeit eines Staates hinweisen, der nicht durch realitätsabgewandte Ideale ins Leben gerufen wird, sondern dessen Ideale immer mit Machtmitteln verwirklicht werden müssen, weshalb die Institution des Staates zuvörderst auf die Wahrung seiner Macht erpicht sein muss. Treitschke opponiert gegen einen Strang des Liberalismus, der es 1848 versäumte, diese Machtstrukturen in seine Staatsgründung einzubeziehen, und zertrümmert wurde, als der preußische König die ihm angebotene Krone für den gewünschten Nationalstaat ablehnte. Die Idee des Nationalstaates (jedenfalls in kleindeutscher, das heißt: protestantisch dominierter Gestalt) wurde von Treitschke leidenschaftlich verfolgt, aber er verlangte die Einsicht, dass man berücksichtigen muss, welche politischen Mächte überhaupt im Stande sind, sie gegen die Interessen der Nachbarstaaten ins Leben zu rufen. Das war seiner Ansicht nach allein Preußen. In diesem Sinne glaubt Otto Hintze sagen zu dürfen, dass die Verfassung eines Staates ganz wesentlich Kriegsverfassimg sei, und von den Rahmenbedingungen der Notwendigkeit, sich kriegerisch behaupten zu müssen, geprägt ist. Manche Staaten sind Machtstaaten, weil sie von außen machtstaatlichen Einflüssen ausgesetzt sind. Max Weber schließlich verlangt, die Realia zu berücksichtigen, worunter er die von idealistischen Politiktheorien gerne vernachlässigten Strukturbedingungen des inneren Aufbaus des modernen Staates versteht, der wie jede moderne anstaltliche Körperschaft auf Bürokratie beruht und insofern auch eine entsprechende Sprache und entsprechendes Personal hervorbringt. Die geringe Resonanz idealistischer Prinzipien in solchen binnenstaatlichen Strukturen kann nur denjenigen überraschen, der die Augen vor dieser Wirklichkeit verschließt. Auch auf der sozialistischen Seite macht sich der Machtrealismus bemerkbar, wenn Ferdinand Lassalle, der Initiator der deutschen organisierten Arbeiterbewegung, die Verfassung als Ausdruck für die tatsächlichen Machtverhältnisse definiert. Damit möchte er nämlich den liberalen Nimbus von der Verfassungsurkunde wegnehmen, da er bemängelt, dass dort nur vorzugsweise solche Institutionen und Normen aufgenommen wurden, die dem Bürgertum wertvoll sind. Mithilfe der Verfassung hat sich das Bürgertum nur selbst privilegiert. Lassalle verlangt von den Arbeitern Selbstbewusstsein und Realitätssinn und
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wertet damit die nicht normativ in der Verfassung hervorgehobenen Arbeitermassen und beispielsweise ihren Steuerertrag auf. Zur Verfassung gehört, was Macht hat, so auch das Proletariat. Carl Schmitt schließlich will in dem Staat und seiner Verfassung nur den Reflex einer substanziellen Idee sehen, die es insbesondere einer demokratischen Ordnung erst ermöglicht, politisch zu sein. Homogenität nach innen und Einheit nach außen sind die Grundvoraussetzungen. Pluralismus ist nur auf einer substaatlichen Ebene möglich, das heißt in einer gleichsam geduldeten Form der Minderheitenposition. In gewisser Hinsicht setzt Schmitt das Anliegen von Thomas Hobbes fort, die Stabilität einer Ordnung gewährleisten zu wollen, um Staatlichkeit zu ermöglichen. Während aber Hobbes auf das Modell des Gesellschaftsvertrages setzt, wie der Abschnitt Staat der Vereinbarung zeigt, glaubt Schmitt, diese Staatlichkeit als Erkenntnisakt definieren zu können. Das Theorem von der Freund-Feind-Unterscheidung (vgl. Abschnitt zum Begriff des Politischen) dient in Schmitts Augen nur als Kriterium, um inmitten der vielzähligen gesellschaftlichen Gebilde dasjenige ausmachen zu können, welches politisch ist. Mit dem Erkenntnisakt ist der Jurist beauftragt, der in gewisser Hinsicht die Funktion des Theologen aus früheren Gesellschaftsformationen übernimmt und sich dieser Aufgabe auch bewusst sein muss. Aus diesen Überlegungen zum Staat als Macht und seiner inneren Organisation folgt keineswegs die Forderung, die Idee des Staates in bloßer Macht aufgehen zu lassen oder eine idealistische Prüfung der Ziele, die ein machtvoller Staat verfolgt, zum Verstummen zu bringen. Daher sind die modernen Phänomene vollständiger Machtkonzentration in den totalitären Staaten keineswegs die letzte Konsequenz der vorab erwähnten Theorien, sondern etwas gänzlich anderes. Das ist der Ausgangspunkt der modernen Totalitarismus-Forschung von Hannah Arendt und Carl Joachim Friedrich. Es ist ihnen der Vorwurf gemacht worden, unnötig und verzerrend dem faschistischen und nationalsozialistischen Regime das gleiche Etikett gegeben zu haben wie dem stalinistischen politischen System, weshalb die Vermutung geäußert wurde, hier lägen politische Motive inmitten des ausgebrochenen Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion vor. Das hat natürlich mit dem Unwerturteil zu tun, dass dem Nationalsozialismus anhaftet und sich von dort auf die mit ihm verglichenen politischen Systeme überträgt. Dieser Vorgang ändert aber nichts daran, die Novität dieser Regime anzuerkennen und denVersuch zu unternehmen, ihre Bestandteile in analytischer Hinsicht zu erfassen. Die freiheitsunterdrückende Wirkung dieser Regime ist unbestritten, wichtiger erscheint jedoch die Frage ihrer Funktionsweise. Nimmt man nun die Funktionsweise ungeachtet der Zielsetzungen dieser Regime in Augenschein, so könnte man zu dem Schluss kommen, dass sich hier in äußerst überspitzter Weise nach außen kehrt, was in modernen Gesellschaften zuvor nach innen wirksam war. Wie der gesamte Abschnitt zur Disziplinierung und Regulierung zeigt, wohnt der modernen Selbststeuerung der Gesellschaft mittels der Festlegung der Normen und Standards der Kommunikation und Kooperation eine subtil totalitäre Tendenz inne. Aus der klassischen Per-
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spektive konnte das nicht thematisiert werden, da diese sich um die konkrete Machtausübung eines politischen Willens (im Grenzfall: des Tyrannen) gegenüber widerstrebenden anderen (der freien Bürger) äußert. Herrschaft war verstanden als Instrument zur Sicherimg der Durchsetzimg eines bestimmten politischen Willens. Im Anschluss an Foucault ist die interessante Frage aber nicht mehr, ob sich hinter den Herrschaftsmitteln ein bestimmter Herrscher verbirgt, sondern ob Menschen beherrscht werden und ihnen zusätzlich der Adressat ihrer Unterdrückung verloren gegangen ist, so dass ihr Protest ins Leere gehen muss. Mit anderen Worten: Aus der bewussten Selbstregierung ist eine unbewusste Selbstbeherrschung geworden. Das tritt erst ins Bewusstsein, wenn sich Menschen oder ganze Menschengruppen finden lassen, die sich nicht glatt diesem Herrschaftsanspruch fügen, da sie andere Lebensmaßstäbe praktizieren. So war es stets Foucaults Anliegen, aus der Perspektive der in diesem Sinne Ab-Normen, das heißt beispielsweise der für »kriminell« erachteten, der als »geisteskrank« firmierenden, der sexuell als »unsittlich« qualifizierten Menschen, den Funktionszusammenhang der Gesellschaft besser in den Blick zu bekommen. Der Staat der Vereinbarung erblickt nicht in der Macht den hauptsächlichen Bestandteil des Staates, sondern ist der Auffassung, dass die Macht des Staates selbst ausschließlich von den Menschen abhängt, die er zu Bürgern hat. Der Staat der Vereinbarung verbindet sich also leichter mit der Demokratieidee als der Machtstaatsgedanke. Die Demokratie setzt den Staat der Vereinbarung sogar voraus, aber der Staat der Vereinbarung hat nicht die Demokratie zur Voraussetzung, sondern ruht auf anderen Schultern, die sich bestenfalls mit der Idee der Demokratie vereinigen. Die Idee der Verfassung, also der konstitutionelle Staat, entwickelte sich unabhängig von der Demokratie und steht auch in einem Spannungsverhältnis zum Prinzip der Volkssouveränität. Die staatlichen Regeln und die Artefakte seiner Macht dienen letztlich nur dazu, die besonderen Fähigkeiten seiner Bürger hervorzubringen, zu koordinieren und so von Fall zu Fall am wirkungsvollsten einzusetzen. Eindeutig ist dies, wenn sich Menschen über die Grundlagen ihrer politischen Verhältnisse im Klaren sind, was wiederum am einfachsten ist, wenn ihren sozialen Verhältnisse eine eindeutige normative Grundorientierung zu Grunde liegt. Das ist beispielsweise der Fall im Mayflower Compact der Pilgerväter, die ihre Binnenstruktur an Bord des Emigrantenschiffes im Atlantik klärten und besiegelten. Die USA haben diesen Strang ihrer Geschichte ideengeschichtlich für repräsentativ erachtet, obwohl er historisch weitaus weniger signifikant ist als die ältere Geschichte des Südens mit seiner Plantagenwirtschaft. Das hat mit ihrer Auffassung von Staatlichkeit zu tun, die man im Mayflower Compact präjudiziert findet und die sich für die Traditionsbildung leichter eignet. Gleichsam die sozialen Strukturen und Normen der Alten Welt verlassend und nur auf die Kraft und Verbindlichkeit der Einwanderer vertrauend, entsteht die neue politische Verbindlichkeit. Sie ruht auf dem Einverständnis der Betroffenen. Doch in
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diesem Fall erleichterte die gleiche Religionszugehörigkeit und das gemeinsame politische Schicksal der Verfolgung und Unterdrückung die Staatengründung. Wie aber lässt sich der Staat der Vereinbarung in großen Populationen und mit geringerem Homogenitäts-Grad der Mitglieder denken? Die eindrucksvollste Theorie-Leistung zur Beantwortung dieser Frage stellt die Tradition des Gesellschaftsvertrages dar, die nicht zufällig im 17. Jahrhundert ihren ersten großen Höhepunkt erlebte, als es zu den Neugründungen in der Neuen Welt kam. Die erste bedeutende und zugleich schillerndste Gestalt ist Thomas Hobbes. Hier ist der Mensch als furchtsames Wesen und zugleich als gefährlichster Gegner anderer Menschen gezeichnet, der aus dem Streben nach Sicherheit und in vernünftiger Antizipation künftiger Gefahren zum Krieg gegen jeden geneigt ist. Vernunft erlaubt es auch, diesem Zirkel der Instabilität zu entkommen. In gegenseitiger Vereinbarung gehen sie einen Vertrag ein, in dem sie zunächst jedem zusichern, das Naturrecht auf gewaltsame Ergreifung der Güter aufzugeben und in einem zweiten Schritt diese Gewalt auf einen Dritten zu übertragen, der nicht durch denVertrag gebunden ist. Das gibt diesem Dritten, Souverän genannt, die Kompetenz, ohne weitere Zustimmung der Bürger deren Rechte zu gewähren und zu schützen. Wäre der Souverän von der weiteren Zustimmung der Bürger abhängig, wäre sein eigener Bestand in permanenter Bedrohung. Der Staat der Vereinbarung bei Hobbes ist also ein Staat, welcher auf Vereinbarung gegründet ist, fortan jedoch nicht der ständigen Vereinbarung bedarf. Die genaue Beschaffenheit des Souveräns erlaubt aus Hobbes' Sicht zwei Modelle: die über absolute Gewalt verfügende Einzelperson, etwa in Gestalt eines Monarchen, oder aber eine Körperschaft wie das Parlament. Damit versucht Hobbes in den Bürgerkriegswirren seiner Zeit zu vermitteln, wenn er beiden Konfliktparteien, den revolutionären Puritanern unter Oliver Cromwell und dem Kronprätendenten, dem Sohn des hingerichteten Königs, eine gemeinsame logische Grundlage ihrer Ordnungsinteressen zubilligt. Die Hobbes'sche Lösung, den Staat der Vereinbarung auf eine vereinbarte Aufgabe der Rechte des Individuums zu beschränken, fand harsche Proteste im englischen Diskurs des 17. Jahrhunderts. Das nachhaltig wirksame Gegenmodell zu Hobbes liefert John Locke. Für den Erzvater des politischen Liberalismus bleibt der Staat der Vereinbarung auch über den Gesellschaftsvertrag zur Einsetzung einer politischen Gewalt hinaus bestehen. Die Bürger begründen den Staat nicht nur kraft ihres Naturrechts, sondern auch durch die im vorstaatlichen Zustand erwirtschafteten Ressourcen, allen voran das Eigentum (vgl. Abschnitt: Eigentum). Wie die Äußerungen Lockes zur Institution des Eigentums bereits zeigten, gründen die Eigentümer, die aus eigener Kraft wirtschaften, zum besseren Schutz ihres Eigentums die politische Gewalt und bleiben über die ständige Beteiligung an der (repräsentativ organisierten) Gesetzgebung in der Position desjenigen, von dessen Zustimmung die Staatstätigkeit abhängt. Da Locke diesen Akt der Vereinbarung nicht als Modell der Legitimation, sondern als tatsächlichen Vorgang denkt, um diesen Legitimationstransfer vom Menschen zur politischen Gewalt vorzunehmen, mit der Folge der Verbindlichkeit
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staatlicher Maßnahmen, entsteht das Problem, wie diejenigen Bürger an Staatsakte gebunden sein können, die nicht an dessen Konstitution teilgenommen haben. Hier ersinnt Locke das Theorem der stillschweigenden Zustimmung (tacit consent): Immer dann, wenn ein Bürger sich gesetzeskonform verhält, insbesondere die Eigentumsgesetze anwendet, stimmt er der gesamten Gesetzesordnung des Staates zu und ist an sie gebunden. Aus diesem Grund muss jedem Bürger die Auswanderung offen bleiben, wenn er diese Zustimmung nicht glaubt erteilen zu können. Hier schließt sich dann wieder der Bogen zu jenen Emigranten, die im Mayflower Pact die von Locke insinuierte Gesellschaftsvertragstradition vorexerzierten. Locke gehört daher hundert Jahre später zu den wesentlichen Ideengebern der amerikanischen Staatsgründer. Im Gegensatz zu Locke begnügt sich Jean-Jacques Rousseau nicht mit der stillschweigenden Zustimmung der Bürger. Er verlangt die willentliche Zustimmung aller Bürger bei jedem Akt der Gesetzgebimg. Der Voluntarismus Rousseaus hat das Vordringen des Individualismus in der politischen Theorie erheblich verstärkt und zu einem Höhepunkt geführt. Vereinbarung ist tatsächliche Vereinbarung. Der Vertrag ist nicht nur naturrechtliches Ordnungs- und Rechtfertigungsmodell, sondern als Praxis gedacht. Die Idee des Allgemeinwillens ist kein metaphorisches Modell, sondern meint die Herausbildung eines verbindlichen Gemeinwillens der Bürgerschaft aus den Einzelwillen ihrer Bürger. Dieser Transformationsprozess stellt in Rousseaus Augen den Kern der Politik dar. In der politischen Praxis wandelt sich der Bürger, er wird der Partikularität seiner gesellschaftlichen Situierung enthoben, er verallgemeinert seine persönliche Perspektive zu einer allgemeinen Sichtweise, und allein aus dieser Perspektive sind allgemeinverbindliche Gesetze überhaupt möglich. Der Staat der Vereinbarung lebt demnach bei Rousseau ganz wesentlich von der Teilnahme der Bürger an den Staatsgeschäften, weshalb er auch als Erzvater der direkten Demokratie gilt. Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass er diese rigorose Partizipationsforderung nur für die Gesetzgebung verlangt, nicht jedoch für die Exekutive oder die Judikative. Demokratie im Sinne unmittelbarer Selbstregierung ist in Rousseaus Augen die Regierungsform der Götter, also vollendet tugendhafter Personen. Die Gesellschaftsvertragstradition kommt mit Kant an ihr vorläufiges Ende. Hier beruht die Vereinbarung gar nicht mehr auf Partizipation, sondern auf der rationalen Zustimmungsfähigkeit vernunftbegabter Menschen. Der Gesellschaftsvertrag ist allein Prüfstein der Vernunft und kann als kritischer Maßstab des Staates von jedem Bürger an die tatsächliche Verfassimg angelegt werden. Allerdings ist hier von den latent revolutionären Interessen der Vordenker willentlicher Staatsgründung wie Locke und Rousseau keine Rede mehr. Der Gesellschaftsvertrag ist in die politische Philosophie eingebettet und seiner wesentlichen politikwissenschaftlichen Überlegungen zur Gestaltung der Institutionen entkleidet. Es ist der Fürst alleine, der regiert, auch wenn seine Regierungsform republikanisch sein muss, was für Kant zunächst nicht viel mehr bedeutet, als dass Legislative und Exekutive voneinander getrennt sein müssen.
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III. Kapitel
Der Staat der Vereinbarung kann auf Grundelemente des Staates der Macht nicht verzichten. Dazu zählt das Gewaltmonopol (das er an Stelle einer Anarchie befürworten muss, um seine Ordnung zu schützen) und die Diktatur. Der Staat der Vereinbarung kann nicht nur von der permanenten Freiwilligkeit seiner Mitglieder abhängen, soll nicht Freiheit die Quelle für permanente Bedrohungen der freiheitlichen Ordnung sein. Machiavellis Institution der Diktatur ist als Lösung des Problems der Freiheit gedacht. Werden nicht mehr die verfassungsmäßigen Formen des Normalzustandes beachtet oder fehlt hierzu die Zeit, so sollten freiheitliche Ordnungen den Ausnahmezustand von vornherein berücksichtigen und Institutionen festlegen, in welchen zum Schutze der Freiheit aller die Freiheit der Einzelmitglieder eingeschränkt werden kann. Die Theorie vom Staat als Macht hält der Theorie vom Staat als Vereinbarung entgegen, dass ungeklärt bleibt, wer über den Inhalt und das Ausmaß der Vereinbarung zu entscheiden hat. Wenn diese Frage ungeklärt bleibt, oder wenn sie in den politischen Prozess selbst hineingezogen wird, droht die Staatlichkeit im Innersten erschüttert zu werden. Die institutionelle Antwort hierauf ist die Vorrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit. In der Tat sind bestimmte Fragen des politischen Prozesses durch die Verfassung den gewöhnlichen politischen Akteuren entzogen, damit nicht ständig Fragen der Tagespolitik mit Fragen der Verfassungspolitik vermengt werden. Der Staat der Vereinbarung zumal in der Demokratie ist eine innige Verbindung zur Idee des Rechtsstaates eingegangen und überlässt einer vom politischen Prozess gesonderten Einrichtung solche Fragen. Ohne deswegen unpolitisch zu sein, werden hier die Entscheidungen auf Grund der normativen Grundlage der politischen Ordnung getroffen, auf die sich alle Parteien zuvor geeinigt haben. John Marshall war der erste, der die Verfassungsgerichtsbarkeit zur gleichrangigen, wenn nicht sogar vorrangigen Institution deklarierte. Als amtierender Richter am Supreme Court der USA macht er die Höherstufigkeit der Verfassung als vereinbarte Grundnorm des Staates geltend, an welcher sich auch die demokratisch gewählte Regierung zu messen hat. Generell hat der Staat der Vereinbarung mit der Verfassung eine neue Stufe seiner Wirklichkeit erreicht. Darüber sind sich insbesondere die Revolutionäre in Amerika und Frankreich rasch einig gewesen. Die Verfassung bot den Revolutionären die Möglichkeit, ihre Herrschaftsergreifiing unter verbindliche Normen zu stellen, so dass sie nicht wie ein Willkürregime wirkt. Mit der Verfassungsdiskussion hat man ein geeignetes Mittel zur Hand, über die zukünftige politische Ordnung, die es überhaupt erst zu errichten gilt, zu diskutieren: Die Bezugnahme aller gesellschaftspolitisch relevanten Fragen auf die Verfassung bündelt den Diskurs. Die Leistungen der ersten Verfassungsgeber in Frankreich und Amerika haben Vorbildcharakter für fast alle weiteren Verfassungsgebungsprozesse der Moderne gehabt. Verfassungen sind demnach auch nicht von vornherein ein Gegenstand ausschließlich juristischer Beschäftigung gewesen, wie dies heute gelegentlich den Eindruck macht. Emmanuel Sieyes hat ganz wesentlich dazu beigetragen, die französische Ständeversamm-
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lung des Dritten Standes in eine selbst ernannte Nationalversammlung mit dem selbst gegebenen Auftrag zur Verfassungsgebimg zu verbinden, und erhob damit einen neuartigen Legitimationsanspruch, der erfolgreich der alten Verfassung und ihrer zentralen politischen Institution, dem König, entgegengehalten werden konnte. Sieyes entstammt dem niederen Klerus. Auch die amerikanischen Revolutionäre mit juristischem Hintergrund wie die Anwälte James Jay oder Alexander Hamilton, die mit James Madison zum Autorenkreis der Federalist Papers gehören, argumentieren nicht als Fachjuristen, sondern begreifen das Recht als Ausdruck eines politischen Gestaltungswillens, der Herrschaft des Gesetzes den Weg zu bahnen. Ahnliches gilt für Georg Jellinek oder Rudolf Smend im deutschen Diskurs der Staatsrechtslehrer, die sich im Klaren darüber sind, wie wenig der Staat der Vereinbarung mit dem Rechtsstaat identisch ist. Jellinek gehört mit seiner viel gelesenen Allgemeinen Staatslehre zu den Juristen, die aus einer systematischen Analyse der Staatlichkeit Aufschluss gewinnen wollen über dessen Wesen. Dabei ist ihm klar geworden, wie wenig sich hochpolitische Normen wie die der Verfassung juristisch stillstellen lassen: Sie befinden sich in ständigem Wandel. Ähnlich verhält es sich bei Rudolf Smend. Von Hause aus ein klassischer Staatsrechtslehrer, berücksichtigt er politische Einflüsse auf die normative Grundordnung des Staates, wie er es nach dem Ersten Weltkrieg erlebte, indem er das Staatsrecht um soziologische und geisteswissenschaftliche Komponenten erweitert. So definiert er die Funktion der Verfassung als Integration der Gesellschaft zu einer politischen Wirkungseinheit. Ist aber die Integration die Hauptleistung, so wirft dies ein gänzlich anderes Licht auf die Struktur der Verfassung: Nun stehen nicht mehr alleine Normenprogramm und Institutionenaufbau, die beiden klassischen Kernbausteinen einer Verfassung, im Vordergrund, sondern alle Bestimmungen werden unter dem Gesichtspunkt ihrer Integrationswirkung untersucht: von den Staatssymbolen bis zur Regierung. Die vielleicht enthusiastischste Vertreterin der Theorie der Macht als Vereinbarung ist Hannah Arendt. Im I. Kapitel wurde bereits ihre grundsätzliche Theorie der politischen Macht als gemeinschaftliches Handeln dokumentiert. Auf sie beruft sich vor allem Jürgen Habermas, der dem Terminus »kommunikativer Macht« einen prominenten Platz in seiner politischen Theorie einräumt (vgl. Faktizität und Geltung, S. 182-188). Arendt versteht aber unter Kommunikation nicht eine diffuse Beratung über Wahrheit und Richtigkeit von Sachfragen oder Lebensprinzipien, sondern Kommunikation über gemeinsames politisches Handeln, wie ja in ihren Augen die Politik insgesamt darin besteht, dem gemeinsamen Handeln einen Ort und einen Raum zu verschaffen. Hannah Arendt geht so weit, solchen Institutionen den politischen Charakter abzusprechen, die nicht gemeinsames Handeln auf der Basis von Freiheit und Gleichheit der Bürger bezwecken. Der Staat der Macht wäre also nur ein Machtgebilde und nicht notwendig politisch: eine offensichtlich normativ und nicht nur analytisch geprägte Zuweisung von Begriffen, die leicht zu Verwirrungen darüber fuhrt, welchen Status ihre politische Theorie einnimmt: Ist sie Theorie des
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III. Kapitel
Seins politischer Dinge oder des Sollens ihres inneren Aufbaus? Gemeinsames Handeln exemplifiziert Arendt am Versprechen und Verzeihen. Das Verzeihen betrifft den politischen Umgang mit der Vergangenheit. Taten der Vergangenheit, historische Ereignisse können nicht mehr von der Gegenwart beeinflusst oder gar rückgängig gemacht werden. Sie können auch nicht wirklich kompensiert werden. Alleine im politischen Raum kann es gelingen, verbindliche Vereinbarungen darüber zu treffen, in welcher Weise die Vergangenheit in der Gegenwart präsent sein soll und darf. Dazu zählt die Amnestie: Sie soll nicht vergessen machen, was dereinst geschah, aber den gemeinsamen Umgang mit den Folgen und vor allem: mit den betroffenen Menschen, regeln. Das Versprechen regelt verbindlich Fragen der Zukunft. Über Zukunft gibt es weder Gewissheit noch Wissen; anstatt nun einfach aufs Geratewohl zu handeln, kann man gegenseitig zu Vereinbarungen gelangen, wie die Zukunft gestaltet werden soll. Mit dem amerikanischen Philosophen John Rawls schließt sich der Kreis. Hier wird nämlich festgelegt, was als Prinzip der Prinzipien gelten soll, was als gerecht angesehen werden soll, um von hier aus alle anderen Institutionen des Staates zu messen. Da nun einerseits der Mensch in eigener Sache ein schlechter Richter ist und andererseits die Modellzeichnungen der Gesellschaftsvertragstradition entweder systematische oder historische Voraussetzungen verlangen, die unbefriedigend sind, knüpft Rawls an Kants Theorie des Prüfsteins der Vernunft an, die nun aber nicht an einen idealen Gesetzgeber adressiert ist, sondern an den gemeinen Bürger und seine Verstandeskraft, der seinem eigenen Interesse folgen soll, sofern er es nur richtig kalkuliert. Wie würde er Gerechtigkeit festlegen, wenn er im Augenblick der Wahlentscheidung nicht wüsste, was seine Position in der wirklichen Gesellschaft ist? Die politische Theorie zum Staat als der vielleicht wichtigsten Institution ist zyklischen Einflüssen ausgesetzt. Die Idee der Vereinbarung setzt die plausible Möglichkeit voraus, aus Freiheit tatsächlich Ordnung schaffen zu können. Die Theorie des Machtstaates hat Konjunktur, wenn die Ordnungsleistung des Staates nicht mehr selbstverständlich erscheint.
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Der Staat als Macht und Idee nicht tun will, tadeln als unbrauchbar, von dem wahren Steuermann hingegen nicht einmal Das Staatsschiff soviel wissen, daß er notwendig auf die Jahreszeit und die Tageszeit und den Himmel und die Höre denn mein Bild, damit du besser siehst, wie Sterne und die Winde, und was sonst zur Kunst mühsam ich es bilde. Denn so schwierig ist das, gehört, achthaben muß, wenn er in Wahrheit ein was gerade den Vortrefflichsten mit dem Staate Schiffslenker werden will, sondern nur meinen, begegnet, daß es auch nirgends etwas ganz Ähn- daß man die Kunst und Geschicklichkeit, die liches gibt, sondern von vielerlei her muß man dazu gehört, ans Ruder zu kommen, mögen nun zusammenbringen, womit man sie vergleichen einige es wollen oder nicht, daß man diese und was man zur Verteidigung fur sie sagen will unmöglich haben könne und dabei die Steuer(.. .)· Denke dir also, sei es nun über viele Schif- mannskunst zugleich. Wenn nun dergleichen in fe oder über eines, einen solchen Schiffsherrn den Schiffen vorgeht, meinst du nicht, daß der gesetzt, der zwar an Größe und Stärke alle andern wahre Schiffahrtskundige gewiß nur werde ein im Schiffe übertrifft, übrigens aber ist er harthö- Wetterprophet und Buchstabenkrämer und unrig, sieht auch wenig und versteht von der Schif- nützer Mensch genannt werden von denen, die in fahrt ungefähr ebensoviel, und die Schiffsleute in so eingerichteten Schiffen segeln? (...) Denn es Fehde unter sich und wegen des Befehls, indem liegt nicht in der Natur, daß der Steuermann die jeder glaubt, er müsse steuern, der jedoch nie die Schiffsleute bitten solle, sich von ihm regieren zu Kunst erlernt hat und weder seinen Lehrer auf- lassen, noch daß die Weisen vor die Türen der zeigen kann noch die Zeit, in der er sie gelernt Reichen gehen; sondern wer dies so zierlich hätte, ja daß sie überdies noch alle behaupten, herausgebracht hat, hat weit gefehlt; vielmehr ist man könne sie auch nicht lernen, und jeden, der das Wahre von der Sache, daß, mag nun ein Reibehauptet, sie sei lehrbar, gleich herunterhauen cher krank sein oder ein Armer, er vor des Arztes wollen; denke dir nun, daß diese immer den Türe gehen muß, und so jeder, der beherrscht zu Schiffsherrn umlagern, bittend und alles versu- werden nötig hat, zu dem, der zu herrschen verchend, damit er ihnen das Steuerruder übergebe, steht, nicht aber, daß dieser die zu Beherrschenzuweilen aber, wenn einige ihn nicht überreden den bitte, sich beherrschen zu lassen, wenn er können, sondern es scheint, andere eher, dann nämlich in Wahrheit etwas taugt. Sondern wenn jene diese andern töten oder aus dem Schiff man die jetzigen bürgerlichen Gewalthaber den herauswerfen, den edlen Schiffsherrn aber durch Schiffsleuten, von denen wir vorher redeten, Zauberbeeren oder Rausch oder anderswie fes- vergleicht, wird man wohl nicht fehlen, und seln und so das Fahrzeug regieren und das ver- ebenso die von ihnen fur unnütze Wetterprophebrauchen, was sich eben darin findet, und so ten Ausgeschrienen den wahren Schiffsmeistern. zechend und schmausend schiffen, wie es von (488a-489c, S.203f.) solchen zu erwarten ist; überdies aber, daß sie jeden loben und als Meister in der Schiffahrt und Aus: Piaton, Politeia, in: ders., Sämtliche wohl kundig alles dessen, was zum Fahrzeuge Werke, in der Übersetzung von Friedrich gehört, auspreisen, der ihnen dazu behilflich zu Schleiermacher, mit der Stephanus-Nusein versteht, daß sie ans Ruder kommen, werde merierung, hg. von Walter F. Otto, Erneses nun durch Überredung oder durch Gewalt von to Grassi und Gert Plamböck, Bd. 3, Hamdem Schiffsherrn erlangt, und jeden, der das burg 1958, S. 67-310.
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JEAN BODIN Der Staat als souveräne Gewalt Unter der Souveränität ist die dem Staat [republique] eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen, von den Lateinern »maiestas« (...) genannt. (S. 205) Wer also souverän sein soll, darf in keiner Weise dem Befehl anderer unterworfen und muß in der Lage sein, den Untertanen das Gesetz vorzuschreiben, unzweckmäßige Gesetze aufzuheben oder für ungültig zu erklären und durch neue zu ersetzen. Dazu ist aber nicht im Stande, wer den Gesetzen oder anderen, die über ihn befehlen können, unterworfen ist. Darum heißt es im Gesetz, der Fürst ist von der Macht der Gesetze entbunden, wobei das Wort Gesetz auch im Lateinischen zugleich die Befehlsgewalt dessen bedeutet, der die Souveränität innehat. (S. 213) Gesetz und Vertrag müssen daher auseinandergehalten werden. Denn ein Gesetz hängt vom Willen dessen ab, der die Souveränität innehat und damit zwar alle seine Untertanen, nicht aber sich selbst binden kann. Ein Vertrag dagegen begründet wechselseitige Beziehungen zwischen dem Fürsten und den Untertanen und bindet beide Parteien gegenseitig. (S. 216) Wenn nun aber der Fürst bei Todesstrafe verbietet, zu töten, ist er dann nicht selbst an sein eigenes Gesetz gebunden? Meine Antwort auf diese Frage ist die: es ist dies nicht ein von ihm geschaffenes Gesetz, sondern das Gesetz Gottes und der Natur, an das er strenger gebunden ist als irgendein Untertan. Weder Senat noch Volk können ihn davon entbinden, vielmehr bleibt er stets Rechenschaft vor dem göttlichen Richter schuldig (...) Wer daher verallgemeinernd behauptet, die Fürsten seien weder an ihre Gesetze, noch auch nur an ihre Verträge gebunden, frevelt Gott, wenn er hiervon nicht die Gesetze Gottes und der Natur und alle mit dem Fürsten geschlossenen redlichen Abmachungen und Verträge ausnimmt. (S. 229)
III. Kapitel
Aus: Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Bernd Wimmer, eingeleitet und hg. von RC. Mayer-Tasch, 2 Bände, München 1981, Bd. 1, Kap. 8.
EDMUND BURKE Der Staat und seine Verfassung beruhen auf Herkommen Alle Reformen, die wir bisher vorgenommen haben, sind von dem Grundsatz der Achtung für das Alte ausgegangen, und ich hoffe, ja, ich bin fest überzeugt, alle, die noch jemals stattfinden mögen, werden sorgfältig aufAnalogien der Vergangenheit, auf Autorität und Beispiel gegründet werden. Unsere älteste Reform ist die von der Magna Charta. Es ist merkwürdig zu sehen, wie alle unsere großen Rechtsgelehrten von Sir Edward Coke, dem Orakel unserer Jurisprudenz bis auf Blackstone hin, sich die äußerste Mühe gegeben haben, den Stammbaum unserer Freiheiten zu zeichnen. Sie suchen zu beweisen, daß jener alte Freibrief aus der Regierung des König Johann mit einem anderen positiven Freiheitsbrief von Heinrich I. zusammenhing, und daß beide nichts anderes als Bestätigungen noch ältrer Reichsgesetze sind. Großenteils scheinen diese Schriftsteller, was die Fakta betrifft, recht zu haben; sollten sie in einigen Punkten irren, so beweist dies meinen Satz nur noch strenger; denn es zeugt von der mächtigen Vorliebe für das Altertum, von welcher die Gemüter aller unserer Gesetzgeber und Rechtslehrer sowie der Nation, die sie leiten, jederzeit eingenommen waren, und von der unwandelbaren Maxime dieses Reichs, der heiligsten Rechte und Freiheiten als etwas Ererbtes zu betrachten. (S. 90-92) Es ist nicht zu verwundern, daß sie [die französischen Revolutionäre] bei solchen Ideen von
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ihrer vaterländischen Konstitution, bei dieser Gentz, Über die Französische Revolution. Geneigtheit, ihre ganze Staats- und KirchenverBetrachtungen und Abhandlungen, Berlin fassung als unrechtmäßig und usurpiert oder im 1991. günstigsten Fall als ein leeres Schattenspiel zu betrachten, mit regem und leidenschaftlichem Enthusiasmus nach jeder auswärtigen Neuerung haschen. Solange diese Begriffe bei ihnen herr- FRIEDRICH VON GENTZ schend sind, ist es auch umsonst, von den Maximen ihrer Vorfahren, von den Fundamentalge- Das politische Gleichgewicht im setzen ihres Vaterlandes, von den Vorzügen einer Staatensystem Konstitution, die die einzig-gültige Probe einer langen Erfahrung bestanden und sich durch Das, was man gewöhnlich politisches Gleichgezunehmende Staatsmacht und immer steigende wicht [balance du pouvoir] nennt, ist diejenige Nationalwohlfahrt bewährt hat, mit ihnen zu Verfassung neben einander bestehender und sprechen. Erfahrung verachten sie als die Weis- mehr oder weniger mit einander verbundener heit ungelehrter Menschen: alle übrigen Ein- Staaten, vermöge deren keiner unter ihnen die wendungen bedeuten nichts. Sie haben unter Unabhängigkeit oder die wesentlichen Rechte ihrem Boden eine Mine gegraben, die in einem eines andern, ohne wirksamen Widerstand von furchtbaren Ausbruch alle Beispiele des Alter- irgend einer Seite, und folglich ohne Gefahr für tums, alle Observanz, alle Statute, alle Parla- sich selbst, beschädigen kann. (S. 117) mentsakten in die Luft sprengen soll. Sie haben Das Gesetz, welches die Staaten untereinandie »Rechte des Menschen«. Gegen diese findet der verbindet, liegt bloß in ihren wechselseitigen keine Verjährung statt, gegen diese kann kein Verträgen; und so wie diese, bei der unbegrenzVertrag verbinden: bei diesen gelten keine Ein- ten Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, aus welschränkungen, keine Vergleichsvorschläge; die chen sie entspringen, in ihrem Wesen, Geist und geringste Abweichung von der Strenge ihrer Charakter unendlicher Verschiedenheiten fähig Forderung ist Betrug und Tyrannei. Umsonst sind, so schließt auch die Natur ihres Ursprunges schmeichelt sich eine Regierung, in der Ehrwür- jede höhere, gemeinschaftliche Sanktion im digkeit ihrer langen Dauer oder in der Gerech- strengen Wortverstande aus. Es gibt zwischen tigkeit und Gelindigkeit ihrer Prozeduren gegen unabhängigen Völkern weder eine vollziehende, diese neuen Rechte des Menschen Schutz zu fin- noch eine richterliche Macht; (...) (S. 120) den. Der Tadel dieser spekulativen Köpfe, der Man wurde gewahr, daß es in dem Verhältnis immer bereit ist, wenn die Staaten nicht nach der Kräfte jedes einzelnen Bestandteiles zum ihren Theorien gebaut sind, trifft eine alte wohl- Ganzen gewisse Grundregeln gab, ohne deren tätige Regierung ebensogut als die schreiendste beharrlichen Einfluß die Ordnung nicht gesiTyrannei oder die frischeste Usurpation. Sie lie- chert sein konnte; und es setzten sich allmählich gen im beständigen Kriege mit allen Regierun- folgende allgemeine Maximen als immergen, nicht um Mißbräuche anzugreifen, sondern währende Richtpunkte fest: Daß, wenn das bloß, um die Frage nach Befugnis und Vollmacht Staaten-System von Europa bestehen, und durch gemeinschaftliche Anstrengungen behauptet zur Herrschaft abzuhandeln. (S. 130 f.) werden soll, nie Einer der Teilnehmer an demselben so mächtig werden müsse, daß die GesamtAus: Edmund Burke, Betrachtungen über heit der Übrigen ihn nicht zu bezwingen verdie Französische Revolution, in: Hermann möchte; Klenner, Hg., Edmund Burke/Friedrich
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Daß, wenn jenes System nicht bloß bestehen, sondern auch ohne beständige große Gefahr und heftige Erschütterungen behauptet werden soll, j eder Einzelne, der es verletzt, nicht bloß von der Gesamtheit der Übrigen, sondern schon von irgend einer Mehrheit (wenn nicht von einem Einzelnen) müsse bezwungen werden können; Daß aber, um der Wechsel-Gefahr einer ununterbrochnen Reihe von Kriegen oder willkürlichen Unterdrückung der Schwächern in jedem kurzen Zwischenraum des Friedens zu entrinnen, die Furcht vor gemeinschaftlichem Widerstande oder gemeinschaftlicher Rache der Andern in der Regel schon hinreichend sein müsse, um Jeden in seinen Schranken zu halten; und Daß, wenn irgend ein Europäischer Staat sich durch eigne rechtlose Unternehmungen zu einer Macht emporschwingen wollte, oder wirklich emporgeschwungen hätte, mit welcher er der fernen Gefahr einer Verbindung zwischen mehrern seiner Nachbarn, oder dem wirklichen Eintritt derselben, oder gar einem Bunde des Ganzen Trotz zu bieten vermöchte, ein solcher als gemeinschaftlicher Feind des gesamten Gemeinwesens behandelt; wenn hingegen eine ähnliche Macht durch zufallige Verkettung der Umstände, und ohne widerrechtliche Tat des Erwerbers, irgendwo auf dem Schauplatz erschiene, kein Mittel zur Schwächung derselben, das die StaatsWeisheit nur irgend an die Hand gibt, unversucht gelassen werden müsse. Der Inbegriff dieser Maximen ist die einzige wohlverstandne Theorie eines Gleichgewichtes in der politischen Welt. Die ursprüngliche Ungleichheit der Teilnehmer an einer Verbindung von der hier geschilderten Art ist nicht etwa als ein zufälliger Umstand, noch weniger als ein zufalliges Übel, sondern gewissermaßen als die vorläufige Bedingung und der Grundstein des gesamten Systems zu betrachten; nicht wie viel Macht der Eine oder der Andre, sondern nur, ob er sie auf eine solche Weise und unter solchen Beschrän-
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kungen besitze, daß er keinen der Übrigen ungestraft um die seinige bringen könne - ist die Frage, die entschieden werden muß, um in jedem gegebnen Moment über das Verhältnis zwischen einzelnen Teilen, oder über die allgemeine Tüchtigkeit des Gebäudes zu urteilen. (S. 121 -123) Aus: Friedrich von Gentz, Von dem wahren Begriff eines politischen Gleichgewichts, in: ders., Staatsschriften und Briefe, Auswahl in 2 Bänden, hg. von Hans von Eckardt, München 1921 Bd.l, S. 117-125.
GEORG W . F. HEGEL Staat ist mehr als die Vereinigung der Willen Ebensowenig liegt die Natur des Staats im Vertragsverhältnisse, ob der Staat als ein Vertrag aller mit allen oder als ein Vertrag dieser aller mit dem Fürsten und der Regierung genommen werde. - Die Einmischung dieses, sowie der Verhältnisse des Privateigentums überhaupt, in das Staatsverhältnis hat die größten Verwirrungen im Staatsrecht und in der Wirklichkeit hervorgebracht. Wie in früheren Perioden die Staatsrechte und Staatspflichten als ein unmittelbares Privateigentum besonderer Individuen gegen das Recht des Fürsten und Staats angesehen und behauptet worden, so sind in einer neueren Zeitperiode die Rechte des Fürsten und des Staats als Vertragsgegenstände und auf ihn gegründet, als ein bloß Gemeinsames des Willens und aus der Willkür der in den Staat Vereinigten Hervorgegangenes, betrachtet worden. - So verschieden einerseits jene beiden Standpunkte sind, so haben sie dies gemein, die Bestimmungen des Privateigentums in eine Sphäre übertragen zu haben, die von ganz anderer und höherer Natur ist. (...) In neuerer Zeit ist es sehr beliebt gewe-
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sen, den Staat als Vertrag aller mit allen anzusehen. Alle schlössen, sagt man, mit dem Fürsten einen Vertrag und dieser wiederum mit den Untertanen. Diese Ansicht kommt daher, daß man oberflächlicherweise nur an eine Einheit verschiedener Willen denkt. Im Vertrage aber sind zwei identische Willen, die beide Personen sind und Eigentümer bleiben wollen; der Vertrag geht also von der Willkür der Person aus, und diesen Ausgangspunkt hat die Ehe ebenfalls mit dem Vertrage gemein. Beim Staat aber ist dies gleich anders, denn es liegt nicht in der Willkür der Individuen, sich vom Staate zu trennen, da man schon Bürger desselben nach der Naturseite hin ist. Die vernünftige Bestimmung des Menschen ist, im Staate zu leben, und ist noch kein Staat da, so ist die Forderung der Vernunft vorhanden, daß er gegründet werde. Ein Staat muß eben die Erlaubnis dazu geben, daß man in ihn trete oder ihn verlasse; dies ist also nicht von der Willkür der Einzelnen abhängig, und der Staat beruht somit nicht auf Vertrag, der Willkür voraussetzt. (S. 157-159) Weil die Souveränität die Idealität aller besonderen Berechtigung ist, so liegt der Mißverstand nahe, der auch sehr gewöhnlich ist, sie für bloße Macht und leere Willkür und Souveränität fur gleichbedeutend mit Despotismus zu nehmen. Aber der Despotismus bezeichnet überhaupt den Zustand der Gesetzlosigkeit, wo der besondere Wille als solcher, es sei nun eines Monarchen oder eines Volks (Ochlokratie), als Gesetz oder vielmehr statt des Gesetzes gilt, dahingegen die Souveränität gerade im gesetzlichen, konstitutionellen Zustande das Moment der Idealität der besonderen Sphären und Geschäfte ausmacht, daß nämlich eine solche Sphäre nicht ein Unabhängiges, in ihren Zwecken und Wirkungsweisen Selbständiges und sich nur in sich Vertiefendes, sondern in diesen Zwecken und Wirkungsweisen vom Zwecke des Ganzen (den man im allgemeinen mit einem unbestimmten Ausdrucke das Wohl des Staats genannt hat) bestimmt und abhängig sei. Diese Idealität kommt auf die
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gedoppelte Weise zur Erscheinung. - Im friedlichen Zustande gehen die besonderen Sphären und Geschäfte den Gang der Befriedigung ihrer besonderen Geschäfte und Zwecke fort, und es ist teils nur die Weise der bewußtlosen Notwendigkeit der Sache, nach welcher ihre Selbstsucht in den Beitrag zur gegenseitigen Erhaltung und zur Erhaltung des ganzen umschlägt (...) im Zustande der Not aber, es sei innerer oder äußerlicher, ist es die Souveränität, in deren einfachen Begriff der dort in seinen Besonderheiten bestehenden Organismus zusammengeht und welcher die Rettung des Staats mit Aufopferung dieses sonst Berechtigten anvertraut ist, wo denn jener Idealismus zu seiner eigentümlichen Wirklichkeit kommt. (S. 443 f.) § 279. Die Souveränität, zunächst nur der allgemeine Gedanke dieser Idealität, existiert nur als die ihrer selbst gewisse Subjektivität und als die abstrakte, insofern grundlose Selbstbestimmung des Willens, in welcher das Letzte der Entscheidung liegt. Es ist dies das Individuelle des Staats als solches, der selbst nur darin einer ist. Die Subjektivität aber ist in ihrer Wahrheit nur als Subjekt, die Persönlichkeit nur als Person, und in der zur reellen Vernünftigkeit gediehenen Verfassung hat jedes der drei Momente des Begriffes seine für sich wirkliche ausgesonderte Gestaltung. Dies absolut entscheidende Moment des Ganzen ist daher nicht die Individualität überhaupt, sondern ein Individuum, der Monarch. (...) Der Begriff des Monarchen ist deswegen der schwerste Begriff für das Räsonnement, d.h. für die reflektierende Verstandesbetrachtung, weil es in den vereinzelten Bestimmungen stehen bleibt und darum dann auch nur Gründe, endliche Gesichtspunkte und das Ableiten aus Gründen kennt. So stellt es dann die Würde des Monarchen als etwas nicht nur der Form, sondern ihrer Bestimmung nach Abgeleitetes dar; vielmehr ist sein Begriff, nicht ein Abgeleitetes, sondern das schlechthin aus sich Anfangende zu sein. (...)
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Volkssouveränität kann in dem Sinn gesagt werden, daß ein Volk überhaupt nach außen ein Selbständiges sei und einen eigenen Staat ausmache (...) Aber Volkssouveränität, als im Gegensatze gegen die im Monarchen existierende Souveränität genommen, ist der gewöhnliche Sinn, in welchem man in neueren Zeiten von Volkssouveränität zu sprechen angefangen hat, - in diesem Gegensatze gehört die Volkssouveränität zu den verworrenen Gedanken, denen die wüste Vorstellung des Volkes zugrunde liegt. Das Volk, ohne seinen Monarchen und die eben damit notwendig und unmittelbar zusammenhängende Gliederung des Ganzen genommen, ist die formlose Masse, die kein Staat mehr ist und der keine der Bestimmungen, die nur in dem in sich geformten Ganzen vorhanden sind - Souveränität, Regierung, Gerichte, Obrigkeit, Stände und was es sei mehr zukommt. Damit, daß solche auf eine Organisation, das Staatsleben, sich beziehende Momente in einem Volke hervortreten, hört es auf, dies unbestimmte Abstraktum zu sein, das in der bloß allgemeinen Vorstellung Volk heißt. (S. 444 -447) Aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriß, in: ders., Theorie-Werkausgabe, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt/M. 1969 -1971, §§75,278,279.
JOSEPH DE MAISTRE Die Verfassung als Gottes Schöpfung Eine der größten Verirrungen dieses Zeitalters und welchem Irrtum ist es nicht verfallen - war die Meinung, eine Staatsverfassung könnte geschrieben und a priori geschaffen werden, wo doch Vernunft und Erfahrung gleichermaßen
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beweisen, daß jede Verfassung das Werk Gottes ist und daß gerade die Grundlagen und das Wesentlichste in der Verfassung und den Gesetzen eines Volkes ungeschrieben finden. (S. 130) Je mehr man die menschliche Einwirkung auf die Bildung der Staatsverfassungen untersucht, um so klarer sieht man, daß sie dabei nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt oder als bloßes Werkzeug erscheint. Ich glaube nicht, daß man die unbestreitbare Wahrheit der folgenden Sätze irgendwie anzweifeln kann: 1. Die Wurzeln der Staatsverfassungen sind schon vor dem Entstehen geschriebener Gesetze vorhanden. 2. Ein Staatsgrundgesetz ist nichts und kann nichts weiter sein, als die Entwicklung oder Bestätigung eines schon bestehenden, ungeschriebenen Rechtes. 3. Die eigentlichen und wahren Grundlagen jeder Verfassung sind stets ungeschrieben und können nie geschrieben werden, ohne den Staat zu gefährden. 4. Die Schwäche und Hinfälligkeit einer Verfassung hält mit der Zahl der geschriebenen Verfassungsparagraphen gleichen Schritt. (S. 135) Die Verfassung [am Beispiel der englischen] ist ein Werk der Umstände, und deren Zahl ist unendlich. Römisches Recht, Kirchenrecht, Lehnsrecht, sächsische, normännische und dänische Rechtsbräuche, Privilegien, Vorurteile und Ansprüche aller Art, Kriege, Aufstände und Revolutionen, Eroberungen und Kreuzzüge, alle Tugenden und alle Laster, alle Kenntnisse, Irrtümer und Leidenschaften - alle diese Elemente wirken zusammen, schufen durch ihre Mischung und Wechselwirkung Myriaden von Millionen der mannigfachsten Beziehungen und brachten schließlich, nach mehreren Jahrhunderten, die komplizierteste Einheit und das schönste Gleichgewicht politischer Kräfte hervor, das man je gesehen hat (...) Da sich nun diese in den Raum geworfenen Elemente zu einem so schönen Ganzen geordnet haben, ohne daß von der Unzahl von Menschen, die sich auf diesem weiten Feld betätigen, ein einziger je gewußt hätte, was er in bezug auf das Ganze tat, noch voraussah, was
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geschehen würde, so ergibt sich, daß jene Elemente in ihrem Fall von einer übermenschlichen, untrüglichen Hand geleitet wurden. (S. 137) Sie [Piaton und Chrysostomos] zeigen (...) die große Torheit jener Unglücklichen, die da wähnen, daß die Gesetzgeber nur Menschen, die Gesetze nur Papier sind, und daß man Völkern Verfassungen mit Tinte geben kann. Sie zeigen vielmehr, daß die Schrift allemal ein Zeichen von Schwäche von Unwissenheit oder Gefahr ist, daß, je vollkommener eine Einrichtung ist, um so weniger geschrieben wird, daß somit bei der Begründung deijenigen, die gewiß göttlichen Ursprungs ist, gar nichts geschrieben wurde, damit wir recht fühlen, daß jedes geschriebene Gesetz nur ein notwendiges Übel ist, das durch menschliche Schwachheit oder Bosheit hervorgerufen wurde, und daß eine Verfassung ganz nichtig ist, wenn sie nicht vorher eine ungeschriebene Weihe erhalten hat. (S. 143)
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eben sind, so daß von nun ab gar keine andern Gesetze als eben diese in diesem Lande erlassen werden können (...) Gibt es denn etwas in einem Lande, eine bestimmende tätige Kraft, welche auf alle Gesetze, die in diesem Lande erlassen werden, derart einwirkt, daß sie in einem gewissen Umfange notwendig so und nicht anders werden, wie sie eben sind? Ei freilich, meine Herren, gibt es so etwas, und dieses Etwas ist nichts anderes als - die tatsächlichen Machtverhältnisse, die in einer gegebenen Gesellschaft bestehen. (S. 65) Sie sehen, meine Herren, ein König, dem das Heer gehorcht und die Kanonen, - das ist ein Stück Verfassung! (...) Sie sehen also, meine Herren, ein Adel, der Einfluß bei Hofe und König hat, - das ist ein Stück Verfassung. (S. 67) Sie sehen also, meine Herren, die Bankiers Mendelssohn, Schickler, die Börse überhaupt das ist ein Stück Verfassung. (...) Jetzt setze ich aber den Fall so: man wolle dem Kleinbürger und Arbeiter nicht nur seine politische, sondern Aus: Joseph de Maistre, Über den schöpauch seine persönliche Freiheit entziehen (...) ferischen Urgrund der StaatsverfasWürde das gehen? (...) Die Arbeiter würden, sungen, in: ders., Betrachtungen über auch ohne daß Borsig und Engels ihre Fabriken Frankreich/Über den schöpferischen Urschlössen, auf die Straßen eilen, der ganze kleigrund der Staatsverfassungen, hg. von ne Bürgerstand ihnen zu Hilfe, und da Ihr vereinPeter Richard Rohden, Berlin 1924, ter Widerstand sehr schwer zu besiegen sein S. 123-174. möchte, so sehen Sie, meine Herren, daß in gewissen alleräußersten Fällen Sie alle ein Stück Verfassung sind. (...) Wie verhält es sich denn nun aber mit dem, was man gewöhnlich FERDINAND LASSALLE Verfassung nennt, mit der rechtlichen VerfasVerfassungspapier und Verfassungswirksung? (...) Diese tatsächlichen Machtverhältlichkeit nisse schreibt man auf ein Blatt Papier nieder, gibt ihnen schriftlichen Ausdruck, und wenn sie Wenn also die Verfassung das Grundgesetz eines nun niedergeschrieben worden sind, so sind sie Landes bildet, so wäre sie - und hier dämmert nicht nur tatsächliche Machtverhältnisse mehr, uns das erste Licht, meine Herren - ein bald sondern jetzt sind sie auch zum Recht geworden, noch näher zu bestimmendes Etwas oder, wie zu rechtlichen Einrichtungen, und wer dagegen wir vorläufig gefunden haben, eine tätige Kraft, vorgehen will, wird bestraft! (S. 69-71) welche alle andern Gesetze und rechtlichen EinIch frage also: woher kommt das eigentümlirichtungen, die in diesem Lande erlassen wer- che Bestreben der modernen Zeit, geschriebene den, mit Notwendigkeit zu dem macht, was sie Verfassungen zu errichten? Nun meine Herren,
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schilt solche Behauptungen doktrinär, weil sie an aristotelische Gedanken anknüpfen. Und doch fußen sie auf der ernsthaften praktischen Erfahrung, daß das Wesen des Staates zum ersten Macht, zum zweiten Macht und zum dritten nochmals Macht ist. Ein spannenlanges Schiff ist eben gar kein Schiff, und nicht bloß an der räumlichen Ausdehnung eines Staates, sondern mehr noch an der Gesamtheit der historischen Verhältnisse, in deren Mitte er gestellt ist, läßt Wann ist nun eine geschriebene Verfassung sich erkennen, ob er jene erste und höchste polieine gute und dauerhafte? Nun offenbar, nur in tische Fähigkeit besitze, sich durch eigene Kraft dem einen Falle, meine Herren, wie jetzt aus zu behaupten (...) Die Kriege der neuesten Zeit unserer ganzen Entwicklung von selbst folgt, werden mit großen Massen und mit einem ungewenn sie der wirklichen Verfassung, den realen, heuren Aufwand technischer Mittel geführt, im Lande bestehenden Machtverhältnissen ent- deren Kosten ein Kleinstaat nicht erschwingen spricht. Wo die geschriebene Verfassung nicht kann. Gleichwie am Ende des Mittelalters eine der wirklichen entspricht, da findet ein Konflikt Menge kleiner Staaten verschwand, weil sie statt, dem nicht zu helfen ist, und bei dem unbe- nicht imstande waren, die neuen Söldnerheere dingt auf die Dauer die geschriebene Verfas- aufzubringen, so wird die kostspielige Kriegfühsung, das bloße Blatt Papier, der wirklichen Ver- rung des 19. Jahrhunderts unfehlbar die gleiche fassung, den tatsächlich im Lande bestehenden politische Wirkung haben. Ein selbständiger Machtverhältnisse erliegen muß. (S. 80) Kleinstaat vermag heutzutage nicht mehr eine große militärische und Kulturaufgabe zu lösen. Aus: Ferdinand Lassalle, Über Verfas(S. 152) sungswesen, in: ders., Reden und Schriften, hg. von Friedrich Jenaczek, München Aus: Heinrich von Treitschke, Bundes1970, S. 61-86. staat und Einheitsstaat, in: ders., Historisch-politische Aufsätze, 4. Aufl., Leipzig 1871, Bd. II,S. 77-241. woher kann es kommen? Offenbar nur daher, daß in den wirklichen Machtverhältnissen, die innerhalb der betreffenden Länder bestehen, eine Änderung eingetreten ist. Wäre keine solche Veränderung in den tatsächlichen Machtverhältnissen einer bestehenden Gesellschaft eingetreten, wären diese Machtverhältnisse noch die alten, so wäre es gar nicht denkbar und möglich, daß diese Gesellschaft ein Bedürfnis nach einer neuen Verfassung hätte. (S. 76)
HEINRICH VON TREITSCHKE Der Staat ist Macht, Macht und noch einmal Macht Unter allen reindeutschen Staaten hat allein Preußen in unvergeßlichen Zeiten die Kraft bewiesen, die eine Gesellschaft zum Staate macht, die Kraft, sich durch sich selbst allein zu erhalten. Zwischen Preußen und seinen Bundesgenossen besteht ein Unterschied nicht des Grades, sondern der Art, der Unterschied von Macht und Ohnmacht, Staat und Nicht-Staat. Man
OTTO HINTZE Alle Staatsverfassung ist ursprünglich Kriegsverfassung Alle Staatsverfassung ist ursprünglich Kriegsverfassung, Heeresverfassung; das darf man wohl als ein gesichertes Resultat der vergleichenden Völkergeschichte betrachten. Der festere staatliche Zusammenhang größerer Menschengruppen ist in erster Linie auf Abwehr und
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Angriff gerichtet; mit der kriegerischen Organisation entsteht erst eine strengere Obrigkeit mit Zwangsgewalt gegenüber den einzelnen, und sie bildet sich umso kräftiger aus, je häufiger Kriege gefuhrt werden (...) Die Frage, auf die es nun ankommt, ist die: welche Stelle nimmt die Heeresverfassung in der allgemeinen Staatsverfassung ein? In welchem Maße beeinflußt sie die Gesamtheit der politischen Einrichtungen? In welchem Maße sind die Anforderungen des Kriegszustandes auf die Beherrschung des öffentlichen Lebens durch die wirtschaftlichen Existenzbedingungen der Gesamtheit oder auch einzelner Klassen eingeschränkt worden? (S. 53) Mit dem Hinweis auf dieses Problem möchte ich zugleich andeuten, daß ich den Begriff der Staatsverfassung nicht in dem engen staatsrechtlichen Sinne verstehe, bei dem es sich nur um die Verteilung der verschiedenen Funktionen der Staatsgewalt an die verschiedenen Organe handelt; wenn wir das Verhältnis der Wehrverfassung zur Staatsverfassung erkennen wollen, so müssen wir unser Augenmerk vornehmlich auf zwei Erscheinungen richten, die auch die eigentliche Staatsverfassung bedingen: das ist die soziale Klassenbildung einerseits und die äußere Formation der Staaten andererseits, ihre Stellung zu andern Staaten und in der Welt überhaupt. Es ist eine einseitige, übertriebene und daher falsche Vorstellung, als ob die sozialen Klassenkämpfe das ausschließlich bewegende Moment in der Geschichte gewesen seien; die Völkerkämpfe sind noch weit wichtiger gewesen, und zu allen Zeiten hat der Druck von außen maßgebend auf die innere Struktur gewirkt; er hat auch oft den inneren Zwist niedergehalten oder zu seiner Ausgleichung gezwungen. (S. 55) Aus: Otto Hintze, Staatsverfassung und Heeresverfassung, in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1: Staat und Verfassung, hg. von Gerhard Oestreich, 2. erweiterte Aufl., Göttingen 1962, S. 52-83.
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M A X WEBER Betrieb, Bürokratie und Gewaltmonopol als Insignien des modernen Staates In einem modernen Staat liegt die wirkliche Herrschaft, welche sich ja weder in parlamentarischen Reden noch in Enunziationen von Monarchen, sondern in der Handhabung der Verwaltung im Alltagsleben auswirkt, notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums. Des militärischen wie des zivilen. Denn vom »Büro« aus leitet ja der moderne höhere Offizier sogar die Schlachten. Wie der sogenannte Fortschritt zum Kapitalismus seit dem Mittelalter der eindeutige Maßstab der Modernisierung der Wirtschaft, so ist der Fortschritt zum bürokratischen, auf Anstellung, Gehalt, Pension, Avancement, fachmäßiger Schulung und Arbeitsteilung, festen Kompetenzen, Aktenmäßigkeit, hierarchischer Unter- und Überordnung ruhenden Beamtentum der ebenso eindeutige Maßstab der Modernisierung des Staates. Des monarchischen ebenso wie des demokratischen. Dann jedenfalls, wenn der Staat nicht ein kleiner Kanton mit reihumgehender Verwaltung, sondern ein großer Massenstaat ist. Die Demokratie schaltet ja ganz ebenso wie der absolute Staat die Verwaltung durch feudale oder patrimoniale oder patrizische oder andere ehrenamtliche oder erblich fungierende Honoratioren zugunsten angestellter Beamten aus. Angestellte Beamte entscheiden über alle unsere Alltagsbedürfhisse und Alltagsbeschwerden. Von dem bürgerlichen Verwaltungsbeamten unterscheidet sich der militärische Herrschaftsträger, der Offizier, in dem hier entscheidenden Punkte nicht. Auch das moderne Massenheer ist ein bürokratisches Heer, der Offizier eine Sonderkategorie des Beamten im Gegensatz zum Ritter, Kondottiere, Häuptling oder homerischen Helden. Auf der Dienstdisziplin beruht die Schlagkraft des Heeres. Nur wenig modifiziert vollzieht sich der Vormarsch des Bürokra-
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tismus in der Gemeindeverwaltung. Je größer die Gemeinde ist oder je mehr sie durch technisch und ökonomisch bedingte Zweckverbandsbildungen aller Art unvermeidlich ihrer organischen lokalen Bodenständigkeit entkleidet wird, desto mehr. Und in der Kirche war nicht etwa das vielberedete Unfehlbarkeitsdogma, sondern der Universalepiskopat der prinzipiell wichtige Abschluß von 1870. Er schuf die »Kaplanokratie« und machte im Gegensatz zum Mittelalter den Bischof und Pfarrer zu einem einfachen Beamten der kurialen Zentralgewalt. Nicht anders auch in den großen Privatbetrieben der Gegenwart, und zwar je größer sie sind, desto mehr. Die Privatangestellten wachsen statistisch rascher als die Arbeiter, und es ist eine höchst lächerliche Vorstellung unserer Literaten, daß sich die geistige Arbeit im Kontor auch nur im Mindesten von deijenigen im staatlichen Büro unterscheide. Beide sind vielmehr im Grundwesen ganz gleichartig. Ein »Betrieb« ist der moderne Staat, gesellschaftswissenschaftlich angesehen, ebenso wie eine Fabrik: das ist gerade das ihm historisch Spezifische. Und gleichartig bedingt ist auch das Herrschaftsverhältnis innerhalb des Betriebes hier und dort. Wie die relative Selbständigkeit des Handwerkers oder Hausindustriellen, des grundherrlichen Bauern, des Kommendatars, des Ritters und Vasallen darauf beruhte, daß er selbst Eigentümer der Werkzeuge, der Vorräte, der Geldmittel, der Waffen war, mit deren Hilfe er seiner ökonomischen, politischen, militärischen Funktion nachging und von denen er während deren Ableistung lebte, so beruht die hierarchische Abhängigkeit des Arbeiters, Kommis, technischen Angestellten, akademischen Institutsassistenten und des staatlichen Beamten und Soldaten ganz gleichmäßig darauf, daß jene für den Betrieb und die ökonomische Existenz unentbehrlichen Werkzeuge, Vorräte und Geldmittel in der Verfügungsgewalt, im einen Fall: des Unternehmers, im anderen: des politischen Herrn konzentriert sind. Die
III. Kapitel
russischen Soldaten z.B. wollten (überwiegend) keinen Krieg mehr führen. Sie mußten aber: denn die sachlichen Kriegsbetriebsmittel und die Vorräte, von denen sie leben mußten, waren in der Verfügungsgewalt von Leuten, welche die Soldaten mit deren Hilfe ganz ebenso in den Schützengraben hineinzwangen, wie der kapitalistische Besitzer der wirtschaftlichen Betriebsmittel die Arbeiter in die Fabriksäle und Bergwerksschächte. Diese entscheidende ökonomische Grundlage: die »Trennung« des Arbeiters von den sachlichen Betriebsmitteln: den Produktionsmitteln in der Wirtschaft, den Kriegsmitteln im Heer, den sachlichen Verwaltungsmitteln in der öffentlichen Verwaltung, den Forschungsmitteln im Universitätsinstitut und Laboratorium, den Geldmitteln bei ihnen allen, ist dem modernen macht- und kulturpolitischen und militärischen Staatsbetrieb und der kapitalistischen Privatwirtschaft als entscheidende Grundlage gemeinsam. Beide Male liegt die Verfügung über diese Mittel in den Händen deijenigen Gewalt, welcher jener Apparat der Bürokratie (Richter, Beamte, Offiziere, Werkmeister, Kommis, Unteroffiziere) direkt gehorcht oder auf Anrufen zur Verfügung steht, der allen jenen Gebilden gleichmäßig charakteristisch und dessen Existenz und Funktion als Ursache wie als Wirkung mit jener »Konzentration der sachlichen Betriebsmittel« untrennbar verknüpft, vielmehr: deren Form [er] ist. Zunehmende »Sozialisierung« bedeutet heute unvermeidlich zugleich zunehmende Bürokratisierung. (S. 320-322) Aus: Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 306-443.
Politische Institutionen
Was ist nun aber vom Standpunkt der soziologischen Betrachtung aus ein »politischer« Verband? Was ist ein »Staat«? Auch er läßt sich soziologisch nicht definieren aus dem Inhalt dessen, was er tut. Es gibt fast keine Aufgabe, die nicht ein politischer Verband hier und da in die Hand genommen hätte, andererseits auch keine, von der man sagen könnte, daß sie jederzeit, vollends: daß sie immer ausschließlich denjenigen Verbänden, die man als politische, heute: als Staaten, bezeichnet, oder welche geschichtlich die Vorfahren des modernen Staats waren, eigen gewesen wäre. Man kann vielmehr den modernen Staat soziologisch letztlich nur definieren aus einem spezifischen Mittel, das ihm, wie jedem politischen Verband, eignet: der physischen Gewaltsamkeit. (...) Gewaltsamkeit ist natürlich nicht etwa das normale oder einzige Mittel des Staates: - davon ist keine Rede - , wohl aber: das ihm spezifische. Gerade heute [d.h.: kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges] ist die Beziehung des Staates zur Gewaltsamkeit besonders intim. In der Vergangenheit haben die verschiedensten Verbände - von der Sippe angefangen - physische Gewaltsamkeit als ganz normales Mittel anerkannt. Heute dagegen werden wir sagen müssen: Staat ist diejenige menschliche Gesellschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes - dies: das »Gebiet« gehört zum Merkmal - das Monopol legitimerphysischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht. Denn das der Gegenwart Spezifische ist: daß man allen anderen Verbänden oder Einzelpersonen das Recht zur physischen Gewaltsamkeit nur so weit zuschreibt, als der Staat sie von ihrer Seite zuläßt: er gilt als alleinige Quelle des »Rechts« auf Gewaltsamkeit. (S. 505 f.) Aus: Max Weber, Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 505-560.
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CARL SCHMITT Souveränität, Ausnahmefall, Dezision Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. (...) Das abstrakte Schema, das als Definition der Souveränität aufgestellt wird (Souveränität ist höchste, nicht abgeleitete Herschermacht), kann man gelten lassen oder nicht, ohne daß darin ein großer praktischer oder theoretischer Unterschied läge. Um einen Begriff an sich wird im Allgemeinen nicht gestritten werden, am wenigsten in der Geschichte der Souveränität. Man streitet um die konkrete Anwendung, und das bedeutet darüber, wer im Konfliktsfall entscheidet, worin das öffentliche oder staatliche Interesse, die öffentliche Sicherheit und Ordnung, le salut public usw. besteht. Der Ausnahmefall, der in der geltenden Rechtsordnung nicht umschriebene Fall, kann höchstens als Fall äußerster Not, Gefährdung der Existenz des Staates oder dergleichen bezeichnet, nicht aber tatbestandsmäßig umschrieben werden. Erst dieser Fall macht die Frage nach dem Subjekt der Souveränität, das heißt die Frage nach der Souveränität überhaupt, aktuell. Es kann weder mit subsumierbarer Klarheit angegeben werden, wann ein Notfall vorliegt, noch kann inhaltlich aufgezählt werden, was in einem solchen Fall geschehen darf, wenn es sich wirklich um den extremen Notfall und um seine Beseitigung handelt. Voraussetzung wie Inhalt der Kompetenz sind hier notwendig unbegrenzt. Im rechtsstaatlichen Sinne liegt daher überhaupt keine Kompetenz vor. Die Verfassung kann höchsten angeben, wer in einem solchen Fall handeln darf. Ist dieses Handeln keiner Kontrolle unterworfen, wird es nicht, wie in der Praxis rechtstaatlicher Verfassung, in irgendeiner Weise auf verschiedene, sich gegenseitig hemmende und balancierende Instanzen verteilt, so ist ohne weiteres klar, wer der Souverän ist. Er entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darü-
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ber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen. Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig fur die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann. (S. 1113) Es wäre eine rohe Übertragung der schematischen Disjunktion von Soziologie und Rechtslehre, wenn man sagen wollte, die Ausnahme habe keine juristische Bedeutung und sei infolgedessen »Soziologie«. Die Ausnahme ist das nicht Subsumierbare; sie entzieht sich der generellen Fassung, aber gleichzeitig offenbart sie ein spezifisch-juristisches Formelement, die Dezision, in absoluter Reinheit. In seiner absoluten Gestalt ist der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn erst die Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten können. Jede generelle Norm verlangt eine normale Gestaltung der Lebensverhältnisse, auf welche sie tatbestandsmäßig Anwendung finden soll und die sie ihrer normativen Regelung unterwirft. Die Norm braucht ein homogenes Medium. Die faktische Normalität ist nicht bloß eine »äußere Voraussetzung«, die der Jurist ignorieren kann; sie gehört vielmehr zu ihrer immanenten Geltung. Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre. Die Ordnung muß hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat. Es muß eine normale Situation geschaffen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand wirklich herrscht. Alles Recht ist »Situationsrecht«. Der Souverän schafft und garantiert die Situation als Ganzes in ihrer Totalität. Er hat das Monopol dieser letzten Entscheidung. Darin liegt das Wesen der staatlichen Souveränität, die alsorichtigerweisenicht als Zwangs- oder Herrschaftsmonopol, sondern als Entscheidungsmonopol juristisch zu definieren ist (...) Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und (um es paradox zu formulieren) die Autorität beweist,
daß sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht haben braucht. (S. 19 f.) Aus: Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin 1985.
CARL SCHMITT Verfassung als politische Grundentscheidung I. Die Verfassung im positiven Sinne entsteht durch einen Akt der verfassunggebenden Gewalt. Der Akt der Verfassunggebung enthält als solcher nicht irgendwelche einzelne Normierungen, sondern bestimmt durch einmalige Entscheidung das Ganze der politischen Einheit hinsichtlich ihrer besonderen Existenzform. Dieser Akt konstituiert Form und Art der politischen Einheit, deren Bestehen vorausgesetzt wird. Es ist nicht so, daß die politische Einheit erst dadurch entsteht, daß eine »Verfassung gegeben« wird. Die Verfassung im positiven Sinne enthält nur die bewußte Bestimmung der besonderen Gesamtgestalt, für welche die politische Einheit sich entscheidet. Diese Gestalt kann sich ändern. Es können fundamental neue Formen eingeführt werden, ohne daß der Staat, d.h. die politische Einheit des Volkes aufhört. (S· 21) II. Die Verfassung als Entscheidung. (...) Vor jeder Normierung liegt eine grundlegende politische Entscheidung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt, d.h. in der Demokratie des Volkes, in der echten Monarchie des Monarchen. (...) Für die Weimarer Verfassung sind diese grundlegenden politischen Entscheidungen: die Entscheidung für die Demokratie, die das deutsche Volk kraft seiner bewußten politischen Existenz als Volk getroffen hat; (...) Die hier genannten Bestimmungen der Weimarer
Politische Institutionen
Verfassung sind keine Verfassungsgesetze. Sätze wie: »Das deutsche Volk hat sich diese Verfassung gegeben«; »die Staatsgewalt geht vom Volke aus«; oder »das Deutsche Reich ist eine Republik«, sind überhaupt keine Gesetze und infolgedessen auch keine Verfassungsgesetze. Sie sind auch nicht Rahmengesetze oder Grundsätze. Aber deshalb sind sie nicht etwas Geringeres oder Unbeachtliches. Sie sind mehr als Gesetze und Normierungen, nämlich die konkreten politischen Entscheidungen, welche die politische Daseinsform des deutschen Volkes angeben und die grundlegende Voraussetzung für alle weiteren Normierungen, auch diejenigen der Verfassungsgesetze, bilden. Alles, was es innerhalb des Deutschen Reiches an Gesetzlichkeit und an Normativität gibt, gilt nur auf der Grundlage und nur im Rahmen dieser Entscheidungen. Sie machen die Substanz der Verfassung aus. (S. 23 f.) Aus: Carl Schmitt, Verfassungslehre, München und Leipzig 1928.
GUGLIELMO FERRERO Die Angst der Mächtigen [Mit Mussolinis Machtübernahme] sollte ein ehernes Geschlecht, gestählt im Kriege, unsere armselige Geschichte erneuern, die ein halbes Jahrhundert gesetzmäßiger und demokratischer Feigheit entmannt hatte. All diese großen und kleinen Führer, hatten sie nicht gezeigt, daß sie ohne Furcht waren, indem sie mehrere göttliche Gesetze verletzten - angefangen mit jenem, das da verbietet zu töten? Das war die allgemeine Ansicht. So war ich auch nicht wenig überrascht, als ich feststellte, daß all diese Cäsaren des Dorfes, der kleinen und der großen Stadt (...), kaum im Besitz der Macht, sich nicht aus einem Übermaß an Mut wirklichen Verschwörungen darbo-
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ten, sondern überall vor eingebildeten Verschwörungen auf der Hut waren, wo es keine gab: in Briefen, die man der Post anvertraute, und in privaten Telephongesprächen, im Schoß der Familie oder am Wirtshaustisch, in Versammlungen und Zusammenkünften jeder Art (...) Zunächst war ich ungeheuer überrascht. Es war offenbar: die neuen Herren hatten Angst. Aber Angst wovor, da sie doch die Herren waren? (S. 23-25) Wenn die durch einen Staatsstreich erlangte Macht die dämonische Gabe besässe, erst dem, der die Macht an sich gerissen hatte, Schrecken einzujagen und dann allen anderen? (S. 34) Der Mensch ist also das furchtsamste unter den Geschöpfen. Voll von Furcht wird er geboren, und er lebt, eine Beute der Schrecken. Doch wenn er auch als Beute der Schrecken lebt, unterscheidet er sich dadurch von den Tieren, daß er mutig sein will (...) Dieser Widerspruch ist es, mit dem man Zivilisation und Fortschritt definieren kann. Die Zivilisation ist eine Schule des Mutes, sie läßt sich an den Ergebnissen der Anstrengung messen, die der Mensch macht, um seine eingebildeten Ängste zu besiegen und die wahren Gefahren zu erkennen, die ihn bedrohen. Fortschritt ist all das, was dem Menschen dient oder ihm hilft, die eingebildeten Ängste zu besiegen, die wahren Gefahren zu erkennen und auszuschalten. (...) Und der Kampf des Menschen gegen seine Ängste gibt dem Wort Fortschritt auch in der politischen Sphäre einen Sinn, indem es uns gestattet, zwischen zivilisierten und barbarischen Staaten zu unterscheiden. Die Macht vermenschlicht sich auch und zivilisiert sich im Laufe der Geschichte ebenso wie die Gottheit, in dem Ausmaß, wie sie sich von ihren aktiven und passiven Ängsten befreit; und sie befreit sich von ihren Ängsten in dem Ausmaß, in dem die Legitimitätsprinzipien sich vervielfachen, sich abklären, sich durchsetzen (...) Wir haben gesehen, daß die Macht ihren Untertanen Furcht einflößt und vor ihnen Furcht hat, weil sie seinen Untertanen mit Gewalt aufgedrängt wer-
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den muß. Doch die Gewalt ist niemals sicher, den Gehorsam zu erzwingen, sie kann auch den Aufruhr hervorrufen; und das ist der Grund, weshalb sie ebensowohl Angst einflößt als auch selbst beständig Angst hat. Wir haben gesehen, daß die Legitimitätsprinzipien Prinzipien sind, die das Recht, zu befehlen, und die Pflicht, zu gehorchen, festlegen. Es ist offenbar, daß innerhalb einer Gesellschaft die Beziehungen zwischen Befehlenden und Gehorchenden, wenn beide über eines dieser Prinzipien einig werden, es als vernünftig und gerecht anerkennen und sich verpflichten, es zu achten, in dem Masse leichter, bequemer, sichererund furchtloser werden, in dem die Achtung des Prinzips, das Generationen überdauert hat, das gegenseitige Vertrauen erhöhen wird. Die Macht wird vor ihren Untertanen und deren möglichen Aufständen viel weniger Furcht haben, wenn sie weiß, daß sie auf ihre freiwillige und aufrichtige Zustimmung rechnen kann. Wenn sie vor ihren Untertanen weniger Furcht hat, wird sie es viel weniger nötig haben, sie zu terrorisieren, weniger terrorisiert, werden die Untertanen gutwillig und wohlwollend gehorchen. (S. 7 1 - 7 3 ) Aus: Guglielmo Ferrero, Macht, Bern 1944.
HANNAH ARENDT Das Wesen totalitärer Herrschaft Die Paradoxie der totalen Herrschaft ist, daß die Machtergreifung, der Besitz des Staatsapparats und der Gewalt in einem Lande, für die totalitäre Bewegung mindestens ebenso viele Gefahren wie Vorteile bietet. Je länger sie an der Macht ist, desto schwerer wird es, die für die Bewegung unabdingbare Verachtung aller Tatsächlichkeit, das konsequente Festhalten an den Regeln einer fiktiven Welt aufrechtzuerhalten. Gerade weil
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Macht die Welt, in der wir leben, bis zu einem gewissen Grade verändern kann und dauernd verändert, ist sie auch auf die Wirklichkeit in ihrer Faktizität angewiesen und von ihr abhängig, und diese Abhängigkeit muß die totalitäre Herrschaft aufzuheben wissen. Hierfür reichen Organisation und Propaganda, wie wir sie in der totalitären Bewegung kennenlernten, nicht mehr aus; gerade das, worauf sich die totalitäre Fiktion psychologisch stützen konnte, das aktive Ressentiment der Massen gegen die gegebene Welt, das sie bereit machte zu glauben, daß das Unmögliche möglich, das Unglaubwürdige wahr und alles, was in der Welt geschieht, aus einem einzigen Punkt zu erklären sei, existiert nicht mehr nach der Machtergreifung. Die Massen gerade normalisieren sich sofort, fallen in die Sprache der Bewegungen - in den alten Schlendrian zurück, und nun wird jeder Fetzen faktischer Information, der durch den eisernen Vorhang dringt, gefahrlicher als alle Gegenpropaganda zur Zeit vor der Machtergreifung. (S. 613) Vergleicht man den totalen Herrschaftsapparat mit einem der vielen uns aus der Geschichte bekannten Staatsapparate, so kann man ihn nur als strukturlos bezeichnen. Dabei vergißt man, daß nur ein Gebäude eine Struktur haben kann, daß aber eine Bewegung, nimmt man dieses Wort so buchstäblich ernst, wie die Nazis es genommen haben, nur eine Richtung haben kann und daß jegliche gesetzliche oder staatliche Struktur für eine immer schneller in eine bestimmte Richtung sich bewegende Bewegung nur ein Hindernis ist. (...) Rein technisch bewegt sich die Bewegung innerhalb des totalen Herrschaftsapparates dadurch, daß die Führung das eigentliche Machtzentrum dauernd verschiebt, in andere Organisationen verlegt, ohne doch darum die so entmachteten Gruppen aufzulösen oder auch nur öffentlich an den Pranger zu stellen (...) Dies hatte natürlich das Resultat, daß abgesehen von dem im Führer verkörperten Willen es niemals feststehen konnte, wo sich gerade
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das Machtzentrum des Herrschaftsapparates CARL J. FRIEDRICH/ befand, und daß niemand sicher sein konnte, ZBIGNIEW BRZEZINSKI welche Position er in der wirklichen geheimen Totalitäre Herrschaftssysteme Machthierarchie einnahm. (S. 621-624) So wie ein naheliegendes Mißverständnis des Führerprinzips dazu verführt, die totale Herr- Die totalitären Diktaturen besitzen alle folgenschaft im Sinne derTyrannis mißzuverstehen, so des: kann man leicht durch eine Überschätzung der 1. Eine ausgearbeitete Ideologie, bestehend »alten Kameraden« oder »Genossen«, mit aus einem offiziellen Lehrgebäude, das alle denen zusammen der Führer an die Macht lebenswichtigen Aspekte der menschlichen kommt, auf die Idee kommen, daß es sich hier Existenz umfaßt und an die sich alle in dieser um ein Gangster- oder Cliquenregime handelt. Gesellschaft Lebenden zumindest passiv zu halAuch dies ist ein Mißverständnis. Was immer ten haben; diese Ideologie ist charakteristisch auf wir von der Hitler- und der Stalin-Diktatur wis- einen idealen Endzustand der Menschheit ausgesen, deutet darauf hin, daß die Isolierung und richtet und projiziert - das heißt, sie enthält eine Atomisierung, welche der totalen Herrschaft chiliastische Forderung, gegründet auf eine radiihre Massenbasis verschaffen, sich bis in die kale Ablehnung der bestehenden Gesellschaft Spitze der Führung fortsetzen und daß der Füh- mit der Eroberung der Welt für die neue. rer auch im intimsten Kreis niemals als ein Pri2. Eine einzige Massenpartei, im typischen mus inter pares auftritt. Er mag mit einer Clique Fall von einem einzelnen, dem »Diktator«, oder einer Bande zur Macht gekommen, er mag geführt und aus einem relativ niedrigen Prozentweiterhin von ihnen umgeben sein, er selbst satz der Gesamtbevölkerung (bis zu zehn Progehört weder vor noch nach dem Machtantritt zent) von Männern und Frauen bestehend, in der einer dieser Cliquen an. (...) Die Mittel der tota- ein fester Stamm der Ideologie leidenschaftlich len Herrschaft sind ebenso einfach wie wirksam. und ohne Vorbehalte anhängt und bereit ist, die Sie sichern nicht nur ein absolutes Machtmono- Durchsetzung ihrer allgemeinen Übernahme in pol, sondern eine sonst nirgends vorzufindende jeder Weise zu fördern. Eine solche Partei ist absolute Gewißheit, daß alle Befehle irgendwie hierarchisch, oligarchisch organisiert und chaimmer ausgeführt werden. Durch die Multipli- rakteristischerweise der Staatsbürokratie entwekation der möglichen ausführenden Organe und der übergeordnet oder völlig damit verflochten. das Fehlen jeder gesicherten Hierarchie bleibt 3. Ein Terrorsystem, auf physischer oder psyder Diktator in absoluter Unabhängigkeit von chischer Grundlage, das durch Partei und jedem seiner Untergebenen und kann jederzeit Geheimpolizei-Kontrolle verwirklicht wird, die außerordentlich rapiden und überraschenden aber auch die Partei für ihre Führer überwacht Wendungen seiner Politik vornehmen, für wel- und charakteristisch nicht nur gegen erwiesene che die totalitären Regime so berühmt geworden »Feinde« des Regimes gerichtet ist, sondern sind. Der politische Körper des Landes ist gegen auch gegen mehr oder weniger willkürlich ausjede Erschütterung gerade darum gesichert, weil gewählte Klassen der Bevölkerung; der Terror er völlig strukturlos ist. (S. 631-634) macht sich, ob von der geheimen Polizei oder von dem durch die Partei auf die Gesellschaft Aus: Hannah Arendt, Elemente und ausgeübten Druck herrührend, die moderne Ursprünge totaler Herrschaft, München Wissenschaft systematisch zunutze, ganz beson1991. ders die wissenschaftliche Psychologie. 4. Ein technologisch bedingtes, nahezu voll-
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ständiges Monopol der Kontrolle aller Mittel wirksamer Massenkommunikation, wie Presse, Funk und Film, in den Händen von Partei und Staat. 5. Ein gleichermaßen technologisch bedingtes, nahezu vollständiges Monopol der wirksamen Anwendung aller Kampfwaffen. 6. Eine zentrale Überwachung und Lenkung der gesamten Wirtschaft durch die bürokratische Koordinierung vorher unabhängiger Rechtskörperschaften, charakteristischerweise unter Einfluß der meisten anderen Gesellschaften und Konzerne. (S. 230 f.) Aus: Carl J. Friedrich/Zbigniew Brzezinski, Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur, in: Eckhard Jesse, Hg., Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996, S. 225-236.
MICHEL FOUCAULT Die Macht hinter dem Staat des Leviathan Das Problem [der Disziplinierung] auf den Staat bezogen stellen, heißt nach wie vor es im Sinne von Souverän und Souveränität stellen, also in Kategorien des Gesetzes. Beschreibt man all diese Erscheinungen der Macht in ihrer Abhängigkeit vom Staatsapparat, so heißt dies, sie im Wesentlichen in ihrer repressiven Funktion begreifen: das Heer als Macht des Todes, Polizei und Justiz als Strafinstanzen usw. Ich will nicht sagen, daß der Staat nicht wichtig ist; was ich sagen will, ist, daß die Machtverhältnisse und infolgedessen die Analyse, der man sie unterziehen muß, über den Staat hinausgehen müssen. Dies in zweierlei Hinsicht: vor allem weil der Staat, selbst mit seiner Omnipotenz, selbst mit all seinen Apparaten, weit davon entfernt ist, den ganzen tatsächlichen Bereich der Machtverhält-
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nisse zu besetzen, und dann weil der Staat nur auf der Grundlage vorher bestehender Machtbeziehungen funktionieren kann. Der Staat ist Überbau in Bezug auf eine ganze Serie von Machtnetzen, die die Körper, die Sexualität, die Familie, die Verhaltensweisen, das Wissen, die Techniken usw. durchdringen, und diese Beziehungen werden ihrerseits von einer Art ÜberMacht konditioniert und wirken konditionierend auf sie, die im wesentlichen um eine gewisse Anzahl großer Verbotsfunktionen herum strukturiert ist; aber diese Uber-Macht mit ihren Verbotsfunktionen kann nur insofern wirklich greifen und sich halten, als sie in einer ganzen Reihe vielfältiger, nicht definierter Machtverhältnisse verwurzelt ist, die die notwendige Grundlage dieser großen Formen negativer Macht bilden, und genau das wollte ich deutlich machen. (S. 38 f.) Das Problem, das ich bis jetzt, ungefähr seit 1970-71, zu umreißen versucht habe, war das Wie der Macht; d.h. ich habe versucht, ihre Mechanismen innerhalb zweier Bezugspunkte, zweier Grenzen zu erfassen: einerseits der Rechtsregeln, die die Macht formal begrenzen, andererseits der Wahrheitswirkungen, die diese Macht produziert und vermittelt und die ihrerseits diese Macht reproduzieren. Ein Dreieck also: Macht, Recht, Wahrheit. Ganz schematisch können wir sagen, daß die traditionelle Frage der politischen Philosophie folgendermaßen formuliert werden könnte: wie kann der Diskurs der Wahrheit oder einfach die als Diskurs der Wahrheit par excellence begriffene Philosophie die rechtlichen Grenzen der Macht festlegen? Das ist die traditionelle Frage. Ich möchte lieber eine andere stellen, von unten her, eine im Vergleich zu dieser traditionellen, erhabenen und philosophischen sehr viel konkretere Frage. Mein Problem wäre eher folgendes: welche Rechtsregeln wendet die Macht an, um Diskurse der Wahrheit zu produzieren? Oder weiter: welcher Machttyp vermag Diskurse der Wahrheit zu produzieren, die in einer Gesell-
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Schaft wie der unsrigen mit derart mächtigen Wirkungen ausgestattet sind? Damit meine ich folgendes: in einer Gesellschaft wie der unsrigen - im Grunde genommen jedoch in jeder Gesellschaft - wird der soziale Körper von vielfältigen Machtbeziehungen überzogen, charakterisiert und konstituiert, und diese Machtbeziehungen können sich weder auflösen noch stabilisieren noch funktionieren ohne Produktion, Akkumulation, Zirkulation und Funktionieren des Diskurses. Es gibt keine Machtausübung ohne eine bestimmte Ökonomie der Diskurse der Wahrheit, eine Ökonomie, die innerhalb dieses Kräftepaares und von ihm ausgehend funktioniert. Wir sind der Produktion der Wahrheit durch die Macht unterworfen und können die Macht nur über die Produktion der Wahrheit ausüben. Das gilt für jede Gesellschaft, doch glaube ich, daß das Verhältnis zwischen Macht, Recht und Wahrheit in der unsrigen in ganz besonderer Weise organisiert ist. Was deren Intensität und Konstanz - nicht den Mechanismus - betrifft, könnte ich sagen, daß wir von der Macht gezwungen werden, die Wahrheit zu produzieren: sie fordert es, sie braucht sie, um zu funktionieren: wir müssen die Wahrheit sagen, wir sind gezwungen oder dazu verurteilt, die Wahrheit zu bekennen oder sie zu finden. Die Macht hört nicht auf, uns zu fragen, hört nicht auf, zu forschen, zu registrieren, sie institutionalisiert und professionalisiert die Suche nach der Wahrheit und belohnt sie. Im Grunde müssen
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wir die Wahrheit produzieren wie wir Reichtümer produzieren müssen, ja wir müssen sogar die Wahrheit produzieren, um überhaupt Reichtümer produzieren zu können. Auf der anderen Seite sind wir der Wahrheit unterworfen, auch in dem Sinne, daß die Wahrheit das Gesetz macht, daß sie den wahren Diskurs produziert, der zumindest teilweise - selbst Machtwirkungen bestimmt, übermittelt, vorantreibt. Schließlich werden wir beurteilt, verurteilt, klassifiziert, zu Aufgaben gezwungen, wird uns eine bestimmte Lebens- (oder Sterbe-) weise zugewiesen entsprechend wahrer Diskurse, die spezifische Machtwirkungen mit sich bringen. (S. 75 f.) Anstatt die Analyse der Macht auf das Rechtsgebäude der Souveränität, auf die Apparate des Staates und die mit ihm verbundenen Ideologien auszurichten, muß man sie auf die Herrschaft ausrichten, auf die materialen Träger, auf die Formen der Unterwerfung, auf die Verflechtungen und Verwendungen der lokalen Systeme dieser Unterwerfung, auf die Strategiedispositive. Man muß die Macht außerhalb des Modells des Leviathan untersuchen, außerhalb des von der rechtlichen Souveränität und der Institution des Staates begrenzten Bereichs. Es gilt, sie ausgehend von den Herrschaftstechniken und -taktiken zu analysieren. (S. 87 f.) Aus: Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978.
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III. Kapitel
Staat und Vereinbarung Mayflower Vertrag Wir, deren Namen unterzeichnet sind (...) haben zur Ehre Gottes und zur Förderung des christlichen Glaubens und zur Ehre unseres Königs und Landes eine Reise unternommen, um die erste Kolonie zu gründen im nördlichen Teil Virginias, und kommen hiermit feierlich vor Gott und einander überein, uns in einer politischen Körperschaft [civill body politick] zusammenzuschließen [covenant and combine our selves], um die genannten Ziele besser einrichten, erhalten und fordern zu können, und infolgedessen zu verfügen, aufzustellen und zu entwerfen gerechte und gleiche Gesetze, Verfügungen, Beschlüsse, Verfassungen und Amter von Zeit zu Zeit, wie sie für das allgemeine Wohl der Kolonie am befriedigendsten und zusagendsten angesehen werden, wozu wir alle gebührende Unterwerfung und Gehorsam [submission and obedience] versprechen, Zum Zeugnis haben wir unsere Namen hier unterzeichnet bei Cape Cod, 11. November im Jahre der Regierung unseres höchsten Herrn, König Jakobs von England, Frankreich und Irland und 54. von Schottland, anno domini 1620. (S. 51) Aus: Adolf Rock, Hg., Dokumente der amerikanischen Demokratie, Wiesbaden 1947.
NICCOLÖ MACHIAVELLI Diktatur als letzter verfassungsmäßiger Schutz der Freiheit In der Tat ist die Diktatur eine der römischen Institutionen, welche besondere Beachtung verdient; denn sie war eine der Ursachen der Größe des Imperiums.
Ohne eine ähnliche Einrichtung übersteht ein Staatswesen nur schwer außergewöhnliche Ereignisse. Der gewöhnliche Gang der Geschäfte in den Freistaaten ist langsam; denn kein Rat, keine Behörde kann allein alles erledigen, in vielen Dingen brauchen sie sich gegenseitig. Durch den notwendigen Ausgleich der verschiedenen Willensrichtungen vergeht die Zeit, und so entsteht die größte Gefahr, wenn man einer Sache abhelfen soll, die keinen Zeitverlust erlaubt. Die Freistaaten müssen daher in ihren Verfassungen eine der Diktatur ähnliche Einrichtung haben. (...) Fehlt einem Freistaat eine solche Einrichtung, so ist es unausbleiblich, daß er entweder bei Aufrechterhaltung der Verfassung zugrunde geht oder, um nicht zugrunde zu gehen, die Verfassung brechen muß. In einem Freistaat sollte nie etwas vorkommen, das die Anwendung ungesetzlicher Mittel nötig macht; denn wenn auch das ungesetzliche Mittel für den Augenblick vorteilhaft ist, so schadet doch das Beispiel. Die Gewohnheit aber, die Verfassung zu guten Zwecken zu brechen, bewirkt, daß man sie unter diesem Deckmantel dann auch zu schlechten bricht. Ein Freistaat wird daher niemals vollkommen sein, wenn er nicht in seinen Gesetzen alles vorgesehen, für jedes Ereignis nicht die entsprechende Abhilfe festgelegt und die Art und Weise bestimmt hat, sie anzuwenden. Zusammenfassend möchte ich daher sagen, daß die Freistaaten, die in dringender Gefahr nicht zur Diktatur oder einer ähnlichen Machtbefugnis ihre Zuflucht nehmen, immer bei schweren Ereignissen zugrunde gehen. (S. 96) Aus: Niccolö Machiavelli, Discorsi, übersetzt, hg. und eingeleitet von Rudolf Zorn, 2. Aufl., Stuttgart 1977, Buch I, Kap. 34.
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sammlung gilt aber der Wille der Mehrzahl der Personen, aus denen sie besteht. Der künstliche Staat und seine 8. Obgleich der Wille nicht selbst freiwillig, Vertragsgrundlage sondern nur das Prinzip der freiwilligen Handlung ist (...) und daher keineswegs unter Über5. (...) Endlich ist die Übereinstimmung jener legung und Verträge fällt, so überträgt doch der, vernunftlosen Tiere eine natürliche; die der welcher seinen Willen dem eines anderen unterMenschen beruht aber nur auf Vertrag, d.h. sie wirft, diesem andern das Recht auf seine Kraft ist eine künstliche. Es kann deshalb nicht wun- und seine Fähigkeiten. Wenn daher die übrigen dernehmen, wenn die Menschen zu dem friedli- dasselbe tun, so erlangt der, dem man sich unterchen Leben noch etwas anderes brauchen. Die wirft, eine so große Macht, daß er durch den bloße Übereinstimmung oder das Übereinkom- Schrecken derselben die Willen der einzelnen men zu einer Verbindung ohne Begründung zur Einheit und Einigkeit bestimmen kann. einer gemeinsamen Macht, welche die einzelnen 9. Die so gebildete Vereinigung ist der Staat durch Furcht vor Strafe leitet, genügt daher nicht [commonwealth, civitas] oder die bürgerliche für die Sicherheit, welche zur Übung der natür- Gesellschaft [civil society, societas civile] oder lichen Gerechtigkeit nötig ist. auch die bürgerliche Person [civil person, perso6. Wenn sonach die Übereinstimmung des na civilis]. Denn da alle hier nur einen Willen Willens vieler zu demselben Zwecke nicht haben, so gelten sie fur eine Person, die durch genügt, um den Frieden zu erhalten und eine diese Einheit sich von allen einzelnen Menschen dauernde Verteidigung zu ermöglichen, so muß unterscheidet, die ihre besonderen Rechte und in Bezug auf die zum Frieden und zur Selbst- ihr besonderes Vermögen hat. Deshalb kann (mit verteidigung notwendigen Mittel ein Wille in Ausnahme desjenigen, dessen Wille für den Wilallen bestehen. Dies ist aber nur möglich, wenn len aller gilt) weder irgendein Bürger, noch köndie einzelnen ihren Willen dem Willen eines ein- nen alle zusammen als der Staat gelten. Der zelnen, d.h. eines Menschen oder einer Ver- Staat ist daher als eine Person zu definieren, sammlung so unterwerfen, daß dieser Wille für deren Wille vermöge des Vertrages mehrerer den Willen aller einzelnen gilt, soweit er etwas Menschen als ihrer aller Wille gilt, so daß sie die über das zum gemeinsamen Frieden Notwen- Kräften und Fähigkeiten der einzelnen für den dige bestimmt. Eine Versammlung aber nenne gemeinsamen Frieden und Schutz verwenden ich einen Zusammentritt mehrerer Menschen, kann. (...) welche über das, was zu dem gemeinen Besten 11. In jedem Staat gilt der Mensch oder die aller zu tun oder zu unterlassen ist, berat- Versammlung, deren Willen die einzelnen ihren schlagen. Willen (...) unterworfen haben, als der Inhaber 7. Diese Unterwerfung des Willens aller unter der höchsten Gewalt [sovereign authority, sumden Willen eines Menschen oder einer Ver- mam potestam] oder der höchsten Herrschaft sammlung erfolgt dann, wenn jeder sich jedem [sovereign power, summum imperium] oder der der übrigen durch Vertrag verpflichtet, dem Wil- Souveränität [dominion, dominium]. Diese len dieses einen, dem er sich unterworfen hat, sei Macht und dieses Recht zu herrschen besteht es ein Mensch oder eine Versammlung, keinen darin, daß jeder einzelne Bürger all seine Kraft Widerstand zu leisten; d. h. er verweigert jenem und Macht auf jenen Menschen oder jene Vernicht den Gebrauch seiner Mittel und Kräfte sammlung übertragen hat. Dies kann, weil niegegen irgendwelche andere (...) Dies nennt man mand seine Kraft in wörtlichem Sinn auf andere Union oder Vereinigung. Als Wille der Ver- übertragen kann, nur dadurch geschehen, daß THOMAS HOBBES
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jeder sein Recht des Widerstandes aufgegeben hat. Der einzelne Bürger sowie jede andere untergeordnete Rechtsperson heißt Untertan [subject] des Inhabers der höchsten Staatsgewalt. (S. 127-129) [6. Kapitel] 18. Es ist also klar, daß es in jedem Staate einen Menschen oder eine Versammlung oder ein Kollegium gibt, welches über die einzelnen Bürger rechtlich eine so große Gewalt besitzt, wie sie außerhalb des Staates jeder über sich selbst besitzt, d.h. die höchste oder absolute, welche nur durch die Kraft des Staates, aber sonst durch nichts beschränkt werden kann. Denn zur Beschränkung dieser Macht bedürfte es einer noch höhern Macht, weil der, welcher die Schranken setzt, eine größere Gewalt haben muß als der, welcher dadurch beschränkt werden soll. Deshalb ist diese beschränkende Gewalt entweder ohne Schranken, oder sie wird wieder von einer noch höhern in Schranken gehalten; und damit kommt man zuletzt zu einer Macht, die nur an dem höchsten Maße der Kräfte aller Bürger ihre Schranken hat. Dies heißt auch die höchste Staatsgewalt (...) Die Kennzeichen dieser höchsten Staatsgewalt sind der Erlaß und die Aufhebung der Gesetze, die Entscheidung über Krieg und Frieden, die Untersuchung und Entscheidung aller Streitigkeiten, entweder in eigener Person oder durch von ihm eingesetzte Richter, und die Ernennung aller Obrigkeiten, Beamten und Räte. Ist endlich jemand vorhanden, der mit Recht irgend etwas tun kann, was sonst keinem Bürger oder mehreren gemeinschaftlich gestattet ist, so besitzt ein solcher die höchste Staatsgewalt. (S. 145) Aus: Thomas Hobbes, Vom Bürger, in: ders., Vom Menschen/Vom Bürger, eingeleitet und hg. von Günter Gawlick, Hamburg 1994, Kap. 5 und 6. Hierin liegt das Wesen des Staates, der, um eine Definition zu geben, eine Person ist, bei der sich
III. Kapitel
jeder einzelne einer großen Menge durch gegenseitigen Vertrag [covenant] eines jeden mit jedem zum Autor ihrer Handlung gemacht hat (...) Wer diese Person verkörpert, wird Souverän genannt und besitzt, wie man sagt, höchste Gewalt, und jeder andere daneben ist sein Untertan. (S. 134 f.) Da von den Vertragschließenden das Recht, ihre Person zu verkörpern, demjenigen, den sie zum Souverän ernennen, nur durch einen untereinander und nicht zwischen ihm und jedem einzelnen von ihnen abgeschlossenen Vertrag übertragen wurde, kann seitens des Souveräns der Vertrag nicht gebrochen werden, und folglich kann sich keiner seiner Untertanen von seiner Unterwerfung befreien, indem er sich auf Verwirkung beruft (...) Wenn außerdem einer oder einige behaupten, der Souverän habe den bei seiner Einsetzung eingegangenen Vertrag gebrochen, und andere, oder ein anderer seiner Untertanen oder er selbst allein einen solchen Vertragsbruch bestreiten, so gibt es in diesem Falle keinen Richter zur Entscheidung des Streitfalles. Deshalb läuft dies wieder auf das Schwert hinaus und jedermann erlangt wieder das Recht, sich selbst durch eigene Kraft zu schützen, im Gegensatz zu der Absicht, die sie bei der Einsetzung verfolgten. Deshalb ist es sinnlos, die Souveränität durch vorherigen Vertrag zu verleihen. (S. 137) Aus: Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und eingeleitet von Iring Fetscher, übersetzt von Walther Euchner, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1989, Kap. 17 und 18.
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JOHN LOCKE Vereinigung als Anfang rechtmäßiger Regierung § 95. Da die Menschen, wie schon gesagt wurde, von Natur aus alle frei, gleich und unabhängig sind, kann niemand ohne seine Einwilligung aus diesem Zustand verstoßen oder der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden. Die einzige Möglichkeit, mit der jemand diese natürliche Freiheit aufgibt und die Fesseln bürgerlichen Gesellschaft anlegt, liegt in der Übereinkunft mit anderen, sich zusammenzuschließen und in einer Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel eines behaglichen, sicheren und friedlichen Miteinanderlebens, in dem sicheren Genuß ihres Eigentums und in größerer Sicherheit gegenüber allen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören. Dies kann jede beliebige Anzahl von Menschen tun, weil es die Freiheit der übrigen nicht beeinträchtigt; diese verbleiben wie vorher in der Freiheit des Naturzustandes. Wenn eine Anzahl von Menschen darin eingewilligt hat, eine einzige Gemeinschaft oder eine Regierung zu bilden, so haben sie sich ihr damit einverleibt, und sie bilden einen einzigen politischen Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen mitzuverpflichten. (...) § 96. (...) Denn da eine Gemeinschaft allein durch die Zustimmung ihrer einzelnen Individuen zu handeln vermag und sich ein einziger Körper auch nur in einer einzigen Richtung bewegen kann, so muß sich notwendigerweise der Körper dahin bewegen, wohin die stärkere Kraft ihn treibt. Und das eben ist die Übereinstimmung der Mehrheit. (...) § 97. Jeder Mensch also, der mit anderen übereinkommt, einen einzigen politischen Körper unter einer Regierung zu bilden, verpflichtet sich gegenüber jedem einzelnen dieser Gesellschaft, sich dem Beschluß der Mehrheit zu unterwerfen und sich ihm zu fügen. Denn sonst
würde dieser ursprüngliche Vertrag, durch den er sich mit anderen zu einer Gesellschaft vereinigt, keinerlei Bedeutung haben und kein Vertrag sein, wenn der einzelne weiter frei bliebe und unter keiner anderen Verpflichtung stände als vorher im Naturzustand. (...) § 99. Deshalb muß von allen Menschen, die sich aus dem Naturzustand zu einer Gesellschaft vereinigen, auch vorausgesetzt werden, daß sie alle Gewalt, die für das Ziel, um deretwillen sie sich zu einer Gesellschaft vereinigen, notwendig ist, an die Mehrheit der Gesellschaft abtreten, falls man sich nicht ausdrücklich auf eine größere Zahl als die Mehrheit geeinigt hat. Und das geschieht durch die bloße Übereinkunft, sich zu einer politischen Gesellschaft zu vereinigen, was schon den ganzen Vertrag enthält, der zwischen den Individuen, die in das Staatswesen eintreten oder es begründen, geschlossen wird und notwendig ist. So ist der Anfang und die tatsächliche Konstituierung einer politischen Gesellschaft nichts anderes als die Übereinkunft einer für die Bildung der Mehrheit fähigen Anzahl freier Menschen, sich zu vereinigen und sich einer solchen Gesellschaft einzugliedern. Und allein nur das ist es, was jeder rechtmäßigen Regierung auf der Welt den Anfang gegeben hat oder geben konnte. (S. 260-262) Aus: John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, hg. und eingeleitet von Walter Euchner, Frankfurt/M. 1977.
CHARLES DE MONTESQUIEU Freiheitliche Regierung und Gewaltenteilung Von der Verfassung Englands. In jedem Staat gibt es drei Arten von Gewalt: die gesetzgebende Gewalt [puissance legislatif], die vollziehende Gewalt in Ansehung der Ange-
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legenheiten, die vom Völkerrechte abhängen, und die vollziehende Gewalt hinsichtlich der Angelegenheiten, die vom bürgerlichen Recht abhängen. Vermöge der ersten gibt der Fürst oder Magistrat Gesetze auf Zeit oder für immer, verbessert er die bestehenden oder hebt sie auf. Vermöge der zweiten schließt er Frieden oder führt er Krieg, schickt oder empfängt Gesandtschaften, befestigt die Sicherheit, kommt Invasionen zuvor. Vermöge der dritten straft er Verbrechen oder spricht das Urteil in Streitigkeiten der Privatpersonen. Ich werde diese letzte die richterliche Gewalt [puissance de juger] und die andere schlechthin die vollziehende Gewalt [puissance executrice] des Staates nennen.
III. Kapitel
der Ruhe oder Untätigkeit hervorgehen. Aber da sie durch die notwendige Bewegung der Dinge gezwungen sind, fortzuschreiten, werden sie genötigt sein, dies gemeinsam zu tun. Da die vollziehende Gewalt an der Gesetzgebung nur vermöge des Vetorechts teilhat, kann sie nicht in die Erörterung der Angelegenheiten eingreifen. Es ist nicht einmal notwendig, daß sie Anträge stellt. Denn weil sie die Entschließungen jederzeit zu mißbilligen vermag, kann sie Beschlüsse über Anträge, die nach ihrer Ansicht nicht hätten gestellt werden sollen, verwerfen. (S. 226) Aus: Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, übersetzt und hg. von Ernst Forsthoff, 2. Aufl., Tübingen 1992, Buch XI, Kap. 9.
Die politische Freiheit des Bürgers ist jene Ruhe des Gemüts, die aus dem Vertrauen erwächst, das ein jeder zu seiner Sicherheit hat. Damit man diese Freiheit hat, muß die Regierung so eingerichtet sein, daß ein Bürger den JEAN-JACQUES ROUSSEAU anderen nicht zu fürchten braucht. Wenn in derselben Person oder der gleichen Die willentliche Bürgerschaft obrigkeitlichen Körperschaft die gesetzgebende Gewalt mit der vollziehenden vereinigt ist, gibt »Es muß eine Gesellschaftsform gefunden weres keine Freiheit; denn es steht zu befürchten, den, die mit der gesamten gemeinsamen Kraft daß derselbe Monarch oder derselbe Senat aller Mitglieder die Person und die Habe eines tyrannische Gesetze macht, um sie tyrannisch zu jeden einzelnen Mitglieds verteidigt und bevollziehen. Es gibt ferner keine Freiheit, wenn schützt; in der jeder einzelne, mit allen verbündie richterliche Gewalt nicht von der gesetzge- det, nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt benden und vollziehenden getrennt ist. Ist sie wie zuvor.« Das ist das Grundproblem, das der mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, so Gesellschaftsvertrag löst. wäre die Macht über Leben und Freiheit der BürDie Bedingungen dieses Vertrages sind durch ger willkürlich, weil der Richter Gesetzgeber die Natur seines Zustandekommens so genau wäre. Wäre sie mit der vollziehenden Gewalt festgelegt, daß die geringste Änderung sie null verknüpft, so würde der Richter die Macht eines und nichtig macht. (...) Richtig verstanden, lasUnterdrückers haben. Alles wäre verloren, wenn sen sich diese Bedingungen auf eine einzige derselbe Mensch oder die gleiche Körperschaft zurückführen: die vollständige Überäußerung der Großen, des Adels oder des Volkes diese drei eines jeden Mitglieds mit all seinen Rechten an Gewalten ausüben würde: die Macht, Gesetze zu die Gemeinschaft. (S. 73) geben, die öffentlichen Beschlüsse zu vollstreAlles Unwesentliche weggelassen, läßt sich cken und die Verbrechen oder die Streitsachen der Gesellschaftsvertrag auf folgende Begriffe der einzelnen zu richten. (S. 214f.) zurückführen: Jeder von uns unterstellt gemeinAus diesen drei Gewalten müßte ein Zustand schaftlich seine Person und seine ganze Kraft der
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höchsten Leitung des Gemeinwillen [volonte generale], und wir empfangen als Körper jedes Glied als unzertrennlichen Teil des Ganzen. Im gleichen Augenblick entsteht aus dieser Vergesellschaftung, anstelle des einzelnen Vertragspartners, ein Moral- und Kollektivkörper, der aus so vielen Mitgliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat; aus diesem Akt hat er seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen. (...) Er wird von seinen Mitgliedern Staat genannt, wenn er passiv ist, souverain [Herrschaft], wenn er aktiv ist, und Macht im Vergleich mit seinesgleichen. Die Teilhaber heißen in der Gemeinschaft Volk und als einzelne Bürger [citoyens], wenn sie an der Staatsautorität teilhaben, und Untertanen [sujets], wenn sie den Staatsgesetzen unterworfen sind. Aus der obigen Formulierung ersieht man, daß der Akt der Vergesellschaftung eine wechselseitige Verpflichtung zwischen dem Gemeinwesen und dem einzelnen beinhaltet, und daß jedes Individuum, das gewissermaßen mit sich selbst einen Vertrag schließt, in doppelter Weise verpflichtet ist: einmal als Mitglied des Souverän gegenüber den Einzelindividuen und als Mitglied des Staates gegenüber dem Souverän. (S. 74 f.) Damit dieser Gesellschaftsvertrag keine leere Form bleibe, muß er stillschweigend folgende Verpflichtung beinhalten, die den anderen Verpflichtungen allein Gewicht verleiht: Wer dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert, muß durch den ganzen Körper dazu gezwungen werden. Das heißt nichts anderes, als daß man ihn dazu zwingt, frei zu sein. Die Hingabe eines jeden Staatsbürgers an das Vaterland ist die Bedingung, die den Bürger vor jeder persönlichen Abhängigkeit beschützt. Eine Bedingung, die den Kunstgriff und das Spiel der Staatsmaschine ausmacht und die allein die staatsbürgerlichen Verpflichtungen gesetzlich macht, ohne die sie unsinnig und tyrannisch und größten Mißbräuchen ausgesetzt wären. (S. 77 f.)
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Aus: Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, in: ders., Politische Schriften 1, hg. von Ludwig Schmidts, Paderborn 1977, Buch 1, Kap. 6 - 7 .
THOMAS PAINE Verfassungsmäßige Regierung Man hat durch den Satz, daß die Regierung ein Vertrag zwischen den Herrschern und den Beherrschten sei, einen großen Schritt zur Bestimmung der Grundsätze der Freiheit zu tun geglaubt; allein dieser Satz kann nicht wahr sein, weil er die Wirkung vor die Ursache setzt; Menschen müssen gelebt haben, ehe Regierungen existierten; es gab also eine Zeit, wo keine Regierungen vorhanden waren, und folglich konnte es ursprünglich keine Herrscher geben, mit welchen ein solcher Vertrag sich schließen ließ. Folglich schlossen die einzelnen Glieder selbst, jedes vermöge seines persönlichen und unumschränkten Rechtes, den Vertrag miteinander, eine Regierungsform zu errichten; und dieses ist die einzige Art, wie Regierungen rechtmäßig entstehen (...) Um uns einen klaren Begriff von dem, was die Regierung ist oder sein sollte, zu verschaffen, müssen wir bis zu ihrem Ursprung zurückgehen. Auf diesem Wege finden wir sogleich, daß Regierungen entweder aus dem Volke oder über dem Volk entstanden sein müssen. Herr Burke hat keinen Unterschied gemacht. Er verfolgt kein Ding bis zu seiner Quelle und wirft daher alles durcheinander; doch aber hat er seine Absicht erklärt, künftig einmal eine Vergleichung zwischen den Konstitutionen von Frankreich und England anzustellen (.. .) Vorher aber ist es notwendig zu bestimmen, was wir unter einer Konstitution verstehen. Es ist nicht genug, das Wort anzunehmen; man muß auch einen bestimmten Sinn damit verbinden. Eine Konstitution ist nicht nur ein Etwas
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dem Namen, sondern auch der Sache nach. Sie hat keine eingebildete, sondern eine wirkliche Existenz, und wo sie nicht in sichtlicher Gestalt vorgezeigt werden kann, findet sich auch keine. Eine Konstitution ist ein Etwas, das der Regierung vorherging, und die Regierung ist nur das Geschöpf der Konstitution. Die Konstitution eines Landes ist nicht das Werk der Regierung, sondern des Volkes, das eine Regierung einsetzte. Sie ist der Inbegriff der Bestandteile, worauf man sich beziehen, woraus man jeden Punkt herleiten kann. Sie enthält die Grundsätze, worauf die Regierung gegründet, die Art wie sie besetzt werden soll, ihre Macht (usf.) (...) mit einem Wort alles, was sich auf die vollständige Einrichtung einer bürgerlichen Regierung und auf die Grundsätze, wonach sie verfahren und woran sie gebunden sein soll, bezieht. Die Konstitution ist also gegen die Regierung, was die nachher von dieser Regierung abgefaßten Gesetze gegen einen Gerichtshof sind. Der Gerichtshof gibt die Gesetze nicht, und ebensowenig kann er sie verändern; er verfahrt nur nach diesen gegebenen Gesetzen, und auf eben die Art steht die Regierung unter der Konstitution. (...) Herr Burke sagte in einer Rede (...), daß damals, als die Nationalversammlung zuerst in drei Klassen zusammenkam, Frankreich eine gute Konstitution besessen hätte. Dieses ist einer mehr von den unzähligen Beweisen, daß Herr Burke nicht versteht, was eine Konstitution ist. Die so versammelten Personen waren keine Konstitution, sondern eine Konvention, um eine Konstitution zu machen. Die gegenwärtige Nationalversammlung von Frankreich ist, genau zu reden, der personifizierte gesellige Vertrag. Die Glieder derselben sind die Abgeordneten der Nation in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit, die zukünftigen Versammlungen werden die Abgeordneten der Nation in ihrer organisierten Verfassung sein (...) Die Gewalt der gegenwärtigen besteht darin, eine Konstitution zu gründen; die Gewalt der zukünftigen wird darin bestehen, nach den in
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dieser Konstitution vorgeschriebenen Grundsätzen und Formen Gesetze zu geben; und wenn in der Folge die Erfahrung zeigen sollte, daß Veränderungen, Verbesserungen oder Zusätze notwendig sind, so wird die Konstitution Mittel anweisen, wodurch diese Dinge geschehen sollten, und sie nicht der willkürlichen Macht der künftigen Regierung überlassen. Eine Regierung nach den Grundsätzen, auf welche die durch Konstitution bestimmten, aus der Gesellschaft entstandenen Regierungen gegründet sind, kann nicht das Recht haben, sich selbst zu verändern. Hätte sie es, so würde sie willkürlich sein. Sie könnte sich selbst zu dem machen, was ihr gefiele, und wo ein solches Recht eingeführt ist, kann keine Konstitution sein (...). (S. 84-88). Aus: Thomas Paine, Die Rechte des Menschen, in der zeitgenössischen Übertragung von M. Forkel, bearbeitet und eingeleitet von Theo Stemmler, Frankfurt/M. 1973.
ALEXANDER HAMILTON Der Verfassungsstaat Unter einer eingeschränkten Verfassung verstehe ich eine solche, die die Vollmachten der Legislative in bestimmten, einzeln aufgeführten Fällen beschränkt; daß sie beispielsweise keine Proskriptionsgesetze, keine Gesetze mit rückwirkender Kraft usw. erlassen darf. Einschränkungen dieser Art können in der Praxis auf keinem anderen Weg aufrechterhalten werden als durch Gerichtshöfe, deren Pflicht es sein muß, alle Beschlüsse, die dem manifesten Inhalt der Verfassung zuwiderlaufen, für null und nichtig zu erklären. Ohne eine solche Regelung wären alle Vorbehalte in bezug auf bestimmte Rechte oder Privilegien bedeutungslos. Hinsichtlich des Rechtes der Gerichtshöfe,
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Beschlüsse der Legislative für null und nichtig zu erklären, wenn sie im Widerspruch zur Verfassung stehen, ist einige Verwirrung entstanden, weil man gemeint hat, dies würde eine Überlegenheit der Judikative gegenüber der Legislative bedeuten. Man hat behauptet, daß die Autorität, die die Beschlüsse einer anderen für nichtig erklären kann, deijenigen, der dies geschieht, notwendig überlegen sein muß. (...) Es gibt wohl keine Position, die auf einleuchtenderen Grundsätzen beruht als die, daß jeder Beschluß einer mit Vollmacht handelnden Autorität, der dem Inhalt des Auftrags, unter dem sie handelt, widerspricht, nichtig ist. Daher kann kein Beschluß der Legislative, der im Widerspruch zur Verfassung steht, gültig sein. Dies zu leugnen, hieße zu behaupten, der Beauftragte stünde über dem Auftraggeber, der Diener über seinem Herren, der Vertreter des Volkes sei dem Volk selbst übergeordnet und Männer, die kraft der ihnen verliehenen Befiignisse handeln, dürften nicht bloß tun, wozu sie ihre Befugnisse gar nicht autorisieren, sondern sogar das, was diese verbieten. Wenn nun behauptet werden sollte, die Legislativkörperschaft selbst sei die verfassungsmäßige Richterin über ihre eigenen Befugnisse, und die Auslegung, die sie ihnen gibt, sei auch für die anderen Regierungszweige bindend, dann könnte man darauf antworten, daß dies nicht einfach angenommen werden kann, da das keiner einzigen Bestimmung in der Verfassung zu entnehmen ist. Man kann auch nicht davon ausgehen, die Verfassung könnte beabsichtigt haben, die Vertreter des Volkes dazu in die Lage zu versetzen, ihren Willen an die Stelle des Willens ihrer Wähler zu setzen. Es ist weitaus vernünftiger anzunehmen, daß die Gerichtshöfe als eine vermittelnde Körperschaft zwischen dem Volk und der Legislative gedacht waren, um unter anderem - die Legislative innerhalb der Grenzen zu halten, die ihrer Autorität gesetzt sind. Die Auslegung der Gesetze ist die den Gerichten eigene und angemessene Aufgabe.
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Eine Verfassung ist faktisch ein grundlegendes Gesetz und muß von den Richtern auch als solches betrachtet werden. (...) Wenn es zwischen beiden einen unvereinbaren Widerspruch geben sollte, sollte natürlich das, was übergeordnete Verbindlichkeit und Gültigkeit besitzt, den Vorrang haben; oder in anderen Worten: Die Verfassung sollte Vorrang vor dem Gesetz, die Absicht des Volkes Vorrang vor der Absicht seiner Vertreter haben. Auch diese Schlußfolgerung unterstellt keineswegs, daß die richterliche Gewalt der gesetzgebenden überlegen ist. Sie geht nur davon aus, daß die Macht des Volkes beiden überlegen ist und daß dann, wenn der in ihren Gesetzen zum Ausdruck gebrachte Wille der Legislative im Widerspruch zu dem in der Verfassung zum Ausdruck gebrachten Willen des Volkes steht, die Richter sich eher von letzterem als von ersterem leiten lassen sollten. Sie sollten sich in ihren Entscheidungen eher an die fundamentalen Gesetze halten als an jene, die nicht fundamental sind. (S. 456-458) Aus: Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die Federalist Papers, übersetzt, eingel. und mit Anmerkungen versehen von Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993, Federalist No. 78, S. 454-462.
EMMANUEL JOSEPH SIEYES Der nationale Verfassungsstaat Was die Verfassung ist: Die Verfassung umfaßt die innere Organisation und das innere Gefüge der verschiedenen öffentlichen Gewalten, ihre notwendige Verbindung und ihre gegenseitige Unabhängigkeit. Schließlich erstreckt sie sich noch auf die politischen Vorsichtsmaßregeln, mit denen man die Gewalten klugerweise umgibt, damit sie
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stets Nutzen hervorbringen und niemals gefährlich werden können. Das ist die wahre Bedeutung des Wortes Verfassung; sie bezieht sich auf das Gefiige und auf die Trennung der öffentlichen Gewalten. Nicht die Nation, sondern ihre politische Gewalt wird durch die Verfassung begründet. Die Nation ist das Ganze der verbundenen Glieder, die alle vom Gesetz, dem Werk ihres Willens, regiert werden, und ihm unterworfen sind, die alle in ihren Rechten gleich und in ihrem Umgang und in ihren wechselseitigen Verbindungen frei sind. Im Gegensatz dazu bilden die Regierenden in dieser einzigen Hinsicht eine von der Gesellschaft geschaffene politische Körperschaft. Jede Körperschaft aber muß organisiert, begrenzt usw. und folglich auch konstitutiert werden. Um es zu wiederholen: die Verfassung eines Volkes ist also und kann nur sein die Verfassung seiner Regierung und der Gewalt, die beauftragt ist, dem Volk wie der Regierung Gesetze zu geben. Eine Verfassung setzt vor allem eine verfassungsgebende Gewalt voraus. Verfassungsgebende Gewalt und von der Verfassung gegebene Gewalten: Die in der öffentlichen Gewalt zusammengefaßten Gewalten sind allesamt Gesetzen, Regeln und Formen unterworfen, über deren Änderung sie nicht gebieten können. Da sie sich nämlich nicht selbst konstituieren konnten, können sie auch nicht ihre Verfassung ändern, ebensowenig wie sie etwas über die Verfassung der anderen vermögen. Die verfassungsgebende Gewalt kann in dieser Beziehung alles. Sie ist nicht von vornherein einer bereits gegebenen Verfassung unterworfen. Die Nation, die damit ihre höchste und wichtigste Gewalt ausübt, muß in dieser Funktion von jeglichem Zwang und jeglicher Form, ausgenommen deqenigen, die sie annehmen will, frei sein. Es ist indes nicht notwendig, daß die Glieder der Gesellschaft persönlich die verfassungsgebende Gewalt ausüben, sie können vielmehr ihr Vertrauen Stellvertretern schenken, die sich
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allein zum Zweck der Verfassungsgebung versammeln, ohne selbst irgendwelche Befugnisse der bereits errichteten Gewalten ausüben zu können. (S. 250) Aus: Emmanuel Joseph Sieyes, Einleitung zur Verfassung, in: ders., Politische Schriften 1788-1790, hg. von Eberhard Schmitt und Rolf Reichardt, 2. Aufl., München und Wienl981, S. 239-257.
IMMANUEL KANT Gesellschaftsvertrag als regulative Idee der Vernunft Unter allen Verträgen, wodurch eine Menge von Menschen sich zu einer Gesellschaft verbindet (pactum sociale) ist der Vertrag der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung unter ihnen (pactum unionis civilis) von so eigentümlicher Art, daß, ob er zwar in Ansehung der Ausführung vieles mit jedem anderen (...) gemein hat, er sich doch im Prinzip seiner Stiftung (constitutionis civilis) von allen anderen wesentlich unterscheidet. Verbindung vieler zu irgend einem (gemeinsamen) Zweck (den alle haben) ist in allen Gesellschaftsverträgen anzutreffen; aber Verbindung derselben, die an sich selbst Zweck ist (den ein jeder haben soll), mithin die in einem jeden äußeren Verhältnis der Menschen überhaupt, welche nicht umhin können, in wechselseitigen Einfluß auf einander zu geraten, unbedingte und erste Pflicht ist: eine solche ist nur in einer Gesellschaft, so fern sie sich im bürgerlichen Zustande befindet, d.i. ein gemeines Wesen ausmacht, anzutreffen. Der Zweck nun, der in solchem äußern Verhältnis an sich selbst Pflicht und selbst die oberste formale Bedingung (...) aller übrigen äußeren Pflichten ist, ist das Recht der Menschen unter öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine
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bestimmt und gegen jedes anderen Eingriff gesichert werden kann. (...) Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetz möglich ist; und das öffentliche Recht ist der Inbegriff der äußeren Gesetze, welche eine solche durchgängige Zusammenstimmung möglich machen. Da nun jede Einschränkung der Freiheit durch die Willkür eines anderen Zwang heißt: so folgt, daß die bürgerliche Verfassung ein Verhältnis freier Menschen ist, die (...) doch unter Zwangsgesetzen stehen: weil die Vernunft selbst es so will, und zwar die reine a priori gesetzgebende Vernunft, die auf keinen empirischen Zweck (dergleichen alle unter dem allgemeinen Namen Glückseligkeit begriffen worden) Rücksicht nimmt; (...) Der bürgerliche Zustand also, bloß als rechtlicher Zustand betrachtet, ist auf folgende Prinzipien a priori gegründet: 1. Die Freiheit jedes Gliedes der Sozietät, als Menschen. 2. Die Gleichheit desselben mit jedem anderen, als Untertan. 3. Die Selbständigkeit jedes Gliedes eines gemeinen Wesens, als Bürgers. (...) Die Freiheit als Mensch, deren Prinzip für die Konstitution eines gemeinen Wesens ich in der Formel ausdrücke: Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (...) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (...) nicht Abbruch tut. (...) Die Gleichheit als Untertan, deren Formel so lauten kann: Ein jedes Glied des gemeinen Wesens hat gegen jedes andere Zwangsrechte, wovon nur das Oberhaupt desselben ausgenommen ist (darum weil er von jenem kein Glied,
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sondern der Schöpfer oder Erhalter desselben ist); welcher allein die Befugnis hat zu zwingen, ohne selbst einem Zwangsrechte, gleich allen anderen Mitgliedern des gemeinen Wesen, unterworfen zu sein. Es ist aber alles, was unter Gesetzen steht, in einem Staate Untertan, mithin dem Zwangsrechte, gleich allen anderen Mitgliedern des gemeinen Wesens, unterworfen; einen einzigen (physische oder moralische Person), das Staatsoberhaupt, durch das aller rechtlicher Zwang allein ausgeübt werden kann, ausgenommen. Denn, könnte dieser auch gezwungen werden, so wäre er nicht das Staatsoberhaupt, und die Reihe der Unterordnung ginge aufwärts ins Unendliche. (S. 143 -147) Die Selbständigkeit (sibisufficientia) eines Gliedes des gemeinen Wesens als Bürgers, d.i. als Mitgesetzgebers. In dem Punkte der Gesetzgebung selbst sind alle, die unter schon vorhandenen öffentlichen Gesetzen frei und gleich sind, doch nicht, was das Recht betrifft, diese Gesetze zu geben, alle für gleich zu achten. Diejenigen, welche dieses Rechts nicht fähig sind, sind gleichwohl, als Glieder des gemeinen Wesens, der Befolgung dieser Gesetze unterworfen, und dadurch des Schutzes nach denselben teilhaftig; nur nicht als Bürger, sondern als Schutzgenossen. (...) Deijenige nun, welcher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger (citoyen, d.i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois). Die dazu erforderliche Qualität ist, außer der natürlichen (daß es kein Kind, kein Weib sei), die einzige: daß er sein eigener Herr (sui iuris) sei, mithin irgend ein Eigentum habe (...), welches ihn ernährt. (S. 150 f.) Hier ist nun ein ursprünglicher Kontrakt, auf den allein eine bürgerliche, mithin durchgängig rechtliche Verfassung unter Menschen gegründet und ein gemeines Wesen errichtet werden kann. - Allein dieser Vertrag (contractus originarius oder pactum sociale genannt), als Koalition jedes besonderen und Privatwillens in einem Volk zu einem gemeinschaftlichen und öffentlichen Willen (zum Behuf einer bloß
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rechtlichen Gesetzgebung), ist keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig (ja als ein solches gar nicht möglich); gleichsam als ob allererst aus der Geschichte vorher bewiesen werden müßte, daß ein Volk, in dessen Rechte und Verbindlichkeiten wir als Nachkommen getreten sind, einmal wirklich einen solchen Actus verrichtet (...) haben müsse, um sich an eine schon bestehende bürgerliche Verfassung für gebunden zu achten. Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelbare (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Untertan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes. (S. 153)
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oder nicht, (wozu freilich die Realisierung jener Idee des ursprünglichen Vertrags notwendig vorausgesetzt werden muß). (S. 169 f.) Aus: Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders., Theorie-Werkausgabe, Bd. XI, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968.
BENJAMIN CONSTANT Verfassung als Freiheitsgarantie
Die Willkür ist also der Hauptfeind aller Freiheit, das Übel, das jede Institution zugrunde richtet, der Todeskeim, den nichts verändern, So wie allseitige Gewalttätigkeit und daraus nichts entkräften kann, den man vielmehr verentspringende Not endlich ein Volk zur Ent- nichten muß. Wenn man sich eine Institution schließung bringen mußte, sich dem Zwange, nicht ohne Willkür denken oder, nachdem man den ihm die Vernunft selbst als Mittel vor- sie erdacht hat, nicht ohne Willkür in Gang halschreibt, nämlich dem öffentlichen Gesetze zu ten kann, müßte man auf jede Institution verunterwerfen, und in eine staatsbürgerliche Ver- zichten, alles Denken aufgeben, sich dem Zufall fassung zu treten: so muß auch die Not aus den überlassen und je nach seinen Kräften nach beständigen Kriegen, in welchem wiederum tyrannischer Herrschaft trachten oder sich mit Staaten einander zu schmälern oder zu unterjo- ihr arrangieren. Doch wenn man sich ein heilsachen suchen, sie zuletzt dahin bringen, selbst mes Grauen vor der Willkür im Innersten zu wider Willen, entweder in eine weltbürgerliche eigen macht, muß man sich andererseits auch Verfassung zu treten; oder, ist ein solcher davor hüten, fur Willkür zu halten, was keine ist. Zustand eines allgemeinen Friedens (...) auf Ich sehe, daß wohlgesinnte Leute diesen Irrtum einer anderen Seite der Freiheit noch gefahrli- begehen und daraus auf die Notwendigkeit der cher, indem er den schrecklichsten Despotismus Willkür schließen. Sie verwechseln Willkür mit herbei führt, so muß sie diese Not doch zu einem jedem Spielraum, den man dem Wirken der Zustande zwingen, der (...) aber doch ein recht- Regierung zugesteht, selbst dann, wenn dieser licher Zustand der Föderation nach einem Spielraum begrenzt ist, und fallen abwechselnd gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht ist in zwei Extreme. Entweder wollen sie ihr jeden (...) Daß ein jeder Staat in seinem Inneren so Spielraum versagen: Weil jeder Spielraum fehlt, organisiert werde, daß nicht das Staatsober- steht dann die Maschine still. Dann verfallen sie haupt, dem der Krieg (...) eigentlich nichts kos- in das andere Extrem: Sie gewähren einen unbetet, sondern dem Volk, dem er selbst kostet, die grenzten Spielraum, und die Maschinerie fällt entscheidende Stimme habe, ob Krieg sein solle auseinander, weil keine Bindungen mehr die Tei-
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le zusammenhalten. Drei Verfassungen hat Frankreich erhalten, und noch immer, so scheint es mir, hat man keine ganz klare Vorstellung von dem, was eine Verfassung eigentlich ist, noch von der Art der Achtung, die man ihr schuldet. (...) Eine Verfassung ist die Garantie für die Freiheit des Volkes; infolgedessen ist alles, was auf Freiheit zielt, verfassungsgemäß und ebenso alles, was nicht auf sie hin angelegt ist, auch nicht verfassungsgemäß. Eine Verfassung auf alles auszudehnen bedeutet, aus allem Gefahren für sie zu bereiten, Klippen zu schaffen, mit denen man sie umgibt. Es gibt breite Grundlagen, an die keine der politischen Instanzen der Nation rühren darf. Aber vereinigt können diese politischen Instanzen alles tun, was diesen Grundlagen nicht widerspricht. (...) Man hüte sich davor, eine Verfassung so eng zu halten, daß sie alle Bewegungen behindert, die durch die Umstände notwendig werden können. Sie muß sie alle umfassen, doch nicht einengen; sie muß ihnen Grenzen setzen, aber sie nicht knebeln. (S. 196-199) Aus: Benjamin Constant, Über politische Reaktion, in: ders., Werke in vier Bänden, hg. von Axel Blaeschke und Lothar Gall, Bd. 3: Politische Schriften, Berlin 1972, S. 119-202. Was vor Willkür schützt, ist die Beobachtung der Rechtsformen. Diese Rechtsformen sind die Schutzgottheiten der menschlichen Gemeinschaften; sie allein sind die Hüterinnen der Unschuld, sie allein die mögliche Grundlage der Beziehungen der Menschen untereinander. Alles andere liegt im dunkeln, ist dem Gewissen des einzelnen, dem Schwanken der Meinung ausgesetzt. Allein die Rechtsformen liegen deutlich zutage, an sie allein kann der Bedrängte sich halten. (S. 221) Aus: Benjamin Constant, Grundprinzipien der Politik, die auf alle repräsentati-
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ven Regierungssysteme und insbesondere auf die gegenwärtige Verfassung Frankreichs angewandt werden können, in: ders., Werke in vier Bänden, hg. von Axel Blaeschke und Lothar Gall, Bd. 4: Politische Schriften, Berlin 1972, S. 9 - 244.
JOHN MARSHALL Der Vorrang der Verfassungsgerichtsbarkeit vor der Legislative Es ist ausdrücklich Aufgabe und Pflicht der Justiz, zu sagen, was Recht ist. Diejenigen, welche die Norm bei verschiedenen Fällen anwenden, müssen sie notwendigerweise erläutern und interpretieren. Wenn zwei Gesetze miteinander kollidieren, so müssen die Gerichte über den Wirkungskreis beider entscheiden. Das ist der Fall, wenn ein Gesetz zur Verfassung im Widerspruch steht, wenn sowohl das Gesetz als auch die Verfassung auf einen bestimmten Fall anwendbar sind, so daß das Gericht entweder entscheiden muß, ob der Fall mit dem Gesetz übereinstimmt - ungeachtet der Verfassung oder unter Außerachtlassung des Gesetzes mit der Verfassung übereinstimmt. Das Gericht muß bestimmen, welche der miteinander kollidierenden Vorschriften für den Fall zutrifft. Das ist das eigentliche Wesen richterlicher Pflicht. Wenn daher die Gerichte die Verfassung beachten müssen und die Verfassung über jedem gewöhnlichen Gesetz der Legislative steht, so ist die Verfassung und nicht ein derartiges Gesetz für den Fall, auf den beide zutreffen, entscheidend. Diejenigen, die das Prinzip bestreiten, daß die Verfassung vor Gericht als höchstes Recht beachtet werden muß, müssen die Notwendigkeit anerkennen, daß die Gerichte vor der Verfassung ihre Augen schließen und nur das Gesetz sehen müssen. Diese Doktrin würde das gesamte Fundament aller geschriebenen Verfas-
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sungen untergraben. Das würde bedeuten, daß ein Gesetz, das nach den Grundsätzen und der Theorie unserer Regierungsform ungültig ist, in der Praxis für gültig erklärt wird. Das würde bedeuten, daß, wenn die gesetzgebende Körperschaft dasjenige tut, was ausdrücklich verboten ist, ein solches Gesetz, ungeachtet des ausdrücklichen Verbots, in Wirklichkeit gültig ist. Das gäbe der Legislative im gleichen Atemzug sowohl eine praktische und wirkliche Alleinherrschaft als auch eine Beschränkung ihrer Gewalt. Das hieße, Grenzen vorzuschreiben und zu erklären, daß diese nach Belieben überschritten werden dürfen. (S. 41 f.) Aus: Chief Justice John Marshall, Marbury versus Madison 5 U.S. [1 Cranch] 137, deutscher Text in: Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem. Quellenbuch, Köln und Opladen 1960, S. 38-43.
EMILE DÜRKHEIM Kritik der Idee eines Gesellschaftsvertrages Die Hypothese eines sozialen Vertrags ist im Gegenteil mit dem Prinzip der Arbeitsteilung unvereinbar. Je höher man dieses Prinzip einschätzt, desto mehr muß man auf Rousseaus Postulat verzichten. Damit ein solcher Vertrag möglich ist, müßten von einem bestimmten Zeitpunkt an alle Menschen über die gemeinsamen Grundlagen der sozialen Organisation einig sein und jeder einzelne müßte sich das politische Problem in seiner ganzen Allgemeinheit stellen. Dazu müßte aber jeder aus seinem Sonderbereich heraustreten, und alle zusammen müßten die gleiche Rolle spielen, die Rolle des Staatsmanns und des Staatsbürgers. Stellen wir uns den Augenblick vor, wo sich die Gesellschaft
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durch den Vertrag bildet: Ist die Zustimmung einstimmig, dann ist das Bewußtsein aller identisch. In dem Maß also, in dem die soziale Solidarität aus einer derartigen Ursache kommt, hat sie keine Beziehung zur Arbeitsteilung (...) [Wie Spencer geht Dürkheim davon aus,] daß das soziale Leben, wie das Leben im allgemeinen, natürlich nur organisiert werden kann durch eine unbewußte und spontane Anpassung, unter dem gleichzeitigen Druck der Bedürfnisse, und nicht nach einem überlegten, intelligenten Plan. Er denkt nicht, daß sich die höheren Gesellschaften nach einem feierlich verhandelten Plan aufbauen könnten. Daher ist die Auffassung des Gesellschaftsvertrags schwer zu verteidigen, denn sie ist ohne Beziehungen zu den Tatsachen. Der Beobachter begegnet ihr sozusagen nicht auf seinem Weg. Nicht nur, daß es keine Gesellschaften gibt, die einen derartigen Ursprung hätten, es gibt nicht einmal Gesellschaften, deren Struktur die geringste Spur einer Vertragsorganisation aufweisen, weder eine historische Tatsache noch eine Tendenz, die sich aus der historischen Entwicklung herausgelöst hätte. (...) Wenn die höheren Gesellschaften nicht auf einem Grundvertrag beruhen, der sich auf die allgemeinen Prinzipien des politischen Lebens bezieht, dann hätten sie (...) als einzige Basis das Riesensystem der Privatverträge, das die Menschen untereinander verbindet. Die Individuen dagegen würden von der Gruppe nur in dem Maß abhängen, in dem sie untereinander abhängen, und sie hängen in dem Maße voneinander ab, das von den privat und freiwillig zugestandenen Abmachungen gekennzeichnet ist. Die soziale Solidarität wäre also nichts anderes als die spontane Übereinstimmung der individuellen Interessen, eine Übereinstimmung, deren natürlicher Ausdruck die Verträge sind. Der Typ der sozialen Beziehungen wäre die wirtschaftliche Beziehung, frei von jeder Reglementierung, so wie sie aus der völlig freien Initiative der Parteien erwachsen ist (...) Ist das tatsächlich der Charakter der Gesellschaften, deren
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Einheit aus der Arbeitsteilung kommt? Wenn es so wäre, dann könnte man wirklich an ihrer Stabilität zweifeln. Denn wenn das Interesse die Individuen auch näher bringt, so doch nur fiir einige Augenblicke; es kann aber zwischen ihnen nur ein äußerliches Band knüpfen (...) Wenn man tiefer schaut, dann sieht man, daß jede Interessenharmonie einen schlummernden oder einfach vertagten Konflikt verdeckt. Wo aber das Interesse allein regiert, ist jedes Ich, da nichts die einander gegenüberstehenden Egoismen bremst, mit jedem anderen auf Kriegsfuß, und kein Waffenstillstand kann diese ewige Feindschaft auf längere Zeit unterbrechen. Das Interesse ist in der Tat das am wenigsten Beständige auf der Welt. (S. 241 -243) Aus: Emile Dürkheim, Über die Teilung der Arbeit, eingeleitet von Niklas Luhmann, übersetzt von Ludwig Schmidts, Frankfurt/M. 1977.
GEORG JELLINEK Wandlungsfähigkeit der Verfassung durch Revolution und Notwendigkeit Die Theorie schreibt dem souveränen Staate unbegrenzte Willensmacht zu. Daher kann er auch seine Verfassung nach Gutdünken ändern, aufheben, eine andere an deren Stelle setzen. Und nicht etwa nur auf dem Wege des Rechtes. Die Verfassung eines Staates kann durch Gewalt eine totale Umwälzung erleiden. Jede Revolution zielt auf Verfassungsänderung. Da es über dem Staate keine Macht gibt, die solche Umwälzungen, mögen sie aus den Höhen oder den Tiefen kommen, ungeschehen machen kann, so schafft jede gelungene Revolution neues Recht. (S. 3) Omne ius aut consensus fecit, aut necessitas constituit, aut firmavit consuetudo. Von der
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necessitas, die Modestin als rechtschöpfende Macht anfuhrt, ist in unseren Lehren von den Rechtsquellen wenig die Rede. Und doch spielt sie in dem Leben der Verfassungen eine ungeheure Rolle. Alle jene geschichtlichen Ereignisse, die außerhalb des Rechtes die Fundamente des Staates umwühlen, schaffen eine solche necessitas. Usurpationen und Revolutionen rufen überall Zustände hervor, in denen Recht und Faktum, sonst voneinander streng zu scheiden, ineinander übergehen. Das fait accompli, die vollendete Tatsache, ist eine historische Erscheinung von verfassungsbildender Kraft, gegen welche alles Ankämpfen der Legitimitätstheorien ohnmächtiges Beginnen ist. Aber nicht nur in den großen Wendepunkten der Staatengeschichte, auch im Laufe des normalen Staatenlebens kann diese necessitas in überraschender Weise hervortreten und die staatliche Organisation gegen den Buchstaben der Verfassung wandeln. In voller Klarheit kann man diese merkwürdige Erscheinung bei völliger Neuschöpfung von Verfassungen studieren, da alle menschliche Voraussicht nicht imstande ist, die tatsächliche Ausgestaltung neuer, noch nicht erprobter Einrichtungen zu bestimmen. Sehr oft wird in solchen Fällen die geplante Institution durch übersehene oder unvorhergesehene Umstände, und zwar vielleicht sofort oder in kurzer Zeit, ohne jeden Wechsel der davon betroffenen Gesetzestexte eine möglicherweise tiefgehende Wandlung erfahren. (S. 21) Aus: Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Berlin 1906.
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RUDOLF SMEND Verfassung als Integration Die Verfassung ist die Rechtsordnung des Staates, genauer des Lebens, in dem der Staat seine Lebenswirklichkeit hat, nämlich seines Integrationsprozesses. Der Sinn dieses Prozesses ist die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates, und die Verfassung ist die gesetzliche Normierung einzelner Seiten dieses Prozesses. Der Staat lebt natürlich nicht nur von den in der Verfassung geregelten Lebensmomenten: die Verfassung selbst muß zu ihrer Ergänzung, um überhaupt in politisches Leben umgesetzt zu werden, auf die Triebgrundlagen dieses Lebens und die ganze sonstige Fülle sozialer Motivierungen rechnen. Aber auch die von ihr selbst geregelten Lebensfunktionen des Staates kann sie nicht vollständig erfassen: auch diese kommen, wie alles politische Leben, aus der Totalität der Einzelpersönlichkeit und wirken in jedem Augenblick zu der überpersönlichen Totalität des Staates zusammen. Eine solche Lebensfülle kann von wenigen, noch dazu meist recht schematischen, auf immer neuen Rezeptionen aus dritter und vierter Hand beruhenden Verfassungsartikeln nicht voll erfaßt und normiert, sondern nur angedeutet und, was ihre integrierende Kraft angeht, angeregt werden. Ob und wie aus ihnen der aufgegebene Erfolg befriedigender Integration hervorgeht, hängt von der Auswirkung aller politischen Lebenskräfte des Volksganzen überhaupt ab. Dieser aufgegebene Erfolg mag dabei vom politischen Lebensstrom vielfach in nicht genau verfassungsmäßigen Bahnen erreicht werden: dann wird die durch die Wertgesetzlichkeit des Geistes wie durch die Artikel der Verfassung aufgegebene Erfüllung der Integrationsaufgabe trotz dieser einzelnen Abweichungen dem Sinn auch der Verfassung eher entsprechen als ein paragraphentreues, aber im Erfolge mangelhafteres Verfassungsleben. Es ist also der Sinn der Verfassung selbst, ihre
Intention nicht auf Einzelheiten, sondern auf die Totalität des Staates und die Totalität seines Integrationsprozesses, die jene elastische, ergänzende, von aller sonstigen Rechtsauslegung weit abweichende Verfassungsauslegung nicht nur erlaubt, sondern sogar fordert. (S. 189 f.) Aus: Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsgesetz, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 1968, S. 119 ff.
HANNAH ARENDT Der Staat zwischen Macht und Gewalt Nun ist allerdings die Versuchung, sich in der Bestimmung des Wesens der Macht an den Kategorien des Gehorchens und Befehlens zu orientieren, besonders groß, wenn es sich um die Staatsmacht handelt, also um einen speziellen Fall von Macht. Da die Gewalt sowohl in der Außen- wie in der Innenpolitik immer als letzter Ausweg des Handelns miteinkalkuliert ist und infolgedessen als der letztlich entscheidende Schutz der Machtstruktur gegen alle entschlossenen Gegner erscheint - gegen den Feind von Außen und den Verbrecher im Innern - , kann es wirklich so aussehen, als sei Gewalt die Vorbedingung von Macht, und Macht nichts anderes als eine Fassade, hinter der die Gewalt sich verbirgt, der Samthandschuh, unter dem sich entweder die eiserne Faust oder eine Art Papiertiger befindet. (S. 48) Es hat nie einen Staat gegeben, der sich ausschließlich auf Gewaltmittel hätte stützen können. Selbst die totale Herrschaft, deren wesentliche Herrschaftsmittel Konzentrationslager, Polizeiterror und Folter sind, bedarf einer Machtbasis, die in diesem Fall von der Geheimpolizei und einem Netz von Spitzeln gestellt wird. (...) Selbst das despotischste Regime, das wir kennen, die Herrschaft über Sklaven, die
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ihre Herren an Zahl immer übertrafen, beruhte nicht auf der Überlegenheit der Gewaltmittel als solchen, sondern auf der überlegenen Organisation der Sklavenhalter, die miteinander solidarisch waren, also auf Macht. (S. 51) Macht bedarf keiner Rechtfertigung, da sie allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent ist. Hingegen bedarf sie der Legitimität. Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln, ihre Legitimität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt; sie stammt aus dem Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt. Ein Machtanspruch legitimiert sich durch Berufung auf die Vergangenheit, während die Rechtfertigung eines Mittels durch einen Zweck erfolgt, der in der Zukunft liegt. Gewalt kann gerechtfertigt, aber sie kann niemals legitim sein. Ihre Rechtfertigung wird um so einleuchtender sein, je näher das zu erreichende Ziel liegt. Niemandem kommt es in den Sinn, die Berechtigung von Gewalttätigkeit im Falle der Selbstverteidigung in Frage zu stellen, weil die Gefahr nicht nur evident sondern unmittelbar gegenwärtig ist (...) (S. 53) Aus: Hannah Arendt, Macht und Gewalt, 8. Aufl., München/Zürich 1993.
HANNAH ARENDT Die Gründung der Freiheit im Verfassungsstaat Die Bedeutung dieser Entwicklung [daß sich dem Unabhängigkeitskrieg Amerikas sogleich eine Phase der Verfassungsgebung anschloß] kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Denn das »Wunder«, das sich in diesem Zeitraum ereignete, war keineswegs, was damals den größten Eindruck machte, daß die Kolonien mächtig genug waren, den Krieg gegen das Mut-
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terland auszuhalten und zu gewinnen, sondern vielmehr, daß dieser Sieg nicht in einer Katastrophe der Zersplitterung, in »Verbrechen und Unheil (endete) (...), bis schließlich die erschöpften Provinzen unter das Joch irgendeines Eroberers fallen und in Sklaverei versinken würden« - wie John Dickinson mit Recht befürchtet hatte. So pflegen in der Tat Rebellionen zu enden, denen die Revolution nicht auf dem Fuße folgt, weshalb denn auch die meisten sogenannten Revolutionen dies Schicksal erwartet. [Dagegen muß man festhalten,] daß das Ziel einer Rebellion nur die Befreiung ist, während das Ziel der Revolution die Gründung der Freiheit ist. (...) [ZuTheorien, die aussagen, die Verfassung der USA sei Ergebnis der Konterrevolution] Das diesen Theorien zugrundeliegende MißVerständnis ist immer das gleiche: Man weigert sich, einen Unterschied zwischen Befreiung und Freiheit anzuerkennen, und übersieht daher, daß nichts vergänglicher und vergeblicher ist als eine Rebellion und eine Befreiung, die unfähig ist, die neu gewonnene Freiheit in angemessenen Institutionen und Verfassungen zu verankern. (S. 204 f.) Ferner sollte man sich hüten, die Verfassungen oder Grundgesetze, die eine nichtrevolutionäre Regierung erläßt, weil es sich herausgestellt hat, daß das Volk und die Revolution unfähig waren, eine neue Staatsform zu konstituieren, mit dem gleichen Namen [Konstitution] zu belegen und von ihnen die gleichen Resultate zu erwarten wie von jenen »Konstitutionen«, die entweder in den Worten Gladstones »das Ergebnis einer fortschrittlichen Geschichte« der Nation waren oder das Resultat der ungeheuren Anstrengung eines ganzen Volkes, einen neuen politischen Körper zu gründen (...) Was Macht und Autorität angeht, so besteht ein großer Unterschied zwischen der Verfassung, die eine Regierung ihrem Volke verleiht, und derjenigen, durch welche ein Volk eine Staatsform konstitutiert. Die von den Verfassungsjuristen entworfenen Konstitutionen, unter denen Europa nach
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dem Ersten Weltkrieg sich wieder restaurierte, waren größtenteils nach dem Modell der Amerikanischen Verfassung entworfen; und kümmert man sich um nichts als ihren Wortlaut, so ist schwer einzusehen, warum sie ihrer Aufgabe nicht gerecht werden sollten. De facto aber waren sie nicht nur »schon überholt, als sie in Kraft gesetzt wurden«; die Völker, denen sie gleichsam geschenkt worden waren, haben sie von Anbeginn mit Mißtrauen betrachtet und schwerlich mehr von ihnen gehalten als von anderen »Fetzen Papier«. (S. 208 f.)
HANNAH ARENDT Verzeihen und Versprechen als herausragende politische Handlungsformen
Ganz anders [als beim homo faber oder dem animal laborans] liegt der Fall des Handeln und der ihm eigentümlichen Verlegenheit. In diesem einzigen Fall erwächst das Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit und Unabsehbarkeit der von ihm begonnenen Prozesse nicht aus einer anderen und potentiell höheren Fähigkeit, sondern Will man die Amerikanische Verfassung ver- aus den Möglichkeiten des Handelns selbst. Das stehen, so darf man nie aus den Augen verlieren, Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit - dagegen, daß sie von vornherein zum Ziel hatte, Macht daß man Getanes nicht rückgängig machen neu zu etablieren - und nicht einfach Macht zu kann, obwohl man nicht wußte, und nicht wissen limitieren (...) Die amerikanische Verfassung konnte, was man tat - liegt in der menschlichen zeichnet sich vor allen anderen dadurch aus, daß Fähigkeit zu verzeihen. Und das Heilmittel sie die durch Revolution befreite Macht des Vol- gegen Unabsehbarkeit - und damit gegen die kes konsolidierte; und insofern die Freiheit das chaotische Ungewißheit alles Zukünftigen Ziel der Revolution ist, kann man sagen, daß das, liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben was Bracton constitutio libertatis, die Gründung und zu halten. Diese beiden Fähigkeiten gehören zusammen, insofern die eine sich auf die Verder Freiheit, genannt hat, sich hier ereignete. Zu glauben, daß die europäischen Nach- gangenheit bezieht und ein Geschehenes rückkriegsverfassungen des 20. oder ihre Vorgänger gängig macht, dessen »Sünde« sonst, dem im 19. Jahrhundert, die alle dem Mißtrauen Schwert des Damokles gleich, über jeder neuen gegen die Macht im allgemeinen und der Furcht Generation hängen und sie schließlich unter sich vor der revolutionären Macht des Volkes im begraben müßte; während die andere ein Bevorbesonderen ihr Dasein verdanken, die gleiche stehendes wie einen Wegweiser in die Zukunft Staatsform errichten konnten wie die amerikani- aufrichtet, in der ohne die bindenden Verspresche Verfassung, die der stolzen Überzeugung chen, welche wie Inseln der Sicherheit von den entsprang, ein neues Machtprinzip entdeckt zu Menschen in das drohende Meer des Ungewishaben, auf dem sich eine perpetual union grün- sen geworfen werden, noch nicht einmal irgendden läßt, heißt sich von bloßen Worten zum Nar- eine Kontinuität menschlicher Beziehungen möglich wäre, von Beständigkeit und Treue ren halten lassen. (S. 222 f.) ganz zu schweigen. (S. 23 f.) Aus: Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1965.
Aus: Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967.
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JOHN RAWLS Gerechtigkeitsgrundsätze als gesellschaftliche Grundstruktur Ich möchte eine Gerechtigkeitsvorstellung darlegen, die die bekannte Theorie des Gesellschaftsvertrages etwa von Locke, Rousseau und Kant verallgemeinert und auf eine höhere Abstraktionsebene hebt. Dazu darfman sich den ursprünglichen Vertrag nicht so vorstellen, als ob er in eine bestimmte Gesellschaft eingeführt würde oder eine bestimmte Regierungsform errichtete. Der Leitgedanke ist vielmehr, daß sich die ursprüngliche Übereinkunft auf die Gerechtigkeitsgrundsätze für die gesellschaftliche Grundstruktur bezieht. Es sind diejenigen Grundsätze, die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden. Ihnen haben sich alle weiteren Vereinbarungen anzupassen; sie bestimmen die möglichen Arten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit und der Regierung. Diese Betrachtungsweise der Gerechtigkeitsgrundsätze nenne ich Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß. (...) In der Theorie der Gerechtigkeit spielt die ursprüngliche Situation der Gleichheit dieselbe Rolle wie der Naturzustand in der herkömmlichen Theorie des Gesellschaftsvertrags. Dieser Urzustand wird natürlich nicht als ein wirklicher geschichtlicher Zustand vorgestellt, noch weniger als primitives Stadium der Kultur. Er wird als rein theoretische Situation aufgefaßt, die so beschaffen ist, daß sie zu einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung führt. Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, daß niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebensowenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an, daß die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psycholo-
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gischen Neigungen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt. Das gewährleistet, daß dabei niemand durch die Zufälligkeit der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in der gleichen Lage befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund der besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit das Ergebnis einer fairen Übereinkunft oder Verhandlung. (S. 27-29) Aus: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1988.
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3. Die Demokratie und ihre Gefahrdungen Unzweifelhaft steht die Demokratie im Zentrum der heutigen politikwissenschaftlichen Theoriebildung. Sie gilt als das institutionell wie normativ bevorzugenswerte Regierungssystem. Wie mit allen »Hochwertworten« in der politischen Sprache verbinden sich auch mit der Demokratie sowohl deskriptive als auch präskriptive Merkmale: Sie beschreibt einen politischen Tatbestand der Antike, Neuzeit und Moderne, und sie gibt zugleich Elemente vor, die für alle Politik in allen Ländern gelten sollen. Ferner kommt der Terminus auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Bereichen zum Tragen: Demokratie ist ein politischer Begriff der Regierungslehre ebenso wie ein Begriff der politischen Soziologie, der bestimmte Strukturen der Gesellschaft beschreiben will. Das gilt dann sowohl für die nationale Ebene des herkömmlichen Staates als auch oberhalb und unterhalb dessen: Es ist die Rede vom Demokratiedefizit supranationaler Einrichtungen wie der Europäischen Union und von der demokratiekonstituierenden Funktion zivilgesellschaftlicher Gebilde. Demokratie ist also ein äußerst komplexer Begriff, der zahlreiche Aspekte in sich aufnimmt und zu einem Gesamtkonzept zu vereinigen sucht. Darin spiegelt sich eine jahrhundertelange ideengeschichtliche und politiktheoretische Entwicklung, in welcher der lange Zeit überwiegend negativ konnotierte Begriff allmählich seine heutige positive Bedeutung erlangte. Bereits in der Antike äußerten zahlreiche Kritiker, Demokratie könne mit Aufruhr und Anarchie gleichgesetzt werden. Es bedurfte eines langen Prozesses ideengeschichtlicher Arbeit am Demokratiebegriff, bis er die heutige Stellung einnehmen konnte. Heute bezeichnet die Demokratie geradezu den Letzthorizont normativer und institutioneller Argumentation. Wer sich in modernen Debatten nicht erfolgreich gegen den Vorwurf wehren kann, undemokratisch zu sein oder zu denken, der wird rasch von dieser Debatte ausgeschlossen. Zahlreiche Aspekte, die in anderen Kapiteln und Abschnitten behandelt werden, fließen hier zusammen: der Staat der Vereinbarung und die Idee einer konstitutionellen Demokratie ebenso wie Überlegungen zur Repräsentation, zur modernen Gesellschaft, ja zum Wesen des Politischen selbst. Hinzu treten normative Gedankenkomplexe wie die Idee der Grund- und Menschenrechte und Überlegungen zu Freiheit und Gleichheit als Leitnormen sowie deren Binnenverhältnis. Überall dort ist auch von Demokratie die Rede, aber mit wechselnden Blickrichtungen. In diesem Abschnitt stehen zwei Fragekomplexe im Vordergrund: die politische Partizipation in der Demokratie und das Verhältnis von Demokratie und Öffentlichkeit sowie die aus beiden Komplexen resultierenden Gefahren für die Demokratie im Ganzen. Demokratie bedeutet Teilnahme der untereinander gleichen Bürger, so lautet das allgemein anerkannte Grundprinzip, das aber zahlreichen, insbesondere aus der Repräsentationstheorie
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herrührenden Einschränkungen ausgesetzt ist. Diese Einschränkungen wiederum fußen auf älteren Überlegungen zur begrenzten Politikfähigkeit der Demokratie, in welcher nun einmal alle Bürger gleich sind, das heißt auch: mit gleichem Stimmrecht ausgestattet sind ungeachtet ihrer tatsächlichen politischen Fähigkeiten. Die Überschätzung der Politikfahigkeit in Verbindung mit der Sorge, dass in großen Populationen die Partizipation der Bevölkerung demagogischen Wirkungen ausgesetzt ist, veranlasste die überwiegende Zahl der politischen Theoretiker zu mehr oder weniger weit reichenden Einschränkungen des direktdemokratischen Prinzips. In Jacob Talmon finden wir sogar die Kritik, dass direktdemokratische Ansprüche in Wahrheit prä-totalitär sind und daher grundsätzlich zurückgewiesen werden müssen. Solche Kritiken sind Reaktionen der politischen Theorie auf die Erfahrung des Totalitarismus gewesen. Die faschistischen und nationalsozialistischen Regime mussten ihre Herrschaft nicht gegen den Widerstand des Volkes durchsetzen, und ihre Behauptung, im Interesse des Volkes tätig zu sein, wurde jedenfalls zeitweilig geglaubt. Die Missbrauchskapazität des Demokratiebegriffs ist ähnlich hoch wie bei anderen Hochwertworten und muss keineswegs gegen den Begriff selbst sprechen. Die Missbräuchlichkeit kann im Falle der Demokratie aber auch als Ergebnis einer bestimmten Unklarheit des Prinzips gedeutet werden. Denn offensichtlich garantiert die bloße Überzahl der Stimmen nicht immer ein inhaltlich akzeptables Ergebnis, und offenkundig bedarf es institutioneller und normativer Einschränkungen des Grundprinzips, um die ihm innewohnenden Gefahren zu meistern. Unverkennbar liegt solchen theoretischen Überlegungen auch ein gewisser intellektueller Paternalismus zu Grunde, der mit der Ergebnisoffenheit der Volkssouveränität schwer verträglich ist. Das zeigt sich auch an der zweiten Säule, auf der die Demokratie ruht, der Öffentlichkeit. Zur Partizipation gehört die Teilnahme an der politischen Willensbildung im Medium der Öffentlichkeit, so wie umgekehrt die Partizipation großer und schließlich aller Teile der Bevölkerung zu einer Ausweitung der Deliberation politischer Fragen beigetragen hat. Die Öffentlichkeit ist immer auch ein Gegenmittel zur Neigung regierender Kreise, politische Probleme im Geheimen oder unter sich zu klären. In der Demokratie scheint nicht überall das Licht der Öffentlichkeit: Abstimmungen sind mit guten Gründen geheim, und Gerichte beraten »unter Ausschluss der Öffentlichkeit«. Die Geheimhaltung gehört durchaus zu den nützlichen Mitteln des Beratens und Verhandeins: Militärische Geheimnisse werden auch in Demokratien ungern veröffentlicht, und diplomatische Bemühungen um Konfliktbeilegung sind oft an die Bedingimg der Geheimhaltung der Beratungen geknüpft. Gleichwohl haftet dem Geheimnis der Charakter des Arkanums, des Geheimwissens nichtdemokratischer Sachverständiger an, die nicht nur besser wissen, was in der Politik zu tun ist, sondern die Gründe auch gerne unerörtert sehen. Auf der anderen Seite verbinden sich mit der Öffentlichkeit auch Hoffnungen bezüglich des Inhalts der öffentlichen Deliberation. Mit Immanuel Kants Forderung nach Publizität wird eine Argumentation eröffnet, in der die Öffentlichkeit als dasjenige Medium ausgezeichnet wird, in welchem am ehesten
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Vernunft zum Tragen kommt. Müssen die Gründe politischen Tuns offen gelegt werden, so sind die Handelnden auch gezwungen, ihre Handlungen zu begründen. Das kann bereits im Vorhinein dazu führen, Handlungen nur mit solchen Gründen vorzunehmen, die nicht nur vor demforum internum begründungsfähig sind, sondern auch der öffentlichen Kritik standhalten. Die Hoffnung, in der Öffentlichkeit finde am ehesten eine auch normativ anspruchsvolle Rationalität (im Gegensatz zur Zweckrationalität des Interesses) Eingang in die Beratungen, verbindet Jürgen Habermas im Anschluss an Kant mit der Demokratie. Dabei hatte Habermas zunächst selbst zu den schärfsten Kritikern der massenmedial steuerbaren Öffentlichkeit gezählt, Argumente aufnehmend, die in der amerikanischen Erforschung demokratischer Öffentlichkeiten etwa bei Walter Lippmann zum Tragen kommen. Massenmediale Öffentlichkeiten neigen zur Herausbildung von Stereotypen, um die Vielzahl möglicher Wahrnehmungen zu einem aufnahmefähigen, aber undifferenzierten Grad zu bündeln. Das macht jedoch eine mit sachlicher Tiefenschärfe operierende öffentliche Diskussion letztlich unmöglich und verleiht denjenigen Akteuren besondere Macht, die an der Bildung solcher Stereotypen mitwirken, was wesentlich auf die seinerzeit noch junge Erforschung der Werbekommunikation gemünzt war. Umgekehrt kann die Öffentlichkeit zum Medium eigenartiger Herrschaftstechniken zählen, wie etwa dem Populismus oder der Demagogie. Der Vorwurf, die Demokratie eröffne der Herrschaft desjenigen den Weg, der die Wahrheit am effektivsten schönreden kann und unverantwortlich dem Volke nach dem Munde redet, gehört zu den ältesten Kritikpunkten an der Demokratie. Mit der Öffentlichkeit sind also neue Gefahren verbunden. Denn die Offenheit des öffentlichen Beratungsprozesses schließt nicht nur die Durchlässigkeit für die Teilnahme aller Betroffenen an diesem Prozess ein, sondern auch die Ergebnisoffenheit. Selbst der glühendste Verteidiger der direkten Demokratie, Jean-Jacques Rousseau, gestand ein, dass das Volk in seiner Meinung irren kann, und einer der nachhaltig wirkendsten Demokratietheoretiker, Alexis de Tocqueville, analysierte zunächst die mit der Demokratie verbundenen Gefahren einer Tyrannei der Mehrheit, die zu gedanklichem Konformismus und damit letztlich zur Unterdrückung des freien Individuums führen muss. Zu den Voraussetzungen der demokratischen Öffentlichkeit gehört daher Mut, um mit dem amerikanischen Verfassungsrichter Brandeis, einem der vehementesten Verteidiger der völligen Meinungsfreiheit, zu sprechen: Mut, den Wert freier Rede nicht nur anhand aktueller Redebeiträge zu messen, sondern am Gesamtprozess. Damit ist nämlich die Hoffnung verbunden, dass die gleiche Offenheit der Rede, die auch unangenehme Vorschläge und Weltanschauungen zulassen muss, zugleich den heilsamen Gegenargumenten den Weg bereitet, die wiederum nur erwachsen können, wenn man den Meinungsbildungsprozess offen hält. Insofern ist der Mut zur offenen Diskussion für Brandeis die Voraussetzung der Demokratie. Er konkretisiert damit eine Überlegung, die Montesquieu in allgemeiner Form als Grundprinzip der Demokratie angesprochen hat: die Tugend der Bürger. Es sind bestimmte Fähigkeiten der Bürger erforderlich, um die besonderen Anforderungen
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der freiheitlichen Selbstregierung unter Gleichen zu erfüllen. Das leistet die Aristokratie mittels des Prinzips der Ehre. Hier liegt also eine andere Motivationsbasis für politisches Handeln vor: Die Furcht vor dem Verlust der Ehre oder der Ansporn, besondere Ehren zu erringen (Ruhm), stacheln das Handeln des Aristokraten an. Diese moralische Ressource des Handelns ist in Demokratien nicht in gleicher Weise gegeben und bedarf daher eines anderen intrinsischen Antriebs, den Montesquieu Tugend nennt. So verlangt auch Brandeis Mut, aber er kann nicht angeben (und es war auch nicht seine Aufgabe), woher dieser Mut stammt: Er wird seiner Ansicht nach von der Verfassung dem Bürger abverlangt. Die Frage der Tugendgenese beschäftigte Rousseau, der für gewöhnlich als Kontrahent Montesquieus firmiert, aber an dem Punkt der Tugend als Prinzip der Demokratie mit ihm übereinstimmt. Für ihn dient die politische Ordnung der Republik der Hervorbringung der Tugend, sei es durch Gesetze, sei es durch Erziehung. Wenn aber der Prozess der Tugendhervorbringung bei den Bürgern erst mit der funktionsfähigen Republik einsetzen kann, um die Menschen aus ihrem Zustand der Korruptivität, in den sie durch Monarchie und moderne gesellschaftliche Arbeitsteilung und Privatinteressenverfolgung geraten sind, so stellt sich die Frage, wie es überhaupt zu einer Republik kommen kann. Rousseaus Antwort, Überlegungen von Machiavelli aufgreifend, weist die Aufgabe der Gründung einem herausragenden Gesetzgeber zu. Noch in der Emphase, mit der Hannah Arendt von den »Männern der Revolution« spricht, kommt diese Begeisterung für die einzigartigen Persönlichkeiten zum Ausdruck. Von ihnen geht die Initiative aus, welche erst der Freiheit Dauerhaftigkeit verschafft. Dieses Argument verweist auf den besonderen Stellenwert der Revolution für die Gründung der Demokratie, insofern in revolutionären Situationen zuweilen ganze Populationen besondere Leistungsfähigkeit an den Tag legen, Tyranneien zu überwinden, und gestalterische Kräfte zeigen, aus denen die politische Selbstorganisation der Gesellschaft erwächst. Auch Tocqueville hat die Meinungsfreiheit als eines der höchsten demokratischen Güter charakterisiert, darin Brandeis vorgreifend, zugleich aber genauere Angaben gemacht, wie die zur Selbstregierung erforderlichen Fähigkeiten entstehen können: Es sind die Vereinigungen von Bürgern, die so ihre individuellen Neigungen und Bedürfnisse sogar auf nationaler Ebene vergrößern, zugleich aber selbst in kleinsten Vereinen und Gemeinden etwas einüben, was für Verständnis und Praxis demokratischer Verfahren von entscheidender Bedeutung ist: die Fähigkeit, die eigenen Interessen in Verbindung mit den Interessen anderer zu sehen und so, ohne altruistisch zu sein, im Ergebnis doch tugendhaft tätig zu werden. Die Demokratie ist der politischen Güter höchstes nicht: Mit dieser Ausgangsüberzeugung thematisiert der Sozialismus die Frage nach Inhalt und Stellenwert der Demokratie. Wer die Emanzipation der breiten und zugleich einfachsten Bevölkerungsteile wünscht, zugleich die sozialökonomischen Strukturbedingungen für bedeutsam erachtet und deswegen die antike Demokratie mit ihrer arbeitenden Sklavenschicht ohne Bürgerrecht nur bedingt zum Vorbild erhebt, stellt kritische Fragen an die Realität der Demokratie. Die Kri-
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tik verstärkt sich, wenn die Demokratie mit bürgerlichen Vorstellungen von Recht und Eigentum einhergeht, wie es die parlamentarische Demokratie des 19. Jahrhunderts tat, und dergestalt die Gleichheit der Besitzlosen verhindert. Beim jungen Karl Marx ist zunächst die glühende Begeisterung für die normative Idee der Demokratie sichtbar. Die Analyse ihrer Strukturbedingungen überzeugt ihn davon, dass der Sozialismus aller rein normativen Demokratisierung vorauszugehen hat. Lenin dagegen hat einen transitorischen Begriff der Demokratie, deren politische Wirklichkeit ganz den revolutionären Bedürfnissen angepasst werden muss. Daher greift Lenin nur instrumenteil auf die Demokratie zurück, sie hat für ihn keinen Eigenwert, außer nützlich und effektiv für die Interessen der Revolution zu sein. Das freilich hat ihm Rosa Luxemburg mit sodann geflügelten Worten zum Vorwurf gemacht, erfüllt die Demokratie ihrer Ansicht nämlich bereits im vor-sozialistischen Stadium eine unentbehrliche Funktion, die darin besteht, die ungebildeten Massen allmählich zu erziehen, um durch demokratische Institutionen in die Fähigkeit zur Selbstregierung hineinzuwachsen. Ein gewisser Endpunkt der Demokratietheorie wird erreicht, wenn an Stelle traditioneller Kollektivbezüge wie »Volk«, »bürgerliche Gesellschaft« oder »Nation« von der »Öffentlichkeit« als dem maßgeblichen Ort des Politischen gesprochen wird, aus dem heraus erst politisches Handeln als Ergebnis von Kommunikation verständlich wird (Jürgen Habermas). Damit ist ein neuer Höhepunkt der Abstraktion erreicht. Anfanglich war noch von der öffentlichen Meinung die Rede, womit bereits das individuelle Merkmal (eine Meinung zu haben) metaphorisch auf kollektive, in diesem Fall sogar: auf anonyme Bezugspunkte übertragen wird. Schließlich ist von der Öffentlichkeit als Medium die Rede, die somit alle Merkmale der Personalität abstreift und zur Oberfläche der Kommunikation wird. Die Demokratie entfaltet mit der Betonung der Öffentlichkeit ihren Charakter der Durchlässigkeit und der Gleichheit insofern, als nunmehr weder sozialökonomische noch ethnisch-historische Differenzen der Menschen untereinander von Belang sind, sofern man sich auf der allgemeinen Ebene der Demokratie bewegt. Kein Medium ist aber durchlässiger und allgemein zulässiger als die Öffentlichkeit. Ob sich mit den modernsten Techniken der Kommunikation wie dem world wide web ganz neue Möglichkeiten demokratischer Partizipation ergeben, die von e-governance bis e-democracy reichen, ist eine die gegenwärtige Forschung beschäftigende Frage.
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rer bei einem solchen Volke. Daran, daß nicht die Gesetze, sondern die Volksabstimmungen entGesetzmäßige und demagogische scheiden, sind eben diese schuld, die alles dem Demokratie Volk in die Hand geben wollen. Denn so werden sie selbst groß, wenn das Volk Herr über alles ist Von den Demokratien ist die erste diejenige, in und sie über die Meinung des Volkes; denn das der die Gleichheit am meisten vorhanden ist. Volk gehorcht ihnen. (Bekker 1291a30ff., Unter Gleichheit versteht das Gesetz einer sol- S. 143 f.) chen Demokratie dies, daß keiner, reich oder Die Demokratien verändern sich hauptsächarm, Vorrang hat, daß kein Teil über den anderen lich durch die Zügellosigkeit der Volksführer. regiert, sondern beide vollkommen ebenbürtig Diese führen einzeln Prozesse gegen die Wohlsind. Wenn nämlich die Freiheit sich vor allem in habenden und treiben sie zum Zusammenschluß der Demokratie findet, wie einige meinen, und (denn gemeinsame Angst verbindet auch die ebenso die Gleichheit, so wird diese am meisten größten Feinde), oder sie hetzen allgemein das darin bestehen, daß alle so gleichmäßig als mög- Volk gegen sie auf. (...) lich an der Regierung teilhaben. Da aber das Zuweilen bedrängen sie, um sich beim Volk Volk die Mehrheit ist und das gilt, was die Mehr- beliebt zu machen, die Angesehenen und nötiheit beschließt, so wird eben dies zwangsläufig gen sie zum Zusammenschluß (sie konfiszieren eine Demokratie sein (...) ihre Vermögen oder zerstören ihre Einkünfte In einer weitern Form der Demokratie gilt durch öffentliche Pflichtleistungen), zuweilen dasselbe, nur daß da das Volk entscheidet und klagen sie die Reichen falsch an, um Gelegennicht das Gesetz, was dort der Fall ist, wo es nach heit zu bekommen, deren Besitz zu beschlagder Ansicht der Volksführer [Demagogen] auf nahmen. (Bekker 1304 b 20 ff., S. 174 f.) die Abstimmungen ankommt und nicht auf das Gesetz. Denn in den nach dem Gesetz regierten Aus: Aristoteles, Politik, übersetzt und hg. Demokratien gibt es keine Volksführer, sondern von OlofGigon, München 1981, Buch IV den Vorsitz führen die Besten unter den Bürgern. Kap. 4, und Buch V, Kap. 5. Wo aber das Gesetz nicht entscheidet, da gibt es die Volksführer. Denn da ist das Volk Alleinherrscher, wenn auch ein aus vielen Einzelnen zusammengesetzter. Die Menge ist ja Herr, nicht ARISTOTELES als jeder Einzelne, sondern als Gesamtheit (...) Ein solches alleinherrschendes Volk sucht zu Ausmaß demokratischer Partizipation herrschen, weil es nicht von den Gesetzen beherrscht wird, und wird despotisch, wo denn Daß aber die Entscheidung bei der Menge als bei die Schmeichler in Ehren stehen, und so ent- der geringen Zahl der Besten zu liegen habe, das spricht denn diese Demokratie unter den Allein- scheint zu bestehen und sich verteidigen zu lasherrschaften der Tyrannis. Der Charakter ist sen, ja vielleicht sogar wahr zu sein. Denn die auch derselbe, beide herrschen despotisch über Menge, von der der einzelne kein tüchtiger die Besseren; die Volksbeschlüsse wirken hier, Mann ist, scheint doch in ihrer Gesamtheit beswie dort die Befehle, und der Volksführer und ser sein zu können als jene Besten; nicht jeder der Schmeichler entsprechen einander genau. Einzelne für sich, sondern die Gesamtheit (...) Und diese beiden haben je die größte Macht, die Denn es sind viele, und jeder hat einen Teil an Schmeichler bei den Tyrannen und die Volksfüh- Tugend und Einsicht. Wenn sie zusammenkomARISTOTELES
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men, so wird die Menge wie ein einziger Mensch, der viele Füße, Hände und Wahrnehmungsorgane hat und ebenso, was den Charakter und den Intellekt betrifft. (...) Damit kann man die gestellte wie auch eine anschließende Frage beantworten, worüber nämlich die Freien und die Menge der Bürger zu entscheiden haben sollen; wir meinen damit diejenigen, die sich weder an Reichtum noch an irgendeiner Tugend auszeichnen. Daß sie an den höchsten Ämtern teilnehmen sollen, ist gefahrlich - denn wegen ihrer Ungerechtigkeit und Torheit werden sie hier Unrecht, dort Fehler begehen. Ihnen aber überhaupt keinen Anteil zu geben und sie auszuschließen, ist noch bedenklicher. Denn wenn die Zahl der Ehrlosen und der Armen sehr groß ist, so wird dieser Staat zwangsläufig voll von Feinden sein. Es bleibt also nur übrig, sie am Beraten und Entscheiden teilnehmen zu lassen. (Bekker 1281a40ff., S. 119 f.) Aus: Aristoteles, Politik, übersetzt und hg. von Olof Gigon, München 1981, Buch III, Kap. 11.
THOMAS HOBBES Friedenssichernde Bedeutung der Meinungslenkung Da der Zweck dieser Einsetzung [des Souveräns] Frieden und Verteidigung aller ist, und jeder, der ein Recht auf den Zweck hat, auch ein Recht auf die Mittel dazu hat, gehört es zu dem Recht jedes souveränen Menschen oder jeder souveränen Versammlung, Richter über die Mittel zum Frieden und zur Verteidigung sowie über das zu sein, was diese hindert und stört. Ferner sind sie berechtigt, alles, was ihrer Meinung nach zur Erhaltung von Frieden und Sicherheit nötig ist, vorbeugend zu tun, indem sie innere Zwietracht und Feindschaft von
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außen verhindern, und das Nötige zu tun, um Frieden und Sicherheit wiederzugewinnen, wenn sie verloren gegangen sind. Deshalb ist auch sechstens, mit der Souveränität verbunden, darüber Richter zu sein, welche Meinungen und Lehren dem Frieden abträglich sind und welche dazu führen, und folglich, bei welchen Anlässen wie weitgehend und bei was man den Menschen überhaupt vertrauen darf, wenn sie Reden an Volksmengen halten, und wer die Lehren aller Bücher vor Veröffentlichung überprüfen soll. Denn die Handlungen der Menschen entspringen ihren Meinungen, und eine gute Lenkung der menschlichen Handlungen, die Frieden und Eintracht unter ihnen bewirken soll, besteht in einer guten Lenkung ihrer Meinungen. Und obwohl in den mit Lehre zusammenhängenden Fragen ausschließlich an die Wahrheit zu denken ist, so steht dem doch ihre Regelung aus Gründen des Friedens nicht entgegen. Denn eine dem Frieden widersprechende Lehre kann nicht wahrer sein, als Frieden und Eintracht dem natürlichen Gesetz zuwiderlaufen können. Es ist richtig, daß in einem Staat, wo durch die Nachlässigkeit und Ungeschicklichkeit der Regierenden und Lehrer mit der Zeit falsche Lehren allgemein anerkannt werden, die entgegenstehenden Wahrheiten gewöhnlich lästig sind. Doch selbst der plötzlichste und gewaltsamste Einbruch einer neuen Wahrheit, der möglich ist, bricht niemals den Frieden, sondern ruft nur manchmal den Krieg wieder wach. Denn Menschen, die so nachlässig regiert werden, daß sie Waffen zu ergreifen wagen, um eine Meinung zu verteidigen oder einzuführen, sind immer noch im Krieg und befinden sich nicht im Friedenszustand, sondern nur im Waffenstillstand aus gegenseitiger Furcht, und sie leben, als befänden sie sich ständig im Vorfeld der Schlacht. Deshalb gehört es zu den Rechten des Inhabers der souveränen Gewalt, Richter über alle Meinungen und Lehren zu sein oder alle für diese Dinge zuständigen Richter zu bestellen, da dies
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für den Frieden notwendig ist, und um dadurch Zwietracht und Bürgerkrieg zu verhindern. (S. 139 f.) Aus: Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und eingeleitet von Iring Fetscher, übersetzt von Waither Euchner 1966, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1989, Kap. 18.
DAVID HUME Die Macht der öffentlichen Meinung Nichts erscheint erstaunlicher bei der philosophischen Betrachtung menschlicher Angelegenheiten als die Leichtigkeit, mit der die Vielen von Wenigen regiert werden und die stillschweigende Unterwerfung, mit der Menschen ihren eigenen Gesinnungen und Leidenschaften denen ihrer Herrscher unterordnen. Fragt man sich, wie es zu diesem Wunder kommt, so stellt man fest, daß, zumal die Regierten stets die Stärke auf ihrer Seite haben, die Regierenden durch nichts anderes gestützt werden als durch Meinung. Regierung gründet sich daher ausschließlich auf Meinung, und diese Tatsache gilt für die überaus despotischen und militärischen Regierungen ebenso wie für die freiesten und republikanischsten. (S. 25) Auf diese drei Arten von Meinung: Öffentliches Interesse, Recht auf Macht und Recht auf Eigentum gründen sich also alle Regierungen und jede Form von Autorität der Wenigen über die Vielen. Weitere Prinzipien erhärten diese Meinungen und bestimmen, begrenzen oder verändern deren Wirkung. Dazu gehören Eigeninteresse, Angst und Sympathie. Jedoch steht fest, daß diese anderen Prinzipien für sich genommen und ohne die Wirkung der oben bereits erwähnten keinen Einfluß haben. Des-
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halb sollten sie zu den sekundären, nicht zu den primären Prinzipien der Regierung gezählt werden. Unter Eigeninteresse verstehe ich zunächst die Hoffnung auf eine Art besonderer Belohnung im Gegensatz zum allgemeinen Schutz, den uns eine Regierung anbietet. (...) Die Autorität, die sich durch die Aussicht auf Belohnung bei einigen Personen noch vergrößern mag, kann so jedoch nie in der gesamten Öffentlichkeit geschaffen werden. Menschen erwarten natürlich die größten Vorteile von ihren Freunden und Bekannten; deshalb würden sich die Hoffnungen eines bedeutenden Anteils der Bürger kaum auf eine Gruppe von Männern konzentrieren, die keinen anderen Anspruch auf die Macht und keinen besonderen Einfluß auf die Meinungen der Menschen haben. Die gleiche Beobachtung gilt für die beiden anderen Prinzipien, der Angst und der Sympathie. Kein Mensch müßte den Zorn eines Tyrannen fürchten, wenn dessen Autorität über jeden einzelnen nicht ausschließlich auf Angst gegründet wäre. Denn als einzelner Mensch reicht seine körperliche Kraft nicht weit, und alle Macht, die er darüber hinaus besitzt, gründet sich entweder auf unsere eigene Meinung oder die mutmaßliche Meinung anderer. Obwohl Sympathie für die Weisheit und Tugend eines Herrschers große Ausmaße annehmen und großen Einfluß ausüben kann, so muß man doch zunächst Eigenschaften von öffentlichem Wert in ihm vermutet haben. Ansonsten wird ihm weder die öffentliche Wertschätzung nutzen noch wird seine Tugend über einen engen Bereich hinaus Einfluß haben. (S. 27 f.) Aus: David Hume, Über die ursprünglichen Prinzipien der Regierung, in: ders., Politische und ökonomische Essays, übersetzt von Susanne Fischer, hg. und eingel. von Udo Bermbach, Hamburg 1988, S. 25-30.
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CHARLES DE MONTESQUIEU Das Prinzip der Demokratie ist Tugend Von dem Prinzip der Demokratie. Eine monarchische oder despotische Regierung bedarf zu ihrer Erhaltung oder Stütze keiner sonderlichen Rechtschaffenheit. Bei der einen ist es die Macht der Gesetze, bei der anderen der stets erhobene Arm des Fürsten, der alles in Ordnung und im Zaume hält. In einem Volksstaat aber bedarf es noch einer weiteren Triebkraft, nämlich der Tugend. Meine Behauptung wird durch den ganzen Verlauf der Geschichte bestätigt und entspricht auch völlig dem Wesen der Dinge. Denn es ist klar, daß in einer Monarchie, wo der, welcher die Gesetze vollzieht, sich über sie erhaben dünkt, weniger Tugend erforderlich ist als in einer Volksregierung, wo der, der die Gesetze vollziehen läßt, sich selbst ihnen unterworfen fühlt und ihre Last mittragen muß. (...) Wenn die Tugend verlorengeht, so zieht der Ehrgeiz in die dafür empfanglichen Herzen und Habgier in alle Gemüter ein. Die Wünsche wechseln ihre Ziele. Was man früher liebte, liebt man nicht mehr; war man früher mit den Gesetzen frei, so will man es jetzt gegen sie sein; j eder Bürger ist wie ein Sklave, der seinem Herrn aus dem Hause entlaufen ist; was Grundsatz war, heißt jetzt Härte, was Ordnung, Zwang, was früher Achtung hieß, bedeutet jetzt Angst, und Sparsamkeit, nicht Habsucht, nennt man jetzt Geiz. Früher bildete das Vermögen der einzelnen das Staatsvermögen, jetzt aber wird der Staatsschatz zum Privatgut des einzelnen. Die Republik wird zur Beute, und ihre Stärke besteht nur noch in der Macht einiger Bürger und der Zügellosigkeit aller. (S. 34-36) Die Gesetze, die der Gesetzgeber erläßt, müssen dem Regierungsprinzip angepaßt sein. Wir sahen soeben, daß die Gesetze der Erziehung dem Prinzip jeder Regierung entsprechen müssen. Ebenso verhält es sich mit den Gesetzen, die der Gesetzgeber für die ganze Gesell-
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schaft erläßt. Diese Beziehung der Gesetze zu dem Prinzip spannt alle Triebkräfte der Regierung an, und das Prinzip selbst erhält dadurch auch neue Kraft, genau so, wie bei mechanischen Bewegungen jede Wirkung eine Gegenwirkung auslöst. Wir wollen nun diese Beziehung bei jeder Regierungsform nachprüfen und bei dem republikanischen Staat beginnen, dessen Prinzip die Tugend ist. Vom Wesen der Tugend im republikanischen Staat. Die Tugend in einer Republik ist etwas sehr Einfaches, nämlich die Liebe zur Republik. Sie ist ein Gefühl, nicht Folge von Kenntnissen; der geringste Mann im Staat kann dieses Gefühl ebensogut haben wie der erste. Hat das Volk einmal gute Grundsätze, so hält es länger daran fest als die sogenannte gute Gesellschaft. Selten beginnt der Verfall bei ihm. Häufig dagegen bewirkt seine mäßige Bildung bei ihm starke Anhänglichkeit an das Bestehende. Die Vaterlandsliebe erzeugt gute Sitten, und gute Sitten führen wieder zur Vaterlandsliebe. Je weniger wir unsere Sonderneigungen befriedigen können, um so mehr widmen wir uns den Bestrebungen der Allgemeinheit. Warum lieben die Mönche ihren Orden so sehr? Aus demselben Grund der ihnen das Mönchsdasein so unerträglich schwer macht. Ihre Regel beraubt sie alles dessen, worauf für gewöhnlich die Sehnsucht gerichtet ist. So bleibt ihnen also nur die Liebe zu ihrer Regel selbst trotz dem Druck, den sie ausübt. Je strenger sie ist, das heißt je stärker sie ihre Neigungen beschneidet, desto mehr Stärke schenkt sie ihnen für die, die sie ihnen läßt. Worin die Liebe zum Staat in der Demokratie besteht. Die Liebe zum Staat in einer Demokratie ist die Liebe zur Demokratie, und die Liebe zur Demokratie ist die Liebe zur Gleichheit. Die Liebe zur Demokratie ist weiter die Liebe zur Einfachheit. Da jedem hier dasselbe Glück und dieselben Vorteile zustehen sollen, müssen alle auch die gleichen Freuden genie-
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ßen, die gleichen Hoffnungen hegen dürfen; das aber ist nur bei einer allgemeinen Anspruchslosigkeit denkbar. Durch die Liebe zur Gleichheit wird in einer Demokratie der Ehrgeiz auf das eine Verlangen und eine Glück beschränkt, dem Vaterlande besser dienen zu können als die Mitbürger. Sie können ihm nicht alle gleiche Dienste leisten, aber alle sollen sie ihm gleichmäßig dienen; denn von Geburt an sind sie ihm zu einer Riesenschuld verpflichtet, die sie nie völlig abtragen können. So erwachsen die Unterschiede aus dem Gleichheitsgrundsatze dann, wenn er durch erfolgreichere Dienste und höhere Begabungen offenbar aufgehoben scheint. (S. 62-64) Aus: Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, übersetzt und hg. von Ernst Forsthoff, 2. Aufl., Tübingen 1992, Buch III, Kap. 3, und Buch Y Kap. 1,2 und 3.
Louis DE JAUCOURT
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sie hervorrufen könnte, so frage ich, ob es nicht vorteilhaft ist, wenn sie sich nur in Worten Luft machen und rechzeitig die Behörden veranlassen, für Abhilfe zu sorgen. Man muß doch zugeben, daß die Öffentlichkeit eine sehr starke Neigung hat, all das zu glauben, was man ihr zum Nachteil derer erzählt, die sie regieren; aber diese Neigung ist in den Ländern der Freiheit die gleiche wie in denen der Sklaverei. Eine eingeflüsterte Meinung kann sich ebenso schnell verbreiten und ebenso große Wirkungen hervorbringen wie eine Flugschrift. Eine solche Meinung kann gleichermaßen schädlich in den Ländern wirken, in denen die Menschen nicht erhaben zu denken und das Wahre vom Unwahren zu unterscheiden pflegen; und doch darf man sich von solchen Reden nicht verwirren lassen. (S. 692 f.) Aus: Louis Chevalier de Jaucourt, Presse, in: Encyclopedie, dt.: Artikel aus der von Diderot und d'Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, Auswahl und Einführung von Manfred Naumann, 2. Aufl., Leipzig 1985.
Freiheit der Presse und Unruhe im Volk Wir dürfen von der Freiheit der Presse nicht jene schlimmen Folgen befürchten, die in Athen die öffentlichen Ansprachen und in Rom die Reden der Tribunen gezeitigt haben. In seinem Zimmer liest ein Mann ganz allein und sehr gelassen ein Buch oder eine Satire. Es ist also nicht zu befurchten, daß er sich von den Leidenschaften und von dem Enthusiasmus eines anderen anstecken läßt und daß er wegen der Heftigkeit eines rednerischen Ausfalls außer sich gerät. Selbst wenn er zur Empörung gebracht werden sollte, fände er doch niemals ohne weiteres Gelegenheit, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Die Freiheit der Presse kann folglich, sosehr sie auch mißbraucht werden mag, niemals Unruhen unter dem Volk hervorrufen. Was das dumpfe Murren und die heimliche Unzufriedenheit betrifft, die
JEAN-JACQUES ROUSSEAU Die Irrtumsanfalligkeit des Volkes und das Erfordernis eines ersten Gesetzgebers Die Gesetze sind eigentlich nur die Bedingungen der bürgerlichen Vereinigung. Das Volk, das den Gesetzen unterworfen ist, muß ihr Urheber sein. Nur jene, die sich zusammenschließen, dürfen die Gesellschaftsbedingungen regeln. Aber wie sollen sie sie regeln? Durch Einstimmigkeit? Durch eine plötzliche Eingebung? Besitzt der politische Körper ein Organ, um seinen Willen zu bekunden? Wer verschafft ihm die nötige Voraussicht, um Beschlüsse zu fassen und sie schon vorher zu verkünden? Wie soll er sie im Notfall aussprechen? Wie soll eine blinde
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Menge, die oft nicht weiß, was sie will - weil sie nur selten weiß, was ihr guttut - von sich aus ein so großes und schwieriges Unternehmen wie ein System der Gesetzgebung ausführen? Von sich aus will das Volk immer das Gute, aber von sich aus erkennt es das Volk nicht immer. Der Gemeinwille hat immer recht, aber das Urteil, das ihn führt, ist nicht immer erleuchtet. Man muß ihm die Dinge zeigen, wie sie sind, manchmal, wie sie ihm erscheinen sollen; ihm den rechten Weg zeigen, den es sucht, es vor den Verführungen der Einzelwillen beschützen; (...) Die Bürger sehen das Gute, das sie verwerfen; die Öffentlichkeit will das Gute und sieht es nicht. Beide brauchen Führer. Die einen muß man zwingen, ihren Willen der Vernunft zu unterwerfen; die anderen zur Erkenntnis, was sie wollen. Aus der allgemeinen Einsicht geht im Gemeinschaftskörper die Vereinigung des Urteils und des Willens hervor. Daraus entsteht das genaue Zusammenwirken der Teile und schließlich die größte Kraft des Ganzen. Ein Gesetzgeber wird nötig. (S. 98 f.) Der Gesetzgeber ist innerhalb des Staates ein in jeder Beziehung außergewöhnlicher Mensch. Er ist es durch sein Genie und nicht weniger durch sein Amt, das weder Verwaltung noch Herrschaft ist. Er begründet die Republik, geht aber nicht in die Verfassung ein. Es ist ein besonderes und höheres Amt, das mit der menschlichen Herrschaft nichts gemein hat. Wie der, der den Menschen befiehlt, nicht den Gesetzen befehlen darf, so darf der, der den Gesetzen befiehlt, nicht mehr den Menschen befehlen. Sonst würden seine Gesetze, Werkzeuge seiner Leidenschaft, oft nur seine Ungerechtigkeiten verewigen. Er könnte es nie vermeiden, daß Privatinteressen die Heiligkeit seines Werkes verfälschten. (S. 101) Aus: Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, in: ders., Politische Schriften 1, hg. von Ludwig Schmidts, Paderborn 1977, Buch 2, Kap. 6 und 7.
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IMMANUEL KANT Das Prinzip der Publizität Wenn ich von aller Materie des öffentlichen Rechts (nach den verschiedenen empirischgegebenen Verhältnissen der Menschen im Staat oder auch der Staaten unter einander), so wie es sich die Rechtslehrer gewöhnlich denken, abstrahiere, so bleibt mir noch die Form der Publizität übrig, deren Möglichkeit ein jeder Rechtsanspruch in sich enthält, weil ohne jene es keine Gerechtigkeit (die nur als öffentlich kundbar gedacht werden kann), mit hin auch kein Recht, das nur von ihr erteilt wird, geben würde. Diese Fähigkeit der Publizität muß jeder Rechtsanspruch haben, und sie kann also, da es sich ganz leicht beurteilen läßt, ob sie in einem vorkommenden Falle statt finde, d.i. ob sie sich mit Grundsätzen des Handelnden vereinigen lasse oder nicht, ein leicht zu brauchendes, a priori in der Vernunft anzutreffendes Kriterium abgeben, im letzteren Fall die Falschheit (Rechtswidrigkeit) des gedachten Anspruchs (praetensio iuris), gleichsam durch ein Experiment der reinen Vernunft, so fort zu erkennen. Nach einer solchen Abstraktion von allem Empirischen, was der Begriff des Staats- und Völkerrechts enthält (dergleichen das Bösartige der menschlichen Natur ist, welches den Zwang notwendig macht), kann man folgenden Satz die transzendentale Formel des öffentlichen Rechts nennen: »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.« Dieses Prinzip ist nicht bloß als ethisch (zur Tugendlehre gehörig), sondern auch als juridisch (das Recht der Menschen angehend) zu betrachten. Denn eine Maxime, die ich nicht darf laut werden lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus verheimlicht werden muß, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht öffentlich beken-
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nen kann, ohne daß dadurch unausbleiblich der Widerstand aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese notwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende, Gegenbearbeitung aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht. (S. 244 f.) (...) welche Hinterlist einer lichtscheuen Politik doch von der Philosophie durch die Publizität jener ihrer Maximen leicht vereitelt werden würde, wenn jene es nur wagen wollte, dem Philosophen die Publizität der seinigen angedeihen lassen. In dieser Absicht schlage ich ein anderes transzendentales und bejahendes Prinzip des öffentlichen Rechts vor, dessen Formel diese sein würde: »Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen.« Denn, wenn sie nur durch die Publizität ihren Zweck erreichen können, so müssen sie dem allgemeinen Zweck des Publikums (der Glückseligkeit) gemäß sein, womit zusammen zu stimmen (es mit seinem Zustande zufrieden zu machen) die eigentliche Aufgabe der Politik ist. Wenn aber dieser Zweck nur durch die Publizität, d.i. durch die Entfernung alles Mißtrauens gegen die Maximen derselben, erreichbar sein soll, so müssen diese auch mit dem Recht des Publikums in Eintracht stehen; denn in diesem allein ist die Vereinigung der Zwecke aller möglich. (S. 250 f.) Aus: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden - ein philosophischer Entwurf, 2. Aufl., Königsberg 1796, in: ders., Theorie-Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Pädagogik 1, S. 195251.
III. Kapitel
WILHELM VON HUMBOLDT Vernunft und Zufall im Widerstreit Die constituierende Nationalversammlung [Frankreichs] hat es unternommen, ein völlig neues Staatsgebäude, nach bloßen Grundsätzen der Vernunft, aufzuführen. Dies Faktum muß jedermann, und sie selbst muß es einräumen. Nun aber kann keine Staatsverfassung gelingen, welche die Vernunft - vorausgesetzt, daß sie ungehinderte Macht habe, ihren Entwürfen Wirklichkeit zu geben - nach einem angelegten Plane gleichsam von vornher gründet; nur eine solche kann gedeihen, welche aus dem Kampfe des mächtigeren Zufalls mit der entgegenstrebenden Vernunft hervorgeht (...) Eine neue Verfassung soll auf die bisherige folgen. An die Stelle eines Systems, das allein darauf berechnet war, soviel Mittel, als möglich, aus der Nation zur Befriedigung des Ehrgeizes und der Verschwendungssucht eines Einzigen zu ziehen, soll ein System treten, das nur die Freiheit, die Ruhe, und das Glück jedes Einzelnen zum Zwek hat. Zwei ganz entgegengesetzte Zustände sollen also auf einander folgen. Wo ist nun das Band, das beide verknüpft? Wer traut sich Erfindungskraft und Geschiklichkeit genug zu, es zu weben? (...) Auch fordert jede Wirkung eine gleich starke Gegenwirkung, jedes Zeugen ein gleich thätiges Empfangen. Die Gegenwart muß daher schon auf die Zukunft vorbereitet sein. Darum wirkt der Zufall so mächtig. Die Gegenwart reißt da die Zukunft an sich. Wo diese ihr noch fremd ist, da ist alles todt und kalt. So, wo Absicht hervorbringen will. Die Vernunft hat wohl Fähigkeit, vorhandnen Stoff zu bilden, aber nicht Kraft, neuen zu erzeugen. Diese Kraft ruht allein im Wesen der Dinge, diese wirken, die wahrhaft weise Vernunft reizt sie nur zur Thätigkeit, und sucht sie zu lenken. Hierbei bleibt sie bescheiden stehen. Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schößlinge auf Bäume pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht
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vorgearbeitet haben, da ists, als bindet man Blüthen mit Fäden an. Die erste Mittagsonne versengt sie. (S. 93-95) Aus: Wilhelm von Humboldt, Ideen über Staatsverfassung, durch die neue Französische Constitution veranlaßt, August 1791, in: ders., Studienausgabe in drei Bänden, hg. von Kurt Müller-Vollmer, Bd. 2: Politik und Geschichte, Frankfurt/M. 1971, S. 93-99.
ALEXIS DES TOCQUEVILLE Demokratische Herrschaft In Amerika ernennt das Volk den, der das Gesetz macht, und den, der es ausfuhrt; es selbst bildet das Gericht, das die Gesetzesübertretungen bestraft. Die Einrichtungen sind nicht nur grundsätzlich, sondern auch in ihrer ganzen Entwicklung demokratisch; so ernennt das Volk unmittelbar seine Vertreter, und es wählt sie im allgemeinen jedes Jahr, um sie möglichst ganz von sich abhängig zu machen. Es ist also wirklich das Volk, das lenkt, und obwohl es eine volksvertretende Regierungsform ist, besteht kein Zweifel, daß die Meinungen, die Vorurteile, die Interessen und selbst die Leidenschaften des Volkes keine dauernden Hindernisse finden können, die sie abhalten, täglich auf die Lenkung der Gesellschaft einzuwirken (Buch I, S. 197) Aus: Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. von J.P. Mayer, übersetzt von Hans Zbinden, 2 Bände, Stuttgart 1959 und 1962.
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ALEXIS DE TOCQUEVILLE Demokratische Gleichheit als Gefahr für die Freiheit des Individuums und Assoziationen als Gegenmittel Und was mich an Amerika am meisten abstößt, ist nicht die weitgehende Freiheit, die dort herrscht, es ist die geringe Gewähr, die man dort gegen die Tyrannei findet. Erfährt ein Mensch oder eine Partei in den Vereinigten Staaten eine Ungerechtigkeit, an wen soll er sich wenden? An die öffentliche Meinung? Sie ist es, die die Mehrheit bildet; an die gesetzgebende Versammlung? Sie stellt die Mehrheit dar und gehorcht ihr blind; an die ausübende Gewalt? Sie wird durch die Mehrheit ernannt und dient ihr als gefugiges Werkzeug; an das Heer? Das Heer ist nichts anderes als die Mehrheit in Waffen; an das Geschworenengericht? Das Geschworenengericht ist die mit dem Recht zum Urteilsprechen bekleidete Mehrheit: die Richter selbst werden in gewissen Staaten von der Mehrheit gewählt. Wie ungewollt oder unsinnig die Maßnahme sei, die euch trifft, ihr habt ihr euch zu unterziehen. (Bd.I, S. 291) Unter der unumschränkten Alleinherrschaft schlug der Despotismus in roherWeise den Körper, um die Seele zu treffen; und die Seele, die diesen Schlägen entwich, schwang sich glorreich über ihn hinaus; in den demokratischen Republiken jedoch geht die Tyrannei nicht so vor; sie übergeht den Körper und zielt gleich auf die Seele. Der Herrscher sagt nicht mehr: entweder du denkst wie ich oder du bist des Todes; er sagt: du bist frei, nicht so zu denken wie ich; du behältst dein Leben, deinen Besitz, alles; aber von dem Tage an bist du unter uns ein Fremdling. Du behältst Deine Vorrechte in der bürgerlichen Gesellschaft, aber sie nützen dir nichts mehr; denn bewirbst du dich um die Stimme deiner Mitbürger, so werden sie dir diese nicht geben, und begehrst du bloß ihre Achtung, so werden sie tun, als ob sie dir auch diese verweigerten. Du
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bleibst unter den Menschen, aber du büßest deine Ansprüche auf Menschlichkeit ein. Näherst du dich deinen Mitmenschen, werden sie dich wie ein unreines Wesen fliehen; und selbst die an deine Unschuld glauben, werden dich verlassen, denn auch sie würden gemieden. Ziehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben, es wird aber für dich schlimmer sein als der Tod. (Bd. 1, S. 295) Aus: Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. von J. P. Mayer, übersetzt von Hans Zbinden, 2 Bände, Stuttgart 1959 und 1962.
KARL M A R X Staat, Verfassung und Demokratie In der Monarchie ist das Ganze, das Volk, unter eine seiner Daseinsweisen, die politische Verfassung, subsumiert; in der Demokratie erscheint die Verfassung selbst nur als eine Bestimmung, und zwar Selbstbestimmung des Volks. In der Monarchie haben wir das Volk der Verfassung; in der Demokratie die Verfassung des Volks. Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eignes Werk gesetzt. Die Verfassung erscheint als das, was sie ist, freies Produkt des Menschen. (...)
III. Kapitel
men, wie das Christentum sich zu allen übrigen Religionen verhält. Das Christentum ist die Religion kat exochen, das Wesen der Religion, der deifizierte Mensch als eine besondere Religion. So ist die Demokratie das Wesen aller Staatsverfassungen, der sozialisierte Mensch, als eine besondre Staatsverfassung; sie verhält sich zu den übrigen Verfassungen, wie die Gattung sich zu ihren Arten verhält, nur daß hier die Gattung selbst als Existenz, darum gegenüber den dem Wesen nicht entsprechenden Existenzen selbst als eine besondere Art erscheint. Die Demokratie verhält sich zu allen übrigen Staatsformen als ihrem alten Testament. Der Mensch ist nicht des Gesetzes, sondern das Gesetz ist des Menschen wegen da, es ist menschliches Dasein, während in den andern der Mensch das gesetzliche Dasein ist. Das ist die Grunddifferenz der Demokratie. (S. 231) Aus: Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegeischen Staatsrechts, §§ 261 -313, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1959, S. 201-336.
KARL M A R X Die Diktatur des Proletariats
Es fragt sich dann: Welche Umwandlung wird das Staatswesen in einer kommunistischen Gesellschaft erleiden? (...) Diese Frage ist nur Hegel geht vom Staat aus und macht den wissenschaftlich zu beantworten, und man Menschen zum versubjektivierten Staat; die kommt dem Problem durch tausendfache Demokratie geht vom Menschen aus und macht Zusammensetzung des Wortes Volk mit dem den Staat zum verobjektivierten Menschen. Wie Wort Staat nicht um einen Flohsprung näher. die Religion nicht den Menschen, sondern wie Zwischen der kapitalistischen und der komder Mensch die Religion schafft, so schafft nicht munistischen Gesellschaft liegt die Periode der die Verfassung das Volk, sondern das Volk die revolutionären Umwandlung der einen in die Verfassung. Die Demokratie verhält sich in andre. Der entspricht auch eine politische Übergewisser Hinsicht zu allen übrigen Staatsfor- gangsperiode, deren Staat nichts andres sein
Politische Institutionen
kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. (...) Selbst die vulgäre Demokratie, die in der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich sieht und keine Ahnung davon hat, daß grade in dieser letzten Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft der Klassenkampf definitiv auszufechten ist - selbst sie steht noch berghoch über solcherart Demokratentum innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und logisch Unerlaubten. (S. 28 f.) Aus: Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, Berlin 1962, S. 11 - 32.
FRIEDRICH NIETZSCHE Demokratie und Tyrannis Nenne man es nun »Civilisation« oder »Vermenschlichung« oder »Fortschritt«, worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht wird; nenne man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer politischen Formel die demokratische Bewegung Europas: hinter all den moralischen und politischen Vordergründen, auf welche mit solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht sich ein ungeheurer physiologischer Prozeß, der immer mehr in Fluß geräth - der Prozeß einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem bestimmten milieu, das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib einschreiben möchte, also die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und - kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt. Dieser Prozeß des werdenden Europäers, welcher durch große
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Rückfälle im Tempo verzögert werden kann, aber vielleicht gerade damit an Vehemenz und Tiefe gewinnt und wächst - der jetzt noch wüthende Sturm und Drang des »NationalGefuhls« gehört hierher, insgleichen der eben heraufkommende Anarchismus - : dieser Prozeß läuft wahrscheinlich auf Resultate hinaus, auf welche seine naiven Beförderer und Lobredner, die Apostel der »modernen Ideen«, am wenigsten rechnen möchten. Die selben neuen Bedingungen, unter denen im Durchschnitt eine Ausgleichung und Vermittelmäßigung des Menschen sich herausbilden wird - ein nützliches, arbeitsames, vielfach brauchbares und anstelliges Heerdenthier Mensch -, sind im höchsten Grade dazu angethan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben. Während nämlich jene Anpassungskraft, welche immer wechselnde Bedingungen durchprobirt und mit jedem Geschlecht, fast mit jedem Jahrzehnd, eine neue Arbeit beginnt, die Mächtigkeit des Typus gar nicht möglich macht; während der Gesammt-Eindruck solcher zukünftiger Europäer wahrscheinlich der von vielfachen geschwätzigen willensarmen und äußerst anstellbaren Arbeitern sein wird, die des Herrn, des Befehlenden bedürfen wie des täglichen Brodes; während also die Demokratisierung Europa's auf die Erzeugung eines zur Sklaverei im feinsten Sinne vorbereiteten Typus hinausläuft: wird, im Einzel- und Ausnahmefall, der starke Mensch stärker und reicher gerathen müssen, als er vielleicht jemals bisher gerathen ist Dank der Vorurtheilslosigkeit seiner Schulung, Dank der ungeheuren Vielfältigkeit von Übung, Kunst und Maske. Ich wollte sagen: die Demokratisierung Europa's ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen - das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigen. (S. 182 f.) Aus: Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Maz-
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III. Kapitel
Sie ist nichts anderes als Diktatur des Proletariats. Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte ROSA LUXEMBURG und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerliFormale und diktatorische Demokratie chen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen läßt. Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theo- Aber diese Diktatur muß das Werk der Klasse, rie ist eben der, daß sie die Diktatur, genau wie und nicht einer kleinen, führenden Minderheit Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. »Dik- im Namen der Klasse sein, d.h. sie muß auf tatur oder Demokratie« heißt die Fragestellung Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der sowohl bei den Bolschewiki wie bei Kautsky. Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Dieser entscheidet sich natürlich für die Demo- Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamkratie, und zwar fur die bürgerliche Demokratie, ten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenda er sie eben als Alternative der sozialistischen den politischen Schulung der Volksmassen herUmwälzung hinstellt. Lenin-Trotzki entschei- vorgehen. (S. 569) den sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur Aus: Rosa Luxemburg, Die russische einer Handvoll Personen, d.h. für die Diktatur Revolution, in: dies., Politische Schriften, nach bürgerlichem Muster. Es sind zwei Gegenhg. von Ossip Flechtheim, Frankfurt/M. pole, beide gleich weit entfernt von der wirkli1987, S. 536-571. chen sozialistischen Politik. (S. 568) zino Montinari, Bd. 5,2. Aufl., München 1988, S. 9-242, Stück 242.
Wir sind nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen, das heißt nur: Wir unterscheiden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen. Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zu Macht gelangt, an Stelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. (...) Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei.
WLADIMIR I. ULJANOW (LENIN) Demokratie vor und nach der Revolution Man wird uns ferner entgegenhalten, daß die dargelegte Ansicht über die Organisation [der revolutionären Partei neuen Typs] dem »demokratischen« Prinzip widerspricht. (...) Jeder wird wohl zugeben, daß das »breite demokratische Prinzip« die beiden folgenden notwendigen Vorbedingungen einschließt: erstens, die vollständige Publizität und zweitens, die Wählbarkeit aller Funktionäre. Ohne Publizität wäre es lächerlich, von Demokratismus zu reden, und zwar ohne Publizität, die sich nicht auf die Mitglieder der Organisation beschränkt. Als demokratisch können wir die Organisation der deutschen sozialistischen Partei bezeichnen, denn in
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ihr geschieht alles öffentlich, die Sitzungen des Parteitags mit Inbegriffen; aber niemand wird eine Organisation als demokratisch bezeichnen, die sich von allen Nichtmitgliedern hinter dem Deckmantel des Geheimen verbirgt. Es fragt sich: welchen Sinn also die Aufstellung des »breiten demokratischen Prinzips« hat, wenn die Grundbedingung dieses Prinzips für eine Geheimorganisation unerfüllbar ist? Das »breite Prinzip« erweist sich einfach als tönende, aber hohle Phrase. (S. 145 f.)
zum Sozialismus sind wir überzeugt, daß er in den Kommunismus hinüberwachsen wird und daß im Zusammenhang damit jede Notwendigkeit der Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt, der Unterordnung eines Menschen unter den anderen, eines Teils der Bevölkerung unter den anderen verschwinden wird, denn die Menschen werden sich daran gewöhnen, die elementaren Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne Gewalt und ohne Unterordnung einzuhalten. (S.469f.)
Aus: Wladimir I. Uljanow (Lenin), Was tun?, in: ders., Studienausgabe, hg. von Iring Fetscher, Frankfurt/M. 1970, Bd. 1, S. 37-179.
Aus: Wladimir. I. Uljanow (Lenin), Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, in: Lenin, Werke, Berlin 1960, Bd. 25, S. 393-507.
In den landläufigen Betrachtungen über den Staat wird fortwährend der Fehler begangen (...) Man vergißt nämlich immer, daß die Aufhebung des Staates auch die Aufhebung der Demokratie bedeutet, daß das Absterben des Staates ein Absterben der Demokratie ist. Auf den ersten Blick mag diese Behauptung höchst sonderbar und unverständlich erscheinen; bei manchem dürfte sogar die Befürchtung aufkommen, daß wir den Anbruch einer Gesellschaftsordnung erwarten, in der das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit nicht eingehalten werden würde, denn Demokratie sei doch gerade die Anerkennung dieses Prinzips! Nein. Demokratie ist nicht identisch mit Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit. Demokratie ist ein die Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit anerkennender Staat, d.h. eine Organisation zur systematischen Gewaltanwendung einer Klasse gegen die andere, eines Teils der Bevölkerung gegen den anderen. Als Endziel setzen wir uns die Abschaffimg des Staates, d.h. j eder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt. (...) [In] unserem Streben
Wenn wir keine Anarchisten sind, müssen wir die Notwendigkeit des Staates, d.h. des Zwanges für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus anerkennen. Die Form des Zwanges wird durch den Entwicklungsgrad der gegebenen revolutionären Klasse, ferner durch solche besonderen Umstände wie z.B. die Erbschaft eines langen, reaktionären Krieges, ferner durch die Formen des Widerstandes der Bourgeoisie oder des Kleinbürgertums bestimmt. Deshalb besteht nicht der geringste prinzipielle Widerspruch zwischen dem sowjetischen (d.h. dem sozialistischen) Demokratismus und der Anwendung der diktatorischen Macht einzelner Personen. Der Unterschied zwischen der proletarischen Diktatur und der bürgerlichen besteht darin, daß die erste ihre Schläge gegen die Minderheit der Ausbeuter im Interesse der ausgebeuteten Mehrheit richtet, dann darin, daß die erste - auch durch einzelne Personen - nicht bloß von den Massen der Werktätigen und Ausgebeuteten, sondern auch von Organisationen verwirklicht wird, die so aufgebaut sind, daß sie gerade diese Massen zu geschichtlichem Schöpfertum wecken und emporheben (und die Sowjetorganisationen gehören zu dieser Art Organi-
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sationen). (...) Über die Bedeutung gerade der diktatorischen Macht einzelner Personen vom Standpunkt der besonderen Aufgaben des gegebenen Moments muß man sagen, daß jede maschinelle Großindustrie - d.h. gerade die materielle, die Produktionsquelle und das Fundament des Sozialismus - eine unbedingte und strenge Einheit des Willens erfordert, der die gemeinsame Arbeit von hunderten, tausenden und zehntausenden Menschen leitet. Sowohl technisch als auch ökonomisch und historisch leuchtet diese Notwendigkeit ein und ist stets von allen, die jemals über den Sozialismus nachgedacht haben, als seine Voraussetzung anerkannt worden. Aber wie kann die strenge Einheit des Willens gesichert werden? Durch die Unterordnung des Willens von Tausenden unter den Willen eines einzigen.
III. Kapitel
M A X WEBER Demagogie und cäsaristische Führerauslese
Die bei uns populäre Literatenauffassung ist mit der Frage der Wirkung der »Demokratisierung« schnell fertig: der Demagoge kommt oben auf, und der erfolgreiche Demagoge ist der Mann, der in den Mitteln der Umwerbung der Massen am unbedenklichsten ist. Eine Idealisierung der Realitäten des Lebens wäre zweckloser Selbstbetrug. Der Satz von der steigenden Bedeutung des Demagogen ist in diesem üblen Sinn nicht selten zutreffend gewesen und ist im richtigen Sinn tatsächlich zutreffend. Im üblen Sinn trifft er für die Demokratie zu in etwa demselben Umfang wie für die Wirkung der Monarchie jene Bemerkung, die vor einigen Jahrzehnten Diese Unterordnung kann bei idealer Beein bekannter General einem selbstregierenden wußtheit und Diszipliniertheit der an der Monarchen machte: »Euer Majestät werden gemeinsamen Arbeit Beteiligten mehr an die bald nur noch Kanaillen um sich sehen.« Eine milde Leitung eines Dirigenten erinnern. Sie nüchterne Betrachtung der demokratischen kann scharfe diktatorische Formen annehmen, Auslese wird stets den Vergleich mit anderen wenn keine ideale Diszipliniertheit und Bewußtmenschlichen Organisationen und ihrem Ausleheit vorhanden ist. (...) Die Revolution hat sesystem heranziehen. Nun genügt jeder Blick soeben die ältesten, stärksten, drückendsten Fesin die Personalien bürokratischer Organisatioseln zerschlagen, denen sich die Massen unter der Knute gefügt hatten. Das war gestern, heute nen, mit Einschluß selbst der besten Offiziersaber fordert dieselbe Revolution, und zwar im korps, um zu erkennen, daß die innere AnerkenInteresse des Sozialismus, die unbedingte Un- nung der Untergebenen: der Vorgesetzte, vor terordnung der Massen unter den einheitlichen allem der schnell avancierte Neuvorgesetzte, Willen der Leiter des Arbeitsprozesses. Es ist »verdiene« seine Stellung, nicht etwa die Regel, verständlich, daß ein solcher Übergang nicht auf sondern die Ausnahme ist. Tiefste Skepsis in einmal möglich ist. Er ist nur zu verwirklichen betreff der Weisheit der Stellenbesetzung, soum den Preis der größten Stöße, Erschütterun- wohl der Motive, welche die besetzenden Stelgen, Rückschläge, der gewaltsamsten An- len leiteten, wie der Mittel, durch welche besonspannung der Energie der proletarischen Avant- ders glückliche Stellenbesitzer ihre Stellen garde, die das Volk zum Neuen fuhrt. (S. 211 f.) erlangt haben, beherrschen (von allem kleinlichen Klatsch ganz abgesehen) die Meinung der großen Mehrzahl gerade der ernsthaften, im Aus: Wladimir I. Uljanow (Lenin), Die Innern dieses Getriebes stehenden Persönlichnächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: keiten. Nur vollzieht sich diese meist stumme ders., Studienausgabe, hg. von Iring FetKritik abseits vom Licht der Öffentlichkeit, die scher, Frankfurt/M. 1970, Bd. 2, S. 185davon nichts ahnt. (...) Der zur öffentlichen 219.
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Macht gelangende Politiker und zumal Parteiführer ist dagegen der Beleuchtung durch die Kritik der Feinde und Konkurrenten in der Presse ausgesetzt und kann sich darauf verlassen, daß im Kampf gegen ihn die Motive und Mittel, welche seinen Aufstieg bedingten, rücksichtslos ans Licht gezogen werden. Nüchterne Beobachtung dürfte also ergeben, daß die Auslese innerhalb der Parteidemagogie, auf die Dauer und aufs Große gesehen, keineswegs nach unbrauchbareren Merkmalen erfolgt als hinter den verschlossenen Türen der Bürokratie. (...) Indessen, diese politisch sterilen Vergleiche und Rekriminationen sollen hier nicht weiter verfolgt werden. Entscheidend wichtig ist: daß für die politische Führerschaft jedenfalls nur Persönlichkeiten geschult sind, welche im politischen Kampf ausgelesen sind, weil alle Politik dem Wesen nach Kampf ist. Das leistet nun einmal das vielgeschmähte »Demagogenhandwerk« im Durchschnitt besser als die Aktenstube, die freilich für sachliche Verwaltung die unendlich überlegene Schulung bietet. Gewiß nicht ohne auffällige Mißverhältnisse. Daß ein bloßer Redetechniker ohne Geist und politischen Charakter starke politische Macht gewinnt, kommt vor. Aber ζ. B. auf August Bebel träfe die Charakterisierung schon nicht zu. Er war: ein Charakter, gewiß: kein Geist. Die Märtyrerzeit und der Zufall, einer der ersten gewesen zu sein, daneben aber jene persönliche Qualität gaben ihm das rückhaltlose Vertrauen der Massen, welches geistig weit bedeutendere Parteigenossen ihm nicht streitig zu machen vermochten. Eugen Richter, Lieber, Erzberger, gehören alle einem qualitativ ähnlichen Typus an. Sie waren erfolgreiche »Demagogen« - im Gegensatz zu weit stärkeren Geistern und Temperamenten, die trotz stärkster Massenerfolge als Redner doch keine .Parte/macht gewannen. Das ist kein Zufall, - aber es ist nicht die Folge der Demokratisierung, sondern erzwungener Beschränkung auf »negative Politik«. Demokratisierung und Demagogie gehören zusammen.
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Aber: ganz unabhängig - das sei wiederholt von der Art der Staatsverfassung, sofern nur die Massen nicht mehr rein als passives Verwaltungsobjekt behandelt werden können, sondern in ihrer Stellungnahme aktiv irgendwie ins Gewicht fallen. Den Weg der Demagogie haben ja in ihrer Art auch die modernen Monarchien beschritten. Reden, Telegramme, Stimmungsmittel aller Art setzen sie für ihr Prestige in Bewegung, und man kann nicht behaupten, daß diese Art politischer Propaganda sich etwa itaatepolitisch als ungefährlicher erwiesen hätte als die denkbar leidenschaftlichste Wahldemagogie. Sondern umgekehrt. Und jetzt im Kriege erlebten wir sogar die für uns neue Erscheinung der Admiralsdemagogie. Die Satrapenkämpfe zwischen dem früheren Reichskanzler und dem Admiral v. Tirpitz wurden (wie im Reichstag mit Recht hervorgehoben worden ist: unter Duldung des letzteren) von seinen Anhängern in einer wilden Agitation in die Öffentlichkeit getragen, an welche sich innerpolitische Interessen anschlossen, um so eine nur von den intimsten Sachkennern zu entscheidende militärtechnische und diplomatische Frage zum Gegenstand einer Demagogie ohnegleichen unter den in diesem Falle tatsächlich »urteilslosen« Massen zu machen. Man wird also jedenfalls nicht behaupten dürfen: daß »Demagogie« eine Eigentümlichkeit einer im politischen Sinn demokratischen Staatsform sei. Die widerlichen Satrapenkämpfe und Intrigen der Ministerkandidaten im Januar 1918 spielten sich wiederum in der Presse und in Volksversammlungen ab. Ohne Einfluß blieb diese Demagogie nicht. Wir haben in Deutschland Demagogie und Pöbeleinfluß ohne Demokratie, vielmehr: wegen des Fehlens einer geordneten Demokratie. Hier soll indes lediglich die Folge der tatsächlichen Bedeutung der Demagogie für die Struktur der politischen Führerstellen erörtert, also die Frage aufgeworfen werden: wie sich infolgedessen Demokratie und Parlamentarismus zueinander verhalten. Die Bedeutung der aktiven
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Massendemokratisierung ist: daß der politische Führer nicht mehr auf Grand der Anerkennung seiner Bewährung im Kreise einer Honoratiorenschicht zum Kandidaten proklamiert, dann kraft seines Hervortretens im Parlament zum Führer wird, sondern daß er das Vertrauen und den Glauben der Massen an sich und also seine Macht mit mauendemagogischen Mitteln gewinnt. Dem Wesen der Sache nach bedeutet dies eine cäsaristische Wendung der Führerauslese. (S. 391-393) Aus: Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 306-443.
JAMES BRYCE Die Macht der Presse Von einerfreienPresse - so wurde angenommen - kann mit Fug erwartet werden, daß sie wahre Tatsachen liefert, weil falsche bald entdeckt und entkräftet werden. Der Wettstreit derer, die den Wunsch des Volks nach Wahrheit kennen, wird die Unterscheidung des Wahren von dem Falschen ermöglichen. Die freie Erörterung wird alle Behauptungen sieben. Alle Argumente werden gehört und geprüft werden. Das Volk wird das Gute zu wählen und das Schlechte zu verwerfen wissen. Es mag eine Zeitlang irregeführt werden, aber die allgemeine Freiheit wird besser wirken als irgendeine Art von Beschränkung. Niemand erhebt jetzt in freien Ländern dagegen grundsätzliche Einwendungen, mag er die Erwartung dessen, was daraus zu resultieren scheint, nun teilen oder nicht. Die Preßfreiheit bleibt die Bundeslade jeder Demokratie. (S. 99) Die Macht der Zeitung, eine der auffallendsten Neuerscheinungen der modernen Welt, hat
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zwei besondere Züge. Es fehlen ihr das Element des Zwanges und das Element der Verantwortlichkeit. Wer immer sich ihrem Einfluß aussetzt, tut es nach eigenem freiem Willen. Er muß die Zeitung nicht kaufen, er muß sie nicht lesen, er muß nicht an sie glauben. Nimmt er sie als seinen Führer an, so tut er das auf eigenen Antrieb. Die Zeitung ist ferner, da sie keine gesetzliche Pflichten hat, auch keiner Verantwortlichkeit unterworfen, außer dem gesetzlichen Schutz gegen unhaltbare Angriffe auf den Privatcharakter oder gegen Anreizungen zu ungesetzlichem Verhalten. Es ist eine alte Maxime, daß Macht und Verantwortung zusammengehen sollen, und daß kein Mensch gut genug ist, um mit einer Macht betraut zu werden, über deren Anwendung er keine Rechenschaft zu geben hätte. Hier aber haben wir Macht mit einer durch nichts als durch das Gewissen beschränkten Anwendung. (S. 112 f.) Die Macht der Presse ist tatsächlich unverantwortlich; denn das einzige, was sie zu fürchten hat - von Verleumdungsklagen abgesehen - , ist die Verminderung ihres Absatzes; die große Majorität ihrer Leser, die allein an Geschäft und Sport Interesse hat, weiß wenig von ihren politischen Irrtümern oder Winkelzügen und kümmert sich kaum darum. (...) Die demokratische Regierung bedingt und erfordert die Geltendmachung einer gut informierten und sensiblen öffentlichen Meinung von Seiten der großen Masse der Bürger. Wo der Stoff für die Meinungsbildung so geschickt geliefert wird, daß die Bürger an der Beurteilung der Qualitäten einer Frage gehindert werden, wird die öffentliche Meinung künstlich gemacht, statt daß man sie natürlich wachsen läßt, und darunter leidet die Demokratie selbst. Niemand wird annehmen, daß ein Hinweis auf die mit dem Mißbrauch der Pressemacht verbundenen Gefahren irgendeine absprechende Beurteilung der unschätzbaren Dienste bedeutet, die sie in modernen freien Ländern leistet. Ohne die Presse würde es, wie bereits erwähnt, in Gebieten, die größer als die Stadtgemeinden
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der alten Welt sind, keine Demokratie geben. Die Zeitung ermöglicht es den Staatsmännern, das ganze Volk durch ihr Wort zu erreichen, und hält Legislativen und Exekutivbeamte unter den Augen des Volkes. Sie zwingt, selbst unverantwortlich, allen, die eine Rolle in der öffentlichen Arbeit spielen, die Verantwortlichkeit auf. Deshalb, weil alleine die Presse soviel Nützliches und Notwendiges leisten kann und leistet, muß die Aufmerksamkeit auf alle Gründe gelenkt werden, die dadurch, daß sie das öffentliche Vertrauen in sie erschüttern, ihre Nützlichkeit fur die Gemeinschaft beeinträchtigen. (S. 117) Aus: James Bryce, Moderne Demokratien, dt. v. Karl Löwenstein und Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, 3 Bände, München 1923-26, Bd. 1.
Louis DEMBITZ
BRANDEIS
Meinungsfreiheit als Elixier der Freiheit in der Demokratie Die Männer, die unsere Unabhängigkeit erkämpften, glaubten, daß der Endzweck des Staates darin besteht, jedem Menschen zu ermöglichen, seine Fähigkeitfreizu entwickeln, und daß in dem von ihnen geschaffenen Staatsgebilde die Kräfte der Besinnung gegenüber den Kräften der Willkür die Oberhand behalten sollten. Sie bewerteten die Freiheit als Mittel und als Ziel. Sie glaubten, daß die unerläßliche Voraussetzung für die Entdeckung und Verbreitung der politischen Wahrheit die Freiheit ist, zu denken und sagen zu dürfen, was man beliebt. Sie waren überzeugt, daß ohne Meinungs- und Versammlungsfreiheit eine Diskussion sinnlos ist und daß, wenn Meinungs- und Versammlungsfreiheit bestehen, eine freie Diskussion in der Regel einen ausreichenden Schutz gegen die Verbreitung schädlicher Lehren gewährt. Sie waren der
Überzeugung, daß die größte Gefährdung der Freiheit die Trägheit des Volkes sei (...), sie wußten, daß Ruhe und Ordnung nicht allein durch Angst vor Strafe gesichert werden können; sie waren sich darüber im klaren, daß es gefahrlich ist, das Denken, die Hoffnung und die Phantasie zu entmutigen. Denn Furcht führt zur Unterdrückung, Unterdrückung zu Haß, und Haß gefährdet ein gefestigtes Staatsgefüge (...) Sie waren davon überzeugt, daß das geeignete Heilmittel gegen schlechte Ratschläge gute Ratschläge sind (...) Die Männer, die in der Revolution unsere Freiheit gewannen, waren keine Feiglinge. Sie waren nicht von der Furcht vor politischen Veränderungen besessen. Sie haben die Ordnung nicht auf Kosten der Freiheit überbewertet. Mutige, vom Selbstvertrauen erfüllte Männer, die an die innere Kraftfreierund furchtloser Diskussionen im Rahmen eines demokratischen Regierungssystems glauben, werden Gefahren, die aus der Äußerung von Meinungen erwachsen können, nur dann als »offenkundige und akute Gefahren« [clear andpresent danger] ansehen, wenn die unmittelbare Möglichkeit besteht, daß ein Unheil eintreten könnte, bevor die Gelegenheit zu einer allumfassenden Diskussion gegeben ist. Denn, solange noch Zeit ist, durch Diskussionen die Unwahrheiten und den Irrtum zu enthüllen, solange noch eine Möglichkeit besteht, das drohende Unheil durch den Prozeß der Bildung abzuwenden, muß das anzuwendende Heilmittel lauten: Fortsetzung der Diskussion und nicht auferzwungenes Schweigen. Unterdrückung der Meinungsfreiheit kann nur durch einen Notstand gerechtfertig werden. Dies muß das Recht sein, wenn Autorität und Freiheit miteinander in Einklang gebracht werden sollen. (S. 82 f.) Aus: Justice Louis Dembitz Brandeis, Whitney v. California, 274 U.S. 357, 375/7, Brandeis concurring, zit. bei: Ernst Fraenkel, Das richterliche Prüfungsrecht in den Vereinigten Staaten von Amerika,
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III. Kapitel
in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, N.F., Bd. 2, Tübingen 1953, S. 35-105.
Die kommissarische Diktatur hebt die Verfassung in concreto auf, um dieselbe Verfassung in ihrem konkreten Bestand zu schützen. (...) Die Aktion des Diktators soll einen Zustand schaffen, in dem das Recht verwirklicht werden kann, denn jede Rechtsnorm setzt einen normaCARL SCHMITT len Zustand als homogenes Medium voraus, in Kommissarische und souveräne Diktatur welchem sie gilt. Infolgedessen ist die Diktatur ein Problem der konkreten Wirklichkeit, ohne Daß jede Diktatur die Ausnahme von einer aufzuhören ein Rechtsproblem zu sein. Die VerNorm enthält, besagt nicht zufallige Negation fassung kann suspendiert werden, ohne aufzueiner beliebigen Norm. Die innere Dialektik des hören zu gelten, weil die Suspension nur eine Begriffs liegt darin, daß gerade die Norm negiert konkrete Ausnahme bedeutet. (...) wird, deren Herrschaft durch die Diktatur in der Die souveräne Diktatur sieht nun in der geschichtlich-politischen Wirklichkeit gesichert gesamten bestehenden Ordnung den Zustand, werden soll. Zwischen der Herrschaft der zu ver- den sie durch ihre Aktion beseitigen will. Sie wirklichenden Norm und der Methode ihrer Ver- suspendiert nicht eine bestehende Verfassung wirklichung kann also ein Gegensatz bestehen. kraft eines in dieser begründeten, also verfasRechtsphilosophisch liegt hier das Wesen der sungsmäßigen Rechts, sondern sucht einen Diktatur, nämlich in der allgemeinen Möglich- Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu keit einer Trennung von Normen des Rechts und ermöglichen, die sie als wahre Verfassung Normen der Rechtsverwirklichung. (...) Die ansieht. Sie beruft sich also nicht auf eine besteRechtfertigung der Diktatur, die darin liegt, daß hende, sondern auf eine herbeizuführende Versie das Recht zwar ignoriert, aber nur, um es zu fassung. (S. 136 f.) verwirklichen, hat also wohl inhaltliche Bedeutung, ist aber noch keine formale Ableitung und Aus: Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den daher keine Rechtfertigung im Rechtssinne, Anfängen des modernen Souveränitätsgedenn der noch so gute wirkliche oder vorgebdankens bis zum proletarischen Klassenliche Zweck kann keinen Rechtsbruch begrünkampf, 2. Aufl., 1928, Ndr. Berlin 1989. den (....) (S.XVIf.) Der Inhalt der Tätigkeit des Legislators ist Recht, aber ohne rechtliche Macht, machtloses Recht; die Diktatur ist Allmacht ohne Gesetz, rechtlose Macht (...) Der Legislator steht außerhalb des Staates, aber im Recht, der Diktator außerhalb des Rechts, aber im Staat. Der Legislator ist nichts als noch nicht konstituiertes Recht, der Diktator nichts als konstituierte Macht. Sobald sich eine Verbindung einstellt, die es ermöglicht, dem Legislator die Macht des Diktators zu geben, einen diktatorischen Legislator und einen verfassungsgebenden Diktator zu konstruieren, ist aus der kommissarischen die souveräne Diktatur geworden. (S. 128 f.)
H A N S KELSEN Kompromiß als Grundlage der parlamentarischen Demokratie Das reine Prinzip der Machtverteilung aber, das sich nicht so sehr in der Verteilung verschiedener Funktionen als vielmehr ein und derselben Funktion auf mehrere Organe und sohin mit der Wirkung der Machtminderung äußert, zeigt allerdings auch in der Demokratie einen dem innersten Wesen dieser Staatsform durchaus ent-
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sprechenden Charakter: Kann die staatliche Funktion nur durch das einverständliche Zusammenwirken zweier oder mehrerer, unter irgendeinem Gesichtspunkt interessengegensätzlicher Organe Zustandekommen, dann muß sie sich in der Richtung eines Kompromisses bewegen. Die Tendenz zum Kompromiß muß aber (...) als ein Grundzug der Demokratie anerkannt werden. (S. 259) Indem das Majoritätsprinzip die Gesamtheit der Normunterworfenen wesentlich nur in zwei Gruppen, in die der Majorität und der Minorität, gliedert, schafft es so die Möglichkeit eines Kompromisses. Kompromiß aber bedeutet: Zurückstellen dessen, was die zu Verbindenden trennt, zugunsten dessen, was sie verbindet. Jeder Tausch, jeder Vertrag ist ein Kompromiß; denn Kompromiß bedeutet: sich vertragen. Alle soziale Integration ist letzten Endes nur durch Kompromiß möglich. Die Majorität selbst kann ja nur durch solches Kompromiß entstehen. Das abfällige, ja verächtliche Urteil, das nicht selten über das Prinzip des Kompromisses und eine kompromißgeneigte Haltung geäußert wird, stammt nicht aus der Ideologie der Freiheit, nicht aus dem Gedanken der Selbstbestimmung. (S. 324) Im übrigen ist der objektive Sinn des kontradiktorisch-dialektischen Verfahrens des Parlamentarismus keineswegs die Erreichung einer stets unerreichbaren - absoluten Wahrheit, eines absolut richtigen staatlichen Willens, sondern (...) die Erzielung einer mittleren Linie zwischen den Interessen der Majorität und der Minorität: das politische Kompromiß. Und gerade unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, läßt sich vielleicht die Parallele zwischen dem parlamentarischen Kampf und dem wirtschaftlichen Wettbewerb aufrechterhalten; denn alle Wirtschaft beruht letzten Endes auf Gütertausch, und jeder Tausch ist, wie bereits früher angedeutet, ein Kompromiß. (S. 359) Aus: Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin u.a. 1925.
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JOHN D E W E Y Die Demokratie ist die soziale Idee des Gemeinschaftslebens Wir hatten Gelegenheit, en passant auf die Unterscheidung zwischen der Demokratie als einer sozialen Idee und der politischen Demokratie als einem Regierungssystem hinzuweisen. Die beiden sind natürlich miteinander verbunden. Die Idee bleibt unfruchtbar und nichtssagend, wenn sie nicht in menschlichen Beziehungen Fleisch geworden ist. Doch in der Untersuchung müssen sie unterschieden werden. Die Idee der Demokratie ist eine weitere und reichere Idee als daß sie selbst im besten Staat exemplifiziert werden kann. Um verwirklicht zu werden, muß sie alle Formen menschlicher Assoziation, die Familie, die Schule, Wirtschaft, Religion erfassen. Und selbst was politische Arrangements angeht, sind Regierungseinrichtungen nichts weiter als Mechanismen, die einer Idee Kanäle für ihr effektvolles Wirken bereitstellen. (S. 125) Wir haben allen Grund anzunehmen, daß, welche Veränderungen die bestehende demokratische Maschinerie auch erfahren mag, sie so beschaffen sein werden, daß sie das Interesse der Öffentlichkeit mehr zum Leitfaden und Kriterium der Regierungstätigkeit machen und die Öffentlichkeit befähigen, ihre Ziele mit noch mehr Autorität zu bilden und zu bekunden. In diesem Sinne ist die Kur für die Leiden der Demokratie mehr Demokratie. Wie wir gesehen haben, liegt die Hauptschwierigkeit in der Entdeckung von Mitteln, durch die eine verstreute, mobile und mannigfache Öffentlichkeit sich selbst so erkennt, daß sie ihre Interessen definieren und ausdrücken kann. Diese Entdeckung steht notwendigerweise vor jeder fundamentalen Veränderung in der Maschinerie. Unser Interesse ist deshalb nicht, Ratschläge für zweckmäßige Verbesserungen in den politischen Formen der Demokratie zu erteilen. (...) Das Problem
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III. Kapitel
liegt tiefer; es ist an erster Stelle ein intellektuel- ben, und die dem Verhalten eines jeden eine les Problem: die Suche nach Bedingungen, unter Richtung geben. Freiheit ist die gesicherte Entdenen die Große Gesellschaft eine Große bindung und Erfüllung persönlicher Potenzen, Gemeinschaft werden kann. Wenn diese Bedin- welche sich nur in einer reichen und mannigfalgungen einmal geschaffen sind, werden sie ihre tigen Assoziation mit anderen ereignen: das Vereigenen Formen erzeugen. Solange sie nicht da mögen, ein individualisiertes Selbst zu sein, das sind, scheint es wenig nützlich, darüber nachzu- einen spezifischen Beitrag leistet und sich auf denken, welche politische Maschinerie zu ihnen seine Weise an den Früchten der Assoziation paßt. (S. 127 f.) erfreut. Gleichheit bezeichnet den ungeschmäAls Idee betrachtet, ist die Demokratie nicht lerten Anteil, den jeder einzelne Angehörige der eine Alternative zu anderen Prinzipien assoziier- Gemeinschaft an den Folgen des assoziierten ten Lebens. Sie ist die Idee des Gemeinschafts- Handelns hat. Dieser ist gerecht, weil er nur am lebens selbst. Sie ist ein Ideal im einzig verstän- Bedürfnis und an der Fähigkeit, nützlich zu sein, digen Sinn eines Ideals: nämlich, die bis zu ihrer gemessen wird, nicht an äußeren Faktoren, die äußersten Grenze getriebene, als vollendet und den einen berauben, damit ein anderer nehmen vollkommen betrachtete Tendenz und Bewe- und haben kann. (S. 129 f.) gung einer bestehenden Sache. (...) Die traditionell mit der Idee der Demokratie verbundenen Aus: John Dewey, Die Öffentlichkeit und Begriffe und Schibboleths erhalten nur dann ihre Probleme, Bodenheim 1996 eine wirklichkeitsgetreue und richtungsweisende Bedeutung, wenn sie als Zeichen und Merkmal einer Assoziation konstruiert werden, welche die bestimmenden Charakteristika einer HERMANN HELLER Gemeinschaft trägt. Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit sind getrennt vom Gemeinschafts- Diktatur und parlamentarische Demokratie leben hoffnungslose Abstraktionen. Ihre losgelöste Behauptung führt zu einer weichlichen Alle heutigen Diktatoren und alle, die es gern Sentimentalität oder aber zu zügelloser und werden möchten, versichern uns, daß sie nichts fanatischer Gewalt, die am Ende ihren eigenen anderes als die »wahre« Demokratie verwirkAbsichten ins Gesicht schlägt. Gleichheit wird licht haben oder verwirklichen wollen. (...) Zu dann zum Kredo einer mechanischen Identität, diesem Zweck muß die Diktatur als auch oder die den Tatsachen widerspricht und unrealistisch sogar noch besser demokratisch hingestellt oder ist. Der Versuch, sie herzustellen, zertrennt die irgendwie legitimiert werden durch die Autorität lebenswichtigen Bande, welche die Menschen des demokratischen Volkswillens. Die Methode, zusammenhalten; sofern er etwas hervorbringt, durch welche eine spezifisch demokratische ist es eine Mittelmäßigkeit, in der das Gute nur Legitimationsgrundlage für die Zwecke einer im Sinne von Durchschnittlichkeit und Vulgari- autokratischen Diktatur adaptiert wird, ist recht tät bekannt ist. Freiheit wird dann für Unabhän- interessant. Dazu werden zunächst die entspregigkeit von sozialen Bindungen gehalten und chenden Freiheitsrechte des demokratischen endet in Auflösung und Anarchie. (...) In ihrer Rechtsstaates durch den heute so populären gerechtfertigten Verbindung mit der Gemein- Appell an den antiliberalen Affekt als »bürgerschaftserfahrung ist Brüderlichkeit ein anderer lich« kompromittiert. Gelingt es nun, die bürName für die bewußt geschätzten Güter, die aus gerliche Freiheit der Meinung, die Vereins-, Vereiner Assoziation entstehen, an der alle teilha- sammlungs- und Preßfreiheit, die geheime
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Einzelabstimmung als »eigentlich« undemokratisch herabzusetzen, so sind zugleich die Garantien einer allein demokratischen Ermittlung des Volkswillens beseitigt. Denn nun gibt es keine freie Agitation, keine unbeeinflußte Abstimmung und kein kontrolliertes Wahlverfahren mehr. Der Diktator kann den Volkswillen ganz nach Wunsch so oder auch anders funktionieren lassen, und es lassen sich selbst die Plebiszite Napoleon III. und Mussolinis als demokratische »Akklamation« bezeichnen. (S. 457 f.) Aus: Hermann Heller, Rechtsstaat oder Diktatur?, in: ders., Gesammelte Schriften, Leiden 1971, Bd. 2, S. 443-462. In ganz besonderer Weise beruht der Parlamentarismus auf einem alle Gegensätze integrierenden gemeinsamen Willensgehalt. Seinem Sinn nach soll die politische Einheitsbildung in möglichster Freiheit und Gleichheit der politischen Betätigungsmöglichkeiten für alle Gruppen stattfinden. Nicht durch ein gewaltsames Diktieren von oben nach unten, sondern durch das Parlieren, die Verhandlung, Verständigung, Diskussion zwischen allen Gruppen soll das politische System von Willensvereinheitlichungen von unten nach oben hergestellt werden. (...) Selbstverständlich ist für den Parlamentarismus wie für jede politische Einrichtung die staatliche Einheitsbildung der Zweck und die vernünftige Diskussion nur sein spezielles Mittel. Er befindet sich nur deshalb in einer Krise, weil die vorausgesetzte Wert- und Willensgemeinschaft, welche die den Parteiungen für die gewaltlose parlamentarische Diskussion unentbehrliche gemeinsame Diskussionsbasis bietet, weitgehend fehlt. Und tatsächlich sind die sozialen Gegensätze in dem gleichen Augenblick nicht mehr demokratisch zu organisieren, in dem dem politischen Gegner die gemeinsame Diskussionsgrundlage nicht zugebilligt wird. Denn ohne sie verliert das konstitutive Organisationsprinzip der Demokratie, die politische
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Führerauslese und Zielsetzung durch Majoritätsentscheid, jede Geltungskraft. Demokratie ist Herrschaft des Volkes als Einheit über das Volk als Vielheit. Das technische Mittel der demokratischen Einheitsbildung ist einzig und allein die freiwillige Unterwerfung der Minorität unter den Willen der Majorität, der Verzicht der Minderheit auf ihre gewaltsame Durchsetzung gegen die Mehrheit, der Verzicht der Mehrheit aber auf gewaltsame Unterdrückung der Minderheit und ihrer Aussichten, im nächsten Falle zur Majorität zu werden. Der Majoritätsentscheid ist aber sowohl logisch wie politischnormativ nur innerhalb einer Totalität sinnvoll; Mehrheit hat Verpflichtungskraft nur innerhalb einer Ganzheit. Wo das Volk als vorgegebene Einheit, die politische Nation, nicht in allen, wenn auch noch so scharf geführten Kämpfen vorausgesetzt wird, ist es leicht, dem Majoritätsprinzip mit dem Satz zu begegnen: Verstand ist immer nur bei wenigen gewesen. In der Tat kann ich mich auf die geistige parlierende Betätigung meines politischen Willens nur dann beschränken und meine bessere Überzeugung nur dann dem Mehrheitswillen gewaltlos unterordnen, wenn ich die Gesamtexistenz der konkreten Willens- und Wertgemeinschaft politisch (wenn auch religiös und ethisch nur relativ) höher einschätze als die jedesmalige Durchsetzung meiner vielleicht besseren Einsicht. (S. 468 - 470) Aus: Hermann Heller, Europa und der Fascismus, in: ders., Gesammelte Schriften, Leiden 1971, Bd. 2, S. 463-609.
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OTTO HINTZE Der moderne Staatstypus mündet in die nationale Demokratie [Zum] Idealtypus des modernen Staates, wie er sich seit dem Mittelalter herausgebildet hat (...) [gehören:] 1. der souveräne Machtstaat im Rahmen des europäischen Staatensystems, 2. der relativ geschlossene Handelsstaat mit bürgerlich-kapitalistischer Gesellschafts- und Wirtschaftsform, 3. der liberale Rechts- und Verfassungsstaat mit der Richtung auf die persönliche Freiheit des Individuums, 4. der alle diese Tendenzen umfassende und steigernde Nationalstaat, mit der Richtung auf die Demokratie. (S. 476) [Der Nationalstaat:] Seine Struktur ist nicht individualistisch, sondern kollektivistisch, genauer gesprochen: bündisch-genossenschaftlich. Er stellt eine Verbindung des Volkes zu einer handlungsfähigen Einheit dar, also eine Einheit nicht in herrschaftlicher, sondern in genossenschaftlicher Form. Was man als die natürliche Volksgemeinschaft bezeichnen könnte, und was dem modernen Staat von Anfang an zugrunde lag, ist ein naives Zusammengehörigkeitsgefühl auf Grund der Voraussetzung oder Einbildung einer gemeinschaftlichen Abstammung, vor allem aber auf Grund der tatsächlichen Sprach- und Kulturgemeinschaft und der gemeinsamen historischen Erlebnisse und Erinnerungen. Aber diese unbestimmte Völksgemeinschaft, in die man unbewußt und unwillkürlich hineinwächst, ist an sich noch kein starker politischer »Integrationsfaktor« (Smend), der zur Herstellung des Nationalstaates im eigentlichen Sinne führt. Sie kann dazu führen, aber dazu bedarf es besonderer Institutionen oder historischer Akte. In England ist der Nationalstaat langsam erwachsen im gleichen Schritt mit der Ausbildung des Parlaments, dessen genossenschaftliche Grundlage hier der natürlichen Volksge-
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meinschaft eine festen Halt bot. (...) In Amerika schließt die nationale Staatsbildung an die Unabhängigkeitserklärung vom 4.7.1776 an, aber ihre Vollendung findet sie erst in der Annahme der Unionsverfassung von 1787, die überall mit »federal processions« gefeiert wurde. Auf dieser Grundlage hat sich dann im Laufe des 19. Jahrhunderts die amerikanische Nation aus der Mischung mit den Einwanderern wie in einem Schmelztiegel gebildet. In Frankreich (...) kommt er zum Durchbruch, nach dem Bastillesturm, in den Föderationsfesten, namentlich in dem Pariser Föderationsfest vom 14.7.1790, das die Franzosen mit gutem Grund zu ihrem Nationalfeiertag gemacht haben. (...) Genossenschaft ist nicht, wie man oft meint, gleichbedeutend mit Gemeinschaft. Zwischen beiden liegt das Stadium der individualistischen Differenzierung, in der die Rechtsperson entsteht. Die Mitglieder der Genossenschaft sind Rechtspersonen mit subjektiven Rechtsansprüchen gegenüber der Gesamtheit, wovon in der Gemeinschaft noch nicht gesprochen werden kann. Für den Nationalstaat bedeutet das, wie Rousseau klar gemacht hat, daß die Untertanen nicht bloß Objekte der Staatsgewalt sind sondern auch als Rechtssubjekte Anteil an ihr haben, daß sie nicht bloß sujets sind sondern Bürger (citoyens). Darum verbindet sich der Nationalstaat so leicht mit dem Prinzip der Nationalsouveränität. Die Fürstensouveränität des alten Obrigkeitsstaates verwandelt sich in die Volkssouveränität des neuen Volksstaates. Das ist eine gewaltige Veränderung. Wie bei allen Bundesakten spielt etwas Irrationales, Mystisches hinein: ein Rausch, eine Begeisterung, die zur Ekstase werden kann. Der Nationalismus des Laienstaates ist vielfach, man kann sagen, eine Art von Religionsersatz geworden, namentlich, wo er so explosiv auftritt wie in Frankreich. Überall aber ist ihm ein Ethos eigen, das in außerordentlichen Zeiten, wo »das Vaterland in Gefahr« ist, namentlich im Kriege, zu einem starken Pathos sich steigern kann. (S. 485-487)
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Man sieht: diese vier Typen treten nacheinander auf, einer den andern überlagernd und sich mit ihm verschmelzend. Der erste - der souveräne Machtstaat - beherrscht die Zeit bis 1650 etwa noch allein; er ist noch durch Konfessionalismus und ständische Verfassung charakterisiert. Der zweite und dritte - Wirtschafts- und Rechtsstaat - fallen chronologisch mehr miteinander zusammen. Sie beherrschen als Modifikationen des souveränen Machtstaates die Zeit bis zum 19. Jahrhundert etwa und zeigen die Spaltung zwischen dem Parlamentarismus in England und dem monarchischen Absolutismus auf dem Kontinent. In dem vierten - dem nationalen - Typus wird die Repräsentatiwerfassung allgemein, mit der Richtung auf allgemeines Wahlrecht und Demokratie. In ihrer Verschmelzung machen diese vier Typen das Wesen des modernen Staates aus, wie er sich seit dem Ende des Mittelalters bis zum 20. Jahrhundert herausgebildet hat. (S. 488) Aus: Otto Hintze, Wesen und Wandlung des modernen Staats, in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1: Staat und Verfassung, hg. von Gerhard Oestreich, 2. erweiterte Aufl., Göttingen 1962, S. 470496.
JOSEPH SCHUMPETER Demokratie als Elitenkonkurrenz Es sei daran erinnert, daß unsere Hauptschwierigkeiten bei der klassischen Theorie [der Demokratie als Volksherrschaft] sich um die Behauptung gruppierten, daß »das Volk« eine feststehende und rationale Ansicht über j ede einzelne Frage besitzt und daß es - in einer Demokratie - dieser Ansicht dadurch Wirkungskraft verleiht, daß es »Vertreter« wählt, die dafür sorgen, daß diese Ansicht ausgeführt wird. So wird
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die Wahl der Repräsentanten dem Hauptzweck der demokratischen Ordnung nachgeordnet, der darin besteht, der Wählerschaft die Macht des politischen Entscheides zu verleihen. Angenommen nun, wir vertauschen die Rollen dieser beiden Elemente und stellen den Entscheid von Fragen durch die Wählerschaft der Wahl jener Männer nach, die die Entscheidung zu treffen haben. Oder um es anders auszudrücken: wir nehmen nun den Standpunkt ein, daß die Rolle des Volkes darin besteht, eine Regierung hervorzubringen oder sonst eine dazwischengeschobene Körperschaft, die ihrerseits eine nationale Exekutive oder Regierung hervorbringt. Und wir definieren: die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben. (S. 427 f.) Der Begriff des Konkurrenzkampfes um die Führung (...) bietet ähnliche Schwierigkeiten wie der Begriff der Konkurrenz in der wirtschaftlichen Sphäre, mit dem er nutzbringend verglichen werden kann. Im Wirtschaftsleben fehlt die Konkurrenz nie völlig, aber sie ist kaum je vollkommen. Ähnlich besteht im politischen Leben immer einige Konkurrenz, wenn auch vielleicht nur potentiell, um die Gefolgschaft des Volkes. Zur Vereinfachung haben wir jene Art von Konkurrenz um die Führung, die die Demokratie definieren soll, auf freie Konkurrenz um freie Stimmen beschränkt. Berechtigt ist dies deshalb, weil »Demokratie« eine anerkannte Methode zu implizieren scheint, nach welcher der Konkurrenzkampf zu fuhren ist, und weil die Methode der Wahl praktisch die einzig mögliche für Gemeinwesen aller Größen ist. Doch obschon dadurch viele Arten der Gewinnung der Führung ausgeschlossen werden, die ausgeschlossen werden sollten, wie zum Beispiel die Konkurrenz durch einen militärischen Aufstand, werden doch nicht die Fälle ausgeschlossen, die auffallend analog zu jenen wirt-
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schaftlichen Phänomenen sind, die wir als »unfaire« oder »betrügerische« Konkurrenz oder als Konkurrenzbeschränkung bezeichnen. Und wir können sie nicht ausschließen, da uns, wenn wir es täten, nur ein völlig wirklichkeitsfremdes Idealbild übrig bliebe. Zwischen diesem Idealfall, der nicht existiert, und den Fällen, in welchen jegliche Konkurrenz mit dem regierenden Führer mit Gewalt verhindert wird, liegt eine fortlaufende Reihe von Variationen, innerhalb derer die demokratische Regierungsmethode mit unendlich kleinen Schritten allmählich in die autokratische übergeht. Aber wenn wir nicht philosophieren, sondern verstehen wollen, so ist dies durchaus in Ordnung. Der Wert unseres Kriteriums wird dadurch nicht ernsthaft geschädigt. (S. 430 f.) Aus: Joseph A Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Einleitung von Edgar Salin, Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Preiswerk, 6. Aufl., Tübingen 1987
FRANZ L. NEUMANN Demokratie und Bürokratie Heute werden Übergriffe der Bürokratie in fast allen Ländern als eine Bedrohung der Freiheit des Individuums verdammt. Und wenn wir Demokratie ausschließlich als ein Organisationsmodell definieren, nach dem die politische Macht unter frei gewählten Volksvertretern aufgeteilt wird, so läßt sich ohne weiteres feststellen, daß eine Bürokratie, die dauerhaft, hierarchisch gegliedert und einer eigenmächtigen Befehlsgewalt unterworfen ist, als Widerspruch zur Demokratie erscheinen muß. Demokratie ist aber nicht ein bloßes Organisationsmodell; sie ist auch ein Wertsystem, und die von ihr verfolgten Ziele können sich verändern. Der Konkur-
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renzkapitalismus zielte einzig und allein darauf ab, die Freiheit der Gesellschaft vor staatlicher Einmischung zu schützen. In der Ära des Kollektivismus, der den Konkurrenzkapitalismus als Resultat tiefgreifender ökonomischer Wandlungen ablöste, und in dem die Massen die Berücksichtigung ihrer materiellen Lage verlangen, erweist sich das durch die liberale Demokratie repräsentierte Wertsystem als unangemessen. Arbeitslosen-, Kranken- und Invalidenversicherung, Wohnungsbauprogramme werden zur Notwendigkeit und müssen als unverzichtbarer Teil der Demokratie akzeptiert werden. Darüber hinaus muß eine gewisse Kontrolle des ökonomischen Handelns eingeführt werden. Offensichtlich bieten sich zur Verwirklichung dieser neuen Ziele zwei Methoden an: Eine, als pluralistische Lösung, enthält die Selbstverwaltung durch die privaten interessierten Parteien; die andere, die monistische Lösung, bedeutet bürokratische Bevormundung. Die Wahl zwischen beiden fällt nicht leicht, um so weniger, als das Maximum an bürokratischer Macht nur dann erreicht wird, wenn staatliche und private Bürokratie einander durchdringen. Die Bevorzugung der Selbstverwaltung folgt nicht unbedingt aus dem Wesen der Demokratie. Das wäre der Fall und in der Tat die Ideallösung, wenn die privaten Bürokratien in allen wichtigen Fällen eine Einigung erzielen könnten, ohne die Interessen der Gesellschaft insgesamt zu verletzen. Aber diese Erwartung ist utopisch. Wann immer private Gruppen zu einer Einigung kamen, geschah es auf Kosten der Gesamtgesellschaft; gewöhnlich hatte der Verbraucher zu leiden, und ein Eingreifen der Regierung erwies sich als unabdingbar. Unsere Gesellschaft ist nicht harmonisch, sie ist antagonistisch, und der Staat wird immer die ultima ratio sein. (...) Konfrontiert mit der Wahl zwischen zwei Arten von Bürokratie, mag die Bürgerschaft die öffentliche der privaten Bürokratie vorziehen; denn private Bürokratien verfolgen private Gruppeninteressen, während öffentliche Bürokratien, selbst wenn sie von
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Klasseninteressen beherrscht werden, dem Allgemeinwohl eher zuneigen. Das ist darin begründet, daß Staatsbürokratien festgesetzten und nachprüfbaren Regeln gehorchen, während private Bürokratien geheime Anweisungen befolgen. Der Staatsdiener wird nach einem Laufbahnsystem ausgewählt, das auf dem Prinzip der Chancengleichheit für jeden Bewerber beruht, wenngleich dieses Prinzip in der Praxis häufig pervertiert wird. Private Bürokratien kooptieren ihre Mitglieder, und dieser Vorgang entzieht sich der Kontrolle durch die Öffentlichkeit. (S. 108-110) Aus: Franz L. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, übersetzt von Hedda Wagner und Gert Schäfer, Frankfurt/M. 1988.
FRIEDRICH A . HAYEK Unvereinbarkeit von Demokratie und Planwirtschaft Demokratie ist nur um den Preis zu haben, daß allein solche Gebiete einer bewußten Lenkung unterworfen werden können, auf denen eine wirkliche Übereinstimmung über die Ziele besteht, während man andere Bereiche sich selber überlassen muß. Aber in einer Gesellschaft, die durch eine zentrale Planwirtschaft reguliert wird, ist es unmöglich, zu warten, bis sich eine Majorität findet, die sich auf die Ziele einigen kann. Vielmehr wird es oft notwendig sein, dem Volk den Willen einer kleinen Minorität aufzuzwingen, weil diese Minorität das äußerste Maximum von Leuten darstellt, die sich über die betreffenden Fragen einigen können. Die Regierungsform der Demokratie hat sich überall bewährt, wenn und solange die Staatsaufgaben entsprechend einer herrschenden Auffassung
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auf Gebiete begrenzt wurden, auf denen sich im Wege freier Diskussion eine Majorität zusammenfinden konnte, und es ist das große Verdienst des Liberalismus, daß er die Zahl der Fragen, über die man sich im Staate einigen mußte, auf solche beschränkte, für die eine solche Übereinstimmung in einer Gesellschaft freier Menschen als wahrscheinlich vorausgesetzt werden konnte. (...) Nun kommt es uns ganz gewiß nicht in den Sinn, aus der Demokratie einen Fetisch zu machen. Es kann sehr wohl sein, daß unsere Generation die Demokratie zu viel im Munde führt, ohne genügend die Werte im Auge zu haben, denen sie dienen soll. (...) Die Demokratie ist vielmehr wesentlich ein Mittel und ein von der Nützlichkeit diktiertes Instrument fiir die Wahrung des inneren Friedens und der individuellen Freiheit. In dieser Eigenschaft ist sie keineswegs unfehlbar oder von absolut sicherer Wirkung. (S.98f.) Die Erfahrungen der verschiedenen Länder Mitteleuropas haben zur Genüge gezeigt, wie selbst eine formale Anerkennung der Persönlichkeitsrechte oder der Gleichberechtigung von Minoritäten jede Bedeutung in einem Staate verliert, der die vollkommene Überwachung des Wirtschaftslebens auf sich nimmt. Es hat sich erwiesen, daß es möglich ist, eine Politik rücksichtsloser Unterdrückung von Minoritäten mit Hilfe der allgemein akzeptierten Mittel der Wirtschaftspolitik durchzuführen, ohne jemals den gesetzlichen Minderheitenschutz dem Buchstaben nach zu verletzen. Diese Unterdrückung mit Hilfe der Wirtschaftspolitik wurde bedeutend dadurch erleichtert, daß bestimmte Industrien oder Berufszweige weitgehend in der Hand einer völkischen Minderheit waren, so daß viele Maßnahmen, die anscheinend gegen eine Industrie oder eine Klasse gerichtet waren, sich in Wahrheit gegen eine ethnische Minderheit richteten. Aber die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten einer Politik der Schlechterbehandlung und Unterdrückung, die durch solche scheinbar harmlosen Grundsätze wie »öffentli-
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che Überwachung der Industrieentwicklung« geliefert wurden, haben allen, die sehen wollen, zur Genüge gezeigt, wie die politischen Folgen der Planwirtschaft in der Praxis aussehen. (S. 118) Aus: Friedrich A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, hg. und eingeleitet von Wilhelm Röpke, übersetzt von Eva Röpke, Zürich 1945.
HANNAH ARENDT Die politische Welt als öffentlicher Raum Das Wort »öffentlich« bezeichnet zwei eng miteinander verbundene, aber doch keineswegs identische Phänomene. Es bedeutet erstens, daß alles, was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist, wodurch ihm die größtmögliche Öffentlichkeit zukommt. Daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit zukommt. Verglichen mit der Realität, die sich im Gehört- und Gesehenwerden konstituiert, führen selbst die stärksten Kräfte unseres Innenlebens - die Leidenschaften des Heizens, die Gedanken des Geistes, die Lust der Sinne - ein ungewisses, schattenhaftes Dasein, es sei denn, sie werden verwandelt, gleichsam entprivatisiert und entindividualisiert, und so umgestaltet, daß sie eine für öffentliches Erscheinen geeignete Form finden. (...) Die Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, und hören, was wir hören, versichert uns der Realität der Welt und unser selbst; und wenn auch die vollentwickelte Intimität des privaten Innenlebens, die wir der Neuzeit und dem Niedergang des Öffentlichen zu danken haben, die Skala subjektiven Fühlens und privaten Empfindens aufs höchste gesteigert und bereichert hat,
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so konnte doch diese Intensivierung naturgemäß nur auf Kosten des Vertrauens in die Wirklichkeit der Welt und der in ihr erscheinenden Menschen zustande kommen. (...) Da unser Realitätsgefiihl durchaus davon abhängig ist, daß es Erscheinungen und damit einen öffentlichen Raum gibt, in den etwas aus der Dunkelheit des Verborgenen und Geborgenen heraustreten kann, verdankt selbst das Zwielicht, das unser intimes Privatleben notdürftig erhellt, seine Leuchtkraft dem blendend unerbittlichen Licht, das aus der Öffentlichkeit strahlt. Nun gibt es aber eine große Anzahl von Sachen, die die Helle nicht aushalten, mit der die ständige Anwesenheit anderer Menschen den öffentlichen Raum überblendet, der nur duldet, was er als relevant anerkennt, würdig, von allen betrachtet oder angehört zu werden, so daß, was in ihm irrelevant ist, automatisch zur Privatsache wird. (...) Dabei kann sogar das, was die Öffentlichkeit für irrelevant ansieht, so faszinierend und bezaubernd reizvoll werden, daß ein ganzes Volk sich ihm zuwendet, in ihm eine Lebensform findet, ohne daß es doch deshalb seinen wesentlich privaten Charakter verlöre .(...) Die zärtliche Sorgfalt und Vorsorge, die in diesem engsten Bereich waltet, mag wohl in einer Welt, deren rapide Industrialisierung ständig die Dinge des gewohnten Gestern zerstört, um Platz zu schaffen für die Erzeugung des Neuen, anmuten, als habe sich hierin die letzte, rein menschliche Freude an der Welt der Dinge geflüchtet. Aber diese Ausweitung des Privaten, dieser Zauber, den gleichsam ein ganzes Volk über den Alltag gebreitet hat, stellt keinen öffentlichen Raum bereit, sondern bedeutet im Gegenteil nur, daß das Öffentliche aus dem Leben des Volkes nahezu vollständig geschwunden ist, so daß überall das Entzücken und der Zauber, und nicht Größe oder Bedeutung vorwalten. Denn bezaubernd gerade kann das Öffentliche, das sich der Größe eignet, niemals sein, und zwar eben darum, weil es für das Irrelevante keinen Platz hat. Der Begriff des Öffentlichen bezeichnet
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zweitens die Welt selbst, insofern sie das uns Gemeinsame ist und als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist, also dem Ort, den wir unser Privateigentum nennen. Doch ist dies weltlich Gemeinsame keineswegs identisch mit der Erde oder der Natur im Ganzen, wie sie dem Menschengeschlecht als ein begrenzter Lebensraum und als Bedingtheit seines organischen Lebens angewiesen sind. Die Welt ist vielmehr sowohl ein Gebilde von Menschenhand wie der Inbegriff aller nur zwischen Menschen spielender Angelegenheiten, die handgreiflich in der hergestellten Welt zum Vorschein kommen. In der Welt zusammenleben heißt wesentlich, daß eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist. Der öffentliche Raum wie die uns gemeinsame Welt versammelt Menschen und verhindert gleichzeitig, daß sie gleichsam über- und ineinanderfallen. Was die Verhältnisse in einer Massengesellschaft für alle Beteiligten so schwer erträglich macht, liegt eigentlich, jedenfalls nicht primär, in der Massenhaftigkeit selbst; es handelt sich vielmehr darum, daß in ihr die Welt die Kraft verloren hat, zu versammeln, das heißt, zu trennen und zu verbinden. Diese Situation ähnelt in ihrer Unheimlichkeit einer spiritistischen Seance, bei der eine um einen Tisch versammelte Anzahl von Menschen plötzlich durch irgendeinen magischen Trick den Tisch aus ihrer Mitte verschwinden sieht, so daß nun zwei sich gegenüber sitzende Personen durch nichts mehr getrennt, aber auch durch nichts Greifbares mehr verbunden sind. (S. 49-52) Nur die Existenz eines öffentlichen Raumes in der Welt und die in ihm erfolgende Verwandlung von Objekten in eine Dingwelt, die Menschen versammelt und miteinander verbindet, ist auf Dauerhaftigkeit angewiesen. Eine Welt, die
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Platz für Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein; sie muß die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen. Ohne dies Übersteigen in eine mögliche irdische Untserblichkeit kann es im Ernst keine Politik noch eine gemeinsame Welt noch eine Öffentlichkeit geben. (S. 54) Aus: Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967.
JACOB TALMON Liberale und totalitäre Demokratie Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden heute bestehenden Schulen demokratischen Denkens liegt nicht etwa darin, wie vielfach behauptet wird, daß die eine Seite den Wert der Freiheit anerkennt, während die andere Seite diesen Wert verneint. Er liegt in der unterschiedlichen Einstellung zur Politik. Die liberale Auffassung geht davon aus, daß Politik eine Sache des Experimentierens ist, immer aufs neue »trial and error«; sie betrachtet politische Systeme als pragmatische Einrichtungen menschlicher Schöpfungskraft und Freiwilligkeit, und gleichzeitig werden für persönliche und kollektive Bestrebungen vielerlei Ebenen anerkannt, die gänzlich außerhalb der politischen Sphäre liegen. Die Lehre der totalitären Demokratie hingegen basiert auf der Annahme einer alleinigen und ausschließlichen Wahrheit in der Politik. Man kann sie politischen Messianismus nennen in dem Sinne, daß sie eine vorausbestimmte harmonische und vollkommene Ordnung der Dinge postuliert, zu der die Menschen unwiderstehlich getrieben und zwangsläufig gelangen werden. Sie erkennt im Grunde als einzige Daseinsebene die politische an und sie erweitert den Umfang des Politischen derart, daß damit das ganze
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menschliche Dasein umfaßt wird. (...) Beide Schulen versichern, die Freiheit sei das höchste Gut. Während jedoch die eine das Wesen der Freiheit in Spontaneität und in dem Fehlen jeglichen Zwanges sieht, glaubt die andere, daß man die Freiheit nur dann verwirklichen kann, wenn ein absolutes kollektives Ziel angestrebt und erreicht wird. (...) Das Problem, vor das die totalitäre Demokratie sich gestellt sieht und das einen der Hauptgegenstände dieser Untersuchung bildet, kann das Paradox der Freiheit genannt werden. Ist menschliche Freiheit vereinbar mit einem Modell der Gesellschaftsordnung, das alle anderen Möglichkeiten verneint, selbst wenn diese Ordnung ein Höchstmaß an sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit anstreben möchte? (S. 1 f.)
vagen unbestimmten Analogie variieren. Einmal hervorgerufen, durchtränken sie den frischen Eindruck mit älteren Bildern und projizieren in die Welt, was im Gedächtnis wiedererweckt wird. (S. 68) Daß Moralcodices die Tatsachen in besonderer Weise ansehen, läßt sich meines Erachtens in überwältigender Form beweisen. Unter dem Begriff »Moralcodices« fasse ich alle ihre Formen zusammen: persönliche, familiäre, wirtschaftliche, berufliche, rechtliche, vaterländische, internationale Vorschriften. Im Mittelpunkt eines jeden Sittengesetzes steht ein psychologisches, soziologisches und geschichtliches Stereotypenmodell. Dieselbe Anschauung von der menschlichen Natur, den menschlichen Einrichtungen und der Tradition ist kaum überall in allen unseren Sittencodices zu finden (...)
Aus: Jacob L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln/Opladen 1961.
Das ist also der Punkt, wo Codices so unmerklich und so allgegenwärtig bei der öffentlichen Meinungsbildung mitwirken. Die althergebrachte Theorie behauptet, daß eine öffentliche Meinung ein moralisches Urteil über eine Reihe von Tatsachen darstellt. Die Theorie, die ich vertrete, besagt dagegen, daß beim gegenwärtigen Stande der Erziehung die öffentliche Meinung vornehmlich eine moralisierte und kodifizierte Variante der Tatsachen ist. Ich behaupte, daß das Stereotypenmodell im Zentrum unserer Codices weithin vorausbestimmt, welche Tatsachengruppe wir sehen und in welchem Lichte wir sie sehen sollen. Das ist auch der Grund, warum in der allerbesten Absicht die Nachrichtenpolitik einer Zeitschrift die Herausgeberansicht zu unterstützen strebt; warum ein Kapitalist eine Gruppe von Tatsachen und bestimmte Aspekte des menschlichen Lebens buchstäblich sieht; sein sozialistischer Gegner sieht eine andere Gruppe von Tatsachen und andere Aspekte. Daher betrachtet jeder den anderen als unvernünftig oder verstockt, während der wahre Unterschied zwischen ihnen in der unterschiedlichen Wahrnehmung liegt. (S. 91- 93)
WALTER LIPPMANN Die Macht der Stereotypen Die Einflüsse, die das Stereotypenrepertoire schafft und erhält, sind die feinsten und allgegenwärtigsten von allen. Wir werden über die Welt bereits unterrichtet, bevor wir sie sehen. Wir stellen uns die meisten Dinge vor, bevor wir unsere Erfahrungen damit machen. Und diese vorgefaßten Meinungen beherrschen aufs stärkste den ganzen Vorgang der Wahrnehmung, es sei denn, die Erziehung habe sie uns in aller Deutlichkeit bewußt gemacht. Sie heben gewisse Gegenstände als vertraut oder fremdartig heraus, betonen den Unterschied, so daß das oberflächlich Vertraute als besonders vertraut, das leicht Fremde als völlig fremdartig erscheint. Kleine Zeichen rufen sie hervor. Sie können von einem echten Anzeichen bis zu einer
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Im wirklichen Leben handelt niemand nach der Theorie, daß er eine öffentliche Meinung zu jeder öffentlichen Frage haben kann, obwohl diese Tatsache da oft verborgen bleibt, wo jemand denkt, es gäbe keine öffentliche Frage, nur weil er selbst keine öffentliche Meinung hat. (...) Das Maß verfügbarer Aufmerksamkeit ist bei weitem zu klein fur ein Schema, das annahm, alle Bürger der Nation würden, nachdem sie sich die Veröffentlichungen aller Informationsbüros zu Gemüte geführt haben, wachsam, informiert und neugierig auf die Menge realer Fragen sein, die niemals so recht in einen großzügigen Grundsatz hineinpassen. (...) Zeitungsleute würden dieses Material studieren, vornehmlich aber Fachleute und politische Wissenschaftler. Der Außenstehende jedoch - und jeder von uns ist Außenstehender angesichts aller Aspekte des modernen Lebens, ausgenommen einiger - hat weder Zeit noch Aufmerksamkeit, noch Interesse, noch die Ausbildung für ein Fachurteil. Die täglichen Verwaltungsmaßnahmen der Gesellschaft müssen sich auf die im Innern unter ordentlichen Bedingungen arbeitenden Menschen stützen. Die allgemeine Öffentlichkeit draußen kann zu Urteilen darüber, ob diese Bedingungen in Ordnung sind, nur aufgrund des Berichtes nach dem Ereignis und aufgrund des Verfahrens vor dem Ereignis gelangen. Die klaren Prinzipien, auf die die Aktion der öffentlichen Meinung ständig einwirken kann, sind notwendigerweise Verfahrensgrundsätze. Der Außenstehende kann Experten befragen, ob die ausschlaggebenden Fakten gebührend berücksichtigt worden sind. Er kann jedoch in den meisten Fällen nicht selbst entscheiden, was den Ausschlag geben soll oder wie weit eine gebührende Berücksichtigung geht. (S. 268-270) Aus: Walter Lippmann, Die öffentliche Meinung, dt. von Hermann Reidt, München 1964.
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JÜRGEN HABERMAS Öffentlichkeit, Deliberation und Rechtsstaat Diese [deliberative Politik] wiederum ist an die anspruchsvollen Kommunikationsvoraussetzungen politischer Arenen gebunden, die sich nicht mit dem Umfang der in parlamentarischen Körperschaften institutionalisierten Willensbildung decken, sondern ebenso auf die politische Öffentlichkeit wie auf deren kulturellen Kontext und deren soziale Basis erstrecken. Eine deliberative Selbstbestimmungspraxis kann sich nur im Zusammenspiel der verfahrensrechtlich institutionalisierten, auf Entscheidung programmierten Willensbildung parlamentarischer Körperschaften einerseits, mit der politischen Meinungsbildung in den informellen Kreisläufen der politischen Kommunikation andererseits entfalten. (S. 334) Die Öffentlichkeiten parlamentarischer Körperschaften sind vorwiegend als Rechtfertigungszusammenhang strukturiert. Sie bleiben nicht nur auf die administrative Zuarbeit und Weiterverarbeitung angewiesen, sondern auch auf den Entdeckungszusammenhang einer nicht durch Verfahren regulierten Öffentlichkeit, die vom allgemeinen Publikum der Staatsbürger getragen wird. Dieses »schwache« Publikum ist Träger der »öffentlichen Meinung«. Die von Beschlüssen entkoppelte Meinungsbildung vollzieht sich in einem offenen und inklusiven Netzwerk von sich überlappenden subkulturellen Öffentlichkeiten mit fließenden zeitlichen, sozialen und sachlichen Grenzen. Die Strukturen einer solchen pluralistischen Öffentlichkeit bilden sich, innerhalb eines grundrechtlich garantierten Rahmens, mehr oder weniger spontan. Die prinzipiell unbegrenzten Kommunikationssströme fließen durch die vereinsintern veranstalteten Öffentlichkeiten, die informelle Bestandteile der allgemeinen Öffentlichkeit bilden, hindurch.
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Insgesamt bilden sie einen »wilden« Komplex, der sich nicht im ganzen organisieren läßt. Wegen ihrer anarchischen Struktur ist die allgemeine Öffentlichkeit ihrerseits den Repressions- und Aussschließungseffekten von ungleich verteilter sozialer Macht, struktureller Gewalt und systematisch verzerrter Kommunikation schutzloser ausgesetzt als die organisierten Öffentlichkeiten des parlamentarischen Komplexes. Andererseits hat sie den Vorzug eines Mediums uneingeschränkter Kommunikation, in dem neue Problemlagen sensitiver wahrgenommen, Selbstverständigungsdiskurse breiter und expressiver gefuhrt, kollektive Identitäten und Bedürfnisinterpretationen ungezwungener artikuliert werden können als in den verfahrensregulierten Öffentlichkeiten. (S. 373 f.) Heute zieht sich die staatsbürgerliche Souveränität des Volkes in die rechtlich institutionalisierten Verfahren und die grundrechtlich ermöglichten informellen Prozesse einer mehr oder weniger diskursiven Meinungs- und Willensbildung zurück. Ich gehe dabei von einer Vernetzung verschiedener Kommunikationsformen aus, die allerdings so organisiert sein müßten, daß sie die Vermutung fur sich haben, die öffentliche Verwaltung an rationale Prämissen zu binden und auf diesem Wege das Wirtschaftssystem, ohne dessen eigene Logik anzutasten, unter sozialen und ökologischen Gesichtspunkten zu disziplinieren. Das ist ein Modell deliberativer Politik. Es geht nicht mehr vom Großsubjekt eines gemeinschaftlichen Ganzen aus, sondern von anonym verzahnten Diskursen. Es schiebt den demokratischen Verfahren und der Infrastruktur einer aus spontanen Quellen gespeisten politischen Öffentlichkeit die Hauptlast der normativen Erwartungen zu. (S. 649) Aus: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992.
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4. Faktionen, Parteien, Parlamente, Repräsentation Lange vor dem Siegeszug der Demokratie hat die politische Theorie die herausragende Bedeutung des Parlaments als Institution thematisiert. In der Antike steht die Versammlungsinstitution der Bürger im Mittelpunkt, in der Neuzeit das Parlament als arbeitsteiliges Legislativorgan. Unabhängig von diesen formellen Institutionen der Beratung und Entscheidung berücksichtigt die politische Theorie auch andere, informelle Gebilde der Koordination. Der Begriff der »Faktion« bezeichnet diesen Umstand informeller Vereinigung zum Zwecke politischer Absprachen. Hieraus sind die Parteien und sogar die innerparlamentarischen Gliederungen, die Fraktionen hervorgegangen, die mittlerweile im Verfassungsstaat formalisiert sind. Die Koordination der Kooperation ist als Akt der Deliberation an Grenzen institutioneller Größe gekoppelt. Die stadtstaatliche Demokratie der Antike ging von einer begrenzten Populationsgröße aus, die es den Vollbürgern ermöglicht, sich zu versammeln und gemeinsam zu beraten sowie abzustimmen. Das ist noch heute in manchen Kantonen der Schweiz beobachtbar. Die durchschnittliche Populationsgröße moderner Demokratien erlaubt ein solches Verfahren nicht mehr. Aber selbst innerhalb der athenischen Demokratie beobachteten die Theoretiker, wie sich trotz der Möglichkeit einer Vollversammlung inmitten der Bürgerschaft Faktionen bilden mit unterschiedlicher politischer Führung und unterschiedlichen Interessen. Für die meisten älteren Theoretiker bedeutete die Faktionsbildung eine Gefahrdung der politischen Einheit eines Gemeinwesens; sie kommt Verschwörungen gleich. Wenn sich politische Gruppierungen innerhalb des Gemeinwesens bilden, die womöglich außerhalb der vorgesehenen Institutionen auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen, so unterlaufen sie den gesetzlich vorgesehenen Beratungsprozess. Schließlich entstehen Gefolgschafts- und Klientelverhältnisse, so dass die politischen Akteure nur noch die Interessen ihrer Anhänger verfolgen und nicht mehr die Gesamtinteressen der Bürgerschaft. Diese Argumente wiederholen sich regelmäßig noch heute bei jeder allgemeinen Parteischelte. Mindestens die damit zum Ausdruck gelangende Befürchtung über einen Missbrauch der formellen Institutionen durch informelle Machtballungen ist hierbei ein sachgemäßer Einwand. Schon die in vielen Verfassungen eröflneten Möglichkeiten des Vereins- und Parteiverbotes wegen verfassungsgefährdender Umtriebe reflektieren die Latenz der Kritik. Sie muss daher ernst genommen und nicht pauschal zurückgewiesen werden. Es geht nicht darum, aus solchen Befürchtungen jedwede politische Gruppierung unterhalb der Schwelle der öffentlichen Institutionen vermeiden zu wollen. Stattdessen muss differenziert werden, welche Faktionsbildungen gemeinforderlich und welche gemeinschädlich sind. Niccolo Machiavelli hat auf Grund seiner aus der Logik des Politischen und nicht aus normativen Vorurteilen herrührenden Argumentation klassische Antworten auf diese Frage gegeben. Im Vergleich der Struktur und Wirksamkeit politischer Faktionen in der Römi-
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sehen Republik einerseits und der italienischen Republik andererseits stellt er heraus, dass es auf die Art und Weise der politischen Auseinandersetzung und ihrer Kanalisierung durch Faktionsbildungen ankommt. Solche Faktionsbildungen können den Konflikt heilsam und regelbar organisieren, sofern sie nicht auf eine Weise den Machterwerb erstreben, der die Vertreibung der gegnerischen Gruppierung zur Folge hat. Das führt nämlich zu einer Verschärfung des Kampfes, weiß doch jedes Lager, dass es um alles oder nichts geht. Machiavelli lobt daher das Instrument der römischen Plebs, durch Verweigerung der Kooperation in Gestalt des symbolischen Auszugs auf den Aventin die gegnerischen Patrizier an den Verhandlungstisch und zu Zugeständnissen zu zwingen, ohne dass die eine oder andere Seite deswegen ihre Position vollständig räumen müsste. In der Geschichte von Florenz freilich war die Verbannung der Konfliktgegner oft das Ende der Auseinandersetzung. Machiavelli hat gewiss einen der berühmtesten Fälle politischer Emigration vor Augen: Dantes Verbannung aus Florenz. In einer vergleichbaren Weise setzt James Madison in der Gründungsphase der USA das Argument Machiavellis fort, den er sicherlich rezipierte. Während Machiavelli von der überschaubaren und zur institutionellen Repräsentation noch nicht gezwungenen stadtstaatlichen Verfassung des alten Rom und des frühneuzeitlichen Florenz ausgeht, steht Madison vor der Aufgabe, Angaben über das politische Verfahren in einem Gemeinwesen zu machen, das über ganz außergewöhnlich große Räume hinweg funktionieren muss und es mit einer verhältnismäßig großen, jedenfalls in sich sehr differenzierten Bevölkerung zu tun hat. Gerade die Größe Amerikas ist für Madison aber das Heilmittel gegen die Parteibildung innerhalb von Republiken. Denn mit der Größe nimmt auch die mögliche Zahl von Parteien zu, deren einzelner Einfluss auf die Belange der Gesamtnation sich proportional verringert und im Falle verfassungswidrigen und aufrührerischen Verhaltens umso leichter von den übrigen Bürgern und Parteien bekämpft werden kann. In welchem Verhältnis stehen diese Kooperationsformen zu den beauftragenden bzw. legitimierenden Bevölkerungsteilen? Dies ist ein Problem der Repräsentationstheorie. Die Auslegung umfasst einen Bogen, der von den Polen völliger Unvertretbarkeit des Volkes wenigstens in legislativen Fragen reicht (Rousseau) bis zu der Vorstellung, dass es gerade die Unabhängigkeit des Abgeordneten von allen Weisungen ist, mit der der Vertreter sein Mandat am besten erfüllt (Burke). An die Adresse der Engländer richtet Rousseau den Vorwurf, sie seien immer nur im Augenblick der Wahl ihrer Abgeordneten frei, ansonsten aber Knechte des Parlaments. Ist formal die Möglichkeit der Partizipation aller Bürger an der Legislation eingeräumt, besteht immer noch das Problem, wie ein Staat bei ausbleibender Beteiligung funktionieren soll. Das Fernbleiben von der Gesetzgebung ist für Rousseau ein Zeichen mangelnder Tugenden, die zur Gründung und Aufrechterhaltung eines auf Freiheit beruhenden Staates notwendig sind. Die Stellvertretung in der Legislative ist für Rousseau eine Einrichtung, welche die Neigimg, der Partizipation fernzubleiben, erheblich verstärkt. Die Repräsentanten, die nicht nur imperative Mandate erfüllen, entwickeln ferner
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ein Sonderinteresse, welches nicht mit dem Allgemeinwillen des zu vertretenden Volkes übereinstimmen muss, sondern oft in Gegensatz hierzu steht. Dieses anspruchsvolle Konzept scheitert bereits an den Rahmenbedingungen großer Populationen: Abgesehen von der unvermeidlichen Pluralisierung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen lässt sich ein Allgemeinwille nicht unmittelbar bilden. Rousseau bezeichnet daher die Größe antiker Stadtstaaten oder der Stadtstaaten, die ausgangs des Ancien Regime existierten (in nicht zu geringer Zahl, wenn man nur an die Schweiz und Deutschland denkt) oder kleine Gemeinwesen von der Größe Korsikas als Vorbedingung für seine Theorie freier Republiken. Für größere Staaten empfiehlt Rousseau ein föderalistisches System, in welchem sich die Gesamtpopulation in kleinere Gemeinwesen gliedert und erst auf der Ebene der föderalen Willensbildung eine freiere Repräsentation zulässt. Doch Rousseau vertritt hier eine Mindermeinimg. Die Theoretiker, die selbst über parlamentarische Erfahrung verfügen oder stärker die Erfolgsfahigkeit politischer Institutionen in den Mittelpunkt ihrer Forschung stellen, denken vom Parlament her. Die Frage der demokratischen Repräsentativität ist eine Frage der Zusammensetzung des Parlaments, nicht aber eine Frage der Legitimation eines Parlaments schlechthin. Seine Legitimation ergibt sich in einer spätestens mit Montesquieu einsetzenden Argumentationslinie aus seiner Arbeitsfähigkeit. Wäre die Bürgerschaft oder wäre der Monarch im Stande, in gleicher Weise Arbeitsfähigkeit herzustellen, so bedürfte man keiner parlamentarischen Vermittlung in der politischen Willensbildung. Die Beratung der Gesetzgebung wie in den Frühformen des Parlaments als der Stätte des Parlierens über Staatsangelegenheiten bzw. die Gesetzgebung unter eigener Regie in der Ära der parlamentarischen Regierung ist eine so anspruchsvolle Tätigkeit, dass sie nicht nur von den Abgeordneten, sondern auch von der Institution insgesamt eine gewisse Funktionsfähigkeit abverlangt, die sonst von keiner anderen Institution erfüllt wird. Eine Voraussetzung, damit diese Fähigkeit zur Geltung kommen kann, besteht darin, dass die Abgeordneten frei sind in ihrer Beratung und Entscheidung. Edmund Burke ist der Theoretiker, der für die Freiheit der Mandatsausübung des Abgeordneten das klassische Argument beisteuerte, der Abgeordnete stelle seine Fähigkeiten den Wählern zur Verfügung und werde hierfür auch gewählt, jedoch würde er sie betrügen, wenn er nur versuchte, Sprachrohr der vielfältigen Meinungen der Wähler zu sein; seine Aufgabe ist es vielmehr, eine in sich konsistente Politik zu ermöglichen, und hierzu bedarf es der Freiheit des Denkens, der Rede und der Abstimmung. Missfallt das Gebaren den Wählern, so steht es ihnen frei, ihn nicht wiederzuwählen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts festigte sich das Ansehen des Parlaments als unverzichtbarer Bestandteil moderner Politik und der Parteien als unverzichtbarer Bestandteil parlamentarischen Regierens. Unklar ist jedoch ihre Funktion im Einzelnen. Das Parlament ist in den Augen von John Stuart Mill, der selber dem House of Commons einige Jahre angehörte, vor allem eine Stätte der Beratung und weniger der Entscheidung. Seine Sorge gilt der Frage, wie die unvermeidliche Demokratisierung der Gesellschaft und das von ihm
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favorisierte demokratische Wahlrecht es erlaubten, dass auch diejenigen Schichten der Bevölkerung in das Parlament gewählt werden, die auf Grund ihrer Bildung dem Geschäft der Deliberation mit Niveau nachgehen können. Die Unvermeidlichkeit der Demokratisierung übernimmt Mill von Tocqueville, zu dessen Über die Demokratie in Amerika er die ersten Rezensionen englischer Sprache verfasste. Während nun Tocqueville in den politischen Parteien Amerikas einen Unterfall der ihn stärker interessierenden Assoziationen sieht und sowohl tyrannische Merkmale erkennt als auch Chancen der politischen Initiative und Organisation, ist Mill skeptischer bezüglich der Auslese des politischen Personals in der Demokratie. Zum einen verlangt er die Meinungsfreiheit als Schutz des Individuums vor dem Konformitätszwang der Mehrheit (vgl. IV Kapitel: Politische Normen, 2. Abschnitt: Freiheit und Gleichheit). Ferner droht eine Intensivierung der Tyrannei der Mehrheit, wenn sie mit dem Mehrheitswahlrecht zusammenfallt. Seiner Ansicht nach wird nur noch der Durchschnitt in das Parlament gewählt. Hier nun erkennt Mill im Proportionalwahlrecht die Chance für die Bildungsschicht, in das Parlament gewählt zu werden: Sofern sich nämlich politische Parteien über das ganze Land in Listen stellen, so wird es auch der numerischen Minderheit des Bildungsbürgertums gelingen, in das Parlament zu gelangen. Dort aber wird ihre Fähigkeit der Rede und des Argumentierens einen solchen Einfluss auf das parlamentarische Geschäft gewährleisten, dass insgesamt ein nützlicher Effekt für das Gesamtergebnis zu erwarten ist. Diese Auffassung verrät einiges über Mills Vorstellung vom Parlament als Ort der freien Rede. Es soll der repräsentative Ort für die öffentliche Meinung sein. Das sieht Walter Bagehot ganz anders. Er enthüllt, wie sich trotz der offiziellen Gewaltenteilungsdoktrin das Parlament als Fundament der Regierung etabliert hat und gerade in Regierungsbildung und -kontrolle ihr Hauptgeschäft liegt. Mit Max Weber und Robert Michels betreten wir die Ebene der Parteiensoziologie, die zu den ersten Forschungsgebieten der modernen politischen Soziologie zählt. Hier wird die Partei nämlich unter dem Gesichtspunkt der in ihr wirksamen organisationssoziologischen Faktoren untersucht. Michels betont das Spannungsverhältnis von Parteiwirklichkeit und Demokratieideal, wenn Letzteres zwar die Gleichheit der Bürger und somit auch der Parteimitglieder postuliert, in den Parteien jedoch die Kontinuität kleiner Machteliten zur Praxis wird. Das ist freilich nicht nur Ausdruck des Machtstrebens, sondern »ehernes Gesetz der Oligarchie«, welches organisationssoziologisch die Bildung kleiner Akteursgruppen befördert, die Handlungsfähigkeit hervorbringen. Weber nimmt das auf und geht in seinem allgemeinen Repräsentationsbegriff davon aus, dass sich bei allen Zusammenschlüssen von Menschen das Problem stellt, dass wenige fur viele tätig werden. Die Frage ist immer, ob man die Taten der Repräsentanten auch gegen sich gelten lässt. Die Freiheit der Person wird hier also konkretisiert zur Freiheit der Anerkennung von politischer Führung: Sie wird zur Legitimationsfrage. Aus der aktiven Zustimmung oder gar Selbstregierung, welche die Theorie vom Staat als Vereinbarung verlangt, bleibt nur passive Anerkennung von Herrschaft übrig.
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Sollen die Repräsentanten im Namen der Repräsentierten tätig werden, so ist das nur unter der Voraussetzung einer politischen Idee möglich, die Regierende und Regierte und so Abgeordnete und Wähler gedanklich vereint. Carl Schmitt geht von einem substanziellen Begriff der Gleichheit aus (vgl. IV Kapitel, 2. Abschnitt: Freiheit und Gleichheit) und definiert im Anschluss daran die Demokratie als die Identität von Regierenden und Regierten, was durch die auf beiden Seiten gemeinsame Substanz gewährleistet ist. Der Inhalt dieser Substanz ist in der modernen Demokratie zumeist die Nation, und daher repräsentieren die Repräsentanten auch die Nation im Sinne einer die Identität verbürgenden Substanz, die sie in ihrem repräsentativen Tun sichtbar machen und zur Geltung bringen. Das hat zur Folge, dass Repräsentanten nicht alleine im Parlament zu finden sind, sondern auch in der exekutivischen Spitze des Staates (wie man ja tatsächlich auch heute nicht nur von legislativen Repräsentanten des Volkes spricht, sondern auch dem unter Umständen machtlosen Staatsoberhaupt eine Repräsentationsleistung zuspricht). Es war Schmitts Absicht, in einer Zeit der zunehmenden Arbeitsunfähigkeit des Parlaments während der Weimar Republik den Begriff der Repräsentation von dieser Institution fortzunehmen und zu einer anderen, seiner Ansicht nach wenigstens noch entscheidungsfahigen Institution zu verlagern und sprach der Exekutive repräsentative Leistungen zu. Gerhard Leibholz hat seine Wurzeln in der Weimarer Republik und gehörte zu den führenden Verfassungsrechtlern der jungen Bundesrepublik. Er prägte insbesondere als Richter am Bundesverfassungsgericht die Auslegung des Status der politischen Parteien unter dem Grundgesetz, welches als eine der wenigen modernen Verfassungen die Parteien überhaupt erwähnt und in Verfassungsrang hebt. Das hat mit der langen parteikritischen Tradition des deutschen politischen Denkens zu tun. Das klassische Problem der demokratischen Repräsentation löst Leibholz dadurch, dass er zwischen der Aktiv- und der Passivbürgerschaft unterscheidet. Parteien aktivieren die Bürger und erlauben ihnen, an der Politik zu partizipieren. Demokratisch ist die Unterscheidung zwischen den aktiven und den passiven Bürgern dann legitim, wenn der Zutritt zu den Parteien nicht willkürlich kanalisiert wird, und vor allem dann, wenn die innere Organisation der Parteien ihrerseits demokratischen Grundsätzen entspricht. War also das Beamtentum der Staat im Staate in vordemokratischer Zeit, so hat die Partei die Demokratie in der Demokratie zu sein.
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NICCOLÖ MACHIAVELLI Allgemeinwohlforderliche und allgemeinwohlschädliche Parteien Wahr ist es, daß manche Meinungsverschiedenheiten dem Gemeinwesen schaden, andere ihm nutzen. Jene schaden, welche Sekten und Parteiwesen hervorrufen [sette e partigiani]; solche nutzen, die sich davon frei erhalten. Da nun der Stifter einer Republik nicht hindern kann, daß Feindschaften in ihr entstehen, so sollte er wenigstens von vornherein Sekten entgegenzuarbeiten suchen. Darum muß man wissen, wie in den Städten die Bürger auf zwiefache Weise sich einen Namen machen, auf öffentlichen oder besondern Wegen. Öffentlich gelangt man zu Ansehn, indem man in einer Schlacht siegt, einen Ort erobert, als Gesandter einen Auftrag mit Eifer und Gewandtheit ausführt, dem Staate weise und vom Glück gekrönte Ratschläge erteilt. Nebenbei aber macht man sich bekannt und beliebt, indem man diesem oder jenem Bürger Wohltaten erzeigt, ihn vor den Behörden verteidigt, ihn mit Geld unterstützt, ihm unverdienterweise zu Ehrenstellen verhilft, und sich durch öffentliche Spiele und Geschenke die Neigung der Menge verschafft. Durch dieses Verfahren entstehen Sekten und Parteimänner, und sosehr das so erworbene Ansehen schadet, sosehr nutzt jenes, wenn es sich von Faktionen freihält: denn es ist auf öffentliches Wohl, nicht auf Privatvorteil begründet. Und wenn auch die Bürger, welche diesem rühmlichen Ziele nachstreben, nicht zu hindern vermögen, daß heftige Abneigung entsteht: so können sie doch, da sie keine Anhänger haben, die sich persönlichen Interesses wegen zu ihnen halten, dem Gemeinwesen keinen Nachteil bringen, sondern im Gegenteil Vorteil. Denn ihre verdienstlichen Handlungen zu vollbringen, müssen sie auf die Erhebung dieses Gemeinwesens bedacht sein und namentlich aufeinander achten, damit die Grenzen der bürgerlichen Verhältnisse nicht überschritten werden.
Die Feindschaften in Florenz waren stets von Faktionen begleitet und daher stets schädlich, und nimmer blieb eine siegreiche Partei einig, ausgenommen solange die feindliche noch am Leben war. War sie aber tot und hatte die herrschende keine Furcht mehr, die sie zurückgehalten, keinen Halt in sich, der sie gezügelt hätte, so zerfiel sie augenblicklich. (S. 366 f.) Aus: Niccolo Machiavelli, Geschichte von Florenz. Vollständige Ausgabe, hg. von Alfred von Reumont, Wien 1934, 7. Buch.
CHARLES DE MONTESQUIEU Überlegenheit der Repräsentanten gegenüber dem Volk Da in einem freien Staate jeder, dem man einen freien Willen zuerkennt, durch sich selbst regiert sein sollte, so müßte das Volk als Ganzes die gesetzgebende Gewalt haben. Das aber ist in den großen Staaten unmöglich, in den kleinen mit vielen Mißhelligkeiten verbunden. Deshalb ist es nötig, daß das Volk durch seine Repräsentanten das tun läßt, was es nicht selbst tun kann. Man kennt viel besser die Bedürfnisse der eigenen Stadt als die der anderen Städte, und man urteilt besser über die Fähigkeit der Nachbarn als über die der sonstigen Staatsgenossen. Es ist darum nicht erforderlich, daß die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft gemeinhin aus dem ganzen Volke entnommen werden; aber es ist angebracht, daß die Bewohner jedes Hauptorts sich einen Repräsentanten wählen. Der große Vorteil der Repräsentanten besteht darin, daß sie fähig sind, die Angelegenheiten zu verhandeln. Das Volk ist dazu keinesfalls geschickt. Das macht einen der großen Nachteile der Demokratie aus. Es ist nicht nötig, daß die Repräsentanten, die von ihren Wählern eine all-
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gemeine Anweisung erhalten haben, noch eine besondere für jede Angelegenheit bekommen, wie das im deutschen Reichstag üblich ist. Gewiß würde auf diese Weise das Wort der Abgeordneten in höherem Grade der Ausdruck der Stimme der Nation sein. Aber das würde in nicht endende Verzögerungen hineinfuhren, würde jeden Abgeordneten zum Herrn aller übrigen machen, und in den dringendsten Angelegenheiten könnte die ganze Kraft der Nation durch eine Laune gehemmt sein. (...) Alle Bürger in den verschiedenen Bezirken müssen das Recht haben, ihre Stimme bei der Wahl des Repräsentanten abzugeben, mit Ausnahme derer, die in einem solchen Zustand der Niedrigkeit leben, daß ihnen die allgemeine Anschauung keinen eigenen Willen zuerkennt. Die Mehrzahl der alten Republiken hatte einen großen Fehler; das Volk hatte nämlich das Recht, aktive Entschließungen zu fassen, die eine Durchführung erfordern, etwas, wozu es ganz und gar unfähig ist. Es soll in die Regierungssphäre nur hineingelassen werden, um die Abgeordneten zu wählen, was seinen Fähigkeiten durchaus entspricht. Zwar gibt es wenige, die den genauen Grad der Fähigkeiten der Menschen kennen; trotzdem ist jeder in der Lage, im allgemeinen zu wissen, ob derjenige, dem er seine Stimme gibt, aufgeklärter ist als die meisten übrigen. Der repräsentative Körper soll nicht gewählt werden, damit er einen unmittelbar wirksamen Beschluß fasse, wozu er nicht geeignet ist, sondern um Gesetze zu machen und darauf zu achten, daß die von ihm gemachten Gesetze wohl ausgeführt werden. Dazu ist er sehr geeignet, das kann niemand besser als er. (S. 218 - 220) Aus: Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, übersetzt und hg. von Ernst Forsthoff, 2. Aufl., Tübingen 1992, Buch XI, Kap. 6.
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JEAN-JACQUES ROUSSEAU Selbstregierung und Unübertragbarkeit legislativer Souveränität Je besser die Verfassung, desto mehr beschäftigen sich die Bürger mit den öffentlichen Angelegenheiten als mit ihren eigenen. Es gibt sogar weniger Privatangelegenheiten, weil die Summe des gemeinsamen Glücks dem Individualglück einen größeren Anteil beisteuert. Er braucht es also nicht so sehr in seinen privaten Tätigkeiten zu suchen. In einem gutgeleiteten Staat drängt jeder in die Ratsversammlungen. (...) Das Erkalten der Vaterlandsliebe, das Schaffen für das Privatinteresse, der Riesenstaat, die Eroberungen, die Mißbräuche der Regierung haben den Abgeordneten oder Volksvertretern in den Nationalversammlungen den Weg geöffnet. (...) Die Souveränität kann aus dem gleichen Grund nicht vertreten werden, wie sie nicht veräußert werden kann. Sie besteht im wesentlichen aus dem Gemeinwillen, und der Wille läßt sich nicht vertreten: entweder er ist er selbst oder er ist es nicht. Dazwischen gibt es nichts. Abgeordnete des Volkes sind und können nicht seine Stellvertreter sein. Sie sind nur seine Beauftragten. Sie können nichts endgültig beschließen. Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst bestätigt hat, ist null und nichtig: es ist kein Gesetz. Das englische Volk glaubt frei zu sein. Es täuscht sich sehr. Es ist nur während der Wahl der Parlamentsmitglieder frei. Sobald sie gewählt sind, ist es Sklave: es ist nichts. (S. 158) Aus: Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, in: ders., Politische Schriften, Bd. 1, Übersetzung und Einleitung von Ludwig Schmidts, Paderborn 1977, S. 59-208, Buch 3, Kap. 15.
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EDMUND BURKE
JAMES MADISON
Abgeordnete als Akteure und freies Mandat
Große Republiken hemmen die schädlichen Wirkungen unvermeidlicher Parteibildung
Sicherlich, Gentlemen, macht es das Glück und den Ruhm eines Abgeordneten aus, in größter Eintracht, engster Gemeinsamkeit und offenem Gespräch mit denen zu leben, die er vertritt. Ihre Wünsche sollten von größtem Gewicht für ihn sein, ihre Meinung seinen höchsten Respekt haben und ihre Geschäfte seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit genießen. Es ist seine Pflicht, seine Ruhe, sein Vergnügen und seine Zufriedenheit der ihren zu opfern. In allen Fällen muß er ihre Interessen den seinigen vorziehen. Aber seine unvoreingenommene Meinung, sein reifes Urteil und sein aufgeklärtes Gewissen darf er ihnen genausowenig opfern wie irgendeinem andern lebenden Menschen. Denn er erhält sie weder von ihrem Willen noch vom Gesetz oder der Verfassung. Sie sind eine treuhänderische Gabe [trust] der Vorsehung, für deren Mißbrauch er selbst als Person zutiefst verantwortlich ist. Ihr Abgeordneter schuldet ihnen nicht nur seinen Eifer, sondern auch sein Urteil, und anstatt ihnen zu dienen, betrügt er sie, wenn er es ihrer Meinung opfert (...) Wenn die Regierung lediglich eine Sache des Willens einer der beteiligten Seiten wäre, so würde ohne Frage der ihrige den Vorrang genießen. Aber Regierung und Gesetzgebung sind eine Sache von Vernunft und Urteilskraft und nicht der momentanen Neigung. Und welche Vernunft wäre das denn, bei der die Entscheidung der Diskussion vorausgeht, bei der eine bestimmte Gruppe von Männern berät und eine andere entscheidet. (S. 90 f.) Aus: Edmund Burke, Speech to the Electors of Bristol vom 3.11.1774 in: ders., Works, Bd. II, dt. Auszug bei: Wilhelm Hofmann/Gisela Riescher, Einführung in die Parlamentarismustheorie, Darmstadt 1999.
Keiner der vielen Vorteile, die von einer sinnvoll aufgebauten Union zu erwarten sind, verdient sorgfaltiger untersucht zu werden als der, mittels ihrer die Gewalt von Parteikämpfen brechen und unter Kontrolle halten zu können. Nichts läßt den Befürworter der Volksregierung so sehr um deren Rufund Schicksal bangen wie das Wissen, welch starke Neigung zu dem gefährlichen Laster des Parteienkampfes eine solche Regierung gewöhnlich zeigt. (...) Unter einer Parteiung verstehe ich eine Anzahl von Bürgern, sei es die Mehrheit, sei es eine Minderheit, die von gemeinsamen Leidenschaften oder Interessen getrieben und geeint sind, welche im Gegensatz zu den Rechten anderer Bürger oder den ständigen Gesamtinteressen der Gemeinschaft stehen. Es gibt zwei Methoden, das Übel der Parteiung zu kurieren: erstens: durch Beseitigung ihrer Ursachen, zweitens: durch Kontrolle ihrer Wirkungen. Zur Beseitigung der Ursachen von Parteiungen gibt es wieder zwei Methoden: erstens: die Freiheit aufzuheben, der sie ihre Existenz verdanken, zweitens: jedem Bürger dieselbe Meinung, dieselben Leidenschaften und dieselben Interessen vorzuschreiben. Bei keiner Methode könnte man mit größerem Recht sagen, daß das Heilmittel schlimmer ist als die Krankheit, als bei der erstgenannten. Freiheit ist für Parteiungen, was die Luft für das Feuer ist: die Nahrung, ohne die es augenblicklich erlischt. Aber es wäre nicht weniger töricht, die für das politische Leben unverzichtbare Freiheit abzuschaffen, weil sie der Parteisucht Nahrung gibt, als die Abschaffung der für das animalische Leben unentbehrlichen Luft zu fordern, weil sie dem Feuer seine zerstörerische Macht verleiht.
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Die zweite Methode ist ebenso undurchführbar wie die erste unklug. Solange der menschliche Verstand fehlbar bleibt und der Mensch die Freiheit hat, ihn zu gebrauchen, solange wird es auch unterschiedliche Meinungen geben. Und solange sein Verstand mit seiner Eigenliebe verbunden ist, werden seine Meinungen und Leidenschaften sich wechselseitig beeinflussen. Erstere werden die Ziele vorgeben, denen letztere sich anschließen. Ein weiteres, schier unüberwindliches Hindernis für eine Einheitlichkeit der Interessen sind die unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen, aus denen die Eigentumsrechte entspringen. (...) Die verborgenen Ursachen für die Entstehung von Parteiungen liegen also in der menschlichen Natur; wir sehen sie überall in verschiedenem Maß aktiviert, je nach den verschiedenen Umständen, die in der jeweiligen bürgerlichen Gesellschaft herrschen. (...) Wir sind daher zu dem Schluß genötigt, daß die Ursachen von Parteiungen nicht beseitigt werden können und daß Abhilfe nur die Mittel zur Kontrolle ihrer Wirkungen gewähren. (...) Durch welche Mittel läßt sich dieses Ziel erreichen? Offenbar nur durch eines von diesen beiden: entweder muß verhindert werden, daß dieselben Leidenschaften oder Interessen zugleich bei einer Mehrheit entstehen, oder der von solch gemeinsamen Antrieben beherrschten Mehrheit muß es durch ihre große Zahl und die geographische Lage unmöglich gemacht werden, zu einer Einigung zu kommen und ihre Unterdrückungsabsichten in die Tat umzusetzen. Treffen Antrieb und Gelegenheit ungehindert zusammen, dann sind bekanntlich weder moralische noch religiöse Motive verläßliche Kontrollinstanzen. (...) Daraus kann man schließen, daß eine reine Demokratie, und damit meine ich eine Gesellschaft, bestehend aus einer kleinen Zahl von Bürgern, die sich versammelt und die Regierung in Person ausübt, kein Heilmittel gegen die Übel
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der Parteiungen bietet. Fast immer wird es bei der Mehrheit aller Bürger gemeinsame Leidenschaften oder Interessen geben; ihre Verbindung untereinander und der Zusammenschluß ergeben sich aus der Regierungsform selbst. Dann gibt es nichts, was den Antrieb hemmen könnte, die schwächere Partei oder einen verhaßten einzelnen zu opfern. (...) Der andere Unterschied liegt in der größeren Zahl von Bürgern und dem größeren Gebiet, die eine Republik im Vergleich zur reinen Demokratie umfassen kann. Es ist hauptsächlich dieser Umstand, der das Entstehen von Parteiungen in der Republik weniger fürchten läßt als in der reinen Demokratie. Je kleiner eine Gemeinschaft ist, um so geringer wird wahrscheinlich die Zahl der Parteien und Interessengruppen sein, aus denen sie sich zusammensetzt. Je geringer die Zahl der Parteien und Interessengruppen, um so eher wird eine Partei die Mehrheit erringen. Und je kleiner die Zahl der Individuen, die eine Mehrheit bilden, und je kleiner der Bereich, innerhalb dessen sie operieren, um so leichter werden sie zu einer Einigung gelangen und ihre Unterdrückungsabsichten ausführen können. Erweitert man den Bereich, so umschließt er eine größere Vielfalt an Parteien und Interessengruppen. Damit verringert sich die Wahrscheinlichkeit, daß eine Mehrheit ein gemeinsames Motiv hat, die Rechte anderer Bürger zu verletzen. (...) In der Ausdehnung und einer sinnvollen Gliederung der Union sehen wir deshalb ein republikanisches Heilmittel für die Krankheiten, die die republikanische Ordnung am ehesten befallen. (S. 93-100) Aus: Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die Federalist Papers, übersetzt, eingel. und mit Anmerkungen versehen von Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993, Federalist No. 10, S. 93 -100.
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CHRISTIAN GARVE Debattierclubs und politische Faktionierung In einer solchen Nation, wie die englische, wo es seit langer Zeit gewöhnlich geworden ist, über die Minister und die Maßregeln der Regierung frei zu urteilen, sind solche Clubs unschädlich: denn selbst wenn sie Partei nehmen und gegen die Regierung deklamieren, machen sie doch bei andern wenig Sensation und sind im Grunde auch selbst zu gewaltsameren Maßregeln, als Reden und Schreiben, nicht geneigt. Sie sind aber auch bei einer Nation, welche eine freie Verfassung hat, wirklich nützlich. Denn sie erhalten den Geist der Wachsamkeit auf die Regierung; sie bilden politische Redner und bringen oft wirklich nützliche Ideen und Vorschläge ans Tageslicht. Hingegen bei einer Nation, wo solche Institute etwas Neues sind, tun sie mehr und oft eine schädliche Wirkung; (...) Sie werden immer weniger nützlich, wenn sie zu zahlreich werden. Von welchem mächtigen Einflüsse Clubs in Zeiten der Revolution und öffentlicher Unruhen sein können, hat die Geschichte der Französischen Revolution gelehrt. Da diese Clubs gemeiniglich von denen errichtet werden, welche fur die neue Ordnung der Dinge oder überhaupt (...) für große politische Unternehmungen lebhafter als andre eingenommen sind, da sich hier die Zeloten gewisser Parteien zusammenstellen; so herrscht von Anfang an die Übertreibung oder wenigstens die äußerste Strenge deijenigen Prinzipien und derjenigen Denkungsart, welche den Reformen, oder welche der Konstitution zu Grunde liegt. Bei unruhigen Zeiten (...) wird die leidenschaftliche Hitze der Mitglieder und Anfuhrer dieser Clubs immer größer und größer. Sie erhitzen sich teilweise wechselweise, durch die Mitteilung; teils werden sie durch den erfahrnen Widerstand gereizt und erbittert; teils werden sie endlich genötigt, um auf die größere gleichgültigere, käl-
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tere Masse zu wirken, diese heftig zu erschüttern und ihre Leidenschaft zu entflammen. Je mehr sich der Club vergrößert, je weniger sich die Glieder desselben näher kennen, je weniger wahre Kommunikation unter ihnen vorhanden ist, desto eher entstehen zwei Sachen: 1) daß daraus bloße Volksversammlungen mit Demagogen an ihrer Spitze entstehn; - und daß diese ihre Absichten nur durch die Künste erreichen, welche eine falsche Beredsamkeit anwendet, um die Gemüter des großen Haufens zu bewegen; 2) daß sich in dieser großen Gesellschaft ein kleiner Ausschuß formiert, welcher, wenn er aus diesen Demagogen selbst besteht, die Gesellschaft beherrscht, und wenn er eine Oppositionspartei formiert, zu Faktionen, zu Trennung der Clubs und zur Errichtung neuer Anlaß gibt (...). Da diese Clubs sich anmaßen, gleichsam eine Zwischengewalt zwischen der eigentlichen Legislatur oder den Repräsentanten des Volkes, und zwischen dem Volke zu sein, so streben sie danach, ihren Einfluß und ihre Macht zu vergrößern, und werden, wenn sie nicht mit der Monarchie mehr zu kämpfen haben, leicht die Gegner der neuen Konstitution selbst. Überhaupt aber werden selbst in einem sehr demokratisch denkenden und konstituierten Volke die öffentlichen Autoritäten, die Volksversammlung oder das Repräsentanten-Kollegium durch ihre Würde selbst zu einer gewissen Dezenz und Moderation bewogen. In den Clubs aber, die eine Art von Autorität oder doch keine anerkannte Würde haben, werden die Meinungen oder die Leidenschaften, welche schon in der Volksversammlung sich zeigen, zu einem viel höhern Grade getrieben und äußern sich mit viel weniger Einschränkung. (S. 71 -74) Aus: Christian Garve, Politische Clubs, in: ders., Über Gesellschaft und Einsamkeit, Bd. 2, Breslau 1800, S. 70-77, Ndr. in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Kurt Wölfel, Bd. 1/2: Versuche über verschie-
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dene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben, Hildesheim 1985
ALEXIS DE TOCQUEVILLE Parteien als Tyrannen oder als Tyranneischutz In unserer Zeit stellt die Vereinigungsfreiheit eine notwendige Sicherung gegen die Tyrannei dar. Wenn in den Vereinigten Staaten eine Partei herrschend geworden ist, so geht die ganze öffentliche Macht in ihre Hände über; ihre Freunde besetzen alle Stellen und verfügen über sämtliche organisierten Kräfte. Da die hervorragendsten Männer der Gegenpartei die Schranke, die sie von der Macht trennt, nicht zu überschreiten vermögen, müssen sie sich eben außerhalb von ihr festsetzen können; die Minderheit muß ihre ganze moralische Kraft der sie unterdrückenden materiellen Macht entgegenstellen. (...) In keinem Lande sind die Gruppenbildungen nötiger als da, wo die Gesellschaftsordnung demokratisch ist, wenn man die Tyrannei der Parteien oder die Willkürherrschaft des Fürsten verhindern will. (Bd. I, S. 220). In Europa betrachten sich die Parteien in gewissem Sinne als gesetzgebender und ausführender Rat des Volkes, da es selbst seine Stimme nicht erheben kann; von diesem Gedanken ausgehend, handeln und befehlen sie. In Amerika, wo sie in den Augen aller nur eine Minderheit im Volk darstellen, reden und fordern sie. Die Mittel, deren sich in Europa die Parteien bedienen, stimmen mit dem Ziel überein, das sie sich teilen. Da das Hauptziel dieser Parteien im Handeln und nicht im Reden besteht, im Kämpfen und nicht im Überzeugen, gelangen sie naturgemäß dazu, sich eine Organisation zu geben, die nichts Bürgerliches an sich hat, und militärische
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Gewohnheiten und Grundsätze bei sich einzuführen: man sieht sie denn auch nach Möglichkeit die Führung ihrer Kräfte zentralisieren und die Gesamtmacht in die Hände von sehr Wenigen legen. Die Mitglieder dieser Vereine gehorchen, wie Soldaten im Feldzug, einem Befehl; sie bekennen sich zum Dogma des unbedingten Gehorsams, oder vielmehr sie verzichten ein für allemal gänzlich auf ihr eigenes Urteil und ihren freien Willen: so herrscht denn in solchen Vereinigungen oft eine unerträglichere Tyrannei als die, welche in der Gesellschaft im Namen der angegriffenen Regierung ausgeübt wird. (...) Auch die Amerikaner haben innerhalb der Vereinigungen eine Regierung gebildet; aber es ist, wenn ich so sagen darf, eine Bürger-Regierung. Die Unabhängigkeit des Einzelnen kommt dabei zu ihrem Recht. Wie in der Gesellschaft streben alle Menschen darin gleichzeitig auf ein selbes Ziel zu, keiner aber ist gehalten, genau die gleichen Wege zu gehen. Niemand muß seinen Willen und seine Vernunft opfern, vielmehr braucht man seinen Willen und seine Vernunft für den Erfolg des gemeinsamen Vorhabens. (Bd. I, S. 223 f.) Aus: Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. von J. P. Mayer, übersetzt von Hans Zbinden, 2 Bände, Stuttgart 1959 und 1962.
JOHN STUART MILL Sinn und Funktion des Parlaments als Ort nationaler Debatten Die eigentliche Funktion einer Repräsentativversammlung besteht nicht darin, die Arbeit der Regierung selbst zu verrichten, wozu sie absolut ungeeignet ist, sondern darin, die Regierung zu überwachen und zu kontrollieren, die volle
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Öffentlichkeit aller Regierungshandlungen herzustellen, deren Offenlegung und Rechtfertigung zu erzwingen, sobald sie irgend jemandem bedenklich erscheinen, und sie zu kritisieren, falls sie sich als verurteilenswert herausstellen. Sie muß die Mitglieder der Regierung, die ihr Amt mißbraucht oder in einer Weise ausgeübt haben, die nicht dem Willen der Nation entspricht, aus diesem Amt entfernen und entweder formell oder jedenfalls faktisch ihre Nachfolger ernennen. Dies ist gewiß eine beträchtliche Machtfülle und eine ausreichende Garantie für die Freiheit der Nation. Darüber hinaus hat das Parlament eine zweite, nicht weniger wichtige Aufgabe: es ist gleichzeitig Beschwerdeausschuß der Nation und Kongreß der Volksmeinung, ein Forum, auf dem nicht nur die vorherrschende Meinung des Volkes, sondern auch einzelner Gruppierungen und, soweit als möglich, die Meinung jeder bedeutenden Persönlichkeit aus seiner Mitte auftreten und die Diskussion herausfordern kann; wo jeder darauf rechnen darf, einen Vertreter seiner Ansicht zu finden, der das, was er selbst denkt, ebenso gut und noch besser als er ausspricht - und zwar nicht ausschließlich vor Freunden und Parteigenossen, sondern angesichts von Gegnern, gegen deren Angriffe sich seine Meinung behaupten muß; das Parlament ist der Ort, wo diejenigen, deren Meinung unterliegt, die Genugtuung haben, daß ihre Ansicht Gehör gefunden hat und nicht durch einen bloßen Willkürakt, sondern aus Gründen verworfen wurde, die mehr Gewicht haben und sich dadurch den Vertretern der Mehrheit des Volkes empfehlen; wo jede Partei oder Meinung im Land ihre Stärke genau abschätzen und von Illusionen über Zahl oder Macht ihrer Anhänger geheilt werden kann; wo die herrschende Meinung der Nation sich als solche manifestiert und ihre Macht vor der Regierung in einer Weise demonstriert, daß diese vor dem bloßen Nachweis, ohne ihre tatsächliche Anwendung abzuwarten, zurückweichen kann und zurückweichen muß; wo Politiker sich der zuverlässigsten
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Anzeichen dafür vergewissern können, welche Elemente der öffentlichen Meinung und welche Machtfaktoren stärker, welche schwächer werden, wodurch sie in der Lage sind, ihre Maßnahmen nicht nur auf Gegenwartsbedürfhisse, sondern auch auf die Tendenzen der Zukunft abzustimmen. Den Parlamenten wird von ihren Gegnern oft vorgeworfen, sie seien bloße Schwatzbuden. Kaum eine höhnische Bemerkung ist so unangebracht wie diese. Ich wüßte nicht, wodurch sich eine Versammlung nützlicher machen könnte als durch Reden, wenn Gegenstand des Redens die großen nationalen Interessen sind und jeder Satz, der gesprochen wird, die Meinung wichtiger Gruppen oder eines einzelnen repräsentiert, dem eine dieser Gruppen ihr Vertrauen geschenkt hat. Eine Stätte, wo jedes Interesse und das gesamte Meinungsspektrum des Landes gegenüber der Regierung und allen anderen Interessen und Meinungen leidenschaftlich diskutiert werden kann, wo die anderen zum Zuhören gezwungen sind und entweder ihre Zustimmung oder eine Begründung für ihre Ablehnung geben müssen eine solche Stätte ist in sich selbst, auch wenn sie keinem anderen Zweck diente, eine der wichtigsten politischen Institutionen, die es geben kann, und einer der wesentlichsten Vorteile eines freien Regierungssystems. Solches »Reden« würde niemals geringgeachtet werden, wenn es nicht das »Tun« verhinderte: und dies wäre niemals der Fall, wenn Versammlungen einsehen und anerkennen würden, daß Rede und Diskussion ihre eigentliche Aufgabe sind, während das Handeln, als Resultat der Diskussion, nicht einer gemischten Körperschaft, sondern speziell dafür ausgebildeten einzelnen zukommt; daß die angemessene Aufgabe einer Völksvertretung darin besteht, für die einwandfreie und vernünftige Wahl dieser Persönlichkeiten zu sorgen und auf sie nicht weiter einzuwirken als durch das unumschränkte Recht zu Vorschlag und Kritik und die Gewährung oder Verweigerung des endgültigen Placet des Volkes. In Ermangelung dieser einsichtigen
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Zurückhaltung versucht eine Volksversammlung zu tun, wozu sie nicht fähig ist, nämlich zu regieren und Gesetze zu machen, und bringt dazu doch fast nichts mit als ihren eigenen Apparat - in dem Fall ist dannfreilichjede Stunde, die mit Reden verbracht wird, eine Stunde, die der wirklichen Aufgabe verloren geht. (S. 101 f.) Aus: John Stuart Mill, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, neu übersetzt von Hannelore Irle-Dietrich, hg. mit einer Einleitung von Kurt L. Shell, Paderborn 1971.
WALTER BAGEHOT Die parlamentarische Kabinettsregierung Einige Männer der Praxis lehnen die ehrwürdigen Elemente der Verfassung ab. Sie sagen, wir wollen nur Ergebnisse erzielen, praktische Arbeit leisten: eine Verfassung ist ein Arsenal politischer Mittel für politische Zwecke, und wenn man einräumt, daß irgendein Teil der Verfassung keinen praktischen Nutzen besitzt oder eine einfachere Maschine das gleiche leisten würde, dann gibt man zu, daß jener Teil der Verfassung, wie würdevoll oder ehrfurchtgebietend er auch sei, in Wahrheit dennoch nutzlos ist. Und andere Kritiker, die dieser Nützlichkeitsphilosophie mißtrauen, haben mit subtilen Argumenten beweisen wollen, daß die ehrwürdigen Teile alter Staatswesen Hauptbestandteile des unentbehrlichen Apparats, Angelpunkte von grundlegendem Nutzen sind; auf diese Weise produzierten sie aber Trugschlüsse, welche die weniger anspruchsvollen Denkschulen gut aufgedeckt haben. Beide Schulen befinden sich im Irrtum. Die ehrwürdigen Teile geben der Verfassung Kraft - sie vereinigen Antriebskräfte auf sich. Die leistungsfähigen Teile bedienen sich nur die-
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ser Kräfte. Die ehrwürdigen Elemente sind notwendig, denn auf ihnen beruht die Lebenskraft der Verfassung. Sie mögen nichts Bestimmtes tun, was eine einfachere Verfassung nicht besser tun könnte; doch sie sind die Voraussetzungen, die notwendigen Bedingungen jeder Wirksamkeit. Sie stellen das Heer auf, aber sie gewinnen die Schlacht nicht. (S. 49 f.) Das Geheimnis der Leistungsfähigkeit der englischen Verfassung ist die enge Vereinigung, die fast vollständige Verschmelzung der exekutiven und legislativen Gewalten. Der traditionellen Theorie zufolge, wie sie in allen Lehrbüchern steht, liegt die Qualität unserer Verfassung zweifellos in der vollständigen Trennung von gesetzgebenden und exekutiven Instanzen, in Wahrheit liegt dagegen ihr Vorzug in der einzigartigen Annäherung beider. Das Bindeglied ist das Kabinett. Mit diesem neuen Wort meinen wir einen Ausschuß der gesetzgebenden Körperschaft, der dazu ausersehen ist, als exekutive Körperschaft zu fungieren. Die Legislative hat viele Ausschüsse, aber dieser ist ihr größter. Sie wählt in diesen ihren Hauptausschuß die Männer, in die sie das größte Vertrauen setzt. (S. 53) Ein gutes Parlament ist auch eine vortreffliche Wahlkörperschaft. Wenn es fähig ist, dem Lande Gesetze zu geben, sollte seine Mehrheit die durchschnittliche Intelligenz des Landes repräsentieren; seine verschiedenen Mitglieder sollten die verschiedenen Sonderinteressen, Sondermeinungen und Vorurteile repräsentieren, die sich in diesem Gemeinwesen finden. Es sollte einen Fürsprecher für jede einzelne Sekte aufweisen und einen großen neutralen Block, der keiner Sekte angehört - homogen und kritisch wie die Nation selbst. Eine solche Körperschaft ist, falls sie zustande kommt, die beste Wahlinstanz für eine Exekutive, die man sich vorstellen kann. Sie ist voller politischer Aktivität; sie steht dem politischen Leben ganz nahe; sie fühlt die Verantwortung für die öffentlichen Angelegenheiten, die ihr sozusagen an die Türschwelle gebracht werden; sie besitzt so viel
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Intelligenz, wie das fragliche Gemeinwesen gerade aufweist. Sie ist, was Washington und Hamilton zu errichten strebten, ein Wahlmännerkollegium der ausgesuchten Männer der Nation. Derbeste Weg zur Würdigimg der Vorzüge ist der Blick auf die Alternative. Die konkurrierende Wahlkörperschaft ist die Nation selbst und diese ist, Theorie und Praxis zufolge, mit ganz wenigen Ausnahmen eine schlechte Wahlkörperschaft. Lincoln, der gewählt worden war, als alle Bundesstaaten sich in voller Einigkeit auf ein Ziel konzentriert hatten, wurde bei seiner zweiten Kandidatur von einer sich wirklich entscheidenden Nation spontan wiedergewählt. Er verkörperte das Ziel, das jeden völlig bestimmte. Doch dies ist fast die einzige Wahl, von der sich das sagen läßt. In fast allen Fällen wird der Präsident von der Maschinerie örtlicher Parteiorganisationen und Gruppen gewählt, die zu kompliziert sind, um sie völlig kennenzulernen, und zu vertraut, als daß sie nach einer Beschreibung verlangten. Ihn wählt nicht die Nation, er ist die Wahl der Drahtzieher. Eine sehr große Wählerschaft ist in ruhiger Zelt der notwendige, fast der legitime Gegenstand des Wahlmanagements: Der Wähler kann nicht wissen, daß seine Stimme nur wirksam ist, wenn er als Teil einer großen Organisation wählt; und wenn er derart wählt, dann tritt er seine Wahlfunktion zugunsten der Manager jener Vereinigung ab. Die Nation wäre, träfe sie selbst eine Wahl, bis zu einem gewissen Grad eine unerfahrene Wahlkörperschaft; aber wenn sie nicht selbst eine Wahl trifft, sondern wählt, wie es die verborgenen Agitatoren wünschen, dann gleicht sie einem großen faulen Manne mit einem kleinen bösen Verstand - sie bewegt sich langsam und schwerfällig, aber sie bewegt sich auf Geheiß einer schlechten Absicht; »sie will wenig, aber das wenige schlecht«. (S. 63 f.) Wenn Mitglieder einer gesetzgebenden Körperschaft sicher sind, nicht mehr leisten zu können als eine Rede zu halten, wenn sie nicht durch
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die Hoffnung auf Tätigkeit angespornt, durch die Aussicht auf Verantwortung gezügelt werden, dann wird sich ein erstklassiger Mann kaum um einen Sitz in ihr bemühen und wenig tun, wenn er ihn inne hat. Die Mitgliedschaft in einem Debattierclub, der Anhängsel der Exekutive ist (und dies ist keine unzutreffende Beschreibung des Kongresses im Präsidialsystem), ist kein Ziel, das edlen Ehrgeiz anstachelt, und ermutigt zur Untätigkeit. Die Mitglieder eines Parlamentes, die von Regierungsämtern ausgeschlossen sind, lassen sich keinesfalls mit den Parlamentsmitgliedern vergleichen, denen diese Ämter offenstehen, geschweige denn, daß sie ihnen gleichstünden. Auf Grund ihres Charakters teilt die Präsidialverfassung das politische Leben in zwei Hälften: eine Exekutive und eine Legislative; und mit dieser Teilung macht sie die Mitgliedschaft in keiner der beiden Hälften attraktiv - daß es sich lohnt, sie zu einer dauernden Karriere auszubauen - daß sie einen mit Leib und Seele in Anspruch nehmen kann wie die Kabinettsregierung. Die Staatsmänner, unter denen eine Nation im Präsidialsystem auswählt, sind denen weit unterlegen, für die sich eine Nation im Kabinettssystem entscheidet, und der Auswahlmechanismus ist ebenfalls weit weniger selektiv. Alle diese Unterschiede sind in kritischen Perioden wichtiger, weil das Regieren dann selbst wichtiger wird. Eine klare öffentliche Meinung, eine geachtete, fähige und disziplinierte Legislative, eine gut ausgewählte Exekutive, ein Parlament und eine Exekutive, die sich nicht gegenseitig hemmen, sondern zusammenarbeiten, sind von größerer Konsequenz, wenn große, als wenn kleine Angelegenheiten zu entscheiden sind - wenn viel zu erledigen ist, als wenn es wenig zu tun gibt. Doch in sehr gefährlichen Zeiten besitzt eine Parlaments- oder Kabinettsverfassung noch einen weiteren und besonderen Vorteil. Sie besitzt, was wir eine Machtreserve nennen können, die für äußerste Notlagen geeignet und dann notwendig ist.
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Das Prinzip des parlamentarischen Regierungssystems besteht darin, daß die höchste Gewalt, die Kraft zur Entscheidung in politischen Angelegenheiten, beim Volke ruht - nicht notwendigerweise oder in der Regel beim ganzen Volke, bei der numerischen Mehrheit, sondern bei einem gewählten Volk, einem ausgewählten und ausgesuchten Volk. Das ist so in England; es ist so in allen freien Ländern. Unter der Kabinettsregierung kann dieses Volk in einer plötzlichen Notlage einen Führer für diese Situation wählen. Es ist durchaus möglich und sogar wahrscheinlich, daß er vor dieser Situation nicht zum Anführer gewählt werden würde. Große Eigenschaften, ein herrscherlicher Wille, die schnelle Energie, die bewegliche, dynamische Natur sind einer großen Krise gemäß, aber in gewöhnlichen Zeiten nicht erforderlich und hinderlich. (S. 65) Aus: Walter Bagehot, Die englische Verfassung, hg. und eingeleitet von Klaus Streifthau, Neuwied und Berlin 1971.
M A X WEBER Repräsentation als soziale Beziehung in politischen Verbänden Eine soziale Beziehimg kann für die Beteiligten nach traditionaler oder gesatzter Ordnung die Folge haben: daß bestimmte Arten des Handelns a) jedes an der Beziehung Beteiligten allen Beteiligten (»Solidaritätsgenossenschaft«) oder b) das Handeln bestimmter Beteiligter (»Vertreter«) den anderen Beteiligten (»Vertretenen«) zugerechnet wird, daß also sowohl die Chancen wie die Konsequenzen ihnen zugute kommen bzw. ihnen zur Last fallen. Die Vertretungsgewalt (Vollmacht) kann nach den geltenden Ordnungen - 1. in allen Arten und Graden appropriiert (Eigenvollmacht) oder aber - 2. nach Merkmalen
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dauernd oder zeitweise zugewiesen sein - oder 3. durch bestimmte Akte der Beteiligten oder Dritter, zeitweilig oder dauernd, übertragen werden (gesatzte Vollmacht). (S. 25) Unter Repräsentation wird primär der [oben] erörterte Tatbestand verstanden: daß das Handeln bestimmter Verbandszugehöriger (Vertreter) den übrigen zugerechnet wird oder von ihnen gegen sich als »legitim« geschehen und für sie verbindlich gelten gelassen werden soll und tatsächlich wird. Innerhalb der Verbandsherrschaften aber nimmt Repräsentation mehrere typische Formen an: 1. Appropriierte Repräsentation. Der Leiter (oder ein Verbandsstabsmitglied) hat das appropriierte Recht der Repräsentation. In dieser Form ist sie sehr alt und findet sich in patriarchalen und charismatischen (erbcharismatischen, amtscharismatischen) Herrschaftsverbänden der verschiedensten Art. Die Vertretungsmacht hat traditionellen Umfang. (...) Der appropriierten Repräsentation sehr nahe steht 2. die ständische (eigenrechtliche) Repräsentation. (...) 3. Den schärfsten Gegensatz hierzu bildet die gebundene Repräsentation: gewählte (oder durch Turnus oder Los oder andere ähnliche Mittel bestimmte) Beauftragte, deren Vertretungsgewalt durch imperative Mandate und Abberufungsrecht nach Innen und Außen und an die Zustimmung der Vertretenen gebunden ist. Diese »Repräsentanten« sind in Wahrheit: Beamte der von ihnen Repräsentierten. (...) 4. Freie Repräsentation. Der Repräsentant, in aller Regel gewählt (eventuell formell oder faktisch durch Turnus bestimmt), ist an keine Instruktion gebunden, sondern Eigenherr über sein Verhalten. Er ist pflichtgemäß nur an sachliche eigene Überzeugungen, nicht an die Wahrnehmung von Interessen seiner Deleganten gewiesen. Freie Repräsentation in diesem Sinn ist nicht selten die unvemeidliche Folge der Lücken oder des Versagens der Instruktion. In anderen Fällen aber ist sie der sinngemäße Inhalt
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der Wahl eines Repräsentanten, der dann insoweit: der von den Wählern gekorene Herr derselben, nicht: ihr »Diener«, ist. Diesen Charakter haben insbesondere die modernen parlamentarischen Repräsentationen angenommen, welche die allgemeine Versachlichung: Bindung an abstrakte (politische, ethische) Normen: das Charakteristikum der legalen Herrschaft, in dieser Form teilen. Im Höchstmaß gilt diese Eigenart fiir Repräsentativ-Körperschaften der modernen politischen Verbände: die Parlamente. Ihre Funktion ist ohne das voluntaristische Eingreifen der Parteien nicht zu erklären. (S. 172) Aus: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. revidierte Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 1985.
M A X WEBER
Die Überlegenheit des parlamentarischen Parteienstaates Jede parlamentarische Demokratie sucht auch ihrerseits die der Parlamentsmacht gefährlichen plebiszitären Methoden der Führerwahl geflissentlich auszuschalten, wie dies namentlich die jetzt geltende französische Verfassung und das französische Wahlrecht (Wiederabschaffung der Listenwahl wegen der boulangistischen Gefahr [1889]) getan haben. Sie bezahlte dies freilich mit jenem Mangel an Autorität der höchsten Gewalten bei der Masse, welcher fiir Frankreich typisch ist und so charakteristisch gegen die Machtstellung des amerikanischen Präsidenten absticht. In demokratisierten Erbmonarchien andererseits ist das cäsaristisch-plebiszitäre Moment stets stark temperiert. Aber es fehlt nicht. Die Stellung des jetzigen englischen Premierministers ruht der Sache nach durchaus nicht auf
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dem Vertrauen des Parlaments und seiner Parteien, sondern auf dem der Massen im Lande und des kämpfenden Heeres. Das Parlament aber fugt sich (innerlich widerwillig genug) der Lage. Der Gegensatz zwischen plebiszitärer und parlamentarischer Auslese der Führer besteht also. Aber die Existenz des Parlaments ist deshalb nicht etwa wertlos. Denn gegenüber dem (der Sache nach) cäsaristischen Vertrauensmann der Massen gewährleistet sie in England 1. die Stetigkeit und 2. die Kontrolliertheit seiner Machtstellung; 3. die Erhaltung der bürgerlichen Rechtsgarantien gegen ihn; 4. eine geordnete Form der politischen Bewährung der um das Vertrauen der Massen werbenden Politiker innerhalb der Parlamentsarbeit und 5. eine friedliche Form der^wsschaltung des cäsaristischen Diktators, wenn er das Massenvertrauen verloren hat. Aber daß gerade die großen Entscheidungen der Politik, auch und gerade in der Demokratie, von Einzelnen gemacht werden: dieser unvermeidliche Umstand bedingt es, daß die Massendemokratie ihre positiven Erfolge seit den Zeiten des Perikles stets erkauft durch starke Konzessionen an das cäsaristische Prinzip der Führerauslese. (S. 394 f.) Ohne innere Katastrophengefahr vollzieht sich Aufstieg, Ausschaltung und Fortfall eines cäsaristischen Führers am ehesten da, wo die effektive Mitherrschaft machtvoller Vertretungskörperschaften die politische Kontinuität und die staatsrechtlichen Garantien der bürgerlichen Ordnung in ungebrochenem Bestand aufrecht erhält. (S. 401) Die feste Organisation der Parteien und vor allem der Zwang fiir den Massenführer, in der konventionell fest geregelten Teilnahme an den Komiteearbeiten des Parlamentes sich zu schulen und sich dort zu bewähren, bietet andererseits ein immerhin starkes Maß von Gewähr dafür: daß diese cäsaristischen Vertrauensleute der Massen sich den festen Rechtsformen des Staatslebens einfügen und daß sie nicht rein emotional, also lediglich nach den im üblen Sin-
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ne des Wortes »demagogischen« Qualitäten, ausgelesen werden. (S. 403) Aus: Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 306-443.
ROBERT MICHELS Organisation und Oligarchie Ohne Organisation ist die Demokratie nicht denkbar. Erst die Organisation gibt der Masse Konsistenz. Wenige Worte dürften zur Erklärung dieser These genügen. Eine Klasse, die an die Gesellschaft bestimmte Forderungen stellt und einen Komplex von aus den ökonomischen Funktionen, die sie erfüllt, selbst geborenen Ideologien und »Idealen« in die Wirklichkeit zu übertragen trachtet, bedarf sowohl auf wirtschaftlichem als auf politischem Gebiete der Organisation, als des einzigen Mittels zur Erzeugung eines Gesamtwillens. Die Organisation, die auf dem Prinzip des geringsten Kraftaufwands, d. h. der möglichsten Kraftersparnis beruht, ist die gegebene Waffe der Schwachen im Kampfe mit den Starken, der sich nur auf dem Boden der Solidarität gleicher Interessen abspielen kann. (...) Indes dieses politisch notwendige Prinzip, welches die Scylla der den Gegner begünstigenden Organisationslosigkeit der Massen vermeidet, birgt alle Gefahren der Charybdis in sich. Denn die Quelle, aus der sich die konservativen Wasserläufe in die Ebene der Demokratie ergießen, um dort bisweilen verheerende Überschwemmungen zu verursachen, welche die Ebene bis zur Unkenntlichkeit entstellen, hat den gleichen Namen, heißt ebenfalls Organisation. Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oli-
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garchie. Im Wesen der Organisation liegt ein tief aristokratischer Zug. Die Maschinerie der Organisation ruft, indem sie eine solide Struktur schafft, in der organisierten Masse schwerwiegende Veränderungen hervor. Sie kehrt das Verhältnis des Führers zur Masse in sein Gegenteil um. Die Organisation vollendet entscheidend die Zweiteilung jeder Partei bzw. Gewerkschaft in eine anführende Minorität und eine geführte Majorität. (S. 24 f.) Die direkte Selbstverwaltung durch Volksversammlungsbeschlüsse, das Ideal der Demokratie, beschränkt zwar die Ausdehnung des Delegationswesens, aber bietet keine Gewähr gegen die Entstehung eines oligarchischen Führertums. Die Volksversammlung, das big meeting, das comizio, wird beherrscht von den Gesetzen der Massenpsychologie. Sie entkleidet den natürlichen Führer zwar seines Wesens als Funktionär, da die Masse selbst die Funktionen des Funktionärs ausübt; aber die Volksversammlung ist, gerade ob ihrer Eigenschaft als Masse, besonders der Gefahr ausgesetzt, der Macht der Rede gewaltiger Volksredner zu unterliegen und erleichtert somit Überrumpelungen aller Art seitens Einzelner. Die Masse ist leichter zu beherrschen als der kleine Hörerkreis, weil ihre Zustimmung stürmischer, elementarer und bedingungsloser ist und sie, sobald sie einmal suggestioniert ist, nicht leicht den Widerspruch kleiner Minoritäten oder gar Einzelner zuläßt. Das System der Volksversammlung ermöglicht überhaupt keine ernste Aussprache oder Beratung oder erschöpfende Behandlung eines Gegenstandes. Eine große Menschenmenge, auf demselben Fleck beisammen, ist allerwegs für panischen Schrecken, sinnlose Begeisterung usw. empfänglicher als eine kleine Zahl, deren Komponenten vernünftig miteinander sprechen können. Die technische Spezialisierung, welche die notwendige Folge jeder ausgedehnten Organisation ist und die Erforderlichkeit der sog. geschäftsmäßigen Leitung kreiert, überträgt alle
Politische Institutionen
entscheidenden Eigenschaften der Masse als spezifische Führerqualität auf die Führer allein. Die Führer, die zunächst nur die Vollziehungsorgane des Willens der Masse sind, werden selbständig, indem sie sich von der Masse emanzipieren. (S. 36) Nichts spricht dafür, daß diese empirisch feststellbare Macht der Organisation im Parteileben auf absehbare Zeit durchbrochen werden könnte. Die Unabhängigkeit der Führer wächst in gleichem Maße mit ihrer Unentbehrlichkeit. Der Einfluß, den sie ausüben, und die ökonomische Sicherheit ihrer Stellung wirken immer mehr faszinierend auf die Massen und stacheln den Ehrgeiz gerade der begabtesten Elemente der unteren Volksklassen zum Eintritt in die privilegierte Bürokratie der Arbeiterbewegung an, die auf diese Weise immer unfähiger wird, die eventuelle latente Opposition gegen die alten Führer durch neue begabte Kräfte leiten zu lassen. (...) Gleichzeitig mit ihrer Absonderung von der Masse tritt unter den Führern die Neigung zutage, etwa entstehende Lücken in ihrem Kreis nicht durch Volkswahl, sondern aus sich selbst heraus, auf dem Wege der Kooptation auszufüllen bzw. erforderlichenfalls den Kreis selbst zu erweitern. Der Führer bemächtigt sich die Tendenz, sich untereinander abzuschließen und durch Kartellbildung eine Mauer um sich zu errichten, über die sie nur die ihnen genehmen Elemente steigen lassen. Statt ihren Nachwuchs auf dem Wege der Wahl durch die Massen bestimmen zu lassen, suchen sie ihn selbst auszuwählen und sich direkt oder indirekt durch eigenen Willensakt zu ergänzen. (S. 158-160) Aus: Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, 4., erg. Aufl. mit einer Einführung von Frank R. Pfetsch, Stuttgart 1989.
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CARL SCHMITT Sichtbarmachung einer politischen Existenz Repräsentation ist kein normativer Vorgang, kein Verfahren und keine Prozedur, sondern etwas Existenzielles. Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen. Die Dialektik des Begriffes liegt darin, daß das Unsichtbare als abwesend vorausgesetzt und doch gleichzeitig anwesend gemacht wird. Das ist nicht mit irgendwelchen beliebigen Arten des Seins möglich, sondern setzt eine besondere Art Sein voraus. Etwas Totes, etwas Minderwertiges oder Wertloses, etwas Niedriges, kann nicht repräsentiert werden. Ihm fehlt die gesteigerte Art Sein, die einer Heraushebung in das öffentliche Sein, einer Existenz, fähig ist. (...) In der Repräsentation dagegen kommt eine höhere Art des Seins zur konkreten Erscheinung. Die Idee der Repräsentation beruht darauf, daß ein als politische Einheit existierendes Volk gegenüber dem natürlichen Dasein einer irgendwie zusammenlebenden Menschengruppe eine höhere und gesteigerte, intensivere Art Sein hat. Wenn der Sinn für diese Besonderheit der politischen Exstenz entfällt und die Menschen andere Arten ihres Daseins vorziehen, entfallt auch das Verständnis für einen Begriff der Repräsentation. (S. 209 f.) Repräsentiert wird die politische Einheit als Ganzes. In dieser Repräsentation liegt etwas, das über jeden Auftrag und jede Funktion hinausgeht. Daher ist nicht jedes beliebige »Organ« Repräsentant. Nur wer regiert, hat teil an der Repräsentation. Die Regierung unterscheidet sich von der Verwaltung und Geschäftsbesorgung dadurch, daß sie das geistige Prinzip der politischen Existenz darstellt und konkretisiert. (S. 212) Ein Maximum von Repräsentation würde ein Maximum von Regierung bedeuten; solange es
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wirksam vorhanden ist, könnte es mit einem Minimum von Homogenität des Volkes auskommen und aus national, konfessionell oder klassenmäßig verschiedenartigen Menschengruppen eine politische Einheit bilden. Die Gefahr dieses Zustandes liegt darin, daß das Subjekt der politischen Einheit, das Volk, ignoriert wird und der Staat, der niemals etwas anderes ist als ein Volk im Zustand politischer Einheit, seinen Inhalt verliert. Das wäre dann ein Staat ohne Volk, eine res populi ohne populus. (S. 215) Aus: Carl Schmitt, Verfassungslehre, 6. unveränd. Aufl., Berlin 1983.
GERHARD LEIBHOLZ Parteien und Aktivbürgerschaft Diese Demokratisierung im politischen Raum erklärt, wie es zur Entstehung der politischen Parteien gekommen ist. Diese sind nämlich die Organisationen, die heute Hunderte von Millionen freigesetzter Aktivbürger politisch aktionsfähig machen und zu politischen Handlungseinheiten zusammenschließen. Durch diesen Demokratisierungsprozeß sind die Parteien zum Sprachrohr geworden, dessen sich das mündig gewordene Volk bedient, um sich in der politischen Sphäre artikuliert äußern zu können. Ohne sie würden die heute emanzipierten Aktivbürger ziel- und richtungslos im politischen Raum hin- und hervegetieren. Die Parteien sind es, die so das Volk in der politischen Sphäre als real handelnde Einheit in Erscheinung treten lassen, es sozusagen erst politisch konstituieren. Diese Mediatisierung des Volkes durch die Parteien gehört sozusagen zum Wesen der modernen parteienstaatlichen Demokratie. Diese Entwicklung wird heute vielfach beklagt. Man spricht gern von einer Entmachtung des Volkes durch die zugleich gesellschaftlich durchsetzten
III. Kapitel
Parteien, die die Möglichkeit einer wirklich »guten« und »wahren« Demokratie in Frage stellen. Doch dem ist nicht so. (...) Ist es, wie bemerkt, die Aufgabe der Parteien, als Sprachrohr des mündig gewordenen Volkes zu fungieren, so kann die Aufgabe einer politischen Partei nur darin bestehen, das Gesamtinteresse, d. h. die politischen und gesellschaftlichen Interessen der in ihr organisierten Parteibürger und derjenigen wahrzunehmen, die ihr Vertrauen zu dieser Partei dadurch bekundet haben, daß sie bei den Wahlen für sie, deren Bewerber und deren Programm votiert haben. So vertritt ζ. B. die heutige Arbeiterregierung in England das »Gesamtinteresse«, wie es von denjenigen verstanden wird, die der Arbeiterpartei unmittelbar oder mittelbar (über die Gewerkschaften) angehören oder ihr bei den letzten Wahlen ihre Stimme gegeben haben. Provozierend kann man dies auch so ausdrücken, daß man sagt, daß die Parteien, indem sie das Volk organisieren, dahin tendieren, sich mit diesem selbst zu identifizieren. (...) Hieraus ergibt sich, daß der politische Wert oder Unwert der politischen Parteien von dem der Aktivbürger abhängt, aus denen sich die Parteien im einzelnen rekrutieren. Je gesünder der politische Lebenswille und Instinkt eines Volkes ist, um so besser sind die Parteien, zu denen sich die Aktivbürgerschaft zusammenschließt. Daher hat im Grunde genommen in der parteienstaatlichen Demokratie jedes Volk die Parteien, die es verdient. (S. 256-258) Wenn die Aktivbürgerschaft die letzte Instanz ist, die bei den sog. Wahlen in Fragen von grundsätzlicher politischer Bedeutung das letzte Wort zu sprechen hat, und die Parteien die organisierte Aktivbürgerschaft darstellen, so haben jene in einem funktionierenden Parteienstaat bestimmte Pflichten. Sie haben vor allem die Aktivbürgerschaft in die Lage zu versetzen, eine Frage so oder so zu entscheiden. Hat aber die Aktivbürgerschaft ein Recht zu wissen, worum es bei den Wahlen in concreto geht, so haben die Parteien auch die Pflicht, die einschlägigen Fragen in
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Politische Institutionen
größtmöglicher Klarheit und Präzision derselben zur Kenntnis zu bringen. Es genügt daher nicht, wenn etwa die Parteien die Aktivbürgerschaft nur vage über ihr Programm informieren oder sich nicht deutlich genug über ihre künftigen Regierungspläne äußern. (...) Gewiß, auch die parteienstaatliche Demokratie steht unter dem ehernen Gesetz, von einer politischen Elite geführt werden zu müssen - nur daß diese eben nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben, d. h. von den Wählern und Parteibürgern vertrauensmäßig getragen sein muß, und daß die Führungsgremien nicht legitimiert sind, mit Hilfe des Parteiapparates und der Parteibürokratie unter Verwendung der modernen Organisationstechnik ihren Willen dem der Parteibürger und schließlich dem ganzen Volk aufzuerlegen. Sinn und Zweck des leider noch immer nicht verabschiedeten Parteiengesetzes [1967 verabschiedet] ist u.a. auch der, für die Demokratisierung der Parteien, d. h. dafür Sorge zu tragen, daß Demokratie und Führung wieder stärker miteinander verbunden werden und die Autorität der Führungsgruppe sich auf den freien Willen der Geführten zurückführen läßt. (S. 261) Aus: Gerhard Leibholz, Verfassungsrecht und politische Wirklichkeit, in: ders., Die Repräsentation in der Demokratie, Berlin und New York 1973, S. 249-271.
Literatur zum 4. Abschnittt
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III. Kapitel
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IV Politische Normen 1. Entstehung und Typen politischer Normen MARCUS LLANQUE
Normen zu geben, gehört zu den wichtigsten Instrumenten politischer Steuerung. In einer nicht nachlassenden Normenproduktion wird im modernen Staat mittlerweile das gesamte gesellschaftliche Leben mit einem Netz an Vorschriften und Regeln überzogen. Sie verbieten nicht nur, sie kanalisieren und steuern individuelles Verhalten (vgl. II. Kapitel, 1. Abschnitt: Herrschen, Disziplinieren und Regulieren). Politische Institutionen sind zu einem großen Teil Einrichtungen und Verfahren zur Normproduktion. Die Legitimation der Verfahren verhilft den Produkten dieses Verfahrens zur Geltung (vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt/M. 1983). Dennoch müssen sich Normen auch materiellen Kriterien unterwerfen. Nach welchen Normen soll der Mensch handeln? Diese Hauptfrage der philosophischen Ethik stellt sich in der Politikwissenschaft etwas anders. Hier steht zunächst die Erörterung im Vordergrund, unter welchen Umständen es gewährleistet ist, dass Menschen sich überhaupt nach Normen richten, wie diese Normen ungeachtet ihres jeweiligen Inhaltes entstehen bzw. wer sie festlegt. Anders als die Normen natürlicher Gegenstände, die von »Naturgesetzen« bestimmt sein mögen, welche man objektiv erkennen kann, fallen beim Menschen Normquelle und Normadressat zusammen und bedingen sich wechselseitig. In der Politik reicht oft der Glaube an die Richtigkeit politischer Normen aus, um das Verhalten der Menschen effektiv zu bestimmen. Ferner bedient sich der Mensch der Normen, um das Verhalten anderer zu steuern, wenigstens zu koordinieren. Der Mensch kann sich aber auch selber Normen geben und sich nach ihnen ausrichten oder sogar bewusst selbst einschränken. Die moderne Demokratie beinhaltet den Gedanken, alle Normen, die eine volkssouveräne Quelle haben, anzuerkennen und erkennt zugleich die Notwendigkeit an, sich nicht jede normative Gestaltungsidee zu erlauben. Die Politik ist jeweils der herausragende Ort, um mit Normen umzugehen. Sei es, dass existierende Verhaltensnormen, die man sozialwissenschaftlich beobachten kann (soziale Normen), in ihrer Gültigkeit diskutiert und auch geändert werden können; sei es, dass die Rahmenbedingungen menschlichen Verhaltens so umgebaut werden, dass völlig neue (oder ganz alte) Normen (wieder) effektive Wirkung haben können. Dementsprechend gilt die Gesetzgebung in parlamentarischen Demokratien immer noch als der Kern politischer Tätigkeit. Normen werden gegeben, sie werden exekutiert und sie werden judikativ geprüft. Die obigen Abschnitte zu den Institutionen beschäftigen sich zu einem erheblichen Teil mit den Vorgängen der Normgebung. Macht über den Inhalt geltender Normen zu haben, gehört zu den nachhaltigsten Herrschaftsmöglichkeiten der Politik (vgl. II. Kapitel, 1. Ab-
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IV Kapitel
schnitt: Herrschen, Disziplinieren und Regulieren). Auch politische Ideologien wie der Republikanismus und später der Konstitutionalismus, die anstatt von der Herrschaft des Menschen über Menschen die Herrschaft des Gesetzes für wünschbar erachten, legen die Entscheidungskompetenz darüber, was als Norm zu gelten habe und wer sie abändern bzw. anpassen darf, in die Hände von Amtsträgern, also Menschen. Die Existenz von Normen ist also kein Hinweis auf die löbliche Überwindung eines Herrschaftsverhältnisses, sondern nur Nachweis ihrer Differenziertheit. Sowohl der Machtstaat als auch der Staat der Vereinbarung bedienen sich der Normgebung, um das verzweigte und verflochtene Zusammenleben der Menschen zu koordinieren. Der Begriff der Souveränität wurde von Jean Bodin in klarer Erkenntnis der modernen Haupttätigkeit des Staates in der Gesetzgebung verortet. Wie sehen aber politische Normen für sich betrachtet aus? Welcher Logik folgen sie, wie entstehen sie und nach welchen Maßstäben lassen sie sich ihrerseits bewerten? Es gibt Normen der Normen. Nicht alle politischen Akteure geben sich mit der Höherrangigkeit einer Verfassung zufrieden, wenn es um die Frage nach der besonderen Geltung einer Norm geht, da ja auch die Verfassung auf von Menschen gemachten Normen beruht. Oft ist es die Anrufung einer transzendenten (»göttlichen«) Quelle einer Norm, welche ihr zur Geltung verhilft. Ausweis der Höherrangigkeit ist oft die Drohung einer unausweichlichen Bestrafung bei Nichtbefolgung. Diese Form der Geltung ist jedoch sehr primitiv, und zwar selbst dann, wenn sie sich auf der Ebene staatlich gesetzten Rechts wiederholt, auf welcher die Befolgung der Norm nicht durch Einsicht, sondern durch Androhung der Strafe im Falle der Nichtbefolgung erzwungen wird. Die Geltung der Norm steht und fallt mit der Plausibilität der Sanktion, was die Norm gänzlich von der Institution abhängig macht. Wenn Hobbes (vgl. I. Kapitel: Das Politische: Grundmodelle des Politischen zwischen Ordnung und Konflikt) sagt, das Gesetz sei ohne Schwert nur ein leeres Wort, so muss das Schwert der Norm zur Wirklichkeit verhelfen. Wirksamer ist die Überzeugung oder wenigstens der Glaube der Normadressaten an die Richtigkeit der Norm, was Max Weber »Legitimation« nennt. Förderlich hierfür ist die Angabe einer externen Quelle der Norm. Der Vorteil einer transzendenten Quelle besteht in dem Ansehen, das der Norm unabhängig vom Menschen verliehen wird: Sie ist unabhängig von menschlicher Willkür bezüglich der Inhaltsbestimmung der Norm. Die Norm gilt, weil sie vom Menschen unabhängig und insofern unparteiisch ist. In dem ideengeschichtlich prägenden Vorbild der vom Berg Sinai zu den Menschen herniedergebrachten Gesetzestafeln kommt dieser Zusammenhang sinnfällig zum Ausdruck. Mit den Gesetzen der beiden Tafeln wird die Höherrangigkeit symbolisiert; zugleich begründen diese Normen den politischen Bund zwischen der Normenquelle und den Normadressaten: Das Volk Israel wird konstitutiert mit den Gesetzen und reproduziert sich mit dem Gesetzesgehorsam; zugleich ist aber Gott selbst durch den Bund verpflichtet. Das höherrangige Recht allerdings ist die Quelle neuer Differenzierung unter den Menschen: Die Vermittler zwischen Gott und den Menschen sind diejenigen, die Zugriff auf die Norm
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bzw. das aktuelle Verständnis des Nonninhaltes haben. Dazu zählt Moses, aber auch die Theologen, die Propheten oder später die gesalbten Könige. Die Nähe zur Norm schafft eine neue soziale Hierarchie, obschon die Normen selber weder die Hierarchie noch die Schicht der Normausleger gesondert erwähnen. So sind die politischen Akteure, die Institutionen, in welchen ihre Handlungen erfolgen, und die Normen ihres Handelns sehr eng miteinander verzahnt. Der Versuch, Quelle und Herkunft der Normen als Ausweis ihrer unverfügbaren Vorrangigkeit dadurch zu erweisen, dass sie mit einem Gott in Verbindung gebracht werden, ist bezüglich der Struktur des Arguments immer wieder erneuert worden. An Stelle Gottes tritt in der politischen Theorie die Natur, womit sich mindestens ebenso schillernde Vorstellungen verbinden wie mit einem Gott. Die Natur bezieht sich auf die Natur des Menschen, beispielsweise auf seine soziale Natur oder im Gegenteil: seine a-soziale Natur (wie im Falle von Hobbes' Metapher vom Menschen als Wolf). Die aus der Natur des Menschen ermittelten Eigenschaften dienen dann als Ausgangspunkt, wie der Mensch ist, aber auch als Maßstab dafür, wie sich der Mensch verhalten soll, um Mensch zu sein. So ist die Kennzeichnung der Vernunft als wesentliche Eigenschaft der Natur des Menschen die Möglichkeit, eine Norm der Normen zu ermitteln, anhand derer die vom Menschen gegebenen Normen bewertet werden können: Normen müssen rational sein. Das entwertet alle traditionell überlieferten Normen, die sozial habitualisiert sein können. Die Natur ist Erklärung und Vorschrift zugleich. Es ist möglich, von einem naturwidrigen oder vernunftwidrigen Verhalten zu sprechen. Es gibt auch eine dynamische Vorstellung von der Natur. So kann der Wandel im Verhalten der Menschen zueinander als »Geschichte« beschrieben werden, die als Maßstab und somit als Norm menschlichen Handelns dient. In einer noch einmal abstrakteren Stufe von Geschichtlichkeit spricht man auch von der »Evolution«, wobei hier nun die Natur der Gesellschaft Erklärung und Vorschrift des Verhaltens ist, unter Angabe eines bestimmten Zieles der Entwicklung. Jedes Verhalten, das sich diesem Ziel nähert oder von ihm entfernt, ist entsprechend zu bewerten. Begreift man die Ausbildung einer bestimmten Differenzierung einzelner Funktionssysteme der Gesellschaft voneinander oder die Fähigkeit des rationalen Ausweises der Gründe eigenen Tuns als Kennzeichen der »Moderne«, so ist die »Moderne« als evolutive Vorstellung der historischen Natur Maßstab dieses Tuns. Gerade ethische Erschütterungen in der Politik, verursacht durch besonders grausame oder menschenverachtende Verhaltensweisen, führen zu einer Neuthematisierung der Vorstellung des »Naturrechts«, um zu verdeutlichen, dass bestimmte Normen ungeachtet der jeweiligen Situation, also unbedingt zu befolgen sind. Doch selbst dem Krieg als einem besonders intensiv ausgetragenen Konflikt sind Normen nicht unbekannt. Das gesamte Völkerrecht der Neuzeit liegt in dem Bestreben begründet, die Aneinanderreihung an Grausamkeiten normativ zu bewältigen, um die Auswirkungen unvermeidlicher Kriege wenigstens zu beschränken. Da man kaum auf Normen rekurrieren kann, die zwischen den
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IV Kapitel
Konfliktparteien umstritten sind oder die sogar der Anlass des Krieges sind, muss man nach Maßstäben Ausschau halten, die allen Parteien eigen sind, was dann wieder zur Vorstellung von der Vernunftnatur des Menschen führt. Völkerrecht und rationales Naturrecht sind daher ideengeschichtlich sehr eng miteinander verwandt. Die Erfahrung barbarischster Verhaltensweisen einer Nation, die sich nicht mit Hinweis auf einen geringen Zivilisationsstand entschuldigen kann, hat dann nach 1945 zur Wiederbelebung des Naturrechts gefuhrt, in dem ernstlichen Bedürfnis, aller Politik Grenzen zu ziehen. Die Menschenrechte sind die modernste und gegenwärtig wirksamste Konkretion des Naturrechtsdenkens. Sie unterliegen aber auch den gleichen Einwänden: Sie dünken sich universal und sind in Wahrheit vielleicht nur die Frucht einer bestimmten politischen Kultur. Am Ende steht die Skepsis bezüglich der Vorrangigkeit von Normen als Maßstab anderer Normen, außer man erkennt in der Setzung durch den Menschen ihre eigentliche Dignität. In diesem Falle sind Normen Teil der Kultur und von menschlicher Setzung wie von menschlicher Beachtung abhängig. Der Wert einer Norm ist dann auch nur relativ, nicht absolut, nämlich relativ zur Anschauung von Menschen über ihren Wert (Protagoras). Auch die stärkste Überzeugung von der Richtigkeit einer Norm macht diese nicht höherwertig. Sind Normen aber vom Menschen gesetzt, so ist ihre Bedeutung dem Belieben des Menschen anheim gestellt. Das begründet ein neues Dilemma. Wie kann die Norm gleichzeitig der Verfügung des Menschen unterstehen und doch ihm gegenüber Geltung beanspruchen, um sein Verhalten zu steuern? Eine Lösung besteht in der institutionellen Erschwerung der Verfügung über Normen. Nun greifen Verfahren der Normgebung, formale Vorschriften über die rechtmäßige Entstehung von Normen ein, die in der Bündelung solcher Verfahrensnormen in der modernen Verfassung gipfeln. Die modernste Antwort betseht also in der konstitutionellen Demokratie. Die Verfassung legt die Normen fest, nach welchen andere Normen verbindlich erlassen und geändert werden können.
Die Vermittlung politischer Normen
Die politische Theorie unterscheidet sich auch darin von der politischen Philosophie, dass sie nicht nur den Gehalt und die Geltungsansprüche von Normen thematisiert, sondern auch ihre Entstehung sowie die Bedingungen der Befolgung von Normen. Politische Systeme sind auf die Befolgung der sie tragenden Leitnormen angewiesen. Politische Normen werden entdeckt, aufgefunden oder gesetzt. In allen Fällen müssen sie vermittelt werden, damit sie eine möglichst große Anzahl der Normadressaten befolgt. Würde beispielsweise die Idee des Naturrechts so gemeint sein, als befolgte der Mensch von Natur aus diese Norm, so bedürfte es nicht ihrer Reflexion und auch keiner politischen Institutionen, um ihrer Geltung zur Wirklichkeit zu verhelfen. Sozial vermittelte Routinen und Traditionen erwecken am ehesten den Anschein, gleichsam unterhalb der Bewusstseinsschwelle anzusetzen. Ihre Wirkung ist vielleicht sogar dort am größten, wo sie ohne Beitrag des Bewusst-
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seins ausgeführt werden. Gerade in diesen Fällen werden politische Normen aufgeboten, um solche sozialen Normen zu bewerten, das heißt sie zu verteidigen oder zu verwerfen. Wie werden solche politischen Normen vermittelt? Eine der ältesten Antworten hierauf ist der Zwang: Die Androhung von Sanktionen verhilft politischen Normen zur Wirklichkeit. Effizienter als die gewaltsame Erzwingung des Gehorsams eines staatlichen Befehls ist der freiwillige Gehorsam, der Normen entgegengebracht wird. In der Politik ist es daher nicht nur erforderlich zu wissen, welche Normen in einer bestimmten Gesellschaft wirksam sind, sondern auch, dafür zu sorgen, dass die für sie wichtigen Normen vermittelt werden. Zwei Hauptwege sind dabei in der politischen Theorie von Belang: Religion und Erziehung. In der Antike war die Erziehung allgemeinhin eine Aufgabe der Familie, doch das gesamte antike politische Denken ist von der Idee der Erziehung durchzogen. Aristoteles fordert die Politik dazu auf, sich um die Vermittlung der zentralen Normen zu kümmern. Darin folgt er seinem Lehrer Piaton, der seinerseits dem spartanischen politischen System entnahm, bis zu welchem Grade der Mensch durch geplante erzieherische Formung bestimmt werden kann. Aristoteles ist aber skeptisch, ob das einseitig auf die Hervorbringung von militärischer Tapferkeit ausgelegte spartanische Modell für Demokratien ausreicht. Im Mittelalter und in der Frühneuzeit war die Ausbildung überwiegend eine private Angelegenheit; Grundfertigkeiten wurden durch kirchliche Organe vermittelt, die höhere Bildung war dem persönlichen Interesse und den privaten Ressourcen überlassen. Erst im Übergang zur Moderne wird die Erziehung als politische Aufgabe wiederentdeckt. Zumal in Verbindung mit der Idee der Nation sollen Bildung bzw. Unterrichtung das Volkes dazu befähigen, politisches Subjekt zu sein. Dazu erforderlich ist die Kenntnis der Landessprache, seiner Literatur und Geschichte. Die Schule gehört dementsprechend zum Programm des Nationalstaates. Die Nation will sogar die Kompetenz der schulischen Ausbildung monopolisieren. Die Schule ist daher ein wichtiger Bestandteil des modernen Nationenbegriffs (vgl. Ernest Gellner im II. Kapitel, 4. Abschnitt: Der soziale Ort politischen Handelns: Bürgerliche Gesellschaft, Nation und Klasse). Ambitionierte Demokratietheorien wie die John Deweys verlangen einen aktiven Part der Schule für die Vermittlung demokratischer Fähigkeiten und für die Einübung demokratischer Praxis. Auf Grund der Jugend der Schüler verlangt Dewey sogar ausdrücklich, dass die Schule eine Auswahl der zu vermittelnden Normen treffen muss und klare Aussagen machen muss über solche Normen, die nicht mit der Demokratie vereinbar sind. Schwieriger einzuschätzen ist der zweite Pfad der Vermittlung von Normen, die Religion. Im religiösen Zeremoniell wie in den Katechismen werden Normen vermittelt und symbolisch oder rituell eingeübt. Je näher die Kirchenführung der Politik steht, desto leichter stellt die Politik diese religiöse Vermittlung in ihren Dienst. Der Bogen theoretischer Verarbeitung reicht von Machiavellis instrumenteller Perspektive bis zu der soziologischen
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Wendung in Max Webers Theorie des politischen Legitimitätsglaubens. Machiavelli thematisiert die Möglichkeit, Religiosität zur Vertiefung der Normbefolgung einer politischen Ordnung auszunutzen. Sein Beispiel ist wie so oft das römische Gemeinwesen und die Rolle des zweiten Königs, des Numa Pompilius, darin. Die Frage ist dabei, ob die Instrumentalisierung der Religion nur der Durchsetzung eigennütziger Gesetze dient, also etwa zur Festigung der persönlichen Herrschaft durch die Anbetung der politischen Spitze als gottgleich, oder ob die Leitprinzipien des politischen Gemeinwesens wie Gerechtigkeit kultisch verehrt werden. Rousseau greift Machiavellis Theorie auf und entfaltet sie zu dem berühmten Konzept von der Zivilreligion. Rousseau schließt sich der Forderung von Thomas Hobbes an und verlangt die Zusammenlegung des weltlichen und des geistigen Schwertes in der Hand der politischen Ordnung. Anders als bei Hobbes ist für Rousseau nicht die Stabilität der politischen Ordnung als Maßstab dieser Machtkonzentration zugleich ihre Rechtfertigung, sondern der öffentliche Nutzen der Gläubigen. Selbst aus dem Blickwinkel der Stabilität der politischen Ordnung will Rousseau eine Art Staatsreligion nicht gelten lassen, wenn sie eine Gott ersetzende Verehrung des Vaterlandes und seiner Gesetze fordert. Eine solche Staatsreligion würde die Menschen betrügen und leichtgläubig machen. Rousseau lehnt andererseits die Sakralisierung der politischen Ordnung durchweg ab. Die politische Ordnung darf sich seiner Ansicht nach nur insofern um die Religion kümmern, als deren Dogmen Einfluss auf die Moral der Bürger nehmen. Die letzten Glaubensinhalte sollen nicht Regelungsbestand politischer Gesetzgebung sein, erforderlich ist jedoch ein »bürgerliches Glaubensbekenntnis«, das heißt ein den Bedürfnissen der politischen Gemeinschaft angepasstes Bekenntnis. Der Legitimitätsbegriff Max Webers gehört zu den eindrücklichsten Versuchen, in einer rein analytischen Weise das tatsächliche Verhalten von Menschen zu beschreiben. Diese Theorie geht davon aus, dass es neben dem zweckrationalen auch einen wertrationalen Bestandteil menschlichen Verhaltens gibt, der über geteilte Normen Herrschaft begründet. So ist es nicht die abgeklärte, individuelle Intellektualität, deren Einschätzung staatlichen Gesetzen zur Geltung verhilft, sondern der Glaube an die Richtigkeit von Normen, die bestimmte Verfahren (im modernen Rechtsstaat das Verfahren der Legalität) durchlaufen haben. Die durch Legalität vermittelte Legitimität ist den übrigen Legitimitätstypen der Tradition und des Charismas nicht aus normativen Gründen überlegen: Das würde wiederum eine Norm voraussetzen, die eine solche Bewertung ermöglicht. Aber es lassen sich für bestimmte politische Vorhaben verschiedene Vor- und Nachteile erkennen. Insgesamt besitzt die Legalität den Vorzug hoher Rationalität, aber sie neigt zur bürokratischen Erstarrung, wohingegen das charismatische Element zu hoher Irrationalität neigt, aber die Kraft verleiht, verkrustete Strukturen aufzubrechen.
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Haupttypen politischer Normen: Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Geschichte und Utopie Die Vielfalt von Nonnen ist schier unbegrenzt. Von den Naturrechtsnormen bis zu Verfassungsgesetzen, von Spielregeln und Konventionen bis zu strengen Verfahrens- und protokollarischen Vorschriften finden sich viele unterschiedliche Typen. Zu den wichtigsten im Bereich politischer Normen zählen solche, die Maßstäbe an die Hand geben, um andere Normen zu bewerten. Es zeichnet sich dabei ein permanenter Konflikt ab zwischen den von Menschen gesetzten Normen zur Regelung ihrer einzelnen Lebensverhältnisse und allgemeinen Prinzipien, die aus der Sicht deqenigen, die sie zur Geltung bringen, der Verfügung des Menschen entzogen sind. Das literarisch älteste Motiv ist Antigone, die das politisch motivierte Verbot ihres Onkels Kreon, den im Zweikampf gefallenen Bruder nicht zu beerdigen, missachtet und ihm die höhere Geltung des Naturrechts entgegenhält. Es ist kein weiter Bogen von dieser von Sophokles verewigten Gestalt bis zu Leo Strauss' Theorie vom Vorrang des Naturrechts im 20. Jahrhundert. Das Naturrecht ist dem menschlich gesatzten Recht gegenüber vorrangig. Es steht nicht zur menschlichen Disposition, sondern ist Gegenstand philosophischer Erkenntnis. Wenn solche höherrangigen Normen nicht menschlicher Disposition unterliegen, woher stammen sie dann aber, und wie lässt sich die Richtigkeit des Erkenntnisurteils gewährleisten? Gerechtigkeitsvorstellungen sind als Abstraktion abhängig von der geübten sozialen Praxis in bestimmten Kulturen. Solche Kulturen können über Stammes- und Sprachgrenzen hinaus vergleichbare Prinzipien aufweisen, wie das uralte Talionsprinzip des »Auge um Auge, Zahn um Zahn« demonstriert: Was der europäischen Ideengeschichte über das Bundesbuch der Israeliten bekannt wurde (2 Mose 21,22 - 25), ist im Orient eine weit verbreitete Gerechtigkeitsvorstellung gewesen. Das Talionsprinzip reklamiert göttlichen Ursprung und ist daher nicht menschlich verfügbar. Es ordnet als ethisches Prinzip das Sozialverhalten der Gemeinschaftsmitglieder untereinander. Davon sind solche normativen Maßstäbe zu unterscheiden, welche politischen Akteuren, zumeist Normgebern, mit auf den Weg gegeben werden und die Gegenstand politischer Auseinandersetzung sein können. Was sind die letzten Maßstäbe, anhand derer das Handeln der Richter gemessen werden kann: die strenge Gesetzestreue oder die Billigkeit? Gelten für unterschiedliche Gegenstände unterschiedliche Maßstäbe? Aristoteles hat die europäische Ideengeschichte wie kein zweiter geprägt mit seiner Differenzierung der Materie nach solchen Gegenständen, die nach arithmetischer (Wirtschaftsgüter) oder nach geometrischer (soziale Güter) Gerechtigkeit zu bemessen sind. Soll sich der Gesetzgeber oder der Regierungschef in seinem Handeln nach dem Allgemeinwohl orientieren, dann dient dieser Maßstab seiner Rechtfertigung, wenn er um des Wohles aller willen das Einzelwohl besonderer Teilgruppen oder einzelner Individuen vernachlässigt oder sogar schädigt. Die Gerechtigkeit nimmt somit die Stellung einer Norm von Normen ein. Sie bildet den Maßstab, der an das positive Recht und an den politischen Willen angelegt wird.
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Verschiedene Quellen dieser Norm der Normen werden gehandelt. Die heilsgeschichtliche Perspektive von Augustinus behauptet in Gott die Quelle der Gerechtigkeit und die transzendente Welt als Maßstab der Welt hienieden. Aristoteles dagegen setzt die menschliche Vernunft als die Quelle der Gerechtigkeit: Ihr Inhalt ist einsichtsfahig, auch wenn gerade die Einsicht den betroffenen Konfliktparteien dann am schwersten fallt, wenn sie in eigener Sache Richter sein sollen. Für Aristoteles ist es die Perspektive des Richters, an den seine allgemeinen Überlegungen, wie Güter verteilt und nach welchem Maßstab sie sachgerecht verteilt werden können, adressiert sind. Da in Athen alle Bürger Richter sein können, wird die Ethik so zu einem Lehrbuch der Anwendung von Normen im sowohl persönlichen als auch privaten Gebrauch. Güter des einfachen Tauschverkehrs wie Waren und Geld unterliegen anderen Erwägungen der Sachgerechtigkeit als etwa moralische Güter wie Anerkennimg und Ehren. Das Distributionsproblem hat sich natürlich mit der zunehmenden Komplexität des Wirtschaftsablaufs verändert, zumal es die Neuzeit mit dem gesteigerten Interesse des Staates an der Wirtschaft zu tun hat. Daher entwickelt Adam Smith einen Begriff von Gerechtigkeit, welcher die Ergebnisse des Wirtschaftsprozesses fur gerecht erachtet, sofern sie nur selbstläufig und ohne äußere Intervention vonstatten gehen. Sowohl Aristoteles wie Adam Smith sehen von moralischen Erwägungen der Gerechtigkeitsfrage ab, sie beschäftigen sich mit der Sachgerechtigkeit des zu regelnden Gegenstandes. Doch die Politik selbst ist ein möglicher Sachbereich, der vielleicht nur nach solchen Normen bewertet werden sollte, die ihm selber entnommen sind und ihm nicht von außen sachfremd zugeführt werden. Das jedenfalls ist Machiavellis bahnbrechende Perspektive. Sein sprichwörtlicher Amoralismus ist nur der Versuch, die immanenten Normen, die in der Politik wirksam sind, zu beobachten und auf den Begriff zu bringen und sich hierbei nicht von Normen aus anderen Lebensbereichen irritieren zu lassen. Für Machiavelli ist es der politische Erfolg, welcher die Mittelwahl rechtfertigt, auch wenn die Mittelwahl: Lüge, Mord, Intrige, um nur die moralisch umstrittenen zu nennen, aus einer anderen Sicht verwerflich erscheinen mögen. Der Erfolg ist vor allem: Machtgewinn und Machterhalt. In Machiavellis Augen gilt dies aber nicht nur für den Politiker, der sich an einer illegitim erworbenen Machtstellung behaupten muss: Der Fürst seines Principe ist ja bereits institutionell gezwungen, sich verwerflich anmutender Mittel zu bedienen. Auch der gewählte und insofern legitime Herrscher einer Republik muss zur Not zu solchen Mitteln greifen und bedroht umgekehrt die Freiheit, wenn er ihre Macht sinnlos durch moralische Erwägungen schwächt. Obwohl es Machiavelli immer wieder zugeschrieben wird, ist er selber nicht der Erfinder der Staatsräson. Das Wort tauchte erst im späteren 16. Jahrhundert auf, in der Sache ist es aber am präzisesten von einem geradezu idealtypischen Vertreter einer Handlungsstrategie der Staatsräson im 17. Jahrhundert formuliert worden: von Kardinal Richelieu. Seine Machtpolitik verstößt offenkundig gegen das normative Programm seiner Soutane.
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Richelieu formuliert die Staatsräson aber nicht nur, um eine normative Rechtfertigungsbasis seines politischen Handelns zu schaffen, sondern zugleich um die Herrschaftsausübung zu beschränken, die zu diesem Zeitpunkt legal dem König als einem mehr oder weniger absoluten Herrscher obliegt. Richelieus Forderung besteht in nichts Geringerem, als das monarchische Interessenkalkül, das in dynastischer Zielbestimmung, persönlicher Willkür und Vorlieben besteht, einzutauschen gegen die Perspektive des objektiven Staatsinteresses, welches zu verteidigen dem König wie einem Amtsinhaber aufgetragen ist. Geschichte und Utopie Die Perspektive der Staatsräson ist zunächst die Perspektive eines einzelnen Staates und insofern nicht mit solchen Zielen der Politik identisch, die über den Horizont der Landesgrenzen hinausweisen. Solche Ziele sind vielfaltig definierbar. Wählt man hier nicht erneut Gott, der als Quelle der Herrschaft gerne von Fürsten in Anspruch genommen wurde, so bleibt die Betrachtung des Gesamtgeschehens politischer Abläufe, und das ist die Geschichte. Geschichtsphilosophie bietet ein gedankliches Medium der Ermittlung von allgemeinsten Normen zur Bewertung von politischen Normen. Abläufe der Geschichte und besonders deren Wiederholung nimmt der griechische Historiker Polybios zum Ausgangspunkt vergleichender und prognostischer Analyse politischer Systeme. Als griechische Geisel in Rom war er interessiert an der Frage, wie es den Römern gelingen konnte, innerhalb kurzer Zeit die Herrschaft über den Mittelmeerraum zu erringen. Sein Modell ist organologisch, insofern er Kapazität und Stabilität eines politischen Systems mit dem Entstehen, Werden und Vergehen des Lebens vergleicht. Der Prozess des Niedergangs kann aber durch eine kluge Einrichtung der politischen Institutionen aufgehalten oder sogar verhindert werden: Dies ist die Mischverfassungsidee. So ergibt der Blick auf die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte eine Norm politischer Normen, nach welchen sich Politiker orientieren sollen. Hegel sieht die Weltgeschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit an, worin die welthistorischen Individuen wie etwa Gaius Julius Caesar oder Napoleon eine besondere Stellung haben. Sie sind in ihren Taten nicht nach moralischen Standards ihrer Zeit zu messen, da sie doch epochale Umschwünge einleiten und dem Weltgeist folgend, oft sogar ihren eigenen Intentionen zum Trotz einer »List der Vernunft« erliegend, Standards durchbrechen, um neue zu setzen oder deren Setzung zu ermöglichen. In beiden Fällen geschichtsphilosophischer Normenerkenntnis ist die Rechtfertigung des historisch erzielten status quo die Folge. Es handelt sich als um eine eher realistische Normentheorie, die dem tatsächlichen Werdeprozess einen Vorrang vor Normen gewährt, die nur Wünschbarkeiten Ausdruck verleihen. Letzteres ist der Fall bei den politischen Utopien. Die Gattung politischer Theorie in Gestalt von Utopien, früher auch schlicht: Staatsromane genannt, gehört zu den kompaktesten und zugleich anschaulichsten Ausein-
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andersetzungen mit politischen Normen, sind hier doch ganze Verfassungen ideal gezeichnet. Diese Modelle werden nicht nur skizziert, sondern in romanhafter Darstellung in ihrer Lebenswirklichkeit und Praxis vorgestellt, vornehmlich um die Auswirkungen gewisser institutioneller Arrangements auf die Existenz und den Vollzug sozialer wie politischer Normen zu demonstrieren. Utopien sind also Gedankenexperimente zur Veranschaulichimg der komplizierten Voraussetzungen sowie der Effektivität von Normen. Das Vorbild dieser Theorieform geht zurück bis zu Piatons Politeia, die sich als Gedankenexperiment ausgibt. Thomas Morus hat mit seiner Utopia dieser Gattung den Namen gegeben. In doppelter Verfremdimg gibt er den fiktiven Bericht eines Beobachters wieder, der im Zuge einer Seefahrt zufallig ein insulares Staatswesen entdeckt. Es stellt sich als idealer Staat dar, selbstgenügsam und zivilisatorisch fortgeschritten, was er mehreren Institutionen zu verdanken hat: der Verfugung der Allgemeinheit über das Eigentum und die politische Anleitung durch Wissenschaftler. Spiegelbildlich zu der idealistischen Formulierung von Wünschbarkeiten verhält sich die Modellierung von Befürchtungen in der negativen Utopie oder Dystopie. George Orwells 1984 liefert den wichtigsten Beitrag zu dieser Gattung. Er schildert aus der Perspektive eines Betroffenen die Herrschaftsmechanismen einer totalitären Partei, deren vollständigen Kontrolle er sich nur durch Zufall entziehen kann. Die Welt ist in drei Machtzonen aufgeteilt, die sich in permanentem Kriegszustand zueinander befinden, bei ständig wechselnden Koalitionen. Das Ministerium der Liebe unterdrückt die Bevölkerung, das Ministerium der Wahrheit fälscht die archivierten Fakten, so dass die Partei mit ihren aktuellen Verlautbarungen »immer Recht« hat. Der Kampf gegen dieses System ist aussichtslos. In beiden Fällen der Utopie äußert man aber nicht einfach Hofthungen und Befürchtungen, sondern simuliert die institutionellen Kontextbedingungen, unter welchen diese Überlegungen Realität werden könnten, und bildet so einen Maßstab für existierende politische Systeme, die auf diese Weise kritisiert werden. Das gilt für Morus' Kritik am England seiner Zeit wie für George Orwells Kritik an einer Tendenz, die er bei den Staaten seiner Zeit bereits angelegt sieht: den totalitären Polizeistaat, der sich zum Gedankenstaat fortentwickelt.
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Die Vermittlung politischer ARISTOTELES
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Hinblick auf die jeweilige Verfassung erzogen werden. Denn der eigentümliche Charakter Wege der Erziehung zur Tugend jeder Verfassung erhält diese und begründet sie auch von Anfang an, so der demokratische die (15.) Da nun das Ziel für die Gemeinschaft und Demokratie und der oligarchische die Oligarden einzelnen dasselbe ist, und demnach diesel- chie. Und immer ist der beste Charakter auch be Bestimmung gelten muß für den vollkomme- Grund der besseren Verfassung. Ferner muß nen Menschen und die vollkommene Verfassung, man in jeder Fähigkeit und Kunst zur Ausübung so müssen augenscheinlich in den Verfassungen vorgebildet und vorher geübt worden sein, und die auf die Muße hinzielenden Tugenden vorhan- so offenbar auch auf das tugendhafte Verhalten. den sein. Denn das Ziel ist, wie schon oft gesagt, Und da das Ziel jedes Staates eines ist, so muß im Kriege der Frieden und in der Arbeit die auch die Erziehung für alle eine und dieselbe Muße. Für die Muße und das freie Leben sind sein; die Fürsorge dafür muß staatlich und nicht unter den Tugenden jene nützlich, die in der privat geregelt werden und nicht so wie jetzt, wo Muße ihr Werk tun, aber auch jene der Arbeit. ein jeder privat sich um seine Kinder kümmert Denn es muß viel Notwendiges schon vorhanden und ihnen privat eben das beibringt, was ihm sein, damit man in Muße leben kann. So muß der gerade gut scheint. Denn gemeinsame TätigkeiStaat zuchtvoll sein und tapfer und ausdauernd, ten sollen auch gemeinsam eingeübt werden. denn nach dem Sprichwort haben Sklaven keine Man darf nicht meinen, daß irgendeiner der BürMuße; wer aber nicht tapfer Gefahren überste- ger sich selbst angehöre, sondern alle gehören hen kann, der ist Sklave dessen, der ihn angreift. dem Staate; jeder ist ja ein Teil des Staates, und Man bedarf also der Tapferkeit und Ausdauer zur die Fürsorge für den einzelnen Teil geschieht Arbeit, der Philosophie zur Muße, und der Zucht naturgemäß im Hinblick auf die Fürsorge für das und Gerechtigkeit in beiden Fällen, vor allem Ganze. In diesem Punkte wird man die Spartaaber, wenn man Frieden hält und Muße übt. ner loben. Denn sie bemühen sich am meisten Denn der Krieg zwingt zu Gerechtigkeit und um die Kinder, und dies von Staats wegen. (BekSelbstzucht, aber der Genuß des Glücks und die ker 1337a9 ff., S. 250) Muße im Frieden macht die Menschen eher Freilich zielen heute diejenigen Staaten, die übermütig. Also brauchen besonders viel Ge- sich am meisten um Erziehung zu kümmern rechtigkeit und Selbstzucht jene, denen es voll- scheinen, auf eine athletische Verfassung und kommen gut zu gehen scheint und die alle die gefährden das Aussehen und das Wachstum des selig gepriesenen Güter genießen - jene Güter, Körpers. Die Spartaner haben diesen Fehler so wie sie sich nach den Dichtern auf den Inseln nicht gemacht, aber sie machten sie durch der Seligen finden. Solche brauchen am aller- Anstrengungen wie zu Tieren, da dies der Tapmeisten die Philosophie und die Zucht und Ge- ferkeit am meisten dienlich sei. Und doch, wie rechtigkeit, je mehr sie in der Fülle solcher Güter schon oft gesagt, darf man als Erzieher nicht auf in Muße leben. (Bekker 1334a9 ff., S. 243) eine einzige Tugend und nicht zuerst gerade auf Daß sich der Gesetzgeber in erster Linie um diese schauen. Selbst wenn man das dürfte, so die Erziehung der Jungen kümmern muß, wird erreichen sie ihr Ziel doch nicht. Denn auch bei wohl niemand bestreiten. Wo es in einem Staat andern Lebewesen und andern Völkern folgt, nicht geschieht, da erwächst auch ein Schaden wie wir sehen, die Tapferkeit keineswegs der für die Verfassung. Die Menschen müssen ja im Wildheit, sondern vielmehr einem ruhigen und
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IV Kapitel
Die Religion ermöglicht den Gesetzesgehorsam
Republik. Diese erleichterte jede Unternehmung des Senats und der großen Männer Roms. Aus zahllosen Handlungen des gesamten römischen Volks oder einzelner Römer sieht man, daß die Bürger sich mehr scheuten, einen Schwur zu brechen als die Gesetze zu verletzen, da sie die göttliche Macht höher achteten als die der Menschen; (...) Wenn man daher zu entscheiden hätte, welchem König Rom mehr verpflichtet wäre, dem Romulus oder dem Numa Pompilius, so glaube ich fest, daß Numa den Vorrang verdient; denn wo es religiöse Überzeugungen gibt, ist es leicht, ein Heer aufzustellen; wenn aber ein Heer ohne Religion ist, läßt sich diese nur schwer einfuhren. Man sieht, daß Romulus zur Einsetzung des Senats und zu den anderen zivilen und militärischen Einrichtungen die göttliche Macht nicht nötig hatte; wohl aber war sie für Numa Pompilius nötig, der vorgab, vertrauten Umgang mit einer Nymphe zu haben, die ihm empfahl, was er dem Volk anraten sollte: Dies alles geschah nur aus dem Grund, weil er in der Stadt Rom neue, ungewohnte Einrichtungen schaffen wollte und daran zweifelte, ob seine eigene Autorität dazu ausreiche.
Der erste Gründer Roms war Romulus. Ihm hat es wie ein Kind Entstehung und Erziehung zu danken; doch der Himmel hielt die von Romulus geschaffenen Einrichtungen für ein so großes Reich nicht für ausreichend. Er legte dem römischen Senat den Gedanken nahe, den Numa Pompilius zu seinem Nachfolger zu ernennen, damit dieser nachhole, was Romulus versäumt hatte. Numa Pompilius fand noch ein völlig ungebändigtes Volk vor; er wollte es mit friedlichen Mitteln zu bürgerlichem Gehorsam erziehen. Um sein Ziel zu erreichen, nahm er seine Zuflucht zur Religion, da er diese als die unentbehrlichste Stütze der Zivilisation erkannte. Er befestigte diese so sehr, daß mehrere Jahrhunderte hindurch in keinem Staatswesen größere Gottesfurcht lebendig war als in der römischen
Es gab tatsächlich noch nie einen außergewöhnlichen Gesetzgeber in einem Volk, der sich nicht auf Gott berufen hätte, weil seine Gesetze sonst nicht angenommen worden wären; denn es gibt viel Gutes, das zwar von einem klugen Mann erkannt wird, aber doch keine so in die Augen springenden Gründe in sich hat, um andere von seiner Richtigkeit überzeugen zu können. Kluge Männer nehmen daher zur Gottheit ihre Zuflucht, um dieser Schwierigkeit Herr zu werden. So machte es Lykurg, so Solon und viele andere, die dasselbe Ziel anstrebten. Das römische Volk bewunderte die Güte und Weisheit Numas und folgte in allem seinem Rat. Allerdings erleichterten ihm der religiöse Sinn seiner Zeit und die Primitivität der Menschen, mit denen er zu tun hatte, die Ausführung seiner Pläne bedeutend; so konnte er diesen mit Leichtig-
löwenhaften Charakter. (...) So muß man denn nach dem Edlen und nicht nach dem Tierartigen streben. Denn auch ein Wolf oder sonst ein wildes Tier würde nicht einen edlen Kampf wagen, sondern nur der tüchtige Mann. Wer aber die Kinder zu sehr mit dergleichen beschäftigt und sie im Notwendigen unerzogen läßt, macht sie in Wahrheit zu Banausen, einzig und allein zum Kriegfuhren brauchbar und auch da noch, wie wir zeigten, schlechter als andere. Man muß also [die Spartaner] nicht nach den früheren Leistungen beurteilen, sondern nach den gegenwärtigen: jetzt haben sie Konkurrenten in ihrer Art der Erziehung, früher hatten sie keine. (Bekker 1338b9ff,S. 253 f.) Aus: Aristoteles, Politik, hg. von Olof Gigon, München 1981, Buch 7, Kap. 15, und Buch 8, Kap. 1 und 4.
Niccolö Machiavelli
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keit jede neue Form einprägen. Auch heute würde ohne Zweifel der Begründer eines Staatswesens bei unzivilisierten Bergbewohnern leichter sein Ziel erreichen als bei den Bewohnern von Städten, wo die Gesellschaft verdorben ist: Ein Bildhauer meißelt leichter eine schöne Statue aus einem rohen Block als aus einem Marmor, den ein anderer schlecht bearbeitet hat. Ebenso wie die Pflege des religiösen Kults die Ursache für die Größe eines Volks ist, so ist dessen Verächtlichmachung die Ursache seines Verfalls. Wo Gottesfurcht fehlt, muß ein Reich in Verfall geraten, es müßte denn sein, daß es durch die Furcht vor einem Machthaber zusammengehalten wird, die die fehlende Religion ersetzt. Da aber Machthaber nur ein kurzes Leben haben, muß ein solches Reich sofort in Verfall geraten, wenn die persönliche Tüchtigkeit des Machthabers weggefallen ist. Deshalb sind Reiche, die einzig und allein auf der persönlichen Tüchtigkeit eines Mannes beruhen, nur von kurzer Dauer. (S. 43 -45) Aus: Niccolö Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, hg. und übersetzt von Rudolf Zorn, 2. Aufl., Stuttgart 1977, Buch I, Kap. 11: Zur Religion der Römer.
JEAN-JACQUES ROUSSEAU Die Kunst, die Gesetze in die Herzen der Menschen zu verpflanzen Gut angewendete Gesetze? Die Frage ist, ob das geht, denn die Macht der Gesetze hat ihr Maß wie auch die Macht der Laster, die sie unterdrücken, ihr Maß hat. Erst wenn man diese zwei Größen verglichen und gefunden hat, daß die erste die andere übertrifft, dann kann man der Anwendung der Gesetze gewiß sein. Die Kenntnis dieses Verhältnisses macht die wahre
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Wissenschaft des Gesetzgebers aus, denn wenn es nur darum ginge, Erlaß auf Erlaß und Verordnung auf Verordnung bekanntzumachen, um Mißstände gleich bei ihrem Entstehen zu beheben, dann würde man fraglos schöne Dinge sagen, in ihrer Mehrzahl würden sie aber wirkungslos bleiben und mehr darauf hinweisen, was man tun müßte, als dazu beitragen, es auszuführen (...) Wo ist der geringste Rechtsstudent, der nicht einen Moralkodex entwirft, der ebenso rein ist wie der der Gesetze Piatons? Aber es geht eben nicht allein darum, das Problem ist es, dieses Gesetzbuch dem Volk, für das es gemacht ist, und den Sachen, die darin geregelt werden, so anzupassen, daß sich seine Anwendung aus dem bloßen Zusammenspiel dieser Übereinkünfte ergibt. Das Problem ist, nach Solons Beispiel einem Volk nicht die an sich besten Gesetze, sondern die besten Gesetze zu geben, die es in der gegebenen Situation ertragen kann (...) Wie nun kann die Regierung die Sitten in den Griff bekommen? Ich antworte: durch die öffentliche Meinung. Wenn unsere Sitten in der Zurückgezogenheit unseren eigenen Gefühlen entspringen, so entspringen sie in der Gesellschaft der Meinung der anderen. Wenn man nicht in sich selbst, sondern in den anderen lebt, dann sind es ihre Urteile, die alles bestimmen; nichts erscheint dem einzelnen gut und begehrenswert, als was die Öffentlichkeit dafür hält, und das einzige Glück, welches die Mehrzahl der Menschen kennt, für glücklich gehalten zu werden. Was die einzelnen Mittel anbelangt, um die öffentliche Meinung zu lenken, so ist das eine andere Frage, die Ihnen zu beantworten nicht nötig und der Menge zu beantworten hier nicht der Ort ist. Ich begnüge mich damit, durch ein eindrückliches Beispiel zu zeigen, daß weder Gesetze noch Strafen, noch andere Zwangsmaßnahmen hierfür taugen. Das Beispiel liegt vor Ihren Augen, ich nehme es aus Ihrem Vaterland, es ist das Tribunal der Marschälle von Frank-
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reich, der eigens eingesetzten höchsten Richter in Ehrensachen. Bei dieser Einrichtung ging es darum, die öffentliche Meinung über die Duelle, über die Wiedergutmachung von Beleidigungen und über solche Fälle zu ändern, in denen ein wackerer Mann bei Strafe der Ehrlosigkeit verpflichtet ist, sich mit dem Degen in der Hand Genugtuung fur eine Kränkung zu verschaffen. Daraus ergab sich: Erstens, weil die Gewalt keine Macht über den Geist hat, mußte mit großer Sorgfalt jede Spur von Zwang von dem Tribunal ferngehalten werden, das eingesetzt war, um jene Veränderung zu bewirken. (...) Zweitens folgt daraus, daß man, um das öffentliche Vorurteil auszurotten, Richter von großer Autorität in der fraglichen Sache brauchte (...) Drittens, weil nichts von der höchsten Gewalt unabhängiger ist als das Urteil der Öffentlichkeit, mußte der Souverän sich aufjeden Fall hüten, seine eigenmächtigen Entscheidungen unter die Beschlüsse zu mischen (,..)(S. 401-403) So kann man machen, was man will: weder Vernunft noch Tugend, noch Gesetze werden die öffentliche Meinung überwinden, solange man die Kunst, sie zu ändern, nicht kennt. Noch einmal: diese Kunst hat nichts mit Gewalt zu tun. (S. 404) Die Meinung, die Königin der Welt, ist der Macht der Könige nicht unterworfen; sie selber sind ihre ersten Sklaven (...) So schwer es ist, die öffentliche Meinung zu lenken, so beweglich und veränderlich ist sie doch aus sich selbst. Der Zufall, tausend unvermutete Ursachen, tausend unvorhersehbare Umstände erreichen, was Gewalt und Vernunft nicht erreichen könnten, oder vielmehr eben weil der Zufall die öffentliche Meinung regiert, vermag Gewalt nichts über sie ... (S. 408 f.) Aus: Jean-Jacques Rousseau, Brief an d'Alembert über das Schauspiel, dt. in: ders., Schriften, Bd. 1, hg. von Henning Ritter, Frankfurt/M. 1988, S. 333-474.
IV Kapitel
JEAN-JACQUES ROUSSEAU Zivilreligion In Bezug auf die Gesellschaft - die entweder allgemein menschlich oder gesellschaftsbezogen ist - kann die Religion in zwei Arten unterteilt werden: Die Religion des Menschen und die des Bürgers. Die erste kennt keinen Tempel, keinen Altar und keine Riten. Sie beschränkt sich einzig und allein auf den rein innerlichen Kult des Höchsten Gottes und auf die ewigen Pflichten der Moral (...) Das andere ist auf ein einziges Land beschränkt und gibt ihm seine besonderen Götter und Schutzpatrone. Sie hat ihre Dogmen, ihre Riten, ihren vom Gesetz vorgeschriebenen äußeren Kult. Mit der Ausnahme der Nation, die sich zu ihr bekennt, ist alles andere für sie ungläubig, fremd und barbarisch. Sie erstreckt die Menschenrechte und -pflichten nur soweit ihre Altäre reichen. So war die Religion der ersten Völker. (...) Es gibt noch eine 3., noch seltsamere Art von Religion, die den Menschen zwei Gesetzgebungen, zwei Oberhäupter und zwei Vaterländer beschert. Sie unterwirft sie sich widersprechenden Pflichten und hindert sie, gleichzeitig fromm und Bürger zu sein. Das ist die Religion der Lamas, der Japaner und des Katholizismus. Man kann sie Priesterreligionen nennen. (...) Politisch gesehen haben alle drei Arten von Religion ihre Mängel. Die dritte ist so eindeutig schlecht, daß man mit einer Beweisführung seine Zeit verlöre. Alles, was die soziale Einheit zerreißt, taugt nichts. Alle Einrichtungen, die den Menschen mit sich selber in Widerspruch bringen, taugen nichts. (...) Bleibt noch die Religion des Menschen oder des Christentums, zwar nicht das heutige, sondern das des Evangeliums, das davon wesentlich verschieden ist. In dieser heiligen, erhabenen und wahren Religion erkennen sich die Menschen, Kinder des einen und selben Gottes, als Brüder wieder, und das Gesellschaftsband,
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das sie vereint, wird nicht einmal vom Tod gelöst. Diese Religion steht aber in keiner besonderen Beziehung zu dem politischen Körper und läßt den Gesetzen jene Kraft, die sie aus sich selbst ziehen, ohne ihnen eine andere zu verleihen. Damit bleibt eines der wichtigsten Bande der Privatgesellschaft ohne Wirkung. Mehr noch: Statt die Herzen der Bürger an den Staat zu fesseln, löst sie sie, wie von allen anderen irdischen Dingen, von ihm ab. Mir ist nichts bekannt, was dem Gesellschaftsgeist mehr widerstrebt. (S. 201 -203) Das Recht, das der Gesellschaftsvertrag dem Souverän über die Bürger einräumt, übersteigt nicht, wie ich schon gesagt habe, die Grenzen des Staatswohles. Die Untertanen sind dem Souverän nur insoweit Rechenschaft über ihre Ansichten schuldig, als sich diese Ansichten auf die Gemeinschaft beziehen. Für den Staat ist es allerdings wichtig, daß jeder Bürger eine Religion habe, die ihm vorschreibt, seine Pflichten zu lieben. Aber die Dogmen dieser Religion sind dagegen für den Staat wie fur seine Mitglieder nur insofern von Bedeutung, als sie die Moral und die Pflichten betreffen, die der Gläubige anderen gegenüber zu erfüllen hat. Darüber hinaus kann jeder glauben was er will, ohne daß der Souverän es zu wissen braucht. (...) Es gibt also ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis. Seine Artikel müssen vom Souverän erlassen werden. Sie dürfen keine Dogmen sein, sondern Gemeinschaftsgefühle, ohne die es unmöglich ist, weder guter Staatsbürger noch treuer Untertan zu sein. Zwar kann niemand gezwungen werden, daran zu glauben, aber der Souverän kann jeden aus dem Staat verbannen, der nicht daran glaubt. Er kann ihn nicht als Ungläubigen verbannen, sondern als Feind der Gesellschaft, der unfähig ist, die Gesetze und die Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und notfalls sein Leben für seine Pflicht zu opfern. Wer diese Glaubenssätze öffentlich anerkannt hat und sich dennoch benimmt, als glaube er nicht daran, der soll mit dem Tode bestraft werden. (S. 205 f.)
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Aus: Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, in: ders., Politische Schriften, Übersetzung und Einleitung von Ludwig Schmidts, Bd. 1, Paderborn 1977, S. 59-208, Buch 4, Kap. 8.
MAXIMILIEN ROBESPIERRE Erziehung zur Schaffung eines neuen Volkes Der Nationalkonvent schuldet der Geschichte drei Monumente: die Verfassung, das zivile Gesetzbuch und die öffentliche Erziehung. Nach meiner Meinung sind alle diese großen Werke gleich wichtig und schwierig. Wir wollen hoffen daß wir diesen Werken die Vollkommenheit geben können, die sie benötigen; denn der Ruhm der Eroberungen und Siege ist manchmal nur von kurzer Dauer, die guten Einrichtungen aber bleiben und machen eine Nation unsterblich. Das Unterrichtswesen war bereits Gegenstand einer interessanten Diskussion; die Art und Weise, in der man diesen Gegenstand behandelt hat, ehrt die Versammlung und ist für Frankreich vielversprechend. Dennoch muß ich gestehen, daß das, was man bislang gesagt hat, nicht der Vorstellung genügt, die ich mir von einem vollständigen Erziehungsplan gemacht habe. Ich habe es gewagt einem weit tieferen Gedanken nachzugehen; und da ich gesehen habe, wie sehr das Menschengeschlecht durch die Mängel unseres alten Gesellschaftssystems entwürdigt war, bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß es notwendig ist, eine völlige Neugestaltung vorzunehmen und, wenn ich das so sagen darf, ein neues Volk zu schaffen. Die Menschen bilden und die menschlichen Kenntnisse verbreiten, das sind die beiden Teile des Problems, das wir lösen müssen. Der erste betrifft die Erziehung, der zweite den Unter-
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rieht. Der Unterricht, obwohl er allen geboten wird, führt seiner Natur nach zum ausschließlichen Eigentum einer kleinen Anzahl, und zwar aufgrund der unterschiedlichen Berufe und Fähigkeiten. Die Erziehung sollte für alle gleich sein und überall ihre guten Früchte tragen. (S. 436 f.) Wir müssen es wagen, ein Gesetz zu schaffen, das alle Hindernisse überwindet, das die Verwirklichung der vollkommensten Erziehungspläne ermöglicht und das alle guten Institutionen fordert und realisiert (...) Dieses Gesetz soll eine wahrhaft nationale und republikanische Erziehung begründen, die für alle in gleicher Weise wirksam ist, eine Erziehung, die allein geeignet ist, das Menschengeschlecht sowohl in physischer als auch in moralischer Hinsicht zu regenerieren, mit einem Wort, dieses Gesetz ist die Einrichtung der öffentlichen Erziehungsanstalt. (S. 442) Aus: Maximilien Robespierre, Der nationale Erziehungsplan von Michel Lepelletier. Denkschrift für den Nationalkonvent, in: ders., Ausgewählte Texte, deutsch von Manfred Unruh, eingeleitet von Carlo Schmid, 2. Aufl., Hamburg 1989.
MARQUIS DE CONDORCET Wissenschaftlicher Fortschritt und Erziehung aller Bürger Die Fortschritte in den Wissenschaften sichern die Fortschritte in der Technik des Unterrichts, die wiederum die der Wissenschaften beschleunigen; und dieser wechselseitige Einfluß, dessen Wirkung sich fortwährend erneuert, muß zu den nachhaltigsten und mächtigsten Ursachen der Vervollkommnung des Menschengeschlechts gerechnet werden. (...) Auf diese Weise befinden sich, wenngleich
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die Wissenschaften weiter fortschreiten, nicht nur die Menschen von gleicher Begabung im gleichen Lebensalter auf dem gleichen wissenschaftlichen Niveau, das zu erlangen jeweils möglich ist, sondern bei einer jeden Generation nimmt notwendig zu, was mit gleicher Geisteskraft und Aufmerksamkeit in der gleichen Zeit gelernt werden kann; und indem die Anfangsgründe einer jeden Wissenschaft, der Teil, der allen Menschen zugänglich ist, immer umfänglicher werden, schließen sie auf immer vollständigere Weise all das ein, was für jeden zu wissen nötig sein kann, damit er sich im Leben der Gesellschaft zurechtfindet und seiner Vernunft in völliger Unabhängigkeit sich bedient. In den politischen Wissenschaften gibt es eine Klasse von Wahrheiten, die besonders bei den freien Völkern (das heißt, wenn wir einige Generationen weiter blicken, bei allen Völkern) nur dann von Nutzen sein können, wenn sie allgemein bekannt und anerkannt sind. Der Einfluß des Fortschritts dieser Wissenschaften auf die Freiheit und das Gedeihen der Nationen muß also gewissermaßen an der Zahl der Wahrheiten gemessen werden, an denen infolge eines Elementarunterrichts alle Geister teilhaben werden; so wird der ständig wachsende Fortschritt dieses Elementarunterrichts, der wiederum an den notwendigen Fortschritt jener Wissenschaften gebunden ist, zum Bürgen für eine Verbesserung in den Geschicken des Menschengeschlechts, eine Verbesserung, die als unbegrenzt betrachtet werden kann, da sie keine anderen Grenzen hat als die jenes Fortschritts selbst. (S. 215 f.) Aus: Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat (Marquis de Condorcet), Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. von Wilhelm Alff, Frankfurt/M. 1976.
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führen und die praktische doch die Bedingung der theoretischen sein Alle Verbesserung im Erziehung des Staates durch Ästhetik Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen - aber wie kann sich unter den EinflüsKann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, sen einer barbarischen Staatsverfassung der über irgendeinem Zwecke sich selbst zu versäu- Charakter veredeln? Man müßte also zu diesem men? Sollte uns die Natur durch ihre Zwecke Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, welches der eine Vollkommenheit rauben können, welche Staat nicht hergibt, und Quellen dazu eröffnen, uns die Vernunft durch die ihrigen vorschreibt? die sich bei aller politischen Verderbnis rein und Es muß also falsch sein, daß die Ausbildung der lauter erhalten. einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität notJetzt bin ich an dem Punkt angelangt, zu welwendig macht; oder wenn auch das Gesetz der chem alle meine bisherigen Betrachtungen hinNatur noch so sehr dahin strebte, so muß es bei gestrebt haben. Dieses Werkzeug ist die schöne uns stehen, diese Totalität in unsere Natur, wel- Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren che die Kunst zerstört hat, durch eine höhere unsterblichen Mustern. Kunst wiederherzustellen. Von allem, was positiv ist und was menschliSollte diese Wirkung vielleicht von dem Staat che Konventionen einführten, ist die Kunst wie zu erwarten sein? Das ist nicht möglich, denn die Wissenschaft losgesprochen, und beide der Staat, wie er jetzt beschaffen ist, hat das Übel erfreuen sich einer absoluten Immunität von der veranlaßt, und der Staat, wie ihn die Vernunft in Willkür der Menschen. Der politische Gesetzgeder Idee sich aufgibt, anstatt diese bessere ber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herrMenschheit begründen zu können, müßte selbst schen kann er nicht. Er kann den Wahrheitserst darauf gegründet werden. Und so hätten freund ächten, aber die Wahrheit besteht; er kann mich denn die bisherigen Untersuchungen wie- den Künstler erniedrigen, aber die Kunst kann er der auf den Punkt zurückgeführt, von dem sie nicht verfälschen. (S. 592 f.) mich eine Zeitlang entfernten. Das jetzige ZeitMitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte alter, weit entfernt, uns diejenige Form der und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze Menschheit aufzuweisen, welche als notwendi- baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt ge Bedingimg einer moralischen Staatsverbes- an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels serung erkannt worden ist, zeigt uns vielmehr und des Scheins, worin er dem Menschen die das direkte Gegenteil davon. Sind also die von Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von mir aufgestellten Grundsätze richtig, und bestä- allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen tigt die Erfahrung mein Gemälde der Gegen- als im Moralischen entbindet. wart, so muß man jeden Versuch einer solchen Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte Staatsveränderung so lange für unzeitig und jede der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet darauf gegründete Hoffnung so lange für schi- und sein Wirken beschränkt - wenn er sich ihm märisch erklären, bis die Trennung in dem in dem ethischen Staat der Pflichten mit der innern Menschen wieder aufgehoben und seine Majestät des Gesetzes entgegenstellt und sein Natur vollständig genug entwickelt ist, um Wollen fesselt, so darf er ihm im Kreise des selbst die Künstlerin zu sein und der politischen schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, Schöpfung der Vernunft ihre Realität zu verbür- nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des gen. (S. 588 f.) freien Spiels gegenüberstehen. Freiheit zu geben Aber ist hier nicht vielleicht ein Zirkel? Die durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses theoretische Kultur soll die praktische herbei- Reichs. FRIEDRICH SCHILLER
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Der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er die Natur durch Natur bezähmt; der ethische Staat kann sie bloß (moralisch) notwendig machen, indem er den einzelnen Willen dem allgemeinen unterwirft; der ästhetische Staat allein kann sie wirklich machen, weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht. Wenn schon das Bedürfnis den Menschen in die Gesellschaft nötigt und die Vernunft gesellige Grundsätze in ihm pflanzt, so kann die Schönheit allein ihm einen geselligen Charakter erteilen. Der Geschmack allein bringt Harmonie in die Gesellschaft, weil er Harmonie in dem Individuum stiftet. Alle anderen Formen der Vorstellung trennen den Menschen, weil sie sich ausschließend entweder auf den sinnlichen oder auf den geistigen Teil seines Wesens gründen; nur die schöne Vorstellung macht ein Ganzes aus ihm, weil seine beiden Naturen dazu zusammenstimmen müssen. Alle anderen Formen der Mitteilung trennen die Gesellschaft, weil sie sich ausschließend entweder auf die Privatempfänglichkeit oder auf die Privatfertigkeit der einzelnen Glieder, also auf das Unterscheidende zwischen Menschen und Menschen beziehen; nur die schöne Mitteilung vereinigt die Gesellschaft, weil sie sich auf das Gemeinsame aller bezieht. (S. 667) Existiert aber ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden, wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigne schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeisten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht und weder nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen. (S. 669).
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Aus: Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders., Sämtliche Werke, auf Grund der Originaldrucke hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1959, 9. durchgesehene Auflage 1993, Bd. 5, S. 570-669.
JOHN DEWEY Schule und Demokratie Die Beziehungen innerhalb unseres heutigen sozialen Lebens sind so zahlreich und so vielfältig verwoben, daß ein Kind, selbst wenn es in die günstigste Lage gebracht würde, an vielen auch nur der allerwichtigsten nicht teilnehmen könnte. Wenn es aber an ihnen keinen Teil hätte, würde ihm ihr Sinn nicht übermittelt werden, sie würden nicht in sein geistiges Leben eingehen. Das Kind würde den Wald vor Bäumen nicht sehen. Wirtschaft, Politik, Kunst, Wissenschaft, Religion würden alle zugleich seine Aufmerksamkeit beanspruchen - das Ergebnis wäre Verwirrung. Die erste Aufgabe des sozialen Organs, das wir Schule nennen, besteht deshalb darin, eine vereinfachte Umwelt bereitzustellen. Sie wählt diejenigen Züge aus, die einigermaßen grundlegend sind, und die den Fähigkeiten der Jungen entsprechen. Ferner stellt sie eine fortschreitende Ordnung her, indem sie die zuerst angeeigneten Faktoren als Mittel verwertet, um Einsicht in verwickeitere Gegenstände zu gewinnen. Die zweite Aufgabe der Schule besteht darin, den Einfluß wertloser und wertwidriger Züge der existierenden Umwelt auf die geistigen Gewohnheiten nach Möglichkeit auszuschalten. Sie schafft eine gereinigte Atmosphäre des Handelns. Die Auswahl bezweckt nicht nur eine Vereinfachung, sondern auch ein Ausjäten des Unerwünschten. Jede Gesellschaft ist durchsetzt mit Wertlosem, mit toten Überres-
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ten der Vergangenheit und mit positiv Schlechtem. Die Schule hat die Pflicht, solche Dinge aus der Umwelt, die sie herstellt, auszuschalten und dadurch zu tun, was sie kann, um ihrem Einfluß in der gewöhnlichen sozialen Umgebung entgegenzuwirken. Indem sie ausschließlich das Beste für ihren Gebrauch aussucht, bemüht sie sich, seine Macht zu verstärken. Wenn eine Gesellschaft aufgeklärter wird, erkennt sie, daß es ihre Pflicht ist, nicht alle ihre gegenwärtigen Leistungen weiterzugeben, sondern nur diejenigen, die im Sinne einer besseren Gesellschaft der Zukunft wirken. Die Schule ist die wichtigste Einrichtung im Dienste dieser Aufgabe. (S. 39) Mit Bezug auf die Erziehung bemerken wir zunächst, daß eine Form des sozialen Lebens, bei der sich die verschiedenen Interessen wechselseitig durchdringen und Fortschritt oder Neuanpassung ein wichtiges Moment ist, ein stärkeres Interesse der (demokratischen) Gemeinschaft an planmäßiger Erziehung erzeugt als eine anders geartete, bei der weniger Grund für ein solches Interesse vorhanden ist. Daß sich die Demokratie der Erziehung in besonderem Maße hingibt, ist eine bekannte Tatsache. Die oberflächliche Erklärung dafür ist, daß eine auf dem allgemeinen Wahlrecht beruhende Regierung nicht erfolgreich sein kann, wenn diejenigen, die die Regierung wählen und ihr zu gehorchen haben, nicht erzogen sind. Da eine demokratische Regierung den Grundsatz der von außen her wirkenden Autorität zurückweist, muß sie sie durch freiwillige Bereitschaft zur Unterordnung aus Interesse ersetzen; diese kann nur durch Erziehung geschaffen werden. Der letzte Grund liegt jedoch tiefer. Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung. (S. 120 f.) Aus: John Dewey, Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, 2. Aufl., Braunschweig u.a. 1949.
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M A X WEBER Legitimität als Grundlage der normativen Prüfung von Herrschaft Der Staat ist, ebenso wie die ihm geschichtlich vorausgehenden politischen Verbände, ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herr.scÄq/iäverhältnis von Menschen über Menschen. Damit er bestehe, müssen sich also die beherrschten Menschen der beanspruchten Autorität der jeweils herrschenden fiigen. Wann und warum tun sie das? Auf welche inneren Rechtfertigungsgründe und auf welche äußeren Mittel stützt sich diese Herrschaft? Es gibt der inneren Rechtfertigungen, also: der Legitimitätsgründe einer Herrschaft - um mit ihnen zu beginnen - im Prinzip drei. Einmal die Autorität des »ewig Gestrigen«: der durch unvordenkliche Geltung und gewohnheitsmäßige Einstellung auf ihre Innehaltung geheiligten Sitte: »traditionale« Herrschaft, wie sie der Patriarch und der Patrimonialfürst alten Schlages übten. Dann: die Autorität der außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe (Charisma), die ganz persönliche Hingabe und das persönliche Vertrauen zu Offenbarungen, Heldentum oder anderen Führereigenschaften eines einzelnen: »charismatische« Herrschaft, wie sie der Prophet oder - auf dem Gebiet des Politischen - der gekorene Kriegsfürst oder der plebiszitäre Herrscher, der große Demagoge und politische Parteiführer ausüben. Endlich: Herrschaft kraft »Legalität«, kraft des Glaubens an die Geltung legaler Satzung und der durch rational geschaffene Regeln begründeten sachlichen »Kompetenz«, also: der Einstellung auf Gehorsam in der Erfüllung satzungsgemäßer Pflichten: eine Herrschaft, wie sie der moderne »Staatsdiener« und alle jene Träger von Macht ausüben, die ihm in dieser Hinsicht ähneln. - Es versteht sich, daß in der Realität höchst massive Motive der Furcht und der Hoffnung - Furcht vor der Rache magi-
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scher Mächte oder des Machthabers, Hoffnung auf jenseitigen oder diesseitigen Lohn - und daneben Interessen verschiedenster Art Fügsamkeit bedingen. Davon sogleich. Aber wenn man nach den »Legitimitäts«gründen dieser Fügsamkeit fragt, dann allerdings stößt man auf diese drei »reinen« Typen. Und diese Legitimitätsvorstellungen und ihre innere Begründung sind für die Struktur der Herrschaft von sehr erheblicher Bedeutung. Die reinen Typen finden sich freilich in der Wirklichkeit selten. Aber es
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kann heute auf die höchst verwickelten Abwandlungen, Übergänge und Kombinationen dieser reinen Typen nicht eingegangen werden: das gehört zu den Problemen der »allgemeinen Staatslehre«. (S. 507 f.) Aus: Max Weber, Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 505-560.
Gerechtigkeit, Gesetz, Gemeinwohl ARISTOTELES Arithmetische und geometrische Gleichheit Das Gerechte setzt also mindestens vier Elemente voraus: die Menschen, für die es gerecht ist, sind zwei, und die Sachen, auf die es sich bezieht, sind ebenfalls zwei. Und zwar ist die Gleichheit dieselbe, fiir die und in was sie vorhanden ist. Wie sich die Sachen verhalten, so werden sich auch die Menschen verhalten. Sind diese nicht gleich, so werden sie auch nicht Gleiches erhalten. Daher kommen die Streitigkeiten und Prozesse, daß entweder Gleiche Ungleiches oder Ungleiche Gleiches haben und zugeteilt erhalten. Dies ergibt sich auch aus dem Moment der Würdigkeit. Denn alle stimmen darin überein, daß das Gerechte im Zuteilen auf einer bestimmten Würdigkeit beruhen müsse. Doch diese Würdigkeit gilt nicht für alle als dieselbe, sondern die Demokraten sehen sie in der Freiheit, die Oligarchen im Reichtum, andere in der Adligkeit, und die Aristokraten in der Tugend. Das Gerechte ist also etwas Proportionales. (...) [Geometrische und arithmetische Gerechtigkeit:] Diese Proportionalität nennen die Mathematiker die geometrische. In ihr verhält sich das Ganze zum Ganzen wie das Glied zum Glied.
Diese Proportionalität ist keine kontinuierliche. Denn die Person und die Sache sind nicht der Zahl nach eines. (...) Das Gerechte im Verkehr ist zwar auch ein Gleiches und das Ungerechte ein Ungleiches, doch nicht nach jener genannten, sondern nach der arithmetischen Proportionalität. Denn es macht nichts aus, ob ein anständiger Mensch einen schlechten beraubt oder umgekehrt, und ob ein Anständiger Ehebruch begeht oder ein Schlechter. Sondern das Gesetz betrachtet nur den Unterschied des angerichteten Schadens und behandelt die Personen als gleiche und fragt nur, ob der eine Unrecht tat, der andere Unrecht litt, der eine schädigte, der andere geschädigt wurde. Das Ungerechte ist da in solcher Weise ein Ungleiches, und der Richter versucht es a b zugleichen. Wenn nämlich der eine geschlagen wurde, der andere geschlagen hat, der eine tötet und der andere getötet wird, so sind Leiden und Tun ungleich verteilt. Der Richter versucht durch die Strafe abzugleichen, indem er den Gewinn wegnimmt. (Bekker 1131al8-1133al0, S. 159-161) Aus: Aristoteles, Nikomachische Ethik, hg. von Olof Gigon, München 1984, Buch 5, Kap. 6 und 7.
Politische Normen
NICCOLÖ MACHIAVELLI Politischer Erfolg rechtfertigt unmoralische Handlungsweisen Vielleicht werden es viele für ein schlechtes Vorbild halten, daß der Gründer eines Gemeinwesens wie Romulus zuerst seinen Bruder umbrachte und dann seine Einwilligung zur Ermordung des Sabinerkönigs Titus Tatius gab, den er zum Mitregenten ernannt hatte. Man möchte meinen, seine Mitbürger könnten entsprechend dem Beispiel ihres Herrschers aus Ehrgeiz und Herrschsucht alle die angreifen, die sich ihren Plänen widersetzten. Dieser Einwand wäre richtig, wenn man nicht die Absicht in Betracht ziehen würde, die Romulus zu diesen Morden bewog. Man muß es wohl als eine allgemeine Regel annehmen, daß niemals oder nur selten ein Freistaat oder ein Königreich von Anfang an eine gute Verfassung oder eine ganz neue, von den bestehenden Einrichtungen abweichende Form erhält, außer es geschieht durch einen einzelnen Mann. Dieser muß allein die Macht ausüben, und sein Geist muß alle Einrichtungen des Staats bestimmen. Deshalb muß ein weiser Gesetzgeber, der die Absicht hat, nicht sich, sondern dem Allgemeinwohl, nicht seiner Nachkommenschaft, sondern dem gemeinsamen Vaterland zu dienen, danach streben, die uneingeschränkte Macht zu bekommen. Nie wird ein kluger Kopf einen Mann wegen einer außergewöhnlichen Handlung tadeln, die er begangen hat, um ein Reich zu gründen oder einen Freistaat zu konstituieren. Spricht auch die Tat gegen ihn, so entschuldigt ihn doch der Erfolg. Und wenn dieser gut ist wie bei Romulus, so wird er ihn immer entschuldigen. Denn nur wer Gewalt braucht um zu zerstören und nicht, wer sie braucht um aufzubauen, verdient Tadel. Er muß jedoch so klug und charaktervoll sein, daß er die unumschränkte Macht, die er an sich gerissen hat, nicht auf einen anderen vererbt. Da die Menschen mehr zum Bösen als zum Guten
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neigen, könnte sein Nachfolger die Macht, die dieser zum Guten gebraucht hat, zu ehrgeizigen Zwecken mißbrauchen. Mag ferner auch ein einzelner die Fähigkeit haben, eine Verfassung zu geben, so ist diese doch nicht von langer Dauer, wenn ihre Erhaltung nur auf den Schultern dieses einzelnen Mannes ruht, ist ihre Erhaltung aber der Sorge vieler anvertraut, so wird sie dauern. Viele Köpfe sind nicht dazu geeignet, Ordnung in ein Staatswesen zu bringen, weil sie bei der Verschiedenheit der Meinungen, die von allen Seiten geltend gemacht werden, das Beste für dieses nicht zu erkennen vermögen; ebensowenig können sie sich entschließen, von einer bestehenden Ordnung, die sie als gut erkannt haben, wieder abzugehen. Daß aber Romulus wegen der Ermordung seines Bruders und seines Mitregenten zu entschuldigen ist und daß der Beweggrund seines Handelns das allgemeine Wohl und nicht eigensüchtige Herrschsucht war, beweist die sofortige Einsetzung eines Senats, mit dem er sich beriet und nach dessen Gutachten er seine Entscheidungen fällte. (S. 36 f.) Aus: Niccolö Machiavelli, Discorsi, übersetzt, hg. und eingeleitet von Rudolf Zorn, 2. Aufl., Stuttgart 1977, Buch I, Kap. 9.
CARDINAL DE RICHELIEU Staatsräson versus Sonderinteressen Kapitel 2: Die Räson muß die Regel und Führerin eines Staates sein. Die natürliche Einsicht läßt jeden erkennen, daß, da der Mensch »raisonnable« geschaffen ist, er alles nur aus der Räson heraus tun darf, denn sonst würde er gegen seine Natur handeln und folglich gegen die Grundlage seines eigenen Wesens. Sie lehrt weiter, daß, je größer und bedeutender ein Mensch ist, um so mehr muß er auf dies Vorrecht halten, und um so weniger darf
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er das »raisonnement« mißbrauchen, das sein Wesen ausmacht, weil die Vorteile, die er vor anderen voraus hat, ihn zwingen, das zu behaupten, was seiner Natur und dem Zweck dessen entspricht, dem er seine Erhöhung verdankt. Aus diesen beiden Prinzipien geht klar hervor, daß, wenn der Mensch in hervorragender Weise »raisonnable« ist, so muß er in hervorragender Weise auch die Räson regieren lassen. Das aber erfordert nicht nur, daß er nichts ohne sie tut, sondern es verpflichtet ihn noch zu mehr, nämlich, daß alle, die unter seiner Herrschaft stehen, sie verehren und ihr gläubig folgen. Diese Folgerung ist die Quelle einer anderen, die uns lehrt, daß, wie man nichts wollen soll, was nicht »raisonnable« und gerecht ist, so darf man auch das nicht wollen, was sich nicht ausführen läßt, und wobei man, wenn man es befiehlt, nicht auf eine gehorsame Befolgung der Gebote rechnen kann, weil sonst die Räson nicht unumschränkt herrschen würde. Die Praxis dieser Regel ist um so leichter, als die Liebe das mächtigste Motiv ist, das zum Gehorsam verpflichtet, und als es unmöglich ist, daß die Untertanen einen Fürsten nicht lieben, wenn sie wissen, daß die Räson Führerin all seiner Handlungen ist. Die Autorität zwingt, aber die Räson überzeugt zum Gehorsam, und es ist viel richtiger, die Menschen durch Mittel dazu zu führen, die unmerklich ihren Willen gewinnen, als durch solche, die sie oft erst durch Zwang zum Handeln bewegen. Wenn es wahr ist, daß die Räson die Fackel [flambeau] sein muß, die die Fürsten in ihrer eigenen Lebensführung und in der Führung ihrer Staaten erleuchtet, so ist es auch wahr, daß sich nichts mit ihr weniger vereinbaren läßt als die Leidenschaft, die derartig blind macht, daß man manchmal den Schatten für den Körper hält. Ein Fürst muß vor allem vermeiden, nach einem solchen Prinzip zu handeln, das ihn um so hassenswerter erscheinen ließe, als es genau dem entgegengesetzt ist, was den Menschen von den Tieren unterscheidet. Oft bereut man lange
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das, was die Leidenschaft überstürzt tun ließ. Nie hat man aber Grund, dasselbe bei Dingen zu tun, zu denen man durch Erwägungen der Räson veranlaßt wurde. (S. 167 f.) Kapitel 3: Die öffentlichen Interessen müssen das einzige Ziel derer sein, die die Staaten regieren, oder wenigstens den Einzelinteressen vorgezogen werden. Die öffentlichen Interessen müssen das einzige Ziel des Fürsten und seiner Minister sein, oder sie beide müssen sie sich wenigstens so angelegen sein lassen, daß sie sie allen Sonderinteressen vorziehen. Es ist unmöglich, das Gute zu begreifen, das ein Fürst und die, deren er sich bei seinen Angelegenheiten bedient, tun können, wenn sie gewissenhaft diesem Grundsatze folgen, und man kann sich nicht das Übel vorstellen, das einem Staate zustößt, wenn man die Sonderinteressen den öffentlichen vorzieht, und wenn die letzteren durch die ersteren bestimmt werden. Die wahre Philosophie, das christliche Gesetz und die Politik lehren so klar diese Wahrheit, daß die Minister eines Fürsten diesem nicht zu oft ein so nötiges Prinzip vor Augen führen und auch der Fürst nicht streng genug diejenigen Minister strafen kann, die elend genug sind, nicht danach zu handeln. (S. 170) Die Fürsten stimmen gewöhnlich gern den allgemeinen Anordnungen in ihren Staaten zu, weil, wenn sie danach handeln, sie nur Räson und Gerechtigkeit im Auge haben, die man sich gern zu eigen macht, wenn man keine Hindernisse findet, die vom guten Wege ablenken. Aber wenn sich die Gelegenheit bietet, die guten Einrichtungen, die sie angeordnet haben, in die Praxis umzusetzen, so zeigen sie nicht immer dieselbe Festigkeit, weil dann die Interessen von diesem und jenem, Frömmigkeit, Mitgefühl, Gunst, Aufdringlichkeiten auf sie einwirken und sich ihren guten Plänen widersetzen und sie oft nicht genug Kraft haben, sich selbst zu besiegen und Sonderinteressen geringzuschätzen, die
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Politische Normen
doch keinerlei Bedeutung in Vergleich zu den allgemeinen haben dürfen. Bei solchen Gelegenheiten müssen sie alle Kraft zusammenfassen gegen ihre eigene Schwäche, indem sie sich vor Augen halten, daß diejenigen, die Gott dazu bestimmt, die anderen zu erhalten, nur immer auf das sehen müssen, was der Allgemeinheit und der Erhaltung des großen Ganzen vorteilhaft ist. (S. 171 f.) Aus: Armand du Plessis, Cardinal de Richelieu, Politisches Testament, in: ders., Politisches Testament und kleinere Schriften, hg. von Wilhelm Mommsen, Berlin 1926,2. Teil, Kap. 2 und 3.
paßt sich ganz von selbst der wirksamen Nachfrage an. Denn es liegt im Interesse aller, die Land, Arbeit oder Kapital einsetzen, um ein Gut auf den Markt zu bringen, das Angebot niemals über die effektive Nachfrage steigen zu lassen. Umgekehrt sind alle anderen daran interessiert, daß es niemals darunterliegt. (S. 49 f.) Aus: Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, hg. von Horst Claus Recktenwald, München 1974.
IMMANUEL KANT
A D A M SMITH Der sachgerechte Marktpreis Der Marktpreis eines einzelnen Gutes hängt [is regulated by] von dem Verhältnis der am Markt tatsächlich angebotenen Menge und der Nachfrage jener ab, welche bereit sind, den natürlichen Preis dafür zu bezahlen oder den vollen Wert der Rente, der Arbeit und des Gewinns, der gezahlt werden muß, damit das Gut überhaupt am Markte erscheint. (...) Ist die am Markt angebotene Menge einer Ware kleiner als die effektive Nachfrage, so kann nicht jeder, der bereit ist, den vollen Wert von Rente, Lohn und Gewinn, die ausgegeben werden mußten, zu bezahlen, die Menge davon erhalten, die er zu haben wünscht. Einige bieten bereitwillig mehr, ehe sie völlig darauf verzichten. Es setzt sofort ein Wettbewerb unter ihnen ein, so daß der Marktpreis mehr oder weniger hoch über den natürlichen Preis steigen wird, je nachdem, wie stark entweder Dringlichkeit oder Wohlstand und zügelloser Luxus der Wettbewerber die Konkurrenz unter ihnen verschärft. Die am Markt angebotene Menge einer Ware
Zivilität der Kriegführung schafft Vertrauen im Frieden 6. Präliminarartikel: Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: als da sind, Anstellung der Meuchelmörder (percussores), Giftmischer (venefici), Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Verrats (perduellio) in dem bekriegten Staat etc. Das sind ehrlose Stratagemen. Denn irgend ein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muß mitten im Kriege noch übrig bleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden könnte, und die Feindseligkeiten in einen Ausrottungskrieg (bellum internecinum) ausschlagen würde; da der Krieg doch nur das traurige Notmittel im Naturzustande ist (wo kein Gerichtshof vorhanden ist, der rechtskräftig urteilen könnte), durch Gewalt sein Recht zu behaupten; wo keiner von beiden Teilen für einen ungerechten Feind erklärt werden kann (weil das schon einen Richterspruch voraussetzt), sondern der Ausschlag desselben (gleich als vor einem so genannten Gottesgerichte) entscheidet, auf wessen Seite das Recht ist; zwi-
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sehen Staaten sich aber kein Bestrafungskrieg (bellum punitivum) denken läßt (weil zwischen ihnen kein Verhältnis eines Obern zu einem Untergebenen statt findet). - Woraus denn folgt: daß ein Ausrottungskrieg, wo die Vertilgung beide Teile zugleich, und mit dieser auch alles Rechts treffen kann, den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschgattung statt finden lassen würde. Ein solcher Krieg also, mithin auch der Gebrauch der Mittel, die dahin führen, muß schlechterdings unerlaubt sein. Daß aber die genannten Mittel unvermeidlich dahin führen, erhellt daraus: daß jene höllischen Künste, da sie an sich selbst niederträchtig sind, wenn sie in Gebrauch kommen, sich nicht lange innerhalb der Grenze des Krieges halten, wie etwa der Gebrauch der Spione (uti exploratoribus), wo nur die Ehrlosigkeit anderer (die nun einmal nicht ausgerottet werden kann) benutzt wird, sondern auch in den Friedenszustand übergehen, und so die Absicht desselben gänzlich vernichtet würden. (S. 200) Aus: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden - ein philosophischer Entwurf, 2. Aufl., Königsberg 1796, in: ders., Theorie-Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. XI, S. 195-251.
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at mundus.« (Der Gerechtigkeit werde genüge getan, und wenn die Welt darüber zugrunde geht). Der Staat ist aber nicht berechtigt, dies im Namen derer zu sagen, für die er verantwortlich ist. Sowohl der Einzelne, wie auch der Staat müssen politisches Handeln nach allgemein sittlichen Grundsätzen beurteilen, etwa dem der Freiheit. Hat jedoch der Einzelne das sittliche Recht, auch sich selbst in der Verteidigung eines solchen Grundsatzes zu opfern, ist es dem Staat nicht gestattet, erfolgreiches politisches Handeln - das auf dem Gebot nationaler Selbsteihaltung beruht - durch moralische Bedenken gegen eine Freiheitsbeschränkung in Frage zu stellen. Es gibt keine politische Moral ohne Klugheit - d. h. ohne Berücksichtigung der politischen Folgen eines anscheinend moralisch vertretbaren Vorgehens. Der Realismus betrachtet diese Klugheit das Abwägen der Folgen alternativer politischer Handlungen - daher als die höchste Tugend der Politik. Abstrakte Ethik beurteilt Handlungen nach ihrer Übereinstimmung mit dem Sittengesetz; politische Ethik beurteilt Handlungen nach ihren politischen Folgen. (S. 56) Aus: Hans J. Morgenthau, Macht und Frieden, mit einer Einleitung von GottfriedKarl Kindermann, Gütersloh 1963.
LEO STRAUSS H A N S J. MORGENTHAU Politischer Realismus versus ethische Gerechtigkeit Der Realismus vertritt den Standpunkt, daß allgemeine sittliche Grundsätze in abstrakter, allgemeingültiger Formulierung auf staatliches Handeln nicht angewendet werden können, sondern daß sie im Lichte der konkreten Umstände von Zeit und Ort gesehen werden müssen. Der Einzelne mag für sich sagen: »Fiat justitia, pere-
Der Vorrang des Naturrechts Die Zurückweisung des Naturrechts ist gleichbedeutend mit der Behauptung, alles Recht sei positives Recht, und das heißt, was Rechtens ist, wird ausschließlich durch die Gesetzgeber und Gerichte der verschiedenen Länder bestimmt. Nun ist es aber offensichtlich sinnvoll und manchmal sogar notwendig, von »ungerechten« Gesetzen oder »ungerechten« Entscheidungen zu reden. Wenn wir solche Urteile fällen, dann
Politische Normen
unterstellen wir, daß es einen vom positiven Recht unabhängigen und über diesem stehenden Maßstab für Recht und Unrecht gibt: einen Maßstab, der uns erlaubt, über positives Recht zu urteilen. Heute sind viele Menschen der Ansicht, daß ein solcher Maßstab im besten Falle nichts anderes als das durch unsere Gesellschaft oder unsere »Zivilisation« adoptierte und in ihrer Lebensweise oder ihren Institutionen verkörperte Ideal ist. Nach derselben Ansicht haben aber alle Gesellschaften ihre Ideale, eine Gesellschaft von Kannibalen nicht weniger als die von zivilisierten Menschen. Wenn Prinzipien dadurch, daß sie von einer Gesellschaft angenommen wurden, genügend gerechtfertigt sind, dann sind die Prinzipien des Kannibalismus genau so verfechtbar und stichhaltig wie diejenigen des zivilisierten Lebens. Von diesem Gesichtspunkt aus können die Lebensprinzipien der Kannibalen gewiß nicht einfach als schlecht abgetan werden. (...) Die bloße Tatsache jedoch, daß wir die Frage nach dem Wert unseres Gesellschaftsideals stellen können, zeigt, daß es etwas im Menschen gibt, was seiner Gesellschaft nicht gänzlich versklavt ist, und daß wir daher imstande und folglich verpflichtet sind, uns nach einem Maßstab umzusehen, auf Grund dessen wir über die Ideale unserer eigenen wie auch jeder anderen Zivilisation urteilen können. Jener Maßstab kann nicht in den Bedürfnissen der verschiedenen Gesellschaften gefunden werden, denn die Gesellschaften und ihre Teile haben viele einander widerstreitende Bedürfnisse: es entsteht das Problem der Priorität. Wir können dieses Problem nicht rational lösen, wenn wir nicht im Besitze eines Maßstabes sind, nach dem wir uns richten und mit dessen Hilfe wir zwischen echten Bedürfnissen und eingebildeten Bedürfnissen unterscheiden können, und der es uns gestattet, die Hierarchie der verschiedenen Arten echter Bedürfnisse zu erkennen. Das Problem der sich gegenseitig widersprechenden Bedürfhisse der Gesell-
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schaft kann nicht gelöst werden, wenn wir keine Kenntnis vom Naturrecht haben. (...) Mag uns unsere Sozialwissenschaft auch noch so klug und weise hinsichtlich der Mittel machen, die wir für irgendwelche Zwecke wählen mögen, so gibt sie doch zu, daß sie unfähig ist, uns bei der Unterscheidung zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen, gerechten und ungerechten Zielen zu helfen. (...) Wenn wir unserer Sozialwissenschaft folgen, dann können wir in allen Angelegenheiten von sekundärer Bedeutung weise sein oder werden, aber wir müssen uns im wichtigsten Punkt mit völliger Unkenntnis abfinden: wir können keine Kenntnis der letzten Prinzipien unserer Entscheidungen haben, d.h. keine Kenntnis in bezug auf ihre Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit; unsere letzten Prinzipien beruhen lediglich auf unseren willkürlichen und daher blinden Bevorzugungen. Somit sind wir also in der Lage von Wesen, die in trivialen Angelegenheiten vernünftig und nüchtern sind, aber wie Wahnsinnige um das Glück würfeln, wenn sie sich ernsten Problemen gegenübersehen - Vernunft im kleinen und Wahnwitz im großen. (S. 2 - 4 ) Aus: Leo Strauss, Naturrecht Geschichte, Frankfurt/M. 1977.
und
JOHN RAWLS Der gerechte Wohlfahrtsstaat Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen. Eine noch so elegante und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muß fallengelassen oder abgeändert werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind. Jeder Mensch
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besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher läßt es die Gerechtigkeit nicht zu, daß der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird. Sie gestattet nicht, daß Opfer, die einigen wenigen auferlegt werden, durch den größeren Vorteil vieler anderer aufgewogen werden. Daher gelten in einer gerechten Gesellschaft gleiche Bürgerrechte für alle als ausgemacht; die auf der Gerechtigkeit beruhenden Rechte sind kein Gegenstand politischer Verhandlungen oder sozialer Interessenabwägungen. Mit einer falschen Theorie darf man sich nur dann zufrieden geben, wenn es keine bessere gibt; ganz ähnlich ist eine Ungerechtigkeit nur tragbar, wenn sie zur Vermeidung einer noch größeren Ungerechtigkeit notwendig ist. Als Haupttugenden für das menschliche Handeln dulden Wahrheit und Gerechtigkeit keine Kompromisse. (S. 19 f.) Ich werde jetzt in einer vorläufigen Form die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze angeben, auf die man sich nach meiner Auffassung im Urzustand einigen würde. (...) 1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen. (S. 81) Aus: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1988.
ERNST FRAENKEL Gemeinwohl als Resultante pluraler Interessen Eine jede totalitäre Diktatur geht von der Hypothese eines eindeutig bestimmbaren vorgegebenen Gemeinwohls aus. Von ihm wird unterstellt, es sei ausreichend detailliert, um von der Einheitspartei als politisches Aktionsprogramm verwertet werden zu können. Eine jede pluralistische Demokratie geht davon aus, daß, tun funktionieren zu können, sie nicht nur VerfahrensVorschriften und Spielregeln eines fair play, sondern auch eines allgemein anerkannten Wertkodex bedarf, der ein Minimum abstrakter regulativer Ideen generellen Charakters enthalten muß; sie glaubt jedoch nicht, daß in politisch relevanten Fällen diese regulativen Ideen ausreichend konkret und genügend substantiiert zu sein vermögen, um für die Lösung aktueller politischer Probleme unmittelbar verwendungsfahig zu sein. Der Pluralismus beruht vielmehr auf der Hypothese, in einer differenzierten Gesellschaft könne im Bereich der Politik das Gemeinwohl lediglich a posteriori als das Ergebnis eines delikaten Prozesses der divergierenden Ideen und Interessen der Gruppen und Parteien erreicht werden, stets vorausgesetzt, um dies der Klarheit wegen zu wiederholen, daß bei deren Zusammen- und Widerspiel die generell akzeptierten, mehr oder weniger abstrakten regulativen Ideen sozialen Verhaltens respektiert und die rechtlich normierten Verfahrensvorschriften und die gesellschaftlich sanktionierten Regeln eines fair play ausreichend beachtet werden. Die pluralistische Theorie des Gemeinwohls bestreitet keineswegs, daß es weite Gebiete des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens gibt, über deren Ordnung ein consensus omnium vorliegt; ja sie betont mit Nachdruck, daß auf die Dauer ein Staat nicht lebensfähig ist, in dem weder über ein Minimum fundamentaler, noch über zahlreiche detaillierte Fragen der Wirt-
Politische Normen
schall, Gesellschaft und Politik eine weitgehende Übereinstimmung besteht. Sie nimmt jedoch den Umstand, daß es weite Gebiete des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens gibt, über deren Regelung Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen Gruppen existieren, nicht nur mit Gleichmut hin, sondern erachtet dies als unvermeidlich, ja geradezu als ein Indiz eines in Freiheit pulsierenden öffentlichen Lebens. Sie hält es weder für wünschenswert noch für möglich, daß in einem freiheitlichen Staatswesen ein einheitlicher Gemeinwille besteht, der die divergierenden Gruppenwillen restlos in sich aufsaugt. Sie glaubt, daß die kollektive Geltendmachung von partikulären Interessen unerläßlich erforderlich ist, um zu verhüten, daß entwe-
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der der Wille einer autokratisch-staatlichen oder der Wille eines Oligopols nicht minder autokratisch privater Bürokratien in kontroversen Fragen entscheidet. Die offene Austragung der in jedem freien Staat unausbleiblichen Meinungsverschiedenheiten und die Kompromisse, durch die diese Konflikte beigelegt werden, betrachtet sie als den einzig geeigneten Weg, eine tragbare Lösung für Probleme zu finden, über die ein consensus omnium nicht besteht. (S. 300 f.) Aus: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, mit einem Nachwort über Leben und Werk Ernst Fraenkels von Alexander von Brünneck, erweiterte Ausgabe, Frankfurt/M. 1991.
Geschichte und Utopie POLYBIOS Der Kreislauf der Verfassungen (7.) So entsteht bei den Menschen auf natürlichem Wege zuerst der Begriff des Guten und Gerechten und ihres Gegenteils, dies ist Anfang und Ursprung wahren Königtums. Und nicht nur ihnen selbst, sondern auch ihren Nachkommen bewahrt das Volk lange die Herrschaft, überzeugt, daß diese, von solchen Männern abstammend und erzogen, auch die gleiche Gesinnung haben werden. Wenn sie aber einmal mit ihren Nachfolgern unzufrieden werden, dann wählen sie die Führer und Könige nicht mehr nach ihrer körperlichen Kraft und ihrem Mut, sondern auf Grund besonderer Einsicht und Weisheit, nachdem sie an den Tatsachen den Unterschied des Wertes jener und dieser Eigenschaften erfahren haben. In alter Zeit nun behielten die, welche einmal erwählt worden waren und diese Machtvollkommenheit erhalten hatten, die Königsherrschaft bis ins Alter, damit beschäftigt,
beherrschende Höhen durch Mauern zu befestigen und Land hinzuzugewinnen, jenes aus Sicherheitsgründen, dieses, um ihre Untertanen reichlich mit allem Notwendigen versehen zu können. Während sie also dies als ihre Aufgabe betrachteten, waren sie zugleich aller Nachrede und allem Neid entrückt, denn sie unterschieden sich von den anderen weder sehr in der Kleidung noch im Essen und Trinken, sondern führten fast dasselbe Leben wie jene und sonderten sich nicht von der Menge ab. Als ihnen jedoch, Erben der Herrschaft allein durch Abstammung, alles zu ihrer Sicherheit, alles, und mehr als genug, zu ihrer Nahrung zur Verfügung stand, da verleitete sie der Überfluß, ihren Begierden freien Lauf zulassen(...)Dies erweckte Neid und Ärgernis, entflammte Zorn, Haß und Feindschaft, und nachdem das Königtum so zur Tyrannis geworden war, wurde dies auch der Anfang seines Untergangs, denn nun bildeten sich Verschwörungen gegen den Regenten, die nicht von den schlechtesten, sondern von den edelsten, hochgesinntesten und tapfersten Männern getragen
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waren, denn diese vermochten am wenigsten den Übermut und Frevel des Herrschers zu ertragen. (8.) Da aber die Menge, sobald sie Führer gefunden hatte, diese aus den genannten Gründen gegen die Regierenden unterstützte, wurde die Verfassungsform des Königtums und der Alleinherrschaft vollständig abgeschafft, und die Aristokratie trat ins Leben und nahm ihren Anfang. Denn um denen, welche die Alleinherrscher gestürzt hatten, sofort ihren Dank abzustatten, nahm das Volk sie zu Führern und legte sein Schicksal in ihre Hände. Zuerst waren diese mit dem anvertrauten Amt zufrieden und ließen sich nichts mehr angelegen sein als das Wohl der Gemeinschaft; sie führten sorglich und gewissenhaft die privaten und öffentlichen Angelegenheiten des Volkes. Als aber wiederum die Söhne von den Vätern diese Machtstellung übernahmen, ohne die Entartung des Königtums erlebt zu haben, ohne irgend etwas von bürgerlicher Gleichheit und Meinungsfreiheit zu wissen, aufgewachsen von frühester Jugend an im Glanz der väterlichen Machtstellung, da suchten sich die einen auf unrechtmäßigem Wege zu bereichern und verfielen der Habgier, andere der Trunksucht und der Völlerei, andere vergewaltigten Frauen und raubten Knaben und verwandelten so die Aristokratie in eine Oligarchie. Diese erregte bei der Menge bald wieder dieselbe Empörung wie vorher die Tyrannis, und infolgedessen wurde sie am Ende ebenso gestürzt wie jene. (9.) (...) Sie [das Volk] töten die einen, (treiben die anderen ins Exil), wagen nun aber weder einen König an die Spitze des Staates zu stellen, da sie noch mit Schrecken an das Unrecht denken, das sie unter der Königsherrschaft erlitten haben, noch die Leitung einer Mehrzahl anzuvertrauen, da ihnen die Unbill der jüngsten Vergangenheit noch vor Augen steht, sondern halten sich an die einzige Hoffnung, die ihnen noch übrigbleibt, die sie noch nicht getrogen hat, sich auf sich selbst zu verlassen. So machen sie aus der oligarchischen Verfassung eine Demokratie und übernehmen selbst die Fürsorge und Verantwortung für die
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öffentlichen Angelegenheiten. Und solange noch einige am Leben sind, die die Mißstände einer obrigkeitlichen Herrschaft erfahren haben, sind sie glücklich und zufrieden mit dem gegenwärtigen Zustand und achten nichts höher als Freiheit des Worts und der Meinung. Wenn jedoch eine neue Generation heranwächst und die Demokratie in die Hände der Enkel kommt, dann wissen sie diese Freiheit nicht mehr zu schätzen, weil sie sich schon daran gewöhnt haben, und suchen größere Macht und einen Vorrang vor der Menge zu erringen, und zwar geraten vor allem die Reichen auf diesen Abweg. Wenn sie nun bei ihrer Jagd nach den Ämtern das Ziel ihres Ehrgeizes nicht durch eigene Kraft und Tüchtigkeit erreichen können, verschwenden sie ihr Vermögen, um die Menge auf alle Weise zu ködern und zu verfuhren. Nachdem sie so in ihrer unsinnigen Gier nach Ehre und Ansehen das Volk für Bestechungsgelder empfänglich gemacht und seine Habsucht geweckt haben, kommt es wiederum zum Sturz der Demokratie, und diese verwandelt sich in eine Herrschaft der rohen Gewalt. (...) Das Volk rottet sich zur Vertreibung und zur Ermordung seiner Gegner und zur Neuverteilung des Landes zusammen, so lange, bis die vertierte Masse wieder einen Herrn, einen Alleinherrscher, gefunden hat. Dies ist der Kreislauf der Verfassungen, der mit Naturnotwendigkeit sich vollzieht und durch den die Verfassungen sich wandeln und miteinander wechseln, bis der Kreis sich geschlossen hat und alles wieder am Ausgangspunkt angelangt ist. Wenn man das klar erfaßt hat, wird man sich mit einer Zukunftsvoraussage vielleicht in der Zeit irren, kaum aber über den Punkt in der Kurve des Wachstums, Niedergangs und des Wechsels, der gerade erreicht ist, sofern man ohne Haß und Mißgunst urteilt. (S. 531 - 534) Aus: Polybios, Geschichte. Gesamtausgabe in zwei Bänden, eingel. und übertragen von Hans Drexler, 2. Aufl., Zürich und München 1978.
Politische Normen
THOMAS MORUS Utopia als Vorbild für alle menschlichen Gesellschaften
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Aus: Thomas Morus, Utopia, übertragen von Gerhard Ritter, Nachwort von Eberhard Jäckel, Stuttgart 1980.
So ist es nun einmal im Staate und so im Rate der Fürsten! Kannst du verkehrte Meinungen nicht GEORG W . F. HEGEL gleich mit der Wurzel ausreißen und vermagst du herkömmlich eingewurzelte Übel nicht nach Die weltgeschichtlichen Individuen und deiner innersten Überzzeugung zu heilen, so die List der Vernunft darfst du deshalb doch nicht gleich den Staat im Stich lassen und im Sturm das Schiff nicht des- Wenn man handeln will, muß man nicht nur das halb preisgeben, weil du den Winden nicht Ein- Gute wollen, sondern man muß wissen, ob diehalt gebieten kannst! Du mußt auch nicht den ses oder jenes das Gute ist. Welcher Inhalt aber Menschen eine ungewohnte und maßlose Rede gut oder nicht gut, recht oder unrecht sei, dies ist mit Gewalt aufdrängen, die ja doch, wie du für die gewöhnliche Fälle des Privatlebens in weißt, bei Andersdenkenden kein Gewicht den Gesetzen und Sitten eines Staats gegeben. haben kann, sondern es lieber auf Umwegen ver- (...) Ein anderes ist es in den großen geschichtsuchen, dich bemühen, nach besten Kräften alles lichen Verhältnissen. Hier ist es gerade, wo die großen Kollisionen zwischen den bestehenden, recht geschickt zu behandeln. (S. 52) So erwäge ich denn oft bei mir die klugen, ja anerkannten Pflichten, Gesetzen und Rechten verehrungswürdigen Einrichtungen des Staates und den Möglichkeiten entstehen, welche dieder Utopier, die so wenige Gesetze und dabei sem System entgegengesetzt sind, es verletzen, eine so vorzügliche Verfassimg haben, daß der ja seine Grundlage und Wirklichkeit zerstören Tüchtige auf Lohn rechnen darf und doch, infol- und zugleich einen Inhalt haben, der auch gut, ge gleichmäßiger Verteilung des Besitzes, alle im großen vorteilhaft, wesentlich und notweneinzelnen an allen Lebensgütern Überfluß dig scheinen kann. Diese Möglichkeiten werden haben. Und dann vergleiche ich (im Gegensatz nun geschichtlich; sie schließen ein Allgemeines dazu) mit ihren Gebräuchen so und so viele anderer Art in sich als das Allgemeine, das in andere Nationen, die immerfort neue Ordnun- dem Bestehen eines Volkes oder Staates die gen schaffen, und doch kommt niemals auch nur Basis ausmacht. Dies Allgemeine ist ein Moment der produzierenden Idee, ein Moment, der eine von ihnen recht in Ordnung. (S. 55) nach sich selbst strebenden und treibenden Und während die Utopier schon nach der ersWahrheit. Die geschichtlichen Menschen, die ten und einzigen Berührung mit uns sich alle welthistorischen Individuen sind diejenigen, in unsere nüzlichen Erfindungen zu eigen machderen Zwecken ein solches Allgemeines liegt. ten, wird es, furchte ich, lange dauern, bis wir (...) Solche Individuen hatten in diesen ihren irgendeine Einrichtung übernehmen, die bei Zwecken nicht das Bewußtsein der Idee überihnen besser ist als bei uns. Das halte ich denn haupt, sondern sie waren praktische und politifür die Hauptursache, warum ihr Staatswesen sche Menschen. Aber zugleich waren sie denklüger regiert wird und glücklicher aufblüht als kende, die die Einsicht hatten von dem, was not das unsere, obschon wir doch weder an Begaund was an der Zeit ist. Das ist eben die Wahrbung noch an Reichtum hinter ihnen zurücksteheit ihrer Zeit und ihrer Welt, sozusagen die hen. (S. 59) nächste Gattung, die im Innern bereits vorhan-
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den war. Ihre Sache war es, dies Allgemeine, die notwendige, nächste Stufe ihrer Welt zu wissen, diese sich zum Zwecke zu machen und ihre Energie in dieselbe zu legen. Die welthistorischen Menschen, die Heroen einer Zeit, sind darum als die Einsichtigen anzuerkennen; ihre Handlungen, ihre Reden sind das Beste der Zeit. (S. 44 -46) Ein welthistorisches Individuum hat nicht die Nüchternheit, dies und jenes zu wollen, viel Rücksichten zu nehmen, sondern es gehört ganz rücksichtslos dem einen Zwecke an. So ist es auch der Fall, daß sie andere große, ja heilige Interessen leichtsinnig behandeln, welches Benehmen sich freilich dem moralischen Tadel unterwirft. Aber solche große Gestalt muß manche unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf ihrem Wege. Das besondere Interesse der Leidenschaft ist also unzertrennlich von der Betätigung des Allgemeinen; denn es ist aus dem Besonderen und Bestimmten und aus dessen Negation, daß das Allgemeine resultiert. Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft und wovon ein Teil zugrunde gerichtet wird. Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begibt; sie hält sich unangegrifFen und unbeschädigt im Hintergrund. Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet. (S. 49) Aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Theorie-Werkausgabe, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 12, Frankfurt/M. 1970.
IV Kapitel
GEORGE ORWELL Der Blick in die Zukunft des Polizeistaates Ein Angehöriger der Partei lebt von der Geburt bis zum Tode unter den Augen der Gedankenpolizei. (...) Viele der von ihm geforderten Glaubensbekenntnisse und Einstellungen sind nie deutlich festgelegt worden und könnten nicht festgelegt werden, ohne die dem Engsoz anhaftenden Widersprüche aufzudecken. Wenn er ein von Natur strenggläubiger Mensch ist (in der Neusprache ein Gutdenker), dann wird er unter allen Umständen wissen, ohne nachdenken zu müssen, was der richtige Glaube ist oder wie seine Empfindung aussehen soll. Aber auf alle Fälle macht ihn eine sorgfaltige Schulung, die er in der Jugend durchgemacht hat und die von den Neusprachwörtern Verbrechenstop, Schwarzweiß und Zwiedenken umrissen ist, nicht willens und unfähig, zu tiefschürfend, über irgendein Thema nachzudenken. (...) Die erste und einfachste Stufe in der Schulung, die sogar kleinen Kindern beigebracht werden kann, heißt in der Neusprache Verbrechenstop. Verbrechenstop bedeutet die Fähigkeit, gleichsam instinktiv auf der Schwelle jedes gefahrlichen Gedankens haltzumachen. Es schließt die Gabe ein, ähnliche Umschreibungen nicht zu verstehen, außerstande zu sein, logische Irrtümer zu erkennen, die einfachsten Argumente mißzuverstehen, wenn sie engsozfeindlich sind, und von jedem Gedankengang gelangweilt oder abgestoßen zu werden, der in eine ketzerische Richtung fuhren könnte. Verbrechenstop bedeutet, kurz gesagt, schützende Dummheit. Aber Dummheit allein genügt nicht. Im Gegenteil verlangt Rechtgläubigkeit in vollem Sinne des Wortes eine ebenso vollständige Beherrschung der eigenen Gedankengänge, wie sie ein Schlangenmensch über seinen Körper besitzt. Die ozeanische Gesellschaftsordnung fußt letzten Endes auf dem Glauben, daß der Große Bruder allmächtig und
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die Partei unfehlbar ist. Aber da in Wirklichkeit der Große Bruder nicht allmächtig und die Partei nicht unfehlbar ist, müssen die Tatsachen unermüdlich von einem Augenblick zum anderen entsprechend zurechtgebogen werden. Das Schlagwort hierfür lautet Schwarzweiß. Wie so viele Neusprachworte hat dieses Wort zwei einander widersprechende Bedeutungen. Einem Gegner gegenüber angewandt, bedeutet es die Gewohnheit, im Widerspruch zu den offenkundigen Tatsachen unverschämt zu behaupten, schwarz sei weiß. Einem Parteimitglied gegenüber angewandt, bedeutet es eine redliche Bereitschaft, zu sagen, schwarz sei weiß, wenn es die Parteidisziplin erfordert. Aber es bedeutet auch die Fähigkeit, zu glauben, daß schwarz gleich weiß ist, und darüber hinaus zu wissen, daß schwarz weiß ist, und zu vergessen, daß man jemals das Gegenteil geglaubt hat. Das verlangt eine ständige Änderung der Vergangenheit, die durch das Denkverfahren ermöglicht wird, das in Wirklichkeit alles übrige einschließt und in der Neusprache als Zwiedenken bekannt ist. (S. 214-217) Aus: George Orwell, 1984, Berlin u.a. 1984.
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IV Kapitel
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2. Freiheit und Gleichheit HARALD BLUHM
I. Von der Antike bis in die Gegenwart haben die Ideen von Freiheit und Gleichheit immer wieder ihre Mobilisierungskraft bewiesen. Sie erfuhren mehrfachen Bedeutungswandel und eine enorme Ausweitung über den politischen Bereich hinaus, deren Kehrseite eine gewisse Entleerung der Begriffe ist. Zudem folgten auf Perioden demokratischen Engagements, die diese Begriffe politisch aufluden und auch überfrachteten, Zeiten der Enttäuschung und Kritik an den Ergebnissen, wie an den Leitideen selbst. Für die Dynamik der Moderne im Allgemeinen und für Demokratiebewegungen im Besonderen sind die Ideen von Freiheit und Gleichheit und vor allem ihre Verhältnisbestimmung, die hier besonders interessiert, schlechthin zentral. Konzeptionelle Verbindungen von Freiheit und Gleichheit sind bei der Genesis der Moderne insbesondere anhand von Debatten um Menschen- und Bürgerrechtsdeklarationen fassbar. In ihnen werden auf unterschiedlichen Wegen normative Ansprüche artikuliert und in Beziehung zur Praxis gesetzt. Grob gefasst, werden diese Rechte im 17. und 18. Jahrhundert auf der Grundlage mehr oder weniger metaphysischer Prämissen begründet. Je universeller und emphatischer sie ausfallen, umso prekärer wird ihre Umsetzung. Die Kritik am eher metaphysischen und weniger politischen Menschenrechtsuniversalismus des 18. Jahrhunderts setzt an ihrer Dekontextualisierung an und führt sie im 19. und 20. Jahrhundert zur Einsicht in zwangsläufige Aporien. Menschen- und Bürgerrechtsvorstellungen sind deshalb heutzutage nicht nur weniger emphatisch, sondern - wie John Rawls es nennt - politisch und nicht metaphysisch. Über den
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Grad ihrer Kontextbezogenheit, ihrer Einbettung in eine politische Kultur, gibt es allerdings scharfe Debatten. Wie aber ist es zu erklären, dass ein Treibsatz an Ideen aus der Antike, der dort eine begrenzte Wirkung hatte, in der Moderne scharf gemacht werden - man denke an die Losung der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - und schließlich in einer weltweiten Dynamik von kapitalistischer Ökonomik und moderner Demokratie gleichsam explodieren konnte? Was ist die Grundlage für die Virulenz dieser Ideen? Zunächst sei auf zwei Aspekte verwiesen: Zum einen handelt es sich um genuin politische Begriffe, die in politischen Debatten und in Machtkämpfen von individuellen und kollektiven Akteuren verwandt und je konkret ausgeprägt werden. Wurde zur Zeit der Religionskriege um Gewissens- und Religionsfreiheit gestritten, so ist seit der Aufklärung die Meinungs- und Pressefreiheit ein ebenso zentrales Thema wie die von der bürgerlichen Emanzipationsbewegung erfochtene Vertrags-, Gewerbe- und Eigentumsfreiheit. Zumindest potenziell sollten dabei alle Menschen in den Genuss der Freiheiten kommen und waren als Gleiche unterstellt. Wiewohl es in politischen Kämpfen stets um konkrete Freiheiten geht, gibt es einen Schnitt, der die Moderne von den vorausgegangenen Zeiten trennt. Insbesondere im Zeitalter neuzeitlicher Revolutionen erfolgte eine Umstellung der Begrifflichkeit; an die Stelle materialer Freiheitsforderungen und verbriefter feudaler Freiheiten trat ein Kollektivsingular (vgl. Koselleck 1989, S. 54): die Freiheit; und mit dieser Umbildung ist die Verbindung von Freiheit und Gleichheit, die Ausdehnung der Freiheit auf alle Individuen, Klassen, Schichten und Geschlechter angelegt. Der emphatische Freiheitsanspruch als Singular ist reell nicht für jeden verwirklicht, weshalb all jene, die exkludiert sind, an diese Begriffe anknüpfend ihre Gleichberechtigung einfordern können. Wären die Welt des Menschen und die Gesellschaft ohne Wahlmöglichkeiten, ohne Chancen, etwas beginnen und verändern zu können, dann gäbe es keinen Raum für die Freiheit und ebenso wenig für Moral und Politik. Beide ruhen auf dem Gedanken der Selbstbestimmung des Menschen, und ganz gleich, welchen Handlungsspielraum man ihm einräumt, erst von hier lassen sich Entscheidung und Verantwortung - zwei für jeden Politikbegriff zentrale Größen - fassen. Wenn Freiheit essenziell für Politik ist, dann kommen Fragen danach auf, welches Ausmaß an Freiheit jedem zugestanden werden kann und wieweit Freiheit und Gleichheit miteinander vereinbart werden können. Formuliert man den Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit praktisch, so ist es wohl nur im ersten Augenblick evident, dass die Freiheit ihre Grenze nur an der Freiheit des anderen hat, dass diese minimale Gleichheit hinreichend für allgemeine Freiheit ist. Aber geht man mit dem Genuss von Freiheiten nicht auch Verpflichtungen ein? Setzt ein freies Leben nicht eine angemessene Gesellschaftsform voraus? Auch die Gleichheit ist nicht leicht zu fassen, und attributive Präzisierungen, wie politische und soziale Gleichheit, kennzeichnen Bereiche der Gesellschaft, sagen aber zunächst wenig über ihre Bedeutung für die Freiheit.
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II. Logisch gibt es drei Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung zwischen Freiheit und Gleichheit. Man kann den Akzent auf die Freiheit setzen. In der Regel geht man dann vom Individuum aus, und die individuelle Freiheit muss gegen Willkür und Übergriffe anderer gesichert werden, wobei insbesondere der Schutz des Einzelnen vor dem als übermächtig empfundenen Staat eine wichtige Rolle spielt. Diese Position kann unterschiedlich ausgebaut werden, der Schwerpunkt kann in bestimmten wirtschaftlichen Rechten und damit verbundenen politischen Partizipationschancen liegen. Es können auch allgemein gefasste Menschen- und Bürgerrechte ins Zentrum rücken. In beiden Fällen sind als Rechte und Chancen Gleichheitsvorstellungen in diese Fassung der Freiheit eingeschrieben. Setzt man den Akzent auf die Gleichheit, dann werden gleiche Voraussetzungen, zumindest aber reelle Chancengleichheit im sozialen und politischen Bereich zur Voraussetzung tatsächlicher Freiheit gemacht. Damit rücken nicht nur die materiellen Bedingungen von Freiheiten in den Vordergrund, sondern neben den Individuen auch kollektive Akteure; denn soziale Ungleichheiten zwischen Klassen und Schichten stehen der Freiheitsentwicklung im Wege. In diesem Ansatz erscheint der Staat, wie Umverteilungsinstanzen überhaupt, in positivem Licht. Schließlich gibt es explizit vermittelnde Positionen, deren Ziel oft das Erreichen und Erhalten politischer Ordnung ist. Ordnungsdenker wie Piaton favorisieren gegliederte Gesellschaftsmodelle. In solchen Ordnungskonzepten geht es auch um einen Ausgleich von Freiheit und Gleichheit. Dieser Ausgleich ist oft polemisch gegen andere Akzentsetzungen gekehrt; an der Präferenz für Freiheit wird der Individualismus und die mögliche Willkür sowie der mangelnde Blick auf das Ganze kritisiert. Egalitären Konzepten wird dagegen Gleichmacherei, Gleichförmigkeit und die Einebnung als notwenig oder natürlich angenommener Ungleichheiten vorgeworfen. Was die Denkmodelle und ihre praktischen Intentionen betrifft, muss man zwei Ebenen voneinander unterscheiden: zum einen die Begründungsebene, auf der es etwa um die Frage geht, warum Freiheit als höchstes Gut, als Grundwert, betrachtet wird. In der Regel wird hier von bestimmten Auffassungen des Menschen (ihrer Gleichheit oder Ungleichheit) bzw. von moralphilosophischen Überlegungen aus argumentiert. Abzuheben davon ist zum anderen die Geltungsebene, auf der jenes Bündel von Fragen verhandelt wird, bei denen es um die mögliche Akzeptanz von politischen Leitorientierungen geht. Wenn man die Begriffe näher betrachtet, tritt bei beiden ihr stark negatorischer Bezug hervor; Freiheit meint vor allem frei sein von Knechtschaft, Unterdrückung und Willkür. Wie und in welcher Art ein freies Leben zu führen ist, lässt sich kaum vorschreiben. Aber auch der Gleichheitsbegriff erschließt sich stärker im Kampf gegen Ungleichheiten, Privilegien sowie Diskriminierungen. Die Frage, wieweit die Gleichheit gehen soll, begleitete den demokratischen Prozess von Anfang an. Mit Inhalt lassen sich beide Kollektivsingulare mit ihrem je universellen Anspruch trotzdem nicht leicht auffüllen. Dennoch kann man unter Einschluss des Gleichheitsgedankens grob klassifizierend drei Varianten des Frei-
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heitsbegriffes unterscheiden: eine republikanische, eine negative und eine egalitäre. Die erste Variante stammt aus der Antike und wird auch heute mit ausdrücklichem Rekurs auf sie vertreten. Sie setzt darauf, dass eine freie Person zu sein heißt, ein Bürger einer freien politischen Gemeinschaft (Polis, Republik) zu sein. Die negative, liberale Variante begreift Freiheit vom Individuum, seinen Interessen und Wünschen her und betont die Abwesenheit von Zwang und äußeren Einflüssen. Die egalitäre Fassung setzt den Akzent auf die Aufhebung von politischen, sozialen oder ökonomischen Ungleichheiten als Bedingung von Freiheit. Jenseits einer scharfen Entgegensetzung von negativer (frei wovon?) und positiver Freiheit (frei wozu?) können so verschiedene Momente in einem Freiheitskonzept ausgemacht und auch die Akteursfrage (Freiheit für wen?) stark gemacht werden. Der Gleichheitsbegriff ist eher strukturell zu gliedern, indem man politische, soziale und ökonomische Gleichheit unterscheidet. Darüber hinaus ist die Art der Gleichheit, ob sie eher formell als bloße Rechtsposition oder als Chancengleichheit oder gar als materiale Gleichheit gefasst wird, zu unterscheiden.
Der antike Diskurs Am Anfang war die Tat, auf die die Worte und Konzepte erst folgten. Aber welche geschichtlichen Aktionen und Konstellationen am Beginn stehen und wie sie gedeutet werden, legt Richtungen fest. Für die europäische Geschichte sind drei Ursprünge von Freiheit und Gleichheit als politische Ideen zentral, für die Athen (1), Rom (2) und Jerusalem (3) als Chiffren stehen. In Athen und Rom wird eine republikanische Auffassung von Freiheit entwickelt, in der die Gleichheit einen unterschiedlichen Stellenwert hat, aber beide Werte sind weder bloß individuell gefasst noch als Selbstzweck. Denn sie sind den Gesetzen der Gemeinwesen, der Polis bzw. der res publica und deren sittlichen Lebensformen untergeordnet. Jerusalem steht für die jüdisch-christliche Tradition, in der die Ideen von Freiheit und Gleichheit durch ihren Bezug auf Irdisches und Göttliches eine universelle Note bekommen. Die geschichtlichen Kontexte und theoretischen Konzepte stehen, wenn man sie wie im Folgenden entlang einiger Einsichten von Hegel und Arendt liest, in spannungsvollen Beziehungen, die einen Treibsatz fur die gesamte europäische Entwicklung bilden. 1) Klassisch wurden die Ideen von Freiheit und Gleichheit bei der Erfindimg der athenischen Demokratie ausgeprägt. Freiheit ist auf das eigene Tun gegründet, auf ein spezifisches »Könnens-Bewußtsein« (Meier 1983), das Wissen und die Erfahrung selbständiger Gestaltung der politischen Ordnimg, zum Beispiel in den Reformen von Solon und Kleisthenes. Symbolisiert wird die Besonderheit der athenischen Ordnung im Stadtgründer Theseus, den der Tragödiendichter Euripides in Die bittflehenden Mütter ein an Freiheit und Gleichheit orientiertes Credo formulieren lässt. Einen Höhepunkt erreicht diese
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Erfahrung in der Zeit des Perikles, in der die Volksversammlung der Souverän ist. Für die Bezeichnung von Freiheit und Gleichheit gab es verschiedene Termini, die erst nach und nach präzisiert wurden. Isonomie, der Ausdruck für Gleichheit, der zugleich dem Begriff der Demokratie vorangeht und in Übersetzungen häufig durch Letzteren substituiert wird, hat ihren Kern in der Isegorie, dem gleichen Recht, in der Volksversammlung zu reden. Freiheit wird in drei verschiedenen Dimensionen gefasst als Autonomie, eine unabhängige und selbstbestimmte Lebensform, als Autarkie im Sinne einer selbständigen, für sich und nicht unter dem Diktat der Notwendigkeit stehenden Lebensform, und als Eleutheria. Letzteres heißt, nicht versklavt zu sein und eine Sache um ihrer selbst Willen zu tun. Antike Theorien reflektieren die praktische Erfindung der Freiheit, ihrer Momente und die athenische Demokratie als Regierungsform kontrovers. Ein Beispiel dafür ist die Verfassungsdebatte bei Herodot (484 - ca. 430 v. u. Z.). In ihr werden von Seiten der Perser Positionen vertreten, die offensichtlich auf griechische Probleme antworten, wobei der in der Debatte unterliegende Otanes sein Plädoyer für die Demokratie in der Aussage münden lässt:»(...) ich wünsche weder zu herrschen noch beherrscht zu werden.« Damit favorisiert er ein deliberatives Politikmodell, in dem die Begegnungen Ebenbürtiger im öffentlichen Raum, wie Arendt formuliert, entscheidend sind (vgl. Arendt, Was ist Politik?, S. 39). Innerhalb des griechischen Raums stehen sich athenische Demokratie und spartanisches Verfassungsmodell als Paradigmen gegenüber. Unabhängig von der realgeschichtlichen Aussagekraft von Plutarchs Biographie des Lykurg, die eine der wenigen Beschreibungen Spartas darstellt, begründete sie den Sparta-Mythos, der ideengeschichtlich bis in die Moderne wirksam war. Rigide Erziehung und Personalauslese, strenge soziale Hierarchie, Gesetzesgehorsam und die durch diese Faktoren erreichte Beständigkeit der Verfassung galten als vorbildlicher Gegensatz zu den zahlreichen Änderungen und Unstetigkeiten der athenischen Demokratie. Diese Unstetigkeit ist Ausdruck des permanenten Ringens um einen Ausgleich der als gleichrangig angesehenen Forderungen nach Freiheit und Gleichheit. Die durch Thukydides überlieferte Rede des Perikles verdeutlicht diese Spannung vor dem impliziten Hintergrund zum spartanischen Gegner im peloponnesischen Krieg. Freiheit ist wesentlich an die politische Ordnung gebunden, und in diesem republikanischen Verständnis ist die Idee der Aktivbürgerschaft enthalten. Politische Freiheit eröffnet Spielräume, aber sie setzt das Engagement der Bürger voraus, denn ohne dieses ist die errungene politische Form nicht zu erhalten. Deshalb wird in der berühmten Totenrede, in der die ersten, im peloponnesischen Krieg gegen Sparta Gefallenen beklagt werden, nur der aktive Bürger als guter Bürger bezeichnet. Der Bereich, auf den Freiheit bezogen wird, ist der politische; Freiheit ist primär politische Gleichberechtigung, gleiche Partizipation am politischen Geschehen in der Volksversammlung, den Gerichten, der Verwaltung. Obwohl die Gleichheit exklusiv auf den Kreis der etwas begüterten männlichen Vollbürger beschränkt war, suchte man sie konsequent zu verwirklichen und zu erhalten (zum Beispiel durch das Scherbengericht, das ermöglichte, zu mächtig gewordene Personen zu verbannen).
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Protagoras stellt mit der Bestimmung des Menschen als dem Maß aller Dinge einen egalitären Grundsatz zur Verteidigung der Demokratie auf. Sein universeller Begriff des Menschen setzt diese als gleich voraus und nimmt einen ethischen Relativismus in Kauf, der daraus resultiert, dass es die Menschen mit ihren sich verändernden Auffassungen sind, die das Maß bilden und nicht eine transzendente Ordnung oder eine ewige Idee des Guten. Piaton dagegen attackiert die Demokratie scharf und plädiert für eine Ordnung, in der die Freiheit gemäßigt und an eine auf natürlicher Ungleichheit beruhende gestufte Gleichheit gebunden ist. Er greift dabei explizit auf Sparta zurück, dessen außerordentlich stabile Verfassung er bewundert. Aristoteles schließlich, ein Denker, der auch im politischen Bereich immer auf das Mittlere zwischen Extremen und Alternativen abzielte (MesotesIdeal), ist ein gemäßigter Verteidiger der athenischen Demokratie, wiewohl er eine andere Verfassungsform, die Politie, favorisiert. Piaton und Aristoteles argumentieren vor dem Hintergrund der Krise der Polis, was die Suche nach dem Maßstab und den Grundlagen politischer Ordnung forciert. Beide kritisieren Auswüchse der Freiheit ebenso, wie sie die Gleichheit differenzieren. Während Piaton scharf zwischen Gleichheit nach der Zahl und nach Verdienst unterscheidet, schwächt Aristoteles die übernommene Unterscheidung ab und weist auf soziale Bedingungen von Gleichheitsvorstellungen ebenso hin, wie er generelle Schwierigkeiten ihrer Umsetzung betont. Beide entwickeln eine Dialektik von Freiheit und Gleichheit, der zufolge beide Werte, wenn sie nicht maßvoll begrenzt werden, jeweils in ihr Gegenteil umschlagen. Aus Freiheit wird Willkür und aus Gleichheit, die bloß der Zahl nach angewandt ist, wird Ungleichheit, weil sie vorausgesetzte Ungleichheiten bestehen lässt bzw. neue schafft. Dass Freiheit und Gleichheit auf Dauer nur in einer sinnvollen Ordnung als ganzer bestehen können, eint beide ebenso sehr wie sie die Gestalt der favorisierten Ordnung unterscheidet. 2) Der Ursprung der Freiheit, der Libertas bei den Römern, ist anderer Natur, denn hier steht die Verteidigung adliger Privilegien gegen das Königtum und damit mögliche Willkür am Beginn. Diese Auseinandersetzung setzt sich im Ständekampf zwischen Patriziern und Plebejern fort und fuhrt zu einem sukzessiven Ausbau und Fixieren von politischen Rechten bis zur Römischen Republik, einer stolzen Adelsrepublik. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem nur bruchstückhaft überlieferten Zwölftafelgesetz zu. Mit diesem Gesetz wird Rechtssicherheit auch für die Plebejer geschaffen, und es ist der Ausgangspunkt für die spätere Fixierung der Gleichheit von Patriziern und Plebejern vor dem Gesetz, vor allem im Privat- und Strafrecht. Freiheit wird in Rom weniger als Idee entwickelt, sondern pragmatisch an konkrete Umstände gebunden, wobei der Ausschluss von Willkür (Licentia) und die Vermeidung von Einschränkungen überwiegen. In der Römischen Republik erreicht dieses Verständnis, wie wir aus späteren Deutungen wissen, einen Höhepunkt. Freiheit ist wiederum auf den politischen Bereich beschränkt, rangiert hier aber deutlich vor der Gleichheit. Statt athenischer Volkssouveränität überwiegt eine Bindung an Sitten und Gesetze. Politisch
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dominieren vermittelnde Ämter (Senat, gewählte Tribunen) mit recht großem Spielraum, deren Inhaber erst nach Ablauf ihrer Zeit hart zur Verantwortung gezogen werden können. Auch hier ist die Freiheit des Einzelnen prinzipiell auf die politische Ordnung bezogen (Liberias in Popolo), erlaubt erst die freie Ordnung die Humanitas, die Bildung des Menschen, eine reflektierte Lebensführung zu entfalten. Voraussetzung dafür ist eine deutliche Unterscheidung von privatem und öffentlichem Bereich, wobei nicht nur ihre sukzessive Kodifizierung gegenüber den Griechen neu ist, sondern vor allem, dass beide Bereiche gleichrangig behandelt werden. Genaueres ist nur aus späteren Texten bekannt, da auch die professionalisierte Beschäftigung mit dem Recht erst nach der Republik einsetzt. In den Institutiones des Gaius, einem Rechtslehrbuch, kann man sich davon ein Bild machen. Insgesamt kennzeichnen die Trennung des privaten und öffentlichen Bereiches sowie die Verbindung von Freiheit und Herrschaft diese eher aristokratische Variante republikanischer Freiheit, in der Gleichheit im Wesentlichen eine vor dem Gesetz ist, die allerdings durch die Orientierung an der res publica, der Macht und dem Wohl Roms ergänzt wird. Bürger ist man nicht qua Menschenrecht, sondern das Bürgerrecht wird erworben, und das schließt die Anerkennung der Ordnung, das heißt der anderen als Bürger, der Gesetze sowie der von Zensoren kontrollierten Sitten und Bräuche, ein. Freiheit ist auf dieser Grundlage auch freimütiges Auftreten und damit ein Ethos, das insbesondere im Suizid von Cato dem Jüngeren, für den das Leben nach dem Ende der Republik keinen Wert mehr hat, symbolisiert ist. Der wichtigste römische Theoretiker der Politik ist Cicero. Nicht ein platonischer Idealstaat, sondern die Römische Republik, ihre Gesetze und Grundlagen sind sein Ideal. Cicero ist von der Stoa beeinflusst, einer geistigen Bewegung, deren Ethik auf Selbstbeherrschung angelegt ist. Politisch leitend für die Stoa ist eine Idee von Vernunft, die auf einem über menschliche Satzungen hinausgehenden (kosmopolitischen) Naturrecht ruht. Auch bei Cicero lässt sich ein naturrechtlicher Ansatz ausmachen, der zwei verschiedene Aspekte hat. Von zentraler Bedeutung ist die Annahme, dass die Menschen durch ihre geistige Natur gleich sind. Davon ausgehend, wird die Möglichkeit gleicher Rechte erklärt. Ergänzt wird dieser Gesichtspunkt dadurch, dass eine Ausbreitung von Ungleichheit ausdrücklich an Gewohnheiten und Einbildungen geknüpft wird. Cicero hebt in diesem Sinne weder auf eine natürliche Gleichheit jenseits der Geistnatur des Menschen noch auf deren unterschiedliche Fähigkeiten ab. Er gibt dem Gleichheitsgedanken einen rechtlichpolitischen Akzent. Dieser politische, auf das Handeln gerichtete Sinn kennzeichnet auch seine Polemik gegen Epikur, der dem sich selbstbeherrschenden Weisen ein unpolitisches Leben im Verborgenen empfohlen hatte. Nach dem Ende der Römischen Republik wendet sich die Diskussion der Freiheit stark nach innen und untersucht prinzipiell-metaphysische Fragen, wie etwa die nach der Willensfreiheit. Der einstige Sklave Epiktet vollzieht diese Wendung, die Ausdruck einer Erfahrung des Umganges des Menschen mit sich ist, besonders eindrucksvoll. Er bestimmt
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Freiheit als innere Freiheit und Unabhängigkeit, als asketische Einschränkung von Begierden und Wünschen mit kritischem Akzent gegen ihre Auflösung in Luxus und Hedonismus. An die mit der Entpolitisierung einhergehende Individualisierung des Verständnisses von Freiheit knüpft dann auch die wirkungsmächtige paulinische Fassung des Christentums an. 3) Ein weiterer Pfad, die jüdisch-christliche Tradition, begann zum Teil zeitlich früher. Freiheit meint in dieser vielschichtigen Strömung zuerst die Befreiung von der Knechtschaft, ihren bedrückenden und korrumpierenden Seiten (Revolution, Exodus). Jahwes freier Entschluss und die kollektive Entscheidung des Volkes zum Bund sind trotz des transzendenten Kontextes in erster Linie geschichtsmächtige Taten. Die Auffassung der Freiheit in der jüdischen Religion bzw. dem Alten Testament ist primär durch den Aspekt der Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft gekennzeichnet. Dabei kreuzten sich die Dimensionen von Befreiung und von göttlicher Gnade, die individuelles und kollektives Vermögen übersteigt. Der jüdische Monotheismus birgt in der Auffassung der Abstammungsgleichheit von Adam bzw. von Noah eine universalistische Vorstellung der Menschheit in sich, die in den Debatten um die Menschenrechte im 17. und 18. Jahrhundert häufiger aufgegriffen wurde. Im Christentum wird Gleichheit dann später explizit als Gleichheit aller vor Gott gefasst. Das Neue Testament akzentuiert nachdrücklich die Würde jedes einzelnen Menschen (Frauen und Männer) und die ethische Dimension der Gleichheit, so etwa in der Bergpredigt oder im Matthäus-Evangelium (25/40). Paulus greift den stoischen Freiheitsgedanken in veränderter Form auf und bezieht ihn auf den Glauben. So nimmt er dieser Idee durch Einbeziehung religiös-emotionalen Empfindens die rationalistische Schärfe und gibt ihr eine qualitativ andere Dimension. Auch das Gleichheitsproblem wird im Horizont des Glaubens wesentlich verändert, wiewohl im frühen Christentum sich hier verschiedene Motive überschneiden. Paulus jedenfalls, der die frühchristliche Bewegung in eine institutionalisierte Phase bringt, stellt sich der Absicht der Korinther, mehr Gleichheit auch auf Erden zu realisieren, durch Akzentuierung des Unterschiedes von weltlicher und himmlischer Macht deutlich entgegen. Am Ende dieses Weges in der Antike steht eine verhältnismäßig unpolitische, ganz auf die Kirche als Institution bezogene Auffassung von Gleichheit und Freiheit, die im berühmten Satz von Cyprian: außerhalb der Kirche gibt es kein Heil, resümiert ist. Augustinus, ein feinsinniger römischer Denker, konvertierte zum Christentum. Er hat dann nicht nur hart mit dem Römischen Reich wie den Staaten überhaupt abgerechnet, sondern eine geschichtsphilosophisch inspirierte Theologie geschaffen. Einige seiner politisch relevanten Gedanken hat er in polemischer Auseinandersetzung mit Cicero entwickelt. Im Buch vom Gottesstaat unterscheidet er die Bürgerschaft auf Erden von der im Himmel, wo Frieden und Gerechtigkeit waltet. Bereits die Übertragung des Bürgerbegriffs auf das himmlische Reich ist bezeichnend und verweist auf seine Bindung an den Gleich-
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heitsgedanken. Nur bei wahrer Gerechtigkeit, die auf Erden unmöglich ist, können alle Bürger sein. Augustinus hat ein Geschichtskonzept, dessen Ziel die Erlösung ist, deshalb polemisiert er auch gegen Kreislaufmodelle (Buch 12, Kap. 21), die wegen der Wiederkehr des stets Gleichen weder echte Erlösung noch richtige Freiheit zulassen. Im Zentrum seines Denkens steht allerdings der innere Umgang des Menschen mit sich, und zwar insbesondere das Problem der Willensfreiheit, das er unter der Voraussetzung eines allmächtigen Gottes und des religiösen Gewissens, das eigenverantwortliche Entscheidungen erlaubt, diskutiert (Buch V, Kap. 9). Damit sind Prämissen geschaffen, von denen ausgehend den griechischen und römischen Ideen eine andere Gedankenwelt, das Reich Gottes, entgegengesetzt werden konnte, und weil dort alle Gläubigen gleich welchen Standes Bürger sein können, wurde die Gleichheit voraussetzend auch der Freiheitsgedanke universalisiert. In pointierter Weise hat Hegel diesen Gesichtspunkt zum Ausdruck gebracht, indem er die Verbindung zwischen Gott und den Menschen im Geistbegriff herausstellte. Die Kehrseite dieser primär auf den religiösen Bereich bezogenen Universalisierung ist, dass Freiheit und Gleichheit in der Substanz entpolitisiert werden. Hannah Arendt akzentuierte dagegen, dass durch das Christentum im Medium religiöser Ideen mit dem Beginnen-Können eine politisch relevante Seite des Freiheitsbegriffes ausgedeutet wurde. Das Textstück verdeutlicht diesen Zusammenhang, der durch antike Auszüge für sich genommen kaum darstellbar ist.
EURIPIDES
Gleiches Recht für Arm und Reich Theseus: Der Zwingherr ist der größte Feind des Staats! Da gilt vor allem kein gemeines Recht, Der eine hat die Macht, nimmt das Gesetz In seine Hand und Gleichheit ist vorbei. Geschriebnes Recht verleiht denselben Rang An Arm und Reich, und der geringre Mann Besiegt den großen mit dem bessern Recht. Wie frei ist doch der Aufruf: »Wer will hier Mit gutem Rate dienen der Stadt?« Wer will, der tut sich hervor, der andre schweigt, Wo gibt's in einem Staate gleichres Recht? (S. 37-39)
Aus: Euripides, Die bittflehenden Mütter (Hiketiden), in: ders., Sämtliche Tragödien und Fragmente, griechisch-deutsch, ins Deutsche übertragen von Ernst Buschor, Bd. 3, München 1972, S. 5 - 9 4 , Vers 426 - 441.
PLUTARCH
Das Vorbild Spartas Die zweite und gewagteste politische Maßnahme Lykurgs ist die Landverteilung. Denn da eine furchtbare Ungleichheit bestand, viele besitzund erwerbslose Menschen dem Staat zur Last fielen und der Reichtum in ganz wenige Hände zusammengeflossen war, so ging er daran, Übermut, Neid, Verbrechen, Schwelgerei und die
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noch bedeutsameren und größeren Gebrechen eines Staates, Reichtum und Armut, auszutreiben. (...) Er ging nun daran, auch den Hausrat aufzuteilen, um jegliche Ungleichheit vollends auszurotten. Als er aber sah, daß die Leute es übel aufnahmen, wenn man ihnen die Sachen geradezu wegnahm, beschritt er einen anderen Weg, um die Habsucht auch auf diesem Gebiet zu bekämpfen. Zuerst setzte er alles Gold- und Silbergeld außer Kurs und ordnete den Gebrauch nur eisernen Geldes an. Diesem gab er bei großem Gewicht und Volumen einen so geringen Wert, daß ein Tauschwert von zehn Minen einen großen Aufbewahrungsraum im Hause und zur Beförderung einen zweispännigen Wagen erforderte. Nachdem dies durchgeführt war, verschwanden viele Verbrechen aus Lakedaimon. (...) Um aber der Üppigkeit noch mehr zu Leibe zu gehen und das Streben nach Reichtum auszurotten, tat er seinen dritten und besten politischen Schachzug: die Einführung der Syssitien, daß die Bürger also zusammenkommen und miteinander die gemeinsamen, vorgeschriebenen Speisen zu sich nehmen mußten, statt zu Hause zu speisen, (...). Schon das war etwas großes, noch bedeutungsvoller aber die Tatsache, daß er wie Theophrast sagt, den Reichtum wertlos, gleichsam zu einem Nichts machte durch die Gemeinschaft der Mahlzeiten und die Einfachheit der Kost. (S. 134-137) Die Zucht erstreckte sich bis auf die Erwachsenen. Keinem stand es frei zu leben, wie er wollte, sondern sie lebten in der Stadt wie in einem Feldlager nach strengen Vorschriften für all ihr Verhalten und ihre Beschäftigung in der Öffentlichkeit, und überhaupt glaubten sie nicht sich, sondern dem Vaterlande zu gehören. (S. 156) Aus: Plutarchus, Lykurgos, in: ders., Große Griechen und Römer, Bd. I, Zürich und Stuttgart 1954, S. 125-167, Kap. 8 10 und 24.
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Thukydides Gefallenenrede des Perikles Die Verfassung, nach der wir leben, vergleicht sich mit keiner der fremden; viel eher sind wir für sonst jemand ein Vorbild als Nachahmer anderer. Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft. Nach dem Gesetz haben in den Streitigkeiten der Bürger alle ihr gleiches Teil, der Geltung nach aber hat im öffentlichen Wesen den Vorzug, wer sich irgendwie Ansehen erworben hat, nicht nach irgendeiner Zugehörigkeit, sondern nach seinem Verdienst; und ebenso wird keiner aus Armut, wenn er für die Stadt etwas leisten könnte, durch die Unscheinbarkeit seines Namens verhindert. Sondern frei leben wir miteinander im Staat und im gegenseitigen Verdächtigen des alltäglichen Treibens, ohne dem lieben Nachbarn zu grollen, wenn er einmal seiner Laune lebt, und ohne jenes Ärgernis zu nehmen, das zwar keine Strafe, aber doch kränkend anzusehen ist. Bei soviel Nachsicht im Umgang von Mensch zu Mensch erlauben wir uns doch im Staat, schon aus Furcht, keine Rechtsverletzung, im Gehorsam gegen die jährlichen Beamten und gegen die Gesetze, vornehmlich die, welche zu Nutz und Frommen der Verfolgten bestehen, und gegen die ungeschriebenen, die nach allgemeinem Urteil Schande bringen. (S. 237 ff.) Wir lieben das Schöne und bleiben schlicht, wir lieben den Geist und werden nicht schlaff. Reichtum dient bei uns der wirksamen Tat, nicht dem prahlenden Wort, und Armut ist einzugestehen keinem schimpflich, ihr nicht tätig zu entgehen schimpflicher. Wir vereinigen uns in die Sorge um unser Haus zugleich und unsere Stadt, und den verschiedenen Tätigkeiten zugewandt, ist doch auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil. Denn einzig bei uns heißt einer, der daran gar keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger,
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sondern ein schlechter, und nur wir entscheiden in den Staatsgeschäften selber oder denken sie doch richtig durch. Denn wir sehen nicht im Wort eine Gefahr fürs Tun, wohl aber darin, sich nicht durch Reden zuerst zu belehren, ehe man zur nötigen Tat schreitet. (S. 241) Aus: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, griechisch-deutsch, übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterung versehen von Georg Peter Landmann, München 1993, Buch Π, Kap. 37 und 40.
HERODOT Verfassungsdebatte Otanes: (...) Wenn dagegen die Menge herrscht, hat dieses Regiment zunächst den allerschönsten Namen: Gleichheit vor dem Gesetz. Außerdem aber ist sie von allen den Fehlern frei, die die Alleinherrschaft aufweist. Sie besetzt die Ämter durch das Los, die Verwalter der Ämter sind verantwortlich; alle Beschlüsse werden der Gesamtheit vorgelegt. So meine ich also: Wir schaffen die Alleinherrschaft ab und geben der Menge die Macht; denn auf der Masse des Volkes ruht der ganze Staat! (S. 437) Als Otanes sah, daß sein Vorschlag, den Persern die Demokratie zu schenken, keinen Anklang fand, sprach er zu den Versammelten: »Männer, Genossen! So ist denn entschieden, daß einer von uns König werden soll. (...) Ich verzichte auf eine Bewerbung; ich will weder herrschen noch dienen. Ich verzichte nur unter der Bedingung auf das Amt, daß ich keinem von euch untertänig werde, weder ich selbst noch meine Nachkommen.« (S. 441) Aus: Herodot, Historien, griechischdeutsch, hg. von Josef Feix, 2 Bände,
München/Zürich 1995, Buch III, Kap. 80 und 83.
PROTAGORAS Kulturentstehung und gleiche Verteilung der politischen Fähigkeiten Soll ich nun auch Recht und Scham ebenso unter den Menschen aufstellen, oder soll ich sie unter Alle verteilen? Unter alle, sagte Zeus, und alle sollen Teil daran haben; denn es könnten keine Staaten bestehen, wenn auch hieran nur wenige Anteil hätten, wie an anderen Künsten. (...) Wenn sie aber zur Beratung über die bürgerliche Tugend gehen, wo alles auf Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt, so dulden sie mit Recht einen jeden, weil es jedem gebührt, an dieser Tugend Anteil zu haben, oder es könnte keine Staaten geben. (Stephanus 322 f., S. 63). Aus: Piaton, Protagoras, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 1, Hamburg 1957, S. 4 9 96.
PLATON Kritik an der Freiheit in der Demokratie Und die Demokratie, löst nicht auch diese sich auf durch die Unersättlichkeit in dem, was sie sich als ihr Gut vorsetzt? - Was meinst du aber, daß sie sich vorsetze? - Die Freiheit, antwortete ich. Denn von dieser wirst du immer in einer demokratischen Stadt hören, daß sie das Vortrefflichste sei, und daß deshalb auch nur in einer solchen leben dürfe, wer von Natur frei sei (...) Ist es nun etwa nicht, was ich eben sagen wollte, die Unersättlichkeit hierin mit Vernachlässigung alles übrigen, was auch diese Verfassung umge-
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staltet und sie dahin bringt, der Tyrannei zu bedürfen? (...) Das äußerste aber, ο Freund, was an Größe der Freiheit in solchem Staat zum Vorschein kommt, ist wohl dieses, wenn die gekauften Männer und Frauen nicht minder frei sind als ihre Käufer. (Stephanus 562-563, S. 261 f.) Aus: Piaton, Politeia, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, Hamburg 1958, S. 67-310.
PLATON Zwei Arten der Gleichheit Zuerst nun sollen alle Männer aus der begütertsten Klasse ihre Stimme zu geben genötigt sein; (...) [und so bis zur vierten Klasse.] (...) Nachdem sie nun aus jeder Vermögensklasse 180 ausgewählt haben, werden die Hälfte derselben durch das Los ausgeschieden und der Prüfung unterworfen; diese seien dann die Ratsmänner für dieses Jahr. Eine so veranstaltete Wahl dürfte wohl den Mittelweg zwischen einer allein- und einer volksherrschaftlichen Verfassimg einhalten, welche Mitte die Verfassung stets bewahren muß; denn Sklaven und Herren möchten sich wohl nie befreunden und auch nicht Wackere und Untüchtige, denen man gleiche Ehren verkündigt. Wird doch für Ungleiche das Gleiche, wenn es das Maß nicht trifft, zum Ungleichen und durch beides werden häufige Aufstände in den Staaten erzeugt. Zwar wird nämlich sehr richtig und angemessen eine alte, wahre Rede angeführt: daß Gleichheit Freundschaft erzeuge, aber welche Gleichheit es ist, die das zu bewirken vermag, das macht uns, weil sie nicht sehr deutlich ist, sehr viel Schwierigkeit. Denn da es zwei Gleichheiten gibt (...), so ist jeder Staat und Gesetzgeber vermögend, die eine derselben, die auf Maß, Gewicht und Zahl begründete, bei den Ehrungen einzuführen, indem er bei ihrer
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Verteilung das Los entscheiden läßt; aber die wahrhafteste und beste Gleichheit vermag nicht mehr mit Leichtigkeit jeder zu erkennen. Denn sie ist die Scheidung des Zeus, und den Menschen steht sie immer nur in geringem Maß zu Gebot, alles aber, was davon etwa den Staaten oder auch einzelnen zu Gebote steht, bewirkt alles Gute. Dem Überlegenen nämlich teilt sie mehr, dem Schwächeren weniger zu und gibt so jedem der beiden Angemessenes im Verhältnis zu ihrer Natur. (Buch 4,756c - 757b, S. 131 f.) Aus: Platon, Gesetze, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6, Hamburg 1959.
ARISTOTELES Arithmetische und geometrische Gleichheit Das Gerechte setzt also mindestens vier Elemente voraus: die Menschen, für die es gerecht ist, sind zwei, und die Sachen, auf die es sich bezieht, sind ebenfalls zwei. Und zwar ist die Gleichheit dieselbe, für die und in was sie vorhanden ist. Wie sich die Sachen verhalten, so werden sich auch die Menschen verhalten. Sind diese nicht gleich, so werden sie auch nicht Gleiches erhalten. Daher kommen die Streitigkeiten und Prozesse, daß entweder Gleiche Ungleiches oder Ungleiche Gleiches haben und zugeteilt erhalten. Dies ergibt sich auch aus dem Moment der Würdigkeit. Denn alle stimmen darin überein, daß das Gerechte im Zuteilen auf einer bestimmten Würdigkeit beruhen müsse. Doch diese Würdigkeit gilt nicht für alle als dieselbe, sondern die Demokraten sehen sie in der Freiheit, die Oligarchen im Reichtum, andere in der Adligkeit, und die Aristokraten in der Tugend. Das Gerechte ist also etwas Proportionales. (...) Diese Proportionalität nennen die Mathematiker die geometrische. In ihr verhält sich das
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Ganze zum Ganzen wie das Glied zum Glied. Diese Proportionalität ist keine kontinuierliche. Denn die Person und die Sache sind nicht der Zahl nach eines. (...) Das Gerechte im Verkehr ist zwar auch ein Gleiches und das Ungerechte ein Ungleiches, doch nicht nach jener genannten, sondern nach der arithmetischen Proportionalität. Denn es macht nichts aus, ob ein anständiger Mensch einen schlechten beraubt oder umgekehrt, und ob ein Anständiger Ehebruch begeht oder ein Schlechter. Sondern das Gesetz betrachtet nur den Unterschied des angerichteten Schadens und behandelt die Personen als gleiche und fragt nur, ob der eine Unrecht tat, der andere Unrecht litt, der eine schädigte, der andere geschädigt wurde. Das Ungerechte ist da in solcher Weise ein Ungleiches, und der Richter versucht es abzugleichen. Wenn nämlich der eine geschlagen wurde, der andere geschlagen hat, der eine tötet und der andere getötet wird, so sind Leiden und Tun ungleich verteilt. Der Richter versucht durch die Strafe abzugleichen, indem er den Gewinn wegnimmt. (Bekker 1131al81132al0, S. 159-161) Aus: Aristoteles, Nikomachische Ethik, hg. von Olof Gigon, München 1984, Buch 5, Kap. 6 und 7.
ARISTOTELES Freiheit und Gleichheit in der Demokratie Grundlage der demokratischen Staatsform ist die Freiheit; man pflegt nämlich zu behaupten, daß die Menschen nur in dieser Staatsform an der Freiheit teilhaben, und erklärt, daß danach jeder die Demokratie anstrebe. Zur Freiheit gehört aber erstens, daß man abwechselnd regiert und regiert wird. Denn die demokratische Gerechtigkeit besteht darin, daß man nicht der Würde, sondern der Zahl nach die Gleichheit
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walten läßt; wo diese Gerechtigkeit herrscht, da muß die Menge Herr sein, und was die Mehrzahl billigt, das muß das Gültige und das Gerechte sein. Man sagt nämlich, es sei gerecht, daß jeder Bürger das Gleiche habe. So sind denn in den Demokratien die Armen mächtiger als die Reichen. Denn sie sind zahlreicher, und maßgebend ist die Meinung der Mehrheit. Dies ist also das eine Zeichen der Demokratie, das alle Demokraten als Wesenszug dieser Verfassung angeben. Ein anderes ist, daß man leben kann, wie man will. (Bekker 1317a39-1317bl0, S. 203) Aus: Aristoteles, Politik, hg. von Olof Gigon, München 1981, Buch VI, Kap. 2.
ARISTOTELES Gleichheit als Ursache des Bürgerkrieges Überall entsteht die Revolution durch die Ungleichheit, jedenfalls dort, wo sich die Ungleichheit nicht auf eine sinnvolle Relation stützen kann (...) Ganz allgemein gesagt, empört man sich, weil man nach dem Gleichen strebt. Dieses Gleiche ist aber doppelter Natur, der Zahl nach oder der Würdigkeit nach: der Zahl nach meine ich das, was an Menge oder Größe eines und dasselbe ist, der Würdigkeit nach das, was dem Verhältnis nach dasselbe ist (...) Daß ein Staat aber schlechthin und vollständig nach einer der beiden Gleichheiten geordnet werde, ist schlecht. Das zeigt sich aus den Tatsachen. Denn keine derartige Verfassung hat Bestand. (...) Man muß also teils die arithmetische Gleichheit verwenden, teils diejenige der Würdigkeit nach. (Bekker 1301b27-1302a8, S. 167 f.) Aber mag es auch noch so schwierig sein, das Richtige in bezug auf die Gleichheit und Gerechtigkeit zu finden, es ist immer noch leichter, als jene zu überreden, die in der Lage sind,
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Gewalt anzuwenden. Denn es sind immer die Schwächeren, die die Gleichheit und Gerechtigkeit anstreben, die Stärkeren aber kümmern sich nicht darum. (Bekker 1318b2-6, S. 206)
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noch die Bande, die Frauen und Kinder knüpfen, und die Liebe zum Boden, auf dem man erst in langer Zeit heimisch wird, sie in der Gemeinschaft hätten aufgehen lassen? Der Staat, der noch nicht herangereift war, wäre durch Zwietracht auseinandergebrochen. Doch hat ruhiges Aus: Aristoteles, Politik, hg. von Olof GiMaßhalten in der Herrschaft ihn umhegt und gon, München 1981, Buch V Kap. 1, und ihm Nahrung gegeben und es so dahin gebracht, Buch VI, Kap. 3. daß er die Segnungen der Freiheit mit schon herangereiften Kräften ertragen konnte. Den Ursprung der Freiheit aber sollte man mehr darin sehen, daß die Amtsgewalt der Konsuln immer LlVIUS auf ein Jahr beschränkt wurde, als daß die Der Ursprung der Freiheit liegt in der Macht, die die Könige gehabt hatten, irgendwie Republikgründung beschnitten worden wäre. Alle Rechte, alle Insignien behielten die ersten Konsuln bei. Man Im folgenden will ich nun die Taten des freien hütete sich nur davor, daß beide die Rutenbündel römischen Volkes im Frieden und im Krieg führten und so der Schrecken verdoppelt schien. behandeln, seine Jahr um Jahr wechselnden Brutus führte die Rutenbündel als erster im EinBeamten sowie die Herrschaft der Gesetze, die vernehmen mit seinem Amtsgenossen. Genauso wirksamer war als die von Menschen. Daß diese leidenschaftlich, wie er früher für die Freiheit Freiheit so beglückend empfunden wurde, dafür gekämpft hatte, suchte er sie jetzt zu schützen. hatte die Selbstherrlichkeit des letzten Königs Zuallererst nahm er dem Volk, das über die neue gesorgt. Denn die früheren Könige haben so Freiheit eifersüchtig wachte, den Eid ab, keinen regiert, daß sie mit vollem Recht alle der Reihe König mehr in Rom zu dulden - es sollte nicht nach als Gründer jedenfalls der Stadtteile ange- später einmal durch Bitten oder Geschenke führt werden, die sie selbst als neue Wohnquar- eines Königs umgestimmt werden können. tiere für die von ihnen vermehrte Bevölkerung (S. 117 f.) hinzufügten. Auch unterliegt es keinem Zweifel, daß derselbe Brutus, der durch die Vertreibung Aus: Titus Livius, Römische Geschichte, des Königs Superbus so viel Ruhm verdient hat, München 1991, Buch 2, Kap. 1. den größten Schaden für den Staat damit angerichtet hätte, wenn er aus Verlangen nach einer Freiheit, für die die Zeit noch nicht reif war, einem der früheren Könige die Herrschaft entrissen hätte. Denn was wäre geschehen, wenn CICERO jener Haufen von Hirten und Hergelaufenen, der Die natürliche Gleichheit der Menschen bei den eigenen Völkern davongelaufen war und unter dem Schutz eines unverletzlichen HeiligDenn nichts ist einem anderen so ähnlich, so tums Freiheit oder jedenfalls Straflosigkeit gleich, wie wir selbst es alle untereinander sind. erlangt hatte, ohne Furcht vor einem König Wenn nun die Abartigkeit der Lebensgewohndurch wilde Reden von Tribunen aufgehetzt heiten und die Nichtigkeit der Meinungen die worden wäre und in der fremden Stadt mit den schwachen Seelen nicht vom rechten Weg Patriziern zu kämpfen angefangen hätte, bevor abbrächten und in eine Richtung drängten, in die
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sie sie schon lange zu lenken begannen, dann wäre niemand sich selbst so ähnlich, wie jeder einzelne jedem anderen. Deshalb gilt jede beliebige Definition des Menschen für alle gemeinsam. (S. 35) Wenn aber die Menschen in Übereinstimmung mit der Natur auch zu der Überzeugung kämen, daß ihnen - wie der Dichter sagt - nichts Menschliches fremd ist, dann würde Recht von allen gleichermaßen geachtet. Denn wem die Natur Vernunft gab, dem gab sie ebenso auch die richtige Vernunft; also gab sie ihm auch das Gesetz, das dierichtigeVernunft auf dem Gebiet des Befehlens und Verbietens ist; wenn das Gesetz, dann auch das Recht. Und alle besitzen die Vernunft: demnach ist allen das Recht gegeben. (S. 39) Aus: Marcus Tullius Cicero, De legibus Über die Gesetze, München/Zürich 1994, Buch I, Kap. 29 und 33.
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man dürfe wegen der Ausartung eines ungezügelten Volkes nicht die ganze Form des freien Volkes zurückweisen: es gäbe nichts Unveränderlicheres, nichts Festeres als ein Volk, das einträchtig sei und alles auf seine Unversehrtheit und seine Freiheit bezöge. (...). Deshalb: da das Gesetz das Band bürgerlicher Gemeinschaft ist, Recht aber die Gleichheit des Gesetzes, mit welchem Rechte kann die Gemeinschaft der Bürger behauptet werden, wo die Bedingung der Bürger nicht gleich ist? Wenn man nämlich die Vermögen gleichzumachen nicht gewillt ist, wenn die Begabungen aller nicht gleich sein können, müssen sicherlich wenigstens die Rechte derer unter sich gleich sein, die Bürger in demselben Gemeinwesen sind. Was ist denn der Staat, wenn nicht die Rechtsgemeinschaft der Bürger. (S. 143 -145) Aus: Marcus Tullius Cicero, De re publica/Vom Gemeinwesen, lat.-dt., hg. und übersetzt von Karl Büchner, Stuttgart 1979, Buch I, Kap. 31 (47), und Kap. 32 (48 f.).
CICERO Das republikanische Ideal der Freiheit EPIKTET Und so beschaffen ist ein jedes Gemeinwesen, wie das Wesen oder der Wille dessen, der es lenkt. Deshalb hat in keinem anderen Staate als in dem, in welchem die Macht des Volkes die höchste ist, die Freiheit eine Wohnstatt; im Vergleich mit dieser kann sicher nichts angenehmer sein, und wenn sie nicht gleich ist, ist es auch nicht Freiheit. (S. 141) Wenn aber die Völker ihr Recht festhielten, sagen sie, gäbe es nichts Vortrefflicheres, Freiheitlicheres, Glücklicheres, da sie ja die Herren der Gesetze seien, Herren der Gerichte, über Krieg, Frieden, Bündnisse, das Leben eines jeden, die Geldmittel. Dies allein, meinen sie, werde zu Recht ein Gemeinwesen, das heißt eine Sache des Volkes genannt. (...) Sie sagen aber,
Individuelle Freiheit Frei ist der Mensch, der lebt, wie er es will, der weder zu etwas zu zwingen noch an etwas zu hindern ist, dem man keine Gewalt antun kann, dessen Wollen nicht zu hemmen ist, dessen Begehren sein Ziel erreicht, dessen Ablehnung nicht in ihr Gegenteil umschlägt. (S. 233) Die wahre Freiheit wird nämlich nicht durch Befriedigung aller Wünsche erreicht, sondern durch Ausrottung der Begierde. (S. 289) Aus: Epiktet, Lehrgespräche, in: ders., Ausgewählte Schriften, griechisch-deutsch, München/Zürich 1994, S. 72-369.
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PAULUS Freiheit und Gleichheit
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Aus: Die Briefe des Apostel Paulus, in: Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes, 9. Aufl., Freiburg i. Br. 1965, S. 157-241.
So seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz gegenüber durch den Leib Christi gestorben, auf daß ihr nun einem andern zu eigen werdet, nämlich dem, der von den Toten auferweckt wurde, HANNAH ARENDT damit wir für Gott Frucht tragen. Denn solange wir noch im Fleische lebten, wirkten die durch Die Freiheit des Neuanfangs das Gesetz erregten sündhaften Leidenschaften in unsern Gliedern, so daß wir Frucht brachten In der Civitas Dei nämlich ist Freiheit für Augusfür den Tod. Jetzt aber sind wir vom Gesetz frei tinus nicht eine innere Verfassung des Mengeworden dadurch, daß wir dem starben, worin schen, sondern ein Zeichen für die Art und Weiwir gefangengehalten wurden, so daß wir nun im se, in der menschliche Existenz in der Welt neuen Wesen des Geistes und nicht mehr im alten vorkommt, und er begründet die Freiheit damit, Wesen des Buchstabens dienen. (Römer 7,4-6) daß der Mensch selbst in der Welt ein Anfang Zur Freiheit hat Christus uns befreit; so steht sei, ein »initium«. Dieses Anfang-Sein betätigt denn fest und laßt euch nicht wieder in das Joch sich in der menschlichen Existenz, insofern der Knechtschaft spannen. Seht, ich, Paulus, jeder Mensch wieder durch Geburt als etwas je sage euch: Wenn ihr euch beschneiden laßt, wird ganz und gar Neues in die Welt kommt, die vor Christus euch nichts nützen. Ich versichere noch ihm war und nach ihm sein wird. Weil er ein einmal jedem Menschen, der sich beschneiden Anfang ist, meint Augustinus, kann der Mensch läßt: er ist verpflichtet, das ganze Gesetz zu hal- etwas Neues anfangen, also frei sein; und damit ten. Geschieden seid ihr von Christus, die ihr es so etwas wie Anfangen in der Welt überhaupt durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der gebe, habe Gott den Menschen erschaffen: Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir erwar- »[Initium] ... ut esset, creatus est homo, ante ten im Geiste auf Grund des Glaubens die Hoff- quem nullus fuit.« (S. 220) nung der Gerechtigkeit. In Christus Jesus hat In ihr kommt ein ganz außerordentliches Vernämlich weder die Beschneidung noch das ständnis für Freiheit und die Macht, die menschUnbeschnittensein irgendwelche Kraft, sondern licher Freiheit innewohnt, zum Ausdruck, aber der Glaube, der durch die Liebe wirksam ist. die menschliche Fähigkeit, die dieser Macht entspricht und in den Worten des Evangeliums (Galater 5,1 - 6 ) In dem Stande, in dem er berufen wurde, imstande ist, Berge zu versetzen, ist nicht der darin soll ein jeder bleiben. Bist du als Sklave Wille sondern der Glaube. (...) Ich möchte nun berufen worden? Laß dich's nicht kümmern. behaupten, daß, wenn esrichtigist, daß Handeln Aber auch, wenn du frei werden kannst, bleibe wesentlich Anfangen ist, diese Wunderkräftigerst recht dabei: Ist doch der im Herrn berufene keit ebenfalls zu seinem Wesen gehört. (S. 221) Sklave ein Freigelassener des Herrn; ebenso ist Aus: Hannah Arendt, Freiheit und Politik, der als Freigeborener Berufene ein Sklave in: dies., Zwischen Vergangenheit und Christi. Ihr seid teuer erkauft; werdet keine Zukunft, München 1994, S. 201 -226. Menschenknechte! Brüder, jeder bleibe vor Gott in dem Stande, in dem er berufen wurde. (1 Korinther, 7,20-24)
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Der neuzeitliche Diskurs Die Basis für die Debatten um Freiheit und Gleichheit im 17. und 18. Jahrhundert sind Naturrechtskonzepte, von denen aus die neue Idee subjektiver Rechte, die jedem Individuum zustehen, entwickelt wird. Kritische Potenz erwächst auch aus dem postulierten Widerstandsrecht, das bei Verletzung natürlicher Rechte aktuell wird. Die Begründungen für Freiheit bzw. Gleichheit sind Annahmen über die menschliche Natur, die vom konsequenten egoistischen Nutzenmaximierer bei Thomas Hobbes bis zu einer ursprünglich guten Natur des Menschen bei Jean-Jacques Rousseau reichen. Ausgehend von diesen Prämissen, wird die Möglichkeit und Notwendigkeit von Freiheit und Gleichheit in der Gesellschaft diskutiert. Zwei Grundtendenzen überschneiden sich dabei: Zum einen werden die Begriffe Freiheit und Gleichheit nicht nur politisch aufgeladen; aus den Freiheiten bzw. Gleichheit in konkreten Beziehungen werden sukzessive die Freiheit und die Gleichheit. Zum anderen kommt es als Kehrseite zur Dekontextualisierung der Begriffe. Zum Ausdruck kommen diese Trends in Debatten um Menschen- und Bürgerrechtskataloge (vgl. 3. Abschnitt: Kosmopolitismus und Menschenrechte). Im Folgenden werden Positionen aus der englischen, amerikanischen und französischen Debatte markiert. Denn in dieser Abfolge ist die Idee einer Charta der Rechte, die Freiheit und Gleichheit vereint, entstanden und zunehmend in ihrer konstitutionellen Bedeutung erörtert worden. Ergänzen in England die Bürgerrechtsdokumente die ungeschriebene Verfassung, so setzt sich Amerika vom englischen Vorbild ab und schafft den Konstitutionalismus mit einer exemplarischen Verfassungsdiskussion. Während die amerikanische Verfassung nach einer anschließenden Debatte um einen Grundrechtskatalog ergänzt wird, beginnt die Französische Revolution mit einer prinzipiellen Menschenrechtserklärung, aus der die Verfassung gleichsam deduziert werden soll. In revolutionären Zeiten, in denen die Verfassungen und Deklarationen debattiert wurden, kamen zugespitzt liberale, republikanische und egalitäre Positionen zum Tragen, wandelte sich die ursprüngliche Forderungstrias von Freiheit, Sicherheit und Eigentum zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ein phänomenaler und erklärungsbedürftiger Vorgang. Der Freiheitsgedanke in England wird oft auf die Magna Charta (1225), eine Vereinbarung von Baronen mit dem König Johann ohne Land, zurückgeführt. Geschichtlich ist dies problematisch, und es gibt einen Streit, ob diese Charta ein Palladium der Freiheit darstellt oder ein feudales Stabilimentum (vgl. Demetrios 1984). Die Deutung als Palladium der Freiheit hebt darauf ab, dass dem Individuum hier bestimmte, insbesondere bürgerliche Rechte zugestanden wurden. Andere bezweifeln, dass Freiheitsrechte von Individuen Gegenstand waren, vielmehr ging es ihrer Meinung nach um soziale Gruppenrechte, nämlich die der Barone. Für die Ideengeschichte ist wichtig, dass Freiheit und Gleichheit in England lange Zeit vor allem mit Bezug auf die Magna Charta diskutiert und interpretiert wurden. Als Substanz jenseits der Kontroverse erweist sich der Gedanke der Charta selbst
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und ihre pragmatische Formulierung. An beide Seiten konnte stets angeknüpft werden, und zwar bis zur Habeas Corpus Akte (1679) und der Bill of Rights (1689), die nach der Englischen Revolution und dem Bürgerkrieg bestimmte bürgerliche und politische Rechte fixierten, freilich ohne Bruch mit den ständischen Prinzipen der Gesellschaft. Gewährung und Fixierung von Rechten wie Freiheiten lassen sich mit Rekurs auf eine ursprüngliche Charta nicht nur kumulativ fortsetzen, ihre Bedeutung steigt dabei. Edward Coke, ein berühmter Anwalt, formulierte 1628: »Die Magna Charta ist ein Gefahrte, der keine Ausnahme duldet (...). Wenn wir dies zugestehen, dann errichten wir stillschweigend eine souveräne Macht über all diesen Gesetzen.« (Vgl. Goldie 1985, S. 302) In dieser Tradition ist der englische Freiheitsbegriff hauptsächlich als negativer konzipiert und zielt wesentlich auf Rechtsgleichheit ab: auf die Freiheiten des englischen Mannes, die lange in der politischen Sprache dominieren. Dieses Verständnis wird in den Debatten um Revolution und Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert verändert und radikalisiert. Das Spektrum von Positionen in der Debatte lässt sich vor allem durch John Milton, Thomas Hobbes, James Harrington und Gerrard Winstanley markieren; John Locke fasst dann in postrevolutionärer Zeit die Ergebnisse nüchtern zusammen. John Milton, Dichter und politischer Schriftsteller, plädiert gegenüber dem feudalabsolutistischen Königtum für eine republikanische Ordnung und legt den Akzent auf die Freiheit. Bei ihm sind Protestantismus und der Freiheits- und Gleichheitsgedanke eng miteinander verbunden. Die Freiheiten ruhen auf der Gewissensfreiheit, und aus der individuellen Beziehung zu Gott erwächst die kritische Einstellung zu religiösen und staatlichen Hierarchien. Miltons politisches Ziel ist eine freie Republik ohne weltliche und geistliche Lords. Mit Rekurs auf den antiken Republikanismus setzt er ebenso auf Volk und Bürgeraktivität, wie er starke ökonomische und soziale Ungleichheiten ausschließt. Thomas Hobbes hat ein radikales Konzept; Freiheit ist für ihn nur möglich, wenn sich die per se egoistischen Individuen einer starken politischen Macht unterwerfen. Dazu müssen die als Nutzenmaximierer betrachteten Menschen Teile ihrer natürlichen Freiheit aufgeben und in einem Gesellschaftsvertrag die herausgehobene Autorität des Staates anerkennen. Im Gegenzug sichert der Souverän die gesellschaftliche Grundordnung. In diesem Konzept werden Freiheit und Gleichheit vermittels der Vertragsidee durchgehend dekontextualisiert, und der teleologisch-christliche Rahmen des Naturrechts wird verlassen. Sowohl proabsolutistische Positionen, etwa in der Verteidigung des starken Staates, als auch liberale Überlegungen, wie das radikale Ausgehen vom Individuum und die prinzipielle Achtung staatsbürgerlicher Rechte und damit der negative Freiheitsbegriff stecken in diesem Konzept. Hobbes weist auf den limitierten Charakter gesellschaftlicher Freiheit hin. Die Unterwerfung unter den Souverän ist eine Abgabe natürlicher Freiheiten, sie macht die Individuen zu gleichen Bürgern. Zugleich gilt der Gesellschaftsvertrag nur so lange, wie ihn beide Seiten einhalten, wie also auch der Souverän den Schutz gewährt. Ein an die Antike anschließender Republikanismus ist kennzeichnend für die Position
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Harringtons; seine politische Ordnungsidee akzentuiert eine bestimmte Gleichheit des Eigentums (vor allem Landeigentum) als Bedingung von Freiheit. Dabei kommt er über den Zusammenhang von Ökonomie und Politik zu den sozio-moralischen Prinzipien, die eine gehaltvolle Ordnung stabilisieren. Für Harrington bedingen politische Freiheit und Gleichheit einander und können nur in einer differenzierten Struktur gesichert werden. Von daher kritisiert er Hobbes' Abstoßung von antiken Traditionen einesteils implizit, weil er an die Stelle der sozialen Natur des Menschen dessen Individualismus setzt. Anderenteils moniert er die Preisgabe von Gesetzesherrschaft und Republik zu Gunsten eines mit unumschränkter Gewalt ausgestatteten Souveräns. Den Diskurs sprengt Gerrard Winstanley durch seine egalitaristische Kritik am Privateigentum auf. Mit Rekurs auf das Alte Testament und auch die Magna Charta fordert er gleiche Freiheiten für alle, das heißt auch Nutzung der gemeinsamen Erde durch alle, ohne Ansehen der Person. Der praktische Versuch kollektiver Aneignung von Gemeindeland brach sich am Recht auf Privateigentum und endete im Gefängnis. Als postrevolutionärer Denker, der die Folgen und Ergebnisse der Revolution, einschließlich der Bill of Rights (1689), reflektiert, begreift sich John Locke. Er tritt für das staatliche Monopol physischer Gewalt in einem gewaltenteiligen politischen System ein und erscheint als bürgerlicher Liberaler schlechthin, da er von naturrechtlichen, mit christlich-teleologischen Elementen versetzten Prämissen aus das Recht auf Freiheit, Eigentum und Gleichheit betont und für Gesetzesherrschaft und einen minimalen Staat plädiert. Innerhalb der damit gegebenen Grenzen ist politische Freiheit möglich. Wiewohl alle ursprünglich gleich sind und das Eigentum an ihrer Person haben, führt die Entwicklung im Gesellschaftszustand auf der Grundlage des durch Arbeit Angeeigneten zu starker Differenzierung. Auch wenn hier ein gemäßigter Individualismus vertreten wird, sind Lockes und Hobbes' Konzeption negativer Freiheit nicht zu Unrecht als ein »Besitzindividualismus« bezeichnet worden, der darauf abzielt, zuallererst das Eigentum und die Rechte nur der bürgerlichen Schichten zu schützen (vgl. Macpherson 1967). Für den skizzierten Denkraum gilt: Alle Autoren setzen auf die Sicherung und Erweiterung der Freiheit. Sie nehmen dabei divergierende Verhältnisbestimmungen von natürlicher und gesellschaftlicher Freiheit und Gleichheit vor. Annahmen über die Natur geben die Legitimationsfolie ab, auf der die Ideen ausgeführt werden. Im Verlauf der Debatten beginnt die Umstellung von den verbrieften Freiheiten zum Kollektivsingular der Freiheit. Die Umstellung erfolgt allerdings nur langsam - so ist der Gedanke absoluter unveräußerlicher individueller Rechte erst 1750 durch den Rechtsgelehrten William Blackstone in seinen Kommentaren zur englischen Verfassung gefasst worden (Vgl. Blackstone 1966, Buch 1, Kap. I, S. 117 ff.).
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Die amerikanische Debatte Der pragmatische Beginn des amerikanischen Weges zur Unabhängigkeit und zur konstitutionellen Republik wird durch zwei Forderungen markiert. Die eine lautet »no taxation without representation« und die andere klagt die Freiheiten der Engländer für die Kolonien ein. Weil beides von der englischen Krone nur unzureichend gewährt wird, entsteht die Unabhängigkeitsbewegung, die auf den politischen Traditionen in den Städten und Gemeinden ruht (Revolution). In Virginia werden 1776 von naturrechtlichen Prämissen Freiheit, Leben und Sicherheit in den Rang von Verfassungsnormen erhoben. Monate später wird die Geltung dieser Forderungen durch die Unabhängigkeitserklärung ausgeweitet. Redigiert von Thomas Jefferson, hält sie unter Rekurs auf das Christentum das unveräußerliche Recht eines jeden auf Leben sowie Sicherheit, Freiheit und das Streben nach Glück (es rückt hier an die Stelle des Eigentums) fest. Mit dieser generellen Proklamation ändert sich auch die politische Sprache, nun setzt auch hier zunehmend der singuläre Gebrauch von der Freiheit ein, welche ebenso wie die Gleichheit ein Schlüsselwort der Unabhängigkeitsbewegung wird. Doch während der Freiheitsbegriff sich für die ganze Verfassungsdebatte als zentrale Größe erweist, sinkt die Bedeutung von Gleichheitsforderungen nach der Unabhängigkeit alsbald wieder ab. In einer außerordentlichen Debatte wird 1787/88 um eine neue Verfassung gestritten. Der Entwurf schlägt die Umwandlung der Konföderation, die sich im Kampf um die Unabhängigkeit gebildet hatte, in eine föderale Republik mit zentraler Regierung vor. In dieser Debatte treten einander zwei gegensätzliche Gruppierungen mit etwas paradoxer Bezeichnung gegenüber. Auf der einen Seite stehen die Federalists (James Madison, John Jay, Alexander Hamilton); sie plädieren in den Federalist Papers für die Annahme der Verfassung. Sie treten für eine liberale Demokratie sowie einen Bundesstaat ein und halten es quer zur Tradition für möglich, eine Republik auf großem Territorium zu gründen und zu bewahren. Bei ihnen überwiegt ein skeptisches Menschenbild, das die Grundlage für die Machtbegrenzungen und das berühmte system of checks and balances bildet. Die Anti-Federalists dagegen, eine diffuse Bewegung, treten für eine stärkere föderale Ordnung ein, weil republikanische Freiheiten ihrer Ansicht nach nur auf kleinem Territorium erhalten werden können. Die Anti-Federalists argumentieren in der Tradition des klassischen Republikanismus und betonen die Bedeutung der Gleichheit und wenig ausgeprägter Eigentumsunterschiede. Beide Gruppen lassen sich anhand von Zielvorstellungen auch sozial verorten. Die Federalists setzen eher auf Handel, Industrie und urbane Entwicklung, während die Anti-Federalists das Landeigentum als Substanz von Republiken ansehen. Diese Basis würde durch Handel und Gewerbe und damit verbundene Korruption bedroht. Zentraler Streitpunkt ist, ob die Verfassung des Bundesstaates einer Ergänzung um einen Grundrechtekatalog mit starkem Gleichheitsgrundsatz und Schutzrechten bedarf. Madison, der Kopf der Federalists, lehnt dies zunächst ab. Er
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bringt zwei Argumente vor: Erstens sei eine besondere Bindung der zentralen Regierung nicht nötig, und Grundrechte sind in den Verfassungen der Staaten festgeschrieben. Zweitens sieht er in einer generellen Fixierung von Grundrechten die Gefahr, dass sie mehr versprechen als gehalten werden kann. Madison ahnt mindestens die in ihnen angelegte Dynamik. Demgegenüber wenden die Anti-Federalists ein, dass gerade die von einer Bundesregierung zu erwartende Machtfülle einen Schutz der Bürger notwendig machen. Zu den AntiFederalists kann Thomas Jefferson nur partiell gezählt werden. Der spätere Präsident setzte sich immerhin früh für eine Bill of Rights ein. Zugleich akzentuiert er den Gedanken demokratischer Selbstregierung und vertraut dem Volk unter der Voraussetzung, dass es gebildet ist. Insofern wird der Gleichheitsgrundsatz stark gemacht. Aber er verwickelt sich damit in Probleme, denn die ambivalente Einstellung zur Sklaverei und die Annahme der Existenz einer »natürlichen Aristokratie« unterminieren nicht nur den Grundsatz, sondern sie lassen zwei wenig thematisierte Probleme sozialer Ungleichheit hervortreten. Aus klassisch republikanischem Denken und einer modernisierungskritischen Einstellung heraus werden die Rechte des Einzelnen gestärkt, und zumindest von einem Teil der Anti-Federalists werden Freiheit und Gleichheit als starker Zusammenhang gefasst. Die Konsequenz der Debatte ist, dass die Verfassung 1791 um eine Grundrechteerklärung erweitert wird. Die Idee der Gleichheit zieht eine besondere Bahn; stand sie zur Zeit der Unabhängigkeitsbewegimg im Vordergrund, so wird sie zur Zeit der Revolution über Grundrechte (Freiheit, Eigentum, Sicherheit) hinaus primär von reformorientierten Gruppen betont und findet wegen der virulenten Sklavenfrage zunächst keinen Eingang in die Grundrechte. Das gelingt erst 1868 im 14. Zusatzartikel. Bemerkenswert bleibt: Die Grundrechte als Basis für eine sehr moderne politische Dynamik sind erst von einer modernisierungskritischen Bewegung so stark gemacht worden, dass sie Verfassungsrang erhielten. Madisons Ausschluss einer Grundrechteerklärung aus der Verfassimg kann als Stellungnahme gegen einen prinzipialistischen Ansatz gelesen werden. Die emphatische Umstellung von Freiheiten und Gleichheit im Sinne einer Anzahl gleicher Rechte erfolgt erst in der Französischen Revolution. An Jeffersons Entwurf einer Rechteerklärung für Frankreich kann man den ganzen Gegensatz zwischen der pragmatischen angloamerikanischen und der prinzipiellen französischen Herangehensweise aufzeigen (in: Dumbauld 1955, S. 122 f.).
Die französische Debatte um die Menschen- und Bürgerrechte Nach kurzer und heftiger Diskussion beschließt die Französische Nationalversammlung am 27. August 1789 die Declaration des droits de l'homme et du citoyen. Eine Ergänzung um weitere Rechte wird verschoben. Als im August 1791 die Konstitution fertig ist, macht der Hinweis, dass die ursprünglichen 17 Artikel inzwischen einen »religiösen und heiligen
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Charakter« hätten, alle Ergänzungen obsolet (vgl. Gauchet 1991, S. 39). Diese Aussage weist auf den hohen Stellenwert der Declaration, auf ihre prinzipielle legitimitätsstiftende Funktion hin. Auf die Declaration soll sich nicht nur die neue Verfassung gründen, sondern eine neue Gesellschaft. Zur Spezifik dieser Erklärung gehört, dass sie von Beginn an prinzipiell und universalistisch argumentiert. Ungeachtet ihrer staatlichen Zugehörigkeit werden alle Menschen angesprochen. Die Ursachendeutungen dieses Universalismus variieren: Während er mitunter als ein Produkt abstrakten Denkens der »philosophes« schlechthin gilt, resultiert er in wissenssoziologischer Perspektive bei Alexis de Tocqueville aus der Isolierung der Intellektuellen von der politischen Praxis im Ancien Regime. Schließlich gibt es die Erklärung, dass der Ersatz für eine umfassende Legitimation, welche die absolute Monarchie hatte, diesen hohen Anspruch erzwingt (vgl. Gauchet 1991). So oder so handelt es sich um einen Höhepunkt der Dekontextualisierung von Freiheit und Gleichheit. Zugleich erfolgt durch die Declaration eine Absetzung von den genutzten amerikanischen Vorbildern, die übertroffen werden sollen. Das Auf und Ab der Revolution spiegelt sich in den späteren Verfassungsentwürfen von 1793 und 1795 wider. Grob gefasst, ist fur die Konstituante die Freiheit, für die Jakobiner die Gleichheit und die Thermidorianer das Eigentum die leitende Idee (Gauchet 1991, S. 206). Zwar ändern sich die Formulierungen nur wenig, aber der Sinn von Freiheit und Gleichheit wandelt sich. 1795 ist Gleichheit primär Gleichheit vor dem Gesetz und es wird mit den Rechten zugleich ein Katalog von Pflichten veröffentlicht. 1793 dagegen wird stark auf dem Vorrang des Gemeinwohls vor den individuellen Interessen insistiert. Die Debatten in Frankreich haben eine Vorgeschichte in der Aufklärung. Während Montesquieu am englischen Modell orientiert Freiheit als das bestimmt, was man im Rahmen von Gesetzen wollen darf ( Vom Geist der Gesetze, Buch XI, Kap. 3) und vor überspannter Gleichheit warnt, scheint Rousseau, der große Kritiker der Moderne, leidenschaftlich für sie zu plädieren. Dabei wird allerdings oft übersehen, dass er Freiheit und Gleichheit, wie sie im Gesellschaftsvertrag konzipiert sind, nur in einer kleinen Republik, die eine Vielzahl weiterer Voraussetzungen erfüllen muss, für möglich hält. Durch die Abwendung vom großen Territorialstaat ist Rousseau auch kein moderner Revolutionär. Dennoch kann derart progressistisch an ihn angeknüpft werden; einesteils zeigt er nämlich, wie sich durch die Gesellschaft die Ungleichheit ausbreitet und die Natur des Menschen deformiert wird. Anderenteils entwickelt er einen emphatischen Begriff von Freiheit, der individuelle und kollektive Momente verbindet. Die Idee der Volonte Generale ist, dass in einer echten Demokratie mehr möglich sein muss als einfache Stimmenaggregation, dass ein wirklicher Allgemeinwille, das Gemeinwohl, zum Tragen kommen soll. Rousseau hat diesen Gedanken nicht als demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess ausgeformt, sondern substanziell gefasst. Insofern enthält sein Konzept eine massive Einschränkung der Demokratie durch Abwertung des je reellen Willens der Einzelnen. Das Spektrum von Positionen in der theoretischen Debatte um die Menschen- und
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Bürgerrechte lässt sich durch vier Theoretiker skizzieren, die sich alle auf Rousseau beziehen. Der Abbe Sieyes, ein liberaler Republikaner, will Menschen- und Bürgerrechte gleichsam deduktiv mit der Verfassung verbinden. Seine Unterscheidung von Aktiv- und Passivbürgern begrenzt zwar den Gleichheitsgrundsatz, dafür werden aber die von politischer Aktivität Ausgeschlossenen weder geflissentlich ignoriert noch jenseits der bürgerlichen Schutzrechte gedacht. Sieyes wendet Rousseau progressistisch, aber er hält dabei etwas abgeschwächt an der Besonderheit des Gemeinwillens fest. Explizit hebt er auf ein einziges und wahres Allgemeininteresse ab. Condorcet ist ein Philosoph und Fortschrittsdenker, der politisch zur Gruppe der Gironde zählt, die das mittlere Bürgertum repräsentiert. Auf das Eigentum gegründete Freiheit steht bei ihm im Zentrum des politischen Denkens, aber das Eigentum wird nicht nur ökonomisch, sondern auch rechtlich und politisch gefasst (Vgl. Dippel 1981, S. 171 f.). Von hier aus reflektiert der aufgeklärte Liberale die Ungleichheitsproblematik in breiter Form, nämlich von der sozialen Schichtung bis hin zur Geschlechterproblematik. Freiheit heißt, sich vernünftigen Regeln, die Ausdruck des Allgemeinwillens sind, nicht aber einem Herren zu unterwerfen. In seiner Perspektive lassen sich kaum alle Ungleichheiten abschaffen, sondern Gleichheit ist primär als eine der Chancen (vor allem der Bildung) zu begreifen. In seinem Entwurf der Grundrechte verbindet Condorcet Freiheit, Gleichheit und ihre Garantien bis hin zur Sicherung der Wohlfahrt Bedürftiger. Sein Geschichtsoptimismus verstellt ihm allerdings Einsichten in unaufliebbare Spannungen nicht nur zwischen Freiheit und Gleichheit, sondern auch mit anderen politischen Grundwerten. Einer der bekanntesten Jakobiner, Maximilian de Robespierre, plädiert deutlich für mehr politische Gleichheit (vgl. Gauchet 1991, S. 231 ff.). Sie wird unter Einschluss sozialer Aspekte gedacht, und politische Eingriffe ins Eigentumsrecht, ohne prinzipielle Kritik an ihm, werden möglich. Auch die Unterteilung von Aktiv- und Passivbürgern hebt er in diesem Sinne nicht auf. Robespierre ist Rousseau auch in der Freiheitsauffassung verbunden, wenn er dessen Kritik am parlamentarischen System bis zur Diktatur des Wohlfahrtsausschusses und der Terreur fortführt. Trotz der substanzialistischen Vorstellungen vom Gemeinwohl, dem Druck, mit dem die wahre sittlich-republikanische Ordnung durchgesetzt werden soll, ist Gleichheit hier nur eine Voraussetzung für eine freie Ordnung. Die egalitaristische Kritik (Paine und Babeuf) deckt Schwächen dieses Gleichheitskonzepts auf, bleibt jedoch selbst in rousseauistischen Vorstellungen vom wirklichen Allgemeinwohl befangen. Mit dem Vorrang der Gleichheit lassen sich Grenzen markieren, Voraussetzungen der Freiheit verdeutlichen, aber der Freiheitsgedanke selbst wird nicht politisch-institutionell konkretisiert. Wie Locke für England, so verabschiedet Benjamin Constant für Frankreich mit postrevolutionärem Gestus radikale Zuspitzungen. Durch die deutliche Differenzierung alter und moderner Freiheit bringt er, am englischen Modell orientiert, die liberalen Forderun-
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gen auf den Punkt. Der antike republikanische Freiheitsbegriff erscheint als überholt, und dennoch sieht Constant den Rückzug des modernen Bürgers ins Private mit Sorge bezüglich der Tendenz, die Politik einem wohlmeinenden autoritären Staat zu überlassen. Aporien und Grenzen von Grundrechten auf Freiheit und Gleichheit
Der englische Abgeordnete und Theoretiker Edmund Burke ging schon 1790 scharf mit der Französischen Revolution ins Gericht und prophezeite ihre terroristische Entartung. Der Stammvater des sich im 19. Jahrhundert ausprägenden Konservatismus kritisiert den revolutionären Bruch und den Aufbau einer Gesellschaft auf der Grundlage abstrakter Prinzipien und formuliert den klassischen Einwand gegen die französische Deklaration, sie würde Rechte proklamieren, ohne an Instanzen zu denken, die sie durchsetzen und sichern (Menschenrechte). Er favorisiert ein idealisiertes englisches Modell; seit der Magna Charta gäbe es ein organisches, sukzessives Wachstum der Freiheit in England, ein maßvolles, an der Praxis orientiertes Ändern der Institutionen. Damit ist zweifellos ein kritischer Punkt der französischen Entwicklung angesprochen, aber Burkes Position hat selbst zentrale Schwächen. Zum einen geht er von einer kaum näher definierten menschlichen Natur aus, verteidigt die bürgerlichen und politischen Freiheiten Englands, ohne Alternativen zu bedenken. Er bedient sich dabei einer ökonomischen Interpretation des damaligen politischen Systems, in der offen politische Ungleichheit, nämlich eine positive Beziehung von Vermögen und politischen Rechten, vertreten wird. Zum anderen attackiert Burke die zu enge Verbindung von natürlichen und bürgerlichen/politischen Rechten des Menschen, die er aber selbst weder präzise bestimmt noch dynamisch fasst. Karl Marx und Alexis de Tocqueville stehen am Ende des primär naturrechtlichen Diskurses über Freiheit und Gleichheit im 19. Jahrhundert und fuhren ihn als Theoretiker der kapitalistischen Industriegesellschaft über sich hinaus. Beide untersuchen prinzipiell die Beziehung von Freiheit und Gleichheit in der Moderne. Sie begreifen die Menschenrechtserklärungen historisch und zeigen deren ambivalente Folgen auf. Tocqueville sieht ein Zeitalter der Gleichheit kommen und beschreibt vor allem auf dem Hintergrund amerikanischer Erfahrungen Chancen und Gefahren dieser Gleichheit für die Freiheit. Gleichheit heißt hier wesentlich Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen, der Bedingungen zu politischer Teilhabe, nicht eine sozial-ökonomische Gleichheit wie bei Marx. Freiheit und Gleichheit sind für Tocqueville nicht nur Ideen, sondern politische Leidenschaften von Individuen und Völkern, die auf bestimmten Traditionen, Sitten und Bräuchen und deren geschichtlicher Veränderung beruhen. Das demokratische Ideal zielt auf eine Aussöhnung von Freiheit und Gleichheit. Unter konkreten Bedingungen handelt es sich jedoch immer um ein Spannungsverhältnis, eine prekäre Beziehung. So überwiegt nach Tocqueville in Frankreich eine abstrakte Gleichheitsorientierung, die aus der erfahrenen Ungleichheit im feudalen Regime und der Isolation der französischen Intellektuel-
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len gegenüber der Praxis in ihm erwuchs. Selbst in England und den USA ist trotz der pragmatischen Grundeinstellung die Spannung stark. Denn die Gleichheit der Chancen und die Leidenschaft für sie haben generell freiheitsgefahrdende Folgen. Zu ihnen gehören eine Vereinheitlichung der Gesellschaft, die die Basis für eine Tyrannei der Mehrheit bildet, das Entstehen einer neuen industriellen Aristokratie und ein hoher Individualismus, dessen Ergänzungsstück ein starker Staat ist. Tocqueville weist für Amerika über interne Analysen des politischen Prozesses hinaus auf die zentrale Problematik der Sklaverei hin, die die zeitgenössischen Grundlagen der Demokratie infrage stellt. Er kontrastiert die Französische und Amerikanische Revolution stark und betont, dass in Amerika ein gefestigtes und gewachsenes Freiheitsverständnis der Gemeinden und Städte die Basis für die Entwicklung der Gleichheit bot (Revolution). Karl Marx ist kaum von der parlamentarischen Republik eingenommen, er billigt ihr nur temporäre Bedeutung zu und stellt sie prinzipiell infrage. Seine frühe Analyse der Menschen- und Bürgerrechtserklärungen spricht hier eine klare Sprache, denn die Menschenrechte werden als bloß bürgerliche, das heißt für das Bürgertum relevante Rechte gedeutet. Ihr Zentrum sei das Recht auf Privateigentum, und gerade darin läge ihre Grenze, denn die besitzlose Menge, die Arbeiter und Eigentumslosen, würden von vornherein ausgeschlossen. Diese Kritik hält trotz ihrer Radikalität, mit der sie sich gegen den Menschenrechtsgedanken wendet, implizit an der Forderung nach reell gleichen Rechten für tatsächlich alle fest. Sozialökonomische Gleichheit wird zur Voraussetzung von Freiheit und Menschenrechten gemacht. Kontrovers ist sein eigenes Menschenbild als Voraussetzung gleicher Rechte. Sozialökonomische Gleichheit, die Abschaffung der gegensätzlichen Klassen, ist das Ideal. Erst dann sei Freiheit für die Einzelnen und die Gesellschaft möglich (Menschenrechte). Die Passage aus dem Manifest der Kommunistischen Partei (verfaßt gemeinsam mit Friedrich Engels) erinnert ausdrücklich an Rousseaus Grundfrage im Gesellschaftsvertrag, der allerdings die kollektive Freiheit höher stellt. Wiewohl Marx die Arbeit als zentral für die Entwicklung des Menschen ansieht, betont er in Das Kapital, das Reich der Freiheit begänne erst jenseits des Reiches der Notwendigkeit, der Arbeit, Ökonomie und des Lebensunterhaltes. Aber dieser Gedanke ist systematisch nicht ausgeführt worden. Hatte der junge Marx den ideologischen Charakter der Menschenrechte betont, so weist der Kritiker der kapitalistischen Wirtschaft auf ihren ökonomischen Gehalt hin. Freiheit und Gleichheit seien zwar reelle Voraussetzungen der Warenwirtschaft, der Vertragsfreiheit und anderer Rechtsgeschäfte, zugleich aber auch idealisierte Ideen dieser basalen Zusammenhänge. Die Forderung nach Verwirklichung der Ideale der Französischen Revolution setzt demnach bei der ideologischen Reflexion an. Marx und Tocqueville denken die kommende industrielle Massengesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts und ihre Diagnosen treffen sich partiell, etwa was die Vereinzelung und den Individualismus in der Moderne angeht oder die Möglichkeiten eines neuen Des-
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potismus betrifft. Beide verlassen den Rahmen des naturrechtlichen Denkens in Richtung stärkerer historischer Erklärungen. Aber die Freiheits- und Gleichheitskonzepte bleiben, trotz der Aufdeckung von Ambivalenzen, auf den naturrechtlichen Rahmen bezogen. Die Erschütterung beider Ideen führt erst am Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem starken Relativismus.
JOHN MILTON
THOMAS HOBBES
Gleiche Freiheiten, Gewissensfreiheit als ihr Kern
Die natürliche Freiheit
(...) haben doch an der Freiheit als dem Hauptzweck der Regierung alle Menschen gleicherweise teil. (...) Alle Freiheit des Menschen besteht darin, daß er entweder in einem geistlichen oder in einem staatsbürgerlichen Sinne frei ist. (...) Kein anderes Staatswesen neigt entschiedener dazu, diese Gewissensfreiheit, die jedem Menschen teurer und kostbarer sein sollte als alles übrige, nicht nur zu fördern, sondern auch zu beschützen, als eine freie Republik, weil sie am hochherzigsten, unerschrockensten und am vertrauensvollsten von ihrem eigenen redlichen Handeln durchdrungen ist. (...) Denn im Evangelium ist an vielen Stellen von Freiheit die Rede, einem Worte, das bei der Monarchie und deren Bischöfen ebenso gefurchtet wie verhaßt ist, während eine freie Republik nicht allein das Wort, sondern auch die eigentliche Sache selbst begünstigt und befördert. (S. 193-195) Aus: John Milton, Der gerade und leichte Weg zu einer freien Republik, in: ders., Zur Verteidigung der Freiheit. Sozialphilosophische Traktate, übertragen von Klaus Udo Szudra, hg. von Hermann Klenner, Leipzig 1987, S. 163 -201.
Freiheit bedeutet genaugenommen das Fehlen von Widerstand, wobei ich unter Widerstand äußere Bewegungshindernisse verstehe. (...) Und nach dieser genauen und allgemein anerkannten Bedeutung des Wortes ist ein Freier, wer nicht daran gehindert ist, Dinge, die er auf Grund seiner Stärke und seines Verstandes tun kann, seinem Willen entsprechend auszufiihren. (S. 163) Wenn ich nun auf die Freiheit der Untertanen zu sprechen komme, so nur in bezug auf diese Bande. Denn es gibt auf der ganzen Welt keinen Staat, der genügend Vorschriften zur Regelung aller menschlichen Handlungen und Äußerungen erlassen hat, da dies unmöglich ist. Daraus folgt notwendig, daß die Menschen in allen vom Gesetz nicht geregelten Gebieten die Freiheit besitzen, das zu tun, was sie auf Grund ihrer eigenen Vernunft für das Vorteilhafteste halten. (...) Die Freiheit eines Untertanen ist daher auf die Dinge beschränkt, die der Souverän bei der Regelung ihrer Handlungen freigestellt hat: so z.B. die Freiheit des Kaufs und Verkaufs oder anderer gegenseitiger Verträge, der Wahl der eigenen Wohnung, der eigenen Ernährung, des eigenen Berufs, der Kindererziehung, die sie für geeignet halten, und dergleichen mehr. (S. 165) Wenn wir nun zu den Einzelheiten der wahren Freiheit eines Untertanen kommen, das heißt, was die Dinge sind, die wir trotz Befehl des Souveräns verweigern können, ohne Unrecht zu tun, so müssen wir in Betracht ziehen,
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welche Rechte wir bei der Schaffung eines Gemeinwesens übertragen oder, was dasselbe ist, welche Freiheit wir uns vorenthalten, wenn wir ausnahmslos alle Handlungen des Menschen oder der Versammlung, die wir zu unserem Souverän ernennen, als eigene anerkennen. Denn der Akt unserer Unterwerfung enthält sowohl unsere Verpflichtung als auch unsere Freiheit, weshalb sie mit Argumenten begründet werden müssen, die sich von dort ableiten lassen. Man kann nämlich nur durch eigenes Handeln verpflichtet werden, denn alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei. (S. 168) Die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän dauert nur so lange, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger. Denn das natürliche Recht der Menschen, sich selbst zu schützen, wenn niemand anders dazu in der Lage ist, kann durch keinen Vertrag aufgegeben werden. (S. 171) Aus: Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und eingeleitet von Iring Fetscher, übersetzt von Walter Euchner, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1989, Kap. 21.
JAMES HARRINGTON Kritik an Hobbes Wenn hinwiederum die Freiheit eines Menschen in der Herrschaft seiner Vernunft besteht, deren Fehlen ihn der Knechtschaft seiner Leidenschaften ausliefern würde, dann besteht die Freiheit eines Gemeinwesens in der Herrschaft seiner Gesetze, deren Fehlen es den Gelüsten von Tyrannen preisgäbe, und dies sind meines Erachtens auch die Grundsätze, von denen Aristoteles und Livius (die Leviathan [=Hobbes] falschlich bezichtigt, wider die Natur geschrie-
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ben zu haben) ihre Behauptung herleiten, daß in einem Gemeinwesen die Gesetze und nicht die Menschen herrschen. Aber davon will Leviathan nichts wissen. Denn, so sagt er, »die Freiheit, von der in der Geschichtsschreibung und Philosophie der alten Griechen und Römer sowie in den Schriften und Darlegungen derer, die aus ihnen ihre gesamte politische Bildung geschöpft haben, so häufig und ehrerbietig die Rede ist, ist nicht die Freiheit einzelner Menschen, sondern die Freiheit des Gemeinwesens.« Ebensogut hätte er sagen können, die Güter einzelner Menschen in einem Gemeinwesen seien nicht deren Reichtum, sondern der Reichtum des Gemeinwesens, denn die Gleichheit der Güter bewirkt Gleichheit der Macht, und Gleichheit der Macht bedeutet nicht nur die Freiheit des Gemeinwesens, sondern jedes Menschen darin. (S. 30) Die Gleichheit in einem Gemeinwesen beruht sowohl auf der rechten Verteilung der Gewichte oder seinem Fundament als auch auf seinem Überbau, d.h. auf seinem Ackergesetz und seiner Rotation. Ein gleiches Ackergesetz ist ein immerwährendes Gesetz, das das Gleichgewicht der Herrschaftsgewalt vermittels einer solchen Verteilung erwirkt und wahrt, daß kein einzelner oder keine Gruppe von Menschen auf Seiten der Minderheit oder der Aristokratie durch den Besitz von Ländereien die Übermacht über das Volk gewinnen kann. (...) Gleiche Rotation ist ein gleichmäßiger Wechsel in der Regierung oder eine sinnvoll befristete und gleich lange Amtspausen vorsehende Nachfolge in der Obrigkeit, so daß nach und nach alle daran teilhaben können, indem sie durch freie Wahl oder Abstimmung des Volkes andere ablösen. (...) Aus dem Gesagten ergibt sich, daß ein die Gleichheit wahrendes Gemeinwesen ein Staat ist, dem als Unterbau ein gleiches Ackergesetz zugrunde liegt und dessen Überbau oder drei obere Instanzen der beratende und vorschlagende Senat, das beschließende Volk und die vollstreckende Obrigkeit sind, die in gleichmäßiger
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Rotation durch Abstimmung des Volkes gewählt wird. (S. 48 ff.) Aus: James Harrington, Oceana, dt. von Klaus Udo Szudra, hg. von Hermann Klenner, Leipzig 1991.
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eines anderen Menschen unterworfen zu sein. (S. 232 f.) Folglich beruht die Unabhängigkeit des Menschen wie auch seine Freiheit, nach seinem eigenen Willen zu handeln, auf seiner Vernunft. Sie vermag ihn in dem Gesetz, nach dem er sich zu richten hat, zu unterweisen und zur Erkenntnis zu bringen, wie weit er der Freiheit seines eigenen Willens überlassen ist. (S. 238)
JOHN LOCKE Rechtsgleichheit und Willensfreiheit Die Freiheit der Menschen unter einer Regierung bedeutet, unter einem feststehenden Gesetz zu leben, das für jeden dieser Gesellschaft Gültigkeit besitzt und von der legislativen Gewalt, die in ihr errichtet wurde, verabschiedet worden ist. Es ist eine Freiheit, mich in allen Angelegenheiten nach meinem eigenen Willen zu richten, wo jene Regel nichts vorschreibt, und nicht dem unbeständigen, ungewissen, unbekannten und willkürlichen Verlangen eines anderen unterworfen zu sein. (S. 214) Obwohl ich oben, im zweiten Kapitel, gesagt habe, daß alle Menschen von Natur aus gleich sind, kann man doch nicht annehmen, daß ich darunter jede Art von Gleichheit verstehe. Alter oder Tüchtigkeit können manchen Menschen einen gerechten Vorrang einräumen. Hervorragende Talente und Verdienste können andere über den gewöhnlichen Durchschnitt erheben. Geburt mag den einen, Verwandtschaft oder Wohltaten den anderen verpflichten, denjenen Ehrerbietung zu erweisen, denen sie von Natur, aus Dankbarkeit oder anderen Rücksichten gebührt. Und dennoch verträgt sich all dies mit der Gleichheit aller Menschen in Hinsicht auf die Rechtsprechung und die Herrschaft des einen über den anderen. Es ist die Gleichheit, von der ich oben, wo ich das Thema behandelte, gesprochen habe, nämlich jenes gleiche Recht, das jeder Mensch auf seine natürliche Freiheit hat, ohne dem Willen oder der Autorität irgend-
Aus: John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, hg. v. Walter Euchner, Frankfurt/M. 1977, II. Abhandlung, §§ 22, 54 und 63.
JEAN-JACQUES ROUSSEAU Natürliche Freiheit des Menschen und Gleichheit durch die politische Ordnung »Es muß eine Gesellschaftsform gefunden werden, die mit der gesamten gemeinsamen Kraft aller Mitglieder die Person und die Habe eines jeden einzelnen Mitglieds verteidigt und beschützt; in der jeder einzelne, mit allen verbündet, nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor.« Das ist das Grundproblem, das der Gesellschaftsvertrag [contrat social] löst. (S. 73) Statt die natürliche Gleichheit [an Rechten und Freiheiten] zu zerstören, setzt der Grundvertrag im Gegenteil an die Stelle der von Natur aus physischen Ungleichheit der Menschen eine moralische und gesetzmäßige Gleichheit. Damit werden sie, wenn sie schon an körperlichen und geistigen Kräften ungleich sind, durch Übereinkunft und Recht einander gleich. (S. 82 f.) Aus: Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, in: ders., Politische Schriften, Bd. 1, Übersetzung und Einleitung von Ludwig Schmidts, Paderborn 1977, S. 59-208.
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THOMAS JEFFERSON Das Volk als Hort der Freiheit Müssen sie da nicht schließlich selbst gestehen, daß der Friede am besten gesichert ist, wenn man dem Volke Wissen gibt anstatt der Regierung Gewalt. (...) Das Volk ist der einzige sichere Hort für die Erhaltung der Freiheit. Schließlich ist es mein Grundsatz, daß der Wille der Mehrheit zu gelten hat. Falls das Volk die vorgeschlagene Verfassung in allen ihren Teilen gutheißt, so will ich freudig mit einstimmen in der Hoffnung, daß das Volk sie verbessern wird, wann immer es findet, daß sie sich schlecht auswirkt. Dieses Vertrauen kann nicht getäuscht werden, solange wir tugendhaft bleiben. Ich glaube wir werden es bleiben, solange die Landwirtschaft unsere Hauptbetätigung ist. (S. 55) Aus: Brief Jeffersons an Madison vom 20. 12. 1787, in: Thomas Jefferson, Auswahl aus seinen Schriften, hg. von Walter Grossmann, Cambridge/Mass. 1945, S. 49-56.
EMMANUEL JOSEPH SIEYES Erläuterungen zur Menschenund Bürgerrechtserklärung 1789 Alle Einwohner eines Landes müssen in ihm die Rechte passiver Bürger besitzen: alle haben Anspruch auf Schutz ihrer Person, ihres Eigentums, ihrer Freiheit usw.; aber nicht alle haben Anspruch darauf, tätig an der Bildung der öffentlichen Gewalten teilzunehmen: nicht alle sind Aktivbüiger. Die Frauen, zumindest im jetzigen Stadium, die Kinder, die Ausländer und auch diejenigen, die nichts zur öffentlichen Gewalt beitragen, dürfen keinen aktiven Einfluß auf das Gemeinwesen nehmen. Alle können die Vorteile der Gesellschaft genießen, aber allein
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diejenigen, die zur öffentlichen Gewalt etwas beitragen, sind gleichsam die eigentlichen Aktionäre des großen gesellschaftlichen Unternehmens. Sie allein sind die wahren Aktivbürger, die wahren Glieder der Gesellschaftsverbindung. Die Gleichheit der politischen Rechte ist ein Grundprinzip. Sie ist wie die Gleichheit der gesellschaftlichen Rechte heilig. Aus der Ungleichheit der politischen Rechte entstünden bald Privilegien. Ein Privileg ist entweder Befreiung von gemeinschaftlicher Last oder ausschließliche Gewährung eines gemeinschaftlichen Gutes. Jedes Privileg ist somit ungerecht, verabscheuenswürdig und widerspricht dem wahren Ziel der Gesellschaft. (...) Eine Gesellschaft kann nur ein Allgemeininteresse haben. Gäbe man vor, verschiedene einander entgegengesetzte Interessen zu verfolgen, wäre es unmöglich eine Ordnung zu errichten. Die gesellschaftliche Ordnung setzt notwendigerweise Einheit des Ziels und Übereinstimmung der Mittel voraus. (S. 251) Aus: Emmanuel Joseph Sieyes, Einleitung zur Verfassung. Anerkennung und erklärende Darstellung der Menschenkind Bürgerrechte, in: ders., Politische Schriften, hg. von Eberhard Schmitt und Rolf Reichardt, 2. Aufl., München und Wien 1981, S. 239-258.
MARQUIS DE CONDORCET Freiheit und Ungleichheiten Sie wird also kommen, die Zeit, da die Sonne hienieden nur noch auf freie Menschen scheint, Menschen, die nichts über sich anerkennen als die Vernunft. (...) Beim Durchgehen der Geschichte der Gesellschaften werden wir Gelegenheit haben, aufzuzeigen, daß oft eine große
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Kluft besteht zwischen den Rechten, die das Gesetz den Bürgern zuerkennt, und den Rechten, deren sich die Bürger tatsächlich erfreuen; (...) Jener Unterschied hat hauptsächlich drei Gründe: die Ungleichheit des Reichtums; die Ungleichheit der Lage, in welcher deijenige lebt, dessen eigene gesicherte Unterhaltsmittel sich auf seine Familie vererben, gegenüber der Lage dessen, bei dem die Mittel von der Dauer seines Lebens oder vielmehr von dem Teil seines Lebens abhängen, in dem er arbeitsfähig ist; schließlich die Ungleichheit des Unterrichtes. Daher ist zu zeigen, daß diese drei Arten von wirklicher Ungleichheit fortwährend abnehmen müssen, ohne jedoch ganz zu verschwinden; denn sie haben natürliche und notwendige Ursachen, die beseitigen zu wollen unsinnig und gefährlich wäre; man könnte nicht einmal versuchen, ihre Wirkungen ganz zum Verschwinden zu bringen, ohne dabei noch ergiebigere Quellen der Ungleichheit zu eröffnen und eines noch unmittelbareren und verhängnisvolleren Eingriffs in die Menschenrechte sich schuldig zu machen. (S. 198 f.) Zu den Fortschritten des menschlichen Geistes, die für das allgemeine Glück am wichtigsten sind, müssen wir die völlige Beseitigung der Vorurteile zählen, die zwischen den beiden Geschlechtern eine Ungleichheit der Rechte gestiftet haben, welche selbst für jenes Geschlecht verhängnisvoll ist, das sie begünstigt. (...) Diese Ungleichheit hat keinen anderen Ursprung als den Mißbrauch der Gewalt, und vergeblich hat man sie später durch Sophismen zu entschuldigen gesucht. (S. 213) Aus: Marie-Jean-Antoine-Nicolas de Caritat (Marquis de Condorcet), Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, übertragen und hg. von Wilhelm Alff, Frankfurt/M. 1976.
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THOMAS PAINE
Die Rechte des Menschen Die mosaische Nachricht von der Schöpfung, man mag sie als göttliche Autorität oder bloß als historisch betrachten, drückt sich über diesen Punkt der Einheit oder Gleichheit [der Menschen] aufs Bestimmteste aus. [Die Wahl der Worte läßt kein Mißverständnis zu:] »Und Gott sagte, lasset uns den Menschen nach unserm eigenen Bilde schaffen, und nach dem Bilde Gottes schuf er ihn. Männlein und Weiblein schuf er.« Der Unterschied der Geschlechter ist angezeigt; eines anderen Unterschieds aber wird nicht gedacht. Wenn dieses nicht göttliche Autorität ist, so ist es wenigstens historische und beweist, daß die Gleichheit des Menschen, weit entfernt eine neue Lehre zu sein, vielmehr die älteste ist, von der wir wissen. Alle in der Welt bekannten Religionen gründen sich, insofern sie auf den Menschen Bezug haben, auf die Gleichheit desselben. Alle Menschen sind eines Standes. Im Himmel oder in der Hölle oder in welchem Zustande sonst man die künftige Fortdauer des Menschen sucht, wird er bloß durch gut und böse unterschieden. Ja, selbst die Gesetze der Regierungen müssen sich nach diesem Grundsatz richten, indem sie die Stufen in den Verbrechen und nicht in den Personen bestehen lassen. Dieses ist eine der größten und wichtigsten Wahrheiten. Wenn wir den Menschen in diesem Lichte betrachten und ihn sich selbst in diesem Lichte betrachten lehren, so setzen wir ihn in enge Verbindung mit allen seinen Pflichten gegen den Schöpfer und gegen die Schöpfimg, von der er einen Teil ausmacht; nur wenn er seinen Ursprung, oder um mich eines modischeren Ausdrucks zu bedienen, seine Geburt und Familie vergißt, wird er zügellos. Es gehört nicht unter die geringsten Übel der gegenwärtigen Regierungen in allen Ländern von Europa, daß der Mensch, als Mensch betrachtet, in eine so weite Entfernung von sei-
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nem Schöpfer zurückgeworfen und die künstliche Kluft durch eine Reihe Schranken oder Schlagbäume, durch welche er hindurch muß, angefüllt wird. (...) Die Pflicht des Menschen ist keine Wildnis von Schlagbäumen, wo er mit Einlaßzetteln von einem zum andern gehen muß. Sie ist deutlich und einfach und beruht [nur] auf zwei Punkten. Seine Pflicht gegen Gott, welche jeder Mensch fühlen muß, und gegen seinen Nächsten die Regel: Was du willst, daß dir die Leute tun sollen, tue du ihnen auch. Wenn diejenigen, welchen Macht anvertraut ist, gut handeln, so werden sie geehrt, wo nicht, verachtet werden; die aber, die eine Macht an sich rissen, welche ihnen nie anvertraut wurde, kann die vernünftige Welt nicht anerkennen. Bisher haben wir bloß - und nur zum Teil von den natürlichen Rechten des Menschen gesprochen. Jetzt müssen wir seine bürgerlichen Rechte betrachten und zeigen, wie eins aus dem andern entspringt. Der Mensch trat nicht in Gesellschaft, um schlechter zu werden als er vorher war, oder um weniger Rechte als zuvor zu besitzen, sondern um sich diese Rechte mehr zu sichern. Seine natürlichen Rechte sind die Grundlage aller seiner bürgerlichen. Um aber diesen Unterschied genauer fortzuführen, müssen zuvor die verschiedenen Eigenschaften der natürlichen und bürgerlichen Rechte bestimmt werden. Es bedarf dazu nur weniger Worte. Die natürlichen Rechte sind diejenigen, welche dem Menschen zufolge seinem Dasein angehören. Dahin gehören alle geistigen Rechte oder Rechte der Seele, sowie alle Rechte, als einzelnes Glied zu seinem Vergnügen und Glück zu handeln, insofern die natürlichen Rechte anderer nicht dadurch gekränkt werden. Bürgerliche Rechte sind diejenigen, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft besitzt. Jedes bürgerliche Recht ist auf ein natürliches, in dem Individuum schon vorhandenes Recht gegründet, das er nur nicht in allen Fällen geltend zu machen imstande war. Von dieser Art sind alle Rechte, die sich auf
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Sicherheit und Schutz beziehen. Aus dieser kurzen Übersicht ist es leicht, zwischen den natürlichen Rechten, welche der Mensch nach seinem Eintritt in die Gesellschaft behält, und den Rechten, welche er als Glied der Gesellschaft in die allgemeine Masse wirft, zu unterscheiden. Die natürlichen Rechte sind diejenigen, welche auszuführen er ebensogut vermag als er berechtigt dazu ist. Unter diese Klasse gehören [- wie vorher erwähnt -] alle geistigen Rechte oder Rechte der Seele; und folglich auch die Religion. Die natürlichen, nicht beibehaltenen Rechte sind alle diejenigen, die ihm zwar vollkommen angeboren wurden, die er aber nicht völlig geltend zu machen imstande war, und die folglich ihm nichts nützen. Jeder Mensch hat von Natur das Recht, in seiner eigenen Sache zu richten, und insofern dieses Recht Recht der Seele ist, gibt er es nie auf. Allein was hilft es ihm zu richten, wenn er nicht die Macht hat, sich Recht zu schaffen? Er legt deswegen seine Rechte in die gemeinschaftliche Masse der Gesellschaft nieder und bedient sich des Arms der Gesellschaft, von der er einen Teil ausmacht, vorzugsweise und neben seinem eigenen. Die Gesellschaft schenkt ihm nichts. Jeder hat sein Eigentum in der Gesellschaft und zieht gebührenderweise von dem Kapital. Aus diesen Vordersätzen folgen zwei oder drei zuverlässige Schlüsse: Erstlich, daß jedes bürgerliche Recht aus einem natürlichen Recht entspringt oder vielmehr ein ausgetauschtes natürliches Recht ist. Zweitens, daß die bürgerliche Macht, an sich betrachtet, aus der Summe deqenigen natürlichen Rechte des Menschen besteht, zu deren vollen Benutzung es dem Einzelnen an Vermögen gebricht, und die nur dadurch für jeden brauchbar werden, wenn man sie in einen Mittelpunkt versammelt. Drittens, daß die Macht, welche aus der Summe der natürlichen Rechte besteht, die der Einzelne fur sich nicht ausüben konnte, nie in die natürlichen Rechte greifen darf, die er behielt und deren Ausübung ihm ebenso völlig zusteht, als das Recht selbst. (S. 80-83)
Politische Normen
Aus: Thomas Paine, Die Rechte des Menschen, in der zeitgenössischen Übertragung von D. M. Forkel, bearbeitet und eingeleitet von Theo Stemmler, Frankfurt/M. 1973.
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Aus: Gracchus Babeuf, Manifest der Plebejer (Auszüge), in: Joachim Höppner/ Waltraud Seidel-Höppner, Hg., Von Babeuf bis Blanqui. Französischer Sozialismus und Kommunismus vor Marx, Bd. 2: Texte, Leipzig 1975, S. 70-80.
GRACCHUS BABEUF Manifest der Plebejer
BENJAMIN CONSTANT Alte und moderne Freiheiten
Wir haben festgestellt: die vollkommene Gleichheit ist ein Urrecht. Weit davon entfernt, diesem Naturrecht Abbruch zu tun, muß der Gesellschaftsvertrag nur jedem einzelnen die Garantie geben, daß dieses Recht niemals verletzt wird. Danach dürfte es nie Institutionen gegeben haben, die die Ungleichheit und die Habsucht begünstigen und es zuließen, daß den einen das Notwendige entrissen werden konnte, um für die anderen einen Überfluß abzugeben. Doch das Gegenteil geschah: widersinnige Bräuche bürgerten sich in der Gesellschaft ein, sie begünstigten die Ungleichheit und ließen die Ausplünderung der großen Menge durch eine kleine Minderheit zu. Es gab Epochen, in denen diese mörderischen Gesellschaftsregeln so weit führten, daß der gesamte Reichtum aller von einigen wenigen verpraßt wurde. Dann war der Friede, der das Natürliche ist, wenn alle glücklich sind, zwangsläufig gestört; die Masse hatte nichts mehr zum Leben, fand sich gänzlich vom Besitz ausgeschlossen und stieß in der Kaste, die alles an sich gerissen hatte, nur auf Unbarmherzigkeit. Diese Auswirkungen bestimmten die Epoche jener großen Revolutionen und prägten jene denkwürdigen Perioden, wie sie das Buch der Geschichte aufzeichnet, in denen eine allgemeine Umwälzung im Eigentumssystem unvermeidlich und die Empörung der Armen gegen die Reichen zur unumgänglichen Notwendigkeit wird. (S.71 f.)
Aus dem, was ich hier dargelegt habe, ergibt sich, daß wir jener Freiheit der Alten, die in der aktiven, ständigen Teilhabe an der kollektiven Gewalt bestand, uns nicht mehr erfreuen können. Unsere Art von Freiheit muß in dem friedlichen Genuß der persönlichen Unabhängigkeit bestehen. (...) Es folgt daraus, daß wir vielmehr als die Alten an unserer persönlichen Selbständigkeit hängen müssen, denn wenn die Alten diese Selbständigkeit den politischen Rechten zum Opfer brachten, verzichteten sie auf weniger, um dafür mehr zu erhalten, während wir, wenn wir die gleichen Opfer brächten, mehr gäben, aber weniger gewännen. Das, was die Alten erstrebten, war die Verteilung der staatlichen Macht unter alle Bürger eines Landes: Das war es, was sie Freiheit nannten. Die Modernen erstreben Sicherheit im privaten Genuß; sie bezeichnen als Freiheit die Rechtsgarantien, die die Institutionen diesem Genuß gewähren. (S. 376 f.) Persönliche Unabhängigkeit ist das vornehmste Bedürfnis der Menschen der Moderne: Folglich darf man von ihnen nie fordern, sie zugunsten der politischen Freiheit zu opfern. (S. 383) Die Gefahr der heutigen Freiheit besteht hingegen darin, daß wir, allzusehr von dem Genuß unserer privaten Unabhängigkeit und der Verfolgung unserer Privatinteressen in Anspruch genommen, mit zu großem Gleichmut auf unser
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Recht der Teilhabe an der politischen Macht verzichten. Die Inhaber der Staatsmacht verfehlen nicht, uns darin zu bestärken, sind sie doch überaus geneigt, uns jede Art von Mühe zu ersparen, abgesehen von der, gehorsam zu sein und zu zahlen! Sie werden uns sagen: Was ist denn im Grund das Ziel eurer Bemühungen, der Anlaß eurer Betätigung, der Gegenstand aller eurer Hoffnungen? Ist es nicht das Glück? Nun gut, dieses Glück werden wir euch schenken, wenn ihr uns nur gewähren laßt! (S. 393) Aus: Benjamin Constant, Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen, in: ders., Werke in vier Bänden, hg. von Axel Blaeschke und Lothar Gall, Bd. 4: Politische Schriften, Berlin 1972, S. 363-396.
ALEXIS DE TOCQUEVILLE Das Zeitalter der Gleichheit Unter den neuen Erscheinungen, die während meines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten meine Aufmerksamkeit erregten, hat keine meinen Blick stärker gefesselt als die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen. (...) Ich sah die Gleichheit der Bedingungen, die zwar noch nicht, wie in den Vereinigten Staaten, an ihren äußersten Grenzen angelangt ist, aber sich ihnen mit jedem Tag nähert; und mir schien, daß dieselbe Demokratie, die die amerikanische Gesellschaft beherrscht, in Europa rasch zur Macht gelangt. (Bd. I, S. 5) Man kann sich einen äußersten Punkt vorstellen, wo Freiheit und Gleichheit sich berühren und verschmelzen. Ich setze voraus, daß alle Bürger an der Regierung teilhaben und daß jeder einen gleichen Anspruch auf diese Mitwirkung besitzt. Da keiner sich demnach von seinen Mit-
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menschen unterscheidet, wird niemand eine tyrannische Macht ausüben können; die Menschen werden vollkommen frei sein, weil sie alle völlig gleich sind; und sie werden alle vollkommen gleich sein, weil sie alle völlig frei sind. Dies ist das Ideal, dem die demokratischen Völker nachstreben. (Bd. II, S. 109) Die besondere und vorherrschende Erscheinung, die diese [demokratischen] Zeitalter auszeichnet, ist die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen; die Hauptleidenschaft, die in solchen Zeiten die Menschen bewegt, ist die Liebe zu dieser Gleichheit. (Bd. II, S. 110) Ich denke, daß die demokratischen Völker einen natürlichen Sinn für die Freiheit haben; sie suchen sie, sie lieben sie, sobald sie sich selbst überlassen sind, und sie sehen es nur mit Schmerz, wenn man sie von ihr entfernt. Für die Gleichheit abernähren sie eine feurige, unersättliche, ewige, unbesiegbare Leidenschaft; sie wollen die Gleichheit in der Freiheit, und können sie diese nicht erlangen, so wollen sie sie noch in der Knechtschaft. Die Armut, die Knechtung, die Barbarei werden sie ertragen, die Aristokratie aber werden sie nicht dulden. (Bd. II, S. 112) Im ganzen genommen ist, glaube ich, die Aristokratie der Fabrikanten, die wir vor unseren Augen erstehen sehen, eine der härtesten, die auf Erden erschienen ist; sie ist aber zugleich eine der kleinsten und ungefährlichsten. Dennoch müssen die Freunde der Demokratie ihre Blicke ständig mit Besorgnis nach dieser Seite hin lenken; falls nämlich die dauernde Ungleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen und die Aristokratie jemals von neuem in die Welt eindringen, so läßt sich voraussagen, daß sie durch dieses Tor hereinkommen werden. (Bd. II, S. 178) Die Gleichheit erzeugt in der Tat zweierlei Neigungen: die eine führt die Menschen unmittelbar zur Unabhängigkeit hin und kann sie plötzlich bis in die Anarchie treiben; die andere lenkt sie auf einem längeren, verborgeneren,
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aber sichereren Weg zur Knechtschaft. (Bd. II, S. 311) Gelangen die Menschen im Zeitalter der Gleichheit mühelos zur Vorstellung von einer großen Zentralgewalt, so läßt sich andererseits nicht daran zweifeln, daß ihre Gewohnheiten und ihre Gefühle sie von vorneherein dazu geneigt machen, eine solche Gewalt anzuerkennen und ihr behilflich zu sein. (...) Diese Menschen reißen sich daher immer nur mit Mühe von den privaten Geschäften los, um sich mit den öffentlichen Angelegenheiten zu befassen; sie neigen natürlicherweise dazu, deren Betreuung dem einzigen sichtbaren und ständigen Vertreter des allgemeinen Wohls zu überlassen, nämlich dem Staate. (Bd. II, S.317) Die Nationen unserer Tage können nicht bewirken, daß bei ihnen die gesellschaftlichen Bedingungen nicht gleich seien; von ihnen jedoch hängt es ab, ob die Gleichheit sie in die Knechtschaft oder in die Freiheit, zur Gesittung oder in die Barbarei, zum Wohlstand oder ins Elend führt. (Bd. II, S. 358) Aus: Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. von J.P. Mayer, übersetzt von Hans Zbinden, 2 Bände, Stuttgart 1959 und 1962.
KARL M A R X Das kommunistische Ideal der Freiheit und Gleichheit An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. (S. 482) Aus: Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: die-
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selben, Werke, Bd. 1, Berlin 1970, S. 459 -493.
KARL M A R X Gehalt von Freiheit und Gleichheit Wenn also die ökonomische Form, der Austausch, nach allen Seiten hin die Gleichheit der Subjekte setzt, so der Inhalt, der Stoff, individueller sowohl wie sachlicher, der zum Austausch treibt, die Freiheit. Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit. Als reine Ideen sind sie bloß idealisierte Ausdrücke desselben; als entwickelt in juristischen, politischen, sozialen Beziehungen sind sie nur diese Basis in einer anderen Potenz. (S. 170) Andererseits zeigt sich ebensosehr die Albernheit der Sozialisten (namentlich der französischen, die den Sozialismus als Realisation der von der französischen Gesellschaft ausgesprochenen Ideen der bürgerlichen Gesellschaft nachweisen wollen) (...) Ihnen ist zu antworten: daß der Tauschwert oder näher das Geldsystem in der Tat das System der Gleichheit und Freiheit ist und daß, was ihnen in der näheren Entwicklung des Systems störend entgegentritt, ihm immanente Störungen sind, eben die Verwirklichung der Freiheit und Gleichheit, die sich ausweisen als Ungleichheit und Unfreiheit. (...) Was die Herren von den bürgerlichen Apologeten unterscheidet, ist auf der einen Seite das Gefühl der Widersprüche, die das System einschließt; auf der andren Seite der Utopismus, den notwendigen Unterschied zwischen der realen und der idealen Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu begreifen und daher das überflüssige Geschäft vornehmen zu wollen, den ideellen Ausdruck selbst wieder realisieren
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zu wollen, da er in der Tat nur das Lichtbild dieser Realität ist. (S. 174) Aus: Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 42, Berlin 1983.
JOHN STUART MILL Freiheit des Individuums vor gesellschaftlichem Zwang Der Zweck dieser Abhandlung ist es, einen sehr einfachen Grundsatz aufzustellen, welcher den Anspruch erhebt, das Verhältnis der Gesellschaft zum Individuum in bezug auf Zwang oder Bevormundung zu regeln, gleichgültig, ob die dabei gebrauchten Mittel physische Gewalt in der Form von gerichtlichen Strafen oder moralischer Zwang durch öffentliche Meinung sind. Dies Prinzip lautet: daß der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. (S. 16) Aus: John Stuart Mill, Über die Freiheit, übersetzt von Bruno Lemke, hg. von Manfred Schenke, Stuttgart 1988.
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lebenden, an denjenigen, die von dieser Meinung nichts wissen wollen, noch mehr als an denen, die sie vertreten. Denn wenn die Meinung richtig ist, so beraubt man sie der Gelegenheit, Irrtum gegen Wahrheit auszutauschen; ist sie dagegen falsch, dann verlieren sie eine fast ebenso große Wohltat: nämlich die deutlichere Wahrnehmung und den lebhafteren Eindruck des Richtigen, der durch den Widerstreit mit dem Irrtum entsteht. (S. 26) Ich behaupte nicht, daß der völlig unbeschränkte Gebrauch der Freiheit, alle mögliche Meinung zu äußern, dem Übel religiösen und philosophischen Sektenwesens ein Ende machen würde. (...) Ich gebe zu, daß die Tendenz allen Glaubens, Sekten zu bilden, auch nicht durch die freieste Diskussion geheilt, dagegen oft dadurch verstärkt und verbittert wird, daß man die Erkenntnis, die man hätte wahrnehmen sollen, um so heftiger zurückwies, weil sie Leute vorbrachten, die als Gegner verschrien waren. Aber der Zusammenstoß der Meinungen übt seine heilsame Wirkung auch nicht auf den leidenschaftlichen Parteigänger, sondern auf die ruhigeren und unbefangeneren Anwesenden aus. Nicht der heftige Konflikt zwischen den verschiedenen Teilen einer Idee, sondern die stillschweigende Unterdrückung der einen Hälfte von ihr ist das furchtbare Übel. Es ist immer noch Hoffnung, wenn man die Menschen zwingt, beide Seiten anzuhören; wenn sie dagegen bloß eine hören, dann geschieht es, daß Irrtümer sich zu Vorurteilen verhärten und die Wahrheit selbst aufhört, den Effekt der Wahrheit zu haben, weil man sie zur Falschheit übertreibt. (S. 71 f.)
JOHN STUART MILL Meinungsfreiheit als Folgerung aus dem Prinzip individueller Freiheit Aber das besondere Übel der Unterdrückung einer Meinungsäußerung liegt darin, daß es am menschlichen Geschlecht als solchem Raub begeht, an der Nachwelt so gut wie an den Mit-
Aus: John Stuart Mill, Über die Freiheit, übersetzt von Bruno Lemke, hg. von Manfred Schlenke, Stuttgart 1988.
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Der moderne Diskurs Eine außerordentliche Bedeutung hatte im 20. Jahrhundert die Verteidigung der Freiheit gegen ihre Bedrohung durch den Nationalsozialismus, den Faschismus und den Kommunismus. Die Verteidigung elementarer Menschen- und Bürgerrechte gegen ihre radikale Gefahrdung stärkte die Einsicht, dass Freiheit immer ein prekäres Gut ist. Zugleich hat diese Auseinandersetzung eine scharfe Entgegensetzung von negativem und positivem Freiheitsbegriff evoziert (Isaiah Berlin). Westliche Theorien akzentuierten zumeist den negativen Freiheitsbegriff und betonten so die Freiheiten des Individuums, seine Ansprüche auf Gleichberechtigung. Im Osten schränkte der Kommunismus im Namen kollektiver Freiheit individuelle Freiheit massiv ein und realisierte auf begrenztem Niveau soziale Gleichheit. Die Kehrseite dieser konzeptuellen Entgegensetzung war nicht nur ein Verlust an Problembewusstsein, sondern eine Aufladung des Freiheitsbegriffes, die bereits erkannte moderne Ambivalenzen und Aporien in den Hintergrund treten ließ. Hochkomplexe Gesellschaften jedoch zeichnen sich durch radikale Ambivalenzen, enorme Chancen und Risiken aus, die zugleich bestehen, und insofern sind autoritäre und totalitäre Strukturen keine geschichtlichen Unfälle, sondern andauernde Möglichkeiten. Nach dem Kollaps des Kommunismus stellen sich einige Fragen anders. Einem Bonmot von Claus Offe zufolge kommt es nicht mehr wie im Systemwettstreit darauf an, besser, sondern gut zu sein. Gerade deswegen begannen neue Selbstverständigungsdebatten über die Demokratie, wächst das Interesse an normativer Theorie. Die schon Anfang der 80er Jahre begonnene Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Kommunitaristen ist ein erstes Exempel für solche Debatten. Die Problemlage für die westlichen Demokratien hatte sich schon seinerzeit deutlich verändert, denn die über längere Zeiträume zum Tragen gekommenen Ideen von Freiheit und Gleichheit hatten neben der Verankerung vieler politischer, ökonomischer und sozialer Rechte für die Mehrheit der Bevölkerung auch einen riesigen Wohlfahrtsstaat zur Konsequenz. Durch diesen Staat mit seinen Bürokratien ist die Freiheit des Einzelnen durch gesteigerte strukturelle Übermacht bedroht. Darüber hinaus bewirken zentralisierte Strukturen und Verwaltungen politische und moralische Entlastungen des Einzelnen, der als Bürger bestimmte Herausforderungen gar nicht mehr wahrnimmt. Enorme Verrechtlichungen von gesellschaftlichen Beziehungen und wenig überschaubare Verhältnisse verleiten zu Passivität oder dazu, dass Chancen primär von denen genutzt werden, die sich anwaltlicher Hilfe bedienen können. Überhaupt führt die gegenwärtige hohe Individualisierung, das Zurücktreten kollektiver politischer Akteure nicht nur dazu, dass solche Akteurspositionen ausgehöhlt werden - man denke an die Parteien oder Großorganisationen wie Gewerkschaften und Unternehmerverbände - , zugleich stehen weniger organisierte und stärker vereinzelte Individuen insgesamt mächtigen Institutionen und komplexen Strukturen gegenüber, so dass individuelle Handlungsspielräume zwar relativ zunehmen, absolut gesehen jedoch die Räume schrumpfen. Die Institutionen
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haben zudem auch reglementierende und disziplinierende Wirkung, weshalb unter diesen Bedingungen schon für die Bewahrung der möglichen Freiheit und erreichter Chancengleichheiten praktische und geistige Anstrengungen zu unternehmen sind. An Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud knüpfen Perspektiven an, die auf eine hinter die politische Ebene zurückgreifende, kulturphilosophische oder zivilisationstheoretische Sichtweise Freiheit und Gleichheit in den Blick nehmen. Nietzsche hat den Subjektbegriff, auf dem die Idee der Freiheit bis tief ins 19. Jahrhundert ruhte, stark kritisiert. Das rationale Selbst und die Aufklärung samt Fortschrittsglauben enthalten nicht nur eine teleologische Geschichtsphilosophie, sondern ihnen wird überpointiert die irrationale trieb- und raubtierhafte Natur des Menschen gegenübergestellt. Das kommende Massenzeitalter wird aus geistesaristokratischer Perspektive kritisiert, und zwar sowohl als reelle Vermittelmäßigung und Nivellierung der Menschen als auch hinsichtlich seiner christlichen Grundlagen, deren Gleichheitsgedanke dem Prinzip der Rangordnung entgegensteht. Von einem elitären FreiheitsbegrifF aus avancieren die wahren Philosophen zu den Wenigen, die Werte setzen. Sie sind frei und unterliegen nicht dem Konformitätsdruck und der nivellierenden Gleichheitsvorstellung, die Nietzsche am Sozialismus scharf geißelte. Psychologische Argumente gegen den SubjektbegrifF entwickelte Siegmund Freud. Sein Modell der menschlichen Persönlichkeit betont deren interne Konflikte und rückt die Vernunft aus dem Zentrum. Zudem kritisiert er einseitig marxistische Gleichheitsvorstellungen. Gleichwohl knüpfen auch Theoretiker aus dem Umfeld der marxistisch inspirierten Kritischen Theorie an Freud an, während es in der französischen politischen Philosophie eher Nietzsche war, der zum Ausgangspunkt gewählt wurde. Beide Linien der Kritik am Subjektbegriff sind vielfach fortgesetzt worden. Michel Foucaults Konzept stellt eine der vorläufigen Endstationen dieser Entwicklung dar. Der emphatische Begriff der Freiheit, in dem ein Kollektivsingular auf den Einzelnen bezogen wurde, wird gründlich unterminiert. Foucault spricht - nach der Auflösung der Begriffsopposition von Herrschaft und Freiheit, seinem Bruch mit der Repressionshypothese (Regieren, Disziplinieren) - konsequenterweise nur noch von Praktiken der Freiheit. Plastisch wird seine Kritik, wenn man sie zu Herbert Marcuse in Beziehung setzt, der die Gegenposition vertritt, in der Herrschaft und Freiheit einen Gegensatz bilden und die Befreiung des Subjektes unterstellt wird. Erich Fromm argumentiert, dass der Kapitalismus die Menschen aus vielen Bindungen freisetzt, auch viele Chancen eröffnet, aber der Preis ist eine Individualisierung und auch Vereinsamung der Menschen, die eher zur Flucht vor der Freiheit denn zu ihrer positiven Nutzung fuhrt. Fromms Kritik am Konzept negativer Freiheit verdeutlicht sozialpsychologische Ursachen für autoritäre und totalitäre Tendenzen aus der liberalen Demokratie heraus. Die eher institutionelle, demokratietheoretische Auseinandersetzung mit Freiheit und Gleichheit setzt bei Max Webers berühmter Diagnose ein, wonach der moderne Mensch in der Massengesellschaft trotz deren Entwicklungsdynamik zunehmend in ein »neues
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Gehäuse der Hörigkeit« gepresst wird. Das beschreibt die Ambivalenz der Moderne. Weber polemisiert mit Marx, der einen engen Zusammenhang zwischen Marktwirtschaft und bürgerlicher Demokratie annahm, und verweist auf die europäischen Sonderbedingungen. Rechtsgleichheit und Freiheitschancen sind für Weber die Basis für die moderne Dynamik, die zugleich ihre eigenen Voraussetzungen bedroht. Die Debatte um den negativen und positiven Freiheitsbegriff nach dem Zweiten Weltkrieg kennzeichnet trotz der genannten Kritiken ein emphatisches Freiheitsverständnis, das aus der Frontstellung zum Totalitarismus erwächst. Einsichtig wird dieser Hintergrund bei Jacob Talmon, der eine liberale und eine totalitäre Tradition in der Demokratietheorie unterscheidet. Für Letztere steht bei ihm vor allem Rousseau. In einem klassischen Text hat Isaiah Berlin im gleichen Kontext dann beide Freiheitsbegriffe deutlich unterschieden. Berlin zeigt, dass die Freiheitsbegriffe auf verschiedene Fragen antworten, und demonstriert die Problematik des positiven Freiheitsbegriffes. Berlins spätere Selbstkritik differenziert stärker und zeigt an, dass die massive Gegenüberstellung der Ideen nach der Ära des Kalten Krieges gelockert wird. Eine besondere Konzeption zeichnet Hannah Arendt aus, denn die Kritikerin des Totalitarismus erneuert mit ihrem Republikanismus den positiven Freiheitsbegriff in pluralistischer Perspektive. Auch sie sieht in Problemen der modernen Massengesellschaft mit abnehmenden Bindungen und dem Verlust geteilter Vorstellungen von Welt Ursachen für den Totalitarismus, der allerdings eine Gesellschaftsform für sich ist. Das Konzept negativer Freiheit reicht als Bollwerk nicht aus, weil es die Idee der Aktivbürgerschaft und den dazu gehörenden öffentlichen Raum nicht auf Dauer sicherstellen kann und über keine Idee für ein gutes Leben in der Freiheit verfügt. Hannah Arendt greift für ihre Konzeption auf die ganze Tradition republikanischen Denkens, vor allem das antike Denken zurück. Ihr emphatischer Freiheitsbegriff nimmt aber moderne Kritiken, wie die Nietzsches, tief in sich auf. Handeln in Freiheit ist so selten und prekär, dass es im Prinzip auf republikanische Gründungsakte reduziert wird. Für Arendt ist die besondere Fähigkeit des Menschen das Handeln, das Anfangen-Können von Neuem, in diesem Tun erblickt sie die Grundlage des Politischen, einem Agieren der Gleichen im öffentlichen Raum. Muster sind dabei die griechische Polis und die Gründung der amerikanischen Republik. Die mit John Rawls 1971 einsetzende Wiederbelebung politischer Philosophie und vertragstheoretischen Denkens mündet in eine Debatte um das Selbstverständnis der amerikanischen Demokratie ein, die sich von den Prämissen des Systemkonfliktes freimacht. Deshalb ist der Streit zwischen Liberalen und Kommunitaristen ab 1989 auch stark in Deutschland rezipiert worden. Ein genereller Mangel der Debatte liegt in dem gesellschaftstheoretischen Defizit, welches aus der Konzentration auf die politische Philosophie erwächst. Die politisch relevante Kontroverse zwischen Liberalen (Nozick, Rawls), die so oder so den Vorrang der Freiheit betonen, und Kommunitaristen (Taylor, Walzer), die die Einbindung der Individuen in Gemeinschaften und oft auch die Gleichheit stärker betonen,
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dreht sich vor allem um folgende Fragen: Was ist der methodische Ausgangspunkt, von dem Freiheit und Gleichheit zu denken sind, das Individuum als einzelnes oder als soziales Wesen? In welchem Ausmaß und mit welchen Mitteln können Gleichheit und Gerechtigkeit gewahrt werden? Inwieweit sind für die Demokratie Konzepte des guten Lebens nötig? Einen eigenen Stellenwert haben feministische Theorien und Stellungnahmen zur Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen, forcieren sie doch die Gleichheitsproblematik auf spezifische Art und Weise (vgl. Holland-Cunz 2003). In ihren Kritiken sind folgende Punkte entwickelt worden: Der private und öffentliche Raum werde zu strikt getrennt, so dass die Ungleichheiten und restriktiven Wirkungen, denen Frauen im Privaten ausgesetzt sind, ausgeblendet werden. Auf doppelte Weise wird damit Ungleichheit und Unfreiheit kontinuiert, im privaten Bereich und wegen der Kettung von Frauen an ihn vermittelt auch im öffentlichen Bereich. Der Raum der Politik ist patriarchal dominiert. Ferner sei das Konzept der Chancengleichheit unzulänglich, weil nur durch zeitweilige positive Diskriminierung der Weg zu mehr Gleichheit und Freiheit beschreitbar ist. Das heißt, es geht hier nicht nur um Gleichheit im Sinne von weniger Ungleichheiten, sondern um die Chancen, die eigenen Bedürfnisse und Absichten definieren und zu politischen Themen machen zu können (vgl. Phillips 1987).
FRIEDRICH NIETZSCHE
Sozialismus und Gleichheit Dagegen Gleichheit der Rechte fordern, wie es die Socialisten der unterworfenen Kaste thun, ist nimmer mehr der Ausfluss der Gerechtigkeit, sondern der Begehrlichkeit. - Wenn man der Bestie blutige Fleischstücke aus der Nähe zeigt und wieder wegzieht, bis sie endlich brüllt: meint ihr, dass dies Gebrüll Gerechtigkeit bedeute? (S. 293) Besitz und Gerechtigkeit. - Wenn die Socialisten nachweisen, dass die Eigenthumsvertheilung in der gegenwärtigen Menschheit die Consequenz zahlloser Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten ist, und in summa die Verpflichtung gegen etwas so unrecht Begründetes ablehnen: so sehen sie nur etwas Einzelnes. Die ganze Vergangenheit der alten Cultur ist auf Gewalt, Sclaverei, Betrug, Irrthum aufgebaut;
wir können aber uns selbst, die Erben aller dieser Zustände, ja die Concrescenzen aller jener Vergangenheit, nicht wegdecretieren und dürfen nicht einzelne Stücke herausziehen wollen. Die ungerechte Gesinnung steckt in den Seelen der Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht besser als die Besitzenden und haben kein moralisches Vorrecht, denn irgend wann sind ihre Vorfahren Besitzende gewesen. (S. 293 f) Aus: Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 2, 2. Aufl., München 1988, Stück 451 f.
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FRIEDRICH NIETZSCHE Christentum und Gleichheit Ich wollte sagen: das Christenthum war bisher die verhängnissvollste Art von Selbst-Überhebung. Menschen, nicht hoch und hart genug, um am Menschen als Künstler gestalten zu dürfen; Menschen, nicht stark und fernsichtig genug, um, mit einer erhabenen Selbstbezwingung, das Vordergrund-Gesetz des tausendfaltigen Missrathens und Zugrundegehns walten zu lassen·, Menschen nicht vornehm genug, um die abgründlich verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch zu sehen: - solche Menschen haben mit ihrem »Gleich vor Gott«, bisher über dem Schicksale Europa's gewaltet, bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Herdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmäßiges herangezüchtet ist, der heutige Europäer... (S. 83) Aus: Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 5,2. Aufl., München 1988, S. 9-242, Stück 62.
FRIEDRICH NIETZSCHE Gleichheit und Demokratie Wir, die wir eines anderen Glaubens sind wir, denen die demokratische Bewegung nicht bloss eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich VerkleinerungsForm des Menschen gilt, als seine Vermittelmäßigung und Werth-Erniedrigung: wohin müssen wir mit unseren Hoffnungen greifen? - Nach neuen Philosophen, es bleibt keine Wahl; nach Geistern, stark und ursprünglich genug, um die Anstöße zu entgegengesetzten Werthschätzun-
gen zu geben und »ewige Werte« umzuwerten, umzukehren; nach Vorausgesandten, nach Menschen der Zukunft, welche der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der den Willen von Jahrtausenden auf neue Bahnen zwingt. (S. 126) Aus: Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 5, 2. Aufl., München 1988, S. 9-242, Stück 203.
SIGMUND FREUD Freiheit und Aggression Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen. Durch die Kulturentwicklung erfahrt sie Einschränkungen, und die Gerechtigkeit fordert, daß keinem diese Einschränkungen erspart werden. Was sich in einer menschlichen Gemeinschaft als Freiheitsdrang rührt, kann Auflehnung gegen eine bestehende Ungerechtigkeit sein und so einer weiteren Entwicklung der Kultur günstig werden, mit der Kultur verträglich bleiben. Es kann aber auch dem Rest der ursprünglichen, von der Kultur ungebändigten Persönlichkeit entstammen und so Grundlage der Kulturfeindseligkeiten werden. Der Freiheitsdrang richtet sich also gegen bestimmte Formen und Ansprüche der Kultur oder gegen Kultur überhaupt. (S. 226) Die Existenz dieser Aggressionsneigung, die wir bei uns selbst verspüren können, beim anderen mit Recht voraussetzen, ist das Moment, das unser Verhältnis zum Nächsten stört und die Kultur zu ihrem Aufwand [an Energie] nötigt. Infolge dieser primären Feindseligkeit der Men-
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sehen gegeneinander ist die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht. Das Interesse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht zusammenhalten, triebhafte Leidenschaften sind stärker als vernünftige Interessen. Die Kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten. Daher also das Aufgebot an Methoden, die die Menschen zu Identifizierungen und zielgehemmten Liebesbeziehungen antreiben sollen, daher die Einschränkung des Sexuallebens und daher auch das Idealgebot, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, das sich wirklich dadurch rechtfertigt, daß nichts anderes der ursprünglichen menschlichen Natur so sehr zuwiderläuft. Durch alle ihre Mühen hat diese Kulturbestrebung bisher nicht sehr viel erreicht. (...) Die Kommunisten glauben den Weg zur Erlösung vom Übel gefunden zu haben. Der Mensch ist eindeutig gut, seinem Nächsten wohlgesinnt, aber die Einrichtung des privaten Eigentums hat seine Natur verdorben. Besitz an privaten Gütern gibt dem einen die Macht und damit die Versuchung, den Nächsten zu mißhandeln; der vom Besitz Ausgeschlossene muß sich in Feindseligkeit gegen den Unterdrücker auflehnen. Wenn man das Privateigentum aufhebt, alle Güter gemeinsam macht und alle Menschen an deren Genuß teilnehmen läßt, werden Übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen verschwinden. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, wird keiner Grund haben, in dem anderen seinen Feind zu sehen; der notwendigen Arbeit werden sich alle bereitwillig unterziehen. Ich habe nichts mit der wirtschaftlichen Kritik des kommunistischen Systems zu tun (...) Aber seine psychologische Voraussetzung vermag ich als haltlose Illusion zu erkennen. Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiß ein starkes und gewiß nicht das stärkste. An den Unterschieden von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absich-
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ten mißbraucht, daran hat man nichts geändert, auch an ihrem Wesen nichts. (S. 241 f.) Aus: Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Kulturtheoretische Schriften, Frankfurt/M. 1986, S. 191 — 270.
HERBERT MARCUSE Repression Unter der Herrschaft eines repressiven Ganzen läßt Freiheit sich in ein mächtiges Herrschaftsinstrument verwandeln. Der Spielraum, in dem das Individuum seine Auswahl treffen kann, ist für die Bestimmung des Grades menschlicher Freiheit nicht entscheidend, sondern was gewählt werden kann und was vom Individuum gewählt wird. Das Kriterium für die freie Auswahl kann niemals ein absolutes sein, aber es ist auch nicht völlig relativ. Die freie Wahl der Herren schafft die Herren oder die Sklaven nicht ab. Freie Auswahl unter einer breiten Mannigfaltigkeit von Gütern und Dienstleistungen bedeutet keine Freiheit, wenn diese Güter und Dienstleistungen die soziale Kontrolle über ein Leben von Mühe und Angst aufrechterhalten - das heißt die Entfremdung. Und die spontane Reproduktion aufgenötigter Bedürfhisse durch das Individuum stellt keine Autonomie her; sie bezeugt nur die Wirksamkeit der Kontrolle. (S. 27 f.) Aus: Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Darmstadt und Neuwied 1967.
Politische Normen
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CARL SCHMITT
M A X WEBER
Konkrete Gleichheit und Homogenität
Das Gehäuse der neuen Hörigkeit
Eine Gleichheit, welche keinen anderen Inhalt hat als die allen Menschen von selbst gemeinsame Gleichheit wäre eine unpolitische Gleichheit, weil ihr das Korrelat einer möglichen Ungleichheit fehlt. Jede Gleichheit bekommt ihre Bedeutung und ihren Sinn durch das Korrelat einer möglichen Ungleichheit. (...) Der demokratische Begriff der Gleichheit ist ein politischer Begriff und nimmt, wie jeder echte politische Begriff, auf die Möglichkeit einer Unterscheidung Bezug. Die politische Demokratie kann daher nicht auf der Unterschiedslosigkeit aller Menschen beruhen, sondern nur auf der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk. (...) Diese demokratische Gleichheit ist die Voraussetzung für alle anderen weiteren Gleichheiten: Gleichheit des Gesetzes, gleiches Wahlrecht, gleiches Stimmrecht, allgemeine Wehrpflicht, gleicher Zugang zu Ämtern. Das allgemeine Wahlrecht ist also nicht der Inhalt der demokratischen Gleichheit, sondern Folge einer vorausgesetzten Gleichheit. Nur deshalb, weil alle Staatsangehörige als gleich vorausgesetzt werden, müssen sie gleiches Wahlrecht, gleiches Stimmrecht usw. haben. (...) Die demokratische Gleichheit ist daher eine substanzielle Gleichheit. Weil alle Staatsbürger an dieser Substanz teilhaben, können sie als gleich behandelt werden, gleiches Wahl- und Stimmrecht haben usw. Die Substanz der Gleichheit kann in den verschiedenen Demokratien und verschiedenen Zeitaltern verschieden sein. (S. 227 f.)
Diese »naturrechtlichen« Axiome geben uns ebensowenig eindeutige Weisungen für ein soziales und ökonomisches Programm, wie sie selbst ganz und gar nicht eindeutig durch irgendwelche - am wenigsten die »modernen« ökonomischen Bedingungen allein produziert werden. (...) Es stünde heute äußerst übel um die Chancen der »Demokratie« und des »Individualismus«, wenn wir uns für ihre Entwicklung auf die gesetzmäßige Wirkung materieller Interessen verlassen sollten. Denn diese weisen so deutlich wie möglich den entgegengesetzen Weg: im amerikanischen »benevolent feudalism«, in den deutschen sogenannten »Wohlfahrtseinrichtungen«, in der russischen Fabrikverfassung, überall ist das Gehäuse für die neue Hörigkeit fertig, es wartet nur darauf, daß die Verlangsamung im Tempo des technisch-ökonomischen »Fortschritts« und der Sieg der »Rente« über den »Gewinn« in Verbindung mit der Erschöpfung des noch »freien« Bodens und der noch »freien« Märkte die Massen »gefügig« macht, es endgültig zu beziehen. (...)
Aus: Carl Schmitt, Verfassungslehre, München und Leipzig 1928.
Es ist höchst lächerlich, dem heutigen Hochkapitalismus, wie er jetzt nach Rußland importiert wird und in Amerika besteht, - dieser »Unvermeidlichkeit« unserer wirtschaftlichen Entwicklung, - Wahlverwandtschaft mit »Demokratie« oder gar mit »Freiheit« (in irgend einem Wortsinn) zuzuschreiben, während die Frage doch nur lauten kann: wie sind, unter seiner Herrschaft, all diese Dinge auf die Dauer »möglich«? (...) Die historische Entstehung der modernen »Freiheit« hatte einzigartige, niemals sich wiederholende Konstellationen zur Voraussetzung. (...) Zunächst die überseeische Expansion (...) Zweitens die Eigenart der ökonomischen und sozialen Struktur der »frühkapitalistischen« Epoche in Westeuropa und drittens die Eroberung des Lebens
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durch die Wissenschaft, das »Zusichselbstkommen des Geistes« ... Endlich: gewisse, aus der konkreten historischen Eigenart einer bestimmten religiösen Gedankenwelt herausgewachsene ideale Wertvorstellungen, welche, mit zahlreichen ebenfalls durchaus eigenartigen politischen Konstellationen und mit jenen materiellen Voraussetzungen zusammenwirkend, die »ethische« Eigenart und die »Kulturwerte« des modernen Menschen prägten. (S. 62 ff.) Aus: Max Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 33-68.
M A X WEBER Rechtsgleichheit und Kapitalismus Es ist klar, daß jene Forderungen formaler Rechtsgleichheit und ökonomischer Bewegungsfreiheit sowohl der Zerstörung aller spezifischen Grundlagen patrimonialer und feudaler Rechtsordnungen zugunsten eines Kosmos von abstrakten Nonnen, also indirekt der Bürokratisierung, vorarbeiteten, [als] andererseits in ganz spezifischer Art der Expansion des Kapitalismus entgegenkommen. Wie die von den Sekten mit dogmatisch nicht ganz identischen Motiven übernommene »innerweltliche Askese« und die Art der Kirchenzucht der Sekten die kapitalistische Gesinnung und den rational handelnden Berufsmenschen, den der Kapitalismus brauchte, züchteten, so boten die Menschen- und Grundrechte die Vorbedingungen für das freie Schalten des Verwertungsstrebens des Kapitals mit Sachgütern und Menschen. (S. 726) Aus: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Sozio-
logie, 5. revidierte Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 1985.
ISAIAH BERLIN Negative und positive Freiheit Um die erste dieser politischen Bedeutungen des Begriffs »Freiheit« (freedom and liberty verwende ich hier gleichbedeutend), um die »negative Freiheit«, wie ich sie nennen möchte, geht es in der Antwort auf die Frage: »In welchem Bereich muß (oder soll) man das Subjekt - einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen sein und tun lassen, wozu es imstande ist, ohne daß sich andere Menschen einmischen?« Um die zweite Bedeutung - ich möchte sie »positive Freiheit« nennen - geht es in der Antwort auf die Frage: »Von was oder von wem geht die Kontrolle oder Einmischung aus, die jemand dazu bringen kann, dieses zu tun oder zu sein und nicht jenes andere?« Beide Fragen sind klar voneinander unterschieden, auch wenn sich die Antworten vielleicht überschneiden. (S. 201) Freisein in diesem Sinne bedeutet für mich, daß ich von anderen nicht behelligt oder gestört werde. Je größer der Bereich der Ungestörtheit, desto größer meine Freiheit. Das meinten die klassischen englischen Philosophen, wenn sie dieses Wort verwendeten. Sie waren uneins in der Frage, wie groß dieser Bereich sein kann oder soll, nahmen aber an, daß er nicht unbegrenzt sein könne, denn dann käme es dahin, daß alle Menschen jederzeit alle anderen behelligen könnten ... (S. 203) Diese Vorstellungen stehen in einem völligen Gegensatz zu den Zwecken derer, die an die Freiheit im »positiven« - selbstbestimmten Sinne glauben. Jene wollen die Staatsgewalt als solche eindämmen. Diese wollen die Staatsgewalt selbst in die Hand bekommen. Das ist der
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entscheidende Punkt. Es handelt sich hier nicht um zwei verschiedene Deutungen eines einzigen Begriffs, sondern um zwei grundverschiedene, unvereinbare Einstellungen zu den Zielen des Lebens. Man tut gut daran, dies zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn es in der Praxis oft nötig ist, einen Kompromiß zwischen beiden zu finden. Denn beide Haltungen erheben absolute Ansprüche. (S. 249) Aus: Isaiah Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe, in: ders., Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt/M. 1995, S. 197-256.
ISAIAH BERLIN Die Kluft zwischen negativer und positiver Freiheit In der ursprünglichen Fassung von Two Concepts of Liberty habe ich Freiheit als die Abwesenheit von Hindernissen, die der Erfüllung der Wünsche eines Menschen im Wege stehen, bezeichnet. Dies ist eine bekannte, vielleicht die bekannteste Bedeutung, in der dieser Begriff gebraucht wird, aber sie entspricht nicht meiner Position. Denn wenn negative Freiheit einfach darin besteht, daß man von anderen nicht gehindert wird, das zu tun, was man tun will, dann besteht eine Möglichkeit, diese Freiheit zu erlangen, auch darin, die eigenen Wünsche auszulöschen. Ich habe diese Definition und den mit ihr verbundenen Gedankengang kritisiert, ohne die Inkonsistenz zwischen dieser Kritik und der Formulierung zu bemerken, von der ich ausgegangen war. (S. 40 f.) Freiheit in dem Sinne, in dem ich diesen Begriff verwende, verweist nicht nur auf die Abwesenheit von Enttäuschung (die auch durch die Abtötung der Wünsche erzielt werden könnte), sondern auf die Abwesenheit von Hindernissen für mögliche Wahlentscheidungen und Betä-
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tigungen - auf das Fehlen von Hindernissen auf den Wegen, die jemand einzuschlagen beschließen kann. Diese Freiheit beruht letztlich nicht darauf, ob ich diesen Weg tatsächlich gehen will und wie weit, sondern darauf, wie viele Türen mir offenstehen und wieweit sie geöffnet sind; (S. 41 f.) Meine These lautet, daß sich im Laufe der Geschichte die Idee der »positiven« Freiheit also die Antwort auf die Frage »Wer ist der Herr?« - von der Idee der negativen Freiheit der Antwort auf die Frage »Auf welchem Gebiet bin ich der Herr?« - immer mehr entfernt hat; und daß sich diese Kluft mit der metaphysischen Spaltung des Selbst in eine »höheres« oder »wirkliches« oder »ideales« Selbst, das ein »niederes«, »empirisches«, »psychologisches« Selbst beherrschen soll, noch vertiefte; (...) irgendwann wurde dieses »höhere« Selbst mit Institutionen, Kirchen, Nationen, Rassen, Staaten, Klassen, Kulturen, Parteien oder auch unbestimmteren Entitäten gleichgesetzt, der volonte ginerale, dem Gemeinwohl, den aufgeklärten Kräften der Gesellschaft, der Avantgarde der fortschrittlichsten Klasse, der Vorsehung. Meine These lautet, daß sich im Verlaufe dieses Prozesses das, was ursprünglich eine Doktrin der Freiheit war, in eine Doktrin der Autorität und bisweilen auch der Unterdrückung verwandelte und zur bevorzugten Waffe des Despotismus wurde - ein Phänomen, das uns heute nur allzu vertraut ist. (S.46f.) Aus: Isaiah Berlin, Einleitung, in: ders., Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt/M. 1995, S. 9-65.
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ERICH FROMM Freiheit zu sich selbst steht noch aus Die These dieses Buches lautet, daß der moderne Mensch, nachdem er sich von den Fesseln der vor-individualistischen Gesellschaft befreite, die ihm gleichzeitig Sicherheit gab und ihm Grenzen setzte, sich noch nicht die Freiheit verstanden als positive Verwirklichung seines individuellen Selbst - errungen hat; das heißt, daß er noch nicht gelernt hat, seine intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten voll zum Ausdruck zu bringen. Die Freiheit hat ihm zwar Unabhängigkeit und Rationalität ermöglicht, aber sie hat ihn isoliert und dabei ängstlich und ohnmächtig gemacht. Diese Isolierung kann der Mensch nicht ertragen, und er sieht sich daher vor die Alternative gestellt, entweder der Last seiner Freiheit zu entfliehen und sich aufs neue in Abhängigkeit und Unterwerfung zu begeben oder voranzuschreiten zur vollen Verwirklichung jener positiven Freiheit, die sich auf die Einzigartigkeit und Individualität des Menschen gründet. (S. 10) Aus: Erich Fromm, Furcht vor der Freiheit, Stuttgart 1983.
HANNAH ARENDT Freiheit als Sinn der Politik Wir sahen, daß der Satz: Der Sinn von Politik ist Freiheit, voraussetzt, daß Politik es mit der Welt zu tun hat und nicht mit dem Leben und daß Freiheit dort beginnt, wo die Sorge um das Leben aufgehört hat, die Menschen zu zwingen, sich so oder anders zu verhalten. Und wir sahen, daß diese Begriffe von Freiheit und Politik im Widerspruch stehen zu den Gesellschaftstheorien der Moderne. Dieser Sachverhalt legt
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natürlich nahe zu versuchen, hinter die Neuzeit und ihre Theorien zurückzugehen und uns älteren Traditionen anzuvertrauen. Die eigentliche Schwierigkeit in der Behandlung unseres Themas entsteht dadurch, daß dies nicht so einfach möglich ist. Denn meine Behauptung, daß Freiheit ein wesentlich politisches Phänomen ist, daß sie primär weder im Wollen noch im Denken, sondern im Handeln erfahren wird und damit auf einen eigens für dies Handeln erstellten, eben politischen Raum angewiesen ist, widerspricht sehr alten und sehr ehrwürdigen Vorstellungen. (S. 210) Aus: Hannah Arendt, Freiheit und Politik, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994, S. 201 -226. Das Politische in diesem griechischen Sinne verstanden ist also um die Freiheit zentriert, wobei Freiheit negativ als Nicht-beherrschtWerden und Nicht-Herrschen verstanden wird und positiv als ein von vielen zu erstellender Raum, in welchem jeder sich unter seinesgleichen bewegt. Ohne solche Anderen, die meinesgleichen sind, gibt es keine Freiheit, und darum ist der, der über Andere herrscht und daher auch von Anderen prinzipiell verschieden ist, zwar glücklicher und beneidenswerter als die, welche er beherrscht, aber er ist um nichts freier. Auch er bewegt sich in einem Raum, indem es Freiheit überhaupt nicht gibt. Dies ist fur uns schwer zu verstehen, weil wir mit Gleichheit den Begriff der Gerechtigkeit verbinden und nicht den der Freiheit, und so den griechischen Ausdruck fur eine freie Verfassung, die »isonomia«, in unserem Sinn einer Gleichheit vor dem Gesetz mißverstehen. (S. 39 f.) Aus: Hannah Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. von Ursula Ludz, München und Zürich 1993.
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Daß die Idee der Freiheit und die Erfahrung eines Neuanfangs miteinander verkoppelt sind in dem Ereignis selbst, ist für das Verständnis der modernen Revolution entscheidend. (...) So versteht man selbst in der politischen Theorie gemeinhin unter politischer Freiheit überhaupt kein primär politisches Phänomen, sondern im Gegenteil die mehr oder minder ungehinderte Ausübung nicht-politischer Betätigungen, die jeweils von einem Staat erlaubt und garantiert ist. (S. 33-37) Nun liegt in der Tat eine der Schwierigkeiten, zu einem gültigen Revolutionsbegriff zu kommen, darin, daß es in den Revolutionen der Neuzeit notwendigerweise immer um beides gegangen ist, um Befreiung und um Freiheit. Und da Befreitsein, nämlich die Abwesenheit jedes ungesetzlichen Zwanges, der die Bewegungsfreiheit einschränkt, in der Tat die wesentlichste Bedingung der Freiheit selbst ist - schon weil ja niemand sich je in das Reich der Freiheit begeben könnte, es sei denn, er sei im vollen Besitz der Bewegungsfreiheit - , ist es konkret oft sehr schwer auszumachen, wo das bloße Bestreben, sich von einem lastenden Zwang zu befreien, endet und wo der Wille zur Freiheit als einem positiven Lebensmodus beginnt. (S. 40 f.) Aus: Hannah Arendt, Über die Revolution, mit einem Nachwort von Hermann Lübbe, München 1965, Kap. 2,2.
JOHN RAWLS Der politische Sinn einer Theorie der Gerechtigkeit Kurz gesagt, geht es darum, daß in einem demokratischen Verfassungsstaat das öffentliche Verständnis von Gerechtigkeit so weit wie möglich von kontroversen philosophischen und religiösen Lehren unabhängig sein soll. Indem wir eine
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entsprechende Konzeption ausarbeiten, wenden wir das Prinzip der Toleranz auf die Philosophie selbst an: die öffentliche Gerechtigkeitskonzeption muß politisch und darf nicht metaphysisch sein; (...)(S. 255) Die Geschichte des demokratischen Denkens während der letzten zwei Jahrhunderte hat gezeigt, daß keine Übereinstimmung darüber besteht, wie die grundlegenden Institutionen eines demokratischen Verfassungsstaates gestaltet werden müssen, (...) Es besteht eine tiefe Uneinigkeit darüber, wie die Werte der Freiheit und Gleichheit am besten in der Grundstruktur der Gesellschaft verwirklicht werden. Vereinfacht können wir diese Kontroverse als Auseinandersetzung innerhalb der Tradition demokratischen Denkens betrachten: und zwar zwischen der Lockeschen Tradition, die ein größeres Gewicht auf die »Freiheiten der Modernen« (Denk- und Gewissensfreiheit, persönliche Grundrechte, Schutz des Eigentums, Rechtsstaatlichkeit) legt, und der Rousseauschen Tradition, die größeres Gewicht auf die »Freiheiten der Alten« (gleiche politische Freiheiten und die Werte des öffentlichen Lebens) im Sinne der Unterscheidung von Constant legt. (...) Gerechtigkeit als Fairness versucht zwischen diesen konkurrierenden Traditionen zu vermitteln: erstens durch zwei Gerechtigkeitsgrundsätze, welche als Richtlinien für die institutionelle Verwirklichung der Werte von Freiheit und Gleichheit dienen; zweitens dadurch, daß ein Standpunkt entwickelt wird, von dem aus diese Grundsätze der Natur freier und gleicher demokratischer Bürger angemessener erscheinen als andere vertraute Gerechtigkeitsgrundsätze. (S. 260) Aus: John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness: politisch und nicht metaphysisch, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1969-1978, Frankfurt/M. 1994, S. 255-292.
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Durchsetzung von Verträgen beschränkt, gerechtfertigt ist; daß jeder darüber hinausgehenZwei Grundsätze der Gerechtigkeit de Staat Rechte der Menschen, zu gewissen Dingen nicht gezwungen zu werden, verletzt und Jede Person hat ein gleiches Recht auf ein völlig damit ungerechtfertigt ist; und daß der Minimaladäquates System gleicher Grundrechte und staat durchaus attraktiv wie auch das Rechte ist. Grundfreiheiten, das mit dem gleichen System (S. 11) für alle anderen vereinbar ist. Der Minimalstaat behandelt uns als unverSoziale und ökonomische Ungleichheiten letzliche Einzelmenschen, die von anderen nicht müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens in bestimmter Weise als Mittel oder Werkzeuge müssen sie mit Ämtern und Positionen verbun- oder Instrumente oder Hilfsquellen benutzt werden sein, die allen unter den Bedingungen fairer den dürfen; er behandelt uns als Personen mit Chancengleichheit offenstehen, und zweitens ihren Rechten und der daraus fließenden Würde. müssen sie zum größten Vorteil der am wenigs- Er behandelt uns mit Respekt, indem er unsere ten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft Rechte respektiert, und gestattet uns, einzeln sein. oder gemeinsam mit wem wir wollen über unser Jeder dieser Grundsätze bezieht sich auf Leben zu entscheiden und unsere Ziele und einen anderen Teil der Grundstruktur, und beide unser Selbstverständnis zu verwirklichen, so gut haben nicht nur mit Grundrechten, Freiheiten wir können, wobei uns andere Menschen, denen und Chancen zu tun, sondern auch mit dem die gleiche Würde eigen ist, freiwillig helfen. Anspruch auf Gleichheit. Dies wird durch den Wie könnte es ein Staat oder eine Gruppe von zweiten Teil des zweiten Grundsatzes noch Menschen wagen, mehr zu tun. Oder weniger. unterstrichen. Beide Grundsätze zusammen (S. 303) regulieren die grundlegenden Institutionen, die diese Werte verwirklichen, wobei dem ersten Aus: Robert Nozick, Anarchie, Staat und Grundsatz ein Vorrang vor dem zweiten eingeUtopia, München 1976. räumt wird. (S. 261) JOHN RAWLS
Aus: John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness: politisch und nicht metaphysisch, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989, Frankfurt/M. 1992, S. 255-292.
ROBERT NOZICK Priorität der Freiheit ohne Umverteilungen Unsere Hauptergebnisse bezüglich des Staates lauten, daß ein Minimalstaat, der sich auf einige eng umgrenzte Funktionen wie den Schutz gegen Gewalt, Diebstahl, Betrug oder die
CHARLES TAYLOR Kritik der negativen Freiheit Innerhalb jeder Kategorie gibt es eine ganze Palette von Auffassungen. Dies sollte man im Kopf behalten, da es allzu einfach ist, sich im Rahmen der Polemik auf die extremen, fast schon karikaturistischen Varianten beider theoretischer Lager zu fixieren. Diejenigen, die die Theorien positiver Freiheit attackieren, haben im allgemeinen irgendeine totalitäre linke Theorie vor Augen, der zufolge Freiheit ausschließlich in der Ausübung kollektiver Kontrolle über das eigene Schicksal innerhalb einer klassenlo-
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sen Gesellschaft besteht (...) Sogar bezogen auf den offiziellen Kommunismus ist dieses Bild ein wenig überzogen, obgleich es zweifellos die innere Logik dieser Art von Theorien ausdrückt. Es wird jedoch zur absurden Karikatur, wenn es auf den gesamten Bereich der positiven Freiheitskonzeptionen angewandt wird. Dazu gehören all diejenigen Auffassungen des modernen politischen Lebens, die an die republikanische Theorie anschließen, der zufolge die Selbstregierung der Menschen als solche, und nicht nur aus instrumentellen Gründen, als ein positiver Wert betrachtet wird. (...) Dem korrespondiert auf der anderen Seite eine sich in den Vordergrund drängende karikaturistische Version negativer Freiheit. Es handelt sich um die auf Hobbes oder in anderer Hinsicht auf Bentham zurückgehende harte Version, die Freiheit einfach als die Abwesenheit von externen physischen oder gesetzlichen Hindernissen begreift. (...) Eine solche Darstellung der negativen Auffassung liefert meiner Ansicht nach ein verzerrtes Bild, da sie eines der mächtigsten Motive der modernen Verteidigung der Freiheit als individueller Unabhängigkeit überspringt, nämlich die nachromantische Idee, daß jede Person ihre eigene, originäre Form der Selbstverwirklichung besitzt, die sie jeweils nur unabhängig entfalten kann. (S. 118 -120) Isaiah Berlin weist darauf hin, daß negative Theorien sich mit dem Bereich befassen, innerhalb dessen das Subjekt frei von Einmischungen sein sollte, während die positiven Doktrinen sich damit befassen, wer oder was Herrschaft ausübt. Ich möchte den Akzent gern ein wenig anders setzen. Doktrinen positiver Freiheit haben eine Auffassung von Freiheit zum Thema, die ganz besonders die Ausübung von Kontrolle über das eigene Leben betrifft. Dieser Auffassung zufolge sind wir nur in dem Maße frei, in dem wir tatsächlich über uns selbst und die Form unseres Lebens bestimmen. Der Freiheitsbegriff ist hier ein Verwirklichungsbegriff.
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Negative Theorien können sich im Gegensatz hierzu einfach auf einen Möglichkeitsbegriff berufen, dem zufolge frei zu sein davon abhängt, was wir tun können, was unserem Handeln offen steht, unabhängig davon, ob wir etwas tun, um diese Option wahrzunehmen oder nicht. (S. 121) Aus: Charles Taylor, Der Irrtum der negativen Freiheit, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M. 1992, S. 118-144. Der Begriff der Identität verweist uns auf gewisse Wertungen, die wesentlich sind, weil sie den unerläßlichen Horizont oder die Grundlage bilden, von wo aus wir als Personen reflektieren und werten. Diesen Horizont zu verlieren oder nicht gefunden zu haben, bedeutet in der Tat eine schreckliche Erfahrung von Auflösung und Verlust. Deshalb können wir von einer Identitätskrise sprechen, wenn wir nicht mehr im Griff haben, wer wir sind. Ein Subjekt entscheidet und handelt aus bestimmten grundlegenden Wahlen heraus. Das gerade ist es, was innerhalb der Theorie radikaler Wahl nicht möglich ist. Der Akteur der radikalen Wahl hätte im Augenblick der Wahl ex hypothesi keinen Wertehorizont. Er wäre völlig ohne Identität. (...) Das Subjekt radikaler Wahl ist eine weitere Manifestation jener immer wiederkehrenden Figur, die unsere Kultur zu realisieren trachtet - das entkörperlichte Ego, das Subjekt, das alles Sein objektivieren kann, einschließlich seines eigenen Seins, und das in radikaler Freiheit wählen kann. Aber dieses Versprechen des totalen Selbstbesitzes bedeutet in Wahrheit den totalen Selbstverlust. (S. 37 f.) Aus: Charles Taylor, Was ist menschliches Handeln, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M. 1992, S. 9-51.
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MICHAEL WALZER Komplexe - Gleichheit und Pluralität Es gibt einfach keine einzig Verteilungsregel oder einen konsistenten Satz von Verteilungsregeln, nach der man alle heute begehrten Güter verteilen könnte. Dies ist der Punkt meiner Meinungsverschiedenheit mit John Rawls und anderen Philosophen, deren »Gerechtigkeitsprinzipien« in der Lage sein sollen zu bestimmen, wie alle wichtigen Güter verteilt werden sollen. Dagegen möchte ich die allgemeine Vorstellung von einer Eigenständigkeit von Gerechtigkeitsregeln und von der Autonomie einzelner Verteilungssphären vertreten. Keine einzelne sachliche Verteilungsregel kann Allgemein-Zuständigkeit beanspruchen, aber dennoch gibt es eine universelle Verfahrensregel: Jedes Gut soll nach den Geltungskriterien seiner eigenen »Sphäre« zugeteilt werden. (S. 12) Meine Intention in diesem Buch ist es, das Bild einer Gesellschaft zu zeichnen, in der soziale Güter und Werte nicht als Mittel der Herrschaft genutzt werden bzw. nicht als solche genutzt werden können. (...) Egalitarismus ohne Prokrustesbett; ein lebendiger und offener Egalitarismus, der nicht am strengen Wortsinn des Begriffs klebt, sondern an den großzügigeren Dimensionen und Inhalten seines Wunschbildes orientiert ist; ein Egalitarismus, der mit Freiheit gleichzusetzen ist. (S. 19) Das System der komplexen Gleichheit ist das Gegenteil von Tyrannei. Es erzeugt ein Netz von Beziehungen, das Dominanz und Vorherrschaft verhindert. Formal gesprochen bedeutet komplexe Gleichheit, daß die Position eines Bürgers in einer bestimmten Sphäre oder hinsichtlich eines bestimmten sozialen Gutes nicht unterhöhlt werden kann durch seine Stellung in einer anderen Sphäre oder hinsichtlich eines anderen sozialen Guts. So kann Bürger X Bürger Y bei der Besetzung eines politischen Amtes vorgezogen werden mit dem Effekt, daß die beiden in der
Sphäre der Politik nicht gleich sind. Doch werden sie generell solange nicht ungleich sein, wie das Amt von X diesem keine Vorteile über Y in anderen Bereichen verschafft, also etwa bessere medizinische Versorgung, Zugang zu besseren Schulen für seine Kinder, größere unternehmerische Chancen usw. Solange das Amt kein dominantes Gut ist, ist es nicht allgemein konvertierbar; die es innehaben, stehen - zumindest potentiell - in einem Verhältnis der Gleichheit zu den von ihnen regierten oder verwalteten Männern und Frauen. (S. 49) Aus: Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer fur Pluralität und Gleichheit, Frankfurl/M. und New York 1992.
MICHAEL WALZER Gleichheit und Markt Die Kunst der Trennung fördert nicht nur die Freiheit, sondern auch Gleichheit. (...) Religionsfreiheit hebt die Zwangsgewalt politischer und kirchlicher Beamter auf. Dadurch schafft sie (im Prinzip) die Priesterschaft aller Gläubigen, d.h. sie überläßt es unterschiedslos allen Gläubigen, ihr eigenes Heil zu suchen. In praktischer Hinsicht neigt sie dazu, Kirchen hervorzubringen, die eher von Laien als von Priestern beherrscht werden. Akademische Freiheit sorgt theoretisch (wenn auch nicht immer tatsächlich) dafür, daß autonome Universitäten rechtlich geschützt sind. Innerhalb autonomer Universitäten läßt sich die privilegierte Stellung reicher und aristokratischer Kinder schwer aufrechterhalten. Der freie Markt steht jedem offen, ohne Ansehen der Rasse oder der Religion. Schließlich vermögen selbst Fremde und Pariagruppen für gewöhnlich seine Möglichkeiten auszunutzen. Auch wenn die Marktwirtschaft im Ergeb-
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nis soziale Ungleichheit produziert, so bilden diese doch niemals nur die Hierarchien von Kaste oder Abstammung oder, was das betrifft, des »Verdienstes« bestimmter Stände ab. (S. 47 f) Aus: Michael Walzer, Liberalismus und die Kunst der Trennung, in: ders., Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Berlin 1992, S. 38-63.
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Zukunft des demokratischen Denkens von entscheidender Bedeutung. Wir müssen eine politische Sprache finden, die Heterogenität und Differenz anerkennt, ohne zugleich vor einem Reduktionismus zu kapitulieren, der jeden von uns nur durch einen einzigen Aspekt definiert. (S. 270) Aus: Anne Phillips: Geschlecht und Demokratie, Hamburg 1995.
A N N E PHILLIPS Feministische Kritik am liberalen Konzept
THOMAS NAGEL Unabgegoltenes Gleichheitsideal
Walzer schreibt über die Unterdrückung der Frau, als handle es sich um die illegitime Wiederaufnahme von »Verwandtschaftsstrukturen« (was dies genau beinhaltet, bleibt unklar) in anderen Distributionssphären. Sie wirken sich auf den Zugang der Frauen zu Arbeitsplätzen und Bildung und, in früheren Zeiten, auf die Erlangung des Wahlrechts aus. Das heißt, mit anderen Worten, was innerhalb der Familie geschieht, ist im Grunde in Ordnung. Die Probleme entstehen dann, wenn das Geschlecht bzw. das »Verwandtschaftsverhältnis« außerhalb ihrer rechtmäßigen Domäne wirksam werden. (S. 256)
Wir haben uns alle so sehr an die uferlosen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten gewöhnt, daß es uns zunehmend leichter fällt, uns ihnen gegenüber abgestumpft zu zeigen. Ist es jedoch eine fundamentale Tatsache, daß jeder einzelne Mensch so wichtig ist wie ein beliebiger anderer, muß es auch als erbärmliche Tatsache gelten, wenn es die effizientesten Gesellschaftssysteme, zu denen wir es bis in unsere Tage zu bringen vermochten, ohne weiteres zulassen, daß so viele Menschen in Verhältnisse drastischer Entbehrung hineingeboren werden, die von vornherein alle Aussicht zunichte machen, jemals ein erträgliches Leben führen zu Der Feminismus muß die Aufteilung in Sphäkönnen, wohingegen andere von Geburt an über ren in Frage stellen und hat diesbezüglich wenig die Sicherheit eines komfortablen Zuhauses verVertrauen in die Unterscheidungen, die die libefügen, später einmal nicht unerhebliche Resrale Demokratie vorzunehmen versucht. Gleichsourcen kontrollieren werden und freizügig wohl sind auch hier gewisse ÜbereinstimmunPrivilegien genießen, die weit über die Begen möglich. (S. 257) Die politische Theorie des Feminismus hat dingungen bloßer Erträglichkeit hinausreichen. das abstrakte Individuum und die falschen Uni- Und die gegenseitige Wahrnehmung dieser versalismen der Aufklärung einer überzeugen- materiellen Diskrepanzen geht dann zusätzlich den Kritik ausgesetzt, und jetzt weisen die Femi- ein in allgemeinere Ungleichheiten von Statusnistinnen den Weg zu einer neuen Politik der privilegien, persönlicher Ungebundenheit und Vielfalt und Differenz. Einige der Wege, die sich Selbstachtung. (...) Man wird die Schwierigkeinun öffnen, möchte ich lieber nicht beschreiten, ten kaum ignorieren können, die sich der aber die Debatte in ihrer Gesamtheit ist für die Abschaffung dieses festgefahrenen Zustande
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entgegenstellen, was aber kein Grund sein kann, ihn nicht zu verabscheuen. Nach meiner Position ist die unparteiische Einstellung sowohl an ihr selbst als auch im Hinblick auf ihre Implikationen strikt egalitär. Ihre Herkunft ist (...) unsere Befähigung, eine Perspektive einzunehmen, die davon abstrahiert, wer wir selbst sind, und die den Wert des Lebens und Wohlergehens jedes einzelnen voll gleichberechtigt mit jedem anderen zählt und sich zu Herzen nimmt. Wir projizieren uns in die Haut jedes einzelnen und messen dabei den Dingen, die ihm widerfahren, einen Wert bei, der sich in vorläufiger Instanz an dem Wert orientiert, den diese Dinge aus der Eigenperspektive für den Menschen selbst haben. (S. 93)
ein stärkeres Interesse erwächst, Bedürftigeren zu helfen als im Verhältais zu ihnen Begünstigteren - eine Anerkennung des prinzipiellen Vorrangs minder Privilegierter vor Menschen, die es ohnehin schon besser haben. (S. 95) Ich werde davon sprechen, daß solche Schritte positive Chancengleichheit herstellen, um sie von der bloß negativen Chancengleichheit zu unterscheiden, die sich bereits durch das pure Nichtvorhandensein diskriminierender Praktiken einstellen würde. (Rawls bezeichnet sie als »faire Chancengleichheit« und beschreibt sie als das Bemühen einer Öffentlichkeit, prozedural sicherzustellen, daß Individuen mit den gleichen natürlichen Befähigungen auch die gleichen Lebenschancen erhalten werden). (S. 145)
Ich bin (indessen) der Überzeugung, daß Unparteilichkeit immer schon an sich egalitär ist, und dabei handelt es sich um eine weniger offensichtliche These. Sie besagt, daß bereits aus der unparteiischen Einstellung als solcher
Aus: Thomas Nagel, Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit und andere Schriften zur politischen Philosophie, Paderborn u. a. 1994.
Ergebnis und Ausblick Freiheit und Gleichheit erweisen sich als in der politischen Theorie wechselseitig aufeinander bezogene normative Grundideen. Die Gleichheit gibt der Ausgestaltung der Freiheitsidee eine juridische oder eine sozial-ökonomische Färbung, die Freiheit gibt der Gleichheitsidee eine beständig den Freiheitsspielraum des Individuums berücksichtigende Rahmung. Zugleich wird die Freiheitsidee durch ihre Ausrichtung auf Gleichheit von den ethischen Aspekten der Freiheit differenziert, die die politische Philosophie lange Zeit dominierten. Die schwierigen Probleme der Freiheit des Willens, die die Reformationszeit prägten, oder der Freiheit des Individuums in Gegenüberstellung zur Gemeinschaftsbezogenheit der Person haben rasch zu anthropologischen oder metaphysischen Grundüberlegungen geführt, die die politische Komponente des Problems marginalisierten. Die etwa in der Frühen Neuzeit noch deutlich sichtbaren christlich-metaphysischen Implikationen der Freiheitsdiskussion im Naturrechtsdiskurs erweisen sich mit Wegfall der transzendenten Allgemeingültigkeit als seltsam wurzellos und bedürfen einer Neubegründimg, die in der Postmoderne und dem Kulturrelativismus die Grenzen ihrer wertentzogenen normativen Gleichgültigkeit aufgezeigt bekam. Postmoderne und Kulturrelativismus sind zu einer
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sorgfältigen Thematisierung von Freiheit und Gleichheit als normativen Orientierungen nicht im Stande gewesen. Daher wurden zentrale Aspekte des Problems weitaus intensiver im Zusammenhang etwa mit Fragen von Citizenship erörtert. Der Einzug haltende Pragmatismus verhinderte ein Überhandnehmen des normativen Nihilismus, der in Nietzsches Kritik an den metaphysischen Setzungen aller Wertung seinen nachhaltig wirksamen Höhepunkt erfahren hatte. »Aus dem Naturrecht ist bei Nietzsche ein Macht-Recht geworden. Es ergab sich als Konsequenz aus den gefallenen theologischen Hintergründen des Naturrechts, die bei Locke oder Hegel noch eine so große Rolle gespielt hatten« (Vgl. Ottmann 1987, S. 230). Unter der Nicht-Differenzierung von ethischer und politischer Freiheit litt die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, die die 80er und beginnenden 90er Jahre des 20. Jahrhunderts beherrschte. Benjamin Barber schickte 1974 die Beobachtung voraus, dass selbst unter bestimmten direkt-demokratischen institutionellen Rahmenbedingungen wie bei einem Schweizer Kanton die praktizierte Freiheit nicht schon durch ein institutionelles Arrangement alleine gewährleistet war. Quentin Skinner wendet gegen den Kommunitarismus ein, dass er zwei generelle Paradoxa des Freiheitsbegriffes in sich birgt: zum einen nämlich den Umschlag der Verbindung von Freiheit und Selbstregierung zur limitierenden Konsequenz, dass nur bestimmte Ziele politisch verfolgenswert sind; zum anderen reflektiert der Zusammenhang von Freiheit und Zwang das problematische Verhältnis von Rechten und Pflichten. Werden nämlich Rechte einseitig präferiert, so kann die Notwendigkeit entstehen, per Zwang die Freiheit zu erhalten. Skinner plädiert für eine schwache Wiederaufnahme des Republikanismus, deren Zentrum die Aufwertung politischer Pflichten ist, deren Hintanstellung im liberalen Konzept dieses selbst unterminiert (vgl. Skinner 1991). Auf der anderen Seite wird eine Liberalismus-Konzeption politisch irrelevant, die die Freiheit darin erkennt, dass Individuen rechtliche Ansprüche gegen ihre Mitbürger und die Welt als ganze geltend machen. Der Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit zeigt die klassischen Liberalen wie Friedrich von Hayek, der am Ende einer langen Kette von Autoren steht, stets im politischen Kampf gegen ökonomische und politische Konsequenzen, die aus der angeblichen Unwirklichkeit des freien und autonomen Individuums gezogen wurden. Das gilt auch noch für Isaiah Berlin, dessen Vereinseitigung des Freiheitsbegriffs auf seine defensivnegative politische Funktion von der Kritik der kommunistischen Alternative zum Liberalismus in ihrer stalinistischen Gestalt geprägt war. Mit dem Wegfall der Blockkonfrontation findet die Debatte um Freiheit und Gleichheit ihren Focus in der modernen Wohlfahrtsstaat-Konzeption. John Rawls' fulminantes Anknüpfen an der klassischen politischen Philosophie diente bereits der Rehabilitierung der in die liberale Kritik geratenen Leistungen und Kosten des Wohlfahrtsstaates. Der Wohlfahrtsstaat knüpft als Umsetzungsprogramm von Freiheit durchaus an den Liberalismus an, indem er sich um die praktisch-soziale Umsetzung des Freiheitsanspruches kümmert. Der Neo-Liberalismus distan-
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IV Kapitel
ziert sich hiervon jedoch rasch mit der Kritik an den schleichenden Entmündigungstendenzen des Wohlfahrtsstaates. Abgesehen von dieser polemischen Streitlinie gibt der Wohlfahrtsstaat aber in Gestalt des »Vorsorgestaates« auch weiteren Aufschluss über die legitimatorische Grundstruktur des modernen Staates, wie Frangois Ewald gezeigt hat (Der Vorsorgestaat, Frankfurt/M. 1993), wonach die gegenseitige Versicherung eine der Bedingungen des modernen Gesellschaftsvertrages darstellt. Literatur zum 2. Abschnitt der Freiheit oder feudales Stabilimentum, Adams, Willi Paul, Republikanische Verfassung Berlin 1984. und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der Amerikanischen Dippel, Horst, Individuum und Gemeinschaft. Revolution, Darmstadt 1973. Soziales Denken zwischen Tradition und Revolution: Smith, Condorcet, Franklin, Arendt, Hannah, Was ist Politik? Fragmente aus Göttingen 1981. dem Nachlaß, hg. von Ursula Ludz, München/Zürich 1993. Dumbauld, Eduard, ed., The Political Writings Barber, Benjamin, The Death of Communal of Thomas Jefferson, New York 1955. Liberty. A History of Freedom in a Swiss Dworkin, Ronald, Sovereign Virtue. The Theory Mountain Canton, Princeton 1974. and Practice of Equality, Cambridge/Mass. 2000. Bärsch, Claus-Ekkehard, Die Gleichheit der Ungleichen - zur Bedeutung von Gleichheit, Gauchet, Marcel, Die Erklärung der MenschenSelbstbestimmung und Geschichte im Streit rechte. Die Debatte um die bürgerlichen Freium die konstitutionelle Demokratie, Münheiten von 1789, Reinbek bei Hamburg 1991. chen 1979. Gaulke, Jürgen, Freiheit und Ordnung bei John Bauman, Zygmunt, Freedom, Milton Keynes Stuart Mill und Friedrich August von Hayek. 1988. Versuch, Scheitern und Antithese eines ethischen Liberalismus, Frankfurt/M. 1994. Blackstone, William, Commentaries, Oxford 1765-69, New York 1966. Gay, Peter, Freud and Freedom. On a Fox in HedBrett, Annabel S., Liberty, Right and Nature. Indigehog's Clothing, in: Ryan, Alan ed., The vidual Rights in Later Scholastic Thought, Idea of Freedom. Essays in Honour of Isaiah Cambridge 1997. Berlin, Oxford 1979. Butler, Marilyn, Burke, Paine, Godwin and the Gutman, Amy, ed., Freedom of Association, Revolution Debate, Cambridge 1984. Princeton 1998. Clark, Jonathan C.D., The Language of Liberty Goldie, Mark, Absolutismus, Parlamentarismus 1660-1832. Political discourse and social und Revolution in England, in: Pipers Handdynamics in the Anglo-American World, buch der politischen Ideen, hg. v. Iring FetCambridge 1994. scher/Herfried Münkler, Bd. 3, München/ Zürich 1985, S. 275-352. Dann, Otto, Gleichheit und Gleichberechtigung - das Gleichheitspostulat in der alteu- Frankfurt, Harry G., Freiheit und Selbstbestimropäischen Tradition und in Deutschland bis mung, hg. v. Monika Betzler/Barbara zum ausgehenden 19. Jahrhundert, Berlin Guckes, Berlin 2001. 1980. Heuvel, Gerd van den, Der Freiheitsbegriff der Demetrios, L. Kyriaz, Magna Charta, Palladium Französischen Revolution, Göttingen 1988.
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IV Kapitel
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3. Kosmopolitismus und Menschenrechte MARCUS LLANQUE
Am 10. Dezember 1948 nahm die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte an. Damit war ein neues Kapitel in der Verschränkung von politischen Ideen und politischer Praxis aufgeschlagen. Nach den Erfahrungen mit dem menschenverachtenden politischen Regime des Nationalsozialismus fiel die gegenseitige Verpflichtung auf die Idee der Menschenrechte leichter als noch einige Dekaden zuvor in der Ära des Völkerbundes, des gescheiterten Vorläufers der UNO. Die Menschenrechte sind bereits in der Charta der Vereinten Nationen von 1945 als ein Faktor erwähnt, der beachtet werden muss, um den Weltfrieden zu erlangen. Dieser Faktor steht freilich in einem Spannungsverhältnis zu einem anderen Pfeiler der UNO, dem Nichteinmischungsgebot in die inneren Angelegenheiten der Staaten, ohne welchen es erst gar nicht zur Errichtung der UNO gekommen wäre. Seitdem hat es beständig Versuche gegeben, das Verhältnis von Menschenrechten und Nichteinmischungsgebot auszutarieren. Mittlerweile haben die Menschenrechte für die UNO den Status eines normativen Handlungsprogramms bekommen, und die humanitäre Intervention stellt das schärfste und zugleich umstrittenste Mittel zu ihrer Umsetzung dar. Wie ist sie mit dem grundsätzlichen Gewaltverbot sowohl der Charta als auch der Menschenrechtsidee selber vereinbar? Wieweit darf die Intervention reichen, um den Menschenrechten Geltung zu verschaffen? Wie tief darf die Völkergemeinschaft hierbei in die kulturelle Entwicklung eines Landes eingreifen? Solche Fragen treffen besonders auf Konflikte in Bürgerkriegsgebieten und auf so genannte failed states zu, also Staaten, deren Gewaltmonopol nicht mehr wirksam in Kraft ist. Zur Klärung dieser politischen Fragen ist die Klärung der Menschenrechtsidee vonnöten. Die Idee der Menschenrechte reicht sehr weit zurück und hat verschiedene Quellen. Ungeachtet des spezifischen Rechtsstatus der Menschenrechte, der theoretisch sowohl hinsichtlich seiner politischen Bedeutung als auch seiner institutionellen Umsetzung stark umstritten ist, formuliert diese Idee ein Selbstverständnis des Menschen ungeachtet seiner politischen und sozialen Differenzen. Daher ist der Kosmopolitismus eine wesentliche Wurzel des Menschenrechtsdenkens. Als Begriff wurde der Kosmopolitismus in der Philosophie der Stoa erdacht. Das Vernunftmerkmal des Menschen umschließt alle Menschen, ganz gleich, welcher Herkunft sie sind. Als Vernunftwesen gehören sie gleichsam einer Weltgemeinschaft an. Das soll den Anspruch der antiken politischen Systeme relativieren, den diese gegen ihre Bürger geltend machen. Die Philosophie der Stoa hat damit eine Idee geboren, die sie selbst nicht auf ihre Umsetzbarkeit prüfte, das heißt, sie fragte nicht, mit welchen politisch-institutionellen Strukturen die Kosmopolis die herkömmliche Polis ersetzen kann. Entsprechend geistert die Idee des Weltstaates oder der Weltgesellschaft bis in die Gegenwart durch das politische Denken: Oft erhoben und mit besonderer Dignität
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versehen, verabsäumt man es, sie so zu konstruieren, dass sie die herkömmlichen Formen politischer Systeme überflüssig macht oder in sich aufhebt. Jürgen Habermas etwa (Abschnitt Orte politischen Handelns) will keine kollektive Identität, die nicht von weltgesellschaftlicher Dimension ist, anerkennen. Niklas Luhmann vermeint gar, die Weltgesellschaft bereits beobachten zu können, und die gegenwärtig modische Sprechweise von der Globalisierung zielt auf dasselbe ab. Die Frage ist aber, was daraus politisch und normativ folgt. Die Menschenrechte geben hier die Möglichkeit, die dabei relevanten institutionellen und normativen Aspekte zu thematisieren. Die nachhaltigste Verbindung ist die Menschenrechtsidee mit der Politik in Gestalt der Kataloge von Menschen- und Bürgerrechten in der Gründungsphase der amerikanischen und der französischen Demokratie ausgangs des 18. Jahrhundert eingegangen. Der Tradition der Aufklärung und des Naturrechts entnommen, dient die Menschenrechtsidee der Überwindung von traditionaler Legitimität politischer Systeme. Menschenrechtskataloge werden so zu Bestandteilen der modernen Verfassungsstaaten. Doch bereits hier zeigen sich zwei unterschiedliche Wege. Die USA haben die Menschenrechtsidee in Gestalt der Bill of Rights ihrer Verfassimg nachgehängt. Das Vorbild war dabei die Virginia Bill of Rights, die sich vor der Gründung der USA das damals noch selbständige Virginia gab. Das Vorbild Virginias wirkte inspirierend auf die Menschenrechtsdiskussion in Frankreich, hat dort aber einen wesentlich fundamentaleren Stellenwert eingenommen als in den USA. Während Amerika sich auf die ältere Menschenrechtsidee beruft und sie institutionell umsetzt, und zwar nicht zuletzt in Gestalt einer Verfassungsgerichtsbarkeit, identifiziert Frankreich die Menschenrechtsidee mit dem politischen System, durch welches sie erst dem Individuum zuteil wird. Die Vorstellung, die Menschenrechtsidee auch gegen das eigene politische System geltend zu machen, am beachtlichsten in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre praktiziert, ist Frankreich weitaus fremder. In Frankreich ist die Menschenrechtsidee Gegenstand des politischen Bekenntnisses und war am Ende des 19. Jahrhunderts auch die wesentliche Frontlinie in der Dreyfus-Kontroverse, in welcher sich die menschenrechtsbezogene Republik-Idee gegen die traditionelle Rechte samt ihrer antisemitischen Ressentiments formierte. Heutzutage ist die normative Superiorität der Menschenrechte nicht mehr ernsthaft angefochten. Kulturelle Deutungskämpfe drehen sich um die Interpretation ihrer Idee und des Verhältnisses ihrer Bestandteile, nicht um ihre Anerkennung im Ganzen. Das darf aber nicht dazu führen, die Kritik an der Menschenrechtsidee pauschal als reaktionär abzuteilen. Bereits einige der Gründerväter der USA wie Thomas Jefferson und Alexander Hamilton sind nicht ohne weiteres Befürworter des Vorgangs, die von ihnen an und für sich unterstützte Menschenrechtsidee dem politischen Prozess der Republik in Gestalt eines regelrechten Menschenrechtskataloges aufzubürden. Edmund Burke ist der berühmteste Kritiker der Französischen Revolution. Er beklagt, dass auf der Grundlage einer bloßen Idee, hier der Idee der Menschenrechte, das Problem der Gesellschaft gelöst werden soll
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und prophezeit lange vor der Terreur der Republik von 1793 die Anarchie. Burke ist deswegen kein Anhänger des Ancien Regime. Für den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zeigte er Sympathie und Verständnis. Im Falle Frankreichs jedoch meint er bestürzt beobachten zu müssen, dass bei der Umsetzung der Menschenrechtsidee gleichzeitig die Pfeiler menschlicher Gesellschaft infrage gestellt werden, so dass die Menschenrechtserklärung einem politischen Instrument gleicht, geschaffen, um das Werk und die Normen vergangener Generationen ungeprüft zu zerstören. Gesellschaftliche Fundamentalnormen können seiner Ansicht aber nicht einfach deklariert werden, sondern erwachsen aus der historischen Praxis und haben als solche auch einen Vorrang vor den rationalen Gespinsten einer einzelnen Generation. Die zerstörerische Kraft der Menschenrechte zu beklagen, galt bald als Formel der Reaktion, der konservativen Gegenrevolution. Die heutigen Debatten um die politischen und kulturellen Grundlagen der Menschenrechte in ihrer Wirkung auf Länder mit starken Spuren traditioneller Gesellschaftsformen zeigen jedoch, dass hinter der Skepsis einer solchen Kritik auch ein Potenzial bedenkenswerter Analyse steckt, welches nicht einfach nur als Rhetorik der Reaktion denunziert werden sollte. Karl Marx wiederum stößt sich am ungeklärten internen Spannungsverhältnis der Menschenrechte, in welchen die Rechte auf Freiheit und Gleichheit mit dem gleichfalls geschützten Recht auf Eigentum kollidieren. Die bloße Deklaration von formal gleichwertigen Rechten läuft gesellschaftspolitisch ins Leere, wenn sie die gesellschaftlichen Strukturen nicht bedenkt, die dadurch verewigt werden. Die Menschenrechtsidee fand auf Seiten der politischen Theorie am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur wenige Befürworter. Auch ihre Sympathisanten zeigten oft große Skepsis, wenn es darum ging, ob das Stadium des deklaratorischen Bekenntnisses zu den Menschenrechten in den Zustand ihrer sozialer Wirklichkeit überführt werden kann. So zeigen besonders Soziologen große Zurückhaltung, etwa Emile Dürkheim und Max Weber (vgl. König 2002). Als Anhänger des Individualismus findet die universale Ausrichtung der Menschenrechte ihren Beifall, wenn es darum geht, mindestens ebenso künstliche normative Programme wie Rassismus oder ethnische und ideologische Fronten als Differenzierungen der Menschen zu überwinden. Dürkheim erlebte den Kampf um Dreyfus als Krise der von ihm unterstützen Republik, und Weber erlebte die ideologische Abgrenzung Deutschlands von der »westlichen Demokratie« samt ihren »Ideen von 1789«, welchen das künstliche Gebilde der »Ideen von 1914« im Ersten Weltkrieg entgegengehalten wurde. So gesehen lässt sich die Idee der Menschenrechte und ihr Durchbruch nach 1945 nicht mit Verweis auf ideengeschichtliche Kontinuitäten erklären, sondern mit dem Problembewusstsein der Generation, die den Zweiten Weltkrieg erleben musste. Die Menschenrechte sind im Laufe ihrer Geltung unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen. Zunächst standen sie ganz unter dem Vorzeichen ihrer europäischen Prägung und dienten dem Schutz des Individuums vor staatlicher, aber auch vor gesellschaft-
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licher Macht. Dann zeigte sich freilich, wie wenig die Menschenrechte alleine mit politischen und juridischen Ansprüchen das Individuum schützen. Daher drängen wirtschaftliche und soziale Rechte in den Vordergrund. Schließlich wurde die europäische Philosophie des Individualismus kritisiert, die vergessen mache, dass der Mensch, zumal außerhalb der europäischen Kultur, zutiefst durch religiöse, kulturelle und soziale Verbindungen geprägt sei, weshalb neben den individuellen auch kollektive Rechte anerkannt werden müssten (vgl. Bielefeld 1998). Menschenrechte sind zum Gegenstand der internationalen Politik geworden, oft genug ihr Spielball, weshalb auch die ersten Kritiker von der philosophischen und geschichtsphilosophischen Begeisterung für die Menschenrechte Abstand nehmen und von der Gefahr der Idolatrie, der Götzenanbetung der Menschenrechte sprechen (Michael Ignatieff). Jetzt steht nicht nur die Frage des Inhalts der Menschenrechte im Vordergrund, sondern auch die Frage ihrer politischen Umsetzung, was immer auch heißt: ihres Rechtscharakters. Daher betonen selbst fuhrende Philosophen der Menschenrechte zunächst und zumeist ihren rechtlichen Aspekt, um sie vor vielfaltigem politischen Missbrauch zu schützen. Daher können innerhalb der Menschenrechtsidee zwei Pfade der Argumentation unterschieden werden. Menschenrechte sind Ausdruck einer Auffassung von der vernünftigen Natur des Menschen ungeachtet seiner sozialen und politischen Zugehörigkeit, und sie sind Ausdruck einer bestimmten Vorstellung des Naturrechts, in welcher Vernunft sowohl die Form als auch den Inhalt des Rechts bestimmt. Die Welt als Geltungsraum des Rechts wird hier ungeachtet ihrer politischen Gliederung in Staaten und Gemeinschaften in Betracht gezogen. Wie eine solche Welt in eine Verfassung gebracht werden kann, die den alten Traum von der Kosmopolis wirkungsvoll und dauerhaft umsetzen kann, wird die Aufgabe künftiger Generationen sein.
CHRYSIPP
Menschheit und Weltstaat Die Welt ist ein großer Staat mit einer Verfassung und einem Gesetz. Die natürliche Vernunft gebietet darin, was zu tun, was zu lassen ist. Die räumlich begrenzten Staaten sind freilich unendlich an Zahl und haben verschiedenartige, keineswegs gleiche Verfassungen und Gesetze. Denn jeder erfand wieder andere Sitten und Gebräuche und fugte sie hinzu (...) So wurden die besonderen Verfassungen Zusätze zu dem einen Naturgesetz. (S. 38)
Aus: Hans Welzel, Naturrecht und materielle Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1962.
CICERO
Völker umspannendes Naturrecht Es ist aber das wahre Gesetz die richtige Vernunft, die mit der Natur in Einklang steht, sich in alle ergießt, in sich konsequent, ewig ist, die durch Befehle zur Pflicht ruft, durch Verbieten
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von Täuschung abschreckt, die indessen den Rechtschaffenen nicht vergebens befiehlt oder verbietet, Ruchlose aber durch Geheiß und Verbot nicht bewegt. Diesem Gesetz etwas von seiner Gültigkeit zu nehmen, ist Frevel, ihm irgend etwas abzudingen, unmöglich, und es kann ebensowenig als Ganzes außer Kraft gesetzt werden. Wir können aber auch nicht durch den Senat oder das Volk von diesem Gesetz gelöst werden, (...) noch wird in Rom ein anderes Gesetz sein, ein anderes in Athen, ein anderes jetzt, ein anderes später, sondern alle Völker und zu aller Zeit wird ein einziges, ewiges und unveränderliches Gesetz beherrschen, und einer wird der gemeinsame Meister gleichsam und Herrscher aller sein: Gott! Er ist der Erfinder dieses Gesetzes, sein Schiedsrichter, sein Antragsteller, wer ihm nicht gehorcht, wird sich selber fliehen und das Wesen des Menschen verleugnend, wird er gerade dadurch die schwersten Strafen büßen, auch wenn er den übrigen Strafen, die man dafür hält, entgeht. (S. 281) Aus: Marcus Tullius Cicero, De re publica/Vom Gemeinwesen, lat.-dt., hg. und übersetzt von Karl Büchner, Stuttgart 1979, Buch III, Kap. 22 (33).
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den Menschen als Bürger des obersten Gemeinwesens hat, zu dem die übrigen Gemeinwesen gleichsam wie Häuser gehören. (S. 57) Wenn uns das Denkvermögen gemeinsam ist, dann ist uns auch die Vernunft, durch die wir vernünftig sind, gemeinsam. Wenn dies zutrifft, dann ist auch die Vernunft, die bestimmt, was zu tun ist oder nicht, uns allen gemeinsam. Trifft dies zu, so ist auch das Gesetz uns allen gemeinsam. Wenn dies richtig ist, dann sind wir alle Bürger. In diesem Fall haben wir teil an einer Art von Staatswesen. Wenn dies zutrifft, dann ist der Kosmos gewissermaßen ein Staat. Denn zu welchem gemeinsamen Staatswesen, so könnte jemand fragen, sollte das gesamte Menschengeschlecht sonst gehören? Von dort aber, d.h. aus diesem gemeinsamen Staat, haben wir unser Denkvermögen, unser vernünftiges Wesen und unser Bedürfnis nach dem Gesetz. (S. 67) Aus: Marc Aurel, Wege zu sich selbst, griechisch-deutsch, hg. und übersetzt von Rainer Nickel, Düsseldorf/Zürich 1998, III, 11 und Ι\ζ 4.
Virginia Bill of Rights, Artikel 1 (12. Juni 1776) M A R C AUREL Der Weltstaat, worin alle Staaten nur Häuser sind Nichts trägt nämlich so sehr dazu bei, innere Überlegenheit zu erzeugen, wie die Fähigkeit, methodisch konsequent und wirklichkeitsgerecht jeden im Leben vorkommenden Sachverhalt zu durchleuchten und zu klären, und die Gewohnheit, die Dinge stets so zu betrachten, daß man gewahr wird, welcher Art von Welt die Sache welchen Nutzen bringt und welchen Wert sie einerseits für das Ganze und andererseits für
Alle Menschen sind von Natur gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte, deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer politischen Gemeinschaft durch keinerlei Abmachungen berauben oder zwingen können, sich ihrer zu begeben; nämlich das Recht auf Leben und Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen. (S. 26) Aus: Ernst Fraenkel, Hg., Das amerikanische Regierungssystem. Quellenbuch, Köln und Opladen 1960, S. 26 f.
Politische Normen Amerikanische Unabhängigkeitserklärung (4. Juli 1776) Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und Streben nach Glück gehören; daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; daß, wann immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und diese auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glückes geboten zu sein scheint. (S. 28) Aus: Ernst Fraenkel, Hg., Das amerikanische Regierungssystem. Quellenbuch, Köln und Opladen 1960, S. 28 - 31.
Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte 1789,1791 Da die Vertreter des französischen Volkes, als Nationalversammlung eingesetzt, erwogen haben, daß die Unkenntnis, das Vergessen oder die Verachtung der Menschenrechte die einzigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und der Verderbtheit der Regierungen sind, haben sie beschlossen, die natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte der Menschen in einer feierlichen Erklärung dazulegen, damit diese Erklärung allen Mitgliedern der Gesellschaft beständig vor Augen ist und sie unablässig an ihre Rechte und Pflichten erinnert; (...) Art. I Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale
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Unterschiede dürfen nur im gemeinsamen Nutzen begründet sein. Art. II Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung. Art. III Der Ursprung der Souveränität ruht letztlich in der Nation. Keine Körperschaft, kein Individuum können eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht. Art. IV Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. So hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuß der gleichen Rechte sichern. Diese Grenzen können alleine durch Gesetz festgelegt werden. (...) (S· 37) Aus: Walter Grab, Hg., Die Französische Revolution. Eine Dokumentation, München 1973, S. 37-39.
ALEXANDER HAMILTON Nicht Grundrechtskataloge schützen die Rechte, sondern öffentliche Meinung und der Geist in der Bevölkerung Der bemerkenswerteste dieser noch verbleibenden Einwände [gegen den Verfassungsentwurf] ist der, daß der Entwurf der Versammlung keine »Bill of Rights« [also keinen Grundrechtekatalog] enthält. (S. 499) Man hat verschiedentlich sehr zu recht bemerkt, daß es sich bei den »Bills of Rights« ursprünglich um Abmachungen zwischen den Königen und ihren Untertanen gehandelt hat, um Einschränkungen von Hoheitsrechten zugunsten von Privilegien und um Vorbehalte in bezug auf Rechte, die nicht dem Fürsten abge-
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treten wurden. Von dieser Art war die Magna Charta, die die Barone König Johann mit dem Schwert in der Hand abgerungen haben. Von dieser Art waren die nachfolgenden Bestätigungen der Magna Charta durch darauf folgende Könige. Von dieser Art war die »Petition of Rights«, der Karl I. zu Beginn seiner Regentschaft zustimmte. Von dieser Art war ebenfalls die »Declaration of Right«, die dem Prinz von Oranien 1688 von den Mitgliedern des Oberund Unterhauses vorgelegt und später in die Form eines Parlamentsbeschlusses, genannt die »Bill of Rights«, gebracht wurde. Es ist daher offensichtlich, daß sie gemäß ihrer ursprünglichen Bedeutung nichts mit Verfassungen zu tun haben, die erklärtermaßen auf der Macht des Volkes beruhen und von seinen direkten Vertretern und Dienern ausgeführt werden. Hier gibt das Volk genaugenommen gar nichts auf; und da es alles behält, bedarf es auch keiner besonderen Vorbehalte. (S. 501) Ich möchte noch weiter gehen und behaupten, daß Grundrechtekataloge in dem Sinn und dem Umfang, wie sie gefordert werden, in der vorgeschlagenen Verfassung nicht nur unnötig, sondern sogar gefährlich wären. Sie würden verschiedene Beschränkungen von Befugnissen enthalten, die gar nicht gewährt wurden; aus eben diesem Grund würden sie einen plausiblen Vorwand dafür liefern, mehr zu beanspruchen, als eigentlich gewährt worden ist. Denn warum sollte man ausdrücklich erklären, daß Dinge nicht getan werden dürfen, die zu tun es gar keine Befugnis gibt? Warum sollte z.B. gesagt werden, daß die Freiheit der Presse nicht eingeschränkt werden darf, wenn gar keine Befugnis erteilt wurde, durch die Beschränkungen auferlegt werden könnten? (...) Was bedeutet eine Erklärung, daß die »Freiheit der Presse unverletztlich sein« solle? Was ist die Freiheit der Presse? Wer kann sie in einer Weise definieren, die für Umgehungen nicht den größten Spielraum läßt? Ich halte das für unmöglich; und daraus schließe ich, daß ihre Sicherheit - welch
schöne Erklärungen man dazu auch in irgendwelche Verfassungen eingefügt haben mag gänzlich von der öffentlichen Meinung und dem in der Bevölkerung und in der Regierung herrschenden allgemeinen Geist abhängen wird. Hierin muß man, wie bei anderer Gelegenheit angedeutet, letztlich die einzig solide Basis für alle unsere Rechte suchen. (S. 502 f.) Aus: Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die Federalist Papers, übersetzt, eingel. und mit Anmerkungen versehen von Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993, Federalist No. 84, S. 499-508.
IMMANUEL KANT Weltbürgerrecht Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf. (S.216f.) So wie die Natur weislich die Völker trennt, welche der Wille jedes Staats, und zwar selbst nach Gründen des Völkerrechts, gern unter sich durch List oder Gewalt vereinigen möchte: so vereinigt sie auch andrerseits Völker, die der Begriff des Weltbürgerrechts gegen Gewalttätigkeit und Krieg nicht würde gesichert haben, durch den wechselseitigen Eigennutzen. Es ist der Handelsgeist, der mit dem Krieg nicht
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zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt. Weil nämlich unter allen, der Staatsmacht untergeordneten, Mächten (Mitteln) die Geldmacht wohl die zuverlässigste sein möchte, so sehe sich Staaten (freilich wohl nicht eben durch Triebfedern der Moralität) gedrungen, den edlen Frieden zu befördern, und, wo auch immer in der Welt Krieg auszubrechen droht, ihn durch Vermittlungen abzuwehren, gleich als ob sie deshalb im beständigen Bündnisse ständen (...) Auf die Art garantiert die Natur, durch den Mechanism in den menschlichen Neigungen selbst, den ewigen Frieden; freilich mit einer Sicherheit, die nicht hinreichend ist, die Zukunft desselben (theoretisch) zu weissagen, aber doch in praktischer Absicht zulangt, und es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß schimärischen) Zwecke hinzuarbeiten. (S. 226 f.) Aus: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden - ein philosophischer Entwurf, 2. Aufl., Königsberg 1796, in: ders., Theorie-Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Band XI, S. 195-251.
EDMUND BURKE Gegen abstrakte Menschenrechte Ich bin weit entfernt, die wahren Rechte des Menschen in der Theorie abzuleugnen, ebensoweit entfernt, sie in der Ausübung zu verwerfen (...) Ich widersetze mich eben darum den falschen Ideen von diesen Rechten, weil sie gerade auf die Zerstörung der wahren abzielen. Wenn bürgerliche Gesellschaft zum Besten des Menschen gestiftet ist, so erwirbt der Mensch ein Recht auf alle die Vorteile, welche die Gesellschaft zum Zweck hat. Bürgerliche Gesellschaft ist ein Institut, dessen Essenz Wohltätigkeit ist, und das Gesetz selbst nichts anders als Wohltä-
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tigkeit nach einer Regel. Es ist des Menschen Recht, unter dieser Regel zu leben, es ist sein Recht, immer nach Gesetzen behandelt zu werden, weil er sich beständig unter seinesgleichen findet, diese mögen nun in öffentlichen Funktionen oder in Privatbeschäftigungen begriffen sein. Der Mensch hat ein Recht auf die Früchte seiner Industrie und auf die Mittel, seine Industrie fruchtbringend zu machen. Er hat ein Recht auf das, was seine Vorfahren erworben haben, auf die Ernährung und Erziehung seiner Kinder, auf Unterricht im Leben und Trost im Tod. Zu allem, was er für sich selbst uns abgesondert tun kann, ohne andre zu beeinträchtigen, dazu hat er ein Recht, und außerdem hat er seine gerechten Ansprüche auf einen billigen Anteil an allem, was die Gesellschaft mit allen ihren Mitteln, Kräfte und Geschicklichkeit zu vereinigen, zu seiner Beglückung beitragen kann. In dieser Gemeinschaft haben alle Menschen gleiche Rechte: aber nicht alle auf gleiche Gegenstände. (...) Wenn bürgerliche Gesellschaft durch Verträge entstanden ist, so müssen diese Verträge ihre Grundgesetze sein. Diese Verträge müssen die Form und die Grenzen jeder Staatsverfassung, die unter ihrer Sanktion errichtet wird, bestimmen. Jede Art von gesetzgebender, richterlicher oder ausübender Macht ist ihr Werk. Nur in einer Ordnung der Dinge, die diese Verträge hervorbrachten, ist eine solche Macht denkbar. Wie kann es einem Menschen einfallen, sich auf den gesellschaftlichen Vertrag zu berufen, wenn er Rechte ausüben will, die nicht einmal die Existenz des gesellschaftlichen Vertrages voraussetzen? Rechte, die sogar diesem Vertrage schnurstracks zuwiderlaufen? Einer der ersten Bewegungsgründe, eine bürgerliche Gesellschaft zu errichten, und eine der ersten Fundamentalregeln einer solchen Gesellschaft ist, »daß niemand Richter in seiner eignen Sache sein soll«. Vermöge dieses Grundgesetzes entsagt jeder einzelne einmal für immer dem ersten Fundamentalrecht des unverbündeten Menschen, für sich selbst zu
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entscheiden und seine Sache nach eigner Willkür zu verfechten. Er entsagt allen Ansprüchen auf die natürliche, unbeschränkte Souveränität über seine Handlungen. Er gibt sogar, wenn auch nicht gänzlich, doch im großen Maße, das Recht der Selbstverteidigung, die älteste Forderung seiner Natur auf. Der Mensch kann nicht die Rechte eines ungeselligen und eines geselligen Zustandes zu gleicher Zeit genießen. Damit nur Recht überhaupt gelte, tut er Verzicht auf seine Befugnis zu bestimmen, was gerade in den Punkten, die für ich die allerwesentlichsten sind, Recht ist. Damit er nur über einen Teil seiner Freiheit wahrhaft disponieren könne, legt er die ganze Masse derselben in den gemeinschaftlichen Schatz der Gesellschaft nieder. Staaten sind nicht gemacht, um natürliche Rechte einzuführen, die in voller Unabhängigkeit von allen Staaten existieren können und wirklich existieren, und in viel größrer Klarheit und in einem weit höhern Grade abstrakter Vollkommenheit existieren. Aber eben in ihrer abstrakten Vollkommenheit liegt ihre praktische Unzulänglichkeit. Solange der Mensch ein Recht auf alles hat, mangelt es ihm an allem. Staaten sind Kunststücke menschlicher Weisheit, um menschlichen Bedürfnissen abzuhelfen. Der Mensch (in Gesellschaft) hat ein Recht zu verlangen, daß seinen Bedürfnissen durch menschliche Weisheit abgeholfen werde. Unter diesen Bedürfnissen ist eins der dringendsten, daß es für menschliche Leidenschaften, die im außergesellschaftlichen Zustande schrankenlos wüten, einen Zügel gebe. Wenn die Gesellschaft bestehen soll, ist es nicht hinlänglich, daß die Leidenschaften des einzelnen gehorchen: auch wenn der vereinigte Haufen, auch wenn eine große Masse wirkt, ist es schlechterdings notwendig, daß ihren Neigungen oftmals Widerstand geleistet, ihrem Willen Einhalt getan, ihrer Begierde eine Grenze gesetzt werde. Dies kann nur durch eine Gewalt von außen, nicht durch eine solche geschehen, die in ihrer Ausübung demselben Willen und denselben Leidenschaf-
IV Kapitel
ten, die sie im Zaum halten und unterdrücken soll, unterworfen ist. Von dieser Seite betrachtet, gehören die Einschränkungen des Menschen so gut als seine Freiheiten unter seine Rechte. Da aber die Grade der Freiheit und der Einschränkungen nach Zeit und Umständen wechseln müssen, so können sie unmöglich vermittelst einer abstrakten Regel festgesetzt werden. (S. 131-135) Wenn jene metaphysischen Rechte des Menschen in das bürgerliche Leben übergehen, so werden sie wie Lichtstrahlen, die in ein dichteres Medium dringen, nach unwandelbaren Naturgesetzen von ihrem geraden Wege abwärts gebrochen. Wahrlich, in der dicken, labyrinthischen Masse menschlicher Angelegenheiten und menschlicher Leidenschaften müssen jene ursprünglichen Befugnisse so mannigfaltige Abänderungen erleiden, daß es töricht wird, sie zu behandeln, als wenn sie in ihrer einfachen Gestalt beharren könnten. Die Natur des Menschen ist verwickelt. Die Gegenstände des gesellschaftlichen Lebens sind unendlich zusammengesetzt: eine einfache Anordnung, eine einseitige Richtung der Kraft stimmt daher weder mit des Menschen Natur noch mit seinen Zwecken [überein]. Wenn ich höre, daß man in neu zu errichtenden Verfassungen nach Simplizität strebt und mit Simplizität prahlt, so zweifle ich keinen Augenblick, daß die Werkmeister schamlos-unwissend in ihrer Kunst oder strafbar-nachlässig in ihrer Pflicht sind. Einfache Regierungsformen sind allemal mangelhaft und müssen mangelhaft sein, eben darum, weil sie einfach sind. Wenn man die Gesellschaft aus einem isolierten Gesichtspunkte ansieht, so haben alle diese einfachen Formen etwas Unendlich-Anziehendes. Allerdings würden sie einen einzelnen abgesonderten Zweck weit vollkommener erreichen als die zusammengesetzten Formen ihre komplizierte Bestimmung. (S. 137) Aus: Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, in: Her-
Politische Normen
mann Klemer, Hg., Edmund Burke/Friedrich Gentz, Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, Berlin 1991.
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EMILE DÜRKHEIM Irrtum der Menschenrechte als Naturrecht
Nach Kant ist der Mensch ein moralisches Wesen. Sein Recht leitet sich aus dieser moralischen Qualität her und ist folgerichtig auch von daher bestimmt. Diese moralische Qualität KARL M A R X begründet die Unverletzlichkeit der Person; Kritik der Menschenrechte alles, was gegen diese Unverletzlichkeit verstößt, bedeutet eine Verletzung des Rechts. DesVor allem konstatieren wir die Tatsache, daß die halb sehen die Anhänger des sogenannten sogenannten Menschenrechte, die droits de Naturrechts, das heißt der Auffassung, wonach l 'komme im Unterschied von den droits du citoy- die Rechte des Individuums sich aus seiner en, nicht anderes sind als die Rechte des Mit- Natur herleiten, im Recht des Individuums glieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des etwas Universelles, einen Kodex, der ein fur egoistischen Menschen, des vom Menschen und allemal aufgestellt werden kann und der für alle Gemeinwesen getrennten Menschen. Die radi- Zeiten und für alle Länder Geltung besitzt. Der kalste Konstitution, die von 1793, mag spre- negative Charakter, den sie diesem Recht zu chen: Erklärung der Menschen- und Bürger- geben versuchen, erweckt den Anschein, daß es rechte: (...) Die Freiheit ist also das Recht, alles sich leichter bestimmen ließe. Doch das Postuzu tun und zu treiben, was keinem anderen scha- lat, auf dem diese Theorie beruht, ist eine künstdet. Die Grenze, in welcher sich jeder dem ande- liche Vereinfachung. Als Basis des individuellen ren unschädlich bewegen kann, ist durch Gesetz Rechts dient nicht der Begriff des Individuums, bestimmt, wie die Grenze zweier Felder durch wie es ist, sondern die Art und Weise, wie die den Zaunpfahl bestimmt ist. Es handelt sich um Gesellschaft mit ihm umgeht, wie sie das Individie Freiheit des Menschen als isolierter auf sich duum begreift und welchen Wert sie ihm beizurückgezogener Monade. (...) Die praktische mißt. Entscheidend ist nicht, was das IndividuNutzanwendung des Menschenrechts der Frei- um ist, sondern was es wert ist, und umgekehrt, heit ist das Menschenrecht des Privateigentums. was es sein soll. Wenn der einzelne mehr oder (...) das Recht, willkürlich (ä son gre), ohne weniger Rechte hat, wenn er bestimmte Rechte Beziehung auf andere Menschen, unabhängig besitzt und bestimmte andere nicht, so nicht, von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genie- weil er in einer bestimmten Weise beschaffen ist, ßen und über dasselbe zu disponieren, das Recht sondern weil die Gesellschaft ihm einen des Eigennutzes. Jene individuelle Freiheit, wie bestimmten Wert zumißt, weil sie dem, was den diese Nutzanwendung derselben, bilden die einzelnen betrifft, einen mehr oder weniger Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie hohen Wert beilegt. (S. 98) läßt jeden Menschen im anderen Menschen Kant erklärt die menschliche Person für autonicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die nom. Doch eine absolute Autonomie kann es Schranke seiner Freiheit finden. (S. 364 f.) nicht geben. Die Person ist Teil der physikalischen und sozialen Umwelt, sie ist engstens Aus: Karl Marx, Zur Judenfrage, in: Karl darin eingebunden; deshalb kann sie nur eine Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, relative Autonomie besitzen. Und welches Maß Berlin 1970, S. 347-377. an Autonomie steht ihr zu? Es liegt auf der Hand,
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daß die Antwort vom Zustand der Gesellschaften abhängt, das heißt vom Stand der Meinungen darin. Es gab Zeiten, da galt materielle Knechtschaft durchaus nicht als unmoralisch; und manchmal war sie sogar vertraglich geregelt. Wir haben sie abgeschafft, aber wie viele Formen moralischer Knechtschaft haben überlebt? Kann man von einem Menschen, der nichts zum Leben hat, sagen, er sei autonom, er sei Herr seines Handelns? Welche Abhängigkeiten sind legitim, und welche illegitim? Auf diese Frage läßt sich keine Antwort geben, die für alle Zeiten gültig wäre. Die Rechte des Individuums sind also in ständiger Entwicklung begriffen; sie entwickeln sich weiter, und es ist unmöglich, ihnen eine Grenze zu setzen, die sie nicht überschreiten dürfen. Was gestern noch Luxus erschien, ist morgen schon ein streng zu beachtendes Recht. Die Aufgabe, die dem Staat damit zufällt, ist folglich unbegrenzt. Er hat nicht einfach nur ein festumrissenes Ideal zu verwirklichen, das irgendwann einmal endgültig erreicht sein wird. Vielmehr ist der Weg, den seine moralische Aktivität einschlagen kann, offen und ohne festgelegtes Ziel. (S. 100) Aus: Emile Dürkheim, Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, übersetzt von Michael Bischoff, hg. von Hans-Peter Müller, Frankfurt/M. 1991.
IV Kapitel
te und also auch sollte. Der Irrtum dieser substanzialistischen Anschauung ist methodisch derselbe, wie wenn man zwischen einem Individuum und dem Inhalte irgendeines Rechtes einen unmittelbaren Zusammenhang behaupten wollte, derart, daß das Wesen jenes Menschen, wie es an und für sich und ohne weitere Rücksicht auf außer ihm Liegendes ist, auf diese Kompetenz einen »gerechten« Anspruch hätte wie es etwa in der individualistischen Vorstellung der »Menschenrechte« geschehen ist. In Wirklichkeit ist Recht doch nur ein Verhältnis von Menschen untereinander und vollzieht sich nur an den Interessen, Objekten oder Machtvollkommenheiten, die wir einen Rechtsinhalt, »ein Recht« im engeren Sinne nennen und die an und für sich überhaupt keine angebbare, ihnen selbst anzusehende »gerechte« oder »ungerechte« Beziehung zu einem Individuum haben. Erst wenn jenes Verhältnis besteht und sich zu Normen gefestigt hat, können diese von sich aus, einen einzelnen Menschen und einen einzelnen Inhalt gleichsam zusammen ergreifend, die Verfügungsgewalt jenes über diesen als eine gerechte charakterisieren. (S. 132 f.) Aus: Georg Simmel, Philosophie des Geldes, 2. Aufl. 1907, zit. nach: ders., Gesamtausgabe, Bd. 6, hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt/M. 1989.
HANNAH ARENDT GEORG SIMMEL
Kritik der Menschenrecht
Menschenrechte und Gerechtigkeit Das Mittelalter nahm eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Objekte und dem Geldpreis an, d.h. eine, die auf dem an sich seienden Wert jedes von ihnen beruhte und die deshalb zu einer objektiven »Richtigkeit« gebracht werden konn-
Daß es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben - und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man auf Grund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird - , wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses
Politische Normen
Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen. Dieses Übel hat so wenig etwas mit den uns aus der Geschichte bekannten Übeln von Unterdrückung, Tyrannei oder Barbarei zu tun (und widersteht daher auch allen humanitären Heilungsmethoden), daß es sogar nur möglich war, weil es keinen »unzivilisierten« Flecken Erde mehr gibt, weil wir, ob wir wollen oder nicht, in der Tat in »einer Welt« leben. Nur weil die Völker der Erde trotz aller bestehenden Konflikte sich bereits als ein Menschengeschlecht etabliert haben, konnte der Verlust der Heimat und des politischen Status identisch werden mit der Ausstoßung aus der Menschheit überhaupt. Bevor sich dies ereignete, wurde das, was wir heute als ein »Recht« zu betrachten gelernt haben, eher als ein allgemeines Kennzeichen des Menschseins angesehen und die Rechte, die hier verlorengehen, als menschliche Fähigkeiten. Der Verlust der Relevanz und damit der Realität des Gesprochenen involviert in gewissem Sinne den Verlust der Sprache, zwar nicht in einem physischen Sinne, wohl aber in dem Sinne, in dem Aristoteles den Menschen als ein Lebewesen definierte, das sprechen kann; denn hiermit meinte er nicht die physische Kapazität, die auch Barbaren und Sklaven zukam, sondern die Fähigkeit, im Zusammenleben durch Sprechen, und nicht durch Gewalt, die Angelegenheiten des menschlichen und vor allem des öffentlichen Lebens zu regeln. Die Narrenfreiheit der Internierungslager wie die Verfolgungen, die unabhängig sind von dem, was einer sagt und meint, machen gleicherweise den Betroffenen mundtot in des Wortes eigentlicher Bedeutung. Und an diesen Verlust reiht sich der Verlust der öffentlich gesicherten Gemeinschaft überhaupt, der Fähigkeit zum Politischen, die, wie immer man sie deutete, seit Aristoteles ebenfalls als ein Kennzeichen des Menschseins überhaupt galten. (...) Dabei muß man sich vergegenwärtigen, daß das grundsätzliche Verbrechen der Sklaverei nicht
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darin bestand, daß Sklaven die Freiheit verloren (was auch unter anderen Umständen eintreten kann), sondern darin, daß ein System geschaffen wurde, in dem ein Kampf für Freiheit unmöglich wurde, und eine Institution, in der man den Verlust der Freiheit als ein naturgegebenes Faktum verstand, so daß es erscheinen konnte, als wären Menschen entweder als Freie oder als Sklaven geboren. Daß man in der Formulierung der Menschenrechte gerade auch die Freiheit für ein »angeborenes Recht« erklärte, ist nur der letzte Rest dieser Theorie; die angeborene Freiheit wurde nun aufjedermann, selbst auf die Sklaven erstreckt, und man übersah, daß beides, Freiheit wie Unfreiheit, ein Produkt menschliches Handelns ist und mit der »Natur« gar nichts zu tun hat. Aber wie immer es um die Sklaverei bestellt sein mag, in gewissem Sinne ist der moderne Staatenlose weiter und endgültiger aus der Menschheit ausgestoßen als der Sklave, dessen Arbeit gebraucht, genutzt und ausgebeutet wurde und der dadurch immer noch in den Rahmen des Menschseins einbezogen blieb. Er lebte noch in bestimmten, sozialen und politischen Beziehungen, die erst die displaced persons eines Internierungs- oder die Insassen eines Konzentrationslagers ganz und gar verloren haben. Sie sind ein warnendes Exempel dafür, daß der Mensch alle sogenannten Menschenrechte einbüßen kann, daß er sogar in Sklaverei geraten kann, ohne seine wesentlich menschliche Qualität zu verlieren; diese Qualität, das, was macht, daß ein Mensch ein Mensch ist, und was die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts die »Menschenwürde« nannte, kann er nur verlieren, wenn man ihn aus der Menschheit überhaupt, und das heißt konkret aus jeglicher politischen Gemeinschaft, entfernt. Das Recht, das diesem Verlust entspricht und das unter den Menschenrechten niemals auch nur erwähnt wurde, ist in den Kategorien des achtzehnten Jahrhunderts nicht zu fassen, weil sie annehmen, daß Rechte unmittelbar der »Natur« des Menschen entspringen - wobei es
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verhältnismäßig gleichgültig ist, ob diese Natur im Sinne des Naturrechts oder im Sinne einer im Ebenbilde Gottes geschaffenen Kreatur vorgestellt ist, ob es sich um »natürliche« Rechte, oder göttliche Gebote handelt. Entscheidend bleibt, daß diese Rechte und die mit ihnen verbundene Menschenwürde auch dann gültig und real bleiben müßten, wenn es nur einen einzigen Menschen auf der Welt gäbe; sie sind unabhängig von der menschlichen Pluralität und müßten auch dann gültig bleiben, wenn ein Mensch aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen ist. Als die Menschenrechte zum ersten Male proklamiert wurden, galten sie als unabhängig von der Geschichte und von den Privilegien, welche die Geschichte gewissen Schichten der Gesellschaft zugespielt hatte. In der neuen Unabhängigkeit lag die neu entdeckte Würde des Menschen. Diese neue Würde nun war von Anfang an recht fragwürdiger Art. Historische Rechte wurden durch natürliche Rechte ersetzt, die »Natur« an die Stelle der Geschichte gesetzt, wobei stillschweigend vorausgesetzt war, daß die Natur, dem Wesen des Menschen weniger fremd sei als die Geschichte. (S. 462-464) Diese neue Situation, in der die »Menschheit« faktisch die Rolle übernommen hat, die früher der Natur oder der Geschichte zugeschrieben wurde, würde in diesem Zusammenhang besagen, daß das Recht auf Rechte oder das Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören, von der Menschheit selbst garantiert werden müßte. Und ob dies möglich ist, ist durchaus nicht ausgemacht. Denn entgegen allen noch so gutwilligen humanitären Versuchen, neue Erklärungen der Menschenrechte von internationalen Körperschaften zu erlangen, muß man begreifen, daß das internationale Recht mit diesem Gedanken seine gegenwärtige Sphäre überschreitet, nämlich die Sphäre zwischenstaatlicher Abkommen und Verträge; eine Sphäre, die über den Nationen stünde, gibt es vorläufig nicht. (...) Unsere neuesten Erfahrungen und die sich aus ihnen ergebenden Reflexionen muten
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wie eine verspätete ironische Bestätigung der berühmten Argumente an, die Edmund Burke einst der Erklärung der Menschenrechte durch die Französische Revolution entgegengehalten hat. Sie scheinen gleichsam experimentell zu beweisen, daß Menschenrechte nichts sind als eine sinnlose »Abstraktion«. (...) Der Verlust der nationalen Rechte hat in allen Fällen den Verlust der Rechte nach sich gezogen, die seit dem 18. Jahrhundert zu den Menschenrechten gezählt wurden, und diese haben, wie das Beispiel der Juden und des Staates Israel zeigt, bisher nur durch die Etablierung nationaler Rechte wiederhergestellt werden können. Der Begriff der Menschenrechte brach, wie Burke es vorausgesagt hatte, in der Tat in dem Augenblick zusammen, wo Menschen sich wirklich nur noch auf sie und auf keine national garantierten Rechte mehr berufen konnten. (S. 465 f.) Gleichheit ist nicht gegeben und als Gleiche nur sind wir das Produkt menschlichen Handelns. Gleiche werden wir als Glieder einer Gruppe, in der wir uns kraft unserer eigenen Entscheidung gleiche Rechte gegenseitig garantieren. (S. 468) Aus: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1991.
HANNAH ARENDT Gefahren einer Weltregierung Der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich von der Natur genauso emanzipiert, wie der Mensch des achtzehnten Jahrhunderts von der Geschichte. Geschichte und Natur sind uns in diesen Sinne gleichermaßen fremd, nämlich in dem Sinne, daß das Wesen des Menschen mit ihren Kategorien nicht mehr zu begreifen ist. Andererseits ist die Menschheit, die für das acht-
Politische Normen
zehnte Jahrhundert, kantisch gesprochen, nicht mehr als eine regulative Idee war, für uns zu einer unausweichlichen Tatsache geworden. Diese neue Situation, in der die »Menschheit« faktisch die Rolle übernommen hat, die früher der Natur oder der Geschichte zugeschrieben wurde, würde in diesem Zusammenhang besagen, daß das Recht auf Rechte oder das Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören, von der Menschheit selbst garantiert werden müßte. Und ob dies möglich ist, ist durchaus nicht ausgemacht. Denn entgegen allen noch so gutwilligen humanitären Versuchen, neue Erklärungen der Menschenrechte von internationalen Körperschaften zu erlangen, muß man begreifen, daß das internationale Recht mit diesem Gedanken seine gegenwärtige Sphäre überschreitet, nämlich die Sphäre zwischenstaatlicher Abkommen und Verträge; und eine Sphäre, die über den Nationen stünde, gibt es vorläufig nicht. Auch würde sich diese Kalamität keineswegs durch die Errichtung einer »Weltregierung« ändern. Solch eine Weltregierung steht in der Tat durchaus im Bereich der Möglichkeiten, nur daß sie sich in der Wirklichkeit erheblich anders ausnehmen dürfte, als die idealistischen Verbände, die sie propagieren, sie sich vorstellen. Die Verbrechen gegen die Menschenrechte, welche eine Spezialität totalitärer Regierungen geworden sind, können immer gerechtfertigt werden dadurch, daß man behauptet, Recht sei, was gut oder nützlich für das Ganze (im Unterschied zu seinen Teilen) sei. Das Hitlersche »Recht ist, was dem deutschen Volke nützt« ist nur die vulgarisierte Form einer Rechtsauffassung, die überall gang und gäbe ist und sich praktisch nur so lange nicht auswirkt, als ältere Traditionen, die in den Verfassungen noch wirksam sind, dies verhindern.) Eine Rechtsauffassung, die das, was recht ist, mit dem identifiziert, was gut für... ist - den einzelnen oder die Familie oder das Volk oder die größte Zahl - , ist unausweichlich, wenn die absoluten und transzendenten Maßstäbe der Religion oder des
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Naturrechts ihre Autorität verloren haben. Und an dieser Schwierigkeit wird gar nichts geändert, wenn man die Gesamtheit, für die das Recht gut sein soll, so erweitert, daß das Gemeinwohl, nach dem sich alles richten soll, nun die gesamte Menschheit einschließt. Denn es ist durchaus denkbar und liegt sogar im Bereich praktisch politischer Möglichkeiten, daß eines Tages ein bis ins letzte durchorganisiertes, mechanisiertes Menschengeschlecht auf höchst demokratische Weise, nämlich durch Majoritätsbeschluß, entscheidet, daß es für die Menschheit im ganzen besser ist, gewisse Teile derselben zu liquidieren. (S. 465 f.) Aus: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1991.
NIKLAS LUHMANN Die Weltgesellschaft Welchen Begriff der Gesellschaft man auch verwenden will, (...) es kann kein Zweifel daran bestehen, daß unter heutigen Umständen nur noch ein einziges Gesellschaftssystem besteht: die Weltgesellschaft. Dieser Begriff hat zwar, solange keine ausreichende Gesellschaftstheorie formuliert ist, ungeklärte Konturen: aber das ist kein Grund, den noch viel unbestimmteren Begriff des »internationalen Systems« zu bevorzugen, bei dem weder klar ist, was »Nation« heißen soll, noch wie das »inter« zu verstehen ist. Auch wenn die meisten Soziologen diesem global system den Titel »Gesellschaft« verweigern, ist es erst recht unmöglich, nationale Systeme (...) als Gesellschaftssysteme zu bezeichnen. Dafür fehlt jedes Abgrenzungskriterium, wenn man einmal von den Staatgrenzen absieht, die für diese Frage denkbar ungeeignet sind. Weder im regionalen Rahmen noch im weit-
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gesellschaftlichen Rahmen kann es dabei auf die Ähnlichkeit der Lebensbedingungen ankommen; denn dann wäre nicht einmal Manhattan eine Gesellschaft. Für unsere Zwecke ist die rekursive Vernetzung der Kommunikation entscheidend (. ..); ferner die Einheit der kognitiven Bemühungen im Wissenschaftssystem, was immer für lokale Schwerpunkte oder regionalkulturelle Sonderinteressen sich bilden mögen; ferner die auf Krediten aufbauende Weltwirtschaft mit Weltmärkten für ihre wichtigsten Produkte; aber auch das weltpolitische System, das Staaten in unauflösbare wechselseitige Abhängigkeit bringt, und dies angesichts der ökologischen Konsequenzen moderner Kriege mit einer zwingenden Logik der Präventionen und Interventionen. Die verbreitete Klage über die postkoloniale Ausbeutung peripherer Länder durch die Industrienationen, Theorien unter dem Titel wie Dependenz oder Marginalität, sind, was immer man inhaltlich von ihnen halten mag, ein Beleg für, nicht ein Beleg gegen Weltgesellschaft. Die weltweiten Verflechtungen aller Funktionssysteme sind kaum zu bestreiten. (S. 571 f.) Aus: Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993.
JÜRGEN H A B E R M A S Menschenrechte in juridischer und moralischer Begründung Der Begriff des Menschenrechts ist nicht moralischer Herkunft, sondern eine spezifische Ausprägung des modernen Begriffs subjektiver Rechte, also einer juristischen Begrifflichkeit. Menschenrechte sind von Haus aus juridischer Natur. Was ihnen den Anschein moralischer Rechte verleiht, ist nicht ihr Inhalt, erst recht nicht ihre Struktur, sondern ein Geltungssinn,
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der über nationalstaatliche Rechtsordnungen hinausweist. Die historischen Verfassungstexte berufen sich auf »angeborene« Recht und haben oft die feierliche Form von »Deklarationen«: beides soll zweifellos einem, wie wir heute sagen würden, positivistischen Mißverständnis vorbeugen und zum Ausdruck bringen, daß Menschenrechte dem jeweiligen Gesetzgeber »nicht zur Disposition« stehen. Aber dieser rhetorische Vorbehalt kann Grundrechte nicht vor dem Schicksal allen positiven Rechts bewahren; auch sie können gerändert oder, beispielsweise nach einem Regimewechsel, außer Kraft gesetzt werden. Als Bestandteil einer demokratischen Rechtsordnung genießen sie wie die übrigen Rechtsnormen »Gültigkeit« freilich in dem doppelten Sinne, daß sie nicht nur faktisch gelten, also kraft staatlicher Sanktionsgewalt durchgesetzt werden, sondern auch Legitimität beanspruchen, d.h. einer vernünftigen Begründung fähig sein sollen. Unter diesem Aspekt der Begründung haben nun die Grundrechte in der Tat einen bemerkenswerten Status. (...) Zum einen haben die liberalen und sozialen Grundrechte die Form genereller Normen, die an Bürger in ihrer Eigenschaft als »Menschen« (und nicht nur als Staatsangehörige) adressiert sind. Auch wenn Menschenrechte nur im Rahmen einer nationalen Rechtsordnung vollzogen werden, begründen sie innerhalb dieses Geltungsbereichs Rechte für alle Personen, nicht nur für Staatsbürger. Je weiter der menschenrechtliche Gehalt des Grundgesetzes ausgeschöpft wird, um so mehr gleicht sich der Rechtsstatus der in der Bundesrepublik lebenden Nicht-Staatsbürger an denn der Staatsbürger an. Diese universale, auf Menschenrechte als solche bezogene Geltung teilen die Grundrechte mit moralischen Normen. (...) Das verweist auf den zweiten, noch wichtigeren Aspekt. Grundrechte sind mit einem solchen universalen Geltungsanspruch ausgestattet, weil sie ausschließlich unter dem moralischen Gesichts-
Politische Normen
punkt begründet werden können. Andere Rechtsnormen werden gewiß auch mit Hilfe moralischer Argumente begründet, aber im allgemeinen fließen in die Begründung ethischpolitische und pragmatische Gesichtspunkte ein, die auf die konkrete Lebensform einer historischen Rechtsgemeinschaft oder auf die konkreten Zielsetzungen bestimmter Politiken bezogen sind. Grundrechte regeln hingegen Materien von solcher Allgemeinheit, daß moralische Argumente zu ihrer Begründung hinreichen. Das sind Argumente, die begründen, warum die Gewährleistung solcher Regeln im gleichmäßigen Interesse aller Personen in ihrer Eigenschaft als Personen überhaupt liegen, warum sie also gleichermaßen gut sind fiir jedermann. (S. 222 f.)
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Bekenntnis; sie sind keine Metaphysik. Wer sie dazu macht, macht sie zu einem Fetisch: Der Humanismus verabsolutiert sich selbst. Die moralischen und philosophischen Forderungen, die im Namen der Menschenrechte erhoben werden, zu überhöhen, mag den Zweck haben, ihre universelle Anziehungskraft zu vergrößern. Doch in Wirklichkeit wird die gegenteilige Wirkung erzielt, da bei religiösen und nicht-westlichen Gruppen, die nicht eines westlichen säkularen Bekenntnisses bedürfen, Zweifel an den Menschenrechten geweckt werden. Es ist sicherlich verführerisch, die Idee der Menschenrechte mit Aussagen zu verknüpfen, die da lauten: Menschen haben eine angeborene beziehungsweise natürliche Würde, sie haben von Natur aus einen Wert an sich, sie sind etwas Heiliges. Das Problematische an solchen Aussagen ist, daß sie zum einen nicht klar, zum andeAus: Jürgen Habermas, Die Einbeziehung ren umstritten sind. Sie sind nicht klar, weil sie des Anderen. Studien zur politischen das, was Männer und Frauen unserer Ansicht Theorie, Frankfurt/M. 1999. nach sein sollten, mit dem vermischen, was wir empirisch über sie wissen. Manchmal verhalten sich Männer und Frauen beeindruckend würdevoll. Aber das ist nicht dasselbe, wie wenn man MICHAEL IGNATIEFF sagt, daß alle Menschen eine angeborene Würde Menschenrechte als Fetisch oder gar die Fähigkeit haben, diese Würde in ihrem Verhalten zum Ausdruck zu bringen. Da Die Menschenrechte sind zum wichtigsten diese Vorstellungen von Würde, Wert und HeiGlaubensartikel einer säkularen Kultur gewor- ligkeit der Menschen den Ist-Zustand mit dem den, die Angst hat, es gäbe sonst gar nichts, Soll-Zustand vermischen, sind sie umstritten, woran sie glauben könnte. Sie sind zur lingua und weil sie umstritten sind, schwächen sie die franca des weltweiten moralischen Denkens aus den Menschenrechten erwachsenden praktigeworden, so wie die englische Sprache zur lin- schen Verpflichtungen, anstatt sie zu stärken. guafrancader globalen Wirtschaft geworden ist. Sie sind zudem deswegen umstritten, weil jede Für mich wirft diese Rhetorik die folgende Variante dieser Vorstellungen anfechtbare philoFrage auf: Wenn die Menschenrechte Glaubens- sophische Aussagen über die menschliche Natur sätze sind, was bedeutet es dann, an sie zu glau- machen muß. Wer an die Existenz eines Gottes ben? Ähnelt dieser Glaube einem religiösen glaubt, der die Menschen nach seinem Bild Glauben? Drückt sich in ihm eine Hoflhung aus? schuf, dem fällt es nicht schwer, die Menschen Oder ist er etwas ganz anderes? für heilige Wesen zu halten. Wer nicht an Gott Ich werde darlegen, daß die Menschenrechte glaubt, muß die Idee, die Menschen seien etwas mißverstanden werden, wenn sie als eine »säku- Heiliges, entweder zurückweisen oder mit Hilfe lare Religion« betrachtet werden. Sie sind kein eines säkularen Gebrauchs religiöser Meta-
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phern, der einen Gläubigen nicht überzeugt, annehmen, daß sie etwas Heiliges sind. Grundsätzliche Annahmen dieser Art spalten die Menschen, und derartige Spaltungen lassen sich nicht in derselben Weise beseitigen, in der die Menschen normalerweise ihre Meinungsverschiedenheiten beilegen, nämlich durch Diskussion und Kompromiß. Meiner Ansicht nach wäre es am besten, diese Art von grundsätzlichen Aussagen ganz zu vermeiden und Zustimmung zu den Menschenrechten auf der Basis der Überlegung zu suchen, was sie fur die Menschen bewirken können.
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durchaus möglich, daß Menschen den vollen Schutz der Menschenrechte genießen und trotzdem das Gefühl haben, daß ihnen wesentliche Dinge fehlen, die zu einem guten Leben gehören. Wenn dem so ist, sollte das Eintreten für die Menschenrechte mit unterschiedlichen Vorstellungen von einem guten Leben vereinbar sein. Mit anderen Worten, ein universeller Menschenrechtsschutz sollte mit moralischem Pluralismus vereinbar sein. Das heißt, es sollte möglich sein, die Menschenrechte in einem breiten Spektrum von Zivilisationen, Kulturen und Religionen zu schützen, in denen jeweils andere Vorstellungen von einem guten Leben herrschen. Anders ausgedrückt: Ungeachtet der Meinungsverschiedenheiten in der Frage, was gut ist, können Menschen aus verschiedenen Kulturen sich dennoch darin einig sein, was unerträglich und eindeutig unrecht ist. Die aus den Menschenrechten erwachsenden universellen Verpflichtungen lassen sich nur dann mit einer Vielzahl von Lebensweisen in Einklang bringen, wenn der Universalismus bewußt minimalistisch konzipiert ist. (S. 74-77)
Warum wir Rechte haben, darüber mag keine Einigkeit herrschen, doch es kann Einigkeit darüber herrschen, daß wir sie brauchen. Da die grundsätzlichen Begründungen fur den Wert der Menschenrechte umstritten sein können, läßt sich die Notwendigkeit des Menschenrechtsschutzes wesentlich besser vermitteln, wenn Gründe der praktischen Vernunft angeführt werden. Die Begründung, die für die modernen Menschenrechte erforderlich ist, ist meiner Ansicht nach durch die historische Erfahrung gegeben: Menschen riskieren ihr Leben, wenn es ihnen an einer grundlegenden Freiheit zum eigenverantAus: Michael Ignatieff, Die Politik der wortlichen und selbstbestimmten Handeln fehlt; Menschenrechte, Hamburg 2002. dieses eigenverantwortliche Handeln bedarf des Schutzes durch international anerkannte Normen; diese Normen sollten die Menschen in die Literatur zum 3. Abschnitt Lage versetzen, sich Unrechten Gesetzen und Befehlen zu widersetzen; und wenn alle anderen Bielefelds Heiner, Philosophie der MenschenMittel ausgeschöpft sind, haben diese Menschen rechte. Grundlagen eines weltweiten Freidas Recht, andere Völker, Staaten und internatioheitsethos, Darmstadt 1998. nale Organisationen um Hilfe bei der Verteidi- Brieskorn, Norbert, Menschenrechte. Eine hisgung ihrer Rechte zu bitten. (...) torisch-philosophische Grundlegung, Stuttgart 1997. Eine auf praktischer Vernunft basierende und historische - Begründung der Menschen- Coulmas, Peter, Weltbürger, Geschichte einer rechte muß nicht auf eine bestimmte Vorstellung Menschheitssehnsucht, Hamburg 1990. von der menschlichen Natur zurückgreifen. Sie Fritzsche, Peter K., Menschenrechte, Paderborn muß auch nicht ihre letzte Bestätigung in einer 2004. bestimmten Auffassung von einem guten Leben Gauchet, Marcel, Die Erklärung der Menschensuchen. Die Menschenrechte sagen etwas über rechte. Eine Debatte um die bürgerlichen das Rechte und nicht über das Gute aus. Es ist Freiheiten, Reinbek bei Hamburg 1991.
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Kühnhardt, Lutger, Die Universalität der Menschenrechte. Studie zur ideengeschichtlichen Bestimmung eines politischen Schlüsselbegriffs, München 1987. Samwer, Sigmar, Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789/91, Hamburg 1970. Schnur, Roman, Hg., Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1964. Shute, Stephen/Hurely, Susan, Hg., Die Idee der Menschenrechte. Beiträge von Steven Lukes u.a., Frankfurt/M. 1996. Thielking, Sigrid, Weltbürgertum. Kosmopolitische Ideen in Literatur und politischer Publizistik seit dem 18. Jahrhundert, München 2000. Tugendhat, Ernst, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993. Waldron, Jeremy, ed., Nonsense upon Stilts. Bentham, Burke, and Marx on the Rights of Man, London/New York 1987.
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Biographien Adorno, Theodor W. (1903-1969), deutscher Philosoph, Schulhaupt der Kritischen Theorie (zusammen mit Max Horkheimer). Nach der Emigration lehrte er in Frankfurt am Main und verband eine neomarxistische Fundierung der Zivilisationstheorie mit kulturkritischen Studien. Unter dem Eindruck des Nationalsozialismus und der amerikanischen Konsumgesellschaft {Dialektik der Aufklärung, 1947, zusammen mit Horkheimer) entstand eine äußerst skeptische Gesellschaftsphilosophie (Negative Dialektik, 1966). Almond, Gabriel A. (1911-2001), amerikanischer Politologe. Promovierte bei Harold Lasswell und lehrte unter anderem in Yale und Stanford. Zusammen mit Sidney Verba schrieb er 1963 The Civic Culture, mit dem er die vergleichende Politikwissenschaft stark beeinflusste und die politische Kulturforschung mitbegründete. Arendt, Hannah (1906-1975), amerikanische Politologin und Philosophin deutscher Herkunft. In Deutschland bei Karl Jaspers promoviert, wurde sie als Jüdin in die Emigration gezwungen und ging schließlich in die USA, wo sie nach Jahren der freien Publizistik an der New School of Social Research der New York University lehrte. Zu ihren einflussreichsten Büchern zählen The Origins of Totalitarianism (1951), The Human Condition (1958) und On Revolution (1963). Aristoteles (384-322 v. u. Z.), griechischer Philosoph und neben vielen anderen Disziplinen auch Begründer der Politischen Wissenschaften. Seine Beiträge zur praktischen Philosophie (Nikomachische Ethik) und zur Politikwissenschaft (Politik, Rhetorik) sind noch heute in begrifflicher und systematischer Hinsicht Referenz für die politische Theorie. Neben den hier zitierten Ausgaben sind die
wissenschaftlichen Standardausgaben im Akademie Verlag zu nennen, die den Text umfassend kommentieren. Zur Politik liegen die Bücher I—VIII vor. Die Werke des Aristoteles werden traditionell nach der BekkerAusgabe zitiert (die zweispaltig ist, daher kommt zu den Seitenangaben die Spaltenbezeichnung a oder b), eine editorische Anordnung der Textmassen, die eine Zitation unabhängig von den Ausgaben und Übersetzungen ermöglicht. Augustinus, Aurelius (354-430), Philosoph der römischen Spätantike afrikanischer Herkunft. Zählt zu den Kirchenvätern und damit zu den theoretischen Begründern der Dogmatik und des Kirchenverständnisses des römischen Katholizismus. Nach Cicero ist er die auch biographisch am deutlichsten fassbare Gestalt der Antike. Mit dem politischen Hauptwerk zur Civitas Dei wirkte er bis weit über das Mittelalter hinaus. Aurel, Marc (121 -180), römischer Kaiser (161 -180) und Philosoph. Zählt zum jüngeren Zweig der Stoa. Ohne ein systematisches Werk verfasst zu haben, zählt er mit den Selbstbetrachtungen zu den Vordenkern des Naturrechts. Babbage, Charles (1792-1871), englischer Mathematiker, Erfinder und Ökonom. Begründer der Analytical Society und Erfinder zweier Rechenmaschinen, die als Vorläufer des modernen Computers gelten. Fertigte statistische Sterbetabellen zum Geschäft mit Lebensversicherungen an und legte damit einen Grundstein für die moderne quantitative Sozialwissenschaft. Seine Ökonomie der Maschine aus dem Jahr 1832 ist sein bedeutendstes monographisches Werk. Babeuf, Francois Noel (1760-1797), französischer Revolutionär. Stellte sich mit seinem Cognomen Gracchus in die Linie der Umver-
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teilungspolitik und überbot den Jakobinismus in Hinblick auf einen radikalen Egalitarismus. Darin wurde er dem revolutionären Sozialismus zum Vorbild. Bagehot, Walter (1826 -1877), englischer Ökonom und politischer Theoretiker. Am University College London ausgebildet, gehörte er als Herausgeber des Journals The Economist zu den einflussreichsten Publizisten seiner Zeit. Seine Arbeiten zur englischen Verfassung (The English Constitution, 1867), zur Politik im Allgemeinen (Physics and Politics, 1872) und zur Wirtschafte- und Finanzpolitik (.Lombard Street, 1873) verbinden das Auge des Journalisten mit dem Wissen des Privatgelehrten. Bauer, Otto (1881-1938), österreichischer Sozialdemokrat. Hauptvertreter des Austromarxismus, einer stark pragmatisch orientierten Variante der Sozialdemokratie (Bolschewismus oder Sozialdemokratie, 1920). Gehörte nach dem Ersten Weltkrieg der Regierung an und musste 1934 emigrieren. Beccaria, Cesare (1738-1794), italienischer Aufklärer, Begründer der modernen Kriminalistik, Kritiker von Todesstrafe, Folter und willkürlicher Strafzumessung (Del delitti e delle pene, 1764). Lehrte darüber hinaus in Mailand Politische Ökonomie mit utilitaristischer Tendenz. Bell, Daniel (geb. 1919), amerikanischer Soziologe, lehrte zuletzt an der Harvard University. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen The end of ideology (1960) und The coming of post-industrial society (1973). Benda, Julien (1867-1956), französischer Philosoph und Schriftsteller. Bekämpfte früh anti-rationale Strömungen im Denken seiner Zeit (etwa gegen Henri Bergson gerichtet) und beklagte in seinem bekanntesten Werk La traison des clercs (1927) die spekulative und irrationale Neigung von Intellektuellen und die damit verbundene Ignoranz gegenüber den in seinen Augen universellen Wer-
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ten der Französischen Revolution und der Demokratie. Bentham, Jeremy (1748 -1832), englischer Philosoph. Begründer des Utilitarismus, einer radikal anti-metaphysischen Denkrichtung, die den Wert aller Dinge nach ihrer weltlichen Nützlichkeit bemisst. Damit bekämpfte er die traditionelle britische Philosophie der historischen Wertschätzung gesellschaftlicher und politischer Institutionen, richtete sich insbesondere gegen William Blackstone und Edmund Burke. Da er im Falle des Wertkonflikts die Nützlichkeit für die zahlenmäßige Mehrheit der Bevölkerung für ausschlaggebend postuliert, zählt Bentham zu den Begründern der modernen Demokratietheorie. Berdjajew, Nikolai (1874-1948), russischer Philosoph. Professor in Moskau, nach dem Sturz des Zarismus musste er 1922 den Bolschewiki weichen und emigrierte nach Paris. Verband den religiösen Spiritualismus russischer Art mit einem philosophischen Messianismus. Berlin, Isaiah (1909-1997), englischer Philosoph und politischer Ideenhistoriker baltischer Herkunft. Am bekanntesten ist sein Essay Two concepts of freedom (1958), sein Inauguralvortrag als Professor in Oxford. Er ist jedoch am meisten im Felde der politischen Ideengeschichte hervorgetreten, wobei er neben Klassikern wie Machiavelli auch Randgestalten des Kanons wie Hamann und die russische Philosophie des 19. Jahrhunderts behandelte. Bodin, Jean (1529/30-1596), französischer Philosoph und Politiker. Juristisch ausgebildet, wurde er zu einem der wichtigsten Berater der zwischen der katholischen und der protestantischen Partei vermittelnden Gruppe der Politiques. Entkam nur knapp dem Blutbad der Bartholomäusnacht. Verfechter religiöser Toleranz (Heptaplomeres, posthum erschienen) und einer aus eigenen Kate-
Biographien
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gorien begründeten, von theologischen Betendster Vertreter der stoischen Philosophiegriffen unabhängigen Staatslehre, in deren schule. Mittelpunkt der formale Begriff der Souverä- Cicero, MarcusTullius (106-43 v. u.Z.), röminität steht (Six livres de la republique, 1576). scher Politiker und Philosoph. Der grieBrandeis, Louis Dembitz (1856-1941), americhischen Philosophie der Stoa ebenso wie der kanischer Verfassungsrichter. Zuerst praktialtrepublikanischen Verfassung Roms verzierender Anwalt, 1916 gegen erheblichen pflichtet, trat er als der bedeutendste Anwalt Widerstand des Establishments erster Richter seiner Zeit öffentlich hervor, schlug als Konjüdischer Herkunft am Supreme Court, wo er sul 63 die Catilinarische Verschwörung nie23 Jahre wirkte. Sein Einfluss reicht durch der und versuchte vergebens, mit wechselnseine abweichenden Meinungen weit über die der Koalitionspolitik (Pompeius und Cäsar) Spruchpraxis hinaus, und prägte die ameridie Senatsherrschaft zu stabilisieren. Seine kanische Verfassungslehre und den politiwichtigsten Beiträge zur politischen Theorie schen Diskurs. Zusammen mit seinem Freund sind in den Werken De republica (54-51 v. und Kollegen Oliver Wendell Holmes zählt er u. Z.) und De officiis (44 v. u. Z.) enthalten. zu den richterlichen Protektoren von Roose- Clausewitz, Carl von (1780-1831), preußischer velts New Deal. Militärtheoretiker. Gehörte dem Kreis der preußischen Heeresreformer um Scharnhorst Bryce, James (1838-1922), englischer Historiund Gneisenau an. Kämpfte auf russischer ker und Politologe. In Oxford und Heidelberg Seite 1812-1815 gegen Napoleon und seiausgebildet, zählt er zu den bedeutendsten nen damaligen preußischen Vasallen. Lehrte Deutschlandforschern seiner Zeit, unter an der Berliner Allgemeinen Kriegsschule anderem mit seinem ersten Werk The Holy und verfasste dort das bedeutendste militärRoman Empire. Seine mehrbändige Arbeit theoretische Werk der Neuzeit Vom Kriege zur amerikanischen Demokratie The Ameri(posthum 1832 -1837), worin mit kantischer can Commonwealth (1888) war lange Zeit Denksystematik das Verhältnis von Politik ein Standardwerk. Mit der vergleichenden und Militär sowie die einzelnen Aspekte des dreibändigen Studie zu Modern democracies Krieges in taktischer und strategischer Hin(1921) zählt er zu den Begründern der polisicht erörtert werden. tikwissenschaftlichen Komparatistik. Burke, Edmund (1729-1797), englischer Phi- Comte, Auguste (1798-1857), französischer Philosoph und Soziologe. Privatsekretär losoph. 1766-1794 Mitglied des UnterhauHenri de Saint-Simons und nach dessen Tod ses und bedeutender und einflussreicher Privatgelehrter in Paris. Begründete die PhiEssayist zur Reform der Wirtschaftspolitik losophie des Positivismus, eine streng immaund zu tagespolitischen Fragen wie etwa dem nentistische Lehre der Nützlichkeit und des Missbrauch in der Kolonialverwaltung (Protechnisch-wissenschaftlichen Fortschritts. zess gegen Warren Hastings). Zeigte großes Mit der Errichtung der Societe Positiviste Verständnis für die amerikanische Unabhän1848 institutionalisierte sich sein Schülergigkeitsbewegung, wandte sich aber scharf kreis, der ihn schließlich auch bis zum gegen den Anspruch der Französischen Lebensende finanzierte. Mit der sechsbändiRevolution, voluntaristisch Verfassungen gen Schrift zum Cours dephilosophiepositimachen zu können (Reflections on the revove (1830-1842) zählt er zugleich zu den lution in France, 1790). Gründern der französischen Soziologie. VerChrysipp aus Soloi (281/277-208/204 v.u.Z.), breitet ist auch der Kurzabriss seiner Lehre griechischer Philosoph. Neben Zenon bedeu-
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im Discours sur Vesprit positif (1844). Die Schüler umgaben die Philosophie Comtes mit einer quasi-religiösen Aura und gaben nach seinem Tod einen Catechismepositiviste (1852) heraus. Condorcet, Marie-Jean-Antoine-Nicolas de Caritat, Marquis de (1743-1794), französischer Philosoph und Mathematiker. Als Aufklärer (im Umkreis von Turgot) und Politiker (Abgeordneter der Legislative), Verfasser des Verfassungsentwurfs von 1793, der eine gemäßigte Alternative zu den Jakobinern bot, und nicht zuletzt als bedeutender Mathematiker, der etwa im rational choice-Zweig der modernen sozialwissenschaftlichen Theorie weiterhin mit seinem Condorcet-Paradox bezüglich der Unübertragbarkeit von Mehrheitspräferenzen diskutiert wird, gehört er zu den vielseitigsten Autoren seiner Zeit. Sein philosophisches Hauptwerk Esquisse d'un tableau historique des progres de Γesprit humain (1795) atmet den Fortschrittsoptimismus des Naturwissenschaftlers. Constant, Benjamin (1767-1830), in Lausanne geborener, in Frankreich wirkender Schriftsteller und liberaler Politiker. Gegner des revolutionären Jakobinismus und seiner Nachfolger, denen er eine unzeitgemäße Nachahmimg antiker Vorbilder vorwarf. Enge Beziehung und Zusammenarbeit mit Germaine de Stael. Entwarf 1815 überraschend für Napoleon eine Verfassung, die mit dessen Abdankung bedeutungslos blieb. Abgeordneter in den 1820er Jahren. Dahrendorf, Ralf (geb. 1929), deutscher Soziologe und liberaler Politiker, mittlerweile britischer Staatsangehöriger und Lord für seine Verdienste als Lehrer an der London School of Economics and Political Science und Rektor des St. Anthony Colleges, Oxford. 19701974 EG-Kommissar. Seine soziologischen Arbeiten wirkten stichwortgebend (Homo sociologicus, 1958; Der moderne soziale Konflikt, 1988).
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Dante Alighieri (1265-1321), italienischer Dichter und Politiker. In seiner Heimatstadt Florenz politisch tätig und Inhaber verschiedener Ämter, wurde er nach dem Machtkampf zwischen seiner kaisertreuen Richtung und der papsttreuen Partei 1302 verbannt und zu einem Wanderleben verurteilt. Vertrat eine weltmonarchische Position {De monorchia), um die italienischen Wirren zu beenden. In seinem dichterischen Hauptwerk (Divina commedia) vereint er das Wissen seiner Zeit zu einem Lehrgedicht. Deutsch, Karl W. (1912-1992), amerikanischer Politikwissenschaftler tschechisch-österreichischer Herkunft. 1938 zur Emigration aus der Tschechoslowakei gezwungen. Promovierte in Harvard, gehörte zu den Mitarbeitern der amerikanischen Delegation in der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen in San Francisco. Lehrte am M.I.T. und in Yale, Harvard und zuletzt Stanford. Ohne eine eigene Schule zu begründen, gehört er zu den anregendsten Vordenkern der amerikanischen Politikwissenschaft. Er adaptierte beispielsweise die technischen Grundlagen der Kybernetik auf die Sozialwissenschaften und die Internationalen Beziehungen im Besonderen. Sein Hauptwerk sind die Nerves of Government (1963). Dewey, John (1859 -1952), amerikanischer Philosoph. Als Pragmatist betont er die Sozialbezogenheit des Erkennens und Handelns sowie der Vernunft. Plädiert fur den Wohlfahrtsstaat auf kapitalistischer Grundlage und erweitert den Begriff der Demokratie um die soziale Dimension (The Public and its Problems, 1927), die bereits in der Kindererziehung zentraler Baustein der Ausbildung sein soll (Democracy and education, 1916). Dürkheim, Emile (1858-1917), französischer Soziologe. Mitbegründer der modernen soziologischen Theorie, besonders durch seine Fallstudie Le suicide (1897) und seine begrifflichen sowie methodischen Grundle-
Biographien
gungen Les rigles de la methode sociologique (1895). War politisch engagierter Republikaner und Laizist. Eisenstadt, Shmuel N. (geb. 1923), israelischer Soziologe. Lehrte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Seine Forschung behandelt den Zivilisationsvergleich in der Absicht, das europäische Modell der Gesellschaftsentwicklung zu relativieren. Revolution and Transformation of Societies (1978). Elias, Norbert (1897-1990), Soziologe deutscher Herkunft, britischer Staatsangehöriger und Lehrer an der London School of Economics and Political Science und der Universität von Leicester, lebte zuletzt in Amsterdam. Sein frühes Hauptwerk Über den Prozeß der Zivilisation (1939) begründete einen neuen soziologischen Ansatz der Kultur- und Zivilisationsforschung. Seine Gesammelten Schriften sind im Suhrkamp Verlag erschienen (1997 ff.). Engels, Friedrich (1820-1895), deutscher Philosoph, mit Karl Marx Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Aus eigener Anschauung schrieb er Die Lage der arbeitenden Klassen in England (1845) und prägte damit die Wende des Sozialismus zur empirisch arbeitenden Gesellschaftstheorie. Immer im Schatten Marxens stehend, mit dem er einige Werke zusammen verfaßte, popularisierte er maßgeblich den Marxismus (Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaften 1878) und wirkte nach Marx' Tod erheblich auf die Programmdiskussionen der deutschen Sozialdemokratie ein. Epiktet (etwa 50-140), griechischer Philosoph, Vertreter der jüngeren Stoa. Als freigelassener Sklave und mit seiner Lehre von der Verinnerlichung des Glücks und der Unabhängigkeit von materiellen Gütern wirkte er stark auf die Formulierung der christlichen Ethik. Eucken, Walter (1891-1950), deutscher Ökonom. Sohn des Philosophen Rudolf Eucken. Begründete zusammen mit Franz Böhm die
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Freiburger Schule der Ökonomie, die den Versuch unternahm, den liberalen Individualismus mit einer gemeinwohlorientierten Wirtschaftspolitik (Marktordnung) zu vermitteln. Darin war er Vordenker der in der BRD maßgeblichen Idee der sozialen Marktwirtschaft. Euripides (485/484-406 ν. u.Z.), griechischer Tragödienautor. In Athen wirksam, zuletzt am makedonischen Königshof. Stärker als Aischylos und Sophokles steht in seinen Stücken der Mensch im Mittelpunkt. Übte wie diese erheblichen Einfluss auf die europäische Dramenkultur aus. Fanon, Frantz (1925 -1961), afrikanischer Politiker und Schriftsteller. In der französischen Kultur groß geworden, schloss er sich der algerischen Befreiungsbewegung FLN an und formulierte eine politische Theorie der antikolonialen Befreiung, die Elemente von Marx, Freud und Lenin aufnimmt und auch gewaltsame Mittel rechtfertigt (Peau noire, masques blancs, 1952; Les damnes de la terre, 1961). Ferguson, Adam (1723-1816), schottischer Philosoph. Der schottischen Aufklärung zugehörig, verknüpfte Ferguson historische, ökonomische und soziale Beobachtungen zu einer Zivilisationsgeschichte, die als erste Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft als einer bestimmten, durch Arbeitsteilung und Eigentumsbegriff strukturierten Gesellschaftsformation gilt (An Essay on the History of Civil Society, 1767). Ferrero, Guglielmo (1871 -1942), italienischer Historiker. Bekämpfte den italienischen Faschismus und lehrte in der schweizerischen Emigration in Genf. Fichte, Johann Gottlieb (1762-1814), deutscher Philosoph. Radikalisierte die erkenntniskritische Theorie Immanuel Kants zum Idealismus, den er zu einem Wissenschaftssystem ausbaute. Mit der besonderen Betonung der Tathandlung des Ichs war auch
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die starke Neigung Fichtes an politischer Gestaltung begründet. Beredter Verteidiger der Französischen Revolution, beteiligte sich Fichte an den innenpolitischen Reformversuchen Preußens im Bereich der Universität und postulierte die Nationalerziehung Deutschlands (Reden an die deutsche Nation, 1806/1807 gehalten) vor dem Hintergrund der napoleonischen Herrschaft. Anhänger einer staatssozialistischen Autarkiewirtschaft (Der geschlossene Handelsstaat, 1800). Foucault, Michel (1926-1984), französischer Philosoph. Ausbildung in Philosophie und Psychologie, lehrte seit 1970 am College de France an dem von ihm begründeten Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme. Foucault ist der einflussreichste Vordenker einer Wissenssoziologie, die um den Zentralbegriff des Diskurses konzentriert und anhand der Normsetzung aller menschlichen Lebensbereiche das Verhältnis von Wissen und Macht untersucht. Zu den Hauptwerken zählen Les mots et les choses (1966), L'Archeologie du savoir (1969) und die Histoire de la sexualite (1976). Fraenkel, Ernst (1898-1975), deutscher Politikwissenschaftler. Nachdem Fraenkel als Rechtsanwalt in Berlin für zahlreiche vom NS-Regime zivilrechtlich verfolgte Klienten tätig war, emigrierte er 1938 in die USA, gehörte zum Verwaltungsstab der amerikanischen Besatzung Koreas und wurde später Professor an der Freien Universität Berlin. Vertreter des Pluralismus, vermittelte die westliche Demokratieidee angelsächsischer Prägung, wandte sich gegen ihre rousseauistische Interpretation. Die wichtigsten Beiträge sind in der Sammlung Deutschland und die westliche Demokratie (1964) enthalten. Franklin, Benjamin (1706-1790), amerikanischer Staatsmann. Naturwissenschaftlich in der Erforschung der Elektrizität hervorgetreten. Vor der Unabhängigkeit Vertreter von
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Pennsylvania in Großbritannien, Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, Gesandter in Frankreich. Freud, Sigmund (1856-1939), österreichischer Begründer der modernen Psychoanalyse, zugleich Zivilisationstheoretiker. 1938 nach London emigriert. Seine Integration der Mythen und religiösen Narrationen ebenso wie die aus seiner psychotherapeutischen Beobachtung ermittelten anthropologischen Überlegungen zur sozialen Natur des Menschen wirkten stark auf die Gesellschaftstheorie ein. Friedrich II. von Preußen (1712-1786), preußischer König und Schriftsteller. Im Gegensatz zu seinem Vater musisch und intellektuell begabt, trat er nach französischer Fa?on als Aufklärer hervor (Antimachiavell, 1740), was seine dezidierte Staatsräsonpolitik unter Einschluss des Präventivkrieges nicht auszuschließen vermochte. Er lud Voltaire nach Potsdam ein und initiierte das Allgemeine Preußische Landrecht als moderne Gesetzessammlung. Friedrich, Carl J. (1901 -1984), amerikanischer Politikwissenschaftler deutscher Herkunft. Juristisch ausgebildet, wechselte er noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Amerika und lehrte Politikwissenschaft in Harvard, 1956-1966 zugleich in Heidelberg. Begründer der modernen Totalitarismus-Forschung (Totalitarian dictatorship and autocracy, 1956) und des Systemvergleichs innerhalb des Paradigmas des westlichen Verfassungsstaates (Constitutional government and democracy, 1951). Fromm, Erich (1900-1980), deutscher Psychoanalytiker, emigrierte 1934 in die USA. Im Umfeld der Kritischen Theorie tätig, erforschte er die psychischen Bedingungen sozialen Verhaltens auch vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Erfahrung (Escape from freedom, 1941; Man for himself, 1947).
Biographien
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Garve, Christian (1742-1798), deutscher Phiverfasste. Zunächst eine Sammlung von Einlosoph. Lehrte unter anderem in Leipzig. zelstudien zu philosophischen, historischen Gehört der so genannten Popularphilosophie und theoretischen Fragen des revolutionären an, die sich gegen die Systementwürfe des Kampfes, sicherten die dort niedergelegten Rationalismus und gegen metaphysische Gedanken zur Zivilgesellschaft und zum Spekulationen richtet und vielmehr für das Kampf um die kulturelle Hegemonie seinen breite Publikum aufklärerisch wirken will, nachhaltigen Einfluss auf die eurokommudarin auch Kritiker Kants. Sein größter Einnistische Diskussion nach dem Zweiten Weltfluss beruht auf seinen Übertragungen von krieg. Danach erfordert die Analyse der Schriften Ciceros und Adam Fergusons ins revolutionären Situation neben den ökonomiDeutsche, mit umfangreichen Kommentaren schen und politischen die Einbeziehung kulversehen (Gesammelte Werke, 1804). tureller Aspekte. Geiger, Theodor (1891-1952), deutscher So- Gentz, Friedrich von (1764 -1832), preußischer ziologe. Lehrer an der Arbeiterhochschule in Publizist, dann in österreichischen Diensten, Berlin, Professor in Braunschweig, nach der insbesondere bei Metternich. Gentz studierte Machtergreifung der Nationalsozialisten entbei Kant in Königsberg und verstand sich lassen. Emigrierte nach Dänemark, wo er in zunächst als kantianischer Philosoph. Die Arhus Professor wurde. Aus marxistischen Französische Revolution und die Lektüre von Wurzeln heraus entwickelte Geiger eine Edmund Burkes Reflections on the RevolutiSoziologie der Industriegesellschaft und on in France, die Gentz 1793/1794 übersetzihrer sozialen Schichtung. te, wandelten ihn zu einem der einflußreichsten konservativen politischen Denker. Hierzu Gellner, Ernest (1925 -1995), englischer Philozählen auch seine Arbeiten zum europäisoph und Anthropologe tschechischer Herschen Gleichgewicht, welche die Großkunft. Lehrte 35 Jahre an der London School machtkonstellation in Europa gegen Napoleof Economics and Political Science. Nach ons Revisionsbestrebungen verteidigten. dem Zusammenbruch des Ostblocks nach Prag zurückgekehrt und an der Central Euro- Habermas, Jürgen (geb. 1929), deutscher Philopean University tätig. Kritisierte in seinem soph. Haupt der zweiten Generation der ersten Buch Words and things (1959) die VorKritischen Theorie. Übernimmt den ideoloherrschaft der Analytischen Philosophie in giekritischen Ansatz der Horkheimer/AdorEngland und verlangte die angemessene Beno-Linie, wendet ihn aber konstruktiv, insorücksichtigung anthropologischer und kulturfern die allem (auch sprachlichem) Handeln soziologischer Fragestellungen. Dieser Aninnewohnende Normativität diskursiv ersatz schlug sich nieder in Nations and schlossen werden kann und soll. Lehrte Nationalism (1983) und besonders in Plough, zuletzt in Frankfurt am Main. Strukturwandel Sword and Book {1988). der Öffentlichkeit, 1962; Faktizität und GelGramsci, Antonio (1891-1937), italienischer tung, 1992. kommunistischer Politiker und Theoretiker. Hamilton, Alexander (1755-1804), amerikaniGramsci gehört zu den Gründern der Komscher Politiker und politischer Autor. Aus einmunistischen Partei Italiens und wurde mitfachen Verhältnissen stammend, in New York samt der übrigen Parteiführung von den itaausgebildet, hielt er bereits mit 19 Jahren seilienischen Faschisten 1926 verhaftet. Er ne erste politische Rede anlässlich der britiverbrachte die Jahre bis zu seinem Tod fortschen Reaktion auf die Boston Tea Party. während in Haft, wo er die Geföngnishefte Gehörte zum persönlichen Stab Washingtons
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im Unabhängigkeitskrieg. Delegierter New Yorks auf dem Konföderationskongress und dem Verfassungskonvent von Philadelphia. Verfasste zusammen mit Madison und Jay die Federalist Papers, um die Ratifizierung der neuen Verfassung publizistisch zu Gunsten einer starken Union zu unterstützen. Finanzminister der Union, im Duell gefallen. Harrington, James (1611-1677), englischer politischer Philosoph. Antipode zu Hobbes, dem Republikanismus verpflichtet, entwirft er ein deliberativ ermitteltes Staatsideal {Oceana, 1656) mit kaum verhüllten Ähnlichkeiten zu den Rahmenbedingungen der Britischen Inseln. Nach dem Vorbild der Venezianischen Republik und im Anschluss an die Antike und Machiavelli soll Stabilität der Regierung durch gegliederte Partizipation, Ämterrotation und Eigentumsumverteilung erreicht werden. Die späteren Schriften variieren das vorgegebene Grundthema.
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dung tätig, zuletzt Professor für Staatslehre in Frankfurt am Main, starb in der spanischen Emigration. Heller beharrte auf der Eigenständigkeit politikwissenschaftlichen Denkens gegenüber programmatischer Parteiideologie (Sozialismus und Nation, 1925). Antipode zu Carl Schmitt (Staatslehre, 1934, unvollendet). Hennis, Wilhelm (geb. 1923), deutscher Politologe des 20. Jahrhunderts. Schüler von Rudolf Smend, lehrte zuletzt in Freiburg. Zunächst Vertreter einer an der klassischen praktischen Philosophie ausgerichteten Politikwissenschaft (so die Habilitationsschrift Politik und praktische Philosophie, 1959), wandte er sich Max Weber zu (Max Webers Fragestellung, 1987; und andere Schriften hierzu). Hennis gehört mit seinen zahlreichen Aufsätzen zu Fragen der parlamentarischen Regierung in Theorie und Praxis (gesammelt in zwei Bänden Politikwissenschaftliche Abhandlungen, 1999-2000) zu den einflussreichen Politikwissenschaftlern der BRD.
Hayek, Friedrich (1899-1975), österreichischer Ökonom. Einer der führenden liberalen Wirtschaftstheoretiker, der gegen die Planwirtschaft die Theorie spontaner Selbstorga- Herodot aus Halikarnassos (etwa 490-425 v. u. nisation als Kern der Marktwirtschaft verZ.), griechischer Geschichtsschreiber. Befocht (The Road to Serfdom, 1944; Die gründete mit den Histories apodeixis die Verfassung der Freiheit, 1971). Lehrte an der Geschichtsschreibung als Gattung (»Vater« London School of Economics and Political der Geschichtsschreibung). In Athen mit Science, in Chicago und zuletzt in Freiburg Perikles befreundet, Mitgründer der Kolonie im Breisgau. Nobelpreisträger 1974. Thurioi, weitgereist und über den griechischen Kulturkreis hinaus völkervergleiHegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770-1831), chend arbeitend mit kritischer Bewertung der deutscher Philosoph. In Tübingen ausgeüberlieferten Quellen. bildet, zuletzt einflussreicher Professor an der Berliner Universität. Gehört mit seinen Hintze, Otto (1861-1940), deutscher HistoHauptwerken Phänomenologie des Geistes riker. Lehrte bis 1920 an der Berliner Uni(1807) und Grundlinien der Philosophie des versität, anfänglich auf Preußen spezialisiert, Rechts (1820) zu den einflussreichsten Philoerweiterte er den Blickwinkel um den Versophen in der politischen Ideengeschichte, gleich politischer Systeme (Gesammelte sowohl im Konservatismus als auch im LibeAbhandlungen in drei Bänden, hg. von ralismus und Sozialismus. Gerhard Oesterreich, 2. Aufl., 1962). Heller, Hermann (1891 -1933), österreichischer Hobbes, Thomas (1588-1679), englischer PhiStaatsrechtslehrer im 20. Jahrhundert. Solosoph. Zunächst Tutor im Hochadel, später zialdemokrat, in der ErwachsenenfortbilLehrer des Thronfolgers in dessen Exil. Ohne
Biographien
Lehrtätigkeit wirkte Hobbes über seine Schriften. Er wollte nach dem Vorbild der Mechanik und Geometrie die Politik als Wissenschaft von der disziplinaren Dominanz der Theologie befreien und nach philosophischem Vorbild systematisch fundieren (De Cive, 1642; Leviathan, 1651). In Hobbes findet der moderne Anstaltsstaat als Gewaltmonopolist seinen ersten Theoretiker. Horkheimer, Max (1895 -1973), deutscher Philosoph, Schulhaupt der Kritischen Theorie (zusammen mit Theodor W. Adorno), Leiter des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main, im New Yorker Exil und nach seiner Rückkehr nach Frankfurt. (Dialektik der Aufklärung, 1947, zusammen mit Theodor W. Adorno). Erstrebte eine Modernisierung des Historischen Materialismus marxistischer Provenienz durch eine Erweiterung um die Soziologie. Humboldt, Wilhelm von (1757-1835), deutscher Philosoph, Sprachforscher und preußischer Politiker. Gehörte zum Weimarer Kreis der Klassik, literarisch tätig, preußischer Gesandter in Rom, bis 1819 auf verschiedenen Posten der preußischen Regierung tätig, bis er der Reaktion weichen musste. Als Leiter des Kultur- und Unterrichtswesens Mitbegründer der Berliner Universität 1810. Die wissenschaftlichen Arbeiten reichen von der Forschung zu außereuropäischen Sprachen (Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, 1836-1840; zugleich Grundlegung einer einflussreichen Sprachentheorie) bis zur liberalen Theorie des Staates als Schützer und Förderer des Individuums (Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1792). Hume, David (1711-1776), britischer Philosoph und Soziologe. Der Schottischen Aufklärung zugehörig und Mitbegründer der modernen Gesellschaftstheorie. Seine in der empirischen Tradition generalisierenden Arbeiten zum menschlichen Verstandesver-
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mögen (A Treatise of Human Nature, 1739/1740) wie zur Moraltheorie (An Enquiry concerning the principles ofmorals, 1751) sind noch heute einflussreich. Über Jahre hinweg erweiterte er seine zeitgenössisch sehr erfolgreichen Essays zu politischen und ethischen Fragen (Essays moral and political, ab 1741). Ignatieff, Michael (geb. 1947), kanadischer Politikwissenschaftler. In Großbritannien ausgebildet machte er sich mit einer Biographie zu Isaiah Berlin (1998) einen Namen. Lehrte an der Harvard University Politikwissenschaft und Menschenrechte, wo auch Human Rights as Politics and Idolatry (2001) entstand. Gegenwärtig Mitglied des kanadischen Parlaments. Jaucourt, Louis Chevalier de (1704-1779), französischer Aufklärer. Mitarbeiter an der L'Encyclopidie ou dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers von Diderot und d'Alembert, verfasste die überwiegende Zahl der Artikel. Studierte Theologie in Genf und Naturwissenschaften in Cambridge. Jay, John (1745-1829), amerikanischer Politiker und politischer Autor. Erfolgreicher New Yorker Anwalt, Delegierter seines Heimatstaates auf den Konfoderationskonferenzen, später Gouverneur. Mitverfasser der New Yorker Verfassung und Mitglied des Ratifizierungskonvents. In den Federalist Papers (zusammen mit Madison und Hamilton) publizistischer Befürworter der starken Union. Erster Vorsitzender des Supreme Court (1789-1795). Jefferson, Thomas (1743-1826), amerikanischer Politiker und politischer Publizist. Maßgeblicher Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, Gouverneur von Virginia, Außenminister unter Washington, dritter Präsident der USA (1801 -1809). Betonte stärker den Föderalismus und die Eigenständigkeit der Einzelstaaten als die Autoren der Federalist Papers. Aufklärerisch gebildet
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und Mentor der Republik auch nach seinem Rückzug aus der Politik. Jellinek, Georg (1851-1911), deutscher Staatsrechtslehrer im 19. Jahrhundert. Hauptvertreter der Allgemeinen Staatslehre, begründete mit der Drei-Elemente-Theorie des Staates eine noch heute gebräuchliche Formel (Allgemeine Staatslehre, 1900). Rezipierte umfassend das angelsächsische politische und verfassungstheoretische Schrifttum. Wirkte als Freund Max Webers auf die Entstehung der Politikwissenschaft in Deutschland ein. Johnson, Chalmers (geb. 1931), amerikanischer Politikwissenschaftler. Lehrte an der University of California in den Jahren 1962-1992, wo die studentischen Unruhen ihn zu seinem wichtigsten Werk Revolutionary Change (1966) inspirierten. Zuletzt erschien The Sorrows of Empire. Militarism, Secrecy, and the End of the Republic (2004). Kant, Immanuel (1724 -1804), deutscher Philosoph. Sein erkenntnistheoretischer Kritizismus erforscht die Bedingungen der Möglichkeit theoretischer und praktischer Vernunft sowie der Ästhetik. Sein ethischer Formalismus und Rigorismus abstrahiert von allen materiellen Gütern und formuliert das Sittengesetz a priori im Kategorischen Imperativ (Kritik der praktischen Vernunft, 1788), welcher zur Universalisierung aller Handlungsmaximen auffordert. Der Französischen Revolution zugewandt, optiert Kant für aufgeklärte Regime (Zum ewigen Frieden, 1795). Seine Philosophie ist Ausgangs- und Referenzpunkt zahlreicher zeitgenössischer Autoren, von Hannah Arendt bis zu Jürgen Habermas. Die wissenschaftliche Edition liegt in der ausführlichen Akademie-Ausgabe vor (1900 ff.), die gebräuchliche Zitation erfolgt nach der Sammlung der Hauptschriften durch Wilhelm Weischedel. Kautsky, Karl (1854-1938), deutscher sozialistischer Politiker und Theoretiker tsche-
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chischer Herkunft. Prägte im Kaiserreich die Programmdiskussion der deutschen Sozialdemokratie und war Herausgeber des wissenschaftlichen Hauptorgans Die Neue Zeit. Hauptvertreter des Zentrismus, der zwischen dem revisionistischen (Bernstein) und dem Sozialrevolutionären linken Flügel (Luxemburg) zu vermitteln versuchte. Im Weltkrieg wendet er sich von der Parteileitung ab und gründet die USPD, organisiert aber auch wieder ihre Fusion mit der Sozialdemokratie 1922 (Der Weg zur Macht, 1909; Parlamentarismus und Demokratie, 4. Aufl., 1922; Krieg und Demokratie, 1932). Kelsen, Hans (1881-1973), österreichischer Rechtstheoretiker. Mitbegründer und Schulhaupt der Reinen Rechtslehre. Lehrte in Wien, Köln und nach der Emigration in der Schweiz und zuletzt in Berkeley. Radikaler Versuch einer rechtswissenschaftlichen, von allen politischen und sozialen Werturteilen abstrahierenden Normentheorie. Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 1922; Allgemeine Staatslehre, 1925; Reine Rechtslehre, 1934. Keynes, John M. (1883 -1946), englischer Ökonom. Mit seiner General theory of employment, interest and money (1936) zählt Keynes zu den wichtigsten Stichwortgebern der Wirtschaftspolitik im 20. Jahrhundert, darunter die Strategie der antizyklischen Konjunkturpolitik. Als Lehrer am King's College in Cambridge und Herausgeber des Economic Journal bewegte sich Keynes immer auch in der aktiven Politik, so während des Ersten Weltkrieges im Schatzamt, und gehörte zur englischen Delegation auf der Friedenskonferenz von Versailles. Lassalle, Ferdinand (1825-1864), Mitbegründer der Sozialdemokratie in Deutschland, von der organisierten Arbeiterschaft hymnisch verehrter Rhetor (Arbeiterprogramm, 1863). Lassalle gehört zum sozialistischen Hegel-Flügel und verfasste politische Büh-
Biographien
nenwerke (Franz von Sickingen, 1859), philosophische Schriften (Die Philosophie Heraklits, 1858) und sozialwissenschaftliche Theorien zur Enteignung (System der erworbenen Rechte, 1861). Im Duell gefallen. Le Bon, Gustave (1841-1931), französischer Sozialwissenschaftler. Unter dem Eindruck der italienischen Kriminalistik, die individuelle von kollektiv verübten Straftaten unterschied, entwickelte er eine Kollektivpsychologie (Massenpsychologie genannt) zur Erklärung bestimmter politischer Phänomene wie Straßenaufläufe und Revolutionen {Psychologie des faules, 1895). Lederer, Emil (1882-1939), österreichischer Soziologie. Wirkte zunächst in Deutschland, dann in die USA emigriert. Bedeutende Arbeiten zur Angestelltensoziologie. Warnte in der posthum herausgegebenen Arbeit The state of the masses (1940) vor den gesellschaftlichen Wurzeln totalitärer Herrschaft. Wichtige Arbeiten sind in der Ausgabe Kapitalismus, Klassenstruktur und Probleme der Demokratie in Deutschland 1910-1940 (1979) versammelt. Leibholz, Gerhard (1901-1982), deutscher Jurist und Verfassungsrichter. Sowohl in der Philosophie als auch in den Rechtswissenschaften promoviert, bildet Leibholz eine der gedanklichen Brücken zwischen Weimarer und Bundesrepublik. Nach anfänglich stark idealistischen Motiven wandte er sich der Demokratietheorie zu und war energischer Verfechter einer positiven Parteientheorie. In dieser Hinsicht wirkte er auch am Bundesverfassungsgericht (1951-1971), beispielsweise bei der Auslegung des Parteiengesetzes (Das Wesen der Repräsentation, 1929; Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1967.) Lenin, d.i. Wladimir Iljitsch Uljanow (18701924), russischer Politiker und sozialistischer Theoretiker. Bereits während des juristischen Studiums revolutionär organisiert,
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kam er in Verbannung. Das Problem der Übertragung des marxistischen Modells auf ein industriell wenig entwickeltes Land wie Russland führt zur Lösung in der nicht gewerkschaftlich organisierten, sondern berufsrevolutionären Partei (Was tun?, 1902). Aus dem Exil nach dem Sturz des Zarismus nach Russland zurückgekehrt (Staat und Revolution, 1917) organisiert er die Machtübernahme in der Oktoberrevolution und wird Vorsitzender der Volkskommissare und damit Machthaber. Als Reaktion auf die anhaltenden Probleme bei der Durchführung der Revolution (Konterrevolution und Bürgerkrieg, Versorgungsnot) verschärft er, selber persönlich integer, die Zentralisierungstendenz in der Kommunistischen Partei. Lippmann, Walter (1889-1974), amerikanischer Journalist und Publizist. Prägte in den USA die Erforschung der medial vermittelten Öffentlichkeit (Public Opinion, 1949). List, Friedrich (1789-1848), deutscher Ökonom und Politiker. Professor in Tübingen und Abgeordneter im Württembergischen Parlament. Wegen Opposition zur Politik des Königs in die Verbannung in die USA getrieben. Nach seiner Rückkehr 1832 betreibt er den Eisenbahnausbau und die Errichtung des nationalen Zollvereins und wird zum theoretischen Vordenker der Historischen Nationalökonomie mit seiner Theorie der produktiven Kräfte (Das natürliche System der politischen Ökonomie, 1841). Livius, Titus (etwa 59 v. u. Ζ. - 1 9 n. u. Z.), römischer Historiker. Seine in 142 Büchern niedergelegte Geschichte Roms von der Stadtgründung an (Ab urbe condita) schrieb Livius unter dem Mäzenat des Augustus. Seine Darstellung, die historisch umstritten ist, prägte das Rom-Bild aus Königszeit und Republik in Mittelalter und Frühneuzeit wesentlich. Locke, John (1632-1704), englischer Philosoph. Einer der einflussreichsten Aufklärer
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und Theoretiker des Rationalismus (Essay concerning human understanding). Beteiligte sich vor allem als Sekretär des Earl of Shaftesbury an der Politik im Vorfeld der Glorious Revolution. Begründer des politischen Liberalismus mit seinen Schriften zum Gesellschaftsvertrag (Two treatises on government, 1690; die wissenschaftliche Standardausgabe ist von Peter Laslett ediert), worin er im Gegensatz zu Hobbes von dem Vorrang der Bürgergesellschaft von Eigentümern vor dem Staat ausgeht, und zum Toleranzproblem im Umgang des Staates mit der Religion (Epistola de Tolerantia, 1689).
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sozialrevolutionärer Bewegungen aus, auf die er mit der Stärkung der Landesherrschaft als Notepiskopat reagierte. Die mit der Reformation einhergehenden Wirkungen in Nordeuropa beeinflussten die grundlegende Ausrichtung des politischen Denkens. Luxemburg, Rosa (1871-1919), in Deutschland wirkende sozialistische Politikerin und Theoretikerin polnischer Herkunft. Beklagte den politischen Konformismus der deutschen Sozialdemokratie (Sozialreform oder Revolution, 1899) und gründete mit Liebknecht 1918 die KPD, bekämpfte aber auch die Machtpolitik und den Zentralismus der russischen Bolschewisten (Die russische Revolution, 1922).
Ludendorff, Erich (1865 -1937), deutscher Soldat. Generalstabschef Hindenburgs im Ersten Weltkrieg, übte mit ihm zusammen ab 1916 Machiavelli, Niccolo (1469-1527), florentinidie militärische Gesamtfuhrung aus. Nach scher Politiker, Historiker und politischer dem Krieg Politiker auf der völkischen Seite Theoretiker. Mit ihm verbindet sich der Ander Rechtsparteien, beteiligt an Hitlers Münbruch des politischen Denkens der Neuzeit. chener Putschversuch, 1924-1928 Mitglied Er hatte verschiedene Positionen innerhalb des Reichstags. Kritiker der Clausewitzforder Stadtregierung inne, war Gesandter unter mel vom Vorrang der Politik vor dem Militär, anderem in Deutschland. Nach der Rückkehr die er umkehrte. Propagierte die Vorbereider Medici und dem Sturz der Republik zum tung des totalen Kriegs. Privatleben gezwungen, arbeitet er ab 1513 an seinen politischen Schriften, die aus der Luhmann, Niklas (1927-1998), deutscher SoGeschichte seiner Heimatstadt (Istorie fioziologe. Fortsetzer der soziologischen Sysrentine, 1532) und der systematischen temtheorie von Tallcott Parsons, die er in mehRekonstruktion des römischen politischen reren Theorieschüben (4 Bände Soziologische Denkens (Discorsi sopra la prima deca di Aufklärung, 1970-1987; Soziale Systeme, Tito Livio, 1531) sowie der Analyse der 1984) schließlich zur Theorie der Autopoiesis Fürstenherrschaft (II principe, 1532) ein umbaute. Soziale Systeme errichten und Gesamtbild politischer Logik des Handelns erhalten sich im Medium der Kommunikation entwerfen. selbst. Das Recht der Gesellschaft, 1993; Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bände, 1997; Maistre, Joseph Marie Comte de (1753-1821), Die Politik der Gesellschaft, 2000. französischer Philosoph. Als Royalist und Gegner der Französischen Revolution und Luther, Martin (1483-1546), deutscher Reforihrer Ergebnisse war er ein Wortführer der mator und Kirchengründer. Zunächst im Reaktion und propagierte (auch begrifflich) Augustinerorden, aus theologischen Überledie Konterrevolution. Politische Verfassungungen (Problem der Rechtfertigung, Freigen haben nur in der Gesamtstruktur weltliheit) und angesichts der Verweltlichung der cher und päpstlicher Herrschaft ihren Platz Katholischen Kirche seiner Zeit zu kompro(Considerations sur la France, 1796; Du missloser Erneuerung aufrufend, löste er eine pape, 1819). Welle auch radikaler Kirchenreformen sowie
Biographien
Malthus, Thomas (1766-1834), englischer Ökonom. Am bekanntesten sind seine Arbeiten zum demographischen Faktor der Volkswirtschaft (Essay on the principle ofpopulation, 1798;überarbeitetundausgeweitet, 1803). Darüber hinaus beschäftigte er sich mit den Themen der klassischen Nationalökonomie, der Geld- und der Wertlehre und nahm hierbei eine unabhängige Position ein. Beteiligte sich an den Auseinandersetzungen um die Korngesetze zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Mao Tse-tung (1893-1976), chinesischer Politiker. Mitbegründer der chinesischen Kommunistischen Partei. Widerstand gegen die japanische Besatzung und Bürgerkrieg gegen das eher bürgerliche Regime der Kuomintang (Langer Marsch), über den langandauernden Krieg, 1938. Im Unterschied zur kommunistischen Orthodoxie sieht er in den Bauern den Träger der Revolution. Mit Gründung der kommunistischen Volksrepublik Präsident. Löste die so genannte Kulturrevolution aus mit Säuberungen der Kader. Schrieb ideologisch-programmatische Werke wie auch Lyrik. Marcuse, Herbert (1898-1979), amerikanischer Philosoph deutscher Herkunft. Stand bereits vor seiner Emigration in die USA 1934 der Kritischen Theorie nahe, lehrte in Harvard und zuletzt Berkeley. Marxistisch geprägte, an Freud orientierte (Eros and civilization, 1955) Kritik der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft (One-dimensional man, 1964). Hatte erheblichen Einfluss auf die Studentenbewegung der 1960er Jahre. Marshall, John (1755-1835), amerikanischer Verfassungsrichter. Aus Virginia stammend, beteiligte er sich früh am Unabhängigkeitskrieg und tat sich später im Parlament seines Heimatstaates hervor. Er wurde 1800 Außenminister der USA und 1801 Chief Justice des Supreme Court. In seinem 35-jährigen Wirken begründete er die Doktrin des materiellen Prüfungsrechts des Gerichts und sicherte
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so dem Gericht seine verfassungspolitische Stellung. Marx, Karl Heinrich (1818-1883), deutscher Philosoph und Ökonom. Studierte in Berlin und war in der Hegeischen Denkweise geübt. Er entwarf nach zunächst journalistischer Tätigkeit, revolutionärer Agitation und gescheiterten Sozialrevolutionären Anstrengungen (Das Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, zusammen mit Friedrich Engels) im Exil, zuletzt in London, eine umfassend angelegte Theorie des Historischen Materialismus (Das Kapital, Band 1, 1867), in deren Gefolge er die revolutionäre Entwicklung der Gesellschaftsstruktur zumal in Politik und Ökonomie prognostizieren wollte. Scharf gegen sozialutopische und romantische Varianten des Sozialismus polemisierend (Die deutsche Ideologie, 1845/1846, zusammen mit Friedrich Engels), gab er der deutschen Sozialdemokratie ihr ideologisches Gepräge. Masaryk, Thomas (1850-1937), tschechischer Politiker und Soziologe. Hatte erheblichen Anteil an der Gründung der tschechoslowakischen Republik, deren Staatspräsident er lange Zeit war. Meinecke, Friedrich (1862-1954), deutscher Historiker. Herausgeber der Historischen Zeitschrift in der Nachfolge Rankes, Professor in Freiburg und Berlin, wo er 1948 auch erster Rektor der Freien Universität wurde. Begründete die politische Ideengeschichte als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft in Deutschland (Weltbürgertum und Nationalstaat, 1907; Die Idee der Staatsräson, 1924). Michels, Robert (1876-1936), Soziologe. In Deutschland ausgebildet, fand er keine wissenschaftliche Anerkennung und ging nach Italien, wo er in Turin lehrte. Einer der Begründer der Parteiensoziologie (Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 1911; erheblich überarbeitet,
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1925) und Elitentheoretiker, der sich dem Faschismus zuwandte.
kings and magistrates, 1650), die auch die Hinrichtung des Königs rechtfertigte.
Mill, John Stuart (1806 -1873), englischer Ökonom und politischer Theoretiker. Entwandt sich dem beherrschenden Einfluss seines Vaters James und dessen Freund Jeremy Bentham und begründete seine eigene Theorie des Liberalismus. Redigierte die London and Westminster Review und machte darin unter anderem Tocquevilles Schrift zur Demokratie in Amerika bekannt. Mitglied des Unterhauses 1865-1868. Seine Schrift On liberty (1859) gehört zu den Standardreferenzen des modernen Liberalismus, darüber hinaus ist er als Parlamentarismustheoretiker ([Considerations on representative government, 1859) unter anderem mit der Befürwortung des Verhältniswahlrechts nach dem System von Hare berühmt geworden und zählt mit der Schrift Utilitarianism (1863) auch zu den philosophisch instruktiven Autoren. Seine Principles of political economy beschließen die Tradition der klassischen Lehre.
Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brede et de (1689-1755), französischer politischer Philosoph und Aufklärer. Adelig und in unabhängiger Position das Richteramt ausübend, wurde Montesquieu als Autor der Lettres persanes (1721) berühmt und konzentrierte sich danach auf die Erarbeitung und Abfassung seines Hauptwerks L'esprit des lois (1748). Darin begründet er die politische Soziologie mit seiner Untersuchimg der exogenen Faktoren der Gesetzgebung und ihrer sozialen Wirkungen. Zusammen mit Rousseau und Locke der einflussreichste Vordenker der atlantischen Revolution.
Millar, John (1735-1801), schottischer Philosoph. Schüler von Adam Smith, lehrte Recht an der Universität von Glasgow. In der Schule der Schottischen Aufklärung thematisierte Miliar in zivilisationsgeschichtlicher Perspektive den gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritt und erklärt die Differenzierungen unter den Menschen sozialevolutionär (Observations concerning the distinction of ranks in society, 1771) Milton, John (1608-1674), englischer Dichter und politischer Publizist. Im englischen Bürgerkrieg auf Seiten des Parlaments, in der Republik Cromwells außenpolitischer Staatsekretär. Dichter des puritanisch inspirierten Epos Paradise lost. In seinen Publikationen trat er für Ehescheidung, Kirchenreform und Pressewesen ein (Areopagitica, 1644) und vertrat eine republikanische Theorie der magistratischen Regierung (The tenure of
Morgenthau, Hans J. (1904-1980), amerikanischer Politikwissenschaftler deutscher Herkunft. Ursprünglich in Deutschland als Jurist ausgebildet, promovierte er im Exil bei Hans Kelsen und wechselte schließlich in den USA in die Politikwissenschaft, wo er das theoretische Fundament der realistischen Schule der Internationalen Beziehungen legte (Scientific man versus power politics, 1947; Politics among nations. The struggle for power and peace, 1948). Das hinderte ihn nicht an scharfer Kritik am Vietnam-Krieg. Morus, Thomas (1478-1535), englischer Staatsmann und Humanist. Sprecher des Unterhauses. Lordkanzler Heinrich VIII., dessen Kirchenpolitik er jedoch zu unterstützen verweigerte, weshalb er hingerichtet wurde. Mit seinem romanhaften Bericht von dem Inselstaat Utopia (1516) begründete er die Gattung utopischer Literatur, die in politischer Absicht und literarisch verhüllt Zeitkritik übt lind dabei einen Idealentwurf einer Gesellschaft entwirft. Mosca, Gaetano (1858-1941), italienischer Soziologe. Senator 1919. Versuch der Grundlegung der Politik als Wissenschaft (Elementi di scienzapolitica, 1895). Prägte die politi-
Biographien
sehe Elitentheorie als Teil einer realistischen Machtanalyse menschlicher Organisationen. Nagel, Thomas (geb. 1937), amerikanischer Philosoph. Lehrte zuletzt in New York. Vertreter eines um den Gesichtspunkt der Egalität erweiterten Liberalismus (Equality and partiality, 1991). Neumann, Franz L. (1900-1954), deutscher Sozialwissenschaftler. Juristisch ausgebildet, Schüler von Hugo Sinzheimer in Frankfurt am Main. Lehrte an der Hochschule fur Politik und war zugleich praktizierender Rechtsanwalt. 1932 Syndikus der SPD, musste aus politischen Gründen 1933 emigrieren und ging an die London School of Economics and Political Science, wo er bei Harold Laski promoviert wurde. Emigrierte 1937 nach New York, wo er am Institut für Sozialforschung Max Horkheimers bis 1942 tätig war. In dieser Zeit entstand auch seine Analyse des politischen Regimes des Nationalsozialismus, der Behemoth. Den Rest des Krieges wirkte Neumann im Office of Strategie Services an der Vorbereitung der künftigen Militäregierung Deutschlands mit. Lehrte ab 1950 an der Columbia University und starb an den Folgen eines Autounfalls. Wichtige Schriften sind versammelt in The democratic and the authoritarian state (1957). Nietzsche, Friedrich (1844-1900), deutscher Philosoph. War zuerst als Altphilologe berühmt, lehrte in Basel, bis er sich wegen starker Beschwerden zurückziehen musste, in der Schweiz und Italien lebend. Nach seinem geistigen Zusammenbruch pflegte ihn seine Schwester in Weimar. Nietzsche arbeitete keine systematische Philosophie aus, sondern wirkte durch Essays und aphoristische Gedankensammlungen, die stark auseinander laufende Interpretationen zulassen. War die Konzeption des Willens zur Macht für die Rezeption in der nihilistischen Lebensphilosophie prägend, so ist für die Sozialwissenschaften das Modell einer Ge-
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nealogie der Moral (1887) einflussreich gewesen (beispielsweise auf Foucault), in dem eine kulturhistorisch bedingte Moralität in den Vordergrund tritt. Nozick, Robert (1938-2002), amerikanischer Philosoph. Lehrte an der Harvard University. Am bekanntesten wurde sein Plädoyer für ein auf der Grundlage des Gesellschaftsvertrages erstelltes liberales Modell des Minimalstaats {Anarchy, state and Utopia, 1974). Galt als systematischer Gegenspieler zu (seinem Kollegen) John Rawls. Olson, Mancur (1932-1998), Ökonom. Wichtiger Theoretiker der Theorie kollektiven Handelns (The logic of collective action, 1965), auf der basierend er auch Überlegungen zur Entwicklung des nationalen Wohlstands in der Moderne vorlegte (The rise and decline of nations, 1982). Orwell, George (Eric Blair) (1903-1950), englischer Schriftsteller. Sozialistische Neigungen, Mitglied der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg (verwundet ausgeschieden). Mit Animal farm (1945) verarbeitete er die dortigen Erlebnisse zu einer Fabel um die Selbstzerstörung der sozialistischen Idee durch ihre konkurrierenden Gruppierungen. Mit 1984 (1949) gelang ihm ein sozialutopischer Roman über die Perfektion des Krieg führenden Polizeistaates. Paine, Thomas (1737-1809), amerikanischer Politiker und Publizist. In England geboren, emigrierte er nach Amerika auf Ratschlag Benjamin Franklins. Dort betätigte er sich sogleich in der Anti-Sklaverei-Bewegung. Mit seinem politischen Pamphlet Common Sense im Januar 1776 wurde er schlagartig zu einem der bekanntesten Wortführer der Unabhängigkeitsbewegung. Er kämpfte während der Revolution und war weiterhin einer der einflussreichsten Pamphletisten (American crisis papers). Seine Regierungstätigkeit in der neuen Union scheiterte an seinem Aufklärungsdrang. Er reiste nach England und
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wurde in die Französische Revolution hineingerissen, die er gegen Edmund Burkes Kampfschrift mit The rights of man (1792) verteidigte. Er wurde in den französischen Konvent gewählt, aber von den Jakobinern inhaftiert, da er gegen die Hinrichtung des Königs gestimmt hatte. In der Haft begann er seinen systematischen Entwurf The age of reason. In die USA zurückgekehrt, war er beinahe vergessen. Pareto, Vilfredo (1848-1923), italienischer Ökonom und Soziologe. Wurde in Paris geboren und lebte die letzten und zugleich theoretisch wirksamsten Jahrzehnte in der Schweiz. Nach technisch-mathematischer Ausbildung in Turin und einer Tätigkeit unter anderem in der Eisenbahnindustrie bemühte sich Pareto wiederholt vergeblich um ein Abgeordnetenmandat zur Deputiertenkammer. Er siedelte in die Schweiz über, wo er Politische Ökonomie lehrte, finanziell durch Erbschaft unabhängig. Sein Beitrag zu den Sozialwissenschaften ist in ihrem ökonomisch geprägten Zweig noch heute sichtbar (Theorem des Pareto-Optimums). Seine Soziologie ist um einen extremen Realismus bemüht, der unter anderem für Robert Michels vorbildhaft wirkte. Die Oeuvres completes sind in Genf erschienen (1964-2001). Unter den Einzelwerken sind hervorzuheben der Cours d 'economiepolitique (1896-1897) und der umfangreiche, zweibändige Trattato di sociologica generale (1916). Parsons, Talcott (1902-1979), amerikanischer Soziologe. Studium unter anderem in London und Heidelberg. Lehrte in Harvard. Begründer der soziologischen Systemtheorie. Evolutionäre Ansicht von der Theorieentwicklung in der Soziologie. Frühes Hauptwerk ist The structure of social action (1937). Ferner: The social system (1951). Paulus (Anfang 1. Jh. - 60/62), christlicher Missionar und Apostel. Nach seinem Damaskuserlebnis Hinwendung zum Christentum, des-
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sen Verbreitung er außerhalb des Judentums (Heidenmission) betrieb. Seine Theologie wird den Gemeindebriefen entnommen (Römerbrief, Korintherbriefe). Piaton (427-348 v.u.Z.), griechischer Philosoph. Dem athenischen Adel entstammend, wandte er sich nach der Hinrichtung seines Lehrers Sokrates von der Demokratie ab und bemühte sich um die Verwirklichung seines Ideals des Philosophenherrschers bei Tyrannen. Gründete die philosophische Schule der Akademie. Seine Werke sind in Dialogform verfasst, Sokrates ist jeweils der Hauptgesprächspartner. Ihre Datierung ist umstritten. Die politisch wichtigsten Schriften sind die mittleren Werke Gorgias, Politeia sowie die Alterswerke Politikos und Nomoi. Die Zitation erfolgt traditionell nach der Stephanus-Nummerierung, die eine Angabe der Fundstelle unabhängig von der jeweiligen Ausgabe und Übersetzung erlaubt. Plutarch (46-120), griechischer Philosoph und Historiker. Führte die biographische Geschichtsschreibung zur Meisterschaft. Mit der Parallelisierung jeweils eines griechischen und einer römischen Lebensgeschichte (Bioi paralleloi) war er bestrebt, die Gemeinsamkeit beider Kulturkreise herauszustellen. Einzelne Biographien, wie die zum spartanischen Staatsgründer Lykurgos, haben das politische Denken Europas stark beeinflusst. Polybios (200 -120 v. u. Z.), griechischer Politiker und Historiker. Nach einer Karriere als Politiker und Reiterführer kam Polybios als Geisel nach Rom und wurde im Haus der Scipionen aufgenommen, wo er erzieherisch tätig wurde. In seiner römischen Geschichte (Historien) schildert er aus griechischer Sicht die Eigentümlichkeit der römischen Verfassung, um deren Vorherrschaft im Mittelmeer zu erklären. Seine dort entwickelte Theorie der Mischverfassung ist nicht originär, hatte aber in seiner Fassung die stärkste Wirkung.
Biographien
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Protagoras (etwa 485 —415 v. u. Ζ.), griechischer Hantaux in acht Bänden veröffentlicht) ragt Philosoph. Entfaltete als reisender Sophist das Testament politique heraus, das erstmals große Wirkung mit seiner Lehre, in welcher 1688 ediert wurde. der Mensch als entscheidender Maßstab Robespierre, Maximilien (1758-1794), franzömenschlichen Handelns behauptet wird. Dasischer Politiker und Publizist. Delegierter her wurde er der Gottlosigkeit angeklagt. des Dritten Standes in Versailles 1789, trat Einer der Gegenspieler des Sokrates, dessen bald als radikaler Vertreter der Republik herTugendwissen er mit seinem Relativismus vor, Wortführer der Jakobiner, setzte die Hirnbegegnete. richtung des Königs durch und versuchte, durch eine Überhitzung der revolutionären Rawls, John (1921 -2002), amerikanischer PhiVeränderung in Form der Schreckensherrlosoph, zuletzt in Harvard lehrend. Bekämpfschaft des von ihm geführten Wohlfahrtsauste den Utilitarismus mit einer Neuaneignung schusses die Bevölkerung zum Leben in Freider klassischen Gesellschaftsvertragslehre, heit zu erziehen. Von den gemäßigten Kräften die als faires Denkmodell eine allgemein hingerichtet. akzeptable Gerechtigkeitstheorie erstellt im Sinne eines obersten Maßstabs der Einrich- Rostow, Walt Whitman (1916-2003), amerikatung der gesellschaftlichen Verhältnisse (A nischer Ökonom rassischer Herkunft. In Yale theory ofJustice, 1971). und Oxford ausgebildet, gehörte er zum wisRenan, Ernest (1823-1892), französischer senschaftlichen Stab des Marshall-Plans Religionswissenschaftler. Zunächst für das nach dem Zweiten Weltkrieg. Neben seiner Priesteramt vorbereitet, entfernte ihn die Professur am M.I.T. war er Mitarbeiter verhistorische Kritik der Wissenschaft von der schiedener Präsidenten und von 1966-69 kirchlichen Dogmatik. Sein Vie de Jesus Assistant for National Security Affairs im (1863) war eine publizistische Sensation und National Security Council. Seine Befürworbrachte zugleich die Abberufung von seiner tung des Vietnam-Kriegs und des Free EnterProfessur am College de France. Erst die prise machte ihn in Fachkreisen höchst unRepublik berief ihn erneut. In Reaktion auf populär, so dass er an die University of Texas die Niederlage gegen Preußen-Deutschland in Austin wechselte. Am bekanntesten ist verfasste er den Essay Qu'est-ce qu'une seine Wirtschaftsentwicklungstheorie in dem nation? (1882), in dem er die Nation als deBuch The stages of growth. A non-communist mokratische Willensgemeinschaft definiert. manifesto (1960). Oeuvres completes (1947 -1961). Rousseau, Jean-Jacques (1712-1778), schweizerischer Philosoph. Wirkte hauptsächlich in Richelieu, Armand-Jean du Plessis, Due de Frankreich. Gehörte zunächst zum Aufklä(1585 -1642), französischer Politiker. Mit 20 rer-Kreis um die Enzyklopädie von Diderot Jahren Bischof, 1622 Kardinal. Seine politiund d'Alembert. Versuchte, durch Neuthesche Karriere begann als Vertreter des ersten matisierung der Natur der DekadenzerscheiStandes auf der Ständeversammlung von nungen der überfeinerten Gesellschaft (Kor1614 und erreichte ihren Höhepunkt als Präruption) entgegenzuwirken (Discours sur sident des Ministerrates von König Ludwig l'origine de la inigaliti parmi les hommes, XIII. 1624. Der mächtigste Staatsmann sei1755; imile, 1762). Seine Werke provoner Zeit sicherte die königliche Gewalt durch zierten den höheren Klerus, der ihn zwang, die Bekämpfung des Hochadels und des HauFrankreich zu verlassen. Mit seiner proses Habsburg, des außenpolitischen Rivalen. grammatischen Freiheitsphilosophie der ReAus seinem umfangreichen Nachlass (von
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publik (Du contrat social, 1762) übte er auf die Französische Revolution einen erheblichen Einfluss aus. Sallust, Gaius gen. Crispius (86-34 v.u.Z.), römischer Politiker und Historiker. Übte verschiedene Ämter aus, darunter das Volkstribunat. Parteigänger Cäsars. Nach seinem Rückzug aus der Politik widmete er sich historischen Schriften, von denen seine Darstellung der Catilinarischen Verschwörung die berühmteste ist (De coniuratione Catilinae). Schelsky, Helmut (1912-1984), deutscher Soziologe. Schüler von Arnold Gehlen und Hans Freyer (Leipziger Schule der Soziologie), stand anfänglich dem Nationalsozialismus nahe. Professur für Soziologie in Hamburg und Münster. Planung der Universitätsgründung in Bielefeld. Neben den stark anwendungsbezogenen soziologischen Schriften beteiligte er sich umfänglich an dem Schulenstreit um die Deutungshoheit der BRD und polemisierte dabei gegen die Frankfurter Schule (Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, 1975) und besonders gegen die im Zuge der 1968er-Bewegung initiierte Universitätsreform.
um politologische und theologische Perspektiven desavouierte er selbst mit dem Versuch, nach der Machtergreifung die Verfassung des Nationalsozialismus zu entwerfen. Das Berufsverbot nach 1945 hinderte nicht einen jahrzehntelangen Einfluss als Briefeschreiber und Publizist von seiner Heimatstadt Plettenberg aus. Verfassungslehre (1928); Der Begriff des Politischen (1932); Der Hüter der Verfassung (1929). Schumpeter, Joseph (1883-1950), österreichischer Ökonom. Im Umkreis der Wiener Schule ausgebildet, ihr aber nicht zugehörig, entwickelte er vor allem eine Konjunkturzyklentheorie und thematisierte den ökonomischen Ort des freien Unternehmertums, das in schöpferischer Zerstörung durch Erfindungsgabe und Imitation tätig wird. Nach dem Ersten Weltkrieg kurze Zeit Finanzminister Österreichs. Zunächst Gastlehrer in Harvard, blieb er dort ab 1932 lehrend tätig. Begründete mit Capitalism, Socialism, and Democracy (1942) die realistische Theorie der Demokratie. Von den ökonomischen Arbeiten sind besonders zu nennen die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (1912) und Business Cycles (1939) sowie die oft gelesene History ofEconomic Analysis (1954).
Schiller, Friedrich (1759-1805), deutscher Dichter des Sturm und Drang und der Klassik. Als Republikaner berühmt geworden mit den Räubern. Seine ästhetische Erziehung schließt an seine Beschäftigung mit der Philosophie Kants und an Erfahrungen mit der Französischen Revolution an und begründet im Erziehungsthema ein im deutschen Diskurs nachhaltig wirkendes Problem. Schmitt, Carl (1888-1985), deutscher Staatsrechtslehrer. Wirkte sowohl als Lehrer in der Weimarer Republik (zuletzt an der Berliner Universität) als auch durch seine Begriffsprägungen (Hüter der Verfassung, FreundFeind-Theorem) nachhaltig. Die Erweiterung der theoretischen Basis der Staatsrechtslehre
Seeley, John Robert (1834-1895), englischer Historiker. Autor von Biographien (Life and Times of Stein) und der in der ImperialismusDebatte weit rezipierten Rechtfertigungsschrift für den britischen Kolonialismus Expansion of England (1883). Seine Einfuhrung in die Politik Introduction to political science (posthum 1896) ist ebenso wie Treitschkes zeitgenössische Vorlesungen geprägt von der Sicht des Historikers. Sieyes, Emmanuel Joseph (1748-1836), französischer Politiker und politischer Publizist. Vertreter des niederen Klerus auf der Generalständeversammlung zu Versailles 1789. In ihrem Vorfeld wurde er mit einer Flugschrift über die Identität des Dritten Standes mit der
Biographien
Nation berühmt (Qu 'est-ce que le tiers etat?, 1789). Damit prägte er den Alleinvertretungsanspruch des sich zur Nationalversammlung formierenden Dritten Standes. An der konstitutionellen Verfassung beteiligt, später im Direktorium ein Steigbügelhalter Napoleons. Prägte die Unterscheidung zwischen souveräner (verfassungsgebender) Gewalt des Volkes und des durch die Verfassung geschaffenen Volkes (Wählerschaft). Simmel, Georg (1858-1918), deutscher Soziologe. Keiner Theorieschule zugehörig, wirkte Simmel mit großem Themenspektrum, von der Kulturanthropologie (Philosophie des Geldes, 1900) bis zur soziologischen Grundlagentheorie der sozialen Beziehung, die selbst im Konflikt besteht (Soziologie, 1908), anregend auf die Nachfolgegeneration. Im Gegensatz zur Kritik großer Teile der Soziologie an der modernen Gesellschaft erörterte Simmel auch die durch sie hervorgebrachten Leistungen und neuen Möglichkeiten. Smend, Rudolf (1882-1975), deutscher Staatsrechtslehrer. Professor unter anderem in Tübingen und Berlin. In Göttingen erster Nachkriegsrektor. Entfaltete auch nach seiner Emeritierung 1950 nachhaltigen Einfluss auf mehrere Generationen von Rechtslehrern und Bundesverfassungsrichtern in seinem staats- und verfassungstheoretischen Seminar, das er bis 1969 abhielt. Die wichtigsten Arbeiten sind in den Staatsrechtlichen Abhandlungen (1994) versammelt, darunter auch seine Hauptschrift Verfassung und Verfassungsgesetz (1928). Smith, Adam (1723 -1790), schottischer Philosoph und Ökonom. Zählt zur Schottischen Aufklärung. Ungeachtet seiner moralphilosophischen Theorie (Theory of morals sentiments, 1759) wirkte er am nachhaltigsten durch seine ökonomische Theorie des Marktes und des arbeitsteilig und zugleich aus egoistischen Motiven produzierten Wohlstandes (Inquiry into the nature and the causes of the
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wealth ofnations, 1776) auf die Ausformulierung des Liberalismus ein. Sombart, Werner (1863 -1941), deutscher Wirtschaftshistoriker. Wirkte 1906-1931 in Berlin als Professor, Publizist und erfolgreicher Vortragender. Neigte zu einer Differenzierung nach deutscher und angelsächsischer Wirtschaftsweise mit deutlich politischen Untertönen (Deutscher Sozialismus, 1934). Das wirtschaftshistorische Werk Der moderne Kapitalismus (2 Bände, 1902) gehört noch heute zu den Standardwerken. Sorokin, Pitirim (1889-1968), amerikanischer Soziologe russischer Herkunft. Nach den revolutionären Unruhen von 1906 zeitweilig in zaristischer Haft. Er beendete sein Studium der Psychologie in Sankt Petersburg. Nach dem Sturz der Monarchie Sekretär des neuen Ministerpräsidenten Kerenskij, wurde er von den Bolschewiki wiederholt verhaftet und musste schließlich 1922 wegen angedrohter Erschießung Russland verlassen. 1930— 1964 Professor für Soziologie in Harvard. Social and cultural dynamics (4 Bände, 1937-1941). Spencer, Herbert (1820-1903), englischer Soziologe. Zunächst Ingenieur, dann Publizist im The economist und als Privatgelehrter tätig. In seinem Hauptwerk Principles of Sociology (1882-1892, 3 Bände) erweist er sich als Vertreter einer evolutionistischen Gesellschaftstheorie, in welcher die Rolle des Staates marginalisiert ist (The man versus the state, 1884). Stein, Lorenz von (1815 -1890), deutscher Verwaltungswissenschaftler. Zählt zum rechtshegelianischen Flügel. Nach anfänglicher Lehre in Kiel wegen der politischen Tätigkeit gegen den dänischen Anspruch auf Schleswig entlassen, lehrte er 1855-1885 in Wien und zählt zu den Begründern der modernen Verwaltungswissenschaft (Verwaltungslehre, 8 Bände, 1865-1884). Seine Geschichte der Französischen Revolutionen zählt zu den
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Begründer der wissenschaftlichen Theorie ersten sozialwissenschaftlich inspirierten der optimalen Betriebsführung (TaylorisDarstellungen der Vorgänge, worin er auch mus) unter dem ausschließlichen Gesichtsden Begriff des Klassenkampfes prägte (Die punkt der produktiven Effizienz. Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsre Tage, 6 Bände, Thoreau, Henry David (1817-1862), amerika1850, geht auf mehrere Vorstudien zurück). nischer Philosoph. Nonkonformist und Vorreiter der ökologischen Bewegung mit Sternberger, Dolf(1907-1989), deutscher Poliseinem Plädoyer für die Erhaltung der natürtikwissenschaftler. Nach einer Promotion zu lichen Lebensumwelt, so in der Schilderung Sein und Zeit von Martin Heidegger Journaseines zweijährigen Experiments des Lebens list der Frankfurter Zeitung bis zu deren Veraußerhalb der Zivilisation in Waiden (1854). bot 1943. Hieraus erwuchs nach dem Krieg Sein Essay zum Civil Disobedience (1849) Das Wörterbuch des Unmenschen. Lehrte in ruft zum gewaltfreien Widerstand gegen Heidelberg. Die drei Wurzeln des Politischen missliebige Regierungspolitik auf und übte (1978). einen starken Einfluss auf die Formulierung Strauss, Leo (1899-1973), amerikanischer der politischen Strategie von Mahatma GanPhilosoph und Ideenhistoriker deutscher dhi und Marthin Luther King aus. Herkunft. Philosophisch ausgebildet, lehrte Strauss zunächst an der Akademie für die Thukydides (460 - 400 v. u. Z.), griechischer Wissenschaft des Judentums in Berlin, emiPolitiker und Historiker. Hatte in seiner grierte 1932 und entfaltete an der University Heimatstadt Athen Ämter inne, darunter den of Chicago 1949-1967 eine einflussreiche militärischen Oberbefehl (Stratege), wegen Lehrtätigkeit (.Natural right and history, Misserfolgs verbannt. Er verfasste den Pele1953). ponnesischen Krieg, die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Athen und Talmon, Jacob (1916-1980), israelischer HisSparta sowie ihrer Bündnissysteme um die toriker. Lehrte an der Hebräischen UniversiVorherrschaft und wurde darin zum Begrüntät von Jerusalem und untersuchte besonders der der realistischen Betrachtungsweise der ideengeschichtlich die Ursprünge der totaliPolitik. tären Ideologie, die er bis auf Rousseaus und Robespierres Demokratietheorie zurückver- Tocqueville, Alexis de (1805-1859), französifolgt. Seine Theorie der totalitären Ideologie scher politischer Soziologe. Einer der wich(The Origins of totalitarian democracy, tigsten Vertreter des demokratischen Libera1952) hat er in eine umfangreiche und mehrlismus im 19. Jahrhundert, u.a. mit John bändige Arbeit zum politischen MessianisStuart Mill befreundet, Mitglied des Parlamus eingebettet (Political messianism. The ments, kurzzeitig Außenminister. In De la romantic phase, 1960; Romanticism and Democratic en Amerique (2 Bände 1835/ revolt, 1967). 1840) schildert er das politische System der USA und will damit zugleich ein Bild der Taylor, Charles (geb. 1931), kanadischer PhiloDemokratie als Regierungsweise aller mosoph und Politikwissenschaftler. Lehrte zudernen Gesellschaften zeichnen. Hierzu ernächst Philosophie in Oxford, dann in Montweitert er die konventionelle Regierungsreal. Vertreter einer kommunitaristischen und lehre um die politische Kulturforschung und identitätsbildenden Auslegung des Liberalisbezieht auch Bereiche gesellschaftlicher mus. Sources of the self(1989). Kooperation und Assoziationsbildung in Taylor, Frederick W. (1856-1915), amerikaniseine Analyse ein, die heute - seinem Vorscher Ingenieur und Betriebswissenschaftler.
Biographien
bild folgend - zivilgesellschaftlich genannt werden. Touraine, Alain (geb. 1925), französischer Soziologe. Arbeiten zur Arbeitssoziologie und zum Wandel der Industriegesellschaft (La societe post-industrielle, 1969). Townsend, Joseph (1739-1816), englischer Ökonom. Sein Hauptwerk ist die Dissertation upon the Poor Laws (1786). Vertrat einen Sozialdarwinismus avant la lettre in dem Sinne, dass das Ernährungsproblem bei Überbevölkerung von der Natur ausbalanciert und nicht durch Sozialpolitik gleichsam künstlich aufrechterhalten werden sollte. Townsend hatte einen starken Einfluss auf die britische Gesetzgebung und Bevölkerungswissenschaft (Malthus). Treitschke, Heinrich von (1834-1896), deutscher Historiker. Lehrte in Heidelberg und Kiel und wurde Rankes Nachfolger an der Berliner Universität, wo er äußerst erfolgreiche und über die Fachwelt hinaus einflussreiche Vorlesungen hielt, zumal mit seiner Politik. Vorlesungen (1897/1898). Reichstagsabgeordneter 1871-1884. Seine zunächst liberale Position wechselte in eine national-konservative, borussische Haltung (Die Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. 1879-1894 beschreibt den Prozess der Nationalstaatswerdung in einer apologetischen Sicht der Rolle Preußens), die im Antisemitismusstreit ihren Höhepunkt erreichte. Walzer, Michael, (geb. 1935), amerikanischer Politikwissenschaftler. Zuletzt in Princeton
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lehrend. Seine Arbeiten befassen sich mit Krieg (Just and unjust wars, 1977), Gerechtigkeit (Spheres of justice, 1983) und Gesellschaftskritik (Interpretation and social criticism, 1987) und beeinflussten jeweils die weitere Forschung erheblich. Vertreter einer kommunitaristischen Variante des Liberalismus. Weber, Max (1864-1920), deutscher Soziologe. Juristisch ausgebildet und zunächst Nationalökonomie lehrend, entwickelte Weber eine begriffsstrenge allgemeine Soziologie, die sich sowohl durch systematische Durchdringung als auch durch historische Detailkenntnis auszeichnet (Wirtschaft und Gesellschaft, 1922). Seit dem Ersten Weltkrieg griff Weber wiederholt in die Tagespolitik ein, Grundbegriffe der Politik und des Parlamentarismus erörternd. Seine Charakterisierungen moderner demokratischer Regierung (Charisma, Führung, Politik als Kampf, Gesinnungs- und Verantwortungsethik, politische Parteien) haben zu einer anhaltenden Diskussion geführt (Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, 1918; Politik als Beruf, 1919). Winstanley, Gerrard (1609-1676), englischer protestantischer Reformer und Pamphletist. Während des englischen Bürgerkriegs Wortführer radikal-egalitärer »True Levellers«, die ein Landverteilungsprogramm verfolgten. Schloss sich später den Quäkern an (The new law of freedom, 1652)
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Quellennachweis Akademie Verlag: Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, in: Hermann Klenner, Hg., Edmund Burke/ Friedrich Gentz, Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, Berlin 1991 Argument Verlag: Antonio Gramsci, Gefangnishefte, hg. v. Klaus Bochmann/Wolfgang Fritz Haug/Peter Jehle, Bd. 8, Hamburg 1998, Heft 19 (1934/1935), §24 Artemis-Verlag: Epiktet, Lehrgespräche, in: ders., Ausgewählte Schriften, griechischdeutsch, München/Zürich 1994, S. 72-369 Artemis-Verlag: Euripides, Die bittflehenden Mütter (Hiketiden), in: ders., Sämtliche Tragödien und Fragmente, griechisch-deutsch, Bd.3,München 1972, S.5-94,Vers 426 -441 Artemis-Verlag: Herodot, Historien, griechischdeutsch, hg. v. Josef Feix, 2 Bände, Zürich 1995, Buch III, Kap. 80 und 83 Artemis-Verlag: Marc Aurel, Wege zu sich selbst, griechisch-deutsch, hg. und übers, v. Rainer Nickel, Düsseldorf/Zürich 1998, III, 11 und IV, 4 Artemis-Verlag: Marcus Tullius Cicero, De legibus - Über die Gesetze, München/ Zürich 1994, Buch I, Kap. 29 und 33 Artemis-Verlag: Plutarch, Lykurgos, in: ders., Große Griechen und Römer, Bd. 1, Zürich und Stuttgart 1954, S. 125-167, Kap. 8 - 1 0 und 24 Artemis-Verlag: Polybios, Geschichte, in: ders. Gesamtausgabe in zwei Bänden, eingel. und übertr. v. Hans Drexler, 2. Aufl., Zürich und München 1978 Artemis-Verlag: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, griechischdeutsch, übers, und mit einer Einführung und Erläuterung versehen v. Georg Peter Landmann, München 1993, Buch II, Kap. 65 und Buch VI, Kapitel 19u.24
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Quellennachweis
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Mazzino Montinari, Bd. 5,2. Aufl., München 1988, S. 245-412, Stück2 und 3 Deutscher Taschenbuch Verlag: Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 5, 2. Aufl., München 1988, S. 9-242, Stück242 Deutscher Taschenbuch Verlag: Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 2, 2. Aufl., München 1988, Stück 451 f. Deutscher Taschenbuch Verlag: Papst Urban II. nach Fulcher von Chartres, zit. nach: Die Kreuzzüge in Augenzeugenberichten, hg. v. Regine Pernoud, Berlin, Darmstadt 1965 Deutscher Taschenbuch Verlag: Thomas Malthus, Das Bevölkerungsgesetz, hg. und übers, v. Christian M. Barth, München 1977 Deutscher Taschenbuch Verlag: Titus Livius, Römische Geschichte, München 1991, Buch 2, Kap. 1 Dietz Verlag: Friedrich Engels, Einleitung zu Sigismund Borkheim, Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807 (1888), in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1969, S. 346-351 Dietz Verlag: Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1894), 3. Aufl., in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1975, S. 1 -306 Dietz Verlag: Karl Marx/Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie (1845), in: dieselben, Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S. 9-438 Dietz Verlag: Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in: dieselben, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 459-493 Dietz Verlag: Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843), §§ 261-313, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1959, S. 201-336 Dietz Verlag: Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1,
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(1867), in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1962 Dietz Verlag: Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, (hg. v. Friedrich Engels 1894), in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 25, Berlin 1964 Dietz Verlag: Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, (1871) in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, Berlin 1968, S. 313365 Dietz Verlag: Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857), in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 42, Berlin 1983 Dietz Verlag: Karl Marx, ZurKritik der Politischen Ökonomie (1859), in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1972, S. 3-160 Dietz Verlag: Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, (1875) in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, Berlin 1962, S. 11 - 32 Dietz Verlag: Karl Marx, Neue Rheinische Revue, Mai bis Oktober 1850, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, Berlin 1960, S. 421 -463 Dietz Verlag: Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Ergänzungsbd., Teil 1, Berlin 1968, S. 465-588 Dietz Verlag: Karl Marx, Zur Judenfrage (1843), in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1970, S. 347-377 Dietz Verlag: Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859), in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1971, S. 3 - 1 6 0 Dietz Verlag: Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, Berlin 1969, S. 111-208 Dietz Verlag: Rosa Luxemburg, Brief an Mathilde Wurm vom 16.2.1917, in: dies., Herzlichst Ihre Rosa. Ausgewählte Briefe, hg. v. Annelies Laschitzaund Georg Adler, 2. Aufl., Berlin 1990
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Quellennachweis
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Anhang
gen, in: ders., Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Michael Schröter, Frankfurt/M. 1990, S. 223-270 Suhrkamp Verlag: Talcott Parsons/Gerald Μ. Platt, Die amerikanische Universität. Ein Beitrag zur Soziologie der Erkenntnis (1972), Frankfurt/M. 1990 Suhrkamp Verlag: Th. W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie (1942), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt/M. 1990, S. 373-391 Suhrkamp Verlag: Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und eingel. v. Iring Fetscher, übers, v. Walther Euchner 1966, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1989, 17. Kap. Suhrkamp Verlag: Thomas Paine, Die Rechte des Menschen (1791/92), in der zeitgenöss. Übertr. v. D. M. Forkel, bearb. u. eingel. v. Theo Stemmler, Frankfurt/M. 1973 Ullstein Verlag: George Orwell, 1984, Berlin u.a. 1984 Vandenhoeck & Ruprecht: Hans Welzel, Naturrecht und materielle Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1962 Vandenhoeck & Ruprecht: Otto Hintze, Staatsverfassung und Heeresverfassung, in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1: Staat und Verfassung, hg. v. Gerhard Oestreich, 2. erw. Aufl., Göttingen 1962, S. 52-83 Vandenhoeck & Ruprecht: Otto Hintze, Wesen und Wandlung des modernen Staats (1931), in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1: Staat und Verfassung, hg. v. Gerhard Oestreich, 2. erw. Aufl., Göttingen 1962, S. 470496 Vandenhoeck & Ruprecht: Martin Luther, Ob Kriegsleute auch in seligen Stande sein können (1526), in: ders., Luther deutsch, hg. v. Kurt Aland, Bd. 7, Stuttgart/Göttingen 1967, S. 52-86 Vandenhoeck & Ruprecht: Martin Luther, Von
Quellennachweis
weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523), in: ders., Luther deutsch, hg. v. Kurt Aland, Bd. 7, Stuttgart/Göttingen 1967, S. 9 - 5 1 Vandenhoeck & Ruprecht: Walt Whitman Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, mit einem Geleitwort von Walther G. Hoffmann, übers, v. Elisabeth Müller, Göttingen 1967 Verlag Dr. Max Gehlen: Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin u.a. 1925 Verlag Moderne Industrie: Friedrich Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Eine neue Darstellung der liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie, Bd. I: Regeln und Ordnung, München 1980 Verlag Volk und Welt: Thomas Masaryk, Das neue Europa. Der slavische Standpunkt (1922), Berlin 1991 Vorwärts-Verlag: Karl Kautsky, Die soziale Revolution, 2. Aufl., Berlin 1907 Walter de Gruyter: Gerhard Leibholz, Verfassungsrecht und politische Wirklichkeit (1965), in: ders., Die Repräsentation in der Demokratie, Berlin und New York 1973, S. 249-271 Walter de Gruyter: Johann G. Fichte, Reden an die deutsche Nation (1806), in: ders., Fichtes Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. 7: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte, Berlin 1971, S. 259-499 Walter de Gruyter: Johann G. Fichte, Die Staatslehre, oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche, in: ders., Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1991, Bd. IV: Zur Rechts- und Sittenlehre, S. 369 - 600 Westdeutscher Verlag: Chief Justice John Marshall, Marbury versus Madison (5 U.S. [1 Cranch] 137 [ 1803]), dt. Text in: Ernst Fraen-
477
kel, Das amerikanische Regierungssystem. Quellenbuch, Köln und Opladen 1960, S. 38 - 4 3 Westdeutscher Verlag: Ernst Fraenkel, Hg., Das amerikanische Regierungssystem. Quellenbuch, Köln und Opladen 1960, S. 28 - 31 Westdeutscher Verlag: Jacob L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie (1952), Köln/Opladen 1961 Westdeutscher Verlag: Niklas Luhmann, Zum Begriff der sozialen Klasse, in: ders., Hg., Soziale Differenzierung. Geschichte einer Idee, Opladen 1985, S. 119 -162 Westdeutscher Verlag: Shmuel N. Eisenstadt, Revolution und die Transformation von Gesellschaft. Eine vergleichende Untersuchung verschiedener Kulturen (1978), Opladen 1982 Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt: Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die Federalist Papers, übers., eingel. u. mit Anm. versehen v. Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993, Federalist No. 2 Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt: Edmund Burke, Speech to the Electors of Bristol vom 3.11.1774, Works Bd. II, dt. Auszug bei: Wilhelm Hofmann/Gisela Riescher, Einführung in die Parlamentarismustheorie, Darmstadt 1999 Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt: Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 7. Satz, in: ders., Werke in zehn Bänden, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1970, Bd. 9
Wir danken der VG Wort für die Unterstützung beim Erwerb der Abdruckrechte. Rechteinhaber, die nicht ermittelt werden konnten, wenden sich bitte an den Akademie Verlag.
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Anhang
Personenregister Adorno, Theodor, W. 189,445,451,453 Almond, Gabriel, A. 161 f., 445 Arendt, Hannah 16,38 f., 91,131,152 f., 201, 222 f., 242,247 f., 262 f., 280-282,288, 314 f., 375 f., 380, 387,409,416 f., 436 -439,445,454 Aristoteles 13,20,43,107,168 f., 203,227, 231 f., 256,290 f., 345-348,351 f., 360, 377,383-385, 398,437,445 Augustinus, Aurelius 16,21 f., 43,47,348, 379 f., 387,445,455 Aurel, Marc 22,430,445 Babbage, Charles 69,445 Babeuf, Francois, Noel 394,403,445 Bagehot, Walter 323,332-334,446 Bauer, Otto 170,187,446 Beccaria, Cesare 57 f., 446 Bell, Daniel 190 f., 446 Benda, Julien 219 f., 446 Bentham, Jeremy 53,66 f., 419,446,458 Berdjajew, Nikolai 128,147 f., 446 Berlin, Isaiah 407,409,414 f., 419,423,446, 453 Bodin, Jean 54 f., 199,206,250,342,446 Brandeis, Louis Dembitz 287 f., 305,447 Bryce, James 304 f., 447 Brzezinski; Zbigniew 263 f. Burke, Edmund 240,250 f., 271 f., 321 f., 327, 395,427 f., 433 -435,438,446 f., 451,460 Cicero, Marcus Tullius 21,203 f , 378 f., 385 f., 429 f., 445,447,451 Clausewitz, Carl von 99-101,106,120 f., 123,447 Comte, Auguste 126,136 f., 447 f., 456 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat Marquis de 356,394,400 f., 448, Constant, Benjamin 276 f., 394 f., 403 f., 417, 448
Dahrendorf, Ralf 90 f., 448 Dante, Alighieri 101,113,321,448, Deutsch, Karl W. 89-91,171,190,448 Dewey, John 307 f., 345,358 f., 448 Dürkheim, Emile 72 f., 84 f., 278 f , 428, 435 f., 448 Eisenstadt, Shmuel Ν. 162 -164,449 Elias, Norbert 75 f., 93,131,151,449 Engels, Friedrich 31 f., 70, 83,95,101,103, 121-123,140 f., 180 f., 255,298 f., 396, 405 f., 435,449,457 Epiktet 378,386,449 Eucken, Walter 86 f., 449 Euripides 375,380,449 Fanon, Frantz 131,155 f., 449 Ferguson, Adam 107,116,168,171 f., 449, 451 Ferrero, Guglielmo 261 f., 449 Fichte, Johann Gottlieb 97,100,119 f., 170, 176,449 f. Foucault, Michel 41 f., 48,76,93,132,158, 243,264 f., 408,450,459 Fraenkel, Ernst 278,305,366 f., 430 f., 450, 459 Franklin, Benjamin 53,62 f., 149,450,459 Freud, Sigmund 36 f., 47,408,411 f., 457, 449 f. Friedrich II. von Preußen 62,450 Friedrich, Carl J. 190,242,263 f., 450 Fromm, Erich 408,416,450 Garve, Christian 329,451 Geiger, Theodor 146,451 Gellner, Ernest 194 f., 345,451 Gentz, Friedrich von 251 f., 435,451 Gramsci, Antonio 128,132,200,221 f., 451 Habermas, Jürgen 44,162,171,192 f , 247, 287,289,317 f., 427,440 f., 451,454
Personenregister
Hamilton, Alexander 247,272 f., 333,391, 427,431 f., 451 f. Harrington, James 389 f., 398 f., 452 Hayek, Friedrich August von 16, 88,313 f., 423,452 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 30 f., 81 f., 91,99 f., 118 f., 177,199,207 f., 240, 252-254,298,349,369 f., 375,380,423, 452,457,463 Heller, Hermann 189,308 f., 452 Hennis, Wilhelm 89,452 Herodot von Halikarnassos 105,108 f., 376, 382,452, Hintze,Otto 241,256f.,310f.,452 Hobbes, Thomas 25-27,47,90,103 f., 114, 201,228,233,238,242,244,267 f., 291 f., 342 f., 346,388-390,397 f., 419,452 f., 456 Horkheimer, Max 151 f., 445,451,459 Humboldt, Wilhelm von 296 f., 453 Hume, David 29,77,92,201,292,453 Ignatieff, Michael 429,441 f. Jaucourt, Louis Chevalier de 294,453 Jay, John 175 f., 247,273,391,432,452 f. Jefferson, Thomas 328,391 f., 400,427,453 f. Jellinek, Georg 247,279,454 Johnson, Chalmers 159 f., 454 Kant, Immanuel 29 f., 64 f., 84,95,100-102, 117 f., 126,135 f., 199,219,245,248,274, 283,286 f., 295 f., 363 f., 432 f., 435,439, 447,449,451,454,462 Kautsky, Karl 127,141 f., 300,454 Kelsen, Hans 306 f., 454,458 Keynes, John M. 54, 85 f., 454 Lassalle, Ferdinand 241,255 f., 454 f. Le Bon, Gustave 200,210-212,455 Lederer, Emil 143 f., 455 Leibholz, Gerhard 324,338 f., 455 Lenin, d. i. Wladimir Iljitsch Uljanow 97,128, 142 f., 167,186 f., 212f., 289,300-302, 449,455
479
Lippmann, Walter 287,316 f., 455 List, Friedrich 179,455 Livius, Titus 385,398,455, Locke, John 27 f., 52 f., 60,168,227 f., 234, 244 f., 269,283,389 f., 394,399,417,423, 455,458 Ludendorff, Erich 106,108,123,456 Luhmann,Niklas 91,171,192-194,279,341, 427,439 f., 456 Luther, Martin 23-25,47,455 Luxemburg, Rosa 128,170,186 f., 215,289, 300,454,456 Machiavelli, Niccolö 22 f., 43,103 f., 106 f., 113 f., 198 f., 204 f., 246,266,288,320 f., 325,345 f., 348,352 f., 361,446,452,456 Madison, James 176,247,273,278,321, 327 f., 391 f., 400,432,452 f. Maistre, Joseph Marie Comte de 220,240, 254 f., 456 Malthus, Thomas 54,80 f., 457,465 Mao, Tse-tung 97,107,124,457 Marcuse, Herbert 59, 131,156 f., 408,412, 457 Marshall, John 246,277 f., 457 Marx, Karl Heinrich 15,31 f., 52,70, 82 f., 93, 95,103,127-129,140-143,145,154,169, 179 -181,194,227 - 229,289,298 f., 395 f., 403,405 f., 409,428,435,449,457 Masaryk, Thomas 170,188 f., 457 Meinecke, Friedrich 170,185 f , 457 Michels,Robert 200,218f.,323,336f.,457f. Mill, John Stuart 32-34,67-69,170,181 f., 209 f., 214, 322 f., 330-332,406,458 Miliar, John 107,114 f., 458 Milton, John 389,397,458 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat 55, 219 f., 269 f., 287 f., 293 f., 322,325 f., 393, 458 Morgenthau, Hans J. 39^11,364,458 Morus, Thomas 227,232 f., 350, 369,458 Mosca, Gaetano 34 f., 200,214 f., 458 f. Nagel, Thomas 421 f., 459
480
Neumann, Franz L. 58 f., 312 f., 458 f. Nietzsche, Friedrich 70-72,93,154,299, 408-411,423,459 Nozick, Robert 230,409,418,459 Olson, Mancur 195 f., 201,459 Orwell, George 350,370 f., 459 Paine, Thomas 271 f., 394,401 -403,459 Pareto, Vilfredo, 200,213,460 Parsons, Talcott, 90 f , 132,160 f., 455,459 Paulus 113,379,387,460 Piaton 18-20,198,202 f., 226 f., 230 f., 238, 249,255,345,350,353,374,377,382 f., 460 Polybios 349,367 f., 460 Protagoras 344,377,382,460 Rawls, John 230,248,283,365 f., 409,417 f., 420,422 f., 459,461 Renan, Ernest 170,173,182 f., 219,460 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, 348 f., 361363,461 Robespierre, Maximilien 97,100,134 f., 235 f., 355 f., 394,461,464 Rostow, Walt Whitman 158,461 Rousseau, Jean-Jacques 52 f., 56 f., 61 f., 65, 90,97,101,125 f., 132 f., 220,245,270 f., 278,283,287 f., 294 f., 310,321 f., 326, 346,353-355,388,393 f., 396,399,409, 417,450,458,461,464 Sallust, Gaius 103,111,462 Schiller, Friedrich 357 f., 462 Schmitt, Carl 37 f., 242,259 -261,306,324, 337 f., 413,452,462 Schumpeter, Joseph 95,102,123,229,238, 311 f., 462
Anhang
Seeley, John Robert 129,139 f., 462 Sieyes, Emmanuel Joseph 168,174 f., 246 f., 273 f., 394,400,462 f. Simmel, Georg 229,237 f., 436,462 Smend, Rudolf 247,280,310,452,462 f. Smith, Adam 15,54,77-79, 81,92,107, 116 f., 168,172 f., 206 f., 229,235,348, 363,458,463 Sombart, Werner 129 f., 144,146,463 Sorokin, Pitirim 146 f., 463 Spencer, Herbert 54,83 f., 278,463 Stein, Lorenz von 127,129,137f.,463f. Sternberger, Dolf 43 f., 464 Strauss, Leo 91,347,364 f., 464 Taylor, Charles 409,418 f., 464 Taylor, Frederick W. 53,73 f., 409,464 Thoreau, Henry David 129f., 149-151,464 Thukydides 13,16,18,102 f., 110f., 198,202, 376,381 f., 464 Townsend, Joseph 79 f., 465 Treitschke, Heinrich von 91,220,241,256, 462,465 Walzer, Michael 106,132,164-166,201, 223 f., 409,420 f., 465 Weber, Max 35 f., 52,74 f., 93,98,130,148 f., 170,183-185,199,215-218,241,257259,302-304,323,334-336,342,346, 359 f., 408 f., 413 f., 428,452 f., 454,465 Winstanley, Gerrard 234,389 f., 465
Im Personenregister sind jene Autorinnen und Autoren erfasst, von denen in diesem Buch Quellentexte publiziert werden.