Rationalismus und Mythos: Geschichtsauffassung und politische Theorie bei Georges Sorel [Reprint 2020 ed.] 9783486852424, 9783486428919


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German Pages 157 [161] Year 1969

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Rationalismus und Mythos: Geschichtsauffassung und politische Theorie bei Georges Sorel [Reprint 2020 ed.]
 9783486852424, 9783486428919

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Rationalismus und Mythos

Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts Abhandlung der Forschungsabteilung des Historischen Seminars der Universität Köln Band 2

»Neunzehntes Jahrhundert« Forschungsunternehmen der Fritz Thyssen Stiftung

Rationalismus und Mythos Geschichtsauffassung und politische Theorie bei Georges Sorel

Helmut Bertling

R . O L D E N B O U R G • M Ü N C H E N - W I E N 1969

© 1969, R. Oldenbourg, München Gesamtherstellung : R. Oldenbourg, Graphische Betriebe GmbH, München

Inhalt

Vorwort Einleitung 1. Die Vieldeutigkeit der Sorel-Interpretation 2. Zur Methode I. Rationalismus

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und Krise

3. »Le procès de Socrate« 4. Die Kritik am Rationalismus a) Fortschrittsphilosophie b) Evolutionstheorien c) Positivismus 5. Die Gegenwart als Krise II. Die moralisch-ästhetische

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Begründung der Geschichte

6. Die positivistisch-dezisionistisdien Voraussetzungen 7. Der Entwurf einer freien Produzentengesellsdiaft 8. Die lebensphilosophische Umdeutung des historischen Materialismus 9. Die Gesdiidite als Kunstwerk 10. Heroisdier Pessimismus und Dekadenz III. Mythos und Gewalt als Therapie

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der Krise

11. Der revolutionäre Syndikalismus 12. Die Lehre vom Mythos a) Der Mythos des Generalstreiks b) Die Mythen in der Geschichte c) Utopie und Mythos 13. Die Moralität der Gewalt 14. Mythos und Faschismus

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Literaturverzeichnis

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Personenregister

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Vorwort

Bei der vorliegenden Arbeit habe id» von verschiedenen Seiten Hilfe und Unterstützung erfahren. Mein Dank gilt an erster Stelle meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Theodor Schieder. Er hat die Untersudiung angeregt, ihre Entstehung mit freundlichem Interesse verfolgt und ihre Veröffentlichung in der von ihm herausgegebenen Reihe ermöglicht. Besonderen Dank schulde idi auch meinen philosophischen Lehrern, Herrn Professor Dr. Ludwig Landgrebe und Herrn Prof. Dr. Günter Rohrmoser. Ihren Anregungen bin ich in vieler Hinsicht verpflichtet. Zu danken habe ich ferner der Friedrich-Ebert-Stiftung für ein mehrjähriges Stipendium und der Fritz Thyssen Stiftung f ü r die Förderung beim Druck dieser Arbeit. Bereitwillige Hilfe haben mir die Bibliothèque Nationale in Paris und die Universitätsbibliothek in Köln gewährt. Audi ihnen möchte ich freundlich danken. Köln, im November 1968

Helmut Berding

Einleitung

1. Die Vieldeutigkeit der Sorel-Interpretation In der außerordentlich umfangreichen Literatur über das Werk und die Persönlichkeit Georges Sorels werden immer wieder die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten hervorgehoben, die sidi jeder Beschäftigung mit ihm entgegenstellen. Hierfür lassen sich drei Gründe anführen: 1. Die ganz und gar unsystematische Denkweise Sorels scheint eine systematische Analyse und Darstellung der Grundzüge seiner Ideen auszuschließen. Aufgrund der von ihm selbst als Zeugnis für die Ursprünglichkeit seines Denkens gerechtfertigten Abscheu gegen eine logische Exposition seiner Gedanken 1 und der von ihm zugestandenen Mängel in der Anordnung seiner Schriften2 geht Sorel der Ruf voraus, ein verworrener Denker zu sein. Lenin hat ihn zum Beispiel einen »Konfusionsrat« genannt.8 Der Eindruck von Verworrenheit wird dadurch mit hervorgerufen, daß Sorel zumeist nidit unmittelbar von einem bestimmten der politischen oder sozialen Wirklichkeit entnommenen Problem ausgeht; »all of his works have the diaracteristic of being a reply or a rejoinder to the writings of others.« 4 Die Schriften anderer bilden die Diskussionsgrundlage seiner eigenen Darstellungen, so daß sein ganzes Werk wie eine einzige Rezension erscheint.5 Auf diese Weise von der 1

»Je n'ignore pas que plus d'un lecteur trouvera mes thèses obscures, tirées par les cheveux, ou même arbitraires; mais j e prie mes critiques de se rappeler, avant de me condamner, que les grands philosophes ont une imagination fort analogue à celle du l y r i q u e . . . Les grands inventeurs d'idées seraient bien embarrassés si on les sommait de décrire avec exactitude la genèse de leurs systèmes. Les commentateurs devront s'estimer heureux s'ils parviennent à deviner sur quelles régions de la pensée contemporaine pouvaient se trouver les repères qui ont servi aux hardis explorateurs de la métaphysique.« - Georges Sorel, De l'utilité du Pragmatisme, Paris 1921, zitiert nach der 2. Aufl. 1928, S. S2f (Weiter zitiert als Utilité...) 2 »maintes fois on m'a reproché de ne pas respecter les règles de l'art, auxquelles se soumettent tous nos contemporains, et de gêner ainsi mes lecteurs par le désordre de mes expositions. J'ai bien cherché à rendre le texte plus clair par de nombreuses corrections de détail, mais j e n'ai pu faire disparaître le désordre.« Georges Sorel, Réflexions sur la violence, Paris 1908, zitiert nach der 11. Aufl. 1950, S. 68 (Weiter zitiert als Réflexions . . . ) * »Sie irren, Herr Poincaré: Ihre Werke liefern den Beweis, daß es Leute gibt, die nur Unsinn denken können. Zu diesen Leuten gehört auch der bekannte Konfusionsrat Georges Sorel.« - W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Sämtliche Werke, Bd. XIII, W i e n - B e r l i n 1927, S.296 * Irving Louis Horowitz, Radicalism and the Revoit against Reason. The Social Theories of Georges Sorel, London 1961, S. 3 5 vgl. dazu: Irwin Pomerance, The Moral Utopianism of Georges Sorel, Columbia University Dissertation (Unveröffentlicht), New York 1950, S. 11 7

systematischen Entwicklung seiner Gedanken befreit, nimmt Sorel in seinem »œuvre colossale«8 zu Problemen der Metaphysik, Ethik, Ästhetik, Psychologie, Religion, Geschichte, Politik, Ökonomie, Pädagogik, Literatur und Naturwissenschaften Stellung. Zwischen diesen Beiträgen zu Fragen aus allen Bereidien des intellektuellen Lebens läßt sich kein systematischer Zusammenhang erkennnen. Es scheint unmöglich zu sein, »bis zum Gesetz einer geistigen Struktur vorzustoßen.«7 Die Erwartung, dennoch eine innere Einheit in Erscheinimg treten zu sehen, »wird bei Sorel auf eine harte Probe gestellt. Mehr noch, sie wird enttäuscht.« 8 2. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin begründet, daß bei Sorel der Interpretationsansatz von einer Standortbestimmung aus zu versagen scheint." Denn in seinem Werke schlagen sich Einflüsse geistiger und politischer Positionen nieder, die einander ausschließen. Jeder Versuch, Sorel in herkömmlicher Weise einer dieser Richtungen als der bestimmenden zuzuordnen und von da aus einen Ausgangspunkt für die Untersuchung zu gewinnen, ist zum Scheitern verurteilt. »He resists . . . the usual attributions of influences. A game can be played by assembling references in his work to the ideas of Renan, Bergson, Proudhon, Hegel, Marx, Nietzsche, Le Play, Poincaré, Newman, William James, and a host of others . . .« 10 Sorel hat 20 Jahre lang an sich gearbeitet, um sich von den Ideen und Vorurteilen zu lösen, die ihm seine Erziehung eingepflanzt hatte.11 Das so entstandene Vakuum konnte keiner der genannten Denker füllen; keiner erschien Sorel geeignet, ihm eine ausreichende Antwort zu geben auf die Fragen, die er sich anläßlich seiner umfangreichen Lektüre oder im direkten Kontakt mit der sozialen Wirklichkeit ständig stellte. »Mais des penseurs avaient existé, des penseurs existaient encore qui pouvaient être ses guides dans ses recherches passionnées, et l'aider à prendre une conscience plus claire de ses propres problèmes et à en poursuivre la solution d'une manière plus méthodique et plus fructueuse.« 12 Da Sorel in der Auseinandersetzung mit ihnen einige ihrer Elemente übernahm, andere verwarf, da er so entgegengesetzten Geistesrichtungen wie historischem Materialismus, Positivismus, Lebensphilosophie und Pragmatismus verpflichtet war und jede von ihnen mit den Argumenten einer anderen kritisierte, läßt sich hieraus schwerlich ein Leitfaden für die Interpretation gewinnen. • F. D. Cheydleur, Essai sur l'évolution des doctrines de M. Georges Sorel (Thèse Lettres), Grenoble 1914, S. S 7 Hans Barth, Masse und Mythos, Die Theorie der Gewalt: Georges Sorel, Hamburg 1959, S. 13 8 ebda., S. 13 • »The more général catégories of liberal, conservative, and radical are equally unsatisfactory when applied to him.« — Richard Humphrey, Georges Sorel. Prophet without Honor. A Study in Anti-Intellectualism, Cambridge (Massachusetts) 1951, S. 38 10 ebda., S. 38 11 »Pendant vingt ans j'ai travaillé à me délivrer de ce que j'avais retenu de mon éducation; j'ai promené ma curiosité à travers les livres, moins pour apprendre que pour nettoyer ma mémoire des idées qu'on lui avait imposée.« - Réflexions . . . , S. 8 18 Fernand Rossignol, La pensée de G. Sorel, Paris 1948, S. 27

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3. Dasselbe gilt für die Stellungnahmen Sorels zum politischen Geschehen seiner Gegenwart. Sie lassen sein Werk als eine Kette »brutaler Widersprüche« 13 ersdieinen. Sorel beginnt mit Arbeiten, die Michael Freund »schlicht konservativ« nennt. 14 Wenige Jahre später vertritt er nach einem intensiven Studium der Lehre von Marx und Engels einen orthodoxen Marxismus. Im Revisionismusstreit schließt er sich der Argumentation Bernsteins an. Steht Sorel zu Beginn der Dreyfusaffäre auf der Seite der Dreyfusards und des parlamentarischen Sozialismus um Jean Jaurès, so wird er nach dem, wie er meinte, verhängnisvollen Ausgang der Dreyfuskämpfe zum heftigsten und unversöhnlichen Gegner gerade dieses Parteisozialismus und zu einem der aggressivsten Feinde der parlamentarischen Demokratie der III. Republik und bald der gesamten bürgerlichen Kultur, die er »haßt und verachtet«. 16 Sorel hat die Argumente fast aller ihrer Gegner aufgenommen und das herrschende liberal-demokratische System seiner Zeit mit den verschiedenen Konservativismen im Namen der Vergangenheit, mit den verschiedenen Sozialismen im Namen der Zukunft und mit den systemimmanenten Kritikern im Namen der Revision bekämpft. Sein Antidemokratismus wird zum Angelpunkt seines gesamten Werkes. 16 In den der Abkehr vom demokratischen Sozialismus folgenden Jahren des Zusammengehens mit dem revolutionären Syndikalismus entwickelt Sorel seine Lehre von der action directe, der violence und dem mythe social. Durch sie ist er in die Geschichte der politischen Ideen eingegangen; sie wird allgemein als seine eigentliche Leistung eingesehen. Kaum aber haben ihn seine aufsehenerregenden Réflexions sur la violence weiten Kreisen als den Theoretiker des revolutionären Syndikalismus bekanntgemacht, wendet er sich auch von ihm ab und eine Zeitlang den rechtsextremistischen Kreisen der Action Française zu. Nach dem Weltkrieg heißt Sorel schließlich zur gleichen Zeit das politische Handeln sowohl Lenins als Mussolinis gut. »Auf dieser Irrfahrt zu den Quellströmen neuer sozialer Energien geriet Sorel von einem Lager in das andere. Er war nacheinander Konservativer, Sozialist, Revisionist, Syndikalist, Nationalist, Inspirator des Faschismus und Apologet Lenins.« 17 Die enzyklopädische Weite und der eklektische Charakter des Sorelschen Denkens sowie die verwirrende Vielfalt seiner politischen Überzeugungen ver19

»Si de la forme nous passons au fond, nous sommes au premier abord déconcertés par les contradictions brutales de ses attitudes successives.« - Gaétan Pirou, Georges Sorel (1847-1922), Paris 1927, S. 6 14 Michael Freund, Georges Sorel. Der revolutionäre Konservativismus. Frankfurt am Main 1932, S. 7 15 »In seinen gedanklichen Überzeugungen ist Sorel ein rein bürgerlicher Denker, ein typisch kleinbürgerlicher Intellektueller... Das ist das typische Bild des kleinbürgerlichen Rebellentums: Sorel haßt und verachtet die Kultur der Bourgeoisie, kann sich jedoch an keinem einzigen konkreten Punkt von ihrem, sein ganzes Denken bestimmenden Einfluß gedanklich loslösen. Wenn also sein Haß und seine Verachtung nach Ausdruck ringen, so kann das Resultat nur ein irrationalistisdier Sprung ins total Unbekannte, ins reine Nichts sein.« Georg Lukâcs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, S. 27 " »Sorel, sur bien des points, modifiera ses jugements. Son anti-démocratisme demeurera toujours aussi ferme, aussi résolu; il est le pivot immuable autour duquel sa doctrine désormais tournera.« - Gaétan Pirou, a.a.O., S. 36 17 Erwin Faul, Der moderne Machiavellismus, Köln/Berlin 1961, S. 228 9

leihen dem Urteil, daß Sorel »ein undurchdringlicher, beängstigend vieldeutiger, in allen Farben schillernder, auf nichts festlegbarer, also zutiefst rätselhaft unheimlidier Denker« sei, in der Tat einen »bemerkenswert gefestigten Anspruch auf Richtigkeit.«18 » . . . the errors and inconsistencies and obscurities of his writings... must be evident to even the superficial reader.« 18 Die widersprüchliche Vieldeutigkeit schlägt sich in der an Kontroversen überreichen Sorel-Literatur nieder und bestätigt sich in ihr. Mit gleichem Nachdruck wie sie wird immer wieder die große Bedeutung betont, die dem Werk Sorels zukomme.24 Die Frage, worin sie aber bestehe, scheint keine eindeutige Antwort zuzulassen, denn »la philosophie politique et sociale de Sorel forme un ensemble extrêmement complexe, touffu et mouvant, dans lequel chacun peut, en n'en retenant que l'un des aspects, trouver des arguments favorables à sa propre thèse.« 41 Nur so ist es verständlich, daß sich die verschiedensten politischen Lager auf Sorel berufen konnten. Sie stellten ihn, ohne seine Grundintention zu berücksichtigen, in den Dienst ihrer Ziele, so wie sich Sorel seinerseits Momente konträrer ideologischer Positionen nutzbar gemacht hatte, wenn sie ihm für seine Absichten günstig erschienen. Die Verwendung von Elementen der Sorelsdien Lehre durch ideologische Bewegungen, deren Zielsetzungen einander entgegengesetzt und nicht mit denen Sorels identisch sind, hat zu einer Fülle verschiedener und häufig sich widersprechender Deutungen geführt. Nach ihrem Vorgehen oder dem sie leitenden Interesse lassen sich die Interpretationen im wesentlichen wie folgt unterscheiden: 1. Eine Reihe von Arbeiten geht von einer der vielen von Sorel eingenommenen politischen Positionen aus, um diese in oft wenig verhüllter apologetischer oder polemischer Absicht zugunsten des eigenen politischen Standortes als die bestimmende auszugeben oder gar sein Denken auf sie zu reduzieren. Solche vereinfachenden Deutungen haben sich besonders vom Eintreten Sorels für den revolutionären Syndikalismus 22 und von der Aufnahme seiner Ideen 18

Hans Barth, a.a.O., S. 10 * Richard Humphrey, a.a.O., Preface 20 vgl. u.a.: »Die Schriften des französischen Ingenieurs Georges S o r e l . . . sind unbestreitbar einer der erregendsten und bedeutungsvollsten Beiträge zur politischen Philosophie unserer Z e i t . . . Die politischen und moralischen Probleme, die er sah und aufwarf, haben an quälender Dringlichkeit nichts verloren.« — Hans Barth, a.a.O., S. 8f »Georges Sorel ist der Schlüssel zum ganzen politischen Denken der Gegenwart.« - Wyndham Lewis, The Art of being ruled. Zitiert nach Michael Freund, a.a.O., S. 7 Sorel »ist zweifellos derjenige Franzose, der in den verflossenen achtzig Jahren den tiefsten geistigen Einfluß auf die Welt ausübte.« - Armin Möhler, Die französische Rechte, München 1958, S. 44 21 François M. Tavera, »L'Itinéraire philosophique« de Georges Sorel. In: Synthèses, Revue Mensuelle Internationale, 2. Jhg., Nr. 12, Brüssel 1948, S. 309 22 vgl. u.a.: Hubert Lagardelle, Syndicalisme et socialisme, Paris 1908 - Ders., Le socialisme ouvrier, Paris 1911 - Gaston Serbos, Une philosophie de la production: le néomarxisme syndicaliste, Paris 1913 - Albert Esquerré, Le néosyndicalisme et le mythe de la grève générale, Bordeaux 1913 - Jacques Rennes, Georges Sorel et le syndicalisme révolutionnaire, Paris 1936 Einige Untersuchungen über Sorel als Theoretiker des revolutionären Syndikalismus kommen zu einer ablehnenden Beurteilung. Vom Standpunkt des demokrati1

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durch Intellektuelle aus dem Umkreis der Action Française28 bestimmen lassen. Es liegt auf der Hand, daß sie Sorel kaum gerecht werden und schwerlich in den Kern seiner Problematik vorstoßen können. Nichtsdestoweniger haben sie dazu beigetragen, seine Stellung in den Kämpfen der politischen Parteien oder sozialen Gruppierungen in Frankreich an der Jahrhundertwende zu erhellen. 2. Sehr zahlreich sind die Versuche, Sorel von seiner Wirkung her ideologisch einzuordnen. Immer erneut hat sich die Auseinandersetzung daran entzündet, daß von seinen »Schriften . . . sichtbar und verborgen Kraftlinien aus(strahlen), die sich brechen in der Ideologie und Praxis des Faschismus, des Bolschewismus und des Nationalsozialismus.« 24 Die von Sorel auf die großen revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts ausgehenden Impulse haben zu dem weit verbreiteten Urteil geführt, daß er der »Prototyp für das totalitäre Denken des 20. Jahrhunderts« 25 sei. Dagegen hat selbst ein Verfasser wie Franz Borkenau Einspruch erhoben, der Sorel einen faschistischen Philosophen nennt und darlegt, daß der totalitäre Charakter des Faschismus im Widerspruch zu den eigentlichen Absichten Sorels steht. 26 Die unmittelbare Wirkung Sorels auf die führenden Theoretiker des Faschismus ist eindeutig nachgewiesen. 27 Sorel nimmt in so gut wie jedem

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sehen Sozialismus vgl.: Georges Guy-Grand, La philosophie syndicaliste, Paris 1911 Eine vernichtende Kritik erfährt Sorel von katholischer Seite: Henri du Passage, Le syndicalisme révolutionnaire. M. Georges Sorel et la morale des producteurs. In: Etudes, Tome CXXXIV, Paris 1913, S. 627-645 - Victor Sartre SJ, Georges Sorel, Elites syndicalistes et révolution prolétarienne, Paris 1937 vgl. u.a.: Georges Valois, D'un siècle à l'autre, chronique d'une génération (1885-1920), Paris 1921 - Ders., Sorel et l'architecture sociale. In: Cahiers du Cercle Proudhon, Mai-August 1912, S. 111-116 Hans Barth, a.a.O., S. 11 Sorel »war offenbar einer der ersten, der die gemeinsamen Elemente im Extrem von Links und Rechts erkannte und zudem voranging in dem Bemühen, eine Verschmelzung der beiden zu bewerkstelligen. Sorel bedeutet daher eine Art Prototyp für das totalitäre Denken des 20. Jahrhunderts.« - Jack J. Roth, Sorel und die totalitären Systeme. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, VI (1958), S. 45 Sorels »doctrine not only does imply opposition to the totalitarian idea, it is even its diametrical opposite. For the main idea of the Defense of Violence is this, that a society, in order to have vitality, must be split by the most violent antagonisms.« Franz Borkenau, Sorel, Pareto, Spengler. Three Fascist Philosophers. In: Horizon. A Review of Literature and Art, V(30), London 1942, S. 422 »An Sorel gebildete Geister sind die hauptsächlichsten intellektuellen Führer des Fascismus gewesen, ihnen voran Mussolini. »Weder Nietzsche, noch William James, verdanke ich, was ich bin, sondern Georges Sorel.« Lanzillo, . . . einer der wichtigsten Bannerträger faschistischer Ideen, schrieb die erste Biographie Sorels. Mario Missiroli, der 1915 sein Buch: >11 papa e la guerra« Georges Sorel widmete, ist nach einigem Zögern zum Fascismus gestoßen . . . Sergio Panunzio . . . hat vor allem an die Ideen Sorels angeknüpft. Curzio Sudcert (Malaparte) hat Sorels syndikalistische Idee zu einer Theorie des nationalen Syndikalismus fortgebildet. Corradini preist den >Marsch der Produzenten«... und ließ den Krieger, den Mann des nationalen Kampfes, dem Produzenten, dem Mann des Klassenkampfes, die Hand reichen, wie es Sorel getan hatte. Paolo Orano . . . hatte ein sehr funkelndes Rüstzeug aus Sorels Werk geholt...« Michael Freund, a.a.O., S. 256 »Fast die gesamte alte faszistische Elite hat ihre Haltung und ihren Geist von Sorel. Seine Ideen vom Mythos und von der Gewalt sind . . . wesentliche Be11

Buch über dessen geistige Voraussetzungen einen Platz ein. 28 Seine unleugbare Rolle als Inspirator des Faschismus genügt jedoch nicht, ihn mit diesem selbst zu identifizieren. »Sorel hat nur die Anfänge des Faschismus erlebt. Es ließe sich aus seinem Werk leicht ein Plädoyer für den Faschismus bilden; es ließe sich daraus leicht auch ein Plädoyer gegen den Faschismus bilden. Sorel hat mit sympathisierender Anteilnahme die Entwicklung des Faschismus verfolgt; er hat andererseits auch leidenschaftlich abgelehnt, befehdet, und darüber sogar persönliche Beziehungen abgebrochen.« 29 Zwischen Sorel und dem Nationalsozialismus läßt sich keine direkte Verbindungslinie aufweisen. Wohl war sein N a m e durch die Übersetzung zweier seiner Schriften 30 und durch eine Reihe von Veröffentlichungen über ihn 8 1 in Deutschland bekannt geworden; von den namhaften Nationalsozialisten

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standteile der faszistisdien Staatslehre und Politik.« - Rainer Heyne, Georges Sorel und der autoritäre Staat des 20. Jahrhunderts. In: Archiv des öffentl. Redits, Bd. 29 (1938), S. 147; vgl. ferner besonders: James H. Meisel, The Genesis of Georges Sorel. An Account on his Formative Period followed by a Study on his Influences, Ann Arbor 1951, S. 216ff - Jade J.Roth, The Roots of Italian Fascism: Sorel and Sorelismo. In: The Journal of Modern History, Bd. 39 (1967), S. 30-35 vgl. u.a.: Erwin Beckerath, Wesen und Werden des faschistischen Staates, Berlin 1927 - Hermann Heller, Europa und der Faschismus, Berlin 1929 - H. W. Schneider, Making the Fascist State, Oxford 1928 - Gaudens Megaro, Mussolini in the Making, Boston and New York 1938 - Henri Lemaitre, Les Fascismes dans l'Histoire, Paris 1959 Nolte sieht den unmittelbaren Einfluß von Sorel auf Mussolini für nicht so bedeutend an, wie es allgemein dargestellt wird. »Zu Unrecht hat man Mussolinis Begriff der Gewalt auf Sorel zurückführen wollen. Seine Beziehungen zu Sorel waren bei weitem nicht so eng und herzlich, wie man es später dargestellt hat. Zwar gibt es eine Zeit, wo er ihn rnotre maître< nennt. Aber als Sorel die berühmte Wendung zu Maurras macht, in der Edouard Berth später die Geburtsstunde des Faschismus sehen wollte, bricht Mussolini unter Verwünschungen mit dem »pensionierten Bücherwurm< und kommt bis 1914 nicht auf ihn zurück.« (S. 203) - »Es ist mithin eine durchaus unhaltbare These, den frühen Mussolini einen revolutionären Syndikalisten, einen Anhänger Sorels oder gar Paretos zu nennen.« (S. 216) Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963 Michael Freund a.a.O., S. 262 Neben den Réflexions . . . (Über die Gewalt, Innsbruck 1928) war die Streitschrift Sorels über La décomposition du marxisme (Die Auflösung des Marxismus, Jena 1930) ins Deutsche übersetzt worden. In den Jahren 1897 bis 1904 waren in den Sozialistischen Monatsheften bereits insgesamt zehn Aufsätze Sorels erschienen. Vgl. dazu Paul Delesalle, Bibliographie sorélienne. In: International Review for Social History, Leiden 1939 Außer Beckerath und Heller (a.a.O.) hat vor allem Carl Schmitt (Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München und Leipzig 1923) dazu beigetragen, Sorel in Deutschland bekanntzumachen. Ferner sind zu erwähnen: Ernst H. Posse, Georges Sorel. In: Zeitschrift für Politik, Bd. XVIII (1928/29), S. 742-761; - Ders., Sorels »Fascismus« und sein Sozialismus. In: Archiv für Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. X V (1930), S. 161-193; Thomas Niederreuther, Georges Sorels Betrachtungen über die Wirtschaft (Jur. Diss.) München 1934; - Als einzige umfangreiche Untersuchung lag das schon erwähnte Buch von Michael Freund vor (1932). Es ist bis heute neben dem Werk von Meisel (a.a.O.) »l'ouvrage le plus complet qui existe à nos jours.« (Georges Goriély, Compte rendu de R. Humphrey, G. Sorel, Prophet without Honor. In: Revue de l'Institut de Sociologie Solvay, Brüssel 1953, S. 93) 12

hat sidi jedoch keiner auf ihn berufen. Audi hat der nationale Mythos Sorels nichts mit dem rassistischen Mythos eines Alfred Rosenberg gemeinsam. Dennoch weisen, wie sich in der weiteren Untersuchung ergeben wird, wesentliche Bestandteile der nationalsozialistischen Weltanschauung eine enge Affinität mit den Ideen Sorels auf. 3 2 Die Frage nach dem direkten Einfluß Sorels auf den Bolschewismus läßt sich ungleich schwerer beantworten, da sich die Führer der russischen Revolution weder, wie die italienischen Faschisten, zustimmend auf ihn berufen noch, wie die Nationalsozialisten, ihn ignoriert haben. Sorel hat die russische Revolution als den Anbruch einer neuen Ära 3 * aufgefaßt und sie in Unterhaltungen, 34 Briefen, 38 Artikeln 3 4 sowie Neuauflagen seiner Bücher 37 vorbehaltlos begrüßt; er hat Lenin den größten Theoretiker des Sozialismus seit Marx und einen genialen Staatsmann genannt. 38 »Sorel's partiality to the Bolshevik chief has all the ardor of a typical >last love< - a love that has its pathetic aspect inasmuch as it was unrequited.« 39 Lenin und andere Theoretiker des Kommunismus haben Sorel als kleinbürgerlichen Intellektuellen radikal abgelehnt. 40 Diese Ablehnung schließt zwar nicht grundsätzlich aus, daß sich in der Praxis der russischen Revolution dennoch Elemente der 31

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Wie Heyne (a.a.O., S. 308f) die Nähe Sorels zum Nationalsozialismus darin zu sehen, daß der nationalsozialistische Staat Politik und Religion trenne und daher nicht totalitär, sondern autoritär sei und daß in Obereinstimmung damit der nationale Mythos Sorels Politik und Religion trenne, ist abwegig. Für beide trifft eher das Gegenteil zu. »II faut être aveugle pour ne pas voir que la révolution russe est l'aurore d'une ère nouvelle.« - Georges Sorel, Matériaux d'une théorie du prolétariat, Paris 1919, zitiert nach der 2. Aufl. 1921, S. 53 (Weiter zitiert als Matériaux . . . ) Propos de Georges Sorel. Recueillis par Jean Variot, Paris 1935, S. 66-86 Georges Sorel, Lettres à Paul Delesalle (1914-1921), Paris 1947, passim - Georges Sorel. Lettere a un amico d'Italia, (ohne Ort) 1963, passim vgl. dazu im einzelnen: Paul Delesalle, Bibliographie sorélienne, a.a.O. Réflexions . . . , 4. Aufl. 1919, erweitert um das Plädoyer »Pour Lénine« - Georges Sorel, Les illusions du progrès, Paris 1908 (Weiter nach der 5. Aufl. 1947 zitiert als Illusions...), 3. Aufl. 1922, erweitert um einen Anhang: »La marche au socialisme« »je n'ai aucune raison de supposer que Lénine ait pris des idées dans mes livres; mais si cela était, je ne serais pas médiocrement fier d'avoir contribué à la formation intellectuelle d'un homme qui me semble être, à la fois, le plus grand théoricien que le socialisme ait eu depuis Marx et un chef d'Etat dont le génie rappelle celui de Pierre le grand.« - Réflexions . . . (Pour Lénine), S. 442 James H. Meisel, a.a.O., S. 239 vgl. S. 7, Anm. 3 (Lenin) und S. 9, Anm. 15 (Lukâces). - Im Namensverzeidinis der Werke Lenins, a.a.O., Bd. XIII, steht unter Sorel folgender Hinweis: »Französischer Schriftsteller, einer der Haupttheoretiker des Anarchosyndikalismus, verworrener Eklektiker. In seinem Kopf verbanden sich die Einflüsse von Marx, Proudhon, Bergson, Nietzsche u.a. zu einem geistigen Mischmasch, der die seltsamste Blüte trieb. Später lief Sorel in das Lager der sogenannten >Neo-RoyaIisten< über, jener etwas sozial verbrämten kath.-monarchistischen Reaktion, die in Frankreich in den letzten Jahren vor dem Kriege auf manche haltlos gewordene Intellektuelle eine gewisse Anziehungskraft ausübte.« - Eine nicht ganz so vernichtende, aber im großen und ganzen ähnliche Charakterisierung widerfährt Sorel durch Maletsky, Georges Sorel. In: Internationale Communiste (Organ des Exekutiv-Komitees der kommunistischen Internationale), IV/24, Petrograd 1923, S.86-113 13

Sorelsdien Lehre niedergeschlagen haben.41 Der konkrete Nachweis ließe sich jedodi schwer und nur gegen das Selbstverständnis der russischen Revolutionäre erbringen. In Übereinstimmung mit den revolutionären Bewegungen von links und von redits hat Sorel die bürgerlidie Demokratie42 verneint. Vieles spricht, wie angedeutet, dafür, ihn zu ihren faschistischen Gegnern zu rechnen: die Tatsache, daß sich führende Faschisten auf ihn berufen haben, daß seine Lehre von der Gewalt und vom Mythos zu einem Bestandteil der faschistischen Ideologie und Praxis geworden ist und daß Sorel die Anfänge der faschistischen Bewegung mit Sympathie verfolgte. Wenn Sorel, wie üblich, in zusammenfassenden Darstellungen zur Geschichte der politischen Theorie im Rahmen des Faschismus behandelt wird, dann lassen sich dafür gute Gründe anführen.43 Es wäre aber auch möglich, ihn trotz der ablehnenden Haltung Lenins und Lukàcs' zu den sozialistischen Gegnern der bürgerlichen Demokratie zu zählen. Ihm wird innerhalb der in sich stark divergierenden sozialistischen Bewegung von einigen Autoren sogar eine bedeutende Rolle als sozialistischer Theoretiker zuerkannt.44 Die Frage nach der Stellung Sorels zu diesen ideologischen und politischen Bewegungen, die in absolutem Gegensatz zueinander stehen, läßt sich nur beantworten, wenn die Motive seines Denkens zum Ausgangspunkt der Untersuchung genommen werden. Da sich, wie es scheint, die Wirkung seiner Gedanken vom Wollen ihres Schöpfers entfernt hat, wird ein solches Vorgehen unerläßlich. 3. Beurteilt man Sorel nach seinen Grundintentionen, dann erscheint er als moraliste,45 Ohne Zweifel ist es richtig zu sagen, daß »chez G. Sorel, les 41

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Carl Sdimitt hat zum Beispiel die Auffassung vertreten, daß irrationalistisdie Motive der Gewaltanwendung und ein neuer Glaube an Instinkt und Intuition im Sinne Sorels in der russischen Revolution wirksam geworden sind. Carl Schmitt, a.a.O., S. 78f Sorel schreibt im September 1919 als Schlußsatz seiner Réflexions... (S. 454): »je ne suis qu'un vieillard dont l'existence est à la merci de minimes accidents; mais puissé-je, avant de descendre dans la tombe, voir humilier les orgueilleuses démocraties bourgeoises, aujourd'hui cyniquement triomphantes!« vgl.u.a.: Georges H.Sabine, AHistory of PoliticalTheory, London 1963, S. 893ff »die zwei einzigen originalen Denker, die der Sozialismus gehabt hat, Karl Marx und Georges Sorel...« - Benedetto Croce, Pagine sparse II, S. 227, zitiert nach Michael Freund, a.a.O., S. 7; - Paul Louis, Cent cinquante ans de pensée socialiste (Kautsky, Bernstein, Bebel, Rosa Luxemburg, Bauer, Vandervelde, Labriola, Trotzky, Boukharine, Sorel, Henry George, Bellamy, William Morris), Paris 1953; - »Du »Nouveau Christianisme» ou du »Nouveau Monde industriel et sociétaire», au Capital, et du Capital aux Réflexions sur la Violence; de l'Utopie à la Science, et de la Science à la phase de l'Ethique vivante: telle est en dernière analyse, l'évolution qui a fait passer le socialisme de l'état dogmatique, doctrinaire et fantastique... à l'état de Parti... pour parvenir enfin à l'état de vrai mouvement prolétarien, où la classe ouvrière prend conscience de soi et devient la maîtresse de ses destinées...« Edouard Berth, Du »Capital« aux »Réflexions sur la Violence«, Paris 1932, S. 202f »Sorel, comme d'ailleurs Nietzsche, est essentiellement un moraliste.« - Arnaud Dandieu, Anthologie des philosophes français contemporains, Paris 1931, S. 30; - »Sorel fu un moralista, nel piû alto senso del t e r m i n e . . . le preoccupazioni di ordine morale sono il presupposto di tutta l'opéra sua.« Mario Missiroli, Prefazione (Georges Sorel, Lettere a un amico d'Italia), a.a.O., S. 14f

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aspirations éthiques sont les plus anciennes, les plus profondes, les plus permanentes. Dans sa pensée, le thème éthique domine tous les autres.« 4 ' Sorel selbst hat sidi so verstanden; ihm ist es vor jeder politischen Stellungnahme darauf angekommen, »à ranimer dans quelques âmes le feu sacré des études philosophiques et à convaincre quelques personnes des dangers que court notre civilisation, par suite de l'indifférence en matière de morale et de droit.« 47 Audi seine Option für den Marxismus und den revolutionären Syndikalismus ist aus soldiem philosophischen Interesse und aus moralischen Motiven zu erklären. Sorel hat den Marxismus in eine philosophie de mœurs umwandeln wollen und seine Interpretation des revolutionären Syndikalismus als eine philosophie morale aufgefaßt. 48 Diesem Selbstverständnis folgt vor allem die Arbeit von Pomerance, die sich von der These leiten läßt, daß Sorel durch alle Widersprüche seiner politischen Positionen hindurch einer gleichbleibenden »moralischen« Vision nachgegangen sei, die unartikuliert geblieben sei und jeder begrifflichen Fixierung widerstrebe. 49 Im gleichen Sinne sieht Angel den Antrieb des Sorelschen Denkens in der Suche nach einer »méthode de perfectionnement humain« und in dem Bestreben, »de préciser la condition fondamentale de la liberté humaine«. 50

" Fernand Rossignol, a.a.O., S. 143 - vgl. u.a. ferner: »La préoccupation essentielle de Sorel fut toujours une préoccupation d'ordre morale...« - Max Ascoli, Georges Sorel, Paris 1921, S. 28; - »Plus on essaie de pénétrer la pensée de Sorel, plus on se convainc que le moralisme est sans doute le trait le plus caractéristique de son tempérament et de son œuvre.« - Gaétan Pirou, a.a.O., S. 58 47 Georges Sorel, Le procès de Socrate, Paris 1889, S. 14 (Weiter zitiert als Procès ...) - »Von nun ab wird er (Sorel) in jeder Schrift wiederholen, daß die Gefahr für die westeuropäische Kultur in der fortschreitenden moralischen Krise des Zeitalters liege. Sie wechselt ihr Gewand, um endlich in Sorels Hauptschriften in der Gestalt des Parlamentarismus aufzutreten.« - Ernst H. Posse, Der antidemokratische Denker und der moderne Sozialismus. Einleitung zu: Georges Sorel, Die Auflösung des Marxismus, a.a.O., S. 5 48 »Au mois de mai 1899, j'ai publié, dans la Rivista italiana di sociologia, un article sur le marxisme et la science sociale; je le terminais en exprimant le vœu que le socialisme se transformât en une philosophie de moeurs; ce changement aurait infusé de la grandeur à un mouvement qui en manquait alors à peu près au même degré que la démocratie elle-même. C'est seulement quelques années plus tard que j'ai pu esquisser une solution du problème que j'avais posé: les Réflexions sur la violence sont une philosophie morale fondée sur l'observation des faits qui se produisaient dans le syndicalisme révolutionnaire.« - Illusions..., S. 335; vgl. dazu ferner von Sorel: Morale et socialisme. In: Mouvement socialiste, Paris 1899, S. 207-213; - L'éthique du socialisme. In: Revue de Métaphysique et Morale, Paris 1899, S. 280-301; - Les facteurs moraux d l'évolution. In: Questions de morale, Paris 1900 " »There is inherent in Sorels's career a central vision... he was faithful to his inarticulate vision. His successive protestation may be interpreted not as stages of intellectual maturation or an ascent to a clearer understanding, but rather as a succession of enthusiasms and disillusionments as indicating a recognition of the disproportion that existed between the richness and the vitality of the felt sentiment and the poverty and sterility of the institutionalized translation offered by the various movements to which at one time or another he gave allégeance.« Irwin Pomerance, a.a.O., S. 176f 00 Pierre Angel, Essais sur Georges Sorel (Vers un idéalisme constructif), Paris 1936, S. 155 u. 272 15

Zwischen den Interpretationen, die sich an der Grundintention Sorels orientieren, und denen, die ihn von der Wirkung her beurteilen, besteht ein Widerspruch, der im Werke Sorels selbst begründet liegt. Denn die sein Denken in Bewegung setzenden »moralischen« Motive sind ebenso unbestreitbar wie die Tatsache, daß sie zur Herausbildung der Lehre vom Mythos und von der Gewalt geführt haben. Diese aber ließ Sorel zum Wegbereiter des Faschismus werden, und sie brachte ihm den Ruf eines »Prototyps für das totalitäre Denken« ein. Es besteht somit ein diametraler Gegensatz zwischen der Intention Sorels und der Wirkung seiner Ideen. Eine von ihnen - die Intention oder die Wirkung - zur Grundlage der Untersuchung machen bedeutet, ein Moment in den Vordergrund rücken. Das heißt aber gleichzeitig, den Zusammenhang zwischen beiden verdecken und den Grund für die Diskrepanz unbeachtet lassen. Eine Untersuchung, die die Differenz zwischen erstrebtem und erreichtem Einfluß erklären will, muß beide Momente in ihrem Widerspruch aufnehmen. Sie muß zu erhellen versuchen, was Sorel veranlaßt hat, die Gewalt und den Mythos als geeignete Mittel zur Herbeiführung der »moralischen« Erneuerung zu propagieren. Eine solche Aufgabe impliziert die Klärung dessen, was Sorel eigentlich unter Moral verstanden hat. 4. Humphrey ist in seiner Untersuchung von der Annahme ausgegangen, daß »the part of the work of Georges Sorel that has permanent value is his analysis of social dynamics and his development of a sériés of hypotheses leading to a greater understanding of behavior in modern politics.«51 Diese Voraussetzung machen sich die fachwissenschaftlich ausgerichteten Arbeiten von soziologischer und politologisdier Seite zu eigen. Ihr Interesse an Sorel wird von seinen Einsichten in die soziale Dynamik der modernen Welt geweckt. Für die Aneignung und wissenschaftliche Überprüfung der sozialen und politischen Theorien Sorels durch die moderne Forschung treten die erwähnten Interpretationsprobleme in den Hintergrund. Die geistesgeschichtliche Frage nach den Einflüssen und historischen Auswirkungen der Sorelschen Lehre sowie das Problem der Diskrepanz von Intention und Wirkung werden weitgehend ausgeklammert. Dennoch ist auch die soziologische und politologische Literatur über Sorel reich an Kontroversen. Diese tauchen hier in Form von Methodenproblemen auf. In der Soziologie entzündet sidi der Streit über Sorel an der methodischen Haltbarkeit des von ihm entwickelten Begriffs von der sozialen Wirklichkeit. Sorel hat in heftiger Polemik gegen die positivistischen Sozialwissenschaften seiner Zeit,52 die das soziale Geschehen auf soziale Tatsachen zu reduzieren versuchten, den Mythos als methodisches Prinzip eingeführt.58 Dieser Ansatz 51 6î

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Richard Humphrey, a.a.O., Préfacé »Si aujourd'hui quelqu'un se hasarde encore à vanter les services que pourrait rendre aux générations nouvelles une sociologie dont les docteurs prétendent chercher à savoir comment sont organisées les lignes générales du passé, en vue de prévoir les formes futures de l'ordre civil qui conviennent aux aspirations actuelles, les gens vraiment cultivés ont pour un tel scientiste attardé, juste autant de considération que pour un éditeur d'almanachs.« - U t i l i t é . . . , S. 2 »La deuxième (règle fondamentale de Sorel pour une étude scientifique des phénomènes sociaux) introduit en sociologie la méthode des mythes à partir des critiques de Bergson. L a connaissance par concepts convient à l'étude des choses 16

war unvereinbar sowohl mit dem positivistischen wie auch mit dem marxistisch-dialektischen Wissenschaftsbegriff. Deshalb hat Sorel in der Soziologie eine nur untergeordnete Rolle gespielt. Er hat allerdings durch seine zwar theoretisch nicht genügend durchreflektierten, aber originellen und zumeist aperçuhaften Ideen vielfach anregend auf die Soziologie eingewirkt. Die Rückbesinnung auf Sorel könnte nach P. Kahn der Soziologie des Streiks, des Krieges und der Bürokratie neue Wege öffnen.64 Eine noch grundsätzlichere Bedeutung wird Sorel von Horowitz zugeschrieben. Sorel gehöre zu den Vorläufern der Wissenssoziologie. Wie Freud als »rationaler Psychologe des Unbewußten« die Psychologie, so habe Sorel als »rationaler Soziologe des Unbewußten« die Soziologie maßgeblich beeinflußt.56 Vergleichbar ist die Situation in den politischen Wissenschaften. Sie bringen Sorel wegen seines Versuches, die Wirksamkeit der irrationalen Mächte für das politische Geschehen zu erforschen, in Verbindung mit dem modernen Machiavellismus. In derselben Weise wie diese »hintergründig-machtvolle Strömung im abendländischen politischen Denken« 66 ist auch die politische Theorie Sorels sehr unterschiedlichen Deutungen ausgesetzt. Der »Machiavellist« Sorel erscheint in der Literatur der politischen Wissenschaften mit dem Januskopf als »Verteidiger der Freiheit« und als Apologet der Gewalt.67 5. Jeder Versuch, aus dem vielschichtigen Werk Sorels ein Moment herauszulösen und in den Mittelpunkt der Interpretation zu stellen, scheint unvermeidbar eine Verfälschung seines Denkens zur Folge zu haben. Ihr ist nur zu entgehen, wenn man Sorel in seiner Vieldeutigkeit beläßt, den komplexen Gehalt seines Werkes aufnimmt und die Widersprüche durchsichtig macht. Das ist in einer Reihe von Gesamtdarstellungen unternommen worden. Sie haben vor allem den biographischen und konkret-historischen Hintergrund beleuchtet. Unter den Gesamtdarstellungen, die dem Gang Sorels durch das politische Panorama Frankreichs gefolgt sind und die einzelnen Phasen seiimmuables des êtres géométriques, de ce qui se conserve et peut toujours se retrouver. Elle semble donc aussi mal adaptée que possible aux faits sociaux; ceuxci ne peuvent pas être facilement comparés à des corps solides; on serait plutôt tenté de les comparer à des nébuleuses dont la position, les aspects et les dimensions varient à tout instant. Il faut appliquer pour les saisir une méthode qui permette d'atteindre la réalité, le mobile et le continu, la méthode des mythes.« Paul Kahn, Mythe et réalité chez Sorel. In: Cahiers internationaux de Sociologie, Vol. X I , Paris 1951, S. 133 54 »Sorel ouvre notamment la voie à trois champs de recherches: sociologie de la grève, sociologie de la guerre, sociologie de la burocratie.« - Paul Kahn, ebda., S. 154 58 »Sorel strove mightily to be a rational sociologist of the unconscious, in mudi the same way as Freud was a rational psychologist of the unconscious.« »What he did achieve was to take the first step in framing a theory of politics whidi insisted on centrality of irrational human impulses and false idéologies in the détermination of the social relations of men. In this sense, he was a forerunner of the sociology of knowledge.« - Irving L . Horowitz, a.a.O., S. 128 u. 126 " Erwin Faul, a.a.O., S. 13 57 Sorel wird von Faul und Burnham in die Reihe der modernen Madhiavellisten gestellt. Der apologetischen Haltung Burnhams und der kritisch-ablehnenden Haltung Fauls dem Machiavellismus gegenüber entspricht ihre Beurteilung Sorels. - vgl. dazu im einzelnen: Erwin Faul, a.a.O., S. 226-258; - James Burnham, Die Machiavellisten. Verteidiger der Freiheit. Zürich 1949, S. 119-132

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ner Entwicklung rekonstruiert haben, sind wegen ihres Materialreiditums neben den schon erwähnten Büchern von Freund und Meisel besonders die Biographie von Andreu 68 sowie die Arbeit von Goriély 59 hervorzuheben. Sie haben durch ihre detaillierten Forschungen die weithin verstreuten Schriften Sorels wieder zugänglich gemacht und durch ihre Nachgestaltung seiner Ideen die unerläßlichen Voraussetzungen für eine sachgemäße Interpretation geschaffen. Auf ihre Beiträge wird auch diese Untersuchung häufiger zurückgreifen können. Die vorliegende Arbeit will weder die Persönlichkeit und Gedankenwelt Sorels erschöpfend und umfassend darstellen noch irgendeinen Aspekt aus dem Gesamtwerk herauslösen und isoliert betrachten. Sie verfolgt vielmehr das Ziel, am Beispiel Sorels den Einbruch des Irrationalismus in die moderne politische Theorie zu untersuchen. Um an Sorel, dem Urheber der Lehre vom politischen Mythos, konkret den Umschlag von Rationalismus in Mythologie aufzuzeigen, muß zwar sein Gesamtwerk in den Blick genommen werden; die Rationalismus-Mythosproblematik steht ohne Zweifel im Zentrum seiner politischen Theorie und läßt sich nicht isoliert behandeln. Aber zugleich gebietet die Durchdringung und Exposition dieser Problematik die intensive Beleuchtung einiger Seiten und die Abbiendung anderer Partien des Sorelschen Werkes. Ein solches Vorgehen birgt die Gefahr in sich, ein verzerrtes Bild entstehen zu lassen. Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß zwischen dem Interesse und der Einseitigkeit der Interpretation ein offensichtlicher Zusammenhang besteht, daß mit dem Ansatz oft genug schon das Ergebnis der Auslegung präjudiziert wird. Deshalb scheint es angebracht, die Methode der eigenen Untersuchung zu reflektieren und ihre Grundsätze ausdrücklich darzulegen. 2. Zur Methode Aus dem sprunghaften, fragmentarischen und vielen Wandlungen unterworfenen Denken Sorels ist, wie gezeigt wurde, ein Werk von geradezu chaotischer Fülle entstanden. Seine historische Relevanz liegt in den von ihm ausgehenden Impulsen begründet. Diese aber sind den eigentlichen Absichten Sorels entgegengesetzt. Eine Interpretation, die ihm gerecht werden will, muß beide Aspekte berücksichtigen. Sie muß versuchen, an der Stellung Sorels in seiner Zeit die Gründe dieses Widerspruches aufzudecken. Es gilt, Sorel aus der Situation zu verstehen und diese durch ihn zu erhellen. Das wechselseitige Verhältnis eines Denkers zu seiner Gegenwart sichtbar machen, bedeutet jedoch, ihn »par sa signification terminale à partir de ses conditions de départ« zu erklären. 80 Diesem Bemühen entspricht grundsätzlich die zuerst 58 M

Pierre Andreu, Notre Maître M. Sorel, Paris 1953 Georges Goriély, Le pluralisme dramatique de Georges Sorel, Paris 1962 »Pour saisir le sens d'une conduite humaine, il faut disposer de ce que les psychiatres et les historiens ont nommé >compréhensionLa fraternité ou la mort< hurlaient les hallucinés de 93.« 88 Jede Philosophie, die mit dem Anspruch auftritt, über ein »höheres Wissen« vom Wesen des Absoluten - der Vernunft oder des göttlichen Willens zu verfügen, strebe danach, sich mit der politischen Macht zu verbinden und mit allen Mitteln, auch mit Terror und Gewalt, ihre Wahrheit durchzusetzen. So hätten auch die Sokratiker für sich die Freiheit beansprucht, das zu lehren, was sie für die Wahrheit hielten. Wie sich aber an Calvin gezeigt habe, der sich im Unterschied zu den griechischen Philosophen audi politisch durchsetzen konnte, hätten sie darunter verstanden, ihre Gegner als »perturbateurs scandaleux de l'ordre divin« Sí zum Schweigen zu verurteilen. « ebda., S. 302 88 ebda., S. 146 87 ebda., S. 303 (Hervorhebung von H. B.) 88 ebda., S. 9 88 ebda., S. 8 - »Les Socratiques auraient fait comme Calvin, s'ils avaient pu conquérir le pouvoir quelque part.« - ebda., S. 8 31

»Dans la cité idéal des Socratiques, l'esprit eût été surveillé, dirigé, opprimé.«40 Dieselbe Struktur lasse sich in der Philosophie des 18. Jahrhunderts feststellen: »Les disciples des philosophes du XVIII e siècle n'eurent pas plus tôt pris le dessus, qu'ils se mirent à persécuter l'Eglise, qu'ils fabriquèrent des dogmes et prétendirent les imposer.« 41 Absoluter Wahrheitsanspruch ist demnach mit absolutem Herrschaftsanspruch identisch. Dem totalitär-terroristischen Charakter der mit der politischen Gewalt verbundenen Philosophie entspricht ihre zersetzende Wirkung, wenn sie die politische Herrschaft noch gegen sich hat. »Socrate a beaucoup travaillé à rompre les chaînes qui enserraient le citoyen dans la cité antique.« 42 Das Bestreben der Philosophie gehe notwendig dahin, die bestehende historisch gewordene Ordnung aufzulösen, da diese nie den vom abstrakten Verstand gesetzten Idealzustand erreichen kann. »Les Socratiques étaient tous pénétrés de la théorie de l'absolu; ils ne reconnaissaient pas l'importance du droit historique, ce qui en faisait des révolutionnaires.« 48 Die politischen Konsequenzen der Philosophie sind für Sorel also in jedem Falle unheilvoll: mit der Staatsgewalt vereint, führt sie zu einer terroristischen Praxis, gegen sie gewandt, wirkt sie demgegenüber auflösend und revolutionär. 44 Wahrheit, die sich absolut und objektiv will, hat permanente Revolution oder permanente Unterdrückung zur Folge. Zu diesem Resultat gelangt die Philosophie dann, wenn sie die Wahrheit wirklich und die Wirklichkeit wahr machen will. Beide in Konformität bringen, heißt für Sorel, die Welt nach einem verstandesmäßig konstruierten Modell einrichten wollen.45 In diesem Versuch aktualisiert sich aber nur eine, die utopische Tendenz des theoretischen Menschen, der, von grenzen4

° ebda., S. 7 ebda., S. 8 Für seine Gegenwart sieht Sorel diese Gefahr mit neuer Kraft hervorbrechen. Seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Frankreich drohe die Fortschrittsphilosophie als quasi offizielle Ideologie der III. Republik sich universal durchzusetzen und Frankreich in einen »succursale des anciennes missions du Paraguay, un véritable Etat socratique« (ebda., S. 9) zu verwandeln. Nur die Instabilität der Republik habe Frankreich bisher noch davor bewahren können, einer theokratischen Gewaltherrschaft mit umgekehrtem Vorzeichen zum Opfer zu fallen. 42 ebda., S. 6 4 » ebda., S. 203 44 »II semble que Socrate était au fond plus révolutionnaire que tous les sophistes. En général, ceux-ci prenaient comme donné l'état politique de la Cité et ils cherchaient le meilleur moyen de tirer parti de la constitution pour favoriser leurs élèves: ils étaient des utilitaires à la fois très pratiques et très sceptiques. Socrate, au contraire, voulait que toute action eût pour fin le bien et le juste découverts par la science. Cette conception s'attaquait à la base même de la Constitution . . . « - ebda., S. 239 45 »L'utopie peut être conçue comme un double mouvement théorique et pratique; dans le premier les choses sont remplacées par des symboles ayant perdu le lien qui les réunissait au réel et ayant acquis, - pour nous - , une véritable autonomie . . . et dans le second nous revenons au monde pour le juger et le refaire en conformité avec nos constructions subjectives.« - Georges Sorel, La science dans l'éducation. In: Devenir Social, II/3, Paris 1896, S. 220 41

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losem Optimismus beseelt, dem allmächtigen Verstand die Kraft zutraut, die Geschichte in einem Idealzustand zu vollenden. Einem nicht minder verhängnisvollen Optimismus ist aber auch die Philosophie verfallen, die von der Annahme einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Wahrheit und Wirklichkeit ausgeht. In ihr aktualisiert sich die entgegengesetzte Tendenz des theoretischen Menschen: sich kontemplativ zur jenseitigen Wahrheit aufzuschwingen, sich von der Wirklichkeit abzuwenden und die Welt sich selbst zu überlassen. »L'homme . . . qui croit à l'indépendance absolue de la raison et à la pureté originelle de l'âme, n'a pas lieu de s'abandonner au pessimisme. Ce qu'il a de mieux à faire, c'est de laisser aller les choses, de brasser sa besogne le mieux qu'il peut, de ne pas se tourmenter quand le mal triomphe et de s'enfermer dans une retraite sûre et chaude. S'il est parvenu à un degré suffisant d'optimisme, il regardera se dérouler le spectacle du monde comme un panorama très intéressant et finira par croire que tout a été fait pour l'amuser.« 46 Diesen stoischen Rückzug aus der Welt, der in der Philosophie des Sokrates ebenso angelegt sei wie die utopische Zuwendung zu ihr, deutet Sorel als Flucht vor den harten Bedingungen der menschlichen Existenz. Der Wille, der nicht die Kraft hat, die Anstrengungen des Existenzkampfes auf sich zu nehmen, entzieht sich seinen natürlichen Bindungen. Er entwickelt, um seine Schwäche vor sich selbst zu verhüllen, eine Ideologie, die seine Kraftlosigkeit als Stärke erscheinen läßt: die Lehre von der Reinheit der Seele und der Niedrigkeit des Körpers. Nach dem Vorwurf, daß er unterschiedslos gleichgesetzt habe, was wesentlich verschieden sei, trifft Sokrates nun die Anklage, daß er getrennt habe, was wesentlich zusammengehöre: »A force de séparer l'âme et le corps, il arrivait à considérer comme indifférentes les actions auxquelles l'intelligence prenait peu de part.« 47 Die Abwertung des Körpers hat die Mißachtung der Arbeit zur Folge: »Aux hommes libres l'exercice de la raison, aux esclaves celui des corps. Cette thèse est basée . . . sur le principe de la séparation des deux éléments, principe complètement admis par Socrate.« 48 In der Arbeit sind Geist und Körper miteinander vermittelt; sie ist für Sorel - wie später noch zu erläutern sein wird 4 9 - der Ort, an dem sich die menschliche Freiheit und die Moral realisieren; in ihr bilden Theorie und Praxis noch eine unmittelbare Einheit. Der theoretische Mensch tritt erst hervor, wenn diese Einheit zerbrochen ist, wenn sich, wie in der untergehenden Polis, die Gesellschaft in eine herrschende und eine arbeitende Klasse gespalten hat: »Le vice essentiel de la société grecque résidait dans l'esclavage: cette institution diabolique perd toute société qui la pratique; elle corrompt le maître encore plus, peut-être, que l'esclave.« 50 Hat sich aber die herrschende Klasse der Halt gebenden « Procès . . . , S. 218 « ebda., S. 10 48 ebda., S. 84f ** vgl. weiter unten S. 55 ff. M Procès . . . , S. 83f 33

und Verantwortung übertragenden Arbeitswelt entzogen, weil sie nidit mehr die Kraft und den Willen aufbringt, ihre Anstrengungen auf sich zu nehmen, dann ist ihr Untergang unaufhaltsam: »Dans les classes sociales, qui ne travaillent pas, dans celles, notamment, qui, à la mode athénienne, vivent du pouvoir, la démoralisation est extrême. Il en a été ainsi dans tous les siècles, et c'est là une loi de la nature humaine.« 51 Diesen Prozeß hat die Philosophie, statt ihm entgegenzuwirken, dadurch gefördert, daß sie den Verzicht auf Arbeit und damit die Trennung der Gesellschaft ideologisch gerechtfertigt hat. Sie hat ferner dazu beigetragen, die natürliche Familie, die zweite Vermittlungsinstanz von Körper und Geist, zu zerstören und durch die fiktive Familie der athenischen Männerbünde zu ersetzen. »Là était, en effet, l'écueil où devrait périr la moralité grecque. L'union des sexes écartée par la logique de l'idéal, l'amour n'a plus de base; nous sommes arrivés à la contradiction, la catastrophe ne se fera pas attendre.« 52 Der Niedergang Athens, den Sorel im Procès . . . untersuchte, um Einblick in die Struktur der Krise seiner Zeit zu gewinnen, hat sich als Auseinanderbrechen der unmittelbaren Einheit von Tradition, Glauben, Recht und Sitte erwiesen. Die schöpferisch-moralischen Kräfte der Aristokratie, die in Kampf und Arbeit die konkrete Lebensordnung der Polis hervorgebracht hatte, waren erlahmt; die herrschende Klasse entzog sich ihren politisch-sozialen Verpflichtungen und Bindungen. Dieser Rückzug führte eine weitere Schwächung ihrer kriegerischen und gestalterischen Kraft herbei. Die Abkehr von der harten Wirklichkeit und der Verlust des schöpferischen Elans setzten, sich gegenseitig bedingend, einen weltgeschichtlichen Prozeß von ungeheurem Ausmaß in Gang, denn die aus der Auflösung der mythisch-vorreflexiven Welt hervorgehenden und an ihrer Zerstörung mitwirkenden Kräfte sind bis in die Gegenwart hinein lebendig geblieben. Sie bestimmen und konstituieren noch die Krisensituation, der sich Sorel gegenüber sieht. Die Sophistik oder der Utilitarismus bedeutet die Rückbildung der moralischen Kräfte, die sich auf die Gestaltung einer die Existenz des Gemeinwesens garantierenden Ordnung richten, in einen Trieb, der nur auf die Bedürfnisbefriedigung und Genußsteigerung des Partikularen aus ist. Persönlicher Erfolg und individuelles Glück sind die Maximen des auf seine Bedürfnisnatur zurückgeworfenen Menschen. Die rationale Philosophie bedeutet demgegenüber die Umwandlung des moralischen Willens in Erkenntnisstreben, das sich auf eine jenseitige absolute Wahrheit richtet. Der theoretische Mensch, der das Handeln nach Wahrheitsgründen anleiten will, zwingt den moralisch-schöpferischen Elan unter die Macht der Ratio. Er trachtet danach, die konkrete Wirklichkeit zum Experimentierfeld seiner Verstandeskonstruktionen zu machen. Sie fügt sich aber keinem Verstandesentwurf. Oder der Philosoph tritt aus der ihm widerstrebenden und seine Freiheit einengenden Realität heraus und sucht Zuflucht in der von ihm selbst entworfenen Welt der Ideen und Ideale.

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ebda., S. 85 ebda., S. 96

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4. Die Kritik am Rationalismus I m Zentrum der von Sorel im Procès . . . vorgetragenen Kritik stand die klassische griechische Philosophie. Sie war f ü r Sorel in drei von ihm freilich nicht klar und ausdrücklich unterschiedenen Hinsichten von Bedeutung: 1. Sorel sah sie als Ausdrudk der in der menschlichen N a t u r angelegten Tendenz an, der Verantwortung und Verpflichtung des sozialen Lebens zu entfliehen und sich in ein müheloses, genußreiches Dasein zu retten. Ist dieser unabänderlichen Neigung des Menschen die herrschende Schicht eines Gemeinwesens anheimgefallen, d a n n wird die rationale Philosophie zu einer bestimmenden geistesgesdiichtlichen Größe. Von dieser Verfallsbewegung, der Athen im 4. J a h r h u n d e r t zum Opfer gefallen ist, sind alle Zeiten bedroht. ». . . les mouvements vers la décadence (sont) toujours naturels; notre nature est invinciblement portée à ce que les philosophes de l'histoire regarde comme mauvais . . . « 58 2. In der klassischen griechischen Philosophie kam diese Neigung der menschlichen N a t u r zum erstenmal in einer Weise zum Ausdrude, die sie zum Vorbild und Bestandteil des gesamten abendländischen Denkens werden ließ. Sie leitete damit eine weltgeschichtliche Entwicklung ein, in deren Bann auch noch die Gegenwart steht. 3. Dennoch unterscheidet sich die griechische Philosophie von allen späteren Ausdrucksformen der anthropologisch bestimmten evasiven Tendenz, denn sie ist aus der Krisensituation der Polis, also aus einer bestimmten historischen Situation, erwachsen und h a t von ihr ihre spezifische Ausformung erhalten. Unter veränderten politischen, sozialen u n d ökonomischen Verhältnissen entwickeln sich aus der erwähnten Naturanlage des Menschen rationale Theorien von sehr unterschiedlicher Prägung. Sie sind ebenso vielfältig wie die historischen Situationen, denen sie ihre jeweils konkrete Gestalt verdanken. W e g e n ihres gemeinsamen anthropologischen Grundes sind sie jedoch bei aller Verschiedenheit Erscheinungsformen einer geistesgeschiditlichen Richtung: des Rationalismus. a) Fortsdirittsphilosophie Die mächtigste Gestalt des modernen Rationalismus w a r f ü r Sorel die Fortschrittsphilosophie, die ihren Ursprung in der A u f k l ä r u n g des 18. J a h r h u n derts hatte. Sie verkünde eine f ü r alle Zeiten u n d f ü r alle Klassen gleichermaßen gültige absolute und universale Lehre. Diesem Anspruch - ihrer Unwahrheit - verdanke sie ihre allgemeine Anerkennung. I n Wirklichkeit sei sie jedoch, wie j e d e philosophische Lehre, zeitbedingt und klassengebunden. 54 Die w a h r e Bedeutung einer Philosophie läßt sich demnach nur erfassen, wenn ihr absoluter, von den historischen u n d sozialen Umständen losgelöster universaler Geltungsanspruch ideologiekritisch entlarvt und gegen ihn die historische W a h r h e i t wiederhergestellt wird. 58 54

Brief Sorels an Benedetto Croce vom 25.1.1911. In: La Critica, 1928 (Bd. XXVI), S. 343 »Les idées dominantes considérées en dehors des classes constituent quelque chose d'aussi chimériques que l'était l'homme abstrait dont Joseph de Maistre déclarait n'avoir jamais rencontré le spécimen...« Illusions . . . , S. 12 35

Für Sorel kommt es also darauf an, die ideologische Funktion der A u f klärung, ihren apologetischen und polemischen Sinn für die Klasse, die sie entwickelt oder die sich ihrer Ideen bedient hat, ins Bewußtsein zu rücken.55 Ideologiekritik in diesem Sinne gehört zu einem in allen Schriften Sorels aufweisbaren Grundzug seines Denkens. In Les illusions du progrès68 wird sie - auf die Aufklärungsphilosophie angewendet - thematisch: »J'ai pensé qu'il ne serait pas mauvais de soumettre un de ces dogmes charlatanesques (Fortschrittsphilosophie) à une critique conduite suivant la seule méthode qui puisse nous garantir contre toute duperie, c'est-à-dire à une critique fondée sur une investigation historique des rapports des classes.« 57 In der Anwendung dieser Methode beruft sich Sorel ausdrücklich auf Marx, mit dem er sich in Übereinstimmung glaubt. 68 Er geht mit Marx von der Grundthese aus, daß die Fortschrittsphilosophie von ihren Anfängen an die Ideologie der bürgerlichen Klasse gewesen sei. 59 Man müsse folglich die Geschichte der Fortschrittsideen im Zusammenhang mit der Geschichte der Bourgeoisie untersuchen. Diese habe sich im 17. und 18. Jahrhundert unter der absolutistischen Monarchie als dienende Klasse konstituiert; in der französischen Revolution und endgültig im 19. Jahrhundert sei sie durch verschiedene Entwicklungsstufen hindurch zur herrschenden Klasse aufgestiegen. 60 55

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»Une des tâches qui s'impose... est de démolir tout cet échafaudage de mensonges conventionnels et de ruiner le prestige dont jouit encore la métaphysique des gens qui vulgarisent la vulgarisation du XVIII siècle.« - Illusions . . . , S. 276 Les illusions du progrès sind zur gleichen Zeit geschrieben worden wie die Réflexions sur la violence. Sie sind wie diese zuerst als Aufsatzfolge im Mouvement socialiste (August-Dezember 1906) erschienen und 1908 zum erstenmal als Buch veröffentlicht worden. Illusions . . . , S. 10f »C'est au Manifeste communiste que j'emprunterai le texte qui me paraît s'appliquer le mieux à l'ordre des recherches entreprises ici:« (Der von Sorel aus der französischen Übersetzung von Andler übernommene Text ist im Folgenden nach der deutschen Ausgabe der Marxschen Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1953, zitiert; S. 545f) »Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, daß mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein, auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Wort auch ihr Bewußtsein sich ändert? Was beweist die Geschichte der Ideen anders, als daß die geistige Produktion sich mit der materiellen umgestaltet? Die beherrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen einer herrschenden Klasse.« - ebda., S. 5 »L'idéologie du XVIII e siècle est celle qui convient aux conditions de la vie d'une classe d'auxiliaires de la royauté. Je me sépare donc complètement de Taine qui prend pour base de cette idéologie la vie d'une 'aristocratie désoeuvrée par la monarchie envahissante, des gens bien nés, bien élevés, qui, écartés de l'action, se rejettent sur la conversation et occupent leur loisir à goûter tous les plaisirs sérieux ou délicats de l'esprit.« - ebda., S. 80 - Das von Sorel angeführte Taine-Zitat ist entnommen aus: H. A. Taine, Les Origines de la France contemporaine, Bd. 1: L'Ancien régime, Paris 1876, S. 241 Wie Löwith herausgearbeitet hat, lassen sich in Sorels Darlegungen vier Entwicklungsstufen der bürgerlichen Klasse unterscheiden: »1. Die vorrevolutionäre Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts: sie befindet sich in einer abhängigen Stellung, weil sie vorzüglich aus königlichen Beamten und Funktionären besteht; als ein 36

Als Ideologie der bürgerlichen Klasse müßte sich die Fortschrittsphilosophie parallel zu diesem Gang der Bourgeoisie entwickelt haben. Es müßte eine Adäquatheit von Klassensituation und Klassenideologie bestehen: der classe de commis müßte eine Sklavenmoral, der zur Herrschaft gelangten Bourgeoisie eine Herrenmoral entsprechen. Einen solchen Wandel hat aber die Fortschrittsphilosophie nicht vollzogen. Ihre Lehre ist im Gegensatz zur sozialen Stellung der bürgerlichen Klasse in den Grundzügen unverändert geblieben. Es zeigt sich also eine Diskrepanz von Klassenbewußtsein und Klassenlage. Daß sich die Ideologie der Bourgeoisie als rationale und damit wirklichkeitsfremde und destruktive Lehre ausgebildet habe, liege in eben dieser Diskrepanz begründet. Dem wirklichkeitsfremden Charakter der Fortschrittsphilosophie entspricht nach Sorel die wirklichkeitsfremde Bewußtseinshaltung der bürgerlichen Klasse, der es stets an kritischem Geist gefehlt habe: »L'expérience nous apprend que l'esprit critique manque toujours aux classes qui ne pensent point en raison de leurs propres conditions de vie; il manquait donc aux bourgeois . . .«61 Die aus dem mangelhaften Bewußtsein von der eigenen Situation der bürgerlichen Klasse entsprungene Fortschrittsphilosophie stellt sich nun ihrerseits der Entwicklung eines Klassenbewußtseins entgegen. Der Fortschrittsphilosophie fehlt es an Klassenbewußtsein, dessen Ausbildung durch sie verhindert wird. Das unmittelbare Interesse, das Sorel in seiner Auseinandersetzung mit den philosophischen Ideen des 18. Jahrhunderts verfolgt, erweist sich somit als der Versuch, aus diesem circulus vitiosus auszubrechen. Den Widerspruch der Fortschrittsphilosophie - Ideologie der »bürgerlichen Klassen« und doch nicht Ausdruck ihrer Klasseninteressen zu sein - glaubt Sorel bis auf den Ursprung zurückverfolgen zu können. Er sieht in la querelle des anciens et des modernes, die sich an den Schriften von Charles Perrault 82 entzündet hatte, schon die ersten Ansätze des Fortschrittsdenkens. Die Ausweitung dieses zunächst nur literarischen Streits zu einer philosophiegeschichtlichen Auseinandersetzung ersten Ranges 63 wird sozialgeschichtlich untergeordneter Stand hat er keine Eignung zum Herrschen entwickelt. Sorel bezeichnet ihn als eine >classe de commis«. 2. Die revolutionäre Bourgeoisie am Ende des 18. Jahrhunderts: sie vertritt die »illusions du progrès' und besteht aus Dilettanten, die nichts Rechtes gelernt haben und können. Ihre Wortführer sind politisierende Literaten und Enzyklopädisten, die über alles und nichts reden können, weil sie keine geistigen Arbeiter und Forscher sind. Ihr Charakter ist >arbitraire< und ihre Kühnheit (audace) eine verantwortungslose Verwegenheit (témérité). Sie haben keinen Respekt vor der geschichtlichen Überlieferung, sie sind ohne geistige Zucht und im Grunde sentimental. 3. Die ernüchterte Bourgeoisie nach 1850 unter Napoleon III. und Bismarck. Ihr revolutionärer Mythos ist verklungen, die neuen Industriekapitäne sind realistisch und großkapitalistisch, sie übernehmen die Führung in dieser industriellen Epoche der erobernden Bourgeoisie. 4. Die >gebildete< Bourgeoisie am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Ihre Repräsentanten sind Epigonen der revolutionären Literatur...«. — Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Marx und Kierkegaard, Stuttgart 1958, S. 279 « Illusions . . . , S. 134 92

Charles Perrault, Parallèles des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences, 4 Bde., Paris 1688-1697 H. Gillot, La querelle des anciens et des modernes, Paris 1914 37

aus der gesellschaftlichen Stellung der französischen Aristokratie im späten 17. Jahrhundert gedeutet. Die Aristokratie war mit der Entstehung der absolutistischen Monarchie aus ihren Funktionen verdrängt worden, ohne jedoch ihre Privilegien zu verlieren. Sie war ihrer sozialen Verantwortung entbunden und führte ein müßiggängerisches Leben. Ihr neuer Lebenswandel geriet nun in Konflikt mit dem Bewußtsein, das die Aristokratie aus ihrer früheren Stellung bewahrt hatte. »Une telle société n'aurait pu s'abandonner à son bonheur sans dierdier à justifier sa conduite; elle était donc obligée de prouver qu'elle avait le droit de ne pas suivre les anciennes maximes . . .« 64 Dieses Recht leitete die Aristokratie aus dem Glauben ab, daß das Zeitalter Ludwigs XIV. in seinen geistigen Leistungen den großen Epochen der Antike weit überlegen sei. Die Oberzeugung von der Überlegenheit der Gegenwart diente der Aristokratie zur Rechtfertigung ihrer sozialen Situation; ferner führte sie zu der sich immer stärker durchsetzenden Ansicht, daß der gesamte Geschichtsverlauf ein kontinuierlicher Fortschritt sei.85 Obwohl die Fortschrittsphilosophie ihren Aufschwung den ideologischen Rechtfertigungsbedürfnissen einer degenerierten Aristokratie verdankt, darf sie nicht als Ideologie der Aristokratie angesehen werden. Sie ist eine bürgerliche Ideologie, weil sie von Bürgerlichen entwickelt worden ist. An ihrer Ausbildung sind neben den bürgerlichen Schöngeistern und Literaten der aristokratischen Salons die bürgerlichen Juristen und Beamten beteiligt gewesen. Beiden Gruppen gemeinsam ist, daß sie aus dem Tiers-Etat hervorgegangen sind und sich über ihre Klasse erhoben haben. Sie bilden die oligarchie bourgeoise,86 Statt ihrer Herkunft treu zu bleiben und die Interessen ihres Standes zu vertreten, haben sie sich in den Dienst der Aristokratie oder der Monarchie gestellt. Davon ist die Fortschrittslehre entscheidend geprägt worden: »Une classe de commis ne peut pas construire son idéologie sur le même type que celui qu'adopterait une classe de maîtres; car elle ne raisonne point tant sur ses propres affaires que sur celles des autres. Son idéologie tend à prendre le caractère de consultations données par des juristes, des historiens ou des savants sur des problèmes qui leur sont proposés...« 9 7 Die vom Königtum für seine Dienste geschaffene classe de commis bildete den Kern einer an Zahl und Einfluß stets wachsenden classe administrative die sich nach und nach ihrer Unentbehrlichkeit bewußt wurde, ihrer eigenen Rolle gemäß zu denken begann und schließlich den Reichtum, die Macht und das Ansehen einer classe souveraine erlangte.8» Durch sie flössen Elemente in die Fortsdirittsphilosophie des 18. Jahrhunderts ein, die weder den RechtM

Illusions..., S. 52f »Dès lors on avait de droit de se poser les questions suivantes: pourquoi les forces qui avaient produit cette amélioration, ne seraient-elles pas des forces résultant de la nouvelle constitution des sociétés, par suites aussi naturelles que celles d'un monde physique?« - ebda., S. 33 M vgl. ebda., S. 65 47 ebda., S. 80f « ebda., S. 69 •• »D'une manière presque mécanique, les commis du roi en arrivaient à acquérir la richesse, la puissance et les honneurs d'une classe souveraine.« - ebda., S. 70

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fertigungsbedürfnissen der untergehenden Aristokratie nodi dem Ergebenheitsdenken der classe tTauxiliaires,n sondern der gesellschaflichen Situation und dem Interesse der bourgeoisie conquérante71 entspradien. Ihr Interesse wurde aber in verhüllter Form als abstrakte Theorie vorgetragen. Durch die notwendige Verhüllung 72 ihrer eigenen Interessen haben die Juristen und Beamten ebenso wie die Philosophen und Literaten der Salons dazu beigetragen, das Denken von der Wirklichkeit fernzuhalten. Ihre Theorien sind nach Sorel dadurch gekennzeichnet, daß sie dem willkürlichen Verstand und nicht den Erfordernissen der Wirklichkeit entsprungen sind. Zwischen Theorie und Praxis bestehe somit eine tiefe Kluft. Die Einheit beider sei erst in der französischen Revolution wiederhergestellt worden 73 - aber in der für den Rationalismus kennzeichnenden und von Sorel schon in seiner Kritik ein der griechischen Philosophie verurteilten Weise: die abstrakte Theorie unterwirft sich die Praxis. Sie versucht, die Wirklichkeit verstandesmäßig zu gestalten. Für die Ausbildung der Fortschrittsphilosophie sind somit drei verschiedene, miteinander konkurrierende Interessenlagen bestimmend gewesen 74 : 1. Das Interesse der Gesamtheit des 7iers-Etat; aus ihm resultieren die liberalen Konzeptionen der Fortschrittsphilosophie, welche die Entfaltung von Handel und Manufaktur begünstigen. 2. Das Interesse der aus dem Tiers-Etat hervorgegangenen, aber zu eigener Geltung gekommenen Beamtenschicht; sie hat ihre Solidarität sowohl mit der bürgerlichen Klasse wie auch mit der Monarchie aufgegeben; durch sie ist eine anti-liberale etatistische Komponente in die Fortsdbrittsphilosophie eingeflossen. 3. Das Rechtfertigungsbedürfnis der untergehenden Aristokratie; ihre jeder Moral und Verantwortung entbehrenden Sitten sind von den Philosophen der Salons übernommen und durch ihre Vermittlung auf die Lebenshaltung der bürgerlichen Klasse übertragen worden. »La nouvelle classe conquérante accorda une confiance absolue à des hommes qu'elle voyait choyés par la haute noblesse . . . ; elle ne se demanda point quelles étaient les causes qui expliquaient ces faveurs qui l'étonnèrent, la fascinèrent et la trompèrent.« 75 Die bürgerliche Klasse hat sich von den ihrer eigenen Mitte entstammenden Philosophen täuschen lassen. Sie ist sich des Verrats nicht bewußt geworden und hat die Ideen der Philosophen als adäquaten Ausdruck ihrer Interessen angesehen, obwohl diese Ideen in Wirklichkeit viel stärker den Bedürfnissen einer müßiggängerischen Aristokratie und dem oligarchischen Geltungsanspruch der Philosophen und Juristen entsprechen. 7

° ebda., S. 80 »La Bourgeoisie conquérante« ist der Titel des 2. Kapitels der Illusions... 72 »Les commis craignent toujours d'éveiller la suceptibilité de leurs maîtres et ils sont, en conséquence, toujours portés à traiter des sujets assez éloignés de la réalité, pour ne point paraître empiéter sur le domaine que les diefs se sont réservé.« - ebda., S. 82 n »Pendant la Révolution... on p r i t . . . souvent au sérieux de simples paradoxes d'école, on donna une valeur réaliste à des contes et on effaça la différence que l'ancienne société avait établit entre la théorie et la pratique.« - ebda., S. 86 74 vgl. dazu ebda., S. 89 74 ebda.. S. 120 (Hervorhebung von H. B.)

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Dem Bann dieser verderblichen Ideologie hat sich, folgt man der Argumentation Sorels, nur die liberale Bourgeoisie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entziehen können. Sie sei sich ihrer Rolle bewußt gewesen, deshalb habe sie die rationalistischen Theorien des 18. Jahrhunderts nicht übernommen. So sei sie der kraftvollen Tat fähig gewesen, Wissenschaft und Technik zu einem ungeheuren Fortschritt zu verhelfen und die kapitalistische Industrie zu entwickeln. Diese Erhebung der bürgerlichen Klasse über die natürliche Bewegung zur Dekadenz sei nur von kurzer Dauer gewesen. »La race des chefs audacieux qui avaient fait la grandeur de l'industrie moderne disparaît pour faire place à une aristocratie ultra-policée, qui demande à vivre en paix.« 76 Nach dem Verlust ihrer Energie habe sich die bürgerliche Klasse des späten 19. Jahrhunderts wieder mit der Fortschrittsphilosophie verbunden. Sie sei erneut in den circulus vitiosus geraten, in den sie auch den Sozialismus zu ziehen drohe. Dieser sei in Gefahr, dem gleichen Verrat seiner intellektuellen Elite zu erliegen wie die Bourgeoisie im 18. Jahrhundert. 77 Für Sorel hat sich in seiner Gegenwart die soziale Konstellation der letzten Jahrzehnte des ancien régime wieder hergestellt. Wie ehemals die Aristokratie strebe nun die zur classe timorée 78 herabgesunkene Bourgeoisie danach, das Erbe ihrer Väter zu genießen. Dazu ziehe sie jetzt ihrerseits eine Hilfstruppe heran: ». . . il faut à l'oligarchie de gros arrivistes une troupe ardente de bas-officiers qui ne cesse de travailler dans l'intérêt de ses chefs et qui retire peu de profit matériel de son activité; il faut tenir en haleine cette sorte de petite noblesse, en lui prodiguant des marques de sympathie, en excitant chez elle des sentiments d'honneur, en lui parlant un langage idéaliste.« 79 Sorel zieht aus der Gegenüberstellung der feudal-absolutistischen Gesellschaftsordnung des ancien régime und der bürgerlich-demokratischen Gesellschaftsordnung der III. Republik den Schluß, daß sich am Faktum der Klassenherrschaft nichts geändert habe, wohl aber an ihrem Charakter. Die Klassenherrschaft der alten Aristokratie sei durch Tradition legitimiert gewesen; der Adel habe seine Vormachtstellung ererbten Privilegien verdankt. Dieser Grundlagen seiner gesellschaftlichen Führungsrolle habe sich der Adel selbst beraubt, als er, um seinen müßiggängerischen Lebenswandel zu rechtfertigen, die Ideen der Fortschrittsphilosophie adoptiert habe, die in Wirklichkeit jedoch keine historische Rechtfertigung einer Herrschaftsfunktion zulasse. Der an die Stelle des Geburtsadels tretende Geldadel, die neue »bürgerliche Aristokratie«, habe demgegenüber seine Herrschaft auf eben diese abstrakten Verstandesprinzipien der Aufklärung begründet. Die Bour78

Réflexions . . . , S. 109 »La démocratie ayant pour objet la disparition des sentiments de classe et le mélange de tous les citoyens dans une société qui renfermerait des forces capables de pousser diaque individu intelligent à un rang supérieur à celui qu'il occupait par sa naissance, elle aurait partie gagnée si les travailleurs les plus énergiques avaient pour idéal de ressembler aux bourgeois...« - Illusions... S. 122 78 »Sur la dégénéressence de l'économie capitaliste se greffe l'idéologie d'une classe bourgeoise timorée, humanitaire et prétendant à franchir sa pensée des conditions de son existence.« - Réflexions..., S. 109 7 » Illusions . . . , S. 265 77

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geoisie habe versucht, mit Hilfe dieser Ideologie ihre Machtposition für die Erzeugung des materiellen Reichtums auszunutzen, den sie im Unterschied zur alten Aristokratie nicht aus ererbten Vorrechten habe schöpfen können. Die Folge war nach Sorel Mißbrauch der Macht, Umfunktionalisierung von Staat, Redit und Politik zugunsten des bürgerlichen Gewinnstrebens. Die Ablösung des feudal-aristokratischen durch das bürgerlich-aristokratische Herrschaftssystem erweise sich, realistisch betrachtet, als eine Intensivierung der Klassenherrschaft; politisch bedeute der viel gepriesene Fortschritt der Moderne gegenüber dem ancien régime die Plutokratisierung aller Lebensvollzüge und damit ein Fortschreiten der Dekadenz.80 Um diesen, den wahren Charakter der bürgerlichen Herrschaft zu vernebeln, bedienen sich die Wortführer der Demokratie der an sich selbst schon popularphilosophisdien und von ihnen weiter verflachten Ideen der Aufklärung: »La grandeur du pays, la domination des forces naturelles par la science, la marche de l'humanité vers la lumière, voilà les balivernes qui se retrouvent à tout instant diez nous, dans les discours des orateurs démocratiques.« 81 Die demagogisch-ideologische Funktion solcher Reden sei verhältnismäßig leicht durchschaubar. Stärker verhüllt trete der Ideologiecharakter des bürgerlich-rationalistischen Denkens in einer anderen Gestalt des Rationalismus, in den Evolutionstheorien, auf. b)

Evolutionstheorien

Sorel erklärt den historischen Ursprung der Evolutionstheorien aus dem Aufstand der europäischen Völker gegen die napoleonische Herrschaft. Die historisch gewordenen politischen und rechtlichen Institutionen wurden zerstört, und man versuchte, sie nach den Prinzipien des Naturrechts als des Inbegriffs ewiger Vernunftwahrheiten neu zu begründen. Gegen diesen Verlust der Überlieferung und damit der nationalen Eigenart hat sich das nationale Bewußtsein erhoben. Der politische Sieg über das napoleonische Frankreich bedeutet zugleich den ideologischen Sieg über die Aufklärung. »Désormais, on opposera au progrès l'évolution, à la création la tradition, à la raison universelle la nécessité historique.« 82 Die politisch siegreiche gegenrevolutionäre Bewegung hat nach Sorel ihre erste ideologische Ausformung in der von Savigny begründeten deutschen historischen Rechtsschule erfahren. »Savigny et ses élèves opposèrent à cette doctrine de la création rationaliste du droit une doctrine de création spontanée: la conscience juridique du peuple remplaça la raison universelle.«8* Die historische Entwicklungslehre Savignys mußte Sorel der Aufklärungsphilosophie weit überlegen erscheinen, da sie das Recht der Tradition wiederherstellte, die Individualität der Völker hervorhob und den unendlichen 80

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»L'expérience paraît montrer que les abus de pouvoir commis au profit d'une aristocratie héréditaire sont, en générale, moins dangereux pour le sentiment juridique d'un peuple que ne sont les abus provoqués par un régime ploutocratiq u e . . . « - ebda., S. 297 ebda., S. 265 ebda., S. 239 ebda., S. 240 (Hervorhebungen von H. B.)

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Fortschritt der universalen Vernunft negierte. Dennoch sei ihr die entscheidende Befreiung vom abstrakt rationalistischen Denken nicht gelungen. Savigny habe den Volksgeist, aus dem das Recht hervorgehe, als ein metaphysisches Prinzip gedacht, statt in ihm nur die Gesamtheit der äußeren Bedingungen zu sehen, unter denen sich Recht herstellt u n d entwickelt. 84 Aus diesem G r u n d e h a b e sich die deutsche historische Rechtsschule nicht als positive Rechtswissenschaft konstituieren können; sie sei zum Urheber einer neuen metaphysischen Rechtsphilosophie geworden. Sorel unterstellt in seiner Kritik a n der deutschen historischen Reditsschule, d a ß sie den Bereich des Historisch-Zufälligen wie den des Natürlich-Notwendigen behandele. Sie habe ihre Rechtstheorien in Analogie zu biologischen Theorien ausgebildet, also naturwissenschaftliche Denkmodelle auf das historische u n d gesellschaftliche Geschehen übertragen. 8 5 Daraus sei es zu erklären, »que l'on ait si souvent regardé la conscience juridique du peuple comme étant une sorte de force vitale.« 8 6 Die Nationen werden von dieser Voraussetzung aus als lebende Organismen aufgefaßt; die Entwicklung des Rechts und der Völker wird aus einem organischen und individuellen Wachstumsgesetz abgeleitet. Dagegen wendet Sorel aber ein, d a ß es gar keine wissenschaftlich haltbare Theorie von der Entwicklung des Rechts geben könne, da es sich unter der Einwirkung einer Vielzahl von akzidentellen Faktoren weiterbilde. W i r d n u n - wie es sich nach Sorel im 19. Jahrhundert faktisch vollzogen hat - die Pluralität der als Individuen verstandenen historischen Mächte zugunsten einer universalhistorischen Auffassung preisgegeben, d a n n verbindet sich die ursprünglich aus der Antithese zur Fortschrittsphilosophie hervorgegangene Evolutionstheorie wieder mit der Fortschrittslehre des 18. J a h r hunderts. Die Evolutionstheorie nimmt gleichsam ihren eigenen Ansatz zurück u n d verleiht dadurch dem Fortschrittsdenken neuen I n h a l t und neue Kraft; »à la légèreté du siècle des lumières s'opposait le sérieux des écoles historiques; la doctrine du progrès ne peut se maintenir qu'en empruntant beaucoup à celle de l'évolution.« 87 Die neue »evolutionistische Fortschrittstheorie«, die die Geschichte insgesamt als Organismus a u f f a ß t und von einem ihr immanenten Formprinzip bestimmt sein läßt, unterscheidet sich vom Fortschrittsdenken der A u f k l ä r u n g hauptsächlich in drei Hinsichten: 1. Sie mißt der Langsamkeit und Stetigkeit der geschichtlichen Bewegung (Wachstum) große Bedeutung bei. 2. Sie setzt 84

»Dans l'histoire du droit, il ne faudra donc pas demander que la conscience juridique soit définie comme pourrait l'être une force dont les effets pourraient être prévus suivant une loi; la conscience juridique est une image destinée à embrasser l'ensemble des conditions dans lesquelles s'est faite l'acceptation (ou le refus) d'un nouveau système de relations.« - ebda., S. 246f 65 »A l'époque de Savigny, on était disposé à concevoir tout changement sous des formes analogues à celle que fournit la biologie...« - ebda., S. 248; - »Tout le monde sait que l'esprit transforme continuellement des sciences naturelles aux sciences sociales (et réciproquement) des relations abstraites et que s'est ainsi que s'est formée la philosophie évolutionniste.« - Matériaux . . . , S. 193 «• Illusions . . . , S. 248 87 ebda., S. 250 42

die geschichtliche Entwicklung mit der biologisdien Evolution gleich und unterstellt, daß der gesdiiditlidie Prozeß mit derselben Notwendigkeit voransdireite wie eine »évolution vitale«f.88 3. Das Interesse richtet sich nicht mehr auf den Fortschritt des Geistes, sondern auf die Entwicklung der Institutionen. Als bemerkenswerte Anwendung dieser evolutionistischen Geschichtsauffassung nennt Sorel Tocquevilles La Démocratie en Amérique (1835). In diesem Buch sei die in Amerika konstatierte Tendenz zur Gleichheit als eine überall und über die Gegenwart hinaus aufgrund von causes inconscientes unwiderstehlich voranschreitende Bewegung ausgegeben worden.89 Die Evolutionstheorie kann für Sorel aufgrund seiner eigenen geschiditsphilosophischen Prämissen nichts anderes sein als eine willkürliche abstrakte Verstandeskonstruktion. Sie ist rationalistisch, da sie der geschichtlichen Entwicklung ein Prinzip unterschiebt und aus ihm den Gang der Geschichte zu erklären versucht. Obgleich der Evolutionismus nicht wie die Aufklärungsphilosophie die Geschichte aus einer universalen Vernunft ableitet, sondern ein irrationales Prinzip, die force vitale, zu Grunde legt, sei er als rationalistisch anzusehen. Der rationalistische Charakter trete sogar verschärft hervor, da die Evolutionstheorien mit einem höheren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufträten und das historische Geschehen einer absoluten Determiniertheit unterwürfen. Der Widerspruch der Evolutionstheorien zur empirisch aufweisbaren historischen Wirklichkeit ist für Sorel offenkundig. Daß sie dennoch zu einer bestimmenden Geistesströmung im 19. Jahrhundert werden konnten, lasse sich nur ideologisch erklären: »Si on a entendu le principe de l'évolution de manières si diverses et si arbitraires, c'est que le plus grand nombre de ses partisans n'avaient pas été conduits à l'admettre pour des raisons d'ordre intellectuel, mais pour des raisons d'ordre politique.« 90 In der Beantwortung der Frage, welcher Interessenlage und welcher Bewußtseinshaltung die Evolutionstheorien entsprechen, verwickelt sich Sorel in ähnliche Widersprüche, wie sie schon in seiner Beurteilung der Aufklärungsphilosophie zum Vorschein gekommen sind. Diese sollte die Ideologie sowohl des Aufstiegs der bürgerlichen Klasse wie ihres Verfalls und ihrer Korruption sein. Die deutsche historische Rechtsschule wird einerseits als Manifestation des erwachenden Nationalbewußtseins und des kämpferischen Willens der in den Freiheitskriegen siegenden Völker, andererseits aber als Ausdruck erlahmender Kraft, als Dekadenzphänomen, interpretiert: »On était fatigué de toutes les luttes qui avaient bouleversé l'Europe; on était disposé à accepter comme supérieurs tous les procédés de formation idéologique qui ne comportaient pas de lutte; on fut donc très heureux d'entendre vanter le droit coutumier...« 9 1 88 89

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» . . . maintenant on regarde la continuité du mouvement historique comme aussi nécessaire que celle d'une évolution vitale.« - ebda., S. 251 Für Tocqueville sei keineswegs »le mouvement vers l'égalité... particulier à ce p a y s . . . il se produisait p a r t o u t . . . on conclut à la nécessité de la démocratie dans l'avenir.« - ebda., S. 252f ebda., S. 249 ebda., S. 249

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Nichts komme dem ideologischen Bedürfnis einer kraftlos und müde gewordenen Nation oder Klasse so sehr entgegen wie die Lehre von der völligen Determiniertheit des historisdien Geschehens. Der Schwund an tatkräftiger schöpferischer Energie übersetze sich in die Auffassung, daß der erreichte Zustand der Geschichte und die nächste Entwicklungsstufe das Resultat einer pflanzenhaft notwendigen, prinzipiell unbeeinflußbaren Entwicklung seien. Eine solche Überzeugung begünstige auch die herrschende Klasse, die den Status quo bewahren und aus ihrer Machtposition möglichst ungestört Vorteil ziehen möchte. Die Herrschenden seien daran interessiert, jeden Aufstand gegen die bestehende Ordnung als sinnlos erscheinen zu lassen. Daraus erkläre sich die große Vorliebe der französischen Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts für die Thesen Tocquevilles von der ehernen Notwendigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung. An der weit verbreiteten Anerkennung der Evolutionstheorien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben die Entdeckungen in den Naturwissenschaften, vor allem in der Biologie, großen Anteil gehabt. Die raschen Fortschritte in den Naturwissenschaften hatten eine fast grenzenlose naive Wissenschaftsgläubigkeit zur Folge. Man hielt die Wissenschaften für fähig, die Gesellschaft von allem zu befreien, was »le monde actuel renferme de déplaisant. On peut dire que ce fut la conception bourgeoise de la science . . .«"2 In der Wissenschaftsgläubigkeit war der Fortschrittsoptimismus des 18. Jahrhunderts wieder auferstanden, der sich in direkter Linie von d'Alembert über Saint-Simon zu Auguste Comte auf den Positivismus übertrug. Dieser Fortschrittsglaube, nunmehr mit dem Nimbus der strengen Wissenschaftlichkeit versehen, war zur letzten, mächtigsten und vollendetsten Gestalt des Rationalismus geworden. c)

Positivismus

Der mit der klassischen griechischen Philosophie aufkommende und seither das gesamte abendländische Denken bestimmende Rationalismus mündet für Sorel in den Positivismus ein und vollendet sich in ihm. Eine solche Deutung widerspricht dem Selbstverständnis des Positivismus, die Metaphysik überwunden und die Philosophie in Wissenschaft überführt zu haben. Diesen Anspruch gerade macht Sorel dem Positivismus streitig. Er sei selbst noch Metaphysik; in ihm habe der Rationalismus eine nicht mehr überbietbare Steigerung erfahren; der willkürliche abstrakte Verstand sei zu seiner höchsten Verstiegenheit gelangt. Die ablehnende Haltung Sorels dem Positivismus gegenüber bleibt in aller Phasen seines Denkens unverändert. Seine allerdings nicht wie die Kritik an der klassischen griechischen Philosophie oder an der Fortschrittsphilosophie thematisch gewordenen, wohl aber in allen seinen Schriften verstreut vorgetragenen Angriffe gegen den Positivismus zielen darauf ab, diesen als Pseudo-Wissenschaft und Pseudo-Empirismus zu entlarven. Diesem Verdikt unterwirft er alle empirischen Sozialwissenschaften, die im Anschluß an SaintSimon und Comte die strenge Methode der Naturwissenschaften auf den Be•2 Réflexions ..., S. 204 44

reich des Historisch-Sozialen anwenden, und die sich selbst als physique sociale verstehen. »Je pense qu'il n'y a pas d'illusions plus dangereuses que celle-là.« 93 Die empirischen Sozialwissenschaften tragen aufgrund ihrer eigenen Prämissen einen grundsätzlich nidit lösbaren Widerspruch in sich. Sie erheben den Anspruch, voraussetzungslose empirisdbe Wissenschaft und objektive Theorie von der Gesellschaft zu sein. Deshalb sinken die Aussagen der Sozialwissenschaft unweigerlich zu einem »bavardage futile« herab, »dès qu'elle cesse d'être une description méthodique des phénomènes.« 94 Da die empirischen Sozialwissenschaften aber Theorie sein wollen, sind sie gezwungen, über die bloße Beobachtung und Beschreibung der sozialen Wirklichkeit hinauszugehen. Denn eine Theorie läßt sich nicht durch die Akkumulation von Tatsachen gewinnen. Diese allein erklärt und erhellt nicht die soziale Wirklichkeit. Dazu bedarf es vielmehr eines doppelten außerempirischen Vorgehens: 1. Die soziale Wirklichkeit stellt sich dar als eine unendliche Mannigfaltigkeit von sozialen Tatsachen, die selbst nicht feststehende Größen, sondern in ständiger Wandlung begriffen sind. »Les faits sociaux . . . ne peuvent pas être facilement comparés à des corps solides; on serait plutôt tenté de les comparer à des nébuleuses, dont la position, les aspects et les dimensions varient à tout instant.« 95 Eine sinnvolle Aussage über diese an sich chaotischmannigfaltige soziale Wirklichkeit läßt sich nur durch eine allererst Ordnung setzende Auswahl gewinnen: ». . . il faut procéder à une sélection et établir un ordre.« 98 Die bloße Beschreibung der Wirklichkeit setzt also schon ein empirisch nicht mehr aufweisbares Auswahlprinzip voraus,97 das es erlaubt, Wichtiges von Belanglosem zu scheiden. Hierfür gibt es, immer nach Sorel, keinen objektiven Maßstab; dieser kann nur in der Subjektivität der Sozialwissenschaftler begründet liegen: »L'observateur retient seulement ce qu'il croit être essentiel; mais il y a bien des manières de séparer l'essentiel d'avec l'accidentel; il en résulte qu'il n'y a guère de formule à laquelle il ne soit possible d'opposer une formule contraire à peu près aussi vraisemblable.« 98 2. Wenn sich die empirischen Sozialwissenschaften über die reine Deskription zur Theorie erheben, müssen sie die selbst schon subjektiv aus der Wirklichkeit herausgelösten Elemente wieder zu einer Einheit verbinden. Dazu bedarf es eines gleichfalls nicht empirisch gewinnbaren Vereinigungsprinzipes, das von denselben subjektiven Voraussetzungen bestimmt ist wie das Auswahlprinzip. Das, was die Einheit herstellt, sind nach Sorel die Wertsetzungen. »Ce qu'il y a d'unité sous la diversité et la discontinuité des phénomènes, le support commun que nous voulons trouver pour passer à la science, 99

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Georges Sorel, Introduction à l'économie moderne, Paris 1903, S. 365 (Weiter zitiert als Introduction...) Georges Sorel, La valeur sociale de l'art. In: Revue de Métaphysique et Morale, IX, 1901, S. 254 Introduction . . . , S. 368f ebda., S. 370 » . . . la sociologie prend un nouveau caractère de subjectivité; elle doit faire appel à l'art, pour pouvoir faire même l'observation élémentaire.« - ebda., S. 370 ebda., S. 369

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ce sont les évaluations des valeurs de tous les actes . . .« M Diese nidit mehr begründbaren Wertsetzungen bestimmen bei den Sozialwissenschaftlern »toutes les classifications, toutes les relations que l'on établit entre les phénomènes . . .« 100 Aufgrund dieser doppelten subjektiven Voraussetzung der empirischen Sozialwissenschaften kommt es zu einer Vielzahl von sozialen Theorien, die alle den Anspruch auf Objektivität erheben: ». . . les énoncés des grandes lois de l'histoire rempliraient plusieurs tombereaux; et les insuccès de leurs prédécesseurs ne découragent pas les fabricants de théories. Ce spectacle a quelque chose d'effrayant et on a pu se demander s'il n'indiquerait pas une véritable aliénation mentale chez nos contemporains, toujours aussi empressés à poursuivre le fantôme d'une science qui s'éloigne d'eux toujours et toujours les trompe.«101 Die große Zahl der miteinander konkurrierenden und angeblich objektiven sozialen Theorien spiegelt die faktische Pluralität der antagonistischen Kräfte wider, die die soziale Wirklichkeit konstituieren. Diese stets partikularen Kräfte oder Gruppierungen bedürfen zur Orientierung ihres Handelns und zur Durchsetzung ihrer Interessen einer ideologischen Konstruktion.102 Audi die Theorien der empirischen Sozialwissensdiaften sind solche ideologischen Konstruktionen. Sie werden erst dadurch rationalistisch, daß sie sich von der Wirklichkeit lösen und als objektiv-wissenschaftlich ausgeben. Sie erheben den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, obwohl sie in Wahrheit eine aus einer bestimmten Interessenlage erwachsende und ihr dienende Ideologie sind. Das kann nur als der Versuch verstanden werden, ein partikulares Interesse dadurch mit größerer Wirksamkeit durchzusetzen, daß es als ein allgemeines ausgegeben, daß seine wahre Natur also verhüllt wird. Hierin besteht nach Sorel der ideologische Charakter der positivistischen Sozialwissenschaften. In seiner ideologischen Funktion liegt es auch begründet, daß der Positivismus trotz der doch unschwer aufweisbaren Unhaltbarkeit seines Anspruches, objektive Wissenschaft zu sein, als solche allgemein anerkannt und in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zur vorherrschenden Geistesströmung Frankreichs wurde. Eine freilich nur untergeordnete Bedingung dafür ist die geradezu magische Verehrung der Wissenschaften durch das Volk.108 Von weit größerer Bedeutung für den Erfolg des Positivismus ist es, daß sich die herrschende bürgerliche Klasse bemühe, diesen »respect superstitieux que le peuple a instinctivement pour la science«104 für ihre Machtposition auszunutzen. Sie verwende alle erdenklichen Mittel, das in die Wissenschaften gesetzte blinde Vertrauen auf sich zu übertragen. Deshalb gehe sie ein Bündnis mit dem Positivismus ein: •• Les facteurs moraux de l'évolution, a.a.O., S. 78 Introduction..., S. 366 101 ebda., S. S66f 1011 »Les constructions idéologiques sont nécessaires, mais elles sont aussi les causes les plus fréquentes de nos erreurs ...« - ebda., S. 372 10 » Utilité . . . , S. 2 104 Matériaux . . . , S. 90 100

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». . . les parasites se distinguent par un enthousiasme immodéré pour la science afin de jeter de la poudre aux yeux, se mettent á la remorque de grands pontifes scientifiques, leur servent de hérauts, réclament pour eux de grasses pensions; ils espèrent obtenir ainsi la considération des gens naifs et en tirer profit.« 105 Es hat sich gezeigt, daß Sorel die Fortsdirittsphilosophie des 18. Jahrhunderts sowie die Evolutionstheorien und den Positivismus des 19. Jahrhunderts als drei verschiedene, aber in vielfacher Weise miteinander verbundene Gestalten des modernen Rationalismus deutet. Dieser ist für ihn ebenso Ausdruck und Beförderer der gegenwärtigen Krise, wie es die klassische griechische Philosophie für Athen und die Stoa für Rom war. Sorel konnte seine Auseinandersetzung mit den rationalistischen Theorien nur ideologiekritisch vollziehen. Eine immanente Kritik und der Versuch einer logischen Widerlegung wären ihm sinnlos erschienen; durch sie hätte er sich selbst dem Vorwurf des Rationalismus ausgesetzt. So wenig aus diesem Grunde die Auseinandersetzung Sorels mit dem Rationalismus den kritisierten Positionen gerecht wird und einer philosophischen Überprüfung im einzelnen standhalten würde, so enthält seine Kritik doch zweifellos gewisse Wahrheitsmomente. Ihre Wahrheit besteht darin, die praktischen Folgen des absoluten und abstrakten Rationalismus, nämlich die Möglichkeit seines Umschlages in Jakobinerterror, erkannt zu haben. Wenngleich Sorel in seiner Kritik nicht zu grundsätzlich neuen Einsichten vordringt, sondern sich zumeist längst bekannter Argumente bedient, so haben seine Polemiken jedoch den »Vorzug origineller historischer und philosophischer Aperçus.« 106 Deshalb hat sie Carl Schmitt107 aufgegriffen; er hat Sorel, allerdings ganz unkritisch, in der deutschen Literatur »zum erstenmal im politischen und geschichtlichen Zusammenhang und in seiner wahren Bedeutung behandelt.« 108 - Die Unwahrheit der Sorelschen Rationalismuskritik ist darin zu sehen, daß sie geistesgeschichtliche Phänomene unter die Struktur des rationalistischen Terrors zwingt, die sich darunter nicht subsumieren lassen. Es ist eine unhaltbare Simplifizierung, den platonischen Idealstaat, die theokratisdbe Jesuitendiktatur in Paraguay, die Herrschaft Calvins in Genf und den Jakobinerterror der französischen Revolution in eine Reihe zu stellen. Wenn schließlich die gesamte rationale Philosophie dem Verdikt verfällt, tendenziell terroristisch zu sein, dann erweist sich die Kritik Sorels am Rationalismus vollends als eine typische Halbwahrheit. Diesem Charakter dürfte es zuzuschreiben sein, daß die Polemiken Sorels gegen die Philosophie bei den gegenaufklärerischen und reaktionären politischen Bewegungen, besonders beim italienischen Faschismus, eine starke Resonanz gefunden haben. Sie sollten sich als ein wirksames ideologisches Instrument erweisen.109 ebda., S. 90 Carl Schmitt, a.a.O., S. 54 107 ebda., IV. Kapitel, S. 53ff 108 Ernst Posse, Der antidemokratische Denker und der moderne Sozialismus. Vorwort zur deutschen Ausgabe von Sorels La décomposition du marxisme, a.a.O., S. 19 M» Wie Sorel zugunsten der Irrationalität, also anti-aufklärerisdi, so hat Popper 105

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Sorel sah es als dringliche Aufgabe an, die zerstörerische Wirkung des Rationalismus sichtbar zu machen und die Wurzeln freizulegen, die den für die Krise seiner Zeit verantwortlichen Kräften Halt geben. Er hoffte, durch seine Kritik an einer Veränderung der Bewußtseinslage mitzuwirken und damit einen Beitrag zur Überwindung der Krise zu leisten. Seine Auseinandersetzung mit dem modernen Rationalismus folgte, wie schon der Angriff gegen Sokrates, einem rein praktischen Interesse: der Entschleierung der rationalistisch verhüllten sozialen Wirklichkeit - der Klassenherrschaft.110 Er sah, wie im folgenden zu zeigen sein wird, die Korruption der zeitgenössischen Gesellschaft in enger Verbindung mit der Vorherrschaft des Rationalismus. 5. Die Gegenwart als Krise Der moderne Rationalismus hat sich für Sorel in seinen geistes- und sozialgeschichtlichen Analysen als Ideologie der bürgerlichen Klasse erwiesen. Er bildet ein »système de fictions destiné à remplacer celui que le développement historique a produit.« 111 Seiner unablässigen Zersetzungsarbeit fallen alle überlieferten Werte und Ordnungen zum Opfer. »Le mouvement de décomposition ne s'arrête pas; la démocratie continue à démolir ce qui reste des traditions . . .« 112 An die Stelle der historisch gewordenen Ordnung tritt eine ganz und gar ungeschichtliche Gesellschaft, die sich auf abstrakte Verstandesprinzipien gründet. In ihr glaubt der einer grenzenlosen optimistischen Selbstüberschätzung verfallene Rationalismus alle Lebensvollzüge rational regeln zu können. Die bisher für die Praxis maßgebenden Sitten und Gebräuche werden ebenso hinfällig wie die dem Handeln sinnverleihende absolute Gewißheit. Der Rationalismus hat Tradition und Glauben zerstört, sie entgegen seinem Anspruch aber nicht zu ersetzen vermocht. Denn der nie ruhende Zweifel des Verstandes stellt auch seine eigenen Produkte, die rationalistischen Theorien, stets in Frage. Die Allmacht des Rationalismus zeigt sich so als seine Ohnmacht, dem Handeln Sinn und Orientierung zu verleihen; er beschwört einen bodenlosen Skeptizismus herauf und verhüllt ihn zugleich. Eine Zeit, die mit dem Verlust der Tradition, des Glaubens und jeder Art von Sinnvertrauen auch das Verlangen nach absoluter moralischer Gewißheit eingebüßt hat, wirft den Menschen auf seine bloß animalische Bedürfnisnatur zurück. Er verfällt einem »égoisme monstrueux qui subordonne toute considération aux désirs de notre appétit.« 113 Unbekümmert um das ihm im Namen der Rationalität, der Intention nach also aufklärerisch, die große Philosophie von Plato bis Hegel abgelehnt und in ihr den Feind der offenen Gesellschaft sowie den Promotor des totalen Staates gesehen. - K. R. Popper, The Open Society and Its Enemies, 2 Bde., London 1943 110 »Ce sont leurs propres intérêts que soignent nos démocrates, en soignant, avec tant de soin, les gloires du XVIII e siècle. Rétablier la vérité historique n'est donc pas seulement une question de conscience, c'est aussi une question d'un intérêt immédiat.« - Illusions . . . , S. 12 111 Ruine . . . , S. 108 112 Introduction..., S. 234 "» Ruine . . . , S. 87

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übertragene Erbe und ohne Verantwortung für die kommende Generation lebt der Mensch nur noch für den Augenblick; er ist einzig auf die unmittelbare Befriedigung seiner Bedürfnisse aus. »Le bonheur, le plaisir, les émotions douces sont les choses que le bourgeois, le noble, l'homme distingué considèrent comme le but immédiat de l'effort.« 114 Das ist die von Nietzsche verkündete Heraufkunft des »letzten Menschen« : »Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinauswirft . . . Es kommt die Zeit des verächtlichen Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann . . . Die Erde . . . ist klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. >Wir haben das Glück erfunden< - sagen die letzten Menschen und blinzeln.« 115 Nicht anders sieht Sorel »dans nos jours de crise« 116 die Herrschaft der Mediokrität anbrechen. Die moralischen Kräfte sind versiegt, die kämpferischen Tugenden abgestorben. Allein das Streben nach Glück, Gewinn und Genuß bestimmt das Handeln. »Si . . . nous cherchons à remonter aux sources qui alimentent la volonté chez les petits bourgeois et chez les gens du monde, nous sommes frappés de constater que les deux classes sont également placées sous la direction de Mammon . . .« 117 In der bürgerlich-demokratischen III. Republik ist es der Bourgeoisie gelungen, sich des Staates, der »force concentrée et organisée«, 118 zu bemächtigen, sich mit der intellektuellen Elite zu verbünden und damit alle Bereiche des Lebens in den Bann der Mediokrität zu schlagen.119 Das Denken Sorels hatte sich an dem Kampf gegen diese immer weiter um sich greifende »Korruption des Politischen und des Geistigen« entzündet. Von dem Aufstand gegen sie war in allen Phasen seines Denkens, in den Grundzügen unverändert, sein Werk geprägt. In der Diagnose seiner Gegenwart stimmte er, wie 1889 im Procès . . ., so auch in einer seiner letzten Veröffentlichungen mit Proudhon überein. Das von Proudhon gezeichnete Bild von der Verfallenheit der zeitgenössischen Gesellschaft sei unverändert gültig 120 : 114

ebda., S. 176f Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, a.a.O., II. Bd., S. 284 1W Réflexions . . . , S. 386 117 Brief Sorels vom Januar 1914 an Edouard Berth, veröffentlicht als Vorwort in: Edouard Berth, Les Méfaits des Intellectuels, Paris 1926, S. XXVIIIf 118 Introduction..., S. 218 - Gegen die Unterordnung des Staates unter die Gesellschaft wird sich nach Sorel kaum Widerstand erheben, denn »on se montre disposé à accepter tout gouvernement qui donne satisfaction aux besoins du jour et du lendemain.« Die »soumission de plus en plus servile à l'arbitraire des pouvoirs corrompus« zeige sidh darin, daß »les idées de droit et de liberté ne sont pas en honneur en ce moment dans l'Europe«. - ebda., S. 154 u * Das Bündnis der nur auf persönlichen Vorteil bedachten und um seinetwillen nach der politischen Macht strebenden Bürger mit den Intellektuellen wird nach Sorel durch die schon im Procès... aufgezeigte Lehre von der Überlegenheit der geistigen (unproduktiven) über die manuelle (produktive) Arbeit gerechtfertigt und verhüllt. Das Ergebnis dieses Bündnisses sei die Herrschaft des korrumpierten Geistes. lt0 Die von-Proudhon im Jahre 1860 beschriebene Situation sei nach dem Weltkrieg sogar noch hoffnungsloser geworden: »La situation est encore plus grave qu'en 115

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»Aujourd'hui la civilisation est bien réellement dans une crise . . . Toutes les traditions sont usées, toutes les croyances abolies; en revanche, le nouveau programme n'est pas fait . . . C'est le moment le plus atroce de l'existence des sociétés. Tout se réunit pour désoler les hommes du bien: prostitution des consciences, triomphe des médiocrités, confusion du vrai et du faux, agiotage des principes, bassesse des passions, lâdieté des mœurs, oppression de la vérité, récompense au mensonge, à la courtisanerie, au diarlatanisme et vice . ..« 1 8 1

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1860 parce que nous sortons d'une guerre mère d'innombrables ruines . . . N e nous étonnons donc pas de trouver partout, à l'heure actuelle, une effroyable prostration . . . « - La mardie au socialisme, im September 1920 veröffentlicht als Appendix II in: Illusions . . . , S. 379 Sorel führt dieses Proudhon-Zitat an (Illusions . . . , Appendix II, S. 378f.). Es ist einem Brief Proudhons vom 29. 10. 1860 an einem ihm befreundeten Arzt entnommen. Veröffentlicht in: P.-J. Proudhon, Correspondence, 14 Bde., Paris 18741875, Bd. XIV, S. 205f

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II. Die moralisch-ästhetische Begründung der Geschichte

Sorel ist bei dem Versuch, den Charakter der gesellschaftlichen Krise seiner Zeit aus ihrer Entstehung zu erklären, zu dem Ergebnis gelangt, daß sich in ihr eine für die gesamte europäische Geschichte bedeutsame Verfallsbewegung vollende. Ausgelöst worden sei dieser Dekadenzprozeß durch das Versagen der herrschenden Klasse: ihre kämpferische Energie erlahmte; sie entzog sich ihren politisch-sozialen Verpflichtungen. Der damit verbundene Autoritätsschwund ließ die Tradition fragwürdig werden. So löste sich die durch Überlieferung begründete und alle Lebensvollzüge regelnde Ordnung auf. Aus der unmittelbaren Einheit von Sittlichkeit und Moralität traten Philosophie und Sophistik heraus. Die Philosophie unterwarf die Moral ihren abstrakten Verstandesprinzipien, und ihr nie ruhender Zweifel zerstörte die dem Handeln Sinn verleihende absolute Gewißheit. Dadurch kam sie der Sophistik entgegen; diese unterstellte, nachdem Glaube, Tradition und Vernunft ihre Verbindlichkeit eingebüßt hatten, die politische Praxis dem einzig verbleibenden utilitaristischen Prinzip des persönlichen Erfolges. Sind die spontanen »moralischen« Kräfte unter den äußeren Zwang der Ratio und in die innere Abhängigkeit von der menschlichen Triebnatur geraten, dann ist die Gesellschaft ihrer Grundlage, einer frei sich entfaltenden, Ordnung stiftenden Praxis, beraubt und vom Untergang bedroht. Einem solchen Prozeß, dem die griechische Polis und das römische Reich erlegen sind, sieht Sorel auch die Neuzeit ausgesetzt. Dieser Bestimmung der Krise liegen philosophische Prämissen zugrunde, die nur aus der Problematik verstanden werden können, aus der das Denken Sorels seinen Antrieb erfahren hat. Es hat sich, wie in den bisherigen Erörterungen dargelegt wurde, am Gegensatz zu dem in den Positivismus einmündenden Rationalismus entwickelt. Vom Positivismus sind auch die in Frankreich an Bergson anknüpfenden irrationalen Strömungen herausgefordert worden. In ihnen manifestiert sich der Protest gegen den immer weitere Lebensbereiche erfassenden Rationalisierungsprozeß. Die historischen Gründe, die allgemein zum Einbruch des Irrationalen in das politische Denken an der Jahrhundertwende beigetragen haben, sind ebenso für die politische Theorie Sorels von entscheidender Bedeutung gewesen. Deshalb wird es erforderlich sein, sich die Stellung Sorels in der geistesgeschichtlichen Situation zu vergegenwärtigen, die durch die Vorherrschaft des Positivismus sowie durch den Aufstand der von ihm freigesetzten irrationalen Kräfte gekennzeichnet ist. 51

6. Die positivistisdi-dezisionistisdien Voraussetzungen Der Positivismus1 überträgt die in den exakten Naturwissenschaften ausgebildete strenge Methode auf die Gesellschaftswissenschaften, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert hatten. Sie waren zur allein gesellschaftlich wirksamen Sozialtheorie geworden. Die Philosophie, die über die Gesellschaft im ganzen reflektierte, wurde der Unwissenschaftlichkeit »überführt« und der Irrationalität bezichtigt. Sie genügte nicht dem Anspruch einer auf die strenge Methode beschränkten Rationalität. Wie die theoretische verfiel auch die praktische Vernunft, die dem Handeln einen Sinn zu weisen versuchte, dem Ideologieverdacht. Die gesellschaftliche Praxis wurde unter die sozialtechnischen Verfügungen der positivistisch verengten Rationalität gezwungen oder den irrationalen Entscheidungen der Subjektivität überlassen, die Theorie auf Methode reduziert. »Vernunft wäre nur in beiden zumal, so aber fällt sie mitten hindurch.« 2 Sorel übernimmt die aus dem positivistischen Rationalisierungsprozeß resultierende Divergenz von Rationalität und Entscheidung. In dieser bloß formalen Kennzeichnung teilt er, wie auch Pareto, Dürkheim und Max Weber - um nur sie von den zeitgenössischen Soziologen zu nennen die philosophischen Grundvoraussetzungen des Positivismus. Er geht von demselben am Modell der Naturwissenschaften gewonnenen Rationalitätsbegriff aus; auch er überantwortet das, was sich nicht der Logik des Verstandes fügt, den aller Vernunftgründe entratenden subjektiven Entscheidungen und Wertsetzungen. Ist die Vernunft in Rationalität und Entscheidung auseinandergefallen, dann läßt sich der Positivismus nicht anders zurückweisen als durch seine Unterordnung unter den Dezisionismus. Denn ohne die Vermittlung durch einen umfassenden Vernunftbegriff stehen sich Rationalität und Irrationalität abstrakt-antithetisch gegenüber. Von dieser Voraussetzung aus kann der positivistische Rationalisierungsprozeß weder in eine Kraft der Emanzipation umgewandelt noch in seine Schranken verwiesen, sondern nur irrational unterlaufen werden.3 Sorel entscheidet sich gegen den Positivismus, dem er vorwirft, die als Instrument definierte Ratio in Umkehrung ihrer Funktion zum Zweck zu erheben. Das Fortschreiten einer Rationalisierung, die den instrumentalisierten Verstand als höchsten Zweck ansieht, muß zur technokratischen Verdinglichung der Gesellschaft und damit zur Unterdrückung der spontan-sdiöpferisdien Freiheit führen. Die positivistische Rationalisierung impliziert, wie es Sorel der Sache nach erkannt und Habermas in jüngster Zeit formuliert hat, »am Ende eine ganze Organisation der Gesellschaft, in der eine verselbständigte 1

vgl. zum Folgenden vor allem: Max Horkheimer und Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947; - Herbert Marcuse, Reason and Revolution. Hegel and the Rise of Social Theory, New York 1954; - Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied 1963; - Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissensdiaften, Neuwied 1963 1 Jürgen Habermas, a.a.O., S. 257 » ebda., S. 256

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Technologie den usurpierten Bereichen der Praxis im Namen der Wertfreiheit auch noch das Wertsystem diktiert, nämlich ihr eigenes.« 4 Die abstrakte Entscheidung Sorels gegen den Positivismus schließt nicht aus, daß er dessen metaphysikkritische Funktion bejaht, soweit die Kritik den Rationalitätsanspruch der Metaphysik zum Gegenstand hat. Während der Positivismus - jedenfalls in seiner frühen Comteschen Phase - die Absicht verfolgte, Metaphysik in Wissenschaft zu überführen, will Sorel sie aus ihrer rationalistischen Befangenheit »befreien«. Wahre metaphysische Erkenntnis werde nicht auf dem Wege der Reflexion gewonnen, sie entspringe der Intuition. Die Tatsache, daß Sorel von der für ihn selbstverständlichen und nicht mehr befragten Voraussetzung einer unüberbrückbaren Klufi: zwischen Rationalität und Entscheidung ausgeht, erklärt nicht nur den abstrakt-antithetischen Charakter seiner Opposition zum Positivismus. Sie macht auch verständlich, warum sich sein Protest gegen den Positivismus zur Verneinung des Rationalismus überhaupt ausweiten mußte. Die Notwendigkeit liegt darin begründet, daß nach dem auf Methode herabgesetzten Rationalitätsbegriff alle rationalen Theorien unterschiedslos als willkürliche Verstandeskonstruktionen erscheinen. Sie seien an rational unbegründbare Wertsetzungen gebunden; ihre Deutung der Wirklichkeit hänge von den jeweils verfolgten Zwecken ab, da es gänzlich unmöglich sei, die Erkenntnis vom Interesse zu entbinden. Für Sorel sind die rationalen Theorien Manifestationen eines Fühlens und Wollens, das sich grundsätzlich jeder begrifflichen Fixierung widersetzt und nur aus ideologischen Gründen eine pseudo-theoretische Gestalt annimmt. Mit dem Anspruch, den rationalistischen Schleier und den objektivistischen Schein durchstoßen zu haben, weist Sorel die Frage nach dem objektiven Wahrheitsgehalt dieser Theorien als belanglos zurück. Dennoch mißt er der Theorie ihrer ideologischen Funktion wegen große Bedeutung bei. Welcher der »ideologischen Konstruktionen« man zustimme, entscheide aber nicht das »rationalistische« Kriterium der Wahrheit, sondern das pragmatistische Kriterium der Nützlichkeit: »l'humanité construit des doctrines dont la valeur est constatée par l'utilité qu'on leur reconnaît au cours d'une longue expérience; nous sommes ainsi amenés au pragmatisme.« 5 Die Option für den Pragmatismus6 rückt Sorel nur scheinbar in die Nähe zum Utilitarismus, der zwar gleichfalls die Nützlichkeit einer Erkenntnis für ihre Wahrheit ausgibt, aber von Sorel als Dekadenzphänomen verworfen wird. Sorel lehnt den Nützlichkeitsstandpunkt immer dann ab, wenn dieser * ebda., S. 246 4 Utilité . . . , S. 462 6 Die Haltung Sorels zum Pragmatismus hat sich nach anfänglicher Ablehnung in weitgehende Übereinstimmung verwandelt. Der Grund für die zunächst reservierte Einstellung zu William James, auf den sich Sorel vor allem bezieht, bestand darin, daß Sorel noch nicht Pragmatismus und Utilitarismus unterschied. Vgl. dazu den Brief Sorels an Croce vom 27. 5. 1908: » . . . vous avez assez mal mené le pragmatisme de W. James... Il y a quelque chose d'effrayant dans cette idée de faire du succès la preuve de la légitimité d'une croyance. C'est très anglais, mais ce n'est pas très philosophique...« - La Critica, Bd. XXVI (1928), S. 106

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egoistisch auf die Person und nicht auf die Gesellschaft bezogen wird, das heißt, wenn er dem Basiswert des gesellschaftlichen Überlebens widerstreitet. Daran orientiert sidi letztlich seine Kritik an der Sophistik, die den persönlichen Erfolg zum Prinzip erhebt und zur Desintegration der Gesellschaft führt. Derselbe Vorwurf trifft auch den englischen Utilitarismus, der das Glück des einzelnen mit dem Wohl der Gemeinschaft identifiziert. Die utilitaristische Ethik verneine die heroisdien Tugenden und die kämpferische Selbsthingabe des einzelnen für das Gemeinwesen. Deshalb führe sie den Untergang der Gesellschaft herbei. Aus eben diesem Grunde hält Sorel auch die empirisch-analytischen Sozialwissenschaften, die eine technokratisch-bürokratisch verwaltete Gesellschaft intendieren, für dekadent. Sie zerstörten den schwunggebenden Glauben an die Erreichbarkeit einer neuen Gesellschaftsordnung und verhinderten damit die freie Entfaltung der schöpferischen Spontaneität, ohne die eine Ordnung, die den Bestand der Gesellschaft sichert, weder hervorgebracht noch bewahrt werden könne. Die Existenz eines Gemeinwesens hängt für Sorel vom kämpferischen Elan irrational-spontaner Kräfte ab. Diese für die gesamte politische Theorie höchst bedeutsame Überzeugung gründet in den geschichtsphilosophischen Thesen Sorels von den Gesetzen der grandeur et décadence. Um einen Ausweg aus der Krisensituation zu weisen, untersucht Sorel die Bedingungen, unter denen es in der Geschichte immer wieder zu spontanen »moralischen« Erneuerungen gekommen ist. Aus der geschichtsphilosophischen Diagnose vom irrationalen Ursprung aller geschichtlichen Bewegungen folgt die Therapie: die Lehre vom Mythos und von der Gewalt. Aus ihr erklärt sich auch die politische Standortlosigkeit Sorels: die wechselnden Zuwendungen zu gegensätzlichen politischen Bewegungen, die Sorel dann unterstützt, wenn sie nach seinem Urteil unmittelbar und spontan irrationalen Impulsen folgen. Die Geschichtsphilosophie Sorels mündet ein in die Evokation des Irrationalen. Obgleich Sorel alle geschichtlichen Bewegungen von irrationalen Kräften angetrieben glaubt, sie anruft und von ihnen die Überwindung der gesellschaftlichen Krise seiner Zeit erhofft, so ist ihm, »dont toute l'œuvre est née d'une volonté de lutte contre l'arbitraire» 7 , doch nichts verhaßter als die Entfesselung eines willkürlichen Irrationalismus. Wie Goriély mit Redit hervorhebt, verabscheut Sorel alles, was »abandonne l'esprit à la fantaisie, l'âme à ses passions, tout ce qui fait perdre à l'homme le sens précis, immédiat et constant des exigeances et des limites du réel . . .« 8 Der nur scheinbare Widerspruch, daß Sorel das Irrationale zugleich evoziert und bekämpft, löst sich durch die von ihm in dieser Form freilich nicht ausdrücklich getroffene Unterscheidung von kreativ-konstruktiver und evasivdestruktiver Irrationalität auf. Alles, was er bejaht, ordnet er der schöpferischen, und alles, was er verneint, der zerstörerischen Kraft des Irrationalen 7

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Georges Goriély, a.a.O., S. 221; - vgl. ferner: »La lutte contre l'arbitraire sous toutes ses formes résume peut-être le mieux l'action de Sorel.« - ebda., S. 34; »Der Ausweg aus dem Arbitraire - Sorels großes, vielleicht einziges Problem . . . « - Michael Freund, a.a.O., S. 34 Georges Goriély, a.a.O., S. 34

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zu. Dieser Gegensatz bildet den Maßstab schlechthin für seine dezidierten Stellungnahmen in den politischen und geistigen Auseinandersetzungen seiner Zeit. Nach ihm beurteilt er alle religiösen, geistigen, politischen und sozialen Bewegungen in der Geschichte. Je nach der Perspektive oder nach den wechselnden politischen Ereignissen und Situationen wandelt sich die Einstellung Sorels zu den konkreten geschichtlichen Erscheinungen, besonders zum Christentum und zum Sozialismus.9 Bald werden sie als Kräfte der »moralischen« Erneuerung, bald als Beförderer der décadence bezeichnet. Der vorausgesetzte Gegensatz, an dem sie gemessen werden, bleibt jedoch in allen politischen Frontwechseln unverändert bestehen. Es hat wohl Akzentverschiebungen, aber keinen Bruch und keine Entwicklung in den philosophischen Grundlagen der politischen Theorie Sorels gegeben. 10 Ihre allgemeinste Voraussetzung ist, wie gezeigt wurde, in der unreflektierten Übernahme des positivistisch verengten Rationalitätsbegriffs zu sehen. Sorel hat den im Positivismus angelegten Dezisionismus erkannt, die positivistische Ideologiekritik gegen den Positivismus selbst gekehrt und dessen Bodenlosigkeit zum Vorschein gebracht. Da sich Sorel von den Voraussetzungen des Positivismus nicht zu befreien vermocht hat, bleibt seine Entscheidung gegen ihn rational ebenso unbegründbar, wie es die Entscheidung für ihn ist. Zwei gleichermaßen irrationale Wertsetzungen stehen sich gegenüber; beiden gemeinsam ist die absolute Trennung von Rationalität und Entscheidung, von Theorie und Praxis sowie von Sein und Sollen. Die Vernunft hat sich, für das unhistorische Denken des Positivismus und des Dezisionismus undurchschaubar, in solcher Weise entzweit, daß ihre Momente keiner Vermittlung mehr fähig sind. Dieser Tatbestand stellt eine für das Verständnis der politischen Theorie Sorels zwar notwendige, aber nicht hinreichende Grundvoraussetzung dar. Sie erklärt - wenn auch zunächst nur formal - wohl den irrationalen Charakter seiner Theorie, nicht aber seine Unterscheidung von positiver und negativer Irrationalität. Folgt man dem Selbstverständnis Sorels, dann ist die angedeutete Entgegensetzung von kreativen und evasiven Bewegungen in der Geschichte das Ergebnis einer Intuition, die in die Tiefe der geschichtlichen Wirklichkeit vorzudringen vorgibt. Derselben Intuition entspringt auch der ursprünglich-sinnstiftende Zukunftsentwurf, an der sich das politische Handeln orientiert. Dieser Zukunftsentwurf - eine vom Willen gesetzte bildhafte Gesamtvorstellung von der Gesellschaft - drängt zur Verwirklichung und damit zum politischen Engagement. 7. Der Entwurf einer freien Produzentengesellschaft Unverändert wie die positivistisch-dezisionistischen Prämissen hat sich die anfangs erwähnte »moralische« Grundintention durchgehalten: die »Vision« von einer freien gesellschaftlichen Praxis, wie sie in der vorsokratisdien Polis, • vgl. weiter unten, S. 94 ff »Paraphrasing Talleyrand Sorel could have justly stated: >1 have often changed my party, but never my ideas.c . . . There is no évolution of thought in Sorel. There are itérations and emphasis.« - Irwin Pomerance, a.a.O., S. 12f

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also vor dem Aufkommen der klassischen Philosophie, Wirklichkeit gewesen sei. Das gesamte Denken Sorels bewegt sich um das Problem, wie sich unter den Bedingungen der modernen industriellen Gesellschaft die Einheit von »moralischen« und sozialen Zwecken, von Wollen und Sollen, von Individuum und Gesellschaft, wiederherstellen lasse. In der vorphilosophischen Antike hat nach Sorel die noch ungebrochen bestehende Tradition diesen unmittelbaren Lebenszusammenhang garantiert. Er sei an eine Bedingung geknüpft gewesen, über die die Gegenwart nicht mehr verfüge. An die Stelle der Tradition müsse deshalb eine andere, ebenfalls aus der Praxis selbst erwachsende Instanz treten, die geeignet sein könnte, dem Handeln einen gesellschaftlichen Sinn zu weisen und die Gesellschaftsordnung neu zu begründen. Es geht Sorel also darum, die ethische Frage nach dem guten Leben sowie die politische Frage nach der gerechten Verfassung eines Gemeinwesens der Zuständigkeit der rationalen Theorie wieder zu entwinden. Das Attentat des Rationalismus läßt sich nur durch die Vernichtung des Attentäters rüdegängig machen. Die post-rationalistische industrielle Gesellschaft muß sich der Theorie entledigen; sie wird ihrer genauso wenig bedürfen wie die prärationalistische traditionale Gesellschaft. Diese Überzeugung Sorels ergibt sich folgerichtig aus seiner Identifizierung von Rationalismus und Krise. Sie erhält ihre Kraft aus einem neuen Glauben an Instinkt und Intuition, die, wie zu homerischen Zeiten, zum Handeln drängen und es anleiten sollen. Für die äußere institutionalisierte Orientierung soll an die Stelle der zerstörten Tradition die ökonomische Produktion treten. Intuition und Produktion sollen Maßstab sein für Ethik und Politik. Diese müssen der »rationalistischen« Wahrheitsfrage - der Frage nach dem Guten und nach der Gerechtigkeit enthoben werden. Nach der paradoxen Theorie Sorels von einer theoriefreien »Ethik« und »Politik« kann eine gute, gerechte und funktionierende Gesellschaftsordnung nur rein praktisch und pragmatisch begründet werden. Realistisch geurteilt hätten sich Ethik und Politik immer schon an der Praxis und nicht an der Theorie orientiert: »Le but de la morale est de diriger notre conduite; mais comment juger celle-ci et comment lui donner une certaine stabilité? Ce sont des institutions qui ont toujours fournies les points de répère pour le jugement; c'est par la corrélation de la conduite avec les institutions qu'on a toujours apprécié les mœurs des hommes.«11 Sorel erklärt das unbestreitbare Faktum der korrelativen Bedingtheit von Ethik und Politik zu ihrem letzten, nicht mehr bezweifelbaren Wahrheitsgrund. Für ihn läßt sich das soziale Verhalten nur danach beurteilen, ob es den Erfordernissen der Gesellschaft entspricht oder nicht; die Gesellschaftsordnung ist »gerecht« oder »ungerecht«, je nachdem, ob sie die sie hervorbringenden spontanen Kräfte zur freien Entfaltung kommen läßt oder nicht. Damit glaubt Sorel, im unendlichen Wandel der sittlichen Vorstellungen und der politischen Institutionen einen allerdings zunächst bloß formalen und noch zu konkretisierenden Maßstab gefunden zu haben, der die Wirklichkeit nicht überschreitet und somit davor bewahrt, daß man sich im Vakuum ratio11

Georges Sorel, Morale et socialisme, a.a.O., S. 212

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nalistischer Spekulationen über das »Wesen« des Guten und der Gerechtigkeit verliert. Sorel versucht, den Zusammenhang von Ethik und Politik durch einen Rückblick auf die geschichtliche Erfahrung näher zu bestimmen. Für sein Problem, wie eine theoriefreie gesellschaftliche Praxis zu denken und zu verwirklichen sei, gilt es vor allem, die moralische Autonomie des einzelnen mit den Erfordernissen des Gemeinwesens zu vereinbaren. Die bisherigen »Moralsysteme«, die das Verhältnis von individuellem Verhalten und sozialer Ordnung bezeichnen, haben, wie Sorel es sieht, die Beziehung des einzelnen zur Gesellschaft einseitig bestimmt. In ihnen werde entweder die Gesellschaft verabsolutiert, was Gewaltherrschaft bedeute, oder das Individuum setze sich absolut, was Anarchie und damit den rasdien Verfall der Gesellschaft zur Folge habe. 1. La morale de la terreur. Sie bezeichnet die totale Unterwerfung des einzelnen unter den Zwang der Gesellschaft. In den Primitivkulturen ist er ihren Tabus, in einem schon entwickelteren Zivilisationsstadium ihren strengen Strafgesetzen bedingungslos ausgesetzt. In einer noch späteren Phase, die Sorel in der klassischen Polis für erreicht hält, verbindet sich der Zwang strenger Vorschriften mit materiellem Anreiz. Die »Schreckensmoral« wird durch eine »Interessenmoral« ergänzt: »A cette morale de la terreur s'ajoute . . . une morale de l'intérêt.« 12 2. La morale de la sainteté. Sie bedeutet gleichfalls die Beugung des einzelnen unter eine ihm äußere, nun aber ins Jenseits projizierte Autorität. Im Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft besteht gegenüber dem System der »Schreckensmoral« praktisch kein Unterschied. »L'autorité pourra être bienveillante, elle sera toujours absolue . . .« 13 3. La morale de l'autonomie. In ihr ist das Individuum zu eigener Geltung gelangt. Es hat sich aus der Vormundschaft fremder Autoritäten befreit und zum Richter seines eigenen Tuns gemacht. Ihren vollkommensten Ausdruck finde diese Moral in der Kantischen Ethik.14 Der morale de la terreur und der morale de la sainteté entspricht - folgt man den Erörterungen Sorels - eine gesellschaftliche Praxis, in der allein das von jeher geltende und rigoros auferlegte Recht der Gemeinschaft bestimmend ist. Der einzelne stellt ein bloß passives Glied des Ganzen dar; er handelt nicht eigenverantwortlich gemäß einer von ihm selbst gesetzten Maxime. Den Maßstab für sein Verhalten bildet eine »règle de mœurs pleinement légalitaire . . . La morale est donc légalitaire.«18 Im Gegensatz dazu stellt die morale de l'autonomie den einzelnen in den Mittelpunkt. Sie gesteht ihm eine absolute Geltung und einen unendlichen Wert zu; dennoch erhebt sie ihn nidit zu einem wirklich freien Individuum. " Ruine . . . , S. 290 ebda., S.306 14 » . . . Il n'y a plus de juge extérieur, plus de maître à imiter: on peut dire que Dieu est vraiment descendu dans nos c œ u r s . . . nous sommes les fidèles de notre propre foi... Cette morale a trouvé son expression la plus complète dans le kantisme.« ebda., S. 291 f 15 Georges Sorel, Le système historique de Renan, Paris 1906, S. 82 (Hervorhebung von H. B.); (weiter zitiert als Système historique . . . )

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Der Mensch ist nur innerlich, nur scheinbar frei. Statt ihn als ganzen, als gesellschaftlichen Menschen zu verstehen, faßt die individualethisdie Moral ihn bloß »à l'état individuel, c'est par une abstraction scientifique«.16 Die Individualethik - hierunter faßt Sorel die gesamte christliche und idealistische Ethik zusammen - isoliert die Individuen und trennt sie von der Gesellschaft, so daß »les hommes ne se préoccupent d'aucune fin sociale.«17 Ihr Handeln richtet sidi ausschließlich auf ihr eigenes Wohl. Der einzelne ist auf sidi zurückgeworfen und allein um sein Seelenheil oder um seinen materiellen Reichtum besorgt. »Chaque citoyen est très occupé des intérêts de sa conscience et de sa caisse.«18 Die Alternative von Gewaltherrschaft und Anarchie ist nach Sorel nur durdi eine Ethik zu überwinden, die, ohne die moralische Autonomie des einzelnen zu bestreiten, dem Handeln einen sozialen Inhalt zu geben vermag. Ansatzpunkte hierfür biete die Ethik Kants. Sie müsse aber, wie es Marx für die Philosophie überhaupt gefordert habe, vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Sorel will sie also ihrer transzendentalphilosophischen Begründung berauben. Er erhebt die Forderung, »de socialiser l'éthique kantienne . . . et la faire descendre de l'idéal dans le réel . . .« 19 Der kategorische Imperativ würde nicht länger eine bloß formale und subjektiv-beliebige Formel sein, »si on lui donnait une interprétation sociale.« 20 Sorel hat es bei dem Postulat, die Ethik Kants zu »sozialisieren«, bewenden lassen. Er hat seine Forderung nicht präzisiert oder gar theoretisch ausgearbeitet. Das hätte seiner eigenen Voraussetzung, der Negation der Theorie, widersprochen. An der Kritik Sorels wird aber erkennbar, daß die »sozialisierte« Individualethik in seiner Vorstellung ein »Moralsystem« darstellt, das im allerdings bloß vermeintlichen Gegensatz zu den bisherigen Auffassungen die Beziehung von Individuum und Gesellschaft nicht einseitig bestimmt, sondern beiden Momenten gerecht wird. Es bezeichnet eine Praxisform, die sowohl die Freiheit des einzelnen respektiert wie auch den Anforderungen der Gesellschaft genügt. In ihr richtet sich das Handeln des Individuums, statt bloß nach der Erfüllung des persönlichen Glückes zu streben, aus freiem Entschluß auf die Gestaltung der Gesellschaft; die Gesellschaft ermöglicht, statt dem einzelnen gewaltsam zu gebieten, die freie Entfaltung der individuellen Spontaneität. In dieser »Vision« Sorels von einer freien gesellschaftlichen Praxis, die als Ausdruck des Willens einer theoretischen Begründung nicht fähig ist, tritt der einheitliche Beweggrund seiner politischen Theorie hervor. Sie folgt unablässig dem Problem, wie sich die menschliche Freiheit in der Gesellschaft und durch sie verwirklichen lasse. Sorel nimmt also das Motiv auf, aus dem auch die von ihm bekämpfte rationale Philosophie ihren Antrieb erfahren " Georges Sorel, L'Ancienne et la Nouvelle Métaphysique. In: L'Ere nouvelle, Paris 1894; von Edouard Berth als Buch herausgegeben: D'Aristote à Marx, Paris 1935. Zitiert nach der Buchausgabe, S. 251. (Weiter zitiert als D'Aristote . . . ) 17 Ruine . . ., S. 105 18 D'Aristote . . . , S. 252 »• ebda., S. 259 » ebda., S. 259

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hat. Dieses Streben wird jedodi pervertiert, wenn es, von allen Momenten des aufgeklärten Denkens gereinigt, die Freiheit zu verwirklichen und den zerstörten Lebenszusammenhang wiederherzustellen versucht, ohne sich durch eine vernunftgemäße Auslegung der Wirklichkeit, die es zu verändern gilt, der Sinnhaftigkeit seines Tuns zu vergewissern. »Die vornehmste Aufgabe für den, der die Welt verändern will, ist die, das Sinnvolle in ihr zu verstehen.« 21 Dieser Aufgabe ist Sorel ohne Zweifel nicht gerecht geworden. Er konnte ihr auch gar nicht entsprechen, da sie die Einheit des Willens zur Vernunft und des Willens zur Freiheit voraussetzt. Beide sind jedoch vom positivistisch -dezisionistischen Ansatz aus unvereinbar. Den Willen zur Vernunft deutet Sorel entweder als Flucht vor der Wirklichkeit oder als ideologisches Mittel indirekter Gewaltanwendung 22 des unabänderlich mit absolutem Wahrheitsanspruch auftretenden und folglich zu absoluter Gewaltherrschaft führenden willkürlichen Verstandesdenkens. Der Wille zur Freiheit dagegen erscheint als irrationale und spontane Zwecksetzung der sinnstiftenden »moralischen« Subjektivität. Würde man die von Sorel vorausgesetzte abstrakte Antithese von Vernunftswillen und Freiheitswillen anerkennen, dann müßte man seine Auffassung, daß die rationale Theorie die Freiheit nicht nur verfehle, sondern ihre Unterdrückung zur Folge habe, kritiklos hinnehmen. Man müßte auch seiner von den Prämissen her durchaus folgerichtigen These zustimmen, daß der europäische Geist mit dem Aufkommen der klassischen Philosophie den Weg zur Unfreiheit beschritten habe. Was nach Sorel nottut, ist eine Revolution der gesamten Denkart, in der sich der europäische Geist auf den Verrat der Philosophie an ihm und auf seine »eigentliche« Größe und Bestimmung besinnt: auf die von irrationalen Impulsen angetriebene und methodisch perfektionierte Umgestaltung der Wirklichkeit, auf die technische Denkart. Nicht in der illusionären Suche nach der Wahrheit, sondern in der Technik, die ihren Erfolg gerade der Ausklammerung der Wahrheitsfrage verdanke, ergreife der Mensch seine wahre Freiheit: »la vraie notion de la liberté . . . c'est l'activité productrice des choses utiles dans un but choisi par nous.« 23 - »Nous sommes libres en ce sens que nous pouvons construire des appareils qui n'ont aucun modèle dans le milieu cosmique . . . nous sommes maîtres de créer des séquences ayant une ordonnance qui nous est propre.« 24 Die wahre Freiheit verwirklicht sich demnach ständig in der Technik und in der technisch-industriellen Produktion. In ihr bricht die technische »Vernunft«, die wahrhaft okzidentale Rationalität, die Sorel als einzige gelten läßt, hervor. Sie wird aus dem Gesamtzusammenhang des europäischen Rationalismus herausgerissen. Sorel kann sie nur im Widerspruch zu ihm denken. In der Vorstellung Sorels steht, wie René König dargelegt hat, auf der einen Seite »eine ganz und gar von den Forderungen der Technik pragmatisch bestimmte Wissenschaft. Diese Wissenschaft ist zwar imstande, der Lebensnot " Eric Weil, Philosophie der Politik, Neuwied 1964, S. 68 12 vgl. weiter unten, S. 134 ff IS La science et la morale, a.a.O., S. 24 24 D'Aristote . . . , S. 264

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zu steuern durch zweckmäßige Maßnahmen. Aber sie verfällt dem Wirbel des unaufhörlichen Wandels der Zwecke, in dem weder ein Halten ist nodi eine gültige Gestalt. Auf der anderen Seite steht der Mythos, der nicht wie die pragmatische Wissenschaft unterhalb der transzendent begründeten Wissdienschaft sich ansiedelt, sondern diese in ungewisse Ferne hin übersteigt.« 24 Noch ist nach dem Urteil Sorels in der faktisch dem sittlichen Verfall erlegenen und vom Untergang bedrohten zeitgenössischen Gesellschaft die technische Rationalität der »theoretischen« Rationalität untergeordnet. Noch hat sich die kreative Freiheit der technischen Weltumformung nicht gegen die evasive Pseudo-Freiheit des bloßen Fühlens und des abstrakten Denkens durchzusetzen vermocht. Die jahrtausendealte Herrschaft des Rationalismus über die Technik und der Theorie über die Praxis dauert an. Sie zu brechen erfordert einen Umsturz der politischen und sozialen Verhältnisse, einen unerbittlichen Kampf der Produzenten gegen die Intellektuellen. Denn die mit dem Aufkommen der klassischen Philosophie einsetzende Vorherrschaft des Theoretischen ist zugleich die Herrschaft einer denkenden und nidit-arbeitenden über eine arbeitende und nicht-denkende Klasse. Sie bedeutet im geistigen wie im politischen Bereich den Triumph der sidi mit leeren Parolen wie Menschheit, Vernunft und Gerechtigkeit verhüllenden Konsumentenmoral über die Produzentenmoral. 29 Die Kritik Sorels am Rationalismus ist deshalb zugleich eine Kritik an den Herrschaftsverhältnissen - in seiner Zeit der parlamentarischen Demokratie der III. Republik. Abstrakt-antithetisch wie den geistigen denkt Sorel auch den gesellschaftlichen Gegensatz. Die Intellektuellen - die mit Invektiven überschütteten Repräsentanten des Rationalismus oder, was gleichbedeutend ist, der Konsumentenmoral - beanspruchen für ihre vornehme Tätigkeit des Denkens eine aristokratische Bezahlung und einen entsprechenden Rang in der Gesellschaft. Die Produzenten dagegen finden für ihre als niedrig erachtete Leistung keine Anerkennung. Daraus folgt - immer nach Sorel - die Aufteilung der Gesellschaft in zwei feindliche Gruppen: »l'une forme une élite organisée en parti politique, qui se donne pour mission de penser à la place d'une masse non pensante . . . - l'autre est l'ensemble des producteurs . . . Les Intellectuels ne sont pas, comme on le dit souvent, les hommes qui pensent: ce sont les gens qui font profession de penser et qui prélèvent un salaire aristocratique en raison de la noblesse de cette profession.« 27 Die Klassenspaltung aufheben und den unmittelbaren Lebenszusammenhang wiederherstellen, heißt für Sorel also, die herrschende Klasse entmachten. Sie stellt sich der ungehemmten Entfaltung der industriellen Produktion in den Weg oder droht sie gar zum Scheitern zu bringen. Die erste Voraussetzung für die Verwirklichung des Sorel vorschwebenden »Moralsystems« ist nach dem bisher Gesagten die Zerstörung der lebensuntüchtigen Elemente, die sich intellektuell im Rationalismus, moralisch in 25

René König, Mythos und Technik bei Georges Sorel. Schweizer Monatshefte (XIX/1), 1939-1940, S. 26 zu Produzentenmoral und Konsumentenmoral vgl. weiter unten, S. 89 f « Réflexions . . . , S. 240

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der Konsumentenmoral und politisch in der bürgerlichen Klassenherrschaft manifestieren und aus egoistischen Gründen »d'une consommation sans production par le travail«2* die Errichtung einer freien Produzentengesellschaft verhindern. Ein neues Zeitalter der Barbarei könne nur dann von Europa abgewendet werden, wenn es gelinge, die Herrschaft der Mediokrität zu bezwingen und das soziale Verhalten sowie die soziale Ordnung auf eine neue Grundlage zu stellen: auf die ökonomische Produktion. Diese und nicht die rationalistische Theorie müsse die Ethik und die Politik neu begründen. Die ökonomische Produktion wird nach der Vorstellung Sorels in der zukünftigen industriellen Gesellschaft die Funktion zu übernehmen haben, die in der traditionalen Gesellschaft die Tradition ausgeübt hat. Der einzige, allerdings fundamentale Unterschied bestehe darin, daß die an der Vergangenheit orientierte Gesellschaft statisch gewesen sei. Sie verharrte über lange Zeiträume hinweg in der gleichen Sozialordnung. Die sich in die Zukunft entwerfende industrielle Gesellschaft ist demgegenüber dynamisch und auf unendlichen Fortschritt aus; sie befindet sich in permanenter Revolution, da sich ihre Basis, die ökonomische Produktion, in ständigem Wandel befinde. »Notre civilisation moderne repose sur une économie dont la technique est en continuelle révolution . . . « 29 Sorel vergleicht den Gang der modernen technischen Produktion mit dem »Unbewußten« Eduard von Hartmanns. Der Produktionsprozeß schreite ohne Gesamtplan, ohne leitende Idee und ohne Ideal von einer zukünftigen Welt gleichsam determiniert voran. 30 Es sei folglich überflüssig, ja reaktionär und utopisch, ein Programm von der Zukunftsgesellschaft zu entwerfen. In einer konsequent an der Produktion ausgerichteten Gesellschaft darf es und würde es solche den Fortschritt hemmenden Verstandeskonstruktionen nicht mehr geben. »Pas besoin de programmes d'avenir; les programmes sont réalisés déjà dans l'atelier.« 31 Sorel glaubt, wenn er auf ein Programm verzichtet und die Gesellschaft dem sich selbst meinenden Prozeß unendlicher technischer Selbstperfektionierung überantwortet, einen zuverlässigen Maßstab gefunden zu haben, nach dem sich beurteilen läßt, wie ein Gemeinwesen eingerichtet sein soll. Die rechtlichen und politischen Institutionen sind gut, soweit sie dem jeweiligen Stand der Produktion angemessen sind. Ist der Staat ganz zur Funktion der Gesellschaft geworden, unterwirft man den idéalisme des philosophes dem matérialisme de l'économie, dann hat »tout ce qui se passe . . . pour objet une meilleure utilisation des forces productrices . . . Les volontés sont ici 18

Ruine..., S. 308 » Utilité . . . , S. 415 90 »On pourrait donc dire que le capitalisme joue un rôle analogue à celui que Hartmann attribue à l'Inconscient dans la nature, puisqu'il prépare l'avènement de formes sociales qu'il ne cherche pas à produire. Sans plans d'ensemble, sans aucune idée directrice, sans idéal d'un monde futur, il détermine une évolution parfaitement sûre; . . . il fait tout ce qu'il faut pour qu'une ère nouvelle puisse paraître, d'une manière presque mécanique . . . « - Réflexions . . . , S. 118; - » . . . la technique prend ce caractère de développement général, anonyme, inconscient...« - Ruine..., S. 272 " Réflexions . . . , S. 199

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tendues vers une politique de grandeur économique, de développement dans la production.« 32 Aus der allgemeinen Regel, daß die Aufgabe der politischen und rechtlichen Institutionen darin bestehen und darauf beschränkt werden müsse, optimale Bedingungen für die Produktionsmaximierung zu schaffen, läßt sidi angesichts des ständigen unvorhersehbaren Wandels der technischen Produktion allerdings kein Strukturgesetz für den Aufbau der Gesellschaftsordnung gewinnen. ». . . i l serait impossible de donner une loi quelconque pour fixer la répartition des fonctions entre les pouvoirs centraux, les communes, les fondations et les associations libres; il n'y a que des solutions d'espèces . . .« 88 In der am Modell der technischen Produktion konzipierten und ihr untergeordneten Produzentengesellschaft wird jeder erreichte Zustand hinfällig, sobald er dem Produktionsstand nicht mehr angemessen ist. Fest steht lediglich das oberste Ziel, die prinzipiell unabschließbare Produktionssteigerung. Die Produktion wird zum Selbstzweck erhoben; in ihr erfüllt sich der einzige Sinn der Gesellschaft. Die Bedarfsdeckung ist für Sorel eher Beiprodukt als Zweck des industriellen Produzierens. Mit der Unterordnung der gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen unter die Produktion wird, wie schon angedeutet, nach Sorel auch die unproduktive Führungsschicht ausgeschaltet werden. Wer sich nicht dem Produktionsprozeß eingliedert, wer konsumiert, ohne zu produzieren, gilt als Parasit und ist aus der Gesellschaft zu entfernen: »Ainsi se constitue une conception tout â fait nouvelle de l'égalité, qui n'a aucun rapport avec celle des philosophes et qui est, toute entière, issue de l'atelier mécanique contemporain . . . tout le monde dépend de la machine et chacun prend le poste qui convient au service de l'atelier . . . Les penseurs . . . qui n'ont pas de place dans l'atelier de la production . . . apparaissent comme des auxiliaires - ou plus souvent comme des parasites - que la société devra expulser . . . « 8 4 Die Produzenten haben, wenn es ihnen gelungen ist, die politische Madht abzuschaffen und ihre Träger aus der Gesellschaft zu entfernen, einen nur temporären Sieg errungen. In der aus diesem Sieg hervorgehenden freien Produzentengesellschaft wird der Kampf zwischen der Produzentenmoral und der Konsumentenmoral andauern. Immer wieder werden die Kräfte, hervorbrechen und zu bekämpfen sein, die sich ihrer sozialen Verantwortung zu entziehen versuchen. Denn Sorel sieht die Flucht in ein müheloses und genußreiches Leben als eine unabänderlich in der menschlichen Natur angelegte Tendenz an. Unabänderlich wird folglich auch das Streben nach 82

Introduction . . . , S. 220 » ebda., S. 219f 34 R u i n e . . . , S. 272f; - Sorel stellt die nouvelle égalité der Produzentengesellschaft der égalité mystique der Bourgeoisie gegenüber. In der Produzentengesellschaft entspreche der gesellschaftliche Rang eines Individuums seinem tatsächlichen und nachprüfbaren Beitrage zur Produktion. »Cette égalité est insupportable aux privilégiés d'une classe bourgeoise; ils veulent quelque chose de personnel, de supérieur à ce qui est au fond c o m m u n . . . une rémunération mystérieuse«; (ebda., S. 170) - »C'est ici qu'interviennent le talent, le mérite, l'effort et autres puissances occultes...« (ebda., S. 169) 62

der Wiederherstellung der monopolisierten Macht als eines Instruments der Ausbeutung sein. Immer droht die Gefahr einer »dictature de l'incapacité«35: die Überwältigung der Produzenten durch die Nicht-Produzenten. Diese, Händler, Finanziers und Politiker, werden es immer wieder verstehen, sich zu arrangieren und »(à) s'imposer à (la production), la mal diriger et l'exploiter sans la moindre vergogne.« 38 Da auch, was Marx nicht erkannt habe,37 in der Produzentengesellschaft der unaustilgbare Drang der Mediokrität nach der politisdien Macht fortbestehe, werde für alle Zeiten die Produzentenmoral zugleich eine kämpferische Moral sein müssen. Die kriegerischen Tugenden gehören ebenso wie die Produzententugenden zu den »valeurs morales nécessaires pour perfectionner la production.« 38 Der Fortschritt in der Produktion verlangt nicht nur die ständige Anstrengung der Arbeit, »cet effort vers le mieux qui se manifeste en dépit de l'absence de toute récompense personnelle, immédiate et proportionnelle«, 39 sondern auch den immerwährenden Kampf gegen die Mittelmäßigkeit. In dem Ringen ohne Ende gegen die dem Leben selbst immanenten lebensfeindlichen Mächte der Mittelmäßigkeit werden die Produzenten nur siegreich bleiben, wenn und solange die »volonté de délivrance« 40 in ihnen stark ist. Dieser Wille zur Befreiung von der auf unmittelbaren Genuß gerichteten animalischen Bedürfnisnatur - der Konsumentenmoral - bricht nach der an Bergson orientierten lebensphilosophischen Vorstellung Sorels instinkthaft aus der Tiefe des irrationalen Lebens hervor; er wird in einer »moralischen« Entscheidung übernommen: »La décision morale est instantanée et sort des profondeurs de l'homme comme un instinct.« 41 Nur durch die stets erneut zu treffenden »moralischen« Entscheidungen für den selbstlosen Kampf und für die disziplinierte Anstrengung der Arbeit gelingt es, den verhängnisvollen Hang zur Mediokrität zu überwinden. »L'humanité sort quelquefois de la médiocrité sous la pression énergique de certaines contraintes . . . mais elle y revient lorsqu'elle est abandonnée à ses propres tendances.« 42 Den Weg zur historischen Größe beschreiten bedeutet, unter höchster Anspannung aller Energien sich selbst opfernd einen an sich absurden Kampf aufnehmen und einem weder angebbaren noch erreichbaren Ziel entgegenstreben. »La légende du Juif-Errant est le symbole des plus hautes aspirations de l'humanité, condamnée à toujours marcher sans connaître le repos.« 43 Dem Bild von der irrenden Menschheit liegt die geschichtsphilosophische These zugrunde, daß die Geschichte durch zwei in der menschlichen Natur an35 M 87 58 38 40 41 4Î 43

Réflexions..., S. 111 ebda., S. 341 »La grande erreur de Marx a été de ne pas se rendre compte du pouvoir énorme qui appartient à la médiocrité dans l'histoire«; - Illusions..., S. 332 Réflexions . . . , S. 345 ebda., S. 384 ebda., S. 24 ebda., S. 317 (Hervorhebung von H.B.) ' Illusions . . . , S. 318 Réflexions . . . , S. 24

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gelegte antagonistische Kräfte bedingt sei. Sorel deutet, wie noch näher darzulegen sein wird, die gesdiiditlidien Bewegungen psychologisch.44 Er überträgt auf sie die Auffassung der lebensphilosophisch beeinflußten Psychologie vom Antagonismus des schöpferisdien und des zerstörerischen Lebenstriebes - des élan créateur und des élan destructeur. Dadurch wird die Gesdiichte zum Schauplatz des ewigen Kampfes der lebenssteigernden gegen die lebensfeindlichen Mächte des Unbewußten. Sorel vermag der Gesdiichte keinen anderen Sinn zu vindizieren als die unendliche Steigerung der kämpferischen und produktiven Energien. Es liegt auf der Hand, daß es falsch wäre, den Entwurf Sorels von einer freien Produzentengesellschaft als Antizipation einer klassenlosen Gesellschaft zu verstehen, in der sich die Geschichte vollendete. Die Antizipation eines Endzustandes der Gesdiichte setzt eine teleologische Geschichtskonzeption voraus, die der Gesdiiditspsydiologie Sorels völlig widerspricht. Sein Entwurf in die offene Zukunft ist voluntaristisch auf bloße Kraftsteigerung bedacht. Sorel selber faßt, wie die Gegenüberstellung von Utopie und Mythos verdeutlichen wird, 45 seinen Entwurf als mythische Vision auf. In ihr - der bildhaften Vorstellung von einer zukünftigen Gesellschaftsordnung - tritt der instinkthaft drängende Wille aus sich heraus. Er stiftet der an sich sinnlosen Wirklichkeit einen Sinn ein und setzt sich einen Zweck, den er zu realisieren trachtet. In diesem Vorgang der Selbstentäußerung des Willens kommt es nun nach Sorel nicht so sehr auf den Inhalt der Zwedcsetzung als vielmehr darauf an, daß der gesetzte Zweck geglaubt wird und den Willen zur Tat führt. »Que ces croyances soient vraies ou fausses, elles possèdent le pouvoir poétique d'action de mythes.« 48 Unversehens wandelt sich somit das Verhältnis von Zweck und Mittel. Der heroische Kampf und die disziplinierte Anstrengung der Arbeit werden zum Zwedc erhoben; ihr Telos - die Errichtung einer gerechten Gesellschaftsordnung - sinkt zur Funktion für die Entbindung der kämpferischen und produktiven Energien ab. Der Sinn des heroischen Kampfes und des schöpferischen Willens erfüllt sich nicht in dem erstrebten Ziel, sondern in seinem Vollzug.47 Sorel hat, wie es Ernst Bloch formuliert, »aus lauter Subjektpathos« in einer »objektlos gewordenen Weise . . . in Nachfolge Bergsons den Willen gänzlich übersteigert. Er erscheint als Riesenmuskel geformter Gewalt . . . der Wille hat keine Grenze. Das ist, in dieser abstrakt reinen Übersteigerung, putschistisch, ja konnte, als sich wirklich gegen den Geschichtslauf stemmend, faschistisch werden.« 48 Der Moralbegriff Sorels gipfelt somit in bloßer sidi selbst wollender Kreativität. Moralisch handeln heißt kämpfen und schöpferisch tätig sein. Die schöpferische Aktivität des Kampfes und der Arbeit erhält den Rang eines 44

vgl. weiter unten, S. 65 ff vgl. weiter unten, S. 125 ff « Utilité . . . , S. 75 47 vgl. dazu Irving L. Horowitz, a.a.O., S. 141: »For Sorel, action, heroism and virility, catégories for bringing about change, became deified.« 48 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1959, S. 798 45

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summum bonum, das, objektlos gemacht und inhaltsleer geworden, gebieterisch zur Tat um jeden Preis aufruft: »il ne s'agit pas de savoir quelle est la meilleure morale, mais seulement de déterminer s'il existe un mécanisme capable de garantir le développement de la morale.«49 8. Die lebensphilosophische Umdeutung des historischen Materialismus Nach dem Selbstverständnis Sorels besteht eine enge Affinität seiner Gesdiiditskonzeption zum historischen Materialismus von Karl Marx, zur Lebensphilosophie von Henri Bergson und zum Pragmatismus von William James. Diese Positionen sind von ihren philosophischen Voraussetzungen her miteinander unvereinbar; sie gründen in geistig völlig verschiedenen Traditionen. Die rationale universalgeschichtliche Geschichtsphilosophie von Marx widerspricht vollständig der pragmatistischen Auflösung der Geschichte in einen vermittlungslosen Pluralismus. Sorel allerdings vertritt die Ansicht, daß »le pragmatisme est d'accord avec le matérialisme historique de Karl Marx«. 5 0 Auch zwischen Bergson und Marx glaubt er eine Beziehung aufweisen zu können: »on trouve dans l'Evolution Créatrice une théorie de l'intelligence qui offre avec le matérialisme historique des analogies d'autant plus remarquables, que Bergson ne connaissait pas en 1907 l'œuvre de Marx.« 6 1 Diese erstaunlichen Behauptungen beruhen auf einer Umdeutung des historischen Materialismus in sein Gegenteil. Der historische Materialismus von Sorel hat mit dem von Marx nicht viel mehr als den Namen gemeinsam. 62 Der Marxismus denkt die Geschichte als einen Gesamtprozeß, durch den sich dialektisch das ihr immanente teleologische Prinzip realisiert. Er erhebt den Anspruch, von der Geschichte als einer dialektischen Sinneinheit eine wissenschaftliche Theorie ausgebildet zu haben, die die Praxis einschließt und die Zukunft in sich aufnimmt. Aufgrund dieser allgemeinsten Voraussetzung müßte Sorel den Marxismus zurückweisen; er müßte ihn als eine Gestalt des Rationalismus und damit als ein Moment der Krise verwerfen. Und doch lautet sein Urteil: »Le marxisme se présente, au contraire, comme une doctrine de vie, bonne pour les peuples forts.« 63 « Matérieux..., S. 127 50 Utilité .... S. 85 Blodi führt die Annäherung des Pragmatismus besonders von William James an den Marxismus auf eine mißbräuchliche Deutung der 11. Feuerbach-These von Marx zurück. Blochs Einwand gegen eine pragmatistische Deutung des Marxismus oder eine marxistische Deutung des Pragmatismus gipfelt in dem Vorwurf, daß der agnostisdie Pragmatismus den Wahrheitsbegriff opfere und dadurch in einem heillosen Praktizismus ende. »Praktizismus, der an Pragmatismus angrenzt, ist eine Konsequenz dieser Verfälschung (der 11. Feuerbadb-These), eine wie immer unbegriffene; doch Unkenntnis einer Konsequenz schützt nicht vor Verdummung... Immer wieder muß darum betont werden: bei Marx ist nidit deshalb ein Gedanke wahr, weil er nützlich ist, sondern weil er wahr ist, ist er nützlich.« - Ernst Bloch, a.a.O., S. 32 lf " Utilité ..., S. 393 5Z vgl.: Jean Deroo, Le renversement du matérialisme historique. L'expérience de Georges Sorel. Paris 1933 M Ruine..., S. 44 65

Dieses Urteil sowie das Bekenntnis Sorels zum historischen Materialismus beziehen sich nur auf das, was er den »marxisme de Marx« 64 nennt und den Marx-Interpretationen des orthodoxen Marxismus entgegensetzt. Im Gegensatz zu den Auffassungen der Orthodoxie weist Sorel den Begründungszusammenhang der Marxschen Lehre zurück, so daß, was bei Marx dialektisch vermittelt war, bei Sorel beziehungslos auseinanderfällt. Übrig bleibt für Sorel eine Fülle »genialer philosophischer Intuitionen«, in denen die Größe von Marx bestehe. »Ce sont les parties symboliques, regardées jadis comme ayant une valeur douteuse, qui représentent . . . la valeur définitive de l'œuvre (de Marx).«55 Der orthodoxe Marxismus deute diese symbolischen Stellen rationalistisch; er füge sie zu einem Wissenschaftssystem zusammen. Durch einen solchen »usage déplorable« seiner Schüler werde aus der »poésie sociale« von Marx eine »doctrine abstraite«.6* Der lebendige Marxismus von Marx werde zum starren Dogma. In seiner beißenden Polemik gegen den Rationalismus der Marx-Orthodoxie hat Sorel besonders die vulgär-dialektischen Interpretationen von Friedrich Engels und Paul Lafargue vor Augen.57 Für den Einwand, daß sie die Ideen von Marx nicht genuin ausgelegt und fortgeführt haben, lassen sich gewiß gute Gründe anführen. In der Tat erhebt sich die Frage, ob der dialektische Materialismus von Engels nidit den Verlust der Dialektik bedeutet, so daß der durch ihn hindurchgegangene Marxismus statt zur Einbeziehung der Natur in die Dialektik zur Naturalisierung der Gesellschaft führt. Wie immer man das schwierige Problem der Umwandlung des Marxschen Denkens durch Engels beurteilt und das sehr komplexe Verhältnis des orthodoxen Marxismus zu Marx versteht - sich gegen Engels, Lafargue und auch zum Beispiel Kautsky auf den »wahren« Marx zu berufen, verliert dann jedenfalls seinen Sinn und seine Berechtigung, wenn man, wie Sorel, bei Marx die Dialektik und Rationalität überhaupt leugnet. Sorel hat sich einem in formaler Dialektik erstarrten und zur sterilen rationalistischen Ideologie verflachten Marxismus gegenübergesehen; er hat gemeint, ihn im Rückgang auf Marx erneuern zu können. Entgegen diesem Anspruch hat er jedoch den Marxismus nicht auf Marx zurückgebracht, sondern ihm in abstrakter Antithese einen irrationalen und mythischen »Marxis54

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Georges Sorel, La décomposition du Marxisme, Paris 1908; zitiert nach der 2. Aufl. 1910, S. 12 (Weiter zitiert als D é c o m p o s i t i o n . . . ) ebda., S. 64 M a t é r i a u x . . . , S. 189; - »II ne paraît pas douteux que ce fut pour Marx un vrai désastre d'avoir été transformé en chef de secte par de jeunes enthousiastes; il eût produit beaucoup plus de choses utiles s'il n'eût été l'esclave des marxistes.« Réflexions . . . , S. 11; - vgl. auch: Illusions . . . , S. 330ff Gegen die Dialektik von Engels polemisiert Sorel: »Ce ne sont vraiment que jeux de mots et il me semble qu'on peut fort bien se passer de toutes ces amusett e s . . . j e crois que cette dialectique n'a rien à faire avec le marxisme.« - Matériaux . . . , S. 182; Ein Beispiel für die vielen Invektiven gegen Lafargue: »Personne n'a songé à croire, par exemple, que le matérialisme historique puisse consister dans les paradoxes, les drôleries ou les naivités que Paul Lafargue a écrites sur les origines du droit, de la morale ou des religions.« - D é c o m p o s i t i o n . . . , S. 6

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mus« entgegengesetzt, 58 allerdings einen soldien, »an dem nichts mehr übriggeblieben ist als der subjektive Willensfaktor, völlig verabsolutiert . . .«»• Der orthodoxe Marxismus hat, wie es Sorel scheint, mit Hilfe der PseudoDialektik von Engels das subjektive Moment der Marxschen Lehre zugunsten einer deterministischen Konzeption zurückgedrängt; er sah, indem er die proletarische Revolution verkündete, tatenlos dem ohnehin kommenden Umsturz entgegen. In Reaktion auf die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis des marxistischen Sozialismus hat Sorel die Theorie und ihr objektives Moment zugunsten eines ziellosen Voluntarismus aufgegeben. Er hat auf die Verengung der Rationalität durch den orthodoxen Marxismus mit der Evokation des Irrationalen geantwortet. In seiner Kritik am Marxismus bedient sich Sorel einer Argumentation, die er von Vico ableitet. Seine Beschäftigung mit dem ersten großen Geschichtsphilosophen der Neuzeit 6 0 wurde durch einen Hinweis von Marx angeregt. 81 Die Artikelfolge Sorels über Vico aus dem Jahre 1896 62 bereitet die zweite Vico-Renaissance vor. 93 58

Sorel kommentiert die Erörterungen von Marx über die proletarische Revolution im vorletzten Kapitel des Kapitals wie folgt: »Pris à la lettre, ce texte apocalyptique n'offre qu'un intérêt très médiocre; interprété comme produit de l'esprit libre, comme une image construite en vue de la formation des consciences, il est bien la conclusion du Capital et illustre bien les principes sur lesquels Marx croyait devoir fonder les règles de l'action socialiste du prolétariat.« - Matériaux . . . , S. 189; - In einer Anmerkung zu diesen Ausführungen von 1899 schreibt Sorel 1921: »C'est, je crois, ici que j'ai indiqué pour la première fois la doctrine des mythes que j'ai développée dans les Réflexions sur la violence.« ebda., S. 189; - Sorel sieht also die Größe und Bedeutung von Marx darin, daß Marx einen Mythos geschaffen habe, der den revolutionären Elan des Proletariats stimuliere. Vgl. dazu weiter unten, S. 105 ff s » Ernst Bloch, a.a.O., S. 1109 60 vgl. dazu besonders: Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1930; - Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953 M Sorel erwähnt ausdrücklich, durch folgenden Hinweis von Marx auf Vico gestoßen zu sein: »Darwin hat das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt, d.h. auf die Bildung der Pflanzen- und Tierorgane als Produktionsinstrumente für das Leben der Pflanzen und Tiere. Verdient die Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der materiellen Basis jeder besondren Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche Aufmerksamkeit? Und wäre sie nicht leichter zu liefern, da, wie Vico sagt, die Menschengesdiichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, daß wir die eine gemacht haben und die andre nicht gemacht haben?« Karl Marx, Das Kapital, I. Bd., zitiert nach Karl Marx - Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 392f 62 Georges Sorel, Etudes sur Vico. In: Devenir Social, Oktober, November und Dezember 1896; - In stark gekürzter und veränderter Fassung sind die Vico-Studien veröffentlicht worden unter dem Titel Was man von Vico lernt in: Sozialistische Monatshefte, 2. Jahrg. 1898; - Goriély (a.a.O., S. 104) nennt Sorels Vico-Studie »la plus importante étude parue jusque là en français.« •8 Die erste Vico-Renaissance ist in Frankreich durch Jules Michelet eingeleitet worden, der 1841 eine französische Übersetzimg der Scienza Nuova herausgab. Die zweite Vico-Renaissance beginnt mit Benedetto Croces La Filosofia di Giambattista Vico, Bari 1911. Croce stand in engem brieflichen Kontakt mit Sorel und kannte dessen Vico-Studie. Vgl. dazu: James H. Meisel, a.a.O., S. 282ff Zum Einfluß Vicos auf die Lehre Sorels vom sozialen Mythos vgl.: W. Witzen67

Wie später Marx hat audi Vico schon den Anspruch erhoben, rational die Einheit von Vernunft und Wirklichkeit, von Allgemeinem und Besonderem, von Freiheit und Notwendigkeit in der Geschichte aufzuweisen. Vico begründet diese Einheit theologisch. Er bringt die von der göttlichen Vorsehung gelenkte ideale Geschichte mit der von Menschen gemachten empirisdien Geschichte zusammen. Dabei bedient er sich einer allerdings noch nicht ausdrücklich benannten und noch nicht methodisch entfalteten Dialektik. Sorel weist die ideale Geschichte Vicos und damit seine theologische Einheitsbegründung zurück. Diese sei rationalistisch und illusionär; sie verfälsche die historische Wirklichkeit: »La notion de l'histoire idéale est fausse . . . nous ne voulons pas accepter de solution illusoire et nous refusons de rien fausser dans la réalité historique.« 84 Ebenso wenig wie theologisch kann nach Sorel die Einheit der Geschichte idealistisch oder materialistisch begründet werden. Alle Versuche, die Geschichte als einen einheitlichen Prozeß zu deuten, seien willkürliche Konstruktionen des Verstandes, der die Geschichte mit Hilfe abstrakter Formeln verdoppele. Die in ständigem Wandel dahinströmende Geschichte könne nur als eine Bewegung ohne Anfang und ohne Ende aufgefaßt werden: »Quand nous parlons d'un point de départ ou principe et d'un point d'arrivée ou but, nous formulons une illusion; une deuxième illusion nous fait regarder le principe comme étant la cause, ou le générateur de la fin; >le mouvement est, voilà touttracer une ligne de démarcation entre l'inerte et le vivant«;« - Georges Sorel, Préface zu Edouard Berth, Méfaits des Intellectuels, a.a.O., S. XVIII Utilité..., S. 430 vgl. weiter oben, S. 59, Anm. 23 u. 24 73

nature naturelle, dépend évidemment des idées de Vico qui déniait à l'homme la possibilité de posséder la science de ce qu'il n'a pas fait.« 87 Nach dieser Einsicht Vicos sei nur der von Menschen geschaffene Ordnungsraum, die künstliche Natur, einer rationalen Erkenntnis zugänglich. Davon lasse sich der Pragmatismus leiten. »Le pragmatiste . . . se demande comment l'homme peut avoir des ambitions assez insensées pour croire que la nature artificielle ne suffit pas à occuper son génie.« 88 Der gesamte Bereich der regellosen Natur, »cette région abstraite qui est placée en dehors du contrôle de l'expérience journalière«, 88 bleibt demnach der begrifflichen Erkenntnis gänzlich verschlossen. Er ist durdi einen unüberspringbaren Abgrund von der künstlichen Natur getrennt, und er ist in jeder Beziehung, ontologisch wie erkenntnistheoretisch, verschieden: »La nature naturelle qui nous entoure, serait donc séparée de la nature artificielle, toute géométrique, par une zone rebelle à la loi des mathématiques; on doit regarder la première comme contaminée par de l'indéterminisme, tandis que . . . la nature artificielle (est) entièrement déterminée. Les deux systèmes n'appartiennent donc pas, en conséquence, à un même genre . . .« 90 Die absolute Trennung von künstlicher und natürlicher Natur ergibt sich folgerichtig aus der Aufspaltung der menschlichen Erkenntnis in eine formal -logische, mathematische und eine unlogische, intuitive. Dadurch wird die Wirklichkeit in eine hergestellte Welt der Fakten und eine herstellende Welt des Tuns aufgeteilt. Die künstliche Natur umfaßt die Gesamtheit der statischen Realitäten. Auf ihre Erkenntnis richtet sich die Ratio, die das Gewordene beschreiben und das Gemachte determinieren kann. Was aus dem kausalen Funktionszusammenhang der künstlichen Natur herausfällt und nicht factum, ist, kann für Sorel unmöglich Gegenstand rationaler Erkenntnis sein. Denn das Werden der geschichtlichen Bewegungen und die sie antreibenden irrationalen menschlichen Handlungen, das fieri und facere, eröffnen sich allein dem Glauben und der Intuition. Sie nur vermögen es, in die dynamischen Realitäten des geschichtlichen Lebens einzudringen. Die Vernunftphilosophie, die sich der Aufspaltung der Erkenntnis in eine irrationale Intuition und eine rationale Deskription widersetzt, bemüht sich mit Hilfe eines umfassenden Vernunftbegriffs, das Sinnvolle in der heterogenen Wirklichkeit zu verstehen. Sie fragt nach dem allem Seienden gemeinsamen einheitlichen Prinzip; sie versucht, das Allgemeine im Besonderen zu erkennen und Sein mit Sollen zu vermitteln. Sorel lehnt sie in jeder Form als rationalistische Systemphilosophie ab. Sie befasse sich mit bloß fiktiven »Wesenheiten« jenseits der Wirklichkeit. Ihre Frage nach dem Grund der Erscheinungen entbehre jeden Sinnes, denn sie ziele auf eine rein imaginäre Größe ab, auf »cette mystérieuse chose en soi«,91 die nur in der Einbildung der Philosophen existiere. Eine solche Problemstellung hält Sorel für antiquiert. 87

ebda., S. 336 ebda., S. 337 8 » ebda., S. 342 M ebda., S. 343 M Système historique..., S. 7 88

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Sie sei ein Relikt der mittelalterlidien Philosophie: ». . . les penseurs . . . scolastiques croient que notre intelligence, en partant du témoignage des sens, peut découvrir comment les choses sont réellement, exprimer les relations qui existent entre les essences . . . et ainsi parvenir à la science du monde extérieur.« 92 Sorels Kritik wendet sidi nidit gegen die spezifisdie Methode einer bestimmten dogmatischen Philosophie. Mit der Scholastik will er die rationale Philosophie überhaupt destruieren, weil sie der urphilosophischen Frage nach dem Grunde verpflichtet ist. Den Sinn dieser Frage zu leugnen bedeutet, das für die einheitliche Tradition der abendländischen Philosophie zentrale Problem, von dem jede Vernunftphilosophie ausgeht und in das sie einmündet, als belanglos beiseitezusdiaffen. Jede Art von rationaler Philosophie wird hinfällig, zurückgewiesen und diffamiert: »Sie la vieille philosophie de la nature est morte, - au moins pour les savants, - la philosophie de l'histoire n'existe plus pour les érudits; elle n'intéresse plus que les amateurs qui font de la sociologie ou les amateurs d'ouvrages bien pensés, sagement républicains et béatement patriotiques, que le gouvernement français entretient aux frais des contribuables.«93 Sorel setzt, wenn er die Frage nach dem vermeintlidi fiktiven »An sidi« der Philosophen abweist, eine für seine Geschichtsphilosophie hödist bedeutsame Vorstellung von eben diesem »An sich« voraus. Unvermeidlich begründet sich die Negation der rationalen Metaphysik selber metaphysisch. Es wird unterstellt, daß die Natur nicht Kosmos, sondern Chaos, die Geschichte kein Prozeß, sondern regellose Bewegung und die Philosophie nicht Auslegung des Sinnvollen in der Geschichte, sondern Sinnstiftung im an sich Sinnlosen sei. Folgt man der Argumentation Sorels, dann arbeitet das lebensfeindlidie Chaos der noch unbezwungenen Natur unentwegt an der Zerstörung der ihm abgerungenen Ordnungsräume. Es ziehe alles Menschenwerk wieder in die ursprüngliche Regellosigkeit zurück. Bestand könne nur das haben, was stets neu erschaffen und erkämpft werde. Wenn die Anstrengung auch nur einen Augenblick erlahme, sinke das mühsam Errungene wieder ins Nichts zurück. Deshalb sei die Lehre von den beiden Naturen die einzig wahre: »La nature ne cesse de travailler, avec une lenteur sournoise, à la ruine de toutes nos œuvres. Nous achetons le pouvoir de commander dans la nature artificielle par un labeur incessant; que nous arrêtions un seul instant et tout tend à rentrer dans l'ordre ancien; on peut dire que la matière impose ses lois dès que l'esprit se retire. La véritable doctrine est celle qui oppose la nature naturelle à la nature artificielle.«94 Die Geschichte geht somit aus dem Kampf der ordnungstiftenden menschlichen Schöpferkraft gegen die Natur hervor. Sie ist Setzung und Werk der »activité désordonnée de l'homme.« 95 Sie ist aber auch diese Aktivität selber. 94 99 94 95

Réflexions . . . , S. 400 Etudes sur Vico, S. 807f Utilité . . . , S. 426f Système historique..., S. 15 75

Beides, das Gesdiaffene und das Schaffen, sind konstitutive Momente des Geschiditlichen. Deshalb gehört die Geschichte beiden Naturen an: der künstlichen Natur, sofern man das Gewordene in den Blick nimmt, der natürlichen Natur, sofern man sie als Werden oder in ihrer Gesamtheit bedenkt. Zu geschichtlichen Bewegungen kommt es nach Sorel, wenn sich aus unerfüllbaren Beweggründen die irrationale Schöpfertätigkeit zu einer geschichtlich wirksamen Kraft konzentriert. Diese Bewegungen seien, wie die ChaosNatur, mannigfachen Zufällen unterworfen, also nidit determinierbar und gesetzmäßig nicht bestimmbar. Aufgrund dieser Regellosigkeit könnten sie niemals Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse sein: »Les origines ne sont guère accessibles à la méthode scientifique, parce qu'elles présentent beaucoup de désordre . . . c'est toujours du hasard qui engendre l'histoire... les hasards échappent tous également à la connaissance.« M Für die Geschiditswùiewicfea/Z leitet Sorel aus der geschiehtsphilosophischen These, daß »les causes sont refoulées dans la région du hasard«, 97 die Forderung ab, sidi konsequent auf die Deskription »des mœurs, des institutions et' des idées« 88 zu beschränken. In dieser Begrenzung könne sie konfliktlos mit den prinzipiell nicht-wissenschaftlichen GesdiichtsInterpretationen koexistieren. Das reibungslose Nebeneinander dieser beiden Weisen, sich mit der Geschichte zu befassen, erläutert Sorel ausführlich am Beispiel der Geschichte des Christentums. Sorel gelangt zu dem Ergebnis, daß die Geschichtswissenschaft den Auferstehungsglauben des Urchristentums und die religiösen Erneuerungsbewegungen zum Beispiel der mittelalterlichen Klosterorden als Tatsache hinnehmen müsse. Auch den Wandel der kirchlichen Institutionen könne sie lediglich konstatieren. Nicht aber dürfe sie die Motive und den Wahrheitsgrund des Glaubens erforschen oder die Entwicklung der Kirche beurteilen wollen. Das bleibe der Theologie überlassen, die sich ihrerseits jeder historischen Argumentation zu enthalten habe. Denn geschichtliche Tatsachen sprächen weder für noch gegen religiöse Wahrheiten. Wissen und Glauben berührten sich nicht, sie schlössen sich aus. »La science ignore et déclare qu'elle se doit à elle-même d'ignorer; la théologie adore; chaque domaine est ainsi parfaitement délimité.« 98 Folglich sei es der Theologie freigestellt, den Offenbarungsglauben und die religiösen Bewegungen aus übernatürlichen Ursachen zu erklären. »L'historien n'a rien à objecter à une telle solution qui sort de sa compétence.« 100 Was für die Geschichte des Christentums gilt, das trifft in abgewandelter Form für die Geschichte allgemein zu. Denn für Sorel besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen religiösen, politischen oder sozialen Erneuerungsbewegungen. Sie alle, auch das Christentum, seien ricorsi,101 also Protest88 87 88 88 108 101

ebda., S. 20 ebda., S. 22 ebda., S. 21 ebda., S. 459 ebda., S. 74 »... il faut considérer la masse toute entière de la vie chrétienne et la traiter comme une naissance, un ricorso (suivant la terminologie de Vico)...« - ebda., S. 460 76

bewegungen gegen eine nach durchlaufenem corso erstarrte und positiv gewordene Welt, Rückkehr zu einem ursprünglicheren Glauben, Aufbruch eines instinktiven und tatkräftigen Handelns. Der Geschichtswissenschaft, die sich positivistisch auf die Beschreibung von nachprüfbaren Fakten zu beschränken habe, seien sie folglich unerreichbar. Aus diesem Grunde müsse die empirisdie durch eine »hypothetische« Geschichtsschreibung ergänzt werden. Dieser den rechten Weg zu weisen sei Aufgabe der »philosophies qui ont pour objet de préparer, de coordonner et de diriger des hypothèses destinées à montrer comment se produit le drame historique.« 102 Eine Geschichtsphilosophie, die dieser Aufgabe gerecht werden will, kann nach Sorel nur dann zum Ziele gelangen, wenn sie sich die Kritik Bergsons an der traditionellen Philosophie zu eigen gemacht hat. Sie müsse, »pour . . . atteindre la réalité, le mobile et le continu«,103 die von der griechischen Philosophie überlieferte und immer noch praktizierte Methode der begrifflich -definitorisdien Erkenntnis aufgeben. Diese nämlich, ausgebildet »pour étudier les choses immuables, les êtres géométriques . . . semble aussi mal adapté que possible aux faits sociaux.«104 An ihre Stelle gelte es eine neue Methode zu setzen, die geeignet sei, »de... conduire à une interprétation de l'incessante mobilité des choses.«105 Es kommt Sorel also darauf an, den Hiatus zwischen den »toten« Begriffen und der »lebendigen« Wirklichkeit zu überwinden. Der Rationalismus operiere mit definitorisch festgelegten Begriffen; er bilde ein starres Begriffssystem aus und glaube, mit einem solchen Instrumentarium die Wirklichkeit einfangen zu können. Die moderne Philosophie (Bergsons) gehe umgekehrt vor. Sie passe die Begriffe, auf die auch sie nidit verzichten könne, der fließenden Wirklichkeit an, denn sie habe eingesehen, daß »on ne saurait les enfermer dans des définitions sans les tronquer, les dénaturer et en rendre l'emploi dangereux.« 106 Für das Verstehen der lebendigen Realitäten in der Geschichte mißt Sorel dem Begriff der Entwicklung eine besondere Bedeutung bei. Auf ihn seien alle anderen Begriffe des Werdens bezogen. »Toutes les idées modernes sur la philosophie de l'histoire se rattachent à la notion du développement.« 107 Die moderne Geschichtsphilosophie fasse den Begriff der Entwicklung nicht als eine deduktiv gewonnene Definition auf, sondern als »hypothèses relatives aux étapes successives par lesquelles a passé la formation de la philosophie, de la religion, de l'art, - des règles familiales, et des mœurs, - des institutions, du droit et de l'industrie.« 108 Hat man den Begriff der Entwicklung von einer starren Definition in eine fließende Hypothese umgewandelt, dann ist nach Sorel die Voraussetzung 108

10ï 104 105 197 108

Georges Sorel, Vues sur les problèmes de la philosophie. In: Revue de Métaphysique et de Morale, XIX, 1911; - auszugsweise abgedruckt in und zitiert nach Ruine . . . , S. 6 Introduction..., S. 369 ebda., S. 368 Introduction..., 2. Aufl. 1922, S. 389 Ruine . . . , S. 6 ebda., S. 6 ebda., S. 6 77

erfüllt, die es gestattet, »(de) superposer aux actions réelles un schéma de devenirs. Un pareil travail comporte beaucoup d'art.« 109 Denn die Hypothese soll auf eine Wirklichkeit angewandt werden, die sidi wegen der Interdependenz der menschlichen Handlungen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen und geschichtlichen Lebens als eine chaotische Mannigfaltigkeit darbietet. »La société humaine, par suite de l'extrême enchevêtrement des activités, présente un spectacle analogue à celui de la nature . . . « 1 1 0 Dieses Geschehen, das sich aus unendlich vielen je konkreten Zwecksetzungen frei handelnder Individuen und Gruppen zusammensetzt, kann nach Sorel, da es »an sich« ein undurchdringbares Chaos sei, nur durch subjektive Sinnstiftungen »für sich« geordnet werden. Nur für den ordnungstiftenden Interpreten werde die natürlich-chaotische zu einer künstlich-geordneten Welt. Jede Aussage über das Werden, auch das von den Geschichtsphilosophen und Historikern »Entwicklung« Genannte, sei eine subjektive Konstruktion sine fundamento in re. Diesem Tatbestand werde allein der hypothetische Entwicklungsbegriff gerecht. Im Unterschied dazu unterstelle der definitorische Entwicklungsbegriff, daß sich in der Wirklichkeit ein objektiver und gesetzmäßig verlaufender Entwicklungsvorgang aufweisen lasse. Der rationalistische Geschichtsphilosoph setze ein allgemeines Prinzip voraus, das sich in der Geschichte objektiviere. Er glaube, den gesetzmäßig sich vollziehenden Entfaltungsprozeß logisch bestimmen zu können. Das geschichtliche Werden füge sich aber solchen logischen Konstruktionen nicht. Man darf also die Umwandlung der chaotischen Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Vorgänge in ein schéma de devenirs nicht als den theoretischen Aufweis eines der Wirklichkeit innewohnenden Sinnes oder Zusammenhanges verstehen, sondern als ursprünglichen Schöpfungsakt. Die Arbeit des Historikers sei mit der eines Künstlers vergleichbar; das Werk beider sei ein Kunstwerk : »Nous sommes... amenés à faire aussi de la société une œuvre d'art et à la traiter comme un être dont l'harmonie intéresse notre jugement esthétique.« 111 Die menschliche Schöpferkraft stifte der chaotischen Pluralität des Geschichtlichen durch eine »triple distribution des valeurs«112 einen Sinn ein. Einzig der freie Schöpfergeist könne die réalité profonde durchdringen, indem er sich von den Abstraktionen der Logik löse, in die Regionen der Kunst, der Religion und der Philosophie eintrete und hier kraft Glaubens und Intuition moralisch-ästhetische Prinzipien schöpfe: »on passe de l'abstraction purement superficielle et logique à la profonde réalité dont notre activité libre, informée par des principes éthiques, après avoir traversée l'esthétique, nous offre le spectacle.« 113 Sorel faßt diese Sinnstiftung der irrationalen menschlichen Schöpfertätigkeit als das Werk des esprit libre auf, den er mit dem absoluten Geist Hegels vergleicht.114 " » ebda., S. 10 1 1 0 Matériaux . . . , S. 194 1 1 1 ebda., S. 194 1 1 2 ebda., S. 193 " s Matériaux . . . , S. 193 114 »Suivant la terminologie hégélienne j'entends par cette formule: l'art, la religion, la philosophie«. - M a t é r i a u x . . . , S. 2; - Sorel weist wiederholt auf die 78

Der freie Schöpfergeist befreit sich also vom Zwang der Logik. Er tritt aus der Erfahrungswelt aus, versenkt sich in die Innerlichkeit seines moi profond und entwindet ihm in einem ursprünglichen Akt intuitiver Wertsetzungen seine Prinzipien. Dann wendet er sich, nun mit einer Sinnvorstellung gerüstet, wieder an die Wirklichkeit zurück. In sie projiziert er seine Werte hinein, die sich jeder Argumentation entziehen, da sie dem gebieterischen Anruf der Innerlichkeit entstammen. Im Bereiche des Glaubens und des Wollens gilt für Sorel nicht das Warum und Was, sondern nur das unbefragbare und unerklärbare Daß. Die Entscheidung bricht instinkthaft aus der Tiefe des Menschen hervor.115 Sie weist sowohl dem Handeln wie auch dem Denken seine Richtung. Sie ist praktisches und theoretisches Prinzip zugleich, denn sie bestimmt das praktische Verhalten, von dem es wiederum abhängt, wie man die Wirklichkeit beurteilt. »... les aspects essentiels sous lesquels se présentent les faits, dépendent du but pratique poursuivi.« 116 Die Theorie, die der Praxis Orientierung sein soll, muß somit jeder Vernunft entraten. Sie bindet die Erkenntnis an das Interesse und dieses an eine irrationale Entscheidung. Wie nach Bergson der Intellekt das Instrument des Lebens ist, so steht nach Sorel die Theorie im Dienst der irrationalen Entscheidungen. Das gilt auch für die GeschichtsiAeonVra, die Sorel als Ergänzung der empirischen Geschichtswissenschaft anerkennt. Sie sind für ihn - wie alle Theor i e n - subjektiven Konstruktionen: »projections stylisées, arrangées avec assez d'art pour qu'elles donnent l'impression d'être des réalités auxiliaires, possédant chacune son principe propre de vie, d'ordre ou de développement.« 117 Nach einer ursprünglich getroffenen Entscheidung wird in diesen »Theorien« das Begriffssystem und mit seiner Hilfe die Wirklichkeit modelliert. Somit stellt Sorel die Geschichtsschreibung vor die Alternative, zwar gelehrte, aber keiner Aussage fähige Geschichtskompilation118 oder fruchtbare, aber gänzlich unkritische und unwissenschaftliche Geschichtstheorie zu sein. Es ist dies die »sehr ernste Alternative«, in die, wie schon Droysen 119 erkannt »fruchtbare Intuition Hegels« hin, der er seine Vorstellung vom esprit libre verdanke. Vgl. dazu besonders: Vues sur les problèmes de la philosophie, a.a.O., S. 89; - Illusions..., S. 317 u. S. 329; - U t i l i t é . . . , S. 447; - Andreu (a.a.O., S. 227) berichtet von einem unveröffentlichten Essay Sorels mit dem Titel: Trilogie de l'Esprit. - Trotz der zahlreichen Hinweise auf Hegel hat, was keines Nachweises bedarf, der esprit libre Sorels nichts mit dem »absoluten Geist« Hegels zu tun. Das Denken Sorels ist dem Hegels so fremd wie überhaupt nur möglich. 115 vgl. weiter oben, S. 63, Anm. 41 118 Introduction . . . , S. 366 117 ebda. (2. Aufl.), S. 388 118 »Jadis on avait été un grand historien, lorsqu'on s'était livré à de laborieuses et perspicaces recherches d'érudition, en vue de publier beaucoup de documents.. . ou lorsqu'on avait composé des annales offrant un grand intérêt littéraire... Toutes ces besognes ont été regardées depuis Augustin Thierry comme étant inférieures à la véritable mission de l'historien.« - R u i n e . . . , S. 2 11 * »Seit die >positive Philosophie< an die Stelle der Geschichte die soziale Physik, soziale Statik, soziale Dynamik gesetzt,... seitdem sind, so scheint es, die geschichtlichen Studien auf eine für sie sehr ernste Alternative gestellt. Entweder die geschichtlichen Erkenntnisse sind nur so weit Wissenschaft, als es gelingt, sie auf die iMechanik der Atome< zurückzuführen und daraus die Gesetze zu ent79

hat, die positivistische Reduktion der Geschichte auf soziale Physik, soziale Statik und soziale Dynamik einmündet. Dem Gedanken entspricht nicht mehr Seiendes und dem Seienden nicht mehr der Gedanke. Das zweiseitige »für die geschichtlichen Wissenschaften charakteristische Verhältnis von Objekt und Subjekt der Betrachtung oder von Objektivität und Subjektivität der Betrachtungsweise« 120 wird einseitig auf Kosten der Objektivität und zugunsten der Subjektivität aufgelöst. Für Sorel erfüllt sich die wahrhafte Mission des Historikers nicht in der empirischen Wissenschaft, sondern in den nicht-wissenschaftlichen hypothetischen Geschichtskonstruktionen. Sie erfüllt sich demnach im Hervorbringen von kunstvoll arrangierten »Geschichten«, die dazu dienen, die jeden objektiven Sinnzusammenhangs beraubte chamäleonhafte Vergangenheit in einem solchen Lichte erscheinen zu lassen, daß sie den vom Betrachter in der Gegenwart eingenommenen Standpunkt rechtfertigt. Die aus dem positivistisch-dezisionistischen Ansatz resultierende absolute Trennung der beiden Naturen zwingt, folgerichtig zu Ende gedacht, zur Anerkennung einer tendenziösen Geschichtsschreibung. Dieser Konsequenz ist Sorel, wie die folgenden Beispiele zeigen, nicht ausgewichen. 1. Dem liberalen französischen Historiker Augustin Thierry schreibt Sorel das Verdienst zu, die Geschichte mindestens ebenso sehr als Gegenstand der Kunst wie der Wissenschaft behandelt zu haben. In seiner Darstellung habe sich Thierry von den historischen Romanen Walter Scotts, in seinen Thesen von seiner politischen Haltung inspirieren lassen. Den »Pedanten« 121 erscheine eine solche Geschichtsschreibung skandalös, da sie den Ansprüchen der Wissenschaft nicht genüge. Ihren Vorwürfen begegnet Sorel mit einem RenanZitat: »L'historien... touche aux problèmes les plus profonds de la nature humaine; il y faut l'homme complet avec toutes ses passions . . . - Loin que la participation au mouvement politique ait nuit aux travaux de M. Thierry . .. il faut dire . . . que c'est parce qu'il fut attaché passionnément à une cause, qu'il fut historien . . . « 1 2 2 2. In seinem Kommentar zu Adolf von Harnades Das Wesen des Christentums (1900) versucht Sorel, den rein subjektiv-hypothetischen Charakter der Thesen Harnades über die Entwicklung des Christentums nachzuweisen. Für Harnack, einen liberalen Lutheraner, bedeutet der deutsche Protestantismus die Verwirklichung des wahren Christentums. Von dieser Überzeugung gewickein; oder wenn es und soweit es nicht gelingt, ist die Geschichte nicht Wissenschaft, hat sie nicht Wahrheit, da zum Wahrsein gehört, daß dem Gedanken Seiendes und dem Seienden der Gedanke entspricht; wie denn auch wohl gesagt ist, die Geschichte ist nur in der Vorstellung, in der Phantasie.« - J. G. Droysen, Philosophie der Geschichte, Jahresberichte der Geschichtswissenschaft, I, 1878, S. 626 120 Theodor Schieder, Geschichte als Wissenschaft, München-Wien 1965, S. 36 121 »II n'a pas manqué de pédants pour dénoncer un tel état d'esprit, qui leur paraissait scandaleux, comme étant opposé aux exigences de la Science...« Ruine . . . , S. 3 122 ebda., S. 3 - Das Renan-Zitat ist entnommen aus: Ernest Renan. Essais de morale et de critique, Paris o. Jahr, S. 120

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leitet habe er Paulus, Augustin und Luther die wichtigsten Repräsentanten des Christentums genannt, und er habe die Entwicklung in vier große Perioden eingeteilt: apostolisches Zeitalter, griechischer Katholizismus, römischer Katholizismus und deutscher Protestantismus. »Cette belle construction est dominée, de la manière la plus évidente, par le désir des hypothèses propres à éclairer les hommes qui appartiennent à l'école religieuse de l'auteur.« 123 3. In gänzlich anderer Weise als Harnack habe Renan die Entwicklung des Christentums dargestellt. Nach der Hypothese Renans verkörpere sich das wahre Christentum in Personen, die Harnack nicht einmal erwähnt habe: Bernhard von Clairvaux, Franz von Assisi, Theresia von Jesus, Franz von Sales, Vincenz von Paul, Fénelon und Channing. Diese Auswahl entspreche der Vorstellung Renans vom wahrhaften christlichen Glauben: »Renan rêve la formation d'une religion pure . . . ayant des tendances idéalistes.« 124 Aus der Gegenüberstellung dieser beiden konträren Konstruktionen zieht Sorel den Schluß: »Ainsi le développement ne saurait se formuler dans une détermination de l'ordre scientifique; il suppose une hypothèse fondamentale sur le genre d'action qui est regardé comme étant le plus noble pour le temps présent.« 125 Einen objektiven Maßstab zur Beurteilung darüber, ob diese oder jene Hypothese der wirklichen Entwicklung näher komme, kann es nicht geben. Die unendliche Vielfalt des realen Geschehens bietet der Interpretation unbegrenzte Möglichkeiten. Rationale Kriterien für die Richtigkeit oder Falschheit der Konstruktionen sind nicht beizubringen. Alle Gesdiichtshypothesen und folglich alle Interpretationen sind gleich wahr oder unwahr. Die Wahrheitsfrage stellt sich in bezug auf sie in derselben Weise wie zum Beispiel in bezug auf eine Statue. In Analogie zum Bildhauer, der nach ästhetischen Prinzipien den rohen Stein gestaltet, schafft der Historiker nach moralischen Prinzipien aus dem formlosen Stoff der Geschichte ein Kunstwerk. Beide stiften dem ungestalteten Material das Wahre, Schöne und Gute ein; 1 2 9 sie verwandeln schöpferisch die regellose nature naturelle in eine geordnete nature artificielle. Die Aufspaltung der Historie in wissenschaftliche Deskription und ästhetische Konstruktion ist gleidibedeutend mit der Zerstörung einer beide umgreifenden, Objektivität und Subjektivität vermittelnden Geschichtswissenschaft. Dafür, daß Sorel sie und mit ihr alle Geistes Wissenschaften verneint und bekämpft, können rückblickend zwei sich gegenseitig bedingende Gründe angegeben werden: "» Ruine..., S. 7 ebda., S. 10 »* ebda., S. 9f 1M »Nous ne pouvons juger une œuvre qu'en nous l'appropriant et en nous demandant suivant quels principes nous aurions agi en la faisant... On voit que cette critique des trois valeurs fondamentales infuse une vie nouvelle dans la vieille triade du vrai, du beau et du bien.« - Matériaux..., S. 195; - In der Dreiheit von Kunst, Religion und Philosophie, dem Bereich des esprit libre, tritt bei Sorel an die Stelle einer dialektischen Vernunftphilosophie, die die drei Momente in ihrem Vermittlungszusammenhang begrifflich auslegt, die Intuitionsphilosophie Bergsons, in der die Vermittlung verschwindet. Das »Wahre« wird zum rein subjektiven Prinzip, aus dem alle objektiven Momente ausgeschlossen sind. Von einer dialektischen Vermittlung kann nicht mehr die Rede sein. 81

1. Sorel übernimmt den positivistisch verengten Rationalitätsbegriff und läßt als Wissenschaft nur gelten, was sich dem Methodenanspruch des naturwissenschaftlichen Denkens fügt. Nach diesem Maßstab sind alle Theorien von der Geschichte und von der Gesellschaft theoretisch unzulänglich. Sie verfallen dem Ideologieverdacht. Sorel »entlarvt« sie mit Hilfe der positivistischen Ideologiekritik als Lüge und Betrug.127 Seine Polemik gegen den Rationalismus geht jedoch in der positivistischen Ideologiekritik nicht auf. Er bezieht auch noch den Positivismus in seine Kritik ein, denkt ihn radikal zu Ende und leugnet die Möglichkeit von rationaler Theorie überhaupt. Der totalen Destruktion der rationalen Theorie folgt im Gegenzug ihre Restitution als ideologiekritisch gereinigte Ideologie. Das präzise ist, wie sich ergeben wird, der Sinn des Mythos. 2. Mehr noch als seine theoretische Unhaltbarkeit wirft Sorel dem Rationalismus seine sinnzerstörende und glaubenzersetzende Wirkung vor. Seine Kritik an der Theorie geht also in erster Linie aus praktischen Motiven hervor. Er will den Vernunftglauben zerstören und die Aufklärung über ihre skeptizistischen Folgen aufklären, um den heillosen Skeptizismus und die daraus resultierende Herrschaft des Utilitarismus zu brechen. Deshalb sind nach Sorel die diskutierbaren, also bezweifelbaren Theorien des Rationalismus durch undiskutierbare und glaubenskräftige Ideologien zu ersetzen. Tatkräftiges Handeln setzt einen unerschütterlich festen Glauben voraus; ohne Ideologie keine revolutionäre Tat! ». . . les théories contestées sont nécessitées par l'action révolutionnaire.« 128 Die umstrittene Theorie des Marxismus zum Beispiel, die man nicht als Wissenschaft anerkennen darf, hat ihrer ideologischen Funktion wegen große Bedeutung. Als Mythos wäre sie der Sphäre der Rationalität gänzlich entzogen und vor Kontroversen geschützt: »Je me demande s'il ne faudrait pas traiter comme des mythes les théories que les savants du socialisme ne veulent plus admettre et que les militants regardent »comme à l'abri de toute controverse^« 129 Wie deutlich geworden ist, geht Sorel in seiner theoretisch und praktisch motivierten Zurückweisung der rationalen Theorien von zwei Voraussetzungen aus. Er läßt sich einerseits von der Uberzeugung leiten, daß es keine rationale Theorie von der Geschichte geben könne, die imstande wäre, das Handeln nach Vernunftgründen anzuleiten. Andererseits sieht Sorel, daß das Handeln nach wie vor der Orientierung bedarf. Den Tatbestand, daß es keine für das Handeln allgemein verbindliche Theorie geben könne, dieses aber, soll es geschiditswirksam werden, des Sinnvertrauens bedürfe, müsse jeder anerkennen, der sich auf den Boden der Wirklichkeit stelle. Die Wirklichkeit hinnehmen, wie sie unabänderlich ist, und sie dennoch schöpferisch bewältigen, ihr realistisch gegenüberstehen und sie zugleich voluntaristisch übersteigen, das ist nach Sorel die Haltung eines heroischen Pessimis127

»L'œuvre des idéalistes (der rationalen Philosophie) e s t . . . mensonge et duperie . . . « - » . . . les constructions savantes, juridiques et pratiques, prônées à l'heure actuelle par des sociologues plus ou moins socialisants, ne sont que tromperies et fausse science.« - Introduction . . . , S. 373 u. S. 377 128 ebda., S. 377 12 » ebda., S. 376f 82

mus, zu dem er sich bekennt. Diesem Pessimismus und seinen geschichtsphilosophischen Implikationen soll in den folgenden Überlegungen nachgegangen werden. 10. Heroischer Pessimismus und Dekadenz W i e Sorel in der Einleitung zu seinen Réflexions sur la violence schreibt, beruht sein Denken auf einer »conception pessimiste . . . sans laquelle rien de très haut ne s'est fait dans le monde.« 1 3 0 Unter dem Einfluß vor allem der Philosophie Bergsons ist aus der pessimistischen Lebenshaltung eine »métaphysique pessimiste«131 hervorgegangen. Sorel will sie in erster Linie »moralisch« als Ausdruck eines kämpferischen Willens verstanden wissen. Die theoretische Einstellung tritt hinter der praktischen zurück; 1 3 2 das Erkennen wird d e m Willen - der »morale« - untergeordnet, so daß sich die pessimistische »Metaphysik« Sorels darstellt als eine »conception d'une marche vers la délivrance étroitement liée: d'une part, à la connaissance expérimentale que nous avons acquise des obstacles qui s'opposent à la satisfaction de nos imaginations (ou, si l'on veut, liée au sentiment d'un déterminisme social), d'autre part, à la conviction profonde de notre faiblesse naturelle.« 1 8 3 Sorel versucht, seine Vorstellung vom heroischen Pessimismus an konkreten historischen Bewegungen zu verdeutlichen. Besonders geeignet dafür erscheinen ihm das Urchristentum und der Calvinismus des 16. Jahrhunderts. Sie seien paradigmatische Modelle eines »pessimisme pleinement développé et complètement armé.« 1 3 4 Im Urchristentum sei die Überzeugung lebendig gewesen, daß der Mensch dem Bösen verfallen und d a ß »Satan . . . le prince du monde« 1 3 5 sei. Trotz ihrer zutiefst pessimistischen H a l t u n g hätten sich die f r ü h e n Christen jedoch dem Schicksal der Verdammnis nicht fatalistisch ergeben. Davor habe sie die H o f f n u n g auf Erlösung und der W i l l e zum Kampf gegen das Böse bewahrt; »toute cette vie chrétienne f u t dominée p a r la nécessité de faire partie de l'armée sainte.« 1 3 6 Weil sich im Urchristentum die Überzeugung vom Bösen mit dem Erlösungsglauben und -willen verbunden habe, sei es einer heroisch -pessimistischen Lebenshaltung fähig gewesen, »qui suscita beaucoup d'actes héroiques, engendra une courageuse propaganda et produisit un sérieux progrès moral.« 1 3 7 130

131 132 133 134 ,3S 133 137

»Mes Réflexions sur la violence ont agacé beaucoup de personnes à cause de la conception pessimiste sur laquelle repose toute cette étude; . . . je suis heureux de trouver en vous (Daniel Halévy) un correspondant qui ne soit pas rebelle à cette doctrine sans laquelle rien de très haut ne s'est fait dans le monde.« Brief Sorels an Daniel Halévy, als Einleitung in den Réflexions . . . , S. 12f Introduction..., 2. Aufl., S. 401 »Le pessimisme.. est une métaphysique de mœurs bien plutôt qu'une théorie du monde.« - Réflexions . . . , S. 17 ebda., S. 17 ebda., S. 21 ebda., S. 21 ebda., S. 21 ebda., S. 21 83

Nodi instruktiver als das Beispiel des Urdiristentums ist für Sorel das des Calxnnismus. Auch in ihm sei die pessimistische mit einer heroischen Lebenseinstellung zusammengefallen. Das Dogma von der Erbsünde spiegele die Überzeugung der Calvinisten von der Schwäche der menschlichen Natur wider; in der Prädestinationslehre drücke sich das Gefühl von der Einengung der Freiheit durch den sozialen Determinismus aus; im militärisch organisierten Kampf des Calvinismus gegen den Katholizismus schließlich trete der Wille zur Befreiung von der »misère humaine« und vom »déterminisme social« 138 hervor. Daraus erkläre sich, daß »les protestants . . . prenaient. . . l'offensive et voulaient établir le royaume de Dieu par la force.« 139 Alle religiösen, geistigen und sozialen Bewegungen büßen nach Sorel dann ihre »moralische« Kraft ein, wenn sie den für den heroischen Pessimismus kennzeichnenden Zusammenhang von Freiheit und Notwendigkeit, von Heroismus und Pessimismus, auflösen. Oder umgekehrt: wenn ihre »moralische« Kraft schwindet, dann geben sie ihre heroisch-pessimistische Lebenshaltung auf. Entweder entarten sie zu einem Optimismus, in dem das pessimistische Moment, das Gefühl für die Wirklichkeit, fortfällt; oder sie verfallen einem Fatalismus, in dem das heroische Moment, der Wille zur Freiheit, untergeht. Der Optimismus ignoriere die Schwäche der menschlichen Natur sowie die unaustreibbare Neigung zur Mittelmäßigkeit in allen Gestalten des geschichtlichen Lebens. Er glaube, mit den politischen oder sozialen Verhältnissen auch die Natur des Menschen selber verändern zu können. Ein in solchen Illusionen befangener realitätsfremder Optimist verhalte sich gegenüber seinen politisch-sozialen Kontrahenten notwendig terroristisch oder pazifistisch: terroristisch dann, wenn er das Gute zu realisieren trachte und die Gegner seines illusionären Vorhabens als Inkarnation des Bösen im Namen des Guten brutal vernichte,140 pazifistisch dann, wenn er an einen sich gleichsam selbsttätig vollziehenden Fortschritt in der Geschichte glaube; nun erscheine ihm der Kampf gegen das Böse und die Selbstopferung für das Gute überflüssig. »L'optimiste passe, avec une remarquable facilité, de la colère révolutionnaire au pacifisme le plus ridicule.«141 Nicht anders als der pazifistische Optimismus gehe auch der Fatalismus von der Annahme aus, daß die geschichtliche Entwicklung einer unbeeinflußbaren Gesetzmäßigkeit unterworfen sei. Auch er verzichte — aus Resignation statt aus Illusion - auf die tätige Mitgestaltung der Gesellschaftsordnung. Er stehe tatenlos, jedoch nicht folgenlos den sozialen Kämpfen fern. Durch seinen Eskapismus überlasse er die Welt ihrem Schicksal. In seinen praktischen 1M 140

141

ebda., S. 22 ebda., S. 23 »L'optimiste est, en politique, un homme inconstant ou même dangereux, parce qu'il ne se rend pas compte des grandes difficultés que présentent ses projets... il est tenté de faire disparaître les gens dont la mauvaise volonté lui semble dangereuse pour le bonheur de tous. Pendant la Terreur, les hommes qui versèrent le plus de s a n g . . . et qui avaient le plus de sympathies pour les misères humaines: optimistes, idéalistes et sensibles... se montraient d'autant plus inexorables qu'ils avaient une grande soif du bonheur universel.« - ebda., S. 15ff ebda., S. 16

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Konsequenzen unterscheide sich der Fatalismus nicht vom pazifistischen Optimismus. Beide, die optimistischen und die fatalistischen Theorien, sind f ü r Sorel ideologische Konstruktionen eines unheroischen Denkens, willkommen geheißen von allen willensschwachen und kampfesmüden Gruppen oder Klassen. Ihre Verbreitung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei ein Indiz f ü r die Feigheit und Verweichlichung der Bourgeoisie. 142 U m die kämpferisch -schöpferischen Instinkte wieder zu wecken, gelte es, den deterministischen Theorien revolutionäre Mythen entgegenzusetzen. Die Vorwürfe, die von der (optimistischen oder fatalistischen) Philosophie gegen die Mythenlehre e r hoben würden, »ne sauraient faire impression que sur les hommes qui sont heureux d e trouver un prétexte pour abandonner >tout rôle actif< . . .« 1 4 3 F ü r den recht verstandenen, den heroischen Pessimismus, den Sorel scharf vom resignativen Pessimismus trennt, ist demnach ein »Wille zur Befreiimg« konstitutiv, ein heroischer Wille, der, von einem »sentiment de lutte« begleitet, d e m Menschen genügend Kraft verleihe und ihn mit Befriedigung erfülle »pour entretenir son ardeur.« 1 4 4 Vom Willen zur Befreiung ist nadi Sorel jedoch nicht nur die kämpferische Bewältigung, sondern auch die theoretische Durchdringung der Wirklichkeit abhängig: »L'homme n'irait pas loin dans l'examen, soit des lois de sa misère, soit de la fatalité, qui choquent tellement la naivité de notre orgueil, s'il n'avait l'espérance de venir au bout de ces tyrannies par un effort qu'il tentera avec un groupe de compagnons.« 145 Der von Sorel in seiner métaphysique pessimiste entfaltete heroische Pessimismus zeigt nunmehr seinen wirklichen Charakter und entpuppt sich als eine zur Weltanschauung degenerierte Philosophie. Sie bestreitet aus der Perspektive eines positivistisch reduzierten Wissenschaftsbegriffs der Philosophie ihren Anspruch, verbindliche Theorie zu sein, und ersetzt sie durch ein plurale tantum von »weltanschaulichen« Philosophien. A n die Stelle der einen Philosophie treten, wie es bei Dilthey heißt, »die T y p e n der Weltanschauung«. 14® Die »weltanschaulichen« Philosophien entziehen die politisch-gesellschaftliche Realität der Zuständigkeit rational-philosophischer Theorie; sie erklären sie zu einem Bereich theorieunfähigen, lebensmäßig-irrationalen, eben »weltanschaulichen« Bekenntnisses. Ebenso wie in der politischen Philosophie in Deutschland war in Frankreich u m 1900 dieser Prozeß der Auflösung der Philosophie in Weltanschauungen bereits erstaunlich weit voran142

vgl. weiter unten, S. 134 ff ebda., S. 39 144 »L'expérience de cette grande époque (des Calvinismus im 16. Jahrhundert) montre fort bien que l'homme de cœur trouve, dans le sentiment de lutte qui accompagne cette volonté de délivrance, une satisfaction suffisante pour entretenir son ardeur.« - ebda., S. 24 145 ebda., S. 19 146 Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie. Ges. Schriften, VIII. Bd., Leipzig und Berlin 1931, S. 73ff: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen 148

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geschritten. 1 " Philosophie ist dann nicht mehr Theorie der Wirklichkeit, sondern nur nodi Ausdruck für die Subjektivität ihres Subjektes. »Ihr eigentlicher Inhalt ist dann nicht die Sache, von der sie spricht, sondern das Fühlen, Wünschen und Wollen ihres Autors, das sich eine pseudotheoretische Gestalt gibt, die Funktion dieses Fühlens, Wünschens und Wollens ist.«148 Sorel faßt wie jede »weltanschauliche« Philosophie so auch seine eigene Theorie als Ausdruck eines bestimmten Fühlens und Wollens auf. Von seinen Prämissen aus ist die Kritik am Optimismus, der einer illusionären, und am Fatalismus, der einer resignativen Lebenshaltung folgt, genauso konsequent wie das Bekenntnis, daß seinem eigenen Denken ein heroisches Wollen und ein pessimistisches Fühlen zugrunde liege. Das Zugeständnis des subjektiven Gehaltes seiner Theorie verbindet sich jedoch, nun im Widerspruch zur eigenen Voraussetzung, mit dem Anspruch auf eben die objektive Gültigkeit, die den rational-philosophischen Theorien bestritten wird. Denn Sorel macht neben der angeblich »moralischen« auch eine »theoretische« Überlegenheit seiner Theorie gegenüber dem Rationalismus geltend. Er unterstellt, daß nur der heroische Pessimismus fähig sei, frei von Illusion und Resignation, die beide den Blick für die Wirklichkeit trüben, die bewegenden Kräfte in der Geschichte in ihrem wahren Charakter zu erkennen. Weil das Denken von einer heroisch-pessimistischen Haltung geleitet werde, erschließe sich ihm die Realität; weil es die Wirklichkeit realiter durchdringe, bilde es die ihr einzig adäquate Theorie, die des heroischen Pessimismus, aus. Der heroische Pessimismus begründet sich also durch sidi selbst. Diese Zirkelstruktur seines eigenen Denkens hat Sorel nie reflektiert. Einen solchen Einwand hätte er zweifellos als »rationalistische« Spitzfindigkeit zurückgewiesen. Nicht minder belanglos, so darf man vermuten, wäre Sorel der Einwand erschienen, daß sich seine Annahme von der rein subjektiven Bedingtheit aller Theorien nicht ohne logischen Widerspruch begründen läßt. Sorel führt in seiner Ideologiekritik alle Philosophien auf die sie hervortreibende »Moral« zurück. Er wendet als ein heuristisches Prinzip dasselbe Enthüllungsverfahren an, dessen sich auch Nietzsche bediente: »In der Tat, man tut gut (und klug), zur Erklärung davon, wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen eines Philosophen zustande gekommen sind, sich immer erst zu fragen: auf welche Moral will es (will er - ) hinaus?« 149 Die Möglichkeit objektiv-gültiger Theorien von der Geschichte wird bestritten: alle Geistesgebilde gingen aus einem irrationalen Prinzip hervor und hingen auch in ihrer Erkenntnisleistung vom subjektiven Wollen ab. Sorel »überführt« sie, soweit sie sich rational-objektiv geben, des Dogmatismus. Keine Theorie könne sich rational begründen. Sorel erhebt aber den Anspruch, mit dieser Aussage eine objektiv gültige Feststellung zu treffen. Nach den Voraussetzungen seines eigenen Denkens müßte aber auch die Aussage, daß alles Denken und jede Theorie im subjektiven Wollen gründet, subjektiv bedingt und unverbindlich bleiben. Ein solcher Nachweis negiert, was er beweisen will, und hebt sich selbst auf. Diesem logischen Zwang hat auch Sorel nicht ent147 148 l4
gut< bestimmen, sind es die erhobenen stolzen Zustände der Seele, welche als das Auszeichnende und die Rangordnung Bestimmende empfunden werden. Der vornehme Mensch trennt die Wesen von sich ab, an denen das Gegenteil solcher Zustände zum Ausdruck kommt: er verachtet sie . . . - Es steht anders mit dem zweiten Typus der Moral, der Sklaven-Moral . . . Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden des Mächtigen... Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeitsmoral.« - Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, a.a.O., II. Bd., S. 7S0ff 1M Réflexions . . . , S. 355 157 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum, a.a.O., II. Bd., S.1228 158 vgl. weiter unten, S. 103 ff ls * Sorel widmete sein Buch Matériaux ... seinem Freund, dem syndikalistischen Sozialisten Paul Delesalle: »Que mes chers camarades Paul et Léona Delesalle acceptent l'hommage de ce livre écrit par un vieillard qui s'obstine à demeurer comme l'avait fait Proudhon un serviteur désintéressé du prolétariat.«

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Der Konsumentenmoral beziditigt Sorel alle diejenigen, die nicht unmittelbar oder jedenfalls mittelbar für die ökonomische Produktion tätig sind. Sie alle nämlich konsumieren, ohne zu produzieren; sie fliehen vor der Anstrengung der Arbeit in ein genußreiches Leben; sie entziehen sich den harten Bedingungen der menschlichen Existenz. Zu den vielfältigen Erscheinungsformen parasitären Daseins - also der Konsumentenmoral — zählt Sorel die ekstatischen Askese-Bewegungen des Orients, die Stoa, den Neu-Platonismus, die Gnosis und die mittelalterliche Mystik. Ihnen allen gemeinsam sei das Bestreben, »de s'affranchir des charges de la matière.« 180 Diese religiösen und halbreligiösen Formen der Weltflucht versuchten, asketisch durch Abtötung des Körperlichen dem Schmerz zu entrinnen. Als Abkehr vom Lebenskampf und damit als eine »morale de faibles« 191 deutet Sorel auch die eudämonistische oder die hedonistische Flucht vor dem Schmerz. Was die religiöse Askese im Jenseits, das versuche die eudämonistische Lust-Ekstase im Diesseits zu erreichen: Leben ohne Schmerz, ohne Anstrengung, ohne Arbeit und ohne Kampf. Diesem Drange folgend, habe der menschliche Schöpfergeist immer neue Möglichkeiten der Lustbefriedigung erfunden: »Les méthodes les plus communes employées pour nous affranchir de la douleur«162 seien der Alkoholismus, die Erotik, die »plaisirs de gourmandise«,163 der Luxus und die Distraktionen des bürgerlichen Lebens. Wie der Untergang der griechischen Polis und des römischen Reiches bewiesen habe, träten in Zeiten des Verfalls die asketischen und hedonistischen Fluchtbewegungen massiv hervor. Sie verdrängten die Bereitschaft zum Krieg und das Interesse an der Produktion. Dieser Wandel vollziehe sich zuerst in der herrschenden Klasse, die danach strebe, »à s'assurer une douce existence . . . On peut dire que nous sommes ici sur le terrain de la morale des consommateurs.«184 Dem Gegenbegriff zur Konsumentenmoral, der Produzentenmoral, widmet Sorel in seinen Réflexions sur la violence ein ganzes Kapitel.165 Die Produzentenmoral bildet den Grundbegriff des spezifisch Sorelschen »Sozialismus« oder dessen, was er seine »philosophie de producteurs«,168 »philosophie de mœurs« 167 oder auch »philosophie morale« 1,8 nennt. Sozialismus, Produktion, Sittlichkeit und Moral sind im Denken Sorels Synonyme; sie alle sind »moralische« Faktoren. Zu ihnen zählen auch der Krieg, die proletarische Revolution und die Gewalt. Sorel nimmt in seinen Begriff der Produzentenmoral die von Nietzsche der Herrenmoral zugeordneten aristokratisch-kriegerischen Tugenden auf. Auch er verherrlicht den »type achéen, chanté par Homère, le héros indompté, con1,0 161 le! 188 184

165 188 187 188

Introduction . . . , S. 406 Réflexions . . . , S. 367 Introduction . . . , S. 405 ebda., S. 413 Réflexions..., S. 365

VII. Kapitel: La morale des producteurs, S. 331-389

»Le socialisme est une philosophie de producteurs.« - Ruine . . . , S. 311 Illusions . . . , S. 335 ebda., S. 335

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fiant dans sa force et se plaçant au-dessus des règles.« 1M Mit dem Gloriensdiein homerischer Helden umgibt er aber auch die Produzenten - die »kapitalistischen Industriekapitäne« und die »proletarischen Künstler-Arbeiter«. Sein Sozialismus ist das Ergebnis einer Verbindung von kämpferischen und produktiven Tugenden, von Aristokratie und Proletariat, von Kriegern und Arbeitern; in ihm verschmelzen Elemente der Lehre Nietzsches mit denen Proudhons und Marxens. Auf den »Sozialismus« Sorels wird noch ausführlich einzugehen sein. In dem hier behandelten geschichtsphilosophisdien Zusammenhang interessiert nur die Bedeutung der Produzentenmoral für seine Geschichtsauffassung. Folgt man den Ausführungen Sorels, dann vollbringt der Mensch in seinem Kampf gegen den Schmerz durch die Produzentenmoral eine übernatürliche, ja sogar naturwidrige Leistung. Die Produzentenmoral impliziert den selbstlosen Kampf und die disziplinierte Anstrengung der Arbeit. Im Kampf und in der Arbeit wird der Schmerz nicht eliminiert, sondern ausgehalten. Die Produzentenmoral widerstrebt also der innersten Tendenz des Lebens selber, »notre nature cherchant toujours à s'échapper vers la décadence.« 170 Sie richtet sich gegen den Lebenstrieb, der dem Schmerz zu entfliehen sucht; sie gehorcht jedoch dem entgegengesetzten Trieb, das Leben zu steigern. Umgekehrt die Konsumentenmoral: sie verneint die Selbststeigerung des Lebens und gefährdet damit seine Selbsterhaltung. Sie folgt den »tendances les moins pénibles, les plus fortes et les plus générales de l'esprit humain.« 171 Auf eine einfache Formel gebracht heißt das: die Produzentenmoral ist immer erzwungen, die Konsumentenmoral dagegen »natürlich«. Dasselbe gilt für die »notions de grandeur et de décadence«, 172 die den Begriffen von Genie und Mediokrität oder von Produzentenmoral und Konsumentenmoral zuzuordnen sind. Die Übermacht dieser über jene hat zur Folge, daß » . . . les mouvements vers la décadence (sont) toujours naturels; notre nature est invinciblement portée à ce que les philosophes de l'histoire regardent comme mauvais . . .« 173 Die »normale« Bewegung der Geschichte führt hin zur Dekadenz, zur Herrschaft der Mediokrität, »que les écrivains politiques nomment démocratie; il est donc démontré que l'histoire réclame l'introduction de la démocratie.« 174 Der Aufbruch »moralischer« Erneuerungsbewegungen oder gar ihr Durchbruch in einer Geschichte, die im allgemeinen zum Verfall führt, stellt sich für Sorel demnach dar als ein heroischer Aufstand gegen den »natürlichen« Zustand der Gesellschaft und gegen den »normalen« Verlauf des Geschehens. Es ist dies die nur durch höchste Anstrengung mögliche und stets erzwungene Bewegung zur historischen Größe; »cette grandeur historique serait une exception contre laquelle lutterait l'humanité.« 175 Je intensiver dieser Deka1M 170 171 17S 174 175

Réflexions . . . , S. 359 Matériaux . . . , S. 138 Illusions . . . , S. 133 ebda., S. 317 vgl. weiter oben, S. 35, Anm. 53 Illusions . . . , S. 333 ebda., S. 307

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denz-Charakter der Geschichte ins Bewußtsein tritt, das heißt, je stärker sich der Pessimismus meldet, desto dringlicher und gebieterischer muß der Aufruf zum heroischen Kampf gegen die Dekadenz erscheinen. Immer sind, wie es für den Bereich der deutschen Weltkriegs- und Nachweltkriegsliteratur in jüngster Zeit Geißler 178 nachgewiesen hat, Dekadenz und Heroismus aufeinander bezogen. Beide Begriffe lassen sich polar gegenüberstellen.177 Im heroischen Pessimismus Sorels kommt der Umbruch des Geschichtsverständnisses an der Jahrhundertwende zum Vorschein. Der Fortschrittsglaube des 18. und 19. Jahrhunderts hatte seine Kraft eingebüßt. Die negativen, die verdinglichenden Konsequenzen des Rationalisierungsprozesses traten immer stärker ins Bewußtsein. Diesen Begleiterscheinungen der Entwicklung zur modernen Industrie- und Massengesellschaft wurde der Fortschrittsoptimismus nicht mehr gerecht. Aber auch der in Reaktion gegen ihn sich ausbreitende Kulturpessimismus entsprach nicht der realen Entwicklung; seine Untergangsprognosen standen im Widerspruch zum ungestüm vorwärtsdrängenden technisch-industriellen Fortschritt. Sorel glaubte, indem er die Unzulänglichkeit von Fortschrittsoptimismus und von Kulturpessimismus aufdecke, eine den ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen seiner Gegenwart angemessene Position gewonnen zu haben. Dem Fortschrittsoptimismus gegenüber wies er historisch auf die geistige und gesellschaftliche Krisensituation und anthropologisch auf die Unabänderlichkeit der menschlichen Natur hin. Dem Kulturpessimismus gegenüber machte er den technisch-industriellen Fortschritt und die Latenz »moralischer« Kräfte in der gegenwärtigen Gesellschaft geltend. Der zugleich den Bedingungen seiner Zeit verhaftete und ihnen entrückte Pessimismus Sorels, seine heroisierende Umdeutung der Krise und sein heroisches Trotzdem stehen am Anfang und am Ende seiner Geschichtstheorie und auch seiner politischen Theorie. Der heroische Pessimismus formt seine Theorie, die Theorie verstärkt seinen heroischen Pessimismus. Beide sind Ausdruck der Krisensituation, gegen die sie aufgeboten werden. Gegen das schicksalhaft empfundene Absinken der Geschichte in die Dekadenz erhebt sich der heroische Wille, der, paradox genug, selbst eine schicksalhafte Macht des dunklen Lebens sein und dennoch voluntaristisch aktiviert werden soll.

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Rolf Geißler, Dekadenz und Heroismus. Zeitroman und völkisdi-nationalsozialistische Literaturkritik, Stuttgart 1964 Jean Wanner, Georges Sorel et la décadence. Essai sur l'idée de décadence dans la pensée de Georges Sorel, Lausanne 1943 91

III. Mythos und Gewalt als Therapie der Krise

Das Denken Sorels hat seinen Antrieb aus der geistigen und gesellschaftlichen Krise seiner Zeit erfahren. Um einen Einblick in den Charakter der Krise zu gewinnen und einen Ausweg aus ihr zu weisen, hat Sorel die bewegenden Kräfte in der Geschichte analysiert. Seine daraus hervorgehende Theorie von den lois de la grandeur et de la décadence ist, wie sidi erwiesen hat, in ihrem Kern psychologisch. Ihr liegen psychologisdi-gesdiichtsphilosophische Prämissen zugrunde, durch die das Ergebnis der konkreten historischen Untersudrangen weitgehend vorweggenommen wird. Nur vor dem Hintergrund der Geschichtstheorie wird der innere Zusammenhang von Diagnose und Therapie der Krise oder von Rationalismuskritik und Mythoslehre durchsichtig. Sie erst schließt das disparate Werk Sorels zu einem Ganzen zusammen. Durch die Rekonstruktion der von Sorel nie zusammenhängend dargestellten Geschichtstheorie lösen sich viele der zum Teil nur scheinbaren Widersprüche auf, oder sie werden verständlich. Der erste Eindruck der Konfusion tritt hinter dem einer erstaunlichen Geschlossenheit und Konsequenz des Sorelschen Denkens zurück. Wie unentbehrlich die Kenntnis dieser Gesdiichtstheorie für eine sachgemäße Interpretation der Krisendiagnose Sorels ist, haben die bisherigen Erörterungen bereits gezeigt. Der Rationalismus wird deshalb auf die Seite der Dekadenz verwiesen, weil er als Ausdruck der psychologisch bestimmten evasiven Tendenz des menschlichen Lebens gedeutet wird. Das ist im einzelnen auf den positivistisch-dezisionistischen Ansatz und auf die dadurdi mitbedingte heroisch-pessimistische Lebenshaltung Sorels zurückzuführen. Nach der von diesen Grundvoraussetzungen und somit von der Krise selbst geprägten Geschiditskonzeption geht die Geschichte insgesamt aus dem irrational-mystisdien Leben hervor. Alle religiösen, geistigen und sozialen Bewegungen haben ihren Ursprung im Antagonismus des Lebens. In ihnen manifestieren sich, allem menschlichen Tun und Denken Richtung gebend, der schöpferische oder der diesem entgegengesetzte evasive Lebenstrieb. Auch die in der Lehre vom Mythos und von der Gewalt gipfelnde politische Theorie Sorels kann nicht ohne ihre geschichtsphilosophischen Prämissen erklärt werden. Sie ist nur zu verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Sorel die nach ihm theoretisch und praktisch unvollendbare Geschichte als eine ewig sprunghafte und durch Zufälle bestimmte Bewegungsfolge von Größe und Dekadenz auffaßt. Das, was geschaffen ist, hat in sich die Tendenz zu verfallen; das, was schafft, hat in sich die Tendenz zu ermüden. Aus dieser Grundkonzeption leitet sich folgerichtig die ständige Notwendigkeit von höchster Anstrengung, selbstlosem Kampf und Heroismus ab. Das Er-

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lahmen der heroischen Kräfte hat die Krise heraufbeschworen; nur ihre M o bilisierung vermag sie zu überwinden. Diese Erkenntnis allein gilt als absolut gesichert. J e d e darüber hinausreichende Frage nach dem Ziel und Sinn der Geschichte allgemein sowie des konkreten sozialen Handelns rückt in den Bereich des Mythischen. F ü r Sorel stellt sich somit das Problem, wie unter den spezifischen Bedingungen seiner Gegenwart die heroisch-pessimistische Lebenshaltung wiedererweckt, wie sie in weltgestaltendes und welterneuerndes H a n d e l n umgesetzt werden kann. Von diesem Leitmotiv bewegt, tritt Sorel in die geistigen und sozialen Kämpfe seiner Zeit ein. E r folgt dem G a n g der politischen Ereignisse, die zum Gegenstand seiner engagierten Polemik oder seiner E r w a r tungen werden. Die ständige Auseinandersetzung mit ihnen verleiht seiner politischen Theorie erst ihre konkrete Gestalt. W a s f ü r die politische Philosophie allgemein gilt, das trifft auch f ü r die Sorels zu: Sie partizipiert am Charakter ihrer Epoche, sofern sie die aus der geistigen und gesellschaftlichen Krise resultierenden großen Konflikte im Hinblick auf die gesamteuropäische Geistesentwicklung bedenkt; sie ist n u r von ephemerer Bedeutung, sofern sie sich in tagespolitischen Fragen verliert. Sorel hat die Lehre vom Mythos und von der Gewalt zusammenhängend vor allem in seinem Hauptwerk, den Réflexions sur la violence1 entwickelt. Sie ist in seiner im folgenden noch zu umreißenden syndikalistischen Phase entstanden u n d von ihm selber als Theorie des revolutionären Syndikalismus a u f g e f a ß t worden. »Les Réflexions sur la violence sont une philosophie morale fondée sur l'observation des faits qui se produisaient dans le syndicalisme révolutionnaire.« 2 Der revolutionäre Syndikalismus hat seine eigenen Ziele nicht erreicht und auch die Hoffnungen Sorels nicht erfüllt. Er ist, im großen geschichtlichen Zusammenhang gesehen, historisch nicht erfolgreich gewesen. Sein Scheitern wurde schon bald nach dem Erscheinen der Réflexions . . . offenbar. Nachdem seine revolutionäre Kraft versiegt war, hat sich Sorel von ihm abgewandt, ohne j e einen nennenswerten Einfluß auf die Ausbildung seiner Theorie oder auf den Verlauf seiner Entwicklung erlangt zu haben. 8 Mit dem revo1

Die Réflexions sur la violence sind zuerst als Artikel-Folge in der der syndikalistischen Bewegung nahestehenden Zeitschrift »Le Mouvement socialiste« erschienen; (Januar bis Juni 1906) - Sie begründeten den Ruhm Sorels. Sein mit Abstand wichtigstes Buch erreichte insgesamt elf Auflagen. - 1. Aufl. 1908; 2. Aufl. 1910; 3. Aufl. 1913; 4. Aufl. 1919; 5. Aufl. 1921; 6. Aufl. 1925; 7. Aufl. 1930; 8. Aufl. 1935; 9. Aufl. 19 ..; 10. Aufl. 1946; 11. Aufl. 1950. Übersetzungen: russisch 1907; italienisch 1909; englisch 1914; spanisch 1915; deutsch und japanisch 1928. 1 Illusions . . . , S. 335 * »M. Philippe Serre a déclaré tenir d'>un des membres les plus représentatifs de la C.G.T.< que, dans ce milieu, on ne trouverait pas une demi-douzaine de militants ouvriers ayant lu les Réflexions sur la violence. Ph. Serre, Les atteintes à la notion traditionelle de l'Etat, thèse, Droit, Paris 1925. De même M. R. Louzon, bien placé pour en juger, écrit: >L'influence de Sorel sur la formation et le développement du syndicalisme révolutionnaire fut nulle.< Vie Ouvrière, 8 septembre 1922.« - Gaétan Pirou, a.a.O., S. 37f »Si Georges Sorel rencontrait certains militants, il n'était pas lu par eux. A. Merrheim ne le connaît pas; Victor Griffuelhes protestait toujours lorsqu'on 93

lutionären Syndikalismus verschwand aber nicht die in bezug auf ihn entfaltete Lehre vom Mythos und von der Gewalt. Sie gewann, auf andere politische Bewegungen einwirkend, zunehmend an Einfluß. Wie Sorel schon 1910 richtig vorausgesehen hatte, war sie »appelée à occuper un rang très honorable dans l'histoire de la pensée moderne. De nouvelles séries de hasards ont été peu favorables au progrès des idées que j'ai proposées sur le syndicalisme; mais j'ai des raisons de croire que les doctrines des Réflexions sur la violence mûri(s)sent dans l'ombre; elles ne seraient, sans doute, pas si souvent dénoncées comme perverses par les sycophantes de la démocratie si elles étaient impuissantes.« 4 Der revolutionäre Syndikalismus hat entscheidend auf die Entstehung der Mythos- und Gewaltlehre eingewirkt. Seine Theorie und Praxis haben sich zwar unabhängig von Sorel entwickelt; sie sind ihm nicht verpflichtet, »par contre, Sorel leur doit tout, car il y a trouvé les éléments qui lui ont permis de donner une forme concrète à la doctrine sociale qui résultait des principes philosophiques qu'il avait posés.«8 Der Anti-Rationalismus und heroische Pessimismus Sorels haben sidi erst bei der Interpretation des revolutionären Syndikalismus zur Theorie vom Mythos und von der Gewalt verdichtet. Deshalb ist es unerläßlich, neben den allgemeinen philosophischen Voraussetzungen und den großen geistesgeschichtlichen Zusammenhängen die Bedeutung des revolutionären Syndikalismus für die Entstehung der Lehre vom Mythos und von der Gewalt aufzuzeigen. 11. Der revolutionäre Syndikalismus Für die Entstehung und vorübergehende Bedeutung des revolutionären Syndikalismus in Frankreich lassen sich viele Gründe anführen: die besondere politische, soziale und ökonomische Situation der III. Republik, die stark von Saint-Simon, Fourier und Proudhon geprägte Tradition des sozialistischen Denkens in Frankreich und die ideologischen Auseinandersetzungen in der II. Internationale. Über das Zusammenwirken dieser Faktoren und die Eigenart des revolutionären Syndikalismus unterrichtet eine sehr umfangreiche Literatur 8 viel eingehender, als es in diesem Zusammenhang möglich und lui parlait de l'influence s o r é l i e n n e E d o u a r d Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, 1871-1936, 2. Bd., Paris 1939, S. 126 » . . . it is quite a mistake to suppose that Sorel had any considerable influence on the development of the Syndicalist movement, or even on the growth of its ideology. The Syndicalist leaders never accepted Sorel's conception of the general strike as a >social myth«. Though they agreed with much that he said on behalf of their movement, they rightly considered that he had taken his ideas from the movement, rather than imposed them upon it.« - G. D. H. Cole, A History of Socialist Thought, III. Vol., Part I, London 1956, S. 382 4 Georges Sorel, Mes raisons du syndicalisme, zuerst erschienen in Divenire sociale, Rom 1910; zitiert nadi M a t é r i a u x . . S . 286 6 Robert Louzon, Einführung in: Georges Sorel, Lettres à Paul Delesalle, a.a.O., S. 16 • Neben den bereits erwähnten Werken von Edouard Dolléans und G. D. H. Cole vgl. besonders: J. Braunthal, Gesdhidite der Internationale, 2 Bde., Hannover

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erforderlich wäre, in dem es gilt, sich auf einige für das Verständnis Sorels wichtige Grundzüge der syndikalistischen Bewegung zu beschränken. Kennzeichnend für die gesamte französische Arbeiterbewegung in den Jahrzehnten nach der Niederlage der Pariser Kommune war ihre organisatorische Zersplitterung. Zahllose entweder nach Berufsgruppen gegliederte oder bloß lokal organisierte gewerkschaftliche Gruppierungen und zeitweilig bis zu fünf miteinander rivalisierende sozialistische Parteien 7 bemühten sich um Einfluß in der Arbeiterschaft. Den gewerkschaftlichen Organisationen gelang im Jahre 1895 der zunächst allerdings nur lockere Zusammenschluß in der Confédération Générale du Travail (C.G.T.). Die sozialistischen Parteien vereinigten sich nadi häufigen Fusionen und Spaltungen schließlich 1905 in dem Parti Socialiste, Section Française de l'Internationale Ouvrière (S.F.I.O.). Nie jedoch ist es in Frankreich - wie in England und besonders in Deutschland zu einer engen Verbindung von Gewerkschafts- und Parteisozialismus gekommen. Beide standen sich mißtrauisch und seit dem Eintritt Millerands (1899) in das Ministerium Waldeck-Rousseau sogar in oft heftiger Feindschaft gegenüber.8 »Der Syndikalismus - die Theorie der ausschließlich gewerkschaftlichen Aktionen - war die Frucht der Enttäuschung der Arbeiter über die politische Aktion als eine Methode für die Lösung der sozialen Frage.« 9 Die Syndikalisten stellten sich dem parlamentarischen Sozialismus nicht nur etwa des reformistischen Parti Socialiste Français um Jean Jaurès, sondern auch des revolutionären Parti Socialiste de France um Jules Guesde und der aus diesen beiden Parteien hervorgehenden S.F.I.O. entgegen. Das Streben der sozialistischen Parteien nach Macht im Parlament erschien ihnen zwecklos, ja sogar von Übel. Jede, auch die nur taktische Zusammenarbeit mit den fortschrittlichen bürgerlichen Parteien hemme den Klassenkampf; sie zermürbe die revolutionäre Kraft des Proletariats und korrumpiere die sozialistische Bewegung. Die sozialistischen Parteien würden von Opportunisten als Sprungbrett für ihre politische Karriere mißbraucht, die Arbeiter hintergangen. Die Erfahrung habe gezeigt, daß die sozialistischen Führer, wie zum Beispiel Millerand, Viviani und Briand, einmal an die Macht gelangt, die Interessen des Proletariats ihrem eigenen Vorteil opferten. Gegen diesen Verrat gelte es sich zu schützen. Der seinem Wesen nach um politische Machtpositionen ringende und deswegen notwendig den Verrat begünstigende Parteisozialismus müsse bekämpft werden. Nur die in Gewerkschaften organisierte Arbeiter1961 u. 1963; Georges Lefranc, Le syndicalisme en France, Paris 1953 (51966); Ausführliche Literaturangaben finden sich bei Cole (Vol. III, Part II, S. 986ff) und Braunthal (Bd. 1, S. S78ff) 7 Parti Ouvrier Français (Jules Guesde); Parti Socialiste Révolutionnaire (Blanquisten um Edouard Vaillant); Parti Ouvrier Socialiste (Jean Allemane); Fédération des Travailleurs Socialistes (Possibilisten um Paul Brousse); Socialistes Indépendants (um Jaurès und Millerand) 8 »The French situation... differed sharply from the German. In Germany, the Trade Unions were, and remained, the docile followers of the Social Démocratie Party... In France, the Trade Unions found in Syndicalism a philosophy and a programme of their o w n . . . « - G. D. H. Cole, a.a.O., S. 353 • J. Braunthal. a.a.O., S. 294

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Schaft könne sidi durch direkte Aktion, »sans passer à travers des intermédiaires politiques ou bourgeois«,10 von der kapitalistischen Herrschaft befreien. Träger des von solchen Überzeugungen beherrschten revolutionären Syndikalismus war seit dem Jahre 1902 die C.G.T. geworden. Ihre Verschmelzung mit der Fédération Nationale des Bourses du Travail (F.N.B.T.) auf dem Kongreß in Montpellier gilt als der Beginn der »période héroïque« (1902-1909) des revolutionären Syndikalismus.11 Sein Versuch, durch eine Serie zumeist blutig niedergeschlagener Streiks den Staat nicht zu erobern, sondern zu zerschlagen und ein »staatenloses, auf Gewerkschaften beruhendes, sozialistisches Gemeinwesen«12 zu errichten, ist fehlgeschlagen. Mit der Verhaftung der prominentesten Gewerkschaftsführer (Victor Griffuelhes, Emile Pouget und Georges Yvetot), dem Scheitern des Postarbeiterstreiks und der Auflösung des Eisenbahnerstreiks in den Jahren 1908 bis 1910 geriet die französische Gewerkschaftsbewegung in eine schwere Krise. Innerhalb des französischen Sozialismus sind die Erinnerungen an die »heroische Periode« und die vor allem von Fernand Pelloutier begründete Theorie des revolutionären Syndikalismus noch lange lebendig geblieben.13 Der Name Fernand Pelloutiers ist mit dem Aufstieg der Bourses du Travail verknüpft.14 Die Arbeiterbörsen, ursprünglich Arbeitsvermittlungsämter auf lokaler Ebene, eingerichtet von Arbeitern für Arbeiter, entwickelten sich allmählich zu »Zentralpunkten des gesellschaftlichen und politischen Lebens der Arbeiterbewegung«. 15 Der ersten Arbeiterbörse in Paris (1887) folgten rasch weitere in allen großen Städten Frankreichs. Sie schlössen sich 1892 zur F.N.B.T. zusammen. Pelloutier war seit 1894 ihr Sekretär. Er vereinigte die Konförderation der Arbeiterbörsen mit der C.G.T. Dadurch legte Pelloutier die organisatorischen Grundlagen für die syndikalistische Phase der französischen Gewerkschaftsbewegung.18 Seine ganz und gar von Proudhons De 10

Pierre Andreu, a.a.O., S. 150; - Die action directe hat im »Gegensatz zur Taktik des Unterhandelns, der gegenseitigen Verständigung, des Instanzenweges und des Vertretersystems die Tendenz,... die bessere Lebenshaltung des Arbeiters u n d . . . die Emanzipation des Proletariats von Kapitalismus und Zentralisation durch unmittelbare Selbsthilfe zu bewirken.« - Erich Mühsam, Die direkte Aktion im Befreiungskampfe der Arbeiterschaft. In: Generalstreik, Monatsbeilage des Freien Arbeiters, Jhg. I, Okt. 1905, zitiert nach J. Braunthal, a.a.O., S. 294; - Die C. G. T. gab (seit dem 15.1.1908) eine Wochenzeitung mit dem

Titel L'Action directe

heraus.

vgl. u.a.: G.D.H.Cole, a.a.O., S.S56ff; - Georges Goriély, a.a.O., S. 197; Robert Louzon, Einführung in Briefe Sorels an Delesalle, a.a.O., S. 16 " J. Braunthal, a.a.O., S. 294 1 8 vgl. dazu besonders: Eugen Naef, Zur Gesdiidite des französischen Syndikalismus, Zürich 1953 1 4 vgl. zu Pelloutier: Maurice Pelloutier, Fernand Pelloutier: sa vie, son œuvre, 1867-1901, Paris 1911; - Die wichtigste Schrift Pelloutiers, zu der Sorel ein Vorwort sdirieb: Fernand Pelloutier, Histoire des Bourses du Travail, Paris 1902; Zur Beziehung Sorel-Pelloutier vgl. besonders: Irving L. Horowitz, a.a.O., S. 23-29 1 5 J. Braunthal, a.a.O., S. 295 1 4 »Pelloutier invented Syndicalism, and laid the foundation for the Syndicalist phase of French Trade Unions whidi reached its culmination only after (his) . . . death.« - G. D. H. Cole, a.a.O., S. 336 11

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la capacité politique des classes ouvrières (1865) durchdrungene Vision einer föderativ gruppierten Produzentengesellschaft auf der Basis lokal-autonomer Produktionsstätten sowie seine Konzeption vom Generalstreik 1 7 machten ihn zum geistigen Vater des Syndikalismus und wurden zu festen Bestandteilen der syndikalistischen Theorie. Sie haben in der »heroischen Periode« die Diskussion auf allen Kongressen der C.G.T. belebt und die berühmte C h a r t a von Amiens (1906) geprägt. Auf Pelloutier geht auch die Vorstellung von den Syndikaten als »Staat im Staat« zurück. I m Mittelpunkt der Idee von den Syndikaten als »Staat im Staat« steht die Forderung, daß die gewerkschaftlichen Organisationen allmählich die bisher vom bürgerlichen Staat ausgeübten Funktionen übernehmen müßten. So w ü r d e n die staatlichen Institutionen nach und nach überflüssig. Gleichzeitig würden die Syndikate zu Keimzellen einer neuen sozialen Ordnung. Diese Vorstellung f a n d ihren Niederschlag in der schon erwähnten Charta von Amiens, in der als Ziel der syndikalistischen Arbeiterbewegung die Errichtung einer sozialistischen Produzentengesellschaft genannt wird. Die Syndikate würden »in Zukunft eine Organisation f ü r die Produktion und Verteilung (der Güter) und die Grundlage der sozialen Erneuerung sein«. 18 »A méditer ce mouvement, Sorel va appliquer . . . le meilleur de sa pensée.« 1 8 Sorel machte zu Beginn des Jahres 1898 »la grande découverte de sa vie: avec le syndicalisme, il découvre les grandes constantes de sa pensée . . .« 2 0 Angeregt durch Paul de Rousiers' Le trade-unionisme en Angleterre (1895), v e r f a ß t e er seine ersten Artikel über den Syndikalismus. Er verfolgte in seinem Avenir socialiste des syndicats21 die Absicht, die Aufmerksamkeit der Sozialisten auf die große Bedeutung des Syndikalismus zu richten und ihre Vorurteile gegen ihn zu zerstören. Sorel warnte vor dem Einfluß der bürgerlichen Intellektuellen auf die Arbeiterbewegung. Die Syndikate müßten sich klassenfremden Elementen verschließen, nicht a n der Produktion Beteiligten den Zutritt verwehren und ihre Autonomie bewahren. Sie müßten rein proletarisch bleiben. »La première règle de sa conduite doit être: rester exclusivement ouvrier, c'est-à-dire exclure les Intellectuels dont la direction aurait pour effet d e restaurer les hiérarchies et de diviser le corps des travailleurs . . . Pour résumer toute m a pensée en une formule, j e dirai que tout l'avenir du socialisme réside dans le développement autonome des syndicats ouvriers.« " D e r neuen Orientierung des Sorelschen Denkens zum Syndikalismus hin w a r e n vier J a h r e intensiver Beschäftigung mit M a r x vorausgegangen. Sorel hat maßgeblich an der Verbreitung des Marxismus in Frankreich mitgewirkt, 2 3 17

Fernand Pelloutier, Qu'est-ce que la grève générale?, Paris 1895 zitiert nach J. Braunthal, a.a.O., S. 295 » Georges Goriély, a.a.O., S. 197 M Pierre Andreu, a.a.O., S. 57 11 Zuerst als Artikel-Folge veröffentlicht in: Humanité nouvelle, März-Mai 1898; im gleichen Jahr als Broschüre erschienen; 1919 in die Matériaux... aufgenommen. Zitiert nach Matériaux . . . » ebda., S. 132 f M Neil Mclnnes, Les débuts du marxisme théorique en France et en Italie (18801897), in: Cahiers de l'Institut de Science Economique Appliquée, Serie 5, no 3, Paris 1960, S. 5-51 18

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bis er an der Gültigkeit und wissenschaftlichen Haltbarkeit der ökonomischen Theorie von Marx, besonders der Mehrwertlehre und der Verelendungstheorie, zu zweifeln begann. 24 Dieser Theorie wegen war Sorel ursprünglich zu Marx gestoßen. Marx habe das Illusionäre der idealistischen Philosophie erkannt, sie vom Kopf auf die Füße gestellt und in Wissenschaft überführt. Es sei ihm gelungen, »de passer des aperçus subjectifs, personnels, grossiers, d'une philosophie livrée au hasard — aux données objectives, sociales, abstraites, de la science.«25 Von dieser Auffassung rückte Sorel bald wieder ab. Rückblickend schrieb er 1910, daß er während seiner Zusammenarbeit mit den orthodoxen Marxisten den wahren rationalistischen, also pseudo-wissenschaftlichen Charakter des Marxismus nicht durchschaut hätte; er sei noch von »rationalistischen« Vorurteilen erfüllt gewesen.29 1898 kam es zum endgültigen Bruch mit den orthodoxen Marxisten. Künftig sollte Sorel sie leidenschaftlich befehden. Saverio Merlinos Pro e contra il socialismo überzeugte ihn von der Notwendigkeit, die Grundlagen der marxistischen Theorie zu revidieren. Sie müsse in Einklang mit der von ihr falsch vorausgesehenen und prinzipiell unvorhersehbaren Entwicklung gebracht werden. Das hätten die orthodoxen Marxisten nicht erkannt. Sie überbrückten die Kluft zwischen der Theorie und der Wirklichkeit dadurch, daß sie die Theorie für gültig und die Wirklichkeit für anomal erklärten. Deshalb seien sie unfähig, die sozialistische Bewegung, die der zum Dogma erstarrten Theorie davongeeilt sei, richtig zu beurteilen; »je vis alors clairement que je devais travailler en dehors de toute combinaison ayant des attaches avec l'orthodoxie marxiste.« 27 Der mit der Kritik Bernsteins einsetzende Revisionismusstreit bot Sorel Gelegenheit, mit anderen als den orthodox marxistischen Sozialisten zusammenzuarbeiten. Er stellte sich auf die Seite der Revisionisten 28 - zu eben dem Zeitpunkt, zu dem er erstmals seine Sympathien für den Syndikalismus bekundete. Hierin lag noch kein Widerspruch. 1898 waren diese beiden Posi24

M 2t 27

!8

In den Jahren von 1894-1897 widmete Sorel seine ganze Arbeitskraft der Mitarbeit an zwei marxistischen Zeitschriften, der Ere nouvelle und dem von Sorel, Lafargue, Deville u.a. begründeten Devenir social. Für diese Zeitschrift bestritt Sorel fast ein Drittel aller Beiträge. Hierüber urteilt Sorel 1910: »si je relisais aujourd'hui la collection de Devenir social, j'y relèverais certainement beaucoup de suppositions hasardeuses, d'erreurs et de sophismes.« - Mes raisons du syndicalisme, a.a.O., S. 252 D'Aristote . . . (1894), S. 261 vgl. Pierre Andreu, a.a.O., S. 53 Mes raisons du syndicalisme, a.a.O., S. 253; - Die Rezension des Budies von Merlino war der letzte Beitrag Sorels im Devenir social (Oktober 1897). Im Juli 1898 schrieb Sorel schon ganz im Sinne des Revisionismus das Vorwort zur französischen Ausgabe des Merlinoschen Buches (Formes et essence du socialisme, Paris 1898) Über Sorels »Revisionismus« vgl. besonders: Michael Freund, a.a.O., S. 81—107; Georges Goriély, a.a.O., S. 112-159; — Im Zusammenhang dieser Arbeit erübrigt sich eine ausführliche Behandlung der revisionistischen Zeit Sorels. Sie hat sein Denken nicht wesentlich beeinflußt und seine Grundproblematik nicht geändert. Dasselbe trifft übrigens für die Jahre der sowieso nur bedingten Übereinstimmung mit den orthodoxen Marxisten zu.

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tionen, zu denen sich Sorel auf der Sudie nach sozialen Erneuerungsbewegungen vortastete, nodi miteinander vereinbar. Der Revisionismus und der Syndikalismus traten erst in den folgenden Jahren in zwei konträre Bewegungen auseinander: hier friedlich-evolutionäre Emanzipation durch politischen Einfluß in den Parlamenten; dort gewaltsam -revolutionäre Emanzipation durch autonome gewerkschaftliche Organisationen. Diese in der marxistischen Theorie selbst angelegte ideologische Spaltung hatte in Frankreich den politischen Gegensatz von reformistischem Parteisozialismus und revolutionärem Syndikalismus zur Folge. Am Prozeß ihrer Entzweiung haben die Erschütterungen der Dreyfusaffäre beträchtlichen Anteil gehabt. Sie haben die parlamentarischen Sozialisten veranlaßt, ein Bündnis mit den republikanischen und antiklerikalen Parteien des Bürgertums einzugehen, um das demokratische System der III. Republik vor dem Ansturm seiner Gegner von rechts zu retten. Die Syndikalisten reagierten mit einer Verhärtung ihrer revolutionären Haltung, so daß sich in den Jahren der Dreyfuskämpfe drei politische Mächte unversöhnlich gegenüberstanden: der demokratische Block der bürgerlichen »Radikalen« und der reformistischen Sozialisten als Verteidiger der parlamentarischen Demokratie; die in der rechtsradikalen Action Française formierten antisemitischen, nationalistischen und monarchistischen Elemente; die revolutionären Sozialisten um Guesde und die aus der syndikalistischen Bewegung. Sorel unterstützte in den ersten Jahren der Dreyfusaffäre den demokratischen Block mit den parlamentarischen Sozialisten; dann erst trat er für den revolutionären Syndikalismus ein; später näherte er sich sogar einer Gruppe aus dem Umkreis der Action Française. Er zählte also nacheinander zu den Verteidigern der parlamentarischen Demokratie, zu ihren Feinden von links und zu ihren Feinden von rechts. Dieser Wandel des politischen Standortes von einem Extrem zum anderen erklärt sich, wie noch deutlich werden wird, zum Teil durch die Entwicklung der Dreyfusaffäre und zum Teil durch den Charakter der politischen Theorie Sorels. Für sie ist die nur episodenhafte Verbindung mit dem demokratischen Block und der Action Française ohne Folgen geblieben. Im Gegensatz dazu hat der revolutionäre Syndikalismus das gesamte Denken Sorels beeinflußt, weil seine Ziele mit einigen der Grundabsichten Sorels weitgehend übereinstimmten. Durch die Dreyfusaffäre wurde das Interesse Sorels an der syndikalistischen Bewegung vorübergehend abgelenkt. »L'affaire Dreyfus va fausser et dévier l'évolution naturelle de Sorel, retarder l'épanouissement de sa pensée de plusieurs années, sans pouvoir pourtant véritablement la changer ni la transformer.« 29 Zeitlich fiel der Beginn der Dreyfusaffäre mit der Abkehr Sorels vom orthodoxen Marxismus und der ersten Hinwendung zum Syndikalismus zusammen.80 Sorel trug sich als einer der ersten in die Liste der Dreyfusards ein,31 da er die bürgerlich-demokratische Protestbewegung gegen M 84 81

Pierre Andreu, a.a.O., S. 126 »Au moment où je me décidais à changer... l'orientation de mon travail, commençait l'affaire Dreyfus . . . « - Mes raisons du syndicalisme, a.a.O., S. 253 Über Sorels Rolle in der Dreyfusaffäre informiert ausführlicher: Michael Freund, a.a.O., S. 108-120; - Georges Goriély, a.a.O., S. 160-181

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die Verletzung des Redits als einen »Kampf ums Redit« auffaßte. 32 Das bestehende Recht müsse kämpferisch verteidigt, neues Recht müsse kämpferisch erobert werden. In dieser Überzeugung traf sidi Sorel mit dem Freundeskreis, der sich in den Cahiers de la Quinzaine um Péguy scharte. Die Cahiers . . . wurden in den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende zu einem der wichtigsten Vorkämpfer und Kristallisationspunkte für die Dreyfusbewegung. Die hier versammelten Intellektuellen bewunderten den uneigennützigen Einsatz des Sozialistenführers Jaurès' für Dreyfus; sie begrüßten auch den im Sozialismus heftig umstrittenen Eintritt Millerands in eine bürgerliche Regierung; nach ihrer Überzeugung war es nur durch das Zusammengehen der gemäßigten Sozialisten mit den bürgerlichen Radikalen möglich, die gewissenlose demagogische Entfesselung der Masseninstinkte durch die Anti-Dreyfusards einzudämmen. Die Anhänger der Cahiers . . . sahen sich nach dem Sieg der Dreyfusards, die zwar nicht den Freispruch, wohl aber die Begnadigung für Dreyfus erreichen konnten, in ihrer Hoffnung betrogen. Mit dem Wahlsieg und Regierungsantritt (1902) des demokratisdien Blocks sei aus dem Rechtsstreit »Politik« geworden. Die an die Stelle der konservativ-republikanischen Regierung getretene Koalition von Radikalen und Sozialisten habe nichts am korrupten Zustand der parlamentarisch-demokratischen Republik geändert. Die neuen Inhaber der Macht bedienten sich, um ihre Interessen und die des Staates durchzusetzen, derselben Methoden der Rechtsbeugung wie ihre Vorgänger. Auch sie scheuten sich nicht, ihre Ziele mit Hilfe von Demagogie und Lüge zu verfolgen.83 Sie hätten die bei den Anti-Dreyfusards kritisierten Praktiken nun selber übernommen. Wie die abgelöste, so sei auch die neue herrschende Minderheit auf ihren persönlichen Vorteil und nicht auf die Wahrung des Redits bedacht. Die meisten der Mitglieder des Kreises um Péguy teilten diese Kritik, die sich in nicht wenigen Fällen zur Verurteilung der parlamentarischen Demokratie überhaupt ausweitete. Am treffendsten hat Daniel Halévy ihre Wandlungen und Enttäuschungen beschrieben: »Nous craignions l'avènement d'un bloc démagogique, ruinant sous son autorité bête les quelques libertés restant au pays. Et nous voyions précisément, au terme de notre lutte, au lendemain de notre victoire, un bloc analogue s'élever près de nous, se former de nous-mêmes et profiter de nos efforts.« 34 Für Sorel stand nach dem - wie er meinte - verhängnisvollen Ausgang 32

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»So begriff Sorel den Dreyfuskampf als einen »Kampf ums Recht« (im Sinne Iherings) . . . In diesem Kampf ums Redit sollte sidi die Arbeiterschaft den »Ruhm« erwerben, der den politischen Bewegungen Haltung und Würde und geschichtliche Größe bringt.« Michael Freund, a.a.O., S. 110 vgl. Georges Goriély, a.a.O., S. 179 Daniel Halévy, Apologie pour notre passé. In: Cahiers de la Quinzaine, 11. Serie 10. Heft, Paris 1910, zitiert nach Georges Goriély, a.a.O., S. 179; Aus dem Kreise der Cahiers . . . sind neben der Schrift Halévys zwei weitere Veröffentlichungen über die Dreyfusaffäre hervorgegangen: Charles Péguy, Notre Jeunesse. In: Cahiers de la Quinzaine, 11. Serie, 12. Heft, Paris 1910; - Georges Sorel, La révolution dreyfusienne, Paris 1909

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einer hoffnungsreich begonnenen Erneuerungsbewegung endgültig fest, daß die parlamentarische Demokratie gleichbedeutend sei mit der Herrschaft der Mediokrität und der Korruption; »le régime parlementaire devient de plus en plus une farce . . .« 85 Seine Angriffe gegen die bürgerliche Demokratie wurden immer maßloser. Auch der reformistische Sozialismus verfiel der ungehemmten Kritik Sorels. Er wurde des Verrats am Proletariat bezichtigt. Sorel machte sich alle vom revolutionären Syndikalismus vorgebrachten Einwände gegen den Parteisozialismus zu eigen: »Je ne crois pas qu'il y ait de moyens propres à faire disparaître cette influence funeste des démagogues, autre que ceux que peut employer le socialisme en propageant la notion de la grève générale prolétarienne . . .« 88 Das durch die Dreyfusaffäre nur vorübergehend zurückgedrängte Interesse Sorels an der syndikalistischen Bewegung war wieder erwacht. In sie, die inzwischen in ihre revolutionäre Phase eingetreten war, setzte er für die nächsten Jahre seine ganze Hoffnung. Allein der revolutionäre Elan des Syndikalismus könne einen ricorso bewirken, das rationalistische Zeitalter beenden und eine neue Ära technisch-industriellen Fortschritts herbeiführen. Von dieser Hoffnung getragen, schrieb Sorel seine berühmt-berüchtigten Réflexions sur la violence. Trotz seiner schriftstellerischen Mitarbeit und seines inneren Engagements hat Sorel nicht unmittelbar an der syndikalistischen Bewegung teilgenommen. Er wollte, wie er im Vorwort zu seinen Réflexions . . . darlegte, die Rolle eines sympathisierenden Beobachters einnehmen. Sie schien ihm am besten geeignet, das historisch Bedeutsame des Syndikalismus zu erfassen und ganz allgemein das »Geheimnis der geschichtlichen Bewegung« zu durchdringen, » . . . le mystère du mouvement historique n'est intelligible que pour les hommes qui sont placés loin des agitations superficielles: les chroniqueurs et les acteurs du drame ne voient point ce qui sera regardé plus tard comme fondamental . . . Il faut être en dehors pour voir le dedans.«' 7 Sorel hat sich trotz seiner Distanz als sympathisierender Beobachter leidenschaftlich für den revolutionären Syndikalismus eingesetzt. Er hat im Kampf der Interessen und im Wettstreit der Ideologien unmißverständlich Partei ergriffen für die revolutionäre Praxis der syndikalistischen Bewegimg und für ihre revolutionären Ziele: die Errichtung einer sozialistischen Produzentengesellschaft. Dieses Ziel, das er als einen ursprünglichen Zukunftsentwurf auffaßte, der sinnstiftend und wahrheitsetzend dem Handeln eine Riditung weist, diente ihm als Kriterium für gute oder schlechte, für »wahre« oder »unwahre« politische Vorstellungen und Forderungen. Er glaubte, in der Parteinahme für den revolutionären Syndikalismus der Wahrheit schlechthin zu dienen, weil nach seiner dezisionistisdhen Grundhaltung die Wahrheit stets nur subjektive Setzung sein kann, weil für ihn das Engagement die Wahrheit selbst ist. Von dieser Überzeugung kommt Sorel folgerichtig zu dem Sdiluß, daß seine f ü r den revolutionären Syndikalismus verfaßten Réflexions sur la violence »possèdent un mérite qu'on ne leur discutera pas; il w

La révolution dreyfusienne, a.a.O., S. 72 » Réflexions ..., S. 246 17 ebda.. S. 67 101

est évident qu'elles sont inspirées par un amour passionné pour la vérité.« 88 Die leidenschaftliche Hingabe an die Wahrheit vermöge mehr als die gelehrtesten Methodologien. Sie erlaube es, die konventionellen Hüllen abzustreifen, bis auf den Grund der Dinge vorzustoßen und die Wirklichkeit zu durchdringen; »c'est elle (cette passion) qui a permis tant d'heureuses intuitions.« 39 Die Leidenschaft für die dezisionistisch aufgefaßte Wahrheit hat Sorel die »glückliche Intuition« eingegeben, die syndikalistische Idee des Generalstreiks als Mythos zu deuten. Ohne die Destruktion des von der Vernunftphilosophie ausgebildeten Wahrheitsbegriffs, ohne den Bruch also mit der philosophischen Tradition des europäischen Denkens, hätte Sorel seine »heureuse trouvaille«40 nicht machen können. Die Lehre vom Mythos hat die »Umwertung aller Werte« zur Voraussetzung. Nicht anders die Verteidigung der Gewalt! Sie sind aus der Kritik am Rationalismus hervorgegangen. Die Wiedergeburt des Mythos und der Gewalt aus dem Geiste des revolutionären Syndikalismus, die Befreiung vom Bann des Rationalismus, der Anbruch einer historischen Epoche heroischer Größe — das ist die Vision der Réflexions sur la violence. Thomas Mann hat sie in seinem Doktor Faustus »die krasse und erregende Prophetie« genannt, »daß populäre oder vielmehr massengerechte Mythen fortan das Vehikel der politischen Bewegung sein würden: Fabeln, Wahnbilder, Hirngespinste, die mit Wahrheit, Vernunft, Wissenschaft überhaupt nichts zu tun zu haben brauchten, um dennoch schöpferisch zu sein, Leben und Geschichte zu bestimmen und sich damit als dynamische Realitäten zu erweisen. Man sieht wohl, daß das Buch seinen bedrohlichen Titel nicht umsonst trug, denn es handelte von der Gewalt als dem siegreichen Widerspiel der Wahrheit . . . Es eröffnete eine höhnische Kluft zwischen Wahrheit und Kraft, Wahrheit und Leben, Wahrheit und Gemeinschaft.« 41 12. Die Lehre vom Mythos Sorel hat die Lehre vom Mythos in seinen Réflexions . . . entwickelt. Die ersten Ansätze dazu finden sich schon in der drei Jahre früher veröffentlichten Introduction à l'économie moderne. Hier taucht der Begriff des Mythos zuerst redit unvermittelt in einem aperçuhaften Ausblick auf die Erneuerung der Philosophie und der sozialistischen »Propaganda« auf : »Je voudrais . . . appeler l'attentation des philosophes sur une question qui me paraît avoir une importance capitale au point de vue des progrès de la philosophie et au point de vue de la bonne propaganda du socialisme. Je » ebda., S. 68 » ebda., S. 68 »En employant le terme de mythe, je croyais avoir fait une heureuse trouvaille, parce que je refusais ainsi toute discussion avec les gens qui veulent soumettre la grève générale à une critique de détail et qui accumulent les objections contre sa possibilité pratique.« - ebda., S. 34 41 Thomas Mann, Doktor Faustus, Gesammelte Werke, München 1960, Bd. VI, S. 486f M

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m e demande s'il est possible de fournir une exposition intelligible du passage des principes à l'action sans employer des mythes.« 4 8 Diesem ersten nur sehr vagen Hinweis auf den Mythos folgen unmittelbar einige kurze Erörterungen über die wissenschaftliche Gültigkeit der von M a r x verkündeten ehernen Gesetze, nach denen sich der Übergang vom Kapitalismus i n den Sozialismus vollziehen solle. Im Zusammenhang damit wird, wenn auch erst andeutungsweise, erkennbar, worauf die Idee Sorels vom Mythos abzielt. Mit dem belgisdien Sozialisten Vandervelde 4 8 und dem holländischen Sozialisten V a n Kol 4 4 weist Sorel auf die Diskrepanz zwischen der wissenschaftlich begründeten Voraussage von M a r x und dem wirklichen Verlauf der ökonomischen u n d sozialen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft hin. Im Gegensatz zu Vandervelde und Van Kol zieht Sorel nicht den Schluß, d a ß die marxistische Theorie ztrissenschaßlich revidiert werden müsse, da »ces f a m e u x >dogmes< renferment quelque diose d'essentiel à la vie et au progrès du socialisme.« 45 Es komme vielmehr darauf an, die wissenschaftlich a n fechtbare Lehre von M a r x in ihrer ideologischen Funktion zu erkennen und als revolutionäre Ideologie fruchtbar zu machen; »les théories contestées sont nécessitées par l'action révolutionnaire moderne.« 48 Sorel hält es f ü r w a h r scheinlich, daß M a r x selber seine Theorie vom Klassenkampf und von der Revolution als Mythos aufgefaßt habe. M a n müsse sich daher fragen, »s'il ne f a u d r a i t pas traiter comme des mythes les théories que les savants du socialisme ne veulent plus admettre . . . « 4 7 W a s Sorel in der Introduction . . . bloß als Vermutung ausspricht und als Frage formuliert, das stellt er in den Réflexions . . . als erwiesen hin: der Marxismus müsse im Sinne von M a r x als Mythos aufgefaßt und propagiert werden. Z u dieser Überzeugung gelangt Sorel durch seine Interpretation des syndikalistischen Generalstreiks. In ihr entfaltet er die in der Introduction . . . bloß kurz anklingende Idee vom Mythos zu einer Theorie. a) Der Mythos des Generalstreiks Die ideologischen Kontroversen zwischen revolutionären und revisionistischen Marxisten sowie die durch die Dreyfusaffäre besonders heftigen Auseinandersetzungen zwischen syndikalistischen und parlamentarischen Sozialisten waren in Frankreich in den Mittelpunkt des sozialistischen Denkens gerückt. Der Streit darüber, ob der Sozialismus die bürgerlich-demokratische Republik in direkter Aktion zerschlagen oder mit H i l f e der Parlamente evolutionär in » Introduction..., S. 375 Sorel zitiert einen Vortrag Vanderveldes anläßlich der 50-Jahr-Feier des Kommunistischen Manifestes (Veröffentlicht in der Revue socialiste, März 1898). In diesem Vortrage hat Vandervelde die »ehernen Gesetze« von der zunehmenden Verelendung des Proletariats, von der kapitalistischen Konzentration und von der Bedingtheit der Politik durch die Produktionsverhältnisse für hinfällig erklärt. 44 Sorel bezieht sidi auf einen Aufsatz Van Kols, der im Oktober 1898 in der Revue socialiste unter dem Titel A bas les dogmes! erschienen ist. « Introduction..., S. 376 « ebda.. S. 377 47 ebda., S. 376f

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ein sozialistisches Gemeinwesen umwandeln solle, hatte eine tiefe Kluft zwischen revolutionärem Syndikalismus und revisionistischem Parteisozialismus aufgerissen. Eine dritte Gruppe, die revolutionäre Minderheit in der sozialistischen Partei, vertrat die Ansicht, daß sich der Sozialismus nur durch die revolutionäre Eroberung der Staatsgewalt verwirklichen lasse. Alle drei Richtungen machten sich gegenseitig den Anspruch streitig, theoretisch und praktisch den wahren Marxismus und den wahren Sozialismus zu verkörpern. Sorel widmet einen großen Teil seiner Réflexions . . . diesen Auseinandersetzungen innerhalb des Sozialismus. Sie bilden den historischen Hintergrund seiner im IV. Kapitel über la grève prolétarienne und im V. Kapitel über la grève générale politique entwickelten Theorie vom Generalstreik. 48 An 48

Die Auseinandersetzungen über den Generalstreik haben in der II. Internationale eine große Rolle gespielt. Sie sind seit dem Pariser Kongress 1889, auf dem das Problem des Massenstreiks im Zusammenhang mit den Manifestationen zum 1. Mai behandelt wurde, nicht mehr verstummt. Den Höhepunkt haben die Kontroversen in den Jahren 1905/1906 erreicht, nach der russischen Revolution von 1905 also, in der der Massenstreik von großer Bedeutung war. Sorel bezieht sich darauf ebenso wenig wie auf die Diskussionen im deutschen Sozialismus, als er 1906 seine Theorie entwickelt. Er hat zweifellos vornehmlich die »heroische Periode« des revolutionären Syndikalismus vor Augen, wenngleich ihm die grundsätzlichen Generalslreiksdebatten besonders in der deutschen Sozialdemokratie bekannt gewesen sein müssen. Der französische Syndikalismus vertrat in seiner Mehrheit den anarcho-sozialistischen Standpunkt vom Generalstreik als Allheilmittel. Von allen anderen sozialistischen Richtungen wurde diese Auffassung bekämpft. Im deutschen Sozialismus lassen sich drei unterschiedliche Einstellungen zum Generalstreik feststellen, die man — grob vereinfacht und ohne die z.T. beträchtlichen Unterschiede sowie Schwankungen zu berücksichtigen - wie folgt charakterisieren kann: 1. Die Gewerkschaften kämpften unter den bestehenden politischen und wirtschaftlichen Bedingungen für die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen. Sie waren auf Kompromisse mit der bestehenden Ordnung angewiesen. Nur der begrenzte ökonomische Streik konnte ihnen sinnvoll erscheinen. Der Massenstreik als politisches Kampfmittel oder als Auftakt zur großen proletarischen Revolution war für sie, wie es in einer Resolution auf dem Kongress 1905 in Köln hieß, »indiskutabel«. (vgl. Helmut Breuer, Die Gewerkschaften, Werden Wesen Wirken, Hannover 1960, S. 54ff) - 2. Die sozialdemokratische Partei befürchtete von der gewerkschaftlichen und ihrer eigenen parlamentarischen Praxis ein Nachlassen des revolutionären Elans der Arbeiterschaft. Deshalb ihr ständiges Bekenntnis zur Revolution und zum Massenstreik, der ausdrücklich auf dem Parteitag in Jena 1905 als politisches Kampfmittel zur Verteidigung des allgemeinen Wahlrechts anerkannt wurde (Resolution Bebel), rein defensiv und doch wohl nur als unverbindliche Deklaration. Zwischen der konsequenten Absage der Gewerkschaften und der leidenschaftlichen Bejahung Rosa Luxemburgs steht das Bekenntnis der Sozialdemokratie für den Massenstreik in einer zwielichtigen Unbestimmtheit, (vgl. Erich Matthias, Kautsky und der Kautskyanismus. Die Funktion der Ideologie in der deutschen Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkriege, Marxismusstudien, 2. Folge, Tübingen 1957, S. 151-197) - 3. Rosa Luxemburg und mit ihr der Neo-Marxismus jener Zeit bekannte sich in eindeutig revolutionärer Haltung aufgrund der Ereignisse in Rußland zum Massenstreik. Nach ihrer Theorie schlägt der ökonomische Konflikt in einen politischen Kampf um und wieder auf den ökonomischen Kampf zurück. Spontane Erhebung und organisierter Aufstand steigern sich in dialektischer Wechselwirkung und münden in die große Revolution ein. (vgl. Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, 1906; dazu: Paul Frölich, Rosa Luxemburg, Hamburg 1949, S. 205ff) 104

der untersdiiedlidien Auffassung vom Generalstreik wird nadi Sorel erkennbar, was das spezifisch Sozialistische ist und wer es vertritt. »En comparant les essais d'organisation de la grève syndicalistes et ceux de la grève politique, on peut souvent juger ce qui est bon et ce qui est mauvais, c'est-à-dire ce qui est spécifiquement socialiste et ce qui a des tendances bourgeoises.« 49 Sorel hat, wie sich im einzelnen nodi erweisen wird, als Kriterien, an denen er den guten vom schlechten Sozialismus unterscheidet, zwei in jeder Beziehung entgegengesetzte Modelle vom Generalstreik entworfen. In der Konstruktion des proletarischen Generalstreiks faßte er seine Vorstellungen von einer heroisdi-sdiöpferischen Revolution zusammen. Der Gegenentwurf vom politischen Generalstreik stellt idealtypisch den zerstörerischen jakobinischen Aufstand dar. In den Ausführungen Sorels verschmilzt der revolutionäre Syndikalismus mit dem proletarischen und der parlamentarische Sozialismus mit dem politischen Generalstreik. Wirklichkeitsbeschreibungen und Modellentwurf gehen unkontrolliert ineinander über. »Les grandes différences qui existent entre les deux grèves générales (ou les deux socialismes) . . .« 50 werden zu krassen Gegensätzen übersteigert. Sorel vermittelt nur ein verzerrtes Bild von den Auseinandersetzungen in der sozialistischen Bewegung seiner Zeit. So problematisch daher seine Interpretation für die historische Betrachtung des französischen Sozialismus sein mag, so aufschlußreich ist sie für die Beurteilung seines Denkens. Denn die Theorie vom Generalstreik spiegelt die geschichtsphilosophische Grundkonzeption vom Antagonismus zweier radikal entgegengesetzter Triebkräfte in der Geschichte wider, und sie wirft neues Licht auf sie. Mit dieser Prämisse und nicht mit der Wirklichkeit stimmt der absolute moralische Gegensatz von heroisch-schöpferischem und unheroisch-zerstörerischem Sozialismus überein. Dasselbe gilt für die Deutung des Generalstreiks und der marxistischen Revolutionstheorie als Mythen; »la grève des syndicalistes et la révolution catastrophique de Marx sont des mythes.« 61 Der Mythos widerspricht vollständig dem marxistischen Denken; er ist auch den syndikalistischen Theorien fremd. Sie haben den Begriff und die Idee des Mythos weder ausgebildet noch in sich aufgenommen.82 Diese Tatsache führt die von Edouard Berth vor« Réflexions . . . , S. 267 M ebda., S. 246 51 ebda., S. 32; - Sorel hat nach Sdirey den Mythos entworfen, »weil er fand, daß der Marxismus widerlich nüchtern sei, man aber der sozialistischen Bewegung mythisch-heroische Formen geben müsse. Dabei war ihm offenbar entgangen, daß der Marxismus selbst mythische Elemente in sich enthält.« - Heinz-Horst Schrey, Geschichte oder Mythos bei Marx und Lenin. Marxismusstudien, 1. Folge, Tübingen 1954, S. 149 Es ist Sdirey offenbar entgangen, daß die Hauptthese der Sorelschen Marx-Interpretation das Mythische als das Eigentliche des Marxismus bezeichnet. Widerlich nüchtern fand Sorel nur den orthodoxen Marxismus, der Marx völlig verfälsche, (vgl. weiter oben, S. 67, Anm. 58) 81 Schrey glaubt, »bei Marx schon die Strukturelemente des Mythos zu entdecken« (a.a.O., S. 148), obgleich Marx sich »aufs deutlichste von dem mythologischen Charakter des utopischen Sozialismus . . . distanziert . . .« (a.a.O., S. 145). Es fällt schwer, dieser zwar anders begründeten, aber im Resultat mit Sorel übereinstimmenden These zuzustimmen - auch dann, wenn der Marxsdie »Mythos der

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getragene These ad absurdum, daß der Sorelsdie Mythos die sozialistische Theorie nicht etwa nur beeinflußt, sondern entsdieidend umgeformt und vollendet habe, daß Utopie, Wissenschaft und Mythos die drei Entwicklungsstadien des Sozialismus seien.63 Der Mythos des Generalstreiks ist die Antwort Sorels auf die Frage nach den Gründen und Bedingungen, denen der Syndikalismus seinen revolutionären Elan verdanke. Es sei dem revolutionären Syndikalismus deshalb gelungen, die kämpferischen und produktiven Energien des Proletariats freizusetzen, weil er durch den proletarischen Generalstreik das Problem gelöst habe, in weldier Form eine Zukunftsvision zum welterneuernden Handeln führe: »il faut faire appel à des ensembles d'images, capables d'évoquer en bloc et par la seule intuition, avant toute analyse réfléchie, la masse des sentiments qui correspondent aux diverses manifestations de la guerre engagée par le socialisme contre la société moderne. Les syndicalistes résolvent parfaitement ce problème en concentrant tout le socialisme dans le drame de la grève générale.« 64 Sorel geht in seinen Überlegungen von der gewiß unbestreitbaren Tatsache aus, daß in kriegerischen Auseinandersetzungen und im gewaltsamen Austrag sozialer Konflikte emotionale Kräfte aufeinanderstoßen. Diese werden nach seiner Mythoslehre nur dann zu einer heroisch-moralischen Größe und zu einer gesdiichtsnrirksamen dynamischen Realität, wenn sie unmittelbar rein intuitiv und irrational, ohne ihre Beweggründe und Zielsetzungen zu reflektieren, ein unzerlegbares Gesamtbild ihres Wollens entwerfen. Das visionär vorgestellte Gesamtbild konzentriert die vielfältigen Tendenzen zu einer einzigen Stoßrichtung. Die mythische Vision, die den Willen evoziert und die Massen integriert, verleiht einer sozialen Bewegung erst ihren revolutionären Elan. Diesen Grundgedanken der Mythoslehre konkretisiert und erläutert Sorel, indem er den proletarischen Generalstreik in Beziehung setzt zur marxistischen Theorie von der Revolution und vom Klassenkampf sowie zur proudhonistischen Theorie vom Kriege. Die syndikalistische Vorstellung von der Revolution ist nach den Ausführungen Sorels nicht das Produkt einer Theorie, die verstandesmäßig durch Antizipation des künftigen Geschichtsverlaufs den Übergang vom Kapitalismus in den Sozialismus zu beschreiben versucht. Zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Umständen die Revolution ausbreche, das lasse sich - wie die Syndikalisten erkannt hätten - unmöglich prognostizieren. Damit sie sich überhaupt ereigne, müsse man sie aber wollen; und der Wille bedürfe, um tatkräftig zu werden, einer bildhaften Vorstellung, in die er sein Streben hineinprojiziere. Die syndikalistische Idee vom Generalstreik sei eine solche ProRevolution« vom Sorelsdien »Mythos des Revolutionismus« unterschieden wird (a.a.O., S. 148). Gewiß genügt die marxistische Gesdiichts- und Revolutionstheorie nicht dem Anspruch auf Wissensdiaftlichkeit im Sinne des positivistischen Wissenschaftsbegriffs. Die in ihr enthaltenen nicht-wissenschaftlichen Elemente lassen sich jedoch schwerlich als mythisch qualifizieren. M vgl. weiter oben, S. 14, Anm. 44 54 Réflexions.... S. 173 106

jektion des Willens - ein Mythos, der die Revolution als höchstes Ziel vorstelle. »Le mythe de la grève générale . . . comporte une révolution absolue.« 55 Er verbinde die Vorstellung von der Revolution mit der Vision einer unabwendbaren Katastrophe. Jeder Versuch, die bildhafte Katastrophenvorstellung zu zergliedern, das heißt, rational zu analysieren, würde sogleich »la perfection de ce mode de représentation« 56 zerstören. Der Mythos würde seine »valeur motrice« 57 einbüßen; »il faut s'approprier son tout indivisé et concevoir le passage du capitalisme au socialisme comme une catastrophe dont le processus échappe à la description.« 58 Die mit dem Mythos des Generalstreiks verbundene Katastrophenvorstellung erzeugt nach Sorel in den Proletariern den Glauben, an einer »œuvre grave, redoutable et sublime« 58 mitzuwirken. Dieser Glaube verleihe ihnen die Kraft zum selbstlosen heroischen Kampf, der dem Proletariat Ruhm, dem einzelnen aber nichts einbringen werde. Ohne den durch den Mythos erzeugten unerschütterlichen Glauben, an einer ruhmreichen historischen Tat teilzunehmen, werde die proletarische Revolution leeres Gerede bleiben. Ihre Verwirklichung setzt also die Existenz eines Mythos voraus.60 Umgekehrt setzt aber der Mythos auch den revolutionären Kampf voraus, dem er seine Entstehung verdankt. Er erwächst - immer nach Sorel - aus der Praxis der syndikalistischen Streiks, den Vorhutgefechten der großen Entscheidungsschlacht. Am Anfang steht eine Vielzahl von gewaltsam ausgetragenen sozialen Konflikten, in denen sich der Wille zum Kampf manifestiert. Die einzelnen Streiks erwecken die Hoffnung, daß sie sich zum Generalstreik ausweiten und die große Katastrophe herbeiführen. Die Hoffnung wiederum, die in der Vision vom Generalstreik einen bildhaften Ausdrude findet, gibt dem Kampfwillen neue Impulse; »c'est la grande bataille napoléonienne (celle qui écrase définitivement les vaincus) que les grévistes espèrent voir commencer; ainsi s'engendre, par la pratique des grèves, la notion d'une révolution catastrophique.« 61 Die Praxis der syndikalistischen Streiks und ihre katastrophische Revolutionsvorstellung sind zwar, wie Sorel betont, nicht aus der marxistischen Theorie und ihrer apokalyptischen Revolutionsvorstellung hervorgegangen, sie stünden aber voll in Einklang mit ihr; » . . . il y a une identité fondamentale entre les thèses capitales du marxisme et les aspects d'ensemble » » " »

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ebda., S. 39 ebda., S. 217 ebda., S. 45 ebda., S. 217 »II faut que les socialistes soient persuadés que l'œuvre à laquelle ils se consacrent est une œuvre grave, redoutable et sublime; c'est à cette condition seulement qu'ils pourront accepter les innombrables sacrifices que leur demande une propaganda qui ne peut procurer ni honneurs, ni profits, ni même satisfactions intellectuelles immédiates.« - ebda., S. 202 »On peut indéfiniment parler de révoltes sans provoquer jamais aucun mouvement révolutionnaire, tant qu'il n'y a pas de mythes acceptés par les masses, c'est ce qui donne une si grande importance à la grève générale...« - ebda., S. 45 ebda., S. 96 107

que fournit le tableau de la grève générale.«®2 Die wahre Bedeutung der marxistischen Theorie komme erst in der Praxis des revolutionären Syndikalismus zum Vorschein; die Idee des Generalstreiks erhalte erst durdi den Marxismus ihre eigentliche Bedeutung. Beide erhellten und ergänzten sich gegenseitig. Das versucht Sorel an den folgenden, nach seiner Ansicht wesentlichen Aspekten der marxistischen Revolutionstheorie zu zeigen. 1. Das viel diskutierte Problem, ob man die marxistische Revolutionstheorie als wissenschaftlich fundierte Voraussage oder als »moralischen« Appell oder als dialektisch vermittelte Einheit von Theorie und Praxis zu verstehen habe, glaubt Sorel »au moyen de la théorie des mythes« 68 eindeutig gelöst zu haben. Es könne kein Zweifel bestehen, daß für Marx »toute la préparation du prolétariat dépend uniquement de l'organisation d'une résistance obstinée, croissante et passionnée contre l'ordre des dioses existantes.« 64 In genau diesem Sinne - also als ein »moralisches« Problem - fasse der revolutionäre Syndikalismus die proletarische Revolution auf: als das Ergebnis des in den Arbeitersyndikaten organisierten Proletariats und seines »moralischen« Willens zum kompromißlosen Kampf. Die parlamentarisch-sozialistischen »docteurs de la coopération« 65 versuchten dagegen, den Sozialismus evolutionär durch ein Bündnis mit den bürgerlich-demokratischen Parteien zu verwirklichen. »Cet élargissement du socialisme est contraire à la théorie marxiste aussi bien qu'à la conception de la grève générale.«' 6 2. Der marxistischen Theorie zufolge wird die Revolution durch eine ökonomische Krise des Kapitalismus ausgelöst werden. Sorel hält es für ein häufig anzutreffendes Mißverständnis zu meinen, Marx habe unter Krise eine Verkümmerung der produktiven Energien verstanden - »une ère de déchéance économique«.67 Genau das Gegenteil treffe zu. Die von Marx gedachte Krise müsse als das Ergebnis eines Überschusses an produktiven Energien aufgefaßt werden - einer »aventure trop hasardeuse de la production.« 68 Nur wenn in einer so verstandenen Krise die proletarische Revolution ausbreche, lasse sich der Sozialismus verwirklichen. Nur dann - so argumentiert Sorel - könne der Sozialismus das Erbe des Kapitalismus antreten und die technisch-industrielle Produktion fortentwickeln. »Sans cette création capitaliste de la matière d'un monde nouveau, le socialisme devient une folle r ê v e r i e . « D i e sozialistische Revolution wird also bloß den politisch 68

Réflexions . . . , S. 185 » ebda., S. 196 64 ebda., S. 196 «5 ebda., S. 196 66 ebda., S. 197 67 ebda., S. 197 68 ebda., S. 197 68 Système historique..., S. 72; - Sorel erläutert seine These über den Zusammenhang von ökonomischer Prosperität und Revolution am Christentum und an der Französischen Revolution. Bei Ausbruch der Französischen Revolution habe sich die wirtschaftliche Entwicklung aufwärts bewegt. Die raschen Schläge der Revolution hätten die wirtschaftliche Prosperität nicht ernsthaft getroffen; »c'est parce que l'Ancien Régime a été atteint par des coups rapides, alors que la Produktion était en voie de grand progrès, que le monde contemporain... a pu être si rapidement assuré d'une vie puissante.« - Réflexions . . . , S. 126. -

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-ideologischen Überbau zerstören, womit Sorel die bürgerliche Demokratie und den Rationalismus meint; »en même temps que cette destruction s'opère la conservation des résultats acquis . . . Cette notion de la conservation révolutionnaire est très importante.« 70 Die syndikalistische Idee des Generalstreiks deckt sich, wie Sorel glaubt, mit der marxistischen Vorstellung von der revolutionären Bewahrung der kapitalistischen Produktivkräfte. Auch die Praxis der syndikalistischen Streiks stimme mit diesem Aspekt der marxistischen Revolutionstheorie überein, denn in den syndikalistischen Streiks erhöben sich die mit der technisch hochentwickelten Industrie vertrauten Produzenten gegen eine den technischen Fortschritt hemmende Schicht von kapitalistischen Konsumenten. Diese und nicht die Produzenten drohten das mühsam errungene Werk des Kapitalismus zu zerstören. Die wirkliche Gefahr liege im Bündnis der bürgerlich-kapitalistischen Politiker mit den parlamentarischen Sozialisten, deren »prophètes de la paix sociale« 71 die sozialen Konflikte durch Kompromisse zu schlichten versuchten. Dadurch verlängerten sie die Herrschaft der »classe en voie de décadence«,72 die den Kapitalismus in die Sieditums-Krise manövriere, in der die Revolution mit Sicherheit ein neues Mittelalter und nicht die Produzentengesellschaft zur Folge haben werde. 3. Marx habe bewußt auf die Beschreibung der nachrevolutionären Gesellschaftsordnung verzichtet. Ein solches Unterfangen sei ihm unmöglich und überflüssig zugleich erschienen, unmöglich, weil die Basis der sozialistischen Gesellschaft, die technisch-industrielle Produktion, einem ständigen unvorhersehbaren Wandel unterworfen sei, überflüssig, weil sich der Aufbau der Produzentengesellschaft aus der Produktion selbst ergebe: »les programmes sont réalisés déjà dans l'atelier.« 78 Auch dieser Aspekt der marxistischen Revolutionstheorie sei ein unverzichtbares Moment der syndikalistischen

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71 n n

»Nous possédons, par contre, une expérience historique effrayante, relative à une grande transformation survenue au temps de la décadence économique... la conquête chrétienne e t . . . la chute de l'empire romain...« (ebda., S. 126) » . . . une révolution survenue au temps de décadence économique avait forcé le monde à traverser une période de civilisation presque primitive et arrêté tout le progrès durant plusieurs siècles.« - ebda., S. 129 ebda., S. 112 Den Gedanken, daß man nur revolutionär bewahren könne, was in langer historischer Arbeit geschaffen wurde, hat Sorel nicht nur im Zusammenhang mit dem Kapitalismus ausgesprochen. Auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens droht das Errungene stets wieder im Strudel der Dekadenz zu versinken; zu retten ist es nur revolutionär. Michael Freund hat in seinem Sorel-Buch mit dem Untertitel Der revolutionäre Konservativismus sehr ausführlich die Bedeutung dieser Konzeption für das gesamte Denken Sorels nachgewiesen. - Wie eng die geschichtsphilosophisdien Voraussetzungen Sorels, besonders die ricorsi-Lehre und der heroische Pessimismus, mit der Weltanschauung korrespondieren, die dem Phänomen »Konservative Revolution« zugrunde liegt, geht aus dem 38. Abschnitt der Untersuchung von Möhler hervor: Armin Möhler, Die Konservative Revolution in Deutschland, 1918-1932, Grundriß ihrer Weltanschauungen, Stuttgart 1950 Réflexions . . S . 198 ebda., S. 198 ebda., S. 199 (vgl. weiter oben, S. 61, Anm. 31) 109

Idee vom Generalstreik. Der Syndikalismus stelle ebenfalls keine Programme auf und verfolge keine anderen Ziele als die Verwirklichung einer streng an der Produktion orientierten Gesellschaft. Ihm komme es einzig darauf an, »de remettre les forces productrices aux mains d'hommes libres, c'est-à-dire d'hommes qui soient capables de se conduire dans l'atelier sans avoir besoin de maîtres.« 74 Mit diesem Ziel ihrer revolutionären Kämpfe stoßen die Syndikalisten nicht nur auf den erbitterten Widerstand der Kapitalisten und der bürgerlichen Politiker, sie geraten auch in Konflikt mit den parlamentarischen Sozialisten, die nach der Ansicht Sorels die Politik als einträgliches Geschäft betrachten; »les uns et les autres ne sont propres qu'à exercer la noble profession de maîtres.« 76 In der Produzentengesellschaft werde mit der Herrschaft die Politik und mit ihr auch der Beruf des Politikers abgeschafft. Es liege daher im Interesse der parlamentarischen Sozialisten, das bestehende politische System in seiner Grundstruktur zu verteidigen. Sie versuchten sogar, ihre Herrschaft - die der Nicht-Produzenten über die Produzenten - auf den Bereich der Wirtschaft auszudehnen. So und nicht anders müsse man ihre Forderung nach Mitbestimmimg in der Wirtschaft, nach einem »industriellen Parlamentarismus« verstehen: »ils voudraient voir se produire ce qu'ils appellent le parlementarisme industriel, qui comporterait, tout comme le parlamentarisme politique, des masses conduites et des rhéteurs qui leur imposent une direction . . . Avec la grève générale, toutes ces belles choses disparaissent . . . et nulle place n'est réservée aux sociologues, aux gens du monde amis des réformes sociales, aux Intellectuels qui ont embrassé la profession de penser pour le prolétariat.« 78 Revolution und Klassenkampf sind untrennbar miteinander verbunden. Der proletarische Generalstreik der Syndikalisten ist ebenso wie der politische Generalstreik der parlamentarischen Sozialisten eine bestimmte Form von Klassenkampf. Nach Sorel unterscheidet sich der marxistisch-syndikalistische Klassenkampf in drei Hinsichten von dem des Parteisozialismus. 1. Die Frage, was Marx unter Klasse und Klassenkampf verstanden habe, gehört zu den großen Problemen der Marx-Interpretation. Marx selbst hat die mannigfachen Widersprüche seiner Aussagen nicht durch eine ausgearbeitete Theorie der Klasse aufgelöst. 77 Nach der Deutung Sorels sind die Widersprüche bei Marx nur Scheinwidersprüche. Das werde deutlich, wenn man den wissenschaftlichen vom mythischen Gehalt des Marxismus trenne. In wissenschaftlicher Absicht habe Marx die Gesellschaft in eine Vielzahl von Klassen und Klassenkonflikten aufgeteilt. In propagandistischer Absicht dagegen habe er von der Komplexität der sozialen Struktur abstrahiert und die Gesellschaft dichotomisch als Antagonismus von Bourgeoisie und Proletariat dargestellt. Der Grund hierfür liege klar auf der Hand: Marx habe 74 75 71 77

ebda., S. 240 ebda., S. 240 ebda., S. 200 vgl. Erich Thier, Über den Klassenbegriff bei Marx, Marxismusstudien, 3. Folge, Tübingen 1960, S. 170-184

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eingesehen, daß subtile wissenschaftliche Analysen der sozio-ökonomischen Verhältnisse keinen Einfluß auf die Verbreitung der revolutionären Idee hätten, ohne die es keinen Klassenkampf geben könne. Deshalb habe Marx zur Erzeugung des Klassenbewußtseins als Voraussetzung für den Klassenkampf das einfadie und einprägsame Bild von der dichotomischen Gesellschaft entworfen; »sans la division dichotomique, il serait impossible de faire comprendre l'idée révolutionnaire . . . Autre chose est faire de la science sociale et autre chose est former les consciences.«78 In der marxistischen Lehre vom Klassenkampf erblickt Sorel also einen Mythos - »une image construite en vue de la formation des consciences.« 79 Der Einwand, daß dieses Bild der komplexen Wirklichkeit widerspreche, treffe Marx überhaupt nicht, denn Marx habe mit seiner mythischen Projektion weder den bestehenden Zustand der Gesellschaft beschreiben noch die künftige Entwicklung voraussagen, sondern lediglich den kämpferischen Willen evozieren wollen. Bei Mythen handele es sich nicht um »des descriptions des choses, mais des expressions des volontés.« 80 Damit ist gesagt, daß Mythen im Unterschied zu wissenschaftlichen Beschreibungen oder Prognosen der Kritik entzogen sind. Der Wille, sich der bestehenden Ordnung zu widersetzen, und der sinnstiftende Glaube, durch revolutionären Kampf eine neue Ordnung zu begründen, sind nach Sorel aus schon dargelegten Gründen undiskutierbar und unwiderlegbar. »Un mythe ne saurait être réfuté puisqu'il est, au fond, identique aux convictions d'un groupe, qu'il est l'expression de ces convictions en langage de mouvement.« 81 Der marxistische »Mythos« des Klassenkampfes ist, wie Sorel darzulegen versucht, in den syndikalistischen Mythos des Generalstreiks eingegangen und dadurch zu einer lebendigen Realität geworden. In den einzelnen Streiks werden, objektiv gesehen, partikulare Interessenkonflikte gewaltsam ausgetragen. Durch die Vision vom Generalstreik entsteht aber in den Streikenden das Bewußtsein, daß ihr Streik nur Teil eines großen Konfliktes und Vorbereitung des Endkampfes sei. Das Bild vom Generalstreik bündelt also, zunächst nur in der Vorstellung der Streikenden, die einzelnen sozialen Kämpfe so, daß sie alle in die große Entscheidungsschlacht zwischen Bourgeoisie und Proletariat einmünden: »Les grèves ont engendré dans le prolétariat les sentiments les plus nobles, les plus profonds et les plus moteurs qu'il possèdent; la grève générale les groupe tous dans un tableau d'ensemble et, par leur rapprochement, donne à chacun d'eux son maximum d'intensité; faisant appel à des souvenirs très cuisants de conflits particuliers, elle colore d'une vie intense tous les détails de la composition présentée à la conscience.« 82 Durch die suggestive Kraft, die der Mythos des Generalstreiks ausstrahlt, entsteht demnach trotz der faktischen Pluralität der Klassen das Bewußtsein von einer dichotomischen Klassentrennung. Dieses Klassenbewußtsein, das 78 n 80 81 82

Matériaux..., S. 188 ebda., S. 189 Réflexions . . . , S. 46 ebda., S. 46f ebda., S. 182 111

Sorel ganz anders als Marx oder später Lukâcs rein subjektiv und voluntaristisdi auf den heroischen Willen zurückführt, wird nun zu einem »moralischen« Faktor, der die soziale Wirklichkeit objektiv verändert. Er formt die verschiedenartigen Interessengegensätze wirklich in den einen Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat um.83 Seiner bewegenden Kraft ist es, folgt man Sorel weiter, zuzuschreiben, daß schließlich »la société est bien divisée en deux camps, et seulement en deux, sur un champ de bataille.«84 Die breite Schicht der Mittelklassen - der Angestellten, der Beamten und Handwerker - , die sich soziologisch weder der kapitalistischen Bourgeoisie noch dem Proletariat zuordnen lassen, wird zu der Entscheidung gezwungen, auf dieser oder jener Seite der Barrikaden Stellung zu beziehen.85 Die Idee des Generalstreiks zieht alles in ihren Bann. »L'idée de grève générale est à ce point motrice, qu'elle entraîne dans le sillage révolutionnaire tout ce qu'elle touche. Grâce à elle . . . les tentatives faites pour réaliser la paix sociale semblent enfantines, les désertions de camarades qui s'embourgeoisent, loin de décourager les masses, les excitent davantage à la révolte; en un mot, la scission n'est jamais en danger de disparaître.« 86 2. Marx habe in seinen Äußerungen zum Klassenkampf die Forderung erhoben, daß die Emanzipation des Proletariats das Werk der Proletarier selbst sein müsse. Klassenkampf bedeute für Marx also dïe Selbstbefreiung der Produzenten - »une révolution faite par un prolétariat de producteurs qui ont acquis la capacité économique, l'intelligence du travail et le sens juridique sous l'influence même des conditions de la production.« 87 Die Idee vom Klassenkampf als Selbstbefreiung der Produzenten, durch die sich der Marxismus von allen anderen Ideologien und der Sozialismus von allen anderen sozialen Bewegungen unterscheide, wird nach Sorel ausschließlich vom revolutionären Syndikalismus verwirklicht.88 Nur in den Arbeitersyndikaten organisieren sich qualifizierte Produzenten rein proletarisch, das heißt, ohne Führung durch Nicht-Produzenten. Revolutionäre Ideologien und Gruppierungen, denen dieses Merkmal fehlt, nennen sich nach der Auffassung Sorels zu Unrecht marxistisch oder sozialistisch. Die von ihnen ausgehenden Revolutionen unterscheiden sich nicht grundsätzlich von den Formen revolutionärer Erhebung, die immer schon in der Geschichte ihr Zerstörungswerk 85

84 85

86 87 88

»Si la division dichotomique n'existe pas dans le monde réel, on la découvre dans les bases de tous les facteurs moraux des luttes historiques.« - Matériaux..., S. 187 Réflexions . . . , S. 191 »La grève apporte une clarté nouvelle; elle sépare, mieux que les circonstances journalières de la vie, les intérêts et les manières de penser des deux groupes de salariés . . . « - ebda., S. 190 ebda., S. 193 Décomposition..., S. 48 Auch die parlamentarischen Sozialisten forderten die Selbstbefreiung der Arbeiter. Was darunter aber praktisch zu verstehen sei, meint Sorel durchschaut zu haben: »L'émancipation des travailleurs doit être l'œuvre des travailleurs euxmêmes, comme on l'imprime encore tous les jours, mais la véritable émancipation consiste à voter pour un professionel de la politique, à lui assurer les moyens de se faire une bonne situation, à se donner un maître.« - Réflexions . . . , S. 170

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vollbracht haben: von den demagogisch geführten Aufständen der Armen gegen die Reichen.89 Im Gegensatz zum wahrhaft marxistisch-sozialistischen Generalstreik der Syndikalisten gehört der politische Generalstreik des Parteisozialismus zum Typus der ewig gleichen Sklavenaufstände. Denn in den sozialistischen Parteien »les classes ne pourront plus être définies par la place que leurs membres occupent dans la production capitaliste; on revient à l'ancienne distinction des groupes riches et des groupes pauvres.« 90 In den revolutionären Parteien, die zum politischen Generalstreik aufrufen, gruppieren sidi nach den Darlegungen Sorels aus allen sozialen Schichten die Unzufriedenen, die sich der Führung von Demagogen anvertrauen. Sorel hält politische Parteien schlechthin für Organisationen machthungriger und gewissenloser Berufspolitiker. Er bezeichnet sie wiederholt als »associations politico-criminelles«.91 Führer und Geführte würden von denselben Antrieben bewegt: »leurs intérêts sont les seuls mobiles de leurs actions«. 92 Die Interessen beider seien jedoch keineswegs identisch. Die demagogischen Führer, die die Machtpositionen des Staates zu erobern versuchten, bedienten sich der in der Partei straff organisierten und dadurch manipulierbaren Massen, um zu arrivieren. Die so instrumentalisierte »masse commandée«93 sei naiv genug zu glauben, daß durch den Erfolg ihrer Organisation an die Stelle einer »hiérarchie malfaisante« eine »hiérarchie bienfaisante« treten werde.94 Das Fußvolk der Parteien bleibe, was es immer gewesen sei: eine von niederen Instinkten, von Neid und Rache getriebene und von den Demagogen ausgenutzte Masse. Die sozialistischen Parteien und der von ihnen inszenierte politische Generalstreik sind nach Sorel nichts anderes als das Zusammenwirken dieser beiden Elemente: »un état-major de bourgeois révolutionnaires, qui travaillent sur les idées et disent au peuple ce qu'il doit penser; et l'armée populaire qui demeure, selon l'expression de Marx, la chair à canon.«95 3. Nach der Modell-Konstruktion Sorels unterscheidet sich der Klassenkampf der Produzenten gegen die Nicht-Produzenten noch in einer dritten Hinsicht vom Klassenkampf der Armen gegen die Reichen: durch die Art der Gewalt. In der naturhaften »forme rudimentaire de la lutte de classes . . . des pauvres contre les riches«96 sei die Gewalt brutal und zerstörerisch; im 89

»L'idée de révolution fut pendant très longtemps identifiée à celle d'une lutte des pauvres contre les riches; cette lutte est aussi ancienne que le monde civilisé...« Décomposition ..., S. 22 90 Réflexions ..., S. 242 91 vgl. ebda., S. 308 und 325; - Auf eine ausführlichere Darstellung der Kritik Sorels an den politischen Parteien muß hier verzichtet werden. Sorel übernimmt zum Teil die Thesen von Ostrogorski, auf den er sich beruft (La démocratie et l'organisation des partis politiques). Er nimmt auch in vielem die Ergebnisse von Robert Michels vorweg (Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie). " Réflexions ..., S. 243 98 ebda., S. 244 94 ebda., S. 242f 98 Décomposition..., S. 55 94 ebda., S. 22

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proletarischen Klassenkampf dagegen nehme sie einen moralischen und schöpferischen Charakter an. 97 Außer der marxistischen Révolutions- und Klassenkampftheorie führt Sorel die von Proudhon in La guerre et la paix (1861) entwickelte Theorie vom Kriege an, um seine Überzeugung vom heroisch-schöpferischen Charakter des proletarischen und vom unheroisch-zerstörerischen Charakter des politischen Generalstreiks zu verdeutlichen. Der Krieg gehöre wie der Klassenkampf zwei entgegengesetzten Moralsystemen an, so daß man, sich auf unbestreitbare Tatsachen berufend, über den Krieg sehr widersprüchliche Aussagen treffen könne. Man könne mit den Dichtern, die in ihren Epen die Heldentaten großer Heerführer und Armeen verherrlicht hätten, den Krieg heroisch auffassen. Man könne ihn aber auch mit den Pazifisten, die auf die Greuel des Krieges hinweisen, von seiner zerstörerischen Seite betrachten. Es komme jedoch nicht allein auf die Perspektive, sondern auch darauf an, welchen Krieg man im Blicke habe. Im alten homerischen Griechenland und in den republikanischen Armeen der Französischen Revolution sei die heroische Konzeption des Krieges vorherrschend gewesen. Wenn man die edle Seite des Krieges, seinen »caractère de noblesse«,98 beschreiben wolle, tue man daher klug daran, auf diese historischen Beispiele zurückzugreifen. Sorel hebt in seinen Betrachtungen drei Merkmale des heroischen Krieges hervor: »1° L'idée que la profession des armes ne peut être comparée à aucune autre, - qu'elle met l'homme qui s'y livre dans une catégorie supérieure aux conditions communes de la vie . . . que l'histoire repose toute entière sur les aventures des gens de guerre . . . 2° Le sentiment de la gloire . . . comme une des créations les plus singulières et les plus puissantes du génie humain et qui s'est trouvé être une valeur incomparable dans l'histoire; 3° Le désir ardent de se mesurer dans les grandes batailles, de subir l'épreuve en raison de laquelle le métier des armes revendique sa supériorité, et de conquérir la gloire en péril de ses jours.« 99 Mit Hilfe dieser psychologischen Merkmale unterscheidet Sorel den »guten« oder »gerechten« von dem »bösen« oder »ungerechten« Krieg. Von der heroischen Gesinnung der Krieger, die den Krieg nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck auffassen, wird auf seinen schöpferischen Wert geschlossen. Im heroisch-schöpferischen Krieg sei der Krieger nicht Instrument des Politikers; er erhoffe sich nur Ruhm und nicht Gewinn; er wolle den Gegner bezwingen, aber nicht ausbeuten. Alle diese Momente werden - so meint Sorel - ins Gegenteil verkehrt, sobald man in Wirklichkeit den Krieg politisch betreibe und ihn als Betrachter von dieser Seite beleuchte. Der Krieger werde zum beliebig einsetzbaren Werkzeug des Politikers; er kämpfe um Beute und nicht um Ruhm; er trachte, den Gegner zu berauben, und nicht, an ihm seine überlegene Kraft zu erproben. »La guerre n'a plus ses fins en elle-même; elle 87

zum Problem der Gewalt vgl. weiter unten, S. 134 ff »8 Réflexions ..., S. 248 m ebda., S. 247 (Hervorhebungen von H. B.) 114

a pour objet de permettre aux hommes politiques de satisfaire leurs ambitions . . .« 100 W i e schon die konträren Modelle von der Revolution und vom Klassenkampf, so überträgt Sorel auch die vom Kriege auf die beiden Formen des Generalstreiks. Alle diese Modellentwürfe dienen ihm dazu, den revolutionären Syndikalismus zu heroisieren und den parlamentarischen Sozialismus zu perhorreszieren. »La grève syndicaliste offre les plus grandes analogies avec le premier système de la guerre.« 101 Das Proletariat organisiere sich wie eine Armee in strenger Trennung von allen anderen sozialen Schichten zur Entscheidungsschlacht. Es ordne alle sozialen Erwägungen dem Kampf unter. Es h a b e ein ausgeprägtes G e f ü h l f ü r Ruhm und Größe. Ihm gehe es nicht um die Eroberung von Macht, die Ausnutzung des Sieges und die Ausbeutung des Besiegten. Das im Syndikalismus organisierte Proletariat kämpfe f ü r eine Gesellschaftsordnung, von der es sich die Erfüllung seines Daseins in schöpferischer produktiver Arbeit und nicht ein genußreiches Dasein ohne Arbeit erhoffe. »II compte expulser les capitalistes du domaine productif et reprendre ensuite sa place dans l'atelier créé par le capitalisme.« 102 D e r politische Generalstreik entspreche genau dem entgegengesetzten M o dell vom Kriege. In ihm hätten sich die Politiker a n die Spitze des Proletariats gestellt und es zum Instrument erniedrigt. Sie behandelten die Kämpf e n d e n wie eine Söldnerarmee, deren Kampfbereitschaft sie wachhielten, »comme on a toujours entretenu l'ardeur des troupes mercenaires, par des exhortations au prochain pillage, p a r des appels à la haine et aussi par les menues faveurs que leur permet d é j à de distribuer l'occupation de quelques places politiques.« 1 0 3 Abgesehen von dem zerstörerischen Vollzug des politischen Krieges oder politischen Generalstreiks hält Sorel auch das von ihnen zu erwartende E r gebnis f ü r verhängnisvoll. In der Organisation des politischen Generalstreiks bildeten sich schon die Kader104 der künftigen Staatsgewalt aus. Diese Kader strebten unter der Bezeichnung »Diktatur des Proletariats«, mit der sie ihre ebda., S. 248 101 ebda., S. 249 10î ebda., S. 249 10J ebda., S. 250 104 » . . . dans leurs (sozialistische Parteiführer) organisations actuelles les politiciens préparent déjà les cadres d'un pouvoir fort, centralisé, discipliné, qui ne sera pas troublé par les critiques d'une opposition, qui saura imposer le silence et qui décrétera ses mensonges.« - ebda., S. 250; - Die im Sozialismus weit verbreitete Auffassung, die Lenin später in Was tun? (1902) und vor allem in Staat und Revolution (1917) theoretisch fixiert hat, daß nämlich die sozialistische Revolution von einer revolutionären Elitepartei, von Berufsrevolutionären, angeführt werden müsse, hat Sorel als Blanquismus verworfen. Sie sei ganz und gar unmarxistisch und identisch mit dem jakobinischen Aufstand. »Le blanquisme n'est, au fond, que la révolte des pauvres conduite par un état-major révolutionnaire; une telle révolte peut appartenir à n'importe quelle époque; elle est indépendante du régime de la production...« - »il ne s'agit pas tant ici des idées de Blanqui, que de la tradition jacobine que Bernstein a définie par le mot >blanquisme