Poetik des Exils: Die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur [Reprint 2013 ed.] 9783110924510, 9783484321090

After the Nazis' rise to power, numerous writers left Germany and went into exile. But in the subsequent decades li

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German Pages 457 [460] Year 2001

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Table of contents :
Einleitung
1. Exil und Exilliteratur : zur Forschungslage
2. Wissenschaftliche Perspektiven einer Poetik des Exils
I. Kulturaporetik oder »Was ist Realität?«
1. Literarische Kommunikation im Exil: Die Irritation des Rollenbezugs von Autor und Leser
2. Der Diskurs um Ratio im Exil
3. Der poetische Text in der kulturellen Negation: Autoreflexivität
II. Literaturtheorie im Exil: Mimesis
1. Dimensionen der Kategorie Mimesis
2. Mimesis im ästhetischen Diskurs des Exils oder »Was ist Form?«
2.1. Mimesis als »dargestellte Wirklichkeit«: Erich Auerbach
2.2. Das mimetische Vermögen: Walter Benjamin
2.2.1. Das mimetische Vermögen der Lektüre
2.2.2. Schrift - Sprache – Bild
2.2.3. Die Entstellung der Wirklichkeit durch den Autor
2.3. Gestische Mimesis: Bertolt Brecht
2.4. Mimesis der Metamorphosen: Carl Einstein
3. Geschichtsdiskurse / Narrativik oder »Was ist Historie?«
3.1. Konzepte des Historischen im Exil
3.1.1. Geschichte und Fiktion: Alfred Döblin
3.1.2. Vom »Weltgeist« der Geschichte: Stefan Zweig
3.1.3. Bertolt Brechts »Historisierung«
3.1.4. Benjamins »kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung«
3.1.4.1. Geschichtstheorie
3.1.4.2. Mythische Elemente
3.1.4.3. Erzählstrukturen
3.2. Die Produktivität des Mythos im Exil
3.2.1. Mythos als »Existenzphilosophie«: Hermann Broch
3.2.2. Parodie der Historiographie im Mythischen: Thomas Mann
III. Weltentwürfe der Exilliteratur – Exilromane
1. Erinnerte Welten
1.1. Soma Morgenstern: Funken im Abgrund
1.1.1. Strukturen chassidischen Erzählens – mythische Bilder
1.1.2. Erinnerungsbilder: narrative Funktionen des väterlichen Briefes und der Erzählungen Welwels
1.2. Eine »Kleine jüdische Welt« als Groteske – H. W. Katz: Die Fischmanns
1.3. Verfremdende Kinderblicke auf Deutschland – Ilse Losa: Die Welt in der ich lebte
1.4. Der Erinnernde als unzuverlässiger Erzähler der Vergangenheit - Joseph Roth: Die Kapuzinergruft
2. Verstörte Welten
2.1. Elisabeth Augustin: Auswege
2.1.1. Polyphonie der Auflösung: »Finden gelingt nur dem der nichts sucht«
2.1.2. Ariadne - Brüche im Mythos
2.1.3. »Nature morte« – Zur Autoreflexivität der Kunstdiskurse
2.2. Sprachverstörung nach dem ›Anschluß‹ – Veza Canetti: Die Schildkröten
2.3. Kamevalisierende »Untergangskulissen« – Alexander Moritz Frey: Hölle und Himmel
2.4. »Worte waren keine Entsprechung für die Abläufe« – Hans Henny Jahnn: Das Holzschiff
3. Fabelhafte Welten
3.1. Alfred Döblin: Babylonische Wandrung
3.1.1. Eine »unmögliche mögliche Welt«: Das Aufdecken der eigenen Künstlichkeit
3.1.2. »Ist die Geschichte schon zu Ende? Wer weiß es?« Die Wandrung als antihistorischer Text
3.1.3. Intertextuelle Bezüge zu Goethes Faust
3.2. »Je est un autre« - Franz Werfels ironisches Spiel mit der auktorialen Identität in Stern der Ungeborenen
3.3. Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke – eine »Logik des Wunderbaren«?
Resümee
Literaturverzeichnis
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Poetik des Exils: Die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur [Reprint 2013 ed.]
 9783110924510, 9783484321090

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 109

Bettina Englmann

Poetik des Exils Die Modernität der deutschsprachigen ExiUiteratur

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Englmann, Bettina: Poetik des Exils: die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur / Bettina Englmann. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; Bd. 109) Zugl.: Augsburg, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-484-32109-1

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urhebenechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielf^tigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Dnick: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Einleitung 1. £*//und £xj7/iteraAnschluß< VezaCmetti: Die Schildkröten

309

Kamevalisierende »Untergangskulissen« Alexander Moritz Frey://ö//e unrf//imme/

322

»Worte waren keine Entsprechung fiir die Abläufe« Hans Henny Jahnn: Das Holzschiff

3. Fabelhafte Welten 3.1.

3.2.

3.3.

A\ftzdXi6\)\m\ Babylonische Wandrung

337 352 356

3.1.1. Eine »unmögliche mögliche Welt«: Das Aufdecken der eigenen Künstlichkeit 3.1.2. »Ist die Geschichte schon zu Ende? Wer weiß es?« Die W^awi/ri/ng als antihistorischer Text 3.1.3. Intertextuelle Bezüge zu Goethes Fauj/

371 381

»Je est un autre« - Franz Werfeis ironisches Spiel mit der auktorialen Identität in Stern der Ungeborenen

392

Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke eine »Logik des Wunderbaren«?

408

358

Resümee

421

Literaturverzeichnis

427

VII

Einleitung

1. Exil und Exilliteratur : zur Forschungslage Das Forschungsfeld der Exilliteratur konstituiert sich durch die mäandernden Wege der Exilforschung. Wie kaum ein anderes Gebiet der Literaturwissenschaft ist der Blick auf das Exil geprägt von den Grabenkämpfen ihrer Geschichte zwischen Ost und West, aber auch zwischen litterature engagee und litterature pure. Diese Situation verursachte spezifische Probleme. Jeder neue Forschungsansatz muß vorhandene Untersuchungen auswerten und aus ihren Ergebnissen präzisere Fragestellungen und Begrifflichkeiten entwickeln, die einen intensiveren Blick auf das Forschungsgebiet ermöglichen. Begriffe, die trivial oder leer geworden sind, können von der Forschung nicht mehr genutzt werden. Deshalb ist es schwierig, noch mit Exil und Exilliteratur zu arbeiten, mit Kategorien, die durch ihren inflationären Gebrauch in unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten keine präzisen Inhalte mehr vorweisen können. Es vermischen sich inzwischen heterogene Vorstellungen davon, was Exil war und ist und was seine künstlerische Produktion ausmacht. Die Kategorie Exil mußte in ihrer Forschungsgeschichte tür immer allgemeinere Fragestellungen herhalten, ein Phänomen, das sich nach den schwierigen Anfängen in den 60er Jahren ausbreitete: Exilforschung wurde zur Modeerscheinung, der Begriff Exil verlor immer mehr an Substanz. Zunächst müssen klare, arbeitsfähige Begriffe von Exil und Exilliteratur erarbeitet werden, um verschwommene Konnotationen nicht ständig mitzuführen. Dies soll über eine Bestandsaufnahme der Forschungsgeschichte möglich werden. Wissenschaftliche Fortschritte können nur erreicht werden, wenn es gelingt, historisch gewordenen Ansätzen nicht mit der Orientierung auf Konsens, sondern mit dem Ziel, neue Diskurse zu eröffnen, zu begegnen. Über jede Kritik des Bestehenden hinaus müssen eigene, konstruktive Fragestellungen neue Perspektiven eröffnen. Auch in der Exilforschung wird seit einigen Jahren ein Paradigmenwechsel angekündigt,' eingelöst wurde dies jedoch noch nicht. '

Hermann Haarmann versprach durch die verstärkte Erforschung individueller Mentalitäten von Exilanten einen Paradigmenwechsel der Exilforschung. Allerdings

1

Exilliteratur

war seit den 30er Jahren die Literatur der Autoren, die vor

Hitler ins Ausland geflohen waren und unter Bedingungen des Exils weiter produzierten. Nachdem die Rezeption dieser Texte in Deutschland und Österreich auch nach dem Krieg keineswegs unproblematisch vor sich ging,^ war die frühe Exilforschung des Westens dadurch geprägt, daß sie gegen die Verdrängung und gegen taube Ohren in der deutschsprachigen Öffentlichkeit anschreiben mußte. Diese Forscher verbanden hohe moralische Werte mit den Exilanten und ihrem Werk, als >antifaschistische< Autoren hatten sie im Exil ein >anderes< Deutschland hochgehalten und bewahrt. Im Kontext einer Gesellschaft, die versuchte, die Jahre der Naziherrschaft totzuschweigen, setzte die Exilforschung auf die Würdigung des politischen Engagements der Exilanten, sozialgeschichtliche Ansätze prägen die Methodik dieser Studien.3 Exilliteratur

wurde so als politische Literatur unter wirkungsästhetischen Vor-

aussetzungen rezipiert. Die Jahre nach 1968 bringen eine Fülle von Arbeiten zum Exil; die Exilforschung kann sich fest installieren und sogar eine methodische Vorbildftinktion in der Germanistik behaupten.* Problematisch war hier, daß politisch schwer einzuordnende oder passive Autoren samt ihrer Produktion im Exil abgewertet wurden. »Abseitigkeit«, »Realitätsflucht«, so lautete das Urteil über Hermann Broch, Joseph Roth und andere Autoren.' Kategorisierungen wurden primär anhand von Gruppenbildungen der Autoren er-

beschaftigen sich weite Teile derselben seit Jahrzehnten mit dem individuellen Befinden von Exilierten; darin ist weniger ein Paradigmenwechsel als ausdauerndes Beharren zu erkennen. Vgl. das Vorwort in Haarmann, Innen-Leben, S. 8. Vgl. auch Loewy, Paradigmenwechsel in der Exilliteraturforschung. Zur Zitierweise im Anmerkungsapparat: Es werden grundsatzlich nur Verfasser bzw. Herausgeber und Kurztitel angegeben. Vollständige bibliographische Angaben finden sich Im Literaturverzeichnis. Bei Zitaten aus Werkausgaben wird zusätzlich zum Band auch der Titel des jeweiligen Textes genannt. Zur Rezeption des Exils vgl. Sevin, Resonanz des Exils; Trommler, Zur Nicht-Rezeption der Exilliteratur; Holzner, Eine schwierige Heimkehr. Vgl. Wegner, Exil und Literatur; Hermand, Schreiben in der Fremde; Stephan, Exilliteratur; und die erschienenen Bände von Walter, Deutsche Exilliteratur. Hans-Albert Walter stellt sich gegen werkimmanente Interpretationen und bietet dagegen das »Modell« des Exils, »an dem die Beziehungen von Kunst und Gesellschaft, Literatur und Politik« vorbildhaft deutlich werden: »Die deutsche Germanistik hätte die Chance, an diesem Stoff einen möglichen Ausweg aus ihrer Krise zu erproben.« Vgl. Walter, Emigrantenliteratur und Germanistik, S. 319. Schon 1947 war Broch in Döblins Zeitschrift Das goldene Tor »Kritiklosigkeit« und »SS-Esoterik« vorgeworfen worden, was angesichts von Brochs politischen Schriften im Exil schwer verständlich ist. Auch Jahrzehnte später hält sich der Vorwurf der »Verinnerlichung«. Vgl. Durzak, Zeitgeschichte im historischen Modell, S. 439. Laut Durzak verliere Broch im Tod des Vergil »die reale Problematik aus dem Blick«, was »mit einem Verlust an realem politischen Gehalt verbunden« sei (S. 438). Durzak muß sich fragen lassen, wie er sich ein >reales< politisches Konzept eines Exilanten während des Zweiten Weltkriegs vorstellt.

arbeitet, welche entweder nach politischen Kriterien^ oder nach ihren Fiuchtländem^ eingeteilt wurden, was für die Erforschung einer Poetik von Texten wenig ergiebig ist. Diese Forschungsrichtung hatte jedoch andere Ziele vor Augen; hervorragend dokumentiert sind deshalb viele Biographien, Zeitschriften des Exils, Verlagsleben.' Ästhetische Praktiken wurden allerdings kaum einmal beachtet, was sich in der Exilforschung der DDR, die Exilliteratur als ihr >sozialistisches Erbe< reklamierte, extrem gespiegelt zeigt.' Auf äußerst selektive Weise wurden hier Texte und Autoren instrumentalisiert oder totgeschwiegen, wenn sie nicht in das Schema des sozialistischen Realismus integrierbar waren. Zwar ist der Kalte Krieg beendet, das >antifaschistische< Paradigma der Exilforschung wird jedoch auch in den 90er Jahren noch fortgeschrieben, i® Immer noch werden die leider so begrenzten und ungenügenden Faschismusanalysen der Exilanten erforscht, ohne jedoch die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft" zu beachten, was oft geradezu anachronistisch wirkt. Poetische Konzeptionen und Werkstrukturen werden weiterhin im Interesse von gesellschaftspolitischen Handlungsmodellen zurückgestellt. Schon früh wurde diese politisierende Interpretation kritisiert. Vor allem Germanisten in den USA wie Joseph Strelka oder Werner Vordtriede, der einst selbst aus Deutschland geflohen war, setzten auf einen Begriff von Exilliteratur, der sich an einem klassizistischen Verständnis von )reiner< Kunst orientierte und Konzepte von Politisierung und Wirkungsästhetik als qualitative Rückschritte der Exilliteratur abwertete.'2 Darin können sich diese Forscher auf Texte des Exils berufen, die selbst verallgemeinerten. So schreibt Stefan Zweig in seinem »Cicero«-Essay: Nun kann einem geistigen Menschen nichts Glücklicheres geschehen als die Ausschaltung vom öffentlichen, vom politischen Leben; sie treibt den Denker, den Künstler aus einer seiner unwürdigen Sphäre, die nur mit Brutalität oder Verschlagenheit zu bemeistem ist, in seine innere unberührbare und unzerstörbare zurück. ®

Vgl. Trapp, Literatur im Exil. Verdienstvoll ist der Versuch Trapps, die Gattungen Lyrik, Drama, Roman ins Gedächtnis der Exilforschung zurückzurufen. Die von ihm definierten Genres innerhalb dieser Gattungen sind Jedoch kaum brauchbar. Vgl. auch Feilchenfeldt, Exilliteratur. Auch Konrad Feilchenfeldt versucht, Gattungstypen für das Exil einzugrenzen, v. a. anhand inhaltlicher Kriterien. ' Z. B. Pike, Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil; Würzner / Kröhnke, Exil in den Niederlanden. ' Z. B. Stemfeld / Tiedemann, Deutsche Exilliteratur; eine Bio-Bibliographie; Maas, Handbuch der deutschen Exilpresse; Wächter, Theater im Exil. ' Vgl. Jarmatz, Literatur im Exil; Schiller, Literatur im antifaschistischen Kampf Z. B. Sim, Antifaschistische Literatur; Diekmann, Erdbebenjahre; Bauschinger / Cocalis, Wider den Faschismus. ' ' Zum NS-Alltag z. B. Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. '2 Vgl. Strelka, Exilliteratur; Vordtriede, Typologie der Exilliteratur.

Jede Form des Exils wird für einen geistigen Menschen Antrieb zur inneren Sammlung, [...].

Ganz offensichtlich stilisiert sich hier ein Autor sein Exil und deutet dessen alltägliche Kränkungen in geistige Höhenflüge um, wozu die Analogie mit Cicero noch beiträgt. Manche Exilforscher ließen die notwendig kritische Haltung gegenüber derartigen historischen Texten und Personen vermissen; oft wurde der leidende Exilant zum Identifikationsideal. Scheinbar analytische Aussagen, wie die von Zweig, wurden unkritisch reproduziert. Dieser Forschungsansatz versuchte, existentielle, überzeitliche Kategorien des Exils zu entwickeln, was jedoch zu einer Entwertung der historischen und literaturhistorischen Verortung der Exilliteratur im Interesse eines ewigen literarischen )Humanismus< führte. Exil wird hier zum Paradigma des Künstlertums in Vertretung des Menschlichen stilisiert, anders ausgedrückt: Exil wird zur Metapher für Autoren und Texte, die Aspekte von Entfremdung, Isolation, Sprachproblematik, Klage etc. aufweisen. Dies führte zu der paradoxen Situation, daß zwar Autoren wie E. T. A. Hoffmann oder James Joyce mit psychologisierenden Begründungen dem Exil zugeordnet wurden, ein Autor wie Bertolt Brecht jedoch aus dem Exil ausgeschlossen wurde, da er nicht entsprechend gelitten habe.''' Exilliteratur wird über zahlreiche Motive und Topoi definiert, so daß Autoren und Texte der Antike, der jüdischen Diaspora, des Jungen Deutschlands in eine Reihe gestellt werden mit den pazifistischen Autoren des Ersten Weltkriegs und dem Exil nach 1933. Es erweist sich als äußerst problematisch, daß die deutschsprachige Literatur nach 1933 so als geistige Insel dasteht, die Verbindungen aufweisen soll zu anderen geistigen Inseln der Literaturgeschichte. Völlig aus dem Blick gerät, daß

Exilliteratur

eine Literatur des 20. Jahrhunderts ist, eine Literatur der Moderne, die historisch fest verortet ist, und zwar in der Literatur der 30er und 40er Jahre. Was vorausging, die Strömungen des Modernismus, die Sachlichkeit der 20er Jahre, all das hat seine Kontinuitäten in der Literatur des Exils und darf nicht aus der Forschung ausgeblendet werden.'5

'3 Stefan Zweig, Zeiten und Schicksale, Cicero, S. 341. Vgl. Weisstein, Bertolt Brecht. Die Lehren des Exils. 15 »Wohl hat die Exilforschung immer wieder betont, wie breit das Spektrum der vertriebenen Literaten und wie unterschiedlich ihre Reaktionen auf die politische und persönliche Situation waren. Dennoch hat häufig die vorgegebene Perspektive - der Tatbestand der Vertreibung aus Nazideutschland - die Auseinandersetzung mit jenen Texten erschwert, die an Schreibverfahren der Avantgarde anknüpfen und weder die politische Situation noch das Erlebnis der Vertreibung ausdrücklich reflektieren.« Vgl. Bischoflf, Avantgarde und Exil, S. 108.

Das überzeitliche Paradigma fand in den letzten Jahren - gerade in der internationalen Forschung - immer größere Verbreitung.'^ Exil wurde zur allgemeinmenschlichen Kategorie, Analysen beginnen bei Adam und enden bei Joseph Brodsky. Es mag dahingestellt sein, welche anthropologischen Erkenntnisse sich daraus gewinnen lassen, für einen literaturhistorisch präzisen Forschungsansatz sind sie nicht nutzbar. So muß kritisch festgestellt werden, daß die Überdehnung des Exilbegriffs auch zu einer Entwertung der Kategorie Exilliteratur führte. Elisabeth Bronfen versucht in ihrem Aufsatz »Exil in der Literatur: Zwischen Metapher und Realität«,'' die Vermischung der Begrifflichkeit zum Exil aufzubrechen. Sie unterscheidet zwischen einer konkreten Realität des Exils für einen Autor und der vielfältigen Metaphorik, die mit dem Begriff des Exils in Verbindung gebracht wird. Exil wird zum einen -als realer Aufenthaltsort des Schriftstellers betrachtet: Der Exilbegriff bezieht sich gleichsam auf eine verlängerte Abwesenheit von der Heimat aufgrund unerträglicher Verhältnisse, seien es wirtschaftliche, kulturelle, politische oder religiöse. Exil umfaßt sowohl die erzwungene wie auch die freiwillig gewählte Trennung eines Menschen von dem Ihm vertrauten natürlichen Ort, und d. h. von seiner Familie, seiner Vergangenheit, seinem Erbe, von seinem gesellschaftlichen Kontext und seiner kulturellen Sprache, womit wörtlich die Muttersprache bzw. im übertragenen Sinne die angeeigneten kulturellen Regeln und Bräuche gemeint sein k ö n n e n . "

Exil als Realität sagt nichts über die individuelle Reaktion eines Autors auf die Exilierung aus, auch nichts über jeweilige Literarisierungen. Es hängt von der Persönlichkeit des Autors ab, ob und in welcher Form Exilerfahrungen literarisch umgesetzt werden. Exilliteratur umfaßt demnach alle Texte, welche von einem exilierten Autor verfaßt werden, unabhängig von Inhalt und Form. Exil endet nicht unbedingt mit der Rückkehr in die ehemalige Heimat, da eine lückenlose Wiederanknüpfung nicht möglich ist. Was einmal als >Heimat< im Leben des Exilanten anerkannt war, ist nun nicht mehr identitätsstiftend, zu viel ist geschehen, nicht nur der Exilant, auch die frühere Heimat hat sich verändert. Diesem äußerlichen Exilbegriff ist die vorliegende Studie verpflichtet; bevor Urteile über die Ästhetik des Exils gefällt werden, soll genau betrachtet werden, welchen Diskursen sich die poetischen Texte der Exilliteratur nach 1933 verpflichten - ein Ansatz, dessen Methodik im zweiten Kapitel der Einleitung ausgeführt wird.

Z. B. Simpson, Oxford Book of Exile; Makouta-Mboukou, Les litteratures de l'exil; Knapp, Exile and the Writer; Whitlark / Aycock, Literature of Emigration. Bronfen, Exil in der Literatur: Zwischen Metapher und Realität. '8 E b d . , S . 169f

Exil als metaphorisches Feld stellt sich sehr viel farbiger dar als der karge autorenzentrierte Exilbegriff. Die Exilanten haben diese Metaphorik selbst eingeführt und ausgiebig verwendet: das Exil wird als Krankheit bezeichnet, als todesähnlicher Zustand, als existentielle Prüfung des Künstlertums etcJ^ Man kann dieses Schwelgen in Bildern sicherlich als Reaktion auf die oft banale Exilrealität verstehen, als Versuch, die eigene Situation metaphorisch zu verherrlichen. Franz Werfel verweigert die Banalität des Exils, Exil ist ihm nicht nur »ein Schicksal, ein Unglück, ein widerwärtiger Zwischenfall«, im Gegensatz zu vielen anderen will er es als »tiefes Mysterium« sehen, will »den Becher der Bitterkeiten mit deutendem Bewußtsein leeren«.^« Werfel erschreibt sich so einen Sinn für das oft sinnlos erscheinende Exil. Exilrealität und Exilmetapher vermischen sich in vielen literarischen Texten, wie in Anna Seghers' Transit. Was dort ein literarischer Kunstgriff ist, führt im literaturwissenschaftlichen Gebrauch zu Unklarheiten und zur Entwertung der Kategorie Exil. Durch metaphorische Exilerklärungen verliert man die Texte der historisch verorteten Exilliteratur fast aus dem Blick oder durchforscht sie eindimensional nach >Exil-MotivenDeutschen Reich< waren die einzigen Freien und Unabhängigen, somit Revolutionäre im wahren Sinne des Wortes, allein die wahren Schriftsteller. Deshalb fühlten sie sich, lange vor Hitler, als Emigranten und Vaterlandslose im Königreich der Technik, der Korporale, des Parademarsches und des Strammstehens.« Roth, Werke 3, Das Autodaft des Geistes, S. 496. Döblin schreibt in den USA, er sei als Autor gestorben: »Wenn ich nicht tot bin, wie ist man denn tot?« Vgl. Döblin, Briefe, an Hermann Kesten, 12.3.1943, S. 287. Franz Werfel, Oben und Unten, Ohne Divinität keine Humanität, S. 552. So reklamiert z. B. Guy Scarpetta Kafka aufgrund diverser Entfremdungserfahrungen als Exilanten. Vgl. Scarpetta, Traversees, S. 32. 22 Bischoflf, Avantgarde und Exil, S. 109.

Dies wird in anderen Kontexten auch von Elisabeth Bronfen icritisiert. Sie iconstatiert, daß Exilanten, seit der Antiice mit dem Makel der Rechtlosigkeit behaftet, heute zu moralischen Vorbildern geworden sind: eine völlige Umdrehung der belastenden Situation, in der sich auch die Autoren befanden, die dem Nationalsozialismus entflohen - was jedoch selten methodisch reflektiert wird. Die exilierten Schriftsteller der Nazi-Zeit arbeiteten selbst hart daran, ihr Exil aufzuwerten, indem sie sich zum >anderenbesseren< Deutschland stilis i e r t e n . S i e stießen in ihren Asylländern keineswegs überall auf Verständnis oder gar freundliche Aufnahme. Die Exilanten litten entsprechend nicht nur unter ihren Alltagsproblemen, sondern auch unter der verbreiteten Ablehnung. Sie sahen im Exil eine Gefährdung ihres Schreibens. »Wenn der vertriebene deutsche Schriftsteller dennoch ein Buch schreibt, ist das in Wirklichkeit ein unterschätztes Heldentum.«^^ Joseph Roths bittere Feststellung trifft seit einigen Jahrzehnten nicht mehr zu. Durch die Exilforschung wurde das einst unterschätzte Heldentum auch auf moralisierende Weise vor die Öffentlichkeit gebracht, was im historischen Kontext der verbreiteten Verdrängung in Deutschland verständlich ist. Allerdings war nicht jeder Exilant ein Held, und ebenso ist nicht jeder seiner Texte von literaturwissenschaftlichem Interesse. Wenn auch jeder Text des Exils als bedeutsame historische Quelle gelesen werden kann, so repräsentiert er doch nicht zwangsläufig ein poetisches und sprachliches Kunstwerk. Insofern wurde die ästhetische Bewertung der Exilliteratur zu einem Problem der Forschung. Die betonte Anerkennung von politisch selbstbestimmten Exilanten führte dazu, daß ein Exilantendasein heute als identitätsstiftend und positiv dargestellt werden kann. Das Exil wertet moralisch auf, kein Wunder, daß Exil-Metaphorik gern angewendet wird, um ir-

So äußert Graf, er sei dem »Schicksal dankbar«, daß es ihn »zum Emigranten hat werden lassen. Emigrant sein hieß für mich allerdings stets, sich innerlich bewähren. Es hieß, sich beständig auseinanderzusetzen mit dem, was man geistig und gefühlsmäßig mitbekommen, und mit dem, was unablässig als scheinbar Fremdes In diesen seelischen Bezirk einströmte.« Vgl. Graf, An manchen Tagen, S. 29f Vgl. Roth, Werke 3, Die vertriebene deutsche Literatur, S. 711. Was Roth schlicht formuliert, das klingt bei anderen Autoren sehr pathetisch, wird zu einer stilisierten Identität, die offensichtlich die Realität des Exils kompensieren soll. So schreibt Graf 1940 Uber den Literaten im Exil: »Er bleibt trotz aller Hoffnungslosigkeit das, was er war: ein freiheitlicher deutscher Schriftsteller! Er erkennt schmerzlich, daß dies nicht irgendein Beruf ist, den man wechseln kann, sondern eine tiefe innere Berufung. Niemand druckt ihn mehr, niemand liest ihn mehr, niemand hört ihn mehr, und nur einige wissen von ihm und seinem Schaffen, aber er nimmt alle Bitternis der Prüfung auf sich, weil er weiß, daß die deutsche Sprache, deutsches Denken und Fühlen, deutscher Geist und deutsche Kultur sein Schicksal sind, seine wirkliche Kraft.« Vgl. Graf, Reden und Aufsätze, Rede an die Mitgliederversammlung der GA WA, S, 145.

gendwelche Personen, Texte, Kunstwerke positiv zu icennzeichnen.^^ Durch die konstatierte semantische Verschiebung des Exilbegriffs ist der Exilant kein Verbannter, kein Verachteter mehr, er wird statt dessen zum Dissidenten, der sich selbstbestimmt gegen verbreitetes Unrecht einsetzt, erhöht. Der heute weltweit verbreitete Begriff Exil hängt nicht mehr von äußeren Bedingungen ab, wenn diese auch einst der Ausgangspunkt waren, er bezeichnet ein inneres metaphorisches Exil, das an die Innere Emigration erinnert. Das metaphorische Exilparadigma wird für die vorliegende Studie zurückgewiesen, hier wird von der empirischen Realität Exil ausgegangen, von der die deutschsprachige Literatur der 30er und 40er Jahre geprägt ist. Abgesehen von den Problemen, die sich aus der Anwendung eines metaphorischen Exil-Begriffs ergeben, ist auch der Versuch, die deutschsprachige Exilliteratur historisch als eigene Epoche zu charakterisieren, die zwischen 1933 und 1945 außerhalb Deutschlands stattfand, methodisch problematisch. 1933 als Beginn der Exilliteratur orientiert sich natürlich an dem für deutsche Schriftsteller so einschneidenden politischen Datum der Regierungsübernahme durch die Nazis. In den folgenden Jahren flohen zahlreiche Autoren aus Deutschland, aber keineswegs alle 1933. So erfolgte die Emigration österreichischer Literaten in weiten Teilen erst nach dem >Anschluß< 1938. Andere deutsch schreibende Autoren hatten sowieso nicht oder nicht mehr in Deutschland gelebt, wie Renö Schickele oder Kurt Tucholsky; sind ihre Texte der Exilliteratur zuzurechnen? Und wenn ja, ab wann? Ihr individuelles >ExilNullpunkt< 1945. Im Nachkriegsdeutschland wird das literarische Leben von der Gruppe 47 bestimmt, Kontakte zu ehemaligen Exilautoren sind eher zufällig und selten. Die Exilliteratur der Nachkriegszeit ist oft zugunsten der neubeginnenden Autoren in Deutschland verdrängt und marginalisiert worden. Gibt es also keine Kontinuitäten zwischen Exil und Nachkriegszeit? Auch muß beachtet werden, daß die Exilliteratur 1945 kein Ende findet, kaum jemand kehrt schnell oder gar auf Dauer nach Deutschland zurück. Wie soll man also die Texte einordnen, die von einstigen Flüchtlingen nach 1945 verfaßt wurden? Schwierig ist auch die Frage, wie man die Literatur der Schweiz in dieser Zeit betrachten soll. Im Gegensatz zu Deutschland und Österreich war in der Schweiz das kulturelle und literarische Leben frei geblieben; gibt es hier also keinen )Epochenbruch