Theaterstücke des lateinamerikanischen Exils 9783964564108

Der Band enthält Stücke lateinamerikanischer Autoren, die zur Zeit der Diktaturen der letzten 25 Jahre des 20. Jhts. in

223 13 29MB

German Pages 430 Year 2002

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Reden wir von was anderem
Alfons und Chlothilde
In grauer Ferne
Altazor-Äquinoktium
Die Zwillinge von Calanda oder Über einige Gesetzmäßigkeiten bei der Entwicklung politischer Phänomene
Zornige Antigone
Das andere Ufer
Der Feuerdrache
Exil
Das Fest
Katzen haben sieben Leben
Unsere Liebe Frau der Wolken
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Theaterstücke des lateinamerikanischen Exils
 9783964564108

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Theaterstücke des lateinamerikanischen Exils Heidrun Adler, Adrián Herr (Hrsg.)

T H E A T E R IN LATEINAMERIKA Herausgegeben von der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika Band 13

Theaterstücke des lateinamerikanischen Exils Herausgegeben von Heidrun Adler und Adrián Herr unter Mitarbeit von Almuth Fricke

Vervuert • Frankfurt am Main 2002

B i b l i o g r a f i s c h e I n f o r m a t i o n Der Deutschen B i b l i o t h e k Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Vervuert Verlag, F r a n k f u r t am Main 2002 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann ISBN 3-89354-662-6 G e d r u c k t auf säure- und c h l o r f r e i e m , alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Vorwort

7

Susana Torres Molina REDEN WIR VON WAS ANDEREM

9

Carlos Manuel Varela ALFONS UND CHLOTHILDE

45

Roberto Cossa IN GRAUER FERNE

79

Ramón Griffero ALTAZOR-ÄQUINOKTIUM

93

CARLOS CERDA DIE ZWILLINGE VON CALANDA ODER Ü B E R EINIGE

GESETZMÄßIGKEITEN

BEI DER ENTWICKLUNG POLITISCHER PHÄNOMENE

113

GRISELDA GAMBARO ZORNIGE ANTIGONE

139

JORGE DÍAZ D A S ANDERE UFER

161

ROMA MAHIEU DER FEUERDRACHE

201

MATÍAS MONTES HUIDOBRO EXIL

261

JOSÉ TRIANA D A S FEST

309

PEDRO R . MONGE RAFULS KATZEN HABEN SIEBEN LEBEN

353

ARÍSTIDES VARGAS UNSERE LIEBE FRAU DER WOLKEN

397

J'ai perdu la vie, autrefois, mais je m'en suis sortie puisque je chante.

Vorwort Der totalitäre Staat mißtraut dem freien Geist des Künstlers. Er hält ihn für subversiv, weil er unzuverlässig ist. Unzuverlässig wegen seiner Fähigkeit zu wechselnden Allianzen, und weil die Einhaltung der Menschenrechte bei ihm (meistens) vor jedem ideologischen Engagement rangiert. Speziell das Theater will unbequem sein, will Anstoß geben, über alles immer wieder nachzudenken. In kritischen Zeiten soll niemand meinen, er sei nicht verantwortlich. So verwundert es nicht, daß im Verlauf der Geschichte vor allem Theaterautoren ins Exil gehen mußten. In diesem Band sind Stücke lateinamerikanischer Autoren versammelt, die zur Zeit der harten Diktaturen der letzten 25 Jahre des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika im Exil und über das Exil geschrieben wurden. Alle Stücke präsentieren eine vielfältige Marginalität beiden Gesellschaften gegenüber, der der Heimat und der des Exils. Einige Autoren konzentrieren sich, unabhängig von ihrem Standort, auf das Grundthema ihres Werkes: Susana Torres Molina unterläuft den patriarchalischen Diskurs, der in der Übertreibung des machismo zur Karikatur wird. Sie zeigt immer wieder die Macht des einen über den anderen, eine Macht, die nicht aus der Autorität wächst, sondern aus der Tradition, der Gewohnheit, dargestellt im ausgeklügelten Rollenspiel. Wie sie besteht auch Griselda Gambaro auf der Unabhängigkeit des Geistes. Sie erlaubt sich eine kritische Revision der Geschichte, der Zustände, die die ausweglose Situation hervorgerufen haben, während Carlos Cerda aus der Distanz zur Heimat Heuchelei und Verrat als Bewußtseinsspaltung karikiert. Der größere Teil der Autoren verarbeitet im Drama die Exilerfahrung. Seit vielen Jahren im Exil lebend begreift Roma Mahieu die besondere Situation des Fremden als geistige Behinderung, als Krankheit, setzt sie der Ausgrenzung des Anderen gleich. Ramön Griffero interpretiert diese Ausgrenzung auf sozialer Ebene. Sein Text zeugt von einer existenziellen Atmosphäre, in der die Hoffnung im Metaphysischen wohnt, weil es für die Vertriebenen nur Hoffnungslosigkeit gibt. Die Figuren von Aristides Vargas werden zu Traumgestalten. Sie sprechen eine Sprache, die sich dem linearen Denken entzieht, beschäftigen sich mit Erinnerungen der Familie, des Individuums oder des Kollektivs. Sie halten sich daran fest, um nicht davonzufliegen. Und Carlos Manuel Varelas Figu-

8

Vorwort

ren verlieren auf dem Weg ins Exil sich selbst, sie lösen sich auf. Verlust der Heimat ist Verlust der Bindungen an die Familie, an die Tradition, ist Verlust der Identität. Das Theater ist ein Spiegelbild der Kultur, das auf dem Weg einer linguistischen Phänomenologie den kulturellen Gemeinsinn wiedergibt. Bei der Betrachtung des Exiltheaters heißt das: Figuren werden auf die Bühne gestellt, die nicht im Heimatland erdacht werden konnten und auch nicht von einem Autor des Gastlandes. Roberto Cossas realistische Darstellung einer argentinisch/italienischen Familie wird zum absurden Sprachspiel, in dem Kommunikation unmöglich wird. José Trianas Exilkubaner zeigen sich wie in einem Zerrspiegel, der die Frustrationen enthüllt, mit denen sie sich herumschlagen, während sie damit beschäftigt sind, den Schein zu wahren. Mit der Heimat haben sie den Bezug zur Realität verloren. Matías Montes Huidobro benutzt die Bühne selbst als Ort des Exils, in das die Figuren vor der Realität fliehen. Gleichzeitig ist sein Stück Exil einer der (sehr) wenigen im Exil geschriebenen Theatertexte, der die gegensätzlichen Standpunkte, die die einen ins Exil treiben, die anderen in der Heimat bleiben läßt, auf der Bühne diskutiert. Pedro Monge Rafuls konzentriert sich auf die Konflikte innerhalb einer kubanischen Familie, aus der ein Mitglied geflohen ist. Positive Aspekte gewinnen andere Autoren der Herausforderung ab, die das Exil ihnen stellt. Jorge Díaz interessieren wie Cossa die Exilierten, die den Atlantik mehrfach von Ost nach West und von West nach Ost überqueren. Er zeigt ihren Pragmatismus, den schwarzen Humor, den Menschen entwickeln, die überall Fremde sind und dennoch die Hoffnung nicht fahren lassen. Adrián Herr „ D a s Theater, Victoria, ist die einzig m ö g l i c h e Realität." Matías M o n t e s H u i d o b r o : Exil.

Susana Torres Molina Reden wir von was anderem Y a otra cosa mariposa

Madrid 1 9 7 9 / 8 0 Deutsch von Heidrun Adler

Reden wir von was anderem

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Susana Torres Molina (1946) ist Regisseurin, Schauspielerin und Autorin mit einer langen Liste außerordentlicher Stücke.1 1978 ging sie von Argentinien ins Exil nach Spanien. Schon mit ihrem ersten Theaterstück Extraño juguete hatte sie großen Erfolg, nach seiner Premiere 1977 hatte es mehr als hundert Aufführungen. Es zeigt zwei nicht mehr ganz junge, unverheiratete Schwestern und einen Vertreter für Damenunterwäsche. Zu Anfang sieht es so aus, als würde Mr. Maggi die Frauen mit seinem übervollen Koffer überrumpeln, doch bald entwickelt sich ein raffiniertes Spiel, das die Frauen mit ihm treiben. Es geht um Macht und Ohnmacht, wobei die Rollen spielerisch ausgetauscht werden. Am Ende erweist sich alles als Repräsentation: Die beiden Frauen mieten den Mann regelmäßig zu ihrer Unterhaltung. Nahezu alle Stücke von Torres Molina kreisen um das Rollenspiel. Dabei ist auffallend, daß die Autorin immer wieder Frauen in typischen Männerrollen agieren lässt. In Reden wir von was anderem, im Exil in Spanien geschrieben, stellt Torres Molina vier Frauen in Männerrollen auf die Bühne. Zu Beginn des Stückes verkleiden sich vier Schauspielerinnen als Jungen, am Ende ziehen sie die Männerkleidung wieder aus, sind wieder Schauspielerinnen. Mit diesem einfachen Mittel verweist die Autorin auf die zweifelhafte Gewohnheit, Menschen nach ihrem Äußeren zu beurteilen. Die Kleidung ist der Code - männlich/weiblich -, die Namen der Figuren charakterisieren den jeweiligen Typ. Der Dünne ist der schlichte gute Freund; der Engländer ist der gesellschaftliche Aufsteiger, dem das Image wichtiger ist als die Realität; Spatzi ist der Homosexuelle; Schweini ist der naive Dicke, Opfer ihrer verbalen Späße. In vier Szenen wird die Entwicklung der Jungen zu Jugendlichen, Männern und Greisen gezeigt. Der Witz des Textes liegt in der ironischen Vorgabe, daß Männer die Herren der Schöpfung sind und Frauen nur Objekte des männlichen Vergnügens. Der Dialog der vier „Männer" ist sexistisch, Frauen sind darin leichtfertige Lustobjekte oder dumme Gänse. Durch die ständige Präsenz der Frauen - als Schauspielerinnen, die die Männer spielen - wird gezeigt, wie fragwürdig die Begriffe männlich/weiblich sind. Spatzi ist zum Beispiel eine Frau, die einen Mann spielt, der sich als Frau verkleidet. Das Stück hebt die Kleidung als Kategorisierung hervor und stellt sie im gleichen Augenblick in Frage. Das Prinzip gegenteiliger Behauptungen: Fiktion wird hergestellt und im selben Moment als solche entlarvt. Die vier Frauen sind gleichzeitig 1 Aufgeführt wurden die Stücke: Extraño juguete (1977), Y a otra cosa mariposa (1981), Soles (1982), Inventario (1983 für Teatro Abierto), Espiral de fuego (1985), Amantíssima (1988), Unió mystica (1991), Canto de sirenas (1995), Paraíso perdido (1997), Nada entre los dientes, Cero, Hormigas en el Bidet (1999), Como si nada (2000). Unaufgeführt sind: Manifiesto (1998), Una noche cualquiera, Modus operandi (1999), Estática (2000).

Susana Torres Molina

12

Frauen, die Männer spielen und von Frauen gespielte Männer. Die dramatische Spannung entsteht aus diesem sich widersprechenden Blick. Da die Frauen als Männer das argentinische Frauenbild wiedergeben, wird Travestie hier ein Mittel zur Kritik am argentinischen machismo. Es muß betont werden, daß das Stück in der Zeit härtester Repressionen in Argentinien entstand. Die sogenannten „Moralbrigaden" trieben ihr Unwesen gegen Homosexuelle wie gegen politische Gegner. Kritik an der argentinischen Männlichkeit war nahezu Hochverrat. Susana Torres Molina ging erst Anfang der 80er Jahre nach Buenos Aires zurück. Während der Mann in Extraño juguete ein Spielzeug für wohlhabende Damen ist, übernehmen in Reden wir von was anderem die Frauen die Bühne und die Repräsentation des Rollenspiels zwischen den Geschlechtern. Sie zeigen nicht nur, wie Männer Frauen sehen, sondern in der Art und Weise, wie sie dies tun, erscheint auch das Bild, das Frauen sich von Männern machen. Amantissima ist ein Stück ganz für Frauen. Drei Schauspielerinnen zeigen in kurzen Szenen ohne zusammenhängende Handlung intime weibliche Momente wie Entbindung, Mutter-Tochter-Beziehung etc. Der Zuschauer soll diese Szenen wie Teile eines Puzzles selbst zusammensetzen. Bilder, Gesten, Bewegungen und Laute bilden ein Muster, Variationen provozieren ein sich endlos wiederholendes Ritual. Am Schluß kommen die Schauspielerinnen nach der Vorstellung nicht vor den Vorhang. Das Ritual ist hier keine vorübergehende Illusion, diese geht vielmehr über die Vorstellung hinaus. Adrián Herr Literatur Jacqueline Eyring Bixler: „Games and reality on the Latin American Stage", in LATR 12, 24 (1984), S. 22-35. : „For Women Only?", in Latin American Women Dramatists, hrsg. von Catherine Larson, Margarita Vargas. Bloomington 1998, S. 215-233. Nora Eidelberg: „Susana Torres Molina, destacada teatrista argentina", in ALBA DE AMÉRICA 7,12-13 (1989), S. 391-393. David William Forster: „Identidades polimórficas y planteo metateatral en Extraño juguete de Susana Torres Molina", in ALBA DE AMÉRICA 7 , 1 2 - 1 3 ( 1 9 8 9 ) , S. 7 5 - 8 6 . Jean Graham-Jones: „Myths, Masks and Machismo: Un labor fabuloso by Ricardo Halac and Y a otra cosa mariposa by Susana Torres Molina", in GESTOS 10, 20 (1995), S. 91-106.

Laurietz Seda: „El hábito no hace el monje en Y a otra cosa mariposa", in (1997), S. 103-114.

LATR

30, 2

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Reden wir von ivas anderem

Und ich allein mit meinen Stimmen, und du, so sehr bist du von drüben, daß du dich mit mir verwechselst. Alejandra Pizarnik

Reden wir von was anderem Personen: der Dünne - der Engländer - Spatzi - Schweini. Die einzige Vorgabe für die Aufführung dieses Stückes ist, daß alle Figuren von Schauspielerinnen dargestellt werden müssen. Sehr schwaches Licht beleuchtet die vier Schauspielerinnen, die sich langsam ausziehen und Männerkleidung anlegen. Dieser Anfang des Stückes wird von Musik begleitet. Wenn sie angezogen sind, verstummt die Musik und das Licht wird hell. Die Cousine Der Dünne, Schweini und Spatzi sitzen auf einer Bank auf dem Platz. Die drei sind 12-13 Jahre alt, tragen abgetragene Jeans und Turnschuhe. Der Dünne schießt mit einer Zwille ein Steinchen. Schweini ißt aus einer Tüte Popcorn, er grinst ständig. Spatzi zeichnet mit einem Stock auf der Erde. Er trägt eine Brille. Schweini sieht zur Seite, stößt den Dünnen mit dem Ellenbogen an. Der Engländer kommt von der Seite, zu der Schweini sieht. DER DÜNNE Warum kommst du so spät? Hat deine Mami dich gezwungen, ein Mittagsschläfchen zu machen? DER ENGLÄNDER Halt die Klappe, Idiot! Du weißt doch, daß wir spät zu Mittag essen. DER DÜNNE Ach, ja, die feinen Leute essen nie vor 3. SCHWEINI Da sparen sie sich den Tee. Darum sind sie so reich! Schweini und der Dünne lachen. D E R ENGLÄNDER verärgert Sag es ihnen, Spatzi. SPATZI Was? DER ENGLÄNDER Sag ihnen, wie viele Portionen du bei uns zu Hause verdrückt hast. SPATZI Was weiß ich? Hab sie nicht gezählt. Aber wir haben bestimmt zwei Stunden lang gefuttert. Mein Wanst war so voll. Er zeigt einen gewaltigen Bauch. DER ENGLÄNDER Hast du gehört, Dünner? Nicht wie bei dir zu Hause, wo du mit 'ner Wurststulle zufrieden sein mußt. Der Dünne zielt sehr ernst mit der Zwille auf ihn. Laß das! Laß das! Was machst du? Ziel woanders hin.

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deutet mit dem Kopf Sieh mal, Engländer... deine Braut ist da. Alle lachen. DER ENGLÄNDER Irrtum, Dicker. Sieh genau hin, das ist deine Schwester. Alle lachen. Schweini will den Engländer schlagen, der weicht aus. SPATZI zeigt in dieselbe Richtung Mann, hat die enge Hosen an. Wenn die tief einatmet... steht sie nackt da! DER ENGLÄNDER Ja... zu den Jungs Meine Schwester, wenn die sich ihre Hosen anziehen will, ruft sie immer meine Mutter... und zusammen zerren sie sie ihr hoch. Dann wirft sie sich aufs Bett, atmet tief ein, und das ist das Zeichen für meine Mutter, sich auf sie zu werfen und den Reißverschluß hochzuziehen, kurze Pause Ich nenne das „Operation Hosenschlitz". SPATZI Und wenn deine Schwester mal pinkeln muß... was macht sie dann? Ruft sie deine Mutter? DER DÜNNE Nein, wozu? Wenn sie scharf darauf ist, daß jemand sich auf sie wirft... Wozu die Alte? Alle außer dem Engländer lachen. Schweini immer am lautesten. Der Engländer will dem Dünnen eine knallen, der weicht aus. SPATZI ZU der imaginären Frau blickend Seht euch das an, wie die taumelt... mit den dünnen Absätzen kann sie gar nicht gehen. Er macht sie nach. SCHWEINI Gleich knallt sie hin. DER ENGLÄNDER Selber Schuld! Was zieht sie sowas an. DER DÜNNE Sei du ruhig! ... Deine Schwester trägt welche die... DER ENGLÄNDER Und deine lag zwei Monate in Gips, weil sie den Bus noch kriegen wollte. Weißt du nicht mehr? Sie balgen sich. SCHWEINI unterbricht Die färbt sich die Haare. SPATZI Hallo, der Dicke!... Was verstehst du denn davon? SCHWEINI Nein, nein, nichts... aber meine Mutter färbt sich die Haare, und das sieht genauso aus wie bei der. DER DÜNNE Na und... mehr als eine rennt rum wie 'n Regenbogen. DER ENGLÄNDER Stellt euch vor... ich mit roten Haaren bis zur Taille. Er stolziert wie eine Tunte. SCHWEINI Und ich mit blonden Locken bis auf die Schultern. Er stolziert ebenfalls gekünstelt herum. Alle lachen laut, wenn Schweini ihnen zu nahe kommt, kneifen sie ihm in den Po. DER DÜNNE Dicker, du als Puppe... Kaputt! ... Dich nimmt nicht mal der Würger von Boston. SCHWEINI säuselt Neidisch! DER DÜNNE Muttersöhnchen! zu den anderen Ich wußte doch, daß er

SCHWEINI

Reden wir von was

anderem

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mich an jemanden erinnert. Seht ihn an... genau wie die Mutter. beendet das Spiel Fangt nicht wieder mit meiner Mama an! Er balgt sich mit dem Dünnen. D E R ENGLÄNDER geht dazwischen Hört auf damit! Seht mal, was ich mitgebracht hab. Eine Zeitschrift, holt sie aus dem Hemd hervor Hab ich meinem Bruder geklaut. Wenn er das merkt, bringt er mich um. SCHWEINI Zeig mal, zeig mal! DER DÜNNE Laß sehen... SPATZI Wie heißt die? D E R ENGLÄNDER Playboy. Sie ist auf Englisch. Alle zeigen sich enttäuscht. DER DÜNNE Pf... warum hast du keine in Sanskrit mitgebracht? DER ENGLÄNDER Sei nicht blöde. Siehst du nicht, die hat Photos! SCHWEINI Photos? Zeig mal! Zeig mal! SPATZI Was erwartest du? Sie balgen sich um die Zeitschrift, pfeifen, stoßen Töne der Bewunderung aus etc. und schließlich „Mamita!" DER DÜNNE Blöder Ochse! Dieses Weib mit deiner Mutter zu vergleichen? ... Außerdem trägt sie 'ne Perücke! SCHWEINI Meine Mutter hat keine Perücke! DER DÜNNE Nein? Und was ist neulich vom Balkon gefallen, als sie die Blumen gegossen hat? ... Das Gehirn? Schweini wirft sich auf ihn, der Dünne weicht aus, und Schweini fallt auf den Boden. Alle lachen. Der Dünne dreht Schweini den Arm nach hinten. Schweini schreit vor Schmerz. Bitte mich um Entschuldigung! SCHWEINI Entschuldige! Entschuldige! DER DÜNNE Sag: Ich bin ein fettes, geiles Schwein. SCHWEINI Mann... hör auf... Der Dünne dreht den Arm weiter nach hinten. Aaah! Ja, ja, ich bin ein fettes, geiles Schwein. DER DÜNNE Und beschissen! SCHWEINI Ja... und beschissen. Aaah! Aaah! Beschissen! flucht leise. DER DÜNNE Was hast du gesagt? SCHWEINI Nichts... nichts... DER DÜNNE packt ihn an der Nase Paß auf, Dicker... läßt ihn los. Schweini wartet, bis der Dünne sich von ihm abgewandt hat und macht obszöne Gesten. SPATZI Es gibt Typen, die sich die Haare färben... DER DÜNNE Das sind Weiber! Mann, wo habt ihr die her? SCHWEINI Drüben kauft jeder diese Zeitschriften, oder? SPATZI Na klar! ... Sie verteilen sie in den Schulen!

SCHWEINI

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SCHWEINI SPATZI

Nein! ... Bei den vielen Perversen...

W e r h a t dir d a s g e s a g t ?

SCHWEINI Liest du keine Zeitung? ... Siehst du nicht fern? DER DÜNNE Dicker, Perverse gibt es überall ...aber solche Weiber! SPATZI He, Engländer, übersetz doch mal. DER ENGLÄNDER Hast du 'n Knall? Das ist 'ne Scheißarbeit. Ich hab sie mitgebracht, damit ihr euch die Photos anseht. SCHWEINI Kann man nicht welche rausreissen? DER ENGLÄNDER Hast du sie noch alle? Die sind numeriert. Paß bloß auf, Dicker... Ich bring dich um! SPATZI Hab ich euch erzählt, als wir mal bei meinem Onkel in Cördoba Ferien gemacht haben... Da hab ich meine Cousine gesehen... DER DÜNNE klappt die Zeitschrift zu Du hast sie gesehen? Wie hast du sie gesehen? SPATZI Ohne... ohne alles... nackt. SCHWEINI Mann, Klasse! Erzähl! Erzähl! Alle drängen sich um Spatzi. SPATZI Das war an einem Nachmittag. Es war heiß. Alle hatten sich hingelegt. Ich war in meinem Zimmer und hab mich gelangweilt. Da bin ich ins Badezimmer gegangen, wollte mir ein Glas Wasser holen... SCHWEINI Mann, ein Glas Wasser holen... masturbiert in die Luft. DER DÜNNE schlägt ihm mit der Zeitschrift auf den Kopf Schnauze! SPATZI Ich mach die Tür auf und sehe meine Cousine in der Badewanne, eingeschlafen. DER ENGLÄNDER

W i e alt?

SPATZI Achtzehn ungefähr. Ich sehe sie und mach sofort kehrt, aber sie hat mich gehört, ruft mich... SCHWEINI mit verstellter Stimme Spatzi! Gelächter. SPATZI Ich bleib an der Tür stehen... mach die Augen zu, und sie sagt, ich soll rein kommen... ihr Gesellschaft leisten... ALLE

Nein!

DER DÜNNE Feine Cousine! DER ENGLÄNDER Mann, warum hast du mir die nie vorgestellt? schlägt mit der linken Hand auf seinen rechten Unterarm Die Photos kannst du vergessen... SCHWEINI Erzähl, laß ihn doch. Der Dünne schlägt ihm mit der Zeitung auf den Kopf Aua! SPATZI unbeirrt weiter ...sie sagt, ich soll die Augen nicht aufmachen... DER ENGLÄNDER Sag bloß, du hast drauf gehört? SCHWEINI So blöd kann selbst der nicht sein.

Reden wir von was

anderem

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...ZU Anfang ja ...dann hab ich sie ein bißchen aufgemacht und wieder zu ...schließlich hab ich sie die ganze Zeit offen gehabt. DER DÜNNE Und was hat sie gemacht? SPATZI Geredet ...daß sie sich langweilt ...daß sie nicht weg darf ...daß sie die Familie satt hat ...was weiß ich ...ich hab nicht zugehört. SCHWEINI Und? DER ENGLÄNDER Sag schon! SPATZI Sie wollte, daß ich ihr den Rücken abseife... Ich hab blöd geguckt... Aber dann hab ich die Seife so fest angepackt, daß sie hochsprang und ins Wasser fiel... SCHWEINI Tam-tam! Tam-tam! SPATZI Ich wollte sie suchen und hab aus Versehen ein Bein von ihr erwischt. Sie hat weggezuckt und mich dabei total naß gemacht... Und die Seife ist hin und her geglitscht, ich konnte sie nicht erwischen... Sie hat wie verrückt gelacht. Und dann geht die Tür auf... und meine Tante steht da... SCHWEINI Tam-tam! Tam-tam! DER ENGLÄNDER Nerv nicht, Dicker! DER DÜNNE Und? SPATZI ...die Alte ist auf dem nassen Boden ausgerutscht und hat sich hingesetzt. Sie hat geschrien und geschrien, ich weiß nicht was alles. Am nächsten Tag sind wir nach Hause gefahren. Im Zug hat mein Vater mir die ganze Zeit zugezwinkert, und meine Mutter hat gesagt, wenn ich so weiter mache, bleibe ich ein Zwerg. SCHWEINI Mir sagen sie, ich würde nervenkrank, überheblich Wer's glaubt, wird selig. DER ENGLÄNDER Und... Hast du sie wiedergesehen? SPATZI Nein. Nie wieder. Ich glaube, sie hat geheiratet... meine Mutter sagt, sie hatte es eilig. SCHWEINI Wieso? DER ENGLÄNDER Blöder Dickwanst! Eilig... sie hatte es eilig... DER DÜNNE Weil ihr Bauch jeden Tag ein bißchen dicker wurde... Alle lachen außer Schweini. SCHWEINI Ich versteh nicht, warum die Weiber es so eilig haben zu heiraten... Der Engländer zwinkert dem Dünnen zu. ...nachher beschweren sie sich. Meine Mutter fängt schon morgens damit an: „Warum habe ich diesen Kerl geheiratet"... „dieses Muttersöhnchen"... „mein ganzes Leben ist ruiniert"... „meine besten Jahre hab ich diesem Kerl geopfert"... Das geht den ganzen Tag so. kurze Pause Ich versteh das nicht... und wenn sie nicht heiraten, sterben sie... oder werden verrückt wie Tante Rita, die alte Jungfer... SPATZI

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Susana Torres

Molina

SPATZI Die nackt im Patio erscheint? SCHWEINI Ja, die... und jetzt zieht sie alles übereinander an und merkt es nicht. DER ENGLÄNDER Warum sperrt ihr sie nicht ein? SCHWEINI Weil wir keine Kohle haben. Die Klapsmühle ist teuer. Und mein Vater sagt, er hat keine Lust, sich tot zu arbeiten, nur damit die Irre wie 'ne Prinzessin leben kann... Es reicht ihm, daß er fünf Drohnen durchbringen muß. D E R ENGLÄNDER

Fünf was?

D E R ENGLÄNDER

Ach, w e r sagt das denn?

SCHWEINI Drohnen... die die Bienen macht eine obszöne Geste. Alle lachen. Und mein Vater sagt auch, daß sie uns noch alle begraben wird... daß Verrückte eine eiserne Gesundheit haben... daß sie hundert Jahre leben. SPATZI Wißt ihr, daß es mehr verrückte Frauen gibt als verrückte Männer? DER ENGLÄNDER Klar... ich hab in einem Buch gelesen, daß Mädchen dümmer sind als Jungs und darum schneller verrückt werden. SPATZI Wahrscheinlich haben sie eine Drüse weniger, oder so... DER DÜNNE Drüse? Die haben gar keine Drüsen... bei denen ist die Hälfte künstlich... Gestern Abend war eine Freundin von meiner Schwester da. Sie haben sich die ganze Zeit im Spiegel angeguckt, und die eine sagt: „Sieht man eigentlich, daß ich krumme Beine habe?" „Nein, überhaupt nicht." Und dann fragt sie meine Schwester: „Sag ehrlich, wie findest du mich besser, mit Pony oder ohne?" „Mit Pony, total" ...und so ging das drei Stunden lang! Drei Stunden! Ich hätte sie erwürgen können! SCHWEINI Mann sind die blöd! DER DÜNNE ernst He, Dickwanst, laß meine Schwester in Ruhe, ja! Er droht ihm. SCHWEINI He, was ist mit dir los? Hast du deine Tage? Bevor der Diinne reagieren kann, versteckt sich der Dicke hinter dem Engländer. DER ENGLÄNDER gekünstelt Spatzi, sag mal, merkt man, daß mein eines Bein kürzer ist als das andere? Er hinkt übertrieben. SPATZI spielt mit Nein, überhaupt nicht! DER ENGLÄNDER Und sag mir, wie gefalle ich dir besser, im Profil dreht den Kopf zur Seite oder von vorn? Er schielt erbärmlich. SPATZI Von vorn, von vorn, total! DER ENGLÄNDER Angezogen oder... nackt? Er mimt einen strip-tease. DER DÜNNE Weißt du, Gringo, nackt verlierst du richtig. SPATZI

LOS, wer verliert, bezahlt das Kino.

Reden wir von was

anderem

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Hört auf! Ich hab keine Piepen. Na komm, Dickerchen, kein Selbstvertrauen, he! SPATZI Und wenn jemand vorbei kommt? DER DÜNNE Wir müssen eben plötzlich alle. DER ENGLÄNDER Schweine! ...wartet wenigstens, bis die Tussi da wegsieht. SCHWEINI Mann, das Kino ist ziemlich teuer. Hört auf! DER DÜNNE Dickerchen, sei einmal in deinem Leben ein Mann. Große Spannung. Alle sehen zu dem Mädchen hinüber. Also los. jetzt! Die vier stehen mit dem Rücken zum Publikum. Sie sehen sich an, sehen die anderen an. Leises Gelächter. Sie zeigen auf Schweini. Sie schlagen ihm auf die Schulter, ziehen die Reißverschlüsse hoch und drehen sich um. SCHWEINI Ich hab euch gewarnt, ich hab keine müde Mark. DER ENGLÄNDER Keine Entschuldigungen ironisch Kleiner. Gelächter. SCHWEINI Sehr schlau! Warum wetten wir nicht, wer die meisten Hörnchen essen kann? He? DER DÜNNE Dicker, nerv nicht. Und außerdem, wenn Männer reden, haben Kinder zu schweigen. DER ENGLÄNDER zeigt zu der Frau Seht mal, auf wen sie gewartet hat! SPATZI Auf den Eismann! SCHWEINI bösartig Die leckt wohl an jedem Stiel. DER DÜNNE Die geht aber ran! ... He, hier sind Kinder. DER ENGLÄNDER Pervers! Sehen Sie nicht, daß hier Kinder sind! zeigt auf den Dicken. SCHWEINI Mann, hört auf damit... SPATZI Wüstlinge! Kinderverderber! hält sich die Augen zu. SCHWEINI Hui, sie gehen... zum Engländer Glaubst du, sie gehen zum... Der Engländer sieht ihn wissend an. Alle sehen „dem Paar" nach. DER DÜNNE löst die Spannung Mann, was ist los mit euch? Reißt euch zusammen... heute seid ihr ziemlich doof. SCHWEINI begeistert sich Und wenn wir Autos zerkratzen? holt einen Nagel aus der Tasche Um den Block stehen drei Mercedes 300! SPATZI Nein, wir erschrecken die Zwillinge. Ich laufe nach Hause und hol den Frosch. DER ENGLÄNDER Geh mir ab mit den Zwillingen! Laßt uns was klauen am Kiosk. Um diese Zeit bedient der Einäugige. DER DÜNNE zielt mit der Zwille Eine Schachtel Zigaretten für den, der ihn als erster rausholt... Keiner reagiert. Pause. Alle sehen geradeaus. Plötzlich stürzen sich alle gleichzeitig auf die Zeitschrift, die auf der Bank liegt. Zusammen blättern SCHWEINI

DER DÜNNE

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Susana Torres

Molina

sie darin, lachen, pfeifen, schlagen sich auf den Rücken... Langsam wird es leiser, gleichzeitig geht langsam das Licht aus. Verknallt Ein Café, mit sparsamen Mitteln dargestellt. Nur ein Tisch steht auf der Bühne, der Engländer sitzt daran. In dieser Szene sind die Personen 17-18 Jahre alt. Der Engländer liest in einer Zeitschrift. Er blickt immer wieder nervös dahin, wo der Eingang zum Café sein soll. Musik, ein Bolero. Der Engländer sieht auf und ist wie hypnotisiert, folgt einer (dem Zuschauer nicht sichtbaren) Person mit den Augen. Dann lächelt er und senkt den Blick. Das Licht kann jetzt etwas intimer werden. DER ENGLÄNDER ZU sich selbst Idiot, genau das bist du, ein Idiot! ... Du hättest sie grüßen sollen. Mit irgendwas muß man anfangen. Wenn du sie nicht grüßt, wie willst du anfangen, he? Wie willst du sie einladen, wenn du sie nicht mal ansiehst, wenn sie reinkommt? ... Und sie ist allein, sonst ist sie nie allein. Na, das war's dann, Gelegenheit verpaßt. KAPUTT! Nie wieder! Und verdient hast du's, du Idiot! sieht verstohlen zu der „Person" hinüber Ich könnte sie um eine Zigarette bitten? tickt sich an den Kopf Wie außerordentlich originell. Verpaßt, Engländer. Du wirst jeden Tag dämlicher. Dich vor 'ner Tussi blamieren... Außerdem raucht sie gar nicht. Nein. Nicht mal das. Pause Und was mach ich jetzt? ...eigentlich ist sie nicht besonders sympathisch ...sie macht mich verlegen ...mir kribbelt es im Bauch ...ob sie was merkt? Immer, wenn ich nervös bin, kribbelt es mir im Bauch ...wie im Examen. Schluß damit ...aufhören! ... Beruhige dich... es lohnt sich nicht. Wenn ich abblitze, blitze ich eben ab, bah, natürlich blitze ich ab... ziemlich sicher ...wer weiß? Er sieht verstohlen wieder hin, verrenkt sich dabei auf lächerliche Weise, damit das Mädchen nichts bemerkt. Warum soll sie zu mir rübersehen? Für die bin ich unsichtbar, blättert in der Zeitschrift ohne zu lesen Und wenn ich ihr schreibe? ...ich sage ihr, daß... blättert nervös Nein, lieber nicht. Vielleicht erzählt sie das ihren Freundinnen und dann... Nein. Das würde sie mir nicht antun. Bestimmt nicht... Und wenn doch? He? Und wenn doch? ...dann bring ich mich um. Ich schneide mir die Pulsadern durch, schließt die Zeitschrift Ich hätte mir einen Schnurrbart wachsen lassen sollen. Damit sähe ich älter aus. Bestimmt mag sie keine kleinen Jungs... Morgen bring ich ein Buch von Borges mit, nein, lieber von Neruda, der ist romantischer... nein, lieber Borges, der ist schwieriger. Ernster. Ja, das wäre ein guter Anfang. Heute Abend werde ich ein bißchen lesen, für den Fall... und

Reden wir von was

anderem

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ich werde mir einen Schnurrbart wachsen lassen... Ab heute rasiere ich mich nicht mehr. Ich werde dem Alten im Büro helfen und mir ein paar Kröten verdienen. Und die erste Einladung... ist... ist ins Theater. Jawohl! Das wird sie nicht erwarten... das wird sie total verwirren. Geniale Idee, Engländer! Du bist Klasse! ... Und überall werde ich sie vorgehen lassen... Ich werde ihr die Türen aufhalten... und, wenn wir über die Straße gehen, nehme ich ihren Arm, dann laß ich ihn wieder los, damit sie nicht denkt, ich... Und immer wieder werde ich sie fragen, ob es gut so ist... ob es ihr gefällt... ob sie etwas möchte... ob... Schweini und der Dünne kommen herein. Vorher könnte das Licht wieder kühler werden. Der Dünne trägt eine dunkle Sonnenbrille, Jeans, Windjakke und Boots. Auch Schweini trägt eine Windjacke und Jeans, ihm sitzt alles sehr eng oder es ist ihm viel zu groß. Sie begrüßen den Engländer, schlagen sich auf die Schultern, sehen sich um. Der Dünne setzt sich umgekehrt auf den Stuhl und stützt die Arme auf die Lehne. Schweini ahmt ihn nach. Der Engländer sitzt mit dem Gesicht zum Publikum, die beiden anderen im Profil. DER DÜNNE nimmt dem Engländer die Zeitschrift aus der Hand Was machst du, Intellektueller? Er wirft die Zeitschrift auf den Tisch. Schweini nimmt die Cola-Flasche des Engländers und trinkt sie aus. D E R ENGLÄNDER He, Dicker, was soll das! SCHWEINI Reg dich nicht auf, Gringo, ich bestell dir 'ne neue. D E R ENGLÄNDER Ich weiß... du bestellst und trinkst sie aus. SCHWEINI Na und, wer bezahlt? D E R ENGLÄNDER

Ich!

lacht Wo ist dann das Problem? Der Engländer möchte ihn schlagen, Schweini stellt sich unschuldig. DER DÜNNE hat sich umgesehen, spricht zum Engländer Hast du die Tussi gesehen, hinter dir? D E R ENGLÄNDER tut uninteressiert Welche? dreht sich um Ach die? DER DÜNNE Ja... kennst du die? D E R ENGLÄNDER Nein, nie gesehen... warum? DER DÜNNE Nichts, nur so. Pause Die will was von mir. D E R ENGLÄNDER überrascht Wer? DER DÜNNE Die Tussi da. D E R ENGLÄNDER Wie kommst du da drauf? DER DÜNNE Sie glotzt mich an. D E R ENGLÄNDER Bist du sicher? sieht den Dünnen fragend an, verändert Nun ja... wenn du mich fragst, so toll ist sie nicht... SCHWEINI kaut an den Fingernägeln Ne saure Ziege, sag ich dir... Ich treff sie immer beim Bäcker, die grüßt nie, sieht dich nicht mal an.

SCHWEINI

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Susana Torres

Molina

DER DÜNNE Das sieht m a n doch gleich, d a ß die frigide ist. W i e sie die Knie z u s a m m e n k l e m m t . Er macht sie nach. Alle lachen, der Engländer etwas gequält. DER ENGLÄNDER G a r nicht beachten... die Sorte kenne ich. DER DÜNNE Ich m a g es, w e n n sie anbeißen... u n d dann... flupp... laß ich sie mit offenem M u n d stehen. Sie lachen laut, Schweini verschluckt sich, die beiden anderen klopfen ihm auf den Rücken. Spatzi erscheint, setzt sich zu ihnen. SPATZI beeindruckt H a b t ihr nichts gehört? ALLES

Wovon?

SPATZI Ihr wißt nichts davon? ALLE Nein. W a s ist los? Sag schon! SPATZI Uiii, so ein Schlamassel! ALLE S a g schon! W a s war? SPATZI H i e r gleich u m die Ecke. Da rauscht eine z i e m l i c h a u f g e d o n nerte M u t t e r vorbei, den Hintern wie 'ne K i r c h t u r m g l o c k e hin und her, hin und her, und so ein Alter, ein Gruftie, der in der S c h l a n g e stand, u m seine Pension a b z u h o l e n , ruft ihr w a s nach. Die Mutter dreht sich u m und flammt ihm die Handtasche ins Gesicht. SCHWEINI Ist nicht wahr. DER ENGLÄNDER Wirklich? DER DÜNNE Und?

SPATZI Und... der Alte fällt auf die Schnauze... und o b e n d r e i n fliegt ihm d a s G e b i ß auf die Straße... eine V i e r t e l s t u n d e , ich ü b e r t r e i b e nicht, eine Viertelstunde hat das ganze Viertel die e i n z e l n e n Z ä h n e z u s a m m e n g e s u c h t . Die A u t o s m u ß t e n halten... ein Bulle m u ß t e k o m m e n , und für O r d n u n g sorgen. A b e r nun k o m m t das Schönste: Als d e r Bulle k o m m t , gehen die a n d e r e n G r e i s e a u f ihn los und wollen, daß er die M u t t e r verhaftet... w e g e n Unmoral... w e g e n Verstoß gegen, w a s w e i ß ich für Sitten... ALLE

Und?

SPATZI Ich glaube, er hat sie m i t g e n o m m e n . DER ENGLÄNDER Gut so! Die haben ihren S p a ß daran, uns zu provozieren, und dann tun sie so, als wäre nichts gewesen. DER DÜNNE W e n n sie sich so aufführen, dann wollen sie Krieg. SCHWEINI W e i ß t du w o die enden? Im Puff. Er lacht laut. Die anderen sehen ihn belustigt und peinlich berührt an. DER DÜNNE Dicker, w o d u gerade so guter L a u n e bist, w a r u m bittest du d e i n e n Alten nicht u m sein Auto, und wir g e h e n h e u t e A b e n d auf T o u r ? SCHWEINI Bist du w a h n s i n n i g ? Das letzte Mal hat er z w e i t a u s e n d M ä u se für die Reparatur bezahlt. Seit d e m redet er nicht m e h r mit mir.

Reden wir von zuas

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D U Glücklicher! Weißt du, wie sehr ich dich beneide? Diese Ruhe! DER ENGLÄNDER Dicker, du hast es wirklich gut! lacht Weißt du, was ich neulich gemacht hab? Alle werden aufmerksam. Ich hab meinem Alten einen Zettel auf den Schreibtisch gelegt, auf dem stand: „Ein Vater, der Ratschläge gibt, ist nicht nur ein Vater, er ist ein Idiot." Der Witz war, ich hab die Schrift meiner Schwester nachgemacht, und der Alte ist wütend in ihr Zimmer... hat sie bei den Haaren gepackt, sie hingeschmissen und ihr obendrein für einen Monat verboten, mit ihrem Freund auszugehen. Alle lachen. Das hättet ihr sehen sollen. Er war rot angelaufen vor Wut, und die Ader auf seiner Stirn war dick geschwollen, zeigt Und meine blöde Schwester schreit die ganze Zeit hysterisch... Das war was! Sie lachen laut. Der Dünne dreht sich um, Spatzi ebenfalls. SPATZI Ah, die... die kenne ich. Sie wohnt ein Haus weiter... die hat ein ganzes Repertoire! DER ENGLÄNDER Ein was? SPATZI Ein Repertoire... ein Repertoire von Lovern... immer andere. Jeden Tag ein anderer. Für mich ist sie... DER DÜNNE Geschenkt! ... Mit allem drum und dran. DER ENGLÄNDER kann sich nicht zurückhalten Bevor ihr kamt, wollte sie eine Zigarette von mir... dreht sich zu dem unsichtbaren Mädchen um Als wäre ich blöde! DER DÜNNE angeekelt Bei Nutten könnte ich kotzen! SCHWEINI Und... hast du ihr...? DER ENGLÄNDER Bist du verrückt? Nachher wirst du sie nicht wieder los! Alle lachen überlaut. SPATZI Erinnert ihr euch noch an Laura? ... Laura... die, der ich gesagt hab, ich hätte Tuberkulose, damit sie mich in Ruhe läßt. DER DÜNNE So wie du aussiehst, hat sie dir das sofort geglaubt. SPATZI Haha, unterentwickelter AI Pacino! SCHWEINI ringt die Hände Jungs, wie wäre es, wenn wir was bestellen? DER ENGLÄNDER Dicker, zisch ab. Du kommst mir teurer als 'ne Tussi. SCHWEINI He, was ist los mit dir? Hast du deine Tage? Alle lachen, nur nicht der Engländer. DER ENGLÄNDER Immer die alten blöden Witze, sieht verstohlen zu dem Mädchen, zuendet sich an Spatzi Du meinst, die ist ein bißchen... SPATZI Ein bißchen? Die ist verrückt! Bekloppt! Neulich hat sie einer angemacht, du hättest ihr Gesicht sehen sollen... SCHWEINI Wenn du keine Kohle hast, bist du für die Tanten tot. DER DÜNNE

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Dicker, du bist für sie tot, mit oder ohne Piepen. Aber, wenn sie Kohle riechen... wie schnell ziehen sie dann die Höschen runter... Alle lachen laut. Sie stehen auf, wechseln ihre Plätze. DER ENGLÄNDER zum Dünnen Gehst du noch mit Lulu? Bist du verrückt? Das letzte Mal wollte sie mehr. Ich hab DER DÜNNE sie zum Teufel geschickt. Außerdem muß man den Kleinen ertragen, der ewig heult. Geh mir ab... SCHWEINI Ich mag Lulu. Sie lächelt immer. DER DÜNNE Das ist ein Tick, Blödmann! Einer hat ihr das Gesicht mit 'nem Messer bearbeitet, macht eine Fratze Dämlicher Fettwanst! SCHWEINI Schade... ich mag Lulu. SPATZI zum Engländer Das Mädchen, das bei euch arbeitet, hast du die... DER ENGLÄNDER Schon lange, gleich am zweiten Tag. SPATZI Tatsächlich? schlägt ihm auf die Schulter Du bist ein toller Hecht, Gringo. DER DÜNNE Sowas muß man gleich erledigen... SCHWEINI Was weißt du, Dünner, euer einziges Dienstmädchen ist deine Alte. Der Dünne schubst den Dicken vom Stuhl. DER ENGLÄNDER Hört auf, Jungs. DER DÜNNE Hmmm... Ich glaube... ich glaube... die Puppe da macht dich heiß... DER ENGLÄNDER Hast du noch alle? DER DÜNNE Soll ich aufstehen? DER ENGLÄNDER Und warum? DER DÜNNE Ich quatsche sie an. Soll ich? DER ENGLÄNDER Pfff... zuckt die Schultern wenn du willst. SCHWEINI begeistert Mach schon, Dünner, zeig ihr Deine Schätze! DER DÜNNE steht auf mit femininer Stimme Soll ich wirklich? SPATZI Setz dich, du Angeber. Aber Junge, was denkst du, wo du bist? Im Sheraton? DER DÜNNE SCHWEINI Guckt mal, guckt mal, sie wird schon ganz unruhig. DER ENGLÄNDER dreht sich frech um Mach, was du willst, Dünner... das ist reine Zeitverschwendung... die lohnt sich nicht. SPATZI zum Dünnen Wie viele Punkte gibst du ihr? DER DÜNNE Hmm... von zehn... sagen wir, zwischen vier und fünf. Das Vorderteil macht was her. Er modelliert übertriebene Kurven in die Luft. SCHWEINI Jungs, wenn die dich ansieht, verdreht sie ein Auge. SPATZI Spinn nicht rum, die hat nichts am Hut mit Dickhäutern. Schweini zieht die Schultern hoch, holt ein riesiges Stück Schokolade aus der Tasche und fängt an zu essen. SPATZI

DER DÜNNE

Reden wir von was anderem

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Das war's dann. Sie zahlt. Was machen wir jetzt? DER ENGLÄNDER Schnapp sie dir doch an der Tür. DER DÜNNE Meinst du? DER ENGLÄNDER D U wolltest sie doch. DER DÜNNE Meinst du? steht auf, setzt sich wieder, Pause Nein... lieber nicht. Nächstes Mal... Heute bin ich nicht in Stimmung... Wißt ihr, wie so was geht? Nur Gequatsche... nur bla-bla-bla... DER ENGLÄNDER erleichtert Wem sagst du das... SCHWEINI lacht, dabei fällt ihm Schokolade aus dem Mund Guckt mal! ... Im Stehen ist sie genauso groß wie im Sitzen. SPATZI Genau wie Goofy! Alle lachen laut. Der Engländer etwas gequält. Ihren Blicken nach geht das Mädchen nah an ihnen vorbei. Der Dialog wird jetzt sehr schnell. DER DÜNNE arrogant Sieh mich nicht so an, du blendest mich, böses Mädchen. SPATZI Mach die Scheinwerfer aus, wir stoßen sonst zusammen. DER ENGLÄNDER sieht rasch seine Kumpels an W e n n du nein sagst, schneide ich mir die Pulsadern durch. Er zwinkert den anderen zu, die laut lachen. SCHWEINI bietet dem Mädchen Schokolade an Ein Geschenk des Hauses. Ohne jede Verpflichtung. Oh, dieser Mund... Das Mädchen ist vorbeigegangen. Schweini macht aus dem Schokoladenpapier eine Kugel und wirft sie ihr nach. SPATZI Zieh Leine, Puppe. SCHWEINI Habt ihr das gesehen? ... Die hat 'nen Hänge... ihr wißt schon. Er zeigt auf sein Hinterteil. Alle sind erregt, sehen sich an, grinsen, schlagen sich auf die Schultern. Ihre nervösen, raschen Bewegungen werden langsamer, die Spannung läßt nach. Sie sehen sich um. Pause. DER DÜNNE steht auf Ich geh in den Club. Das hier ist 'ne Trauerfeier, zu Schweini Kommst du mit? SCHWEINI Ich kann nicht. Sie warten zu Hause mit dem Essen auf mich. Spatzi und der Dünne stecken sich den Zeigefinger in den Hals, als wollten sie sich übergeben. Schweini hebt den rechten Unterarm, steht mühsam auf und geht. SPATZI Ich hab meiner Mutter versprochen, ihr zu helfen, die Kakerlaken zu vernichten. Heute Morgen, als ich aufwachte, saß eine auf meinem Kissen und sah mich an. DER ENGLÄNDER angeekelt Iiii... DER DÜNNE amüsiert Und was hast du gemacht? SPATZI Nichts. Ich hab mich für mein Schnarchen entschuldigt, und DER DÜNNE

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dann haben wir gemütlich weiter geratzt. Der Dünne schlägt ihm leicht auf die Schulter, beide stehen auf und gehen. DÜNNE zum Engländer Komm vorbei. Wir gabeln da was auf. ENGLÄNDER Ja, später. Er schlägt die Zeitschrift auf und tut so als würde er lesen. Wenn die beiden gegangen sind, dreht er sich unauffällig um und sieht wie in Erinnerung zu dem Tisch, an dem das Mädchen gesessen hat. Er streicht sich den nicht vorhandenen Schnurrbart, atmet tief durch, dreht sich wieder um, holt Geld aus der Hosentasche, alles sehr langsam. Er legt das Geld auf den Tisch, steht auf, sieht noch einmal zurück, nimmt dann die Zeitschrift und geht. Junggesellenabschied

Schweini, Spatzi, der Dünne und der Engländer sitzen mit dem Gesicht zum Publikum. Sie sind ungefähr 30-32 jähre alt. Alle im Jackett, der Engländer trägt einen sehr eleganten Anzug. Der Dünne, mit Pomade im Haar, grellfarbener Krawatte und einer grofkn Blume im Knopfloch, hat einen Schnurrbart. Spatzi, der einzige ohne Krawatte, trägt einen Rollkragenpulli. Er wirkt etwas schwul. Schweini trägt ein zu enges Hemd, eine sehr schmale Krawatte und übertrieben lange Koteletten. Vor ihnen stehen ein Stapel abgegessener Teller und halbleere Weinflaschen. Sie sprechen lebhaft und schnell, man versteht sie nicht. Sie lachen, trinken, sind bester Stimmung. Nach einer Weile steht der Engländer mit einem Glas in der Hand auf. D E R ENGLÄNDER zum Dünnen Auf diesen Freund, der uns heute verläßt und sich der Legion der... macht mit den Fingern das Zeichen für Gehörnte anschließt. Er setzt sich. Alle lachen. Der Dünne schenkt allen ein. SPATZI zum Dünnen Hat man dir das Gehalt erhöht, weil du heiratest? DER DÜNNE Ja, ein paar Kröten mehr... nicht der Rede wert... reichen nicht mal um die Torte zu bezahlen. SCHWEINI Und... was wirst du machen? DER DÜNNE Sobald ich was gespart habe, hau ich ab... mach 'nen kleinen Laden auf... und basta. Er hebt den rechten Unterarm. DER ENGLÄNDER Bist du verrückt? Du heiratest und denkst ans Sparen! DER DÜNNE Ja... und? DER ENGLÄNDER Mit 'ner Frau im Haus reicht das Geld hinten und vorne nicht... du wirst schon sehen... DER DÜNNE Sie will arbeiten... aber ich laß sie nicht. SCHWEINI Dann kriegst du nur noch Aufgewärmtes aus Dosen. DER DÜNNE Ich hab ihr gesagt, solange ich kann... bin ich es, der das Geld nach Hause bringt. SCHWEINI SO spricht ein Mann!

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Und was hat sie gesagt? Nichts... was soll sie sagen? Die mögen es, wenn man zeigt, wer die Hosen an hat. SCHWEINI Die Mädchen ja... meine Alte aber nicht. Neulich hab ich gesagt, ich würde ihre Pflanzen nicht gießen. Da hat sie mit 'nem Schuh nach mir geworfen. Sieh mal... faß an... ich hab die Beule noch immer. DER ENGLÄNDER Silvia hab ich eine Boutique aufgemacht. DER DÜNNE Eine Boutique? SCHWEINI Wozu? DER ENGLÄNDER Damit sie beschäftigt ist.

SPATZI

DER DÜNNE

DER DÜNNE

WOZU?

Sie hat gesagt, daß sie sich zu Hause langweilt... und den ganzen Tag mit den Kindern, das macht sie nervös. DER DÜNNE Die würde ich umbringen. SCHWEINI Und warum die Kinder, wenn sie schwache Nerven hat? SPATZI Sie... wird Lust haben, mal auszugehen... mal was anderes zu machen. DER DÜNNE Also du, seit du dich mit Psychologie beschäftigst, bist du ziemlich merkwürdig. DER ENGLÄNDER Also ich hab ihr die Boutique gegeben, damit sie sich beschäftigt... und mich in Frieden läßt. DER DÜNNE Das gefällt mir schon besser. SCHWEINI So blöd ist er nun auch wieder nicht. SPATZI zum Dünnen Du findest mich merkwürdig? DER DÜNNE He, was hast du? Eingeschnappt? SPATZI Nein, ich frage dich bloß. DER DÜNNE Nein, Luisito, du bist ein wundervoller Typ. Wundervoll! zum Engländer Erzähl, Junge, erzähl, damit ich was lerne. DER ENGLÄNDER Nun, ihr kennt Silvia? DER DÜNNE überheblich Uhh... Rundherum! SCHWEINI Wir sind fast aus demselben Ei geschlüpft. DER ENGLÄNDER ernsthaft Soll ich nun erzählen oder nicht? DER DÜNNE Na klar, Mann! DER ENGLÄNDER Silvia war immer sehr eifersüchtig... Der Dünne macht Gesten, die zeigen sollen, daß er sie genau kennt. Der Engländer sieht ihn scharf an, und der Dünne stellt sich unschuldig. Alle außer dem Engländer lachen. Und als sie noch zu Hause war, hat sie mich ständig kontrolliert. Sie hat mich drei, vier Mal am Tag im Büro angerufen, nur um zu kontrollieren... Als sie dann sagte, sie würde sich langweilen und wollte etwas tun, hab ich kurz nachgedacht und ihr die Boutique gekauft. D E R ENGLÄNDER

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Jetzt ist sie da den ganzen Tag, ist beschäftigt, quatscht mit den Freundinnen, verdient ein paar Pesos, das ist auch nicht schlecht... und da der Laden kein Telephon hat... ich habe einen ohne Telephon gesucht... KAPUTT! SCHWEINI Ka-was? DER DÜNNE Am Arsch! Stumm! DER ENGLÄNDER Sie ist zufriedener, und ich bin frei wie ein Vogel. SCHWEINI Ganz schön clever. DER DÜNNE Ist doch wahr! Man heiratet und reißt sich den Arsch auf, um sie zu ernähren, da können sie einen wenigstens in Ruhe lassen, oder? SPATZI Na Dünner, dafür hattest du es aber ganz schön eilig. DER DÜNNE Ich eilig? Bist du verrückt? Spinnst du? SPATZI Komm, sei nicht albern, das ganze Viertel redet über die Sache mit Susy und Petiso Ahumada. DER DÜNNE verärgert Hast du nicht mehr alle? Petiso gehört praktisch zur Familie. Der ist wie ein Bruder. SCHWEINI Ach ja... ein Bruder, der dir fast die Braut weggeschnappt hätte. DER DÜNNE Halt's Maul, Dicker., misch dich nicht ein! SPATZI Und es stimmt auch nicht, daß sie dich um Bedenkzeit gebeten hat... DER DÜNNE Na und... heiraten ist schließlich 'ne ernste Angelegenheit... das muß man sich gut überlegen. SPATZI Nachdem ihr sechs Jahre miteinander gegangen seid... DER DÜNNE verwirrt Na und... faßt sich zvieder Was willst du, Mann? Mir das Fest verderben? SPATZI Aber nicht doch, Junge! Schließlich heiratet sie doch dich... DER DÜNNE Natürlich... natürlich heiratet sie mich! SCHWEINI steht mit seinem Glas auf Auf den Dünnen... der im Zweikampf mit Petiso Ahumada... einige Punkte Vorsprung gewann, indem er die Sache beschleunigt hat und nun der glückliche Champion der... DER DÜNNE schubst den Dicken auf seinen Stuhl zurück Paß auf, was du sagst, Dicker... Wenn ich auspacke, passiert was. SCHWEINI hebt die Hände Uiii, da hab ich aber Angst, Papi! DER ENGLÄNDER sieht den Dicken und Spatzi an Jetzt fehlt nur noch ihr. SCHWEINI Ich heirate nicht! Nie im Leben! Ich hab meine Mutter ausgehalten, ich will nichts davon wissen, mit 'ner Frau zusammenzuleben. Pause Wenn ich Lust hab, bezahle ich und ciao. Arrivederci! SPATZI Hast du dich nie verknallt? SCHWEINI Schon... Aber die, die mir gefallen, beachten mich nicht. Was will man machen? Soll ich mir 'n Knoten machen?

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Nein, aber hör auf, so viel zu fressen. Warum? Ich mag lieber essen, als mit Mädchen gehen. DER DÜNNE Dicker, sag schon, was empfindest du, wenn du im Dunkeln schmust... mit einer guten Putenkeule à la provençale? Schweini will ihn mit Brot bewerfen. Der Dünne sieht ihn scharf an. Bevor sie handgreiflich werden, unterbricht der Engländer. DER ENGLÄNDER Und du Spatzi, was machst du... du verschweigst uns was. SPATZI Nun ja... man schlägt sich durch. DER DÜNNE mit femininer Stimme Wir sind keine machos, aber muchos. Alle lachen, nur nicht Spatzi. SPATZI D U solltest schnellstens unterschreiben... Ich seh dich schon wieder an der Panamericana Schnepfen aufreißen. DER DÜNNE He, war doch nur ein Scherz, Spatzi... steht mit seinem Glas auf Jungs, auf sie! Alle trinken ihr Glas aus. zum Engländer Und... siehst du die Monika noch? DER ENGLÄNDER Jeden Dienstag von sieben bis neun. DER DÜNNE Und zu Hause... was sagst du da? DER ENGLÄNDER Direktorium. Wochenbilanz. Im Büro weiß man Bescheid. Sie stellen auf Anrufbeantworter. DER DÜNNE Ich werde mir was ausdenken müssen. Erstmal nehme ich dich, Dicker. Also verquatsche dich nicht. SCHWEINI Schreib mir alles auf. Wenn man mich bedrängt, werde ich nervös und singe wie ein Vögelchen. DER DÜNNE Wenn du singst, verreckst du wie ein Vögelchen, Fettwanst! DER ENGLÄNDER Erinnert ihr euch an den Schönen Figueroa? DER DÜNNE Welcher? ... Der mit den super schicken Klamotten? Aber im Winter hat er immer Sandalen mit Wollsocken angehabt. DER ENGLÄNDER Genau der... Wißt ihr, was dem passiert ist? SCHWEINI Sie haben ihm die Socken geklaut! Der Engländer haut ihn auf den Kopf. SPATZI Ja... ich erinnere mich... Er war ein Spitzel! Was ist passiert? DER ENGLÄNDER Immer, wenn er was vorhatte, sagte er zu seiner Frau, er ginge in den Club. Der Typ hinter der Bar im Club wußte Bescheid, und wenn seine Frau anrief, sagte er immer: „Senora, er war gerade noch hier, aber jetzt ist er unter der Dusche." oder „Er ist gerade in den Umkleideraum gegangen, soll ich ihm etwas ausrichten?" kurze Pause Aber eines Tages, als man ihn zu einer Pokerpartie im Club erwartete, fühlte er sich nicht gut und bat seine Frau, im Club anzurufen und zu sagen, daß er nicht k o m m e n kann. Kaum DER ENGLÄNDER

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meldet sich die Alte, sagt der Barmann: „Wie geht es Ihnen, Señora... so ein Zufall, ihr Mann ist gerade ins Türkische Bad gegangen. Soll ich ihm etwas ausrichten?" Alle vier lachen laut. Ihr könnt euch das Türkische Bad vorstellen, das er gekriegt hat! Mama mia! SCHWEINI Und... weiter? DER ENGLÄNDER Die Sache hat ihn eine Reise in die Karibik gekostet, neue Tapeten für das ganze Haus und nie wieder Club. DER DÜNNE Und was macht er jetzt? D E R ENGLÄNDER Jetzt sagt er, er geht zu den Anonymen Alkoholikern. SPATZI Und? DER ENGLÄNDER Und dahin geht er auch... Er hat sich in eine Alkoholikerin verknallt. Alle lachen, trinken; dann entsteht eine lange Pause. SPATZI Hmmm... wißt ihr, daß ich umziehe? DER DÜNNE Wie schön. Wohin? In den Club der Einsamen Herzen? Gelächter. SPATZI Ich hab mir eine Wohnung im Zentrum gemietet... ist für die Arbeit günstig. DER ENGLÄNDER überheblich Was zahlst du im Monat? Ich sag dir, ob sie dich übers Ohr gehauen haben. SPATZI Nun... ich zahle nur die Hälfte. SCHWEINI Nein! Endlich doch liiert! DER DÜNNE Prima, Spatzi! SCHWEINI Toller Hecht, verdammt! DER ENGLÄNDER Und... wie ist sie? Superfrau, was? SPATZI Ihr laßt mich nicht ausreden... Ich ziehe mit einem Mann zusammen. Er braucht Geld, hat es mir angeboten. Ich hab die Anzeige aus der Zeitung... Aber die Wohnung ist groß, also... Die Männer sind einen Augenblick verwirrt. DER DÜNNE Uiuiui, was seh ich da, Spatzi! SCHWEINI schlägt mit seinem Glas auf den Tisch Den haben sie von hinten... den haben sie von hinten... SPATZI Seid nicht blöde. Der Typ ist in Ordnung. Er ist Zeichner. DER ENGLÄNDER Und du bist was? Sein Modell? DER DÜNNE Erzähl, Spatzi, erzähl schon... wie ist das? SCHWEINI Ist die Sache ernst oder nur ein kleiner Furz? DER ENGLÄNDER Spatzi... SPATZI Was? DER ENGLÄNDER besorgt Ich nehme an, du nimmst die Pille, oder? Spatzi gießt dem Engländer wütend den Inhalt seines Glases ins Gesicht.

Reden

wir von was

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hysterisch Mein Anzug, aus Englischem Tuch! Das darf nicht wahr sein! Das geht zu weit! Spatzi steht auf, will gehen. Der Dünne und Schweini machen sich Zeichen, stehen ebenfalls auf packen Spatzi schleifen ihn zum Tisch zurück, zwingen ihn bäuchlings über den Tisch. Der Alkohol heizt sie an. D E R ENGLÄNDER wischt sich den Anzug ab Was macht ihr da? Hört auf damit! Alle Leute sehen uns zu. DER DÜNNE Gestehe, Spatzi, gestehe, daß du zum anderen Ufer abgeschwirrt bist. SCHWEINI Wie nennt man dich jetzt? Täubchen? DER DÜNNE Ziehst du Frauenkleider an? Erzähl! Ziehst du Frauenkleider an? SPATZI Laßt mich los, verdammt! Hört auf, Hurensöhne! Schzueini kippt ihm die Essenreste über den Kopf. DER ENGLÄNDER peinlich berührt Hört auf damit. Das ist zu albern. Die Leute lachen sich tot über euch... Und dieser verdammte Fleck geht nicht raus... Englisches Tuch... Ich hab ihn das zweite Mal an! ... Erst das zweite Mal! DER DÜNNE hysterisch Legst du dir Rouge auf? Sag schon! ... Malst du dich an? Los doch! Erzähl! SCHWEINI Trägst du Schlüpfer? Weiße Schlüpferchen? He... sag schon! Beide bedrängen Spatzi von hinten, agieren ein wenig wie gequält. DER DÜNNE Und Nylonstrümpfe? Hohe Hacken? SPATZI schwach Hört auf mit dem Quatsch. Laßt mich los... Hurensöh... SCHWEINI Hab keine Angst, Spatzi. Erzähl! Wir sind deine Freunde. Wozu sind Freunde sonst da, oder? Der Engländer spricht leise auf sie ein; erfindet die Situation sehr peinlich. Seine Gesten bedeuten: „Hört auf damit!" Aber die beiden beachten ihn nicht, erregen sich immer mehr. DER DÜNNE Malst du dich an? SCHWEINI Trägst du Frauenkleider? DER DÜNNE Ganz rot? SCHWEINI Kleine weiße Schlüpfer? DER DÜNNE Was ist, Schwuchtel? Rede! SCHWEINI Sei nicht unartig, rede. DER DÜNNE W O reißt du auf? In der Badeanstalt? SCHWEINI Am Bahnhof? DER DÜNNE Stehst du auf kleine Jungs? SCHWEINI Oder auf Spastis? DER DÜNNE Trägst du Büstenhalter? SCHWEINI Dazu passende Höschen? SPATZI fast weinend, laut Ihr Blödmänner! Ich bin schwul, aber ich bin

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kein Mädchen! Begreift ihr das, Hurensöhne! Ich bin schwul, aber kein Mädchen! Dämliche Affen! Verwirrung. Sie lassen Spatzi langsam los. Dann grinst der Dünne. Der Engländer und Schweini ebenfalls. Spatzi richtet seine Kleidung. DER DÜNNE schlägt Spatzi väterlich auf die Schulter, als wäre nichts gewesen Dieser Spatzi, verdammt! D E R ENGLÄNDER hilft ihm, sich sauber zu machen Ihr seid zu weit gegangen... schüttet euch voll und macht dann Blödsinn... wie Kinder. SCHWEINI Reg dich nicht auf, Junge, das passiert. Heute warst du dran... morgen bin ich es. So ist das Leben, oder? Spatzi sieht sie nicht an, wischt sich die Essenreste von Gesicht und Kleidern. DER DÜNNE Dieser Spatzi! ... Mit allen Wasser gewaschen! D E R ENGLÄNDER Ja, der verkauft dir noch die eigene Großmutter. SCHWEINI Mich läßt er immer ziemlich alt aussehen. D E R DÜNNE Wißt ihr noch, wie er uns weismachen wollte, er hätte Kinderlähmung? D E R ENGLÄNDER Ich hab ihm meinen besten Eisenbahnwagen geschenkt. SCHWEINI Und damals, als er im Pool im Club schrie, daß er einen Krampf hat. D E R DÜNNE Ich bin rein gesprungen, um ihn zu retten... Und fast wäre ich ertrunken. SCHWEINI Deine Schuhe haben ungefähr zehn Kilo gewogen, pro Stück. D E R ENGLÄNDER zärtlich Er ist ein Hurensohn! DER DÜNNE Mit einem Gesicht wie ein Unschuldsengel. Wer hätte das gedacht? Alle umarmen sich. Der Dünne nimmt ein Glas und hebt es. Auf uns! Auf unsere Freundschaft! D E R ENGLÄNDER sehr betrunken Und auf daß niemals eine Frau... so toll sie auch sei... so wahnsinnig toll sie auch sei, sich dazwischen schieben kann... D E R DÜNNE Männer! SCHWEINI Genau! D E R DÜNNE E S lebe die Freundschaft! ALLES Sie lebe hoch! Sie umarmen sich, die Gläser in der Hand, singen einen Tango, vielleicht „Percanta que me amuraste en lo mejor de mi vida".2

2 Mi noche triste, Text: Pascual Contursi, gesungen von Carlos Gardel.

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Reden wir von was anderem

Liebesnest Mit wenigen Elementen dargestellt das Wohnzimmer eines Appartements. Kein Schmuck, wenige Möbelstücke, alles Standard, unpersönlich. Der Engländer und der Dünne sitzen und trinken Whisky. Spatzi steht und gießt sich einen Drink ein. Geräusche der Toilette. Schweini erscheint. Alle sind leicht gekleidet. Es ist Sommer. Sie sind 43-45 jähre alt. Und... gefällt es euch? Ja... ganz schön... und preiswert. SPATZI Hast du es möbliert gemietet? DER DÜNNE Ja, weniger Probleme. SCHWEINI Und die Küche? ... Hast du keine Küche? DER DÜNNE Kitchenette... Aber stell dir vor, Dicker, ich komme nicht zum Kochen hierher. Gelächter. D E R ENGLÄNDER Wann kommen sie? DER DÜNNE Ist noch Zeit. Sie haben erst ab 1 2 Uhr frei. D E R ENGLÄNDER He, Dicker, gieß mir noch einen Whisky ein. SCHWEINI während er einschenkt Und die Filme? ... Hast du die Filme? DER DÜNNE Ja, Dicker, aber wir warten, bis die Puppen kommen, ja? SCHWEINI Und die Zeitschriften? DER DÜNNE Alles unter Kontrolle, Dicker. Beruhige dich. SPATZI ZU Schweini He, was ist mit dir los? Hast du lange nicht... SCHWEINI reagiert mit einer heftigen Bewegung, stößt beinahe Flasche und Gläser um Wie soll ich was aufreißen, wenn ich als Krankenpfleger beschäftigt bin! Die Alte... es geht ihr immer schlechter, bringt dem Engländer den Whisky Jetzt sind es die Nieren... Davor waren es die Bronchien und davor Hämorrhoiden... D E R ENGLÄNDER unterbricht Keine Einzelheiten, Dicker. SCHWEINI überdreht Ja, aber der ganze Lohn geht für Medikamente drauf. Und dann läßt sie mich abends nicht weggehen, weil sie nicht allein sein will. Sie sagt, sie hätte mich nicht vierzig Jahre ertragen, um einsam wie ein Hund zu sterben... Und was soll ich machen? Sie ist meine Mutter! DER DÜNNE Und heute, Dicker? Bist du heimlich abgehauen? D E R ENGLÄNDER Bestimmt hat er sie betäubt. SPATZI Was hast du für eine Ausrede erfunden, Dicker? DER DÜNNE Los doch, was hast du ihr gesagt? SCHWEINI Daß... daß Spatzi uns seine Braut vorstellen will... Sie war so gerührt, daß sie um ein Haar mitgekommen wäre. Gequältes Gelächter, der Engländer steht rasch auf. DER DÜNNE

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Molina

Dünner, hast du Musik? Sicher, mein Alter. Hier ist alles da. Der Dünne legt eine Platte auf. Schweini macht einige Tanzschritte, alle lachen und ermuntern ihn. Der Dünne stellt die Musik leise. Wegen der Nachbarn... Das sind ein paar macht eine unanständige Geste Neulich haben sie sich beschwert, weil sie nicht schlafen konnten, das Bett machte Geräusche... SPATZI Nein! ... Und was hast du gemacht? DER DÜNNE Nichts... Was soll ich machen? Das Laken ölen? Gelächter Die machen mich wahnsinnig! ... Ich war so richtig schön bei der Sache, da fangen die an, mit dem Besenstiel an die Decke zu schlagen... Stellt euch das vor! Kaputt! SCHWEINI Ka-was? D E R ENGLÄNDER Wie lange willst du das noch fragen, Dicker? Kaputt! Verloren, wie im Krieg, senkt langsam den Zeigefinger Verstehst du jetzt? SCHWEINI Na klar! ... Wenn man deutlich mit mir spricht, verstehe ich auch. Pause, ernst weiter Weißt du, Dünner, ich gebe dir einen Rat. Wenn ich du wäre, ich würde meinen Kram zusammenpacken und ab! Wenn sie jedes Mal, wenn du so eine Begegnung hast, zum Rückzug klopfen, weißt du, wie dein Sack dann bald aussieht? ... So wird er aussehen... Bin ich deutlich genug? DER DÜNNE Bist du wahnsinnig, Dicker? Weißt du, was mich das gekostet hat, dieses Liebesnest zu finden? Lieber leg ich die Badewanne mit Matratzen aus, aber hier rühre ich mich nicht weg. Oh, nein! D E R ENGLÄNDER deutet auf den Boden Reg dich nicht auf, Dünner, das ist der pure Neid. DER DÜNNE Natürlich... klar... Weißt du, der Portier wird jedes Mal ganz grün, wenn ich komme. Eines schönen Tages wird er den Besen fressen. Gelächter. D E R ENGLÄNDER Hab ich euch erzählt, daß Inesita verlobt ist? SCHWEINI Die Rotznase! SPATZI Schon? Wie alt ist sie? D E R ENGLÄNDER Siebzehn; sie ist noch ein Kind. DER DÜNNE Ja, aber mit einer Figur... das kann ich dir sagen! Er zeichnet mit beiden Händen in die Luft. D E R ENGLÄNDER ärgerlich Ja, aber sie ist noch ein Kind, tippt sich an den Kopf Hier ist sie noch ein Kind. D E R ENGLÄNDER

DER DÜNNE

SPATZI

U n d er, w e r ist e s ?

Ein Faulpelz... Ein Unglück! Schauspielschüler und in seiner Freizeit... Dichter!

D E R ENGLÄNDER

Reden wir von was

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Die anderen lachen. Nein! ... Das hast du geträumt, Engländer! SPATZI Ausgerechnet du kriegst einen Dichter. DER DÜNNE Und was willst du machen? Irgendwas mußt du doch machen, oder? DER ENGLÄNDER Sicher... im Augenblick hab ich sie mit ihrer Mutter nach Punta del Este geschickt. Ich hab ein Haus für den ganzen Sommer gemietet. Damit sie ihn vergißt oder was besseres findet. In dem Alter sind sie ziemlich flatterhaft. Pause So ist es, man reißt sich ein Bein aus, damit es ihnen an nichts fehlt. Und dann kommt so ein Idiot und sackt ein. SCHWEINI Das ist ungerecht. Er klopft sich auf den Bauch. DER DÜNNE Weißt du, Gringo, die Jugend von heute ist ziemlich durcheinander... Sieh dir die Gören an... denen ist alles egal... Sie sind fertig. SPATZI Und was machst du, wenn du feststellst, daß deine Tochter... du weißt schon... DER ENGLÄNDER väterlich Die Kleine? plötzlich anderer Ton Ich schmeiße sie raus. Darauf kannst du Gift nehmen. Wenn sie ihr Leben leben will, bitte sehr! ... Aber nicht auf meine Kosten. Schon gar nicht mit so einem Penner. Ein Nichtsnutz. Pause Wißt ihr noch, als wir so alt waren? Pause Gedichte, so ein Quatsch! Kein einziges ist uns abgegangen! ... Aber wir hatten Spaß, oder? Der Dünne und Schweini nicken. SPATZI Die Zeiten ändern sich... Heute macht man nicht so viel Gedöhns dadrum... man ist direkter. DER ENGLÄNDER Du hast gut reden, du hast keine Kinder. DER DÜNNE Zum Glück spielen meine noch mit Puppen. Ich kann noch ein paar Jahre ruhig schlafen. SCHWEINI Und der Bengel, wann kommt der? DER DÜNNE Vielleicht im Februar... Wir versuchen es weiter. Aber bevor er nicht da ist, höre ich nicht auf. Das hab ich meiner Frau gesagt. DER ENGLÄNDER Gut so. Frauen sind so schwierig. Die haben zu viele Flausen im Kopf. Als hätte man nicht schon genug Probleme. SCHWEINI He, apropos Probleme... danke für die Adresse... Du hast mich gerettet! DER ENGLÄNDER Was? Hat sie Schwierigkeiten gemacht? SCHWEINI Stell dir vor, sie war schon im dritten Monat. DER ENGLÄNDER Ist alles gut gegangen? SCHWEINI Was weiß ich! Ich hab ihr die Adresse gegeben und ein paar Piepen... Ich hab sie nicht wieder gesehen... Wer weiß... SCHWEINI

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DER DÜNNE Gut so. Die Schlampen von heute spielen die Freizügigen, und wenn was passiert, hängen sie sich an einen Mann, der sie beschützen soll... So lebt es sich einfach, oder? SCHWEINI Genau das sage ich. DER DÜNNE steht auf Dicker, komm mit, wir gehen Pizza kaufen. DER ENGLÄNDER Da kannst du mir ja noch meinen Whisky mitbringen. zu Spatzi Diese Mädchen saugen dich aus wie einen Schwamm. Der Dünne und Schweini gehen. Der Engländer und Spatzi sitzen sich gegenüber. Lange Pause. Was machst du so? Wie ist das Leben zu dir? SPATZI Nun... ich schufte wie ein Sklave, aber gut, kann nicht klagen. DER ENGLÄNDER Das freut mich. Einen kleinen Whisky? Spatzi nickt, der Engländer gießt ihm ein. Das freut mich, Junge. Das freut mich. Pause Das freut mich. Pause Weißt du... ich mische mich nicht gern in das Leben anderer. Du kennst mich doch. Das ist nicht meine Art... Meinetwegen kann jeder leben, wie er will... Aber ich hab gedacht, weißt du, nun ja, du bist mein Freund seit wir kleine Jungs waren, wie viele Jahre schon? Dreißig? ... Ein ganzes Leben! Du hast deine Geschichte, ich hab meine... Etwas Eis? Spatzi reicht ihm sein Glas, der Engländer tut Eis hinein. Weißt du, für mich, meiner Meinung nach und ohne mich in dein Leben einzumischen, versteh mich richtig, äh, du solltest mit 'ner Tussi ausgehen. Ich weiß, sag nichts, ich rede nur vom ausgehen. Ja, ausgehen, um... dich zu zeigen, daß sie dich sehen, verstehst du? ... Ins Kino. Durch Santa Fé spazieren. Sonntags auf der Recoleta. Verstehst du? Dich zeigen. Daß sie sehen. Ja, daß sie dich in Begleitung sehen... so... eingehakt, verstehst du? Pause Sonst reden die Leute... Ich weiß, wen interessiert das schon... Aber, nun ja, ich bin dein Freund, der Dünne ist dein Freund. Schweini... sie sehen uns immer zusammen, und die Leute reden. Sie denken sich was. Und was passiert, sag mir das bitte, was passiert, wenn sie glauben, wir wären alle vom selben Ufer? He, nimm es nicht krumm. Es geht nicht um mich. Ich bin dein Freund. Es ist nur wegen der Familie, verstehst du? Man hat schließlich Kinder. Und Werte. Sitten. Ich fände es gar nicht gut, wenn einer meiner Söhne eines Tages... nun ja... du verstehst? Du weißt, wie das Leben ist. Es ist nicht leicht. Weder für dich. Noch für mich. Und sag mir, wozu? Wozu soll man ihnen den Gefallen tun? Tussis gibt es wie Sand am Meer. In allen Farben. Ich kann dir welche vorstellen, wenn du willst. Du gehst ein bißchen mit ihnen aus. Zeigst sie. Man sieht dich. Die Klatschbasen müssen ihre eigene Zunge fressen. Das ist alles. Alle sind zufrieden. Wenn ich du wäre, würde ich das versuchen. He, was meinst du?

Reden wir von was anderem

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Wenn du willst, stell ich dir welche vor. Gleich morgen, wenn du willst. He, Junge? Pause Weißt du, neulich im Club haben wir über dich gesprochen... Spatzi steht langsam auf. Der Engländer schweigt abwartend. SPATZI Erinnerst du dich, Engländer, als du mich in der Schule immer vor den Großen beschützt hast? ... Und du warst es, der mir gezeigt hat, selber auszuteilen... Und was hast du immer gesagt? Gib nicht auf, Junge! ... Und in allen diesen Jahren habe ich immer, wenn ich aufgeben wollte, deine Stimme gehört: Gib nicht auf, Junge! Wenn du aufgibst, kriegen sie dich unter. Weißt du noch? Gib nicht auf! ... Gib nicht auf! Während er spricht, boxt er wütend in die Luft. Der Dünne und Schweini kommen mit Pizza-Schachteln und Whisky zurück. Der Engländer steht da mit seinem Glas in der Hand. Spatzi geht ab. DER DÜNNE Also Jungs, fünfhundert Piepen pro Kopf. Fünfhundert fünfzig für dich, Dicker, du wolltest die Torte, sieht den Engländer an Was ist los mit dir? Ist dir nicht gut? Der Engländer winkt ab. Weißt du, wie heiß es draußen ist? Alle Welt ist auf der Straße. Wie die Kakerlaken. Und Spatzi, wohin ist der? Der Engländer deutet nach draußen. Schweini stellt das Essen auf dem Tisch zurecht. Hab ich euch gezeigt, was mir mein Vetter aus Schweden mitgebracht hat? SCHWEINI Noch mehr Zeitschriften? DER DÜNNE Viel was besseres! Er geht zu einem Karton, öffnet ihn und holt eine aufblasbare Puppe heraus. Ist das nicht irre? SCHWEINI Uii, was für ein Weib! DER ENGLÄNDER Ich hatte mal eine... Sie hat nur zwei Wochen gehalten. SCHWEINI Und dann ist sie mit einem andren auf und davon? DER ENGLÄNDER Sie ist geplatzt, Idiot! DER DÜNNE He, Dicker, du hast die meiste Luft. Blas sie mal auf. SCHWEINI Na, wer bin ich denn? Der Oberdussel? Pause Ja, das bin ich. Er bläst resigniert die Puppe auf. je mehr Form sie gewinnt, desto begeisterter reagieren der Dünne und der Engländer. DER ENGLÄNDER Die ist besser als meine. Dicker. DER DÜNNE stolz Siehst du? Sie ist fabelhaft, he? DER ENGLÄNDER Und obendrein redet sie nicht... Eine tolle Erfindung! Die Puppe ist aufgeblasen. Spatzi erscheint und beobachtet die anderen. DER DÜNNE Dicker, sag die Wahrheit... wie lange ist es her, daß du so was Feines in den Händen hattest? DER ENGLÄNDER schlägt dem Dicken auf den Kopf Dicker! Dicker! Das ist die Lösung deines Lebens. Im Ernst! Das Problem mit deiner Alten

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ist gelöst. Die läßt dich nicht ausgehen... na gut. Du bläst sie auf. Du legst sie in dein Bett. Du sagst, sie soll auf dich warten. Du erledigst deine Sachen. Ganz in Ruhe. Ohne Eile. Und wenn du zurück bist, ist sie da! Sie wartet auf dich. Frisch wie ein Salatblatt und zu allem bereit. Wie findest du das? Ist das keine geniale Idee? Schweini betrachte die Puppe aufmerksam und beginnt vorsichtig, sie zu streicheln. Pause. Spatzi tritt zu der Gruppe. SCHWEINI He, du hast recht. Ist keine schlechte Idee. Pause Verkaufst du sie mir, Dünner? DER DÜNNE Dicker, die hab ich gerade geschenkt bekommen! Ich hab sie noch nicht einmal eingeweiht. DER ENGLÄNDER Dicker, verführe sie doch. Was soll das lange Bitten. Pause Erkläre dich ihr... Und wenn sie ja sagt, sagt sie ja. SCHWEINI Engländer, laß gut sein. Ich bin nicht in der Stimmung. DER ENGLÄNDER Mach doch, was du willst. Ich dachte, das würde dir gut tun. nimmt den Dicken am Arm und zieht ihn beiseite Wenn der Dünne sieht, wie sehr sie dir gefällt, schenkt er sie dir bestimmt. SCHWEINI Glaubst du? DER ENGLÄNDER Bestimmt. SCHWEINI nach kurzem Zögern zu dem Dünnen Die ist klasse! Ein Traummodell! zu der Puppe Mein Fräulein, erlauben Sie... reicht ihr den Arm, der Dünne überläßt sie ihm Ich habe nicht viel Erfahrung in solchen Dingen... und schon gar nicht mit einer Schwedin... Aber unter uns könnten wir uns verständigen, meinen Sie nicht? DER DÜNNE Langsam, Dicker. Nicht so schnell. DER ENGLÄNDER Mit Klasse, Dicker, mit Klasse! Spatzi tritt hinter die Puppe und bewegt ihre Arme und den Kopf. SCHWEINI Wenn Sie erlauben, ich möchte... DER ENGLÄNDER zur Puppe Er möchte... Spatzi läßt die Puppe nicken und die Arme zu dem Dicken hin ausbreiten. Sie will, Dicker, sie will. Das fängt gut an. Der Dicke und die Puppe umarmen sich. Greif zu, Dicker. Das ist deine Gelegenheit! DER DÜNNE Beruhige dich, Fettsack. Wenn du sie anstichst, bringe ich dich um. Der Engländer trällert den Hochzeitsmarsch. DER ENGLÄNDER reicht dem Dicken feierlich die Hand Genieße es, mein Alter. Du hast es verdient. Und gib gut auf sie acht. Es ist heute nicht leicht, eine solche Puppe zu finden. Nicht wahr, Dünner? DER DÜNNE Sie ist ein Juwel! Ein Juwel! Der Engländer und der Dünne gehen, sich einen neuen Drink einzugießen. Der Dicke und die Puppe stehen in der Mitte der Bühne. Spatzi setzt sich

Reden wir von was

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aufs Sofa und beobachtet spöttisch die Szene. Der Dicke umarmt die Puppe leidenschaftlich, streichelt sie, küßt sie, dabei beobachtet er die Reaktion des Dünnen. Der Engländer reagiert mit Pfiffen der Begeisterung. DER DÜNNE Vorsicht, Dicker, sei vorsichtig mit dem Herzchen! D E R ENGLÄNDER Nicht nachlassen, Junge, du hast sie schon! ... Willst du uns deine Freundin nicht vorstellen, Dicker? DER DÜNNE Hör auf, du Spinner, genug jetzt! Der Dicke fährt fort in seinem exhibitionistischen Spiel. Der Engländer und der Dünne gehen um ihn herum, pfeifen, machen Komplimente, Sprüche, lachen. Der Dicke beschützt die Puppe, als wäre sie eine richtige Frau. DER DÜNNE bleibt vor der Puppe stehen Das sind Möpse, meine Süße! D E R ENGLÄNDER hinter der Puppe Und das erst! Ein Prachtstück! Hmmhmm... Grrrrrrr... SPATZI unterbricht Ist gut, Jungs, hört auf. zum Dicken Dicker, vor uns keine Hemmungen. Mach, was du mußt. Ganz ruhig. Wir sind gar nicht da. Alles klar? Er zwinkert ihm zu. D E R ENGLÄNDER reagiert sofort Natürlich! Entschuldige! Wie unaufmerksam von uns! Sie gehört dir, Junge. Sie gehört dir! DER DÜNNE Du hast sie gewonnen, Dicker. Nimm sie dir. Gib's ihr, feste! Sieh dir dieses Gesicht an! DER ENGLÄNDER Sie ist so weit. Der Dicke ist unentschlossen, die anderen ermuntern ihn, drängen ihn zum Sofa. Halb amüsiert, halb erschrocken legt er sich hin. Spatzi legt die Puppe auf ihn. Pause. D E R ENGLÄNDER Worauf wartest du, Dicker? ... Auf den Segen? DER DÜNNE Mach schon, Dickerchen! Na los doch. Du wirst uns doch nicht enttäuschen? SPATZI Keine Ausreden jetzt. DER ENGLÄNDER Gib's ihr, Dicker! Gib's ihr! A L L E DREI Gib's ihr, Dicker! Gib's ihr! Der Dicke zögert einen Augenblick, dann knöpft er seine Hosen auf. Die drei anderen treiben ihn an. Wenn der Dicke die Puppe mit Armen und Beinen umschlingt, tritt Spatzi hinzu und zieht mit einer raschen Bewegung den Stöpsel aus der Puppe. Langsam entweicht die Luft. Der Dünne und der Engländer sehen Spatzi entsetzt an. SCHWEINI mit der nun schlaffen Puppe Was hast du gemacht? Laß sie mir... laß sie mir doch! SPATZI unbeirrt Es ist schon nach zwölf. Ich hole den Projektor. Und du, Engländer, räum diesen Saustall ein bißchen auf. ab. Lange Pause. Langsam steht Schweini auf, macht seine Hose zu und packt die luftleere Puppe am Hals. Der Engländer und der Dünne räumen schweigend den Raum auf. Schweini geht wie ein Automat mit der Puppe

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in der Hand auf und ab. Schließlich läßt er sich auf das Sofa fallen. Spatzi erscheint mit dem Projektor. Er hat sich Mund und Augen geschminkt und trägt Frauenkleider, hohe Absätze. Er sieht aus wie ein Transvestit. Niemand beachtet es. Er pfeift, während er den Projektor aufstellt. Es klingelt. DER D Ü N N E Die Haustür! Mach auf, Engländer. Der Dünne und der Engländer bewegen sich rascher. Sie sehen in den Spielgel, kämmen sich, ordnen Dinge. Der Dünne haucht sich in die Hand, um seinen Atem zu prüfen. Der Engländer wirft sich in die Brust. DER D Ü N N E zum Engländer Weißt du, Gringo, wie alt die Tussi ist... achtzehn! reibt sich die Hände Wahnsinn! DER ENGLÄNDER Ich mag sie so, fast noch Knospen. Er lacht. DER D Ü N N E zu Spatzi Hast du die Filme gefunden? SPATZI Ja. Welchen nehme ich zuerst? DER ENGLÄNDER Den mit den beiden Müttern... zum Aufwärmen. Der Dünne hat bis auf ein rotes Licht alle Lampen ausgemacht. Leise Musik. Der Engländer hat Flaschen geöffnet. Der Dicke sitzt immer noch mit der Puppe in der Hand da. Der Dünne und der Engländer setzen sich wie Herren. DER D Ü N N E Eine Bitte habe ich... keinen Lärm. Ich wißt ja... die Nachbarn. Ich will keinen Arger. Alle nicken. Es klingelt an der Tür. Der Engländer steht auf, um zu öffnen, hält inne, sagt leise: DER ENGLÄNDER He, wenn ich einschlafen sollte, weckt mich um 7... bitte! Um 8 werde ich aus Punta del Este angerufen. Und wenn ich nicht zu Hause bin, passiert was... imitiert große Furcht. Der Dünne bedeutet ihm ein Okey. Der Engländer öffnet die Tür. Der Dünne gibt dem Dicken einen Rippenstoß, die Puppe fällt ihm aus der Hand. Das Licht des Projektors fällt auf die Wand. Dunkelheit. Ein ganzes Leben

DER

Die vier Männer sitzen auf der Bank wie in der ersten Szene. Sie sind 6570 Jahre alt. Sie tragen Schals, Kappen, Mäntel. Große Unruhe. Sie sehen hin und her. ENGLÄNDER Ist es schon 11?

DER D Ü N N E

11 U h r .

D E R ENGLÄNDER

Pause

Uhr. Noch früh.

ist kälter als gestern. Aber nicht so feucht, das ist es. Pause Ich glaube, Mama übersteht diesen Winter nicht. DÜNNE Jeden Winter sagst du dasselbe.

SPATZI

SCHWEINI DER

11

ES

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Ja... aber dieser ist es. hustet Montag sind es zwei Jahre. SPATZI Arme Susy... so voller Leben. DER DÜNNE Wir Männer sind nicht gemacht, allein zu sein. D E R ENGLÄNDER Man gewöhnt sich nie... ein ganzes Leben. Pause Inesita will sich trennen. Die armen Kinder! Ich sage... warum, zum Teufel, heiraten sie, he? Warum heiraten sie? Pause SPATZI Das ist bestimmt der kälteste Tag des Jahres. DER DÜNNE D U bist immer zu dünn angezogen. Trägst du kein Unterhemd? SPATZI Nein. DER DÜNNE Was willst du? Ohne Unterhemd! Immer dasselbe! DER ENGLÄNDER Um 1 2 muß ich meinen Enkel zum Essen bringen. Wenn ich zu spät komme, wird die Alte böse. Pause Und du, Dicker, wann gehst du in Pension? SCHWEINI Nächstes Jahr, wenn Gott will. DER ENGLÄNDER Komm mal zum Essen vorbei. Du weißt, Silvia mag dich... immer fragt sie nach dir. SCHWEINI Ich würde gern... aber so lange Mama... DER ENGLÄNDER Gut so! Man hat nur eine Mutter. DER DÜNNE Sieh dir die Jungs an, wie sie sich streiten. SPATZI Da ist der Bengel, der uns mit der Zwille beschossen hat. DER DÜNNE Wenn ich der Vater wäre, dem würde ich es zeigen, daß er es nie vergißt. Da sind sie... die zukünftigen Verbrecher! SPATZI Weißt du, daß mein Neffe Carlitos jetzt Anwalt ist? Die anderen nicken überrascht. Er hat sein Studium in drei Jahren geschafft. Drei Jahren! Eine Intelligenzbestie, der Knabe! Außerordentlich! DER DÜNNE D U bist verrückter als der Vater. DER ENGLÄNDER Intelligenz ist für viele Dinge nützlich... Aber in diesem Leben muß du gewitzt sein... sehr gewitzt... sonst hast du Verschissen. Kaputt! Sie überfahren dich. Zum Glück hat Silvia mir immer die Augen geöffnet. Pause Ich weiß nicht, was ich ohne sie getan hätte. DER DÜNNE ZU Spatzi Und was macht deine Leber? SPATZI in sich gekehrt Ein Phänomen, dieser Junge! D E R ENGLÄNDER Deine Leber? Spatzi sieht ihn an. DER DÜNNE deutet auf seine Leber Deine Leber. Wie geht es der? SPATZI Ah, die Leber... gut. Gut. Pause Ich passe auf mich auf. Pause Nichts Gebratenes. Pause Kein Fett. Pause Und abends esse ich nichts SCHWEINI

DER DÜNNE

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mehr. Ein bißchen wegen der Leber... und ein bißchen, um zu sparen... D E R DÜNNE ärgerlich Ich habe dir tausend Mal gesagt, daß man alles essen kann, aber du hörst nicht auf mich!... Alles, nur kein Salz! Salz ist Gift! SCHWEINI Viel Gemüse und ein Glas Bikarbonat nach dem Essen... Ein Rezept von Mama. D E R DÜNNE Da muß was dran sein, denn deine Mutter ist fast hundert Jahre alt. SCHWEINI stolz Neunundneunzig. Im Dezember, wenn Gott will. Steinbock wie du, Dünner. Ganz schön dickköpfig! D E R DÜNNE Susy hat immer gesagt, ich sei dickköpfig. Pause Aber ich hab sie immer respektiert. Sie war die Mutter meiner Kinder. SCHWEINI Was? Ist dir der Kürbis verkalkt? DER DÜNNE Ich hab sie immer respektiert! Pause Nun ja, das ein oder andere Mal... man ist ja nicht aus Stein! Aber es waren immer unbedeutende Sachen... Die Familie habe ich immer rausgehalten. Nicht wie heute, wo die Eheleute sich alles erzählen. Alles. Wo soll denn das hinführen? Es gibt keine Würde mehr! Alles ist nur noch Sex... nur noch Fleisch! SPATZI Geht mir ab mit Fleisch. Man verliert so viel Zeit mit dem Kauen... und dann hat man Probleme mit der Verdauung. D E R ENGLÄNDER Nudeln sind lecker. Ich liebe Nudeln... mit Butter und Käse. SCHWEINI Käse trocknet den Magen. D E R ENGLÄNDER Bei mir nicht. Aber Schokolade. D E R DÜNNE erregt Du ißt Schokolade? D E R ENGLÄNDER Manchmal. Nicht immer. Wenn man sie mir anbietet. Sehr selten... D E R DÜNNE Schlecht! Sehr schlecht! Die Arterien verkleistern und du bist hin! Mein Arzt hat gesagt: „Gutiérrez, Sie sind gut in Form, aber essen Sie keine Schokolade. Kein einziges Gramm! Verstehen Sie?" Alle nicken beeindruckt. Pause. D E R ENGLÄNDER Alle sind bestochen. Stellt euch vor, Boca verliert auf dem eigenen Platz! Ich bitte euch! DER DÜNNE Heute kann ich mir die Spiele ruhig ansehen. Ich muß mich nicht mehr mit Susy um den Fernseher streiten... Früher, wenn ich ein ganzes Spiel sehen wollte... unmöglich! Pause Ich kann nicht schlafen. Nachts kann ich nicht schlafen. Pause Es ist so still! SCHWEINI Ein Rezept von Mama gegen Schlaflosigkeit: mindestens drei Liter Wasser pro Tag. Sie sagt, das Wasser räumt auf und beruhigt die Nerven.

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Ich komme gut zurecht mit Kohlehydraten, was soll ich sagen. D U solltest die Bananendiät probieren. In den USA ist sie große Mode. Zum Frühstück ein Glas Milch und zwei Bananen. Kein Zucker. Mittags ein Glas Milch und zwei Bananen. Abends ein Glas Milch und zwei Bananen auf kleiner Flamme im Ofen erhitzt. DER DÜNNE Ich hab die Gemüsesaft-Diät ausprobiert. Hab ziemlich abgenommen. Diese Hose... war mir so viel zu groß... Aber nach zehn Tagen war ich so schwach, daß ich nicht mehr aufstehen konnte. Meine Schwiegermutter war so erschrocken, daß sie einen Krankenwagen rief... So was Albernes! SPATZI 1 2 0 0 Kalorien am Tag, das reicht! Nicht weniger und nicht mehr. Pause 400 gr. Gemüse, 300 gr. Obst, 60 gr. Brot, 80 gr. Magermilch. Ein Ei, sagen wir 150 gr. und 10 gr. Butter, dazu geschätzt etwa 200 gr. Fett... Macht zusammen 1200 Kalorien. Ganz genau! Nicht mehr und nicht weniger. Alle nicken bewundernd. Pause. D E R ENGLÄNDER Mein Arzt, Professor für... also, ich erinnere mich momentan nicht, ein wunderbarer Mensch... Er hat gesagt, ich soll essen, was ich will, aber ohne zu übertreiben, natürlich. Pause Nach einem Infarkt, was, bitte, willst du da noch übertreiben? SCHWEINI Darum mache ich jeden Tag drei Kniebeugen. Am offenen Fenster. Tief durchatmen und Kniebeugen. Eine nach der anderen. SPATZI Man muß auf das Herz achten. Ihm nicht zu viel zumuten. Jeden Moment kann es stehen bleiben... Und bei wem willst du dich dann beschweren? Bei dem da oben? Geh mir ab! DER DÜNNE Und wenn... Es gibt immer Überraschungen. Man muß gar nicht so weit gehen, viele Freunde, die schon... Der Engländer steht auf. DER ENGLÄNDER Ich hol meinen Enkel. Er muß jetzt aus der Schule kommen. Und wenn ich zu spät bin, macht die Alte Krach. Mit den Jahren ist sie jähzornig geworden, lacht Also, Jungs, wir sehen uns nächsten Freitag, oder? Alle nicken. SCHWEINI steht ebenfalls auf Ich gehe auch. Es ist Essenszeit für Mama. Sie hat einen Wecker im Magen! Bis Freitag, Jungs, so Gott will. Beide ab. DER DÜNNE Und wenn... Es gibt immer Überraschungen. SPATZI Findest du nicht, daß der Engländer alt geworden ist? DER DÜNNE Seit voriger Woche? SPATZI Ja, hinfälliger. DER DÜNNE Nein, findest du? SPATZI Ja, Mann, ja! Hast du das nicht gesehen? Er sieht aus wie ein SPATZI

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Trottel. Die Frau hat ihn unter der Knute. Darum... ich sage immer... besser allein als in schlechter Gesellschaft. Meinst du nicht? DER DÜNNE Was soll ich dir sagen? Der Engländer und Schweini kommen zurück als die Jungen der ersten Szene. Sie kommen gerannt, stoßen sich, lärmen. Spatzi und der Dünne sehen sie mit Mißfaüen. Man versteht die Alten nicht, sie reden mürrisch miteinander. Die Jungen sind laut, lachen. Spatzi steht verärgert auf, verabschiedet sich vom Dünnen und geht. Der Dünne ruft Schweini. DER DÜNNE Hör mal, Bengel, warst du das, der mit der Zwille geschossen hat? SCHWEINI Nein, Señor. War ich nicht! Ich hab keine Zwille. Spatzi kommt als Junge, fragt den Engländer mit Zeichen, was der Alte von ihnen will. DER DÜNNE Sag deinem kleinen Freund, wer immer es war, wenn ich ihn noch mal mit der Zwille sehe, wird er sich an mich erinnern, ein ganzes Leben... verstanden? Sag ihm das. Vergiß es nicht! Schweini dreht sich um, muß lachen. Verbrecher! Er steht auf und geht langsam ab. DER ENGLÄNDER So ein Affe! Daß sie dem noch Ausgang geben! holt Karten aus seinem Hemd Guckt mal, hab ich meinem Alten geklaut. SCHWEINI Uii! Alle ganz nackt! SPATZI Und damit spielt dein Alter? Der Dünne erscheint als Junge. Aus der hinteren Hosentasche hängt der Gummi einer Zwille. ALLE DREI Komm, laß dir das nicht entgehen! Guck dir die an. Die Jungen stoßen Laute der Bewunderung aus: „Mama mial" „Donnerlittchen" etc. Dann drehen sie sich um, sprechen nüchtern ins Publikum. DER ENGLÄNDER Gibt es solche Tanten wirklich? SCHWEINI Ich finde sie alle super. SPATZI Und wenn du dein Leben lang nach so 'ner Puppe suchst und sie nicht findest? DER DÜNNE ES muß sie geben... Aber wo sind sie? SCHWEINI Und wenn sie dich nicht beachten? SPATZI Und wenn du sie nie findest? DER ENGLÄNDER Dafür sind die Weiber doch da! DER DÜNNE Und wenn sie dich nicht beachten? SCHWEINI Und wenn du sie nicht findest? DER ENGLÄNDER Es muß sie geben... Aber wo sind sie? SPATZI Dafür sind die Weiber doch da! Während sie die Sätze wiederholen, ziehen sie sich die Männerkleidung aus. Die Sätze wachsen zu einem Crescendo und verstummen mit einem Schlag. Dunkelheit.

Carlos Manuel Varela Alfons und Chlothilde Alfonso y Clotilde

Montevideo 1980 Deutsch von Almuth Fricke

Für Leonor

Álvarez

Alfons und

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Chlothilde

Carlos Manuel Varela: (1940) Autor und Regisseur, einige Jahre Leit e r d e r ESCUELA M U N I C I P A L DE A R T E D R A M Á T I C O M A R G A R I T A X I R G U i n

Montevideo. Mein Theater der Inneren Emigration „Das Theaterstück ist das Produkt kreativer Phantasie und darüber hinaus auf die Bühne gestelltes Leben." Diese Definition, die in ihrer Schlichtheit die Beziehungen des theatralen Textes zum Inneren und Äußeren des Autors beschreibt, habe ich von Atahualpa del Cioppo gehört, einem der Großen unseres Theaters. Sie hat mich durch die düsteren Jahre der Diktatur begleitet. Innere Emigration war ein Terminus, der während der Diktatur entstand und die Situation derer zu beschreiben versuchte, die geblieben waren. 1 In einer Radiosendung sagte ich damals: Manchmal kopiert man bekannte Dinge, m u ß sie aber verkleiden, verändern, weil es schwierig ist, einiges zu zeigen, ohne den Zorn derer heraufzubeschwören, die sich darin abgebildet sehen.

Das war der Ausgangspunkt für das, was später in meinem Theater passierte: die Theorie des zerbrochenen Spiegels und der ,maskierten' Sprache. Der Spiegel konnte nicht die schreckliche Realität des Augenblicks zeigen. Aber der zerbrochene Spiegel ließ zwischen den Rissen Bilder einer Realität auftauchen, die der Betrachter selbst zusammensetzen mußte. Genauso mußte er in seinem Zuschauersitz seinen ,eigenen Text' während der Vorstellung simultan entstehen lassen. Im TEATRO LA MÁSCARA wurde 1968 mein Stück El juego tiene nombre aufgeführt, eine Parabel, die in gewisser Weise den Putsch von 1973 vorwegnahm. Das Stück spielt in einem Altersheim, das sehr einem Konzentrationslager gleicht. Die Repressionen manifestieren sich hier im strikten Tagesablauf: Mahlzeiten, Spielzeiten, Schlafenszeiten. Florencia, die Protagonistin, spielt eine Art Aufstand. Sie steckt die anderen an und drängt sie, zwischen luziden Momenten ihr Spiel mitzuspielen. Der Text nähert sich einem halluzinatorischen Realismus' mit Dialogen, die das Absurde und den schwarzen Humor benutzen, um eventuelles Mitleid des Zuschauers abzuschmettern. Uruguay zeigte damals schon ein Klima zunehmender Gewalt, wachsende Macht des Militärs, das bereits ver1

Onetti, Marra, Rosencoff, Conteris. Publikationen z u m T h e m a : Memorias del calabozo von Rosencoff und F. Huidobro; Cartas desde la prisión von Raúl Sendic; Cartas desde mi celda von L. Lev; Esta empecinada flor von C l a u d i o Invernizzi; Vivir hasta mañana von A. Lémez.

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Varela

suchte, von rein repressiven Funktionen auf politische Funktionen überzugreifen. In jenem Ambiente von Unsicherheit und politischer Polarisierung konnte ich nur zwei Stücke aufführen: Happening? (1969) und La enredadera (1972). Das erste über den Aufstand einer Gruppe von Gefangenen, die ein Theaterstück aufführen, und das zweite über die Konfrontation zwischen einer Mutter und ihrem Sohn, der Revolutionär geworden war. Dann folgte eine lange Zeit des Schweigens. 1979 konnte ich Las gaviotas no beben petröleo aufführen. In diesem Stück benutze ich das Schema der bürgerlichen Salonkomödie mit einer Symbolfigur, der Mutter, die das Leben ihres Sohnes plant und kontrolliert. Das Terrain für die folgenden Stücke ist bereitet: Alfons und Chlothilde (1980), Los cuentos finales (1981) und Palabras en la arena (1982) sind paradigmatische Texte für jene Zeit. Alfons und Chlothilde kombiniert eine allegorische Struktur mit absurdem Text, die Realität wird verwirrt und direkte Anspielungen versteckt. 2 Das ältere Ehepaar des Titels flieht. Sie sind nicht die „üblichen" Exilanten, vielmehr wegen eines „absurden Irrtums" zu Feinden des Regimes geworden. Aber das ersehnte Exil ist unerreichbar. Auf ihrem Weg ins Exil gelangen Alfons und Chlothilde an einen öden Strand und wollen dort campieren und auf ein Fahrzeug warten, das sie an den rettenden Ort bringen soll. Während sie warten, tauchen aus dem Sand Hände zerstörter Körper auf, die dort vergraben sind. Das Paar entflieht der Realität, indem es sich an schöne Augenblicke aus der Vergangenheit erinnert; doch dieses Spiel wird unterbrochen, wenn Paco erscheint, ein junger Gewerkschaftler auf der Flucht, mit dem sie aber nicht sprechen können, weil man ihm die Zunge herausgerissen hat. So werden sie zu mehr oder minder Anteil nehmenden Zeugen seines Todes. In der Nacht hören sie Geräusche eines gespenstischen Lastwagens, der Pacos Leichnam und auch die andern Toten abholt. Alfons und Chlothilde sind nun ganz allein. Langsam lösen sich ihre Erinnerungen und ihre Identität auf. Obwohl in dem Text kein direkter Bezug auf Uruguay zu finden ist, erkannte das Publikum rasch die Anspielungen und fand eine politische Lesart des Dramas. 3

2

Jorge Dubatti: „Carlos Manuel Varela: intertexto absurdista y sociedad uruguaya e n Alfonso y Clotilde",

in Teatro Latinoamericano

tieri. Buenos Aires 1995. 3

de los 70, hrsg. v o n O s v a l d o Pellet-

Rita Gnutzman: „Alfonso y Clotilde de Varela: un teatro para espectadores cómplices", in ANALES DE LITERATURA HISPANOAMERICANA 28 (1999), pp. 699-712.

Alfons und

Chlothilde

49

Agustín, der männliche Protagonist von Los cuentos finales, lebt in einem verfallenden Gebäude. Das H a u s / G e f ä n g n i s ist eine Metapher für das Land. Er ist Anwalt, hat keine Arbeit und träumt davon zu fliehen und einen alten Freund aus seiner Jugend zu treffen, der in Europa lebt, im Exil, von dem er glaubt, es sei glücklich. Das Thema Innere Emigration, das hier schon anklingt, brachte ich in Palabras en la arena als Schicksal des Schriftstellers auf die Bühne, der sich geknebelt und zwischen seinen Ängsten und seinen Pflichten hin- und hergerissen fühlt. Es ist ein Dialog des Protagonisten mit einem Toten, einem Revolutionär, der ihn zu einer Konfrontation mit der Realität drängt, aus der er geflohen ist. Schließlich diktiert ihm die Stimme seines toten Freundes die Geschichte von Repression und Folter, die zu schreiben er sich bisher geweigert hatte. Die Bilder dieses Stückes scheinen sich wieder wie in einem zerbrochenen Spiegel zu brechen 4 Mit La esperanza S . A (1989), sieben Jahre später aufgeführt, beginnt die Etappe meiner Arbeit, die sich mit denen beschäftigt, die aus dem Exil in die Heimat zurückgekommen sind. Hier ist kein Lesen zwischen den Zeilen mehr erforderlich. Don Luis, ist Besitzer einer Eisenhandlung, die dem Druck der Diktatur widerstanden hat - Metapher für ein Uruguay, das versucht, sich wieder zu erholen. Die jüngste Tochter war aus politischen Gründen ins Ausland geflohen. Jetzt kommt sie zurück. Doch nun denkt der älteste Sohn, der geblieben war, nur noch daran, neue Horizonte im Ausland zu suchen. Es ist ein Drama des Wiedersehens und des Abschieds; die einen kommen, um zu bleiben, die anderen gehen, wer weiß, ob sie zurückkommen. Das Stück bedient sich realistischer Techniken, um in „dramatischem crescendo" Themen anzusprechen, zu denen sich das Publikum seine eigene Meinung machen muß. Bestimmend für mein Theater ist der Wunsch nach einem aktiven Zuschauer, der sich mit dem Schauspiel engagiert und in der Lage ist, zwischen den Zeilen zu lesen, oder wie heute, über Lösungen der angesprochenen Probleme nachzudenken. 5 Carlos Manuel Varela

4

Vgl. meinen Aufsatz „Del enmascaramiento al significado explícito", in gia y puesta en escena en América Latina y El Caribe. Montevideo 1990.

5

Graciela Miguez ordnet das Stück als „denunzierendes Theater der Hoffnung" ein. „Una temática inusual en Carlos M. Varela", in REVISTA GRAFFITI 65, 7 (1996).

Dramatur-

Alfons und Chlothilde

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Alfons und Chlothilde Personen: Chlothilde - Alfons - Paco. Licht über einem menschenleeren Raum. Auf dem Boden eine beigefarbene wellige Oberfläche. An manchen Stellen formen sich die Bodenwellen zu Hügelkämmen, die sich gegen den himmelblauen Hintergrund abheben, der sich stufenweise zu einem intensiven Dunkelblau verfärben wird. Alfons und Chlothilde treten auf, die Hälse gereckt, als versuchten sie, etwas in der Ferne zu erblicken. Sie trägt einen riesigen Strohhut und eine Sonnenbrille, am Arm einen Picknickkorb. Alfons stöhnt unter der Last mehrerer Gegenstände. Auf dem Rücken trägt er ein zusammengerolltes kleines Stoffzelt und einen vollgestopften Rucksack, aus dem eine karierte Wolldecke hervorschaut, in jeder Hand hat er einen Klappstuhl. CHLOTHILDE nimmt die Sonnenbrille ab, während sie zur Vorderbühne Hier ist es. Da sind die Spuren. ALFONS

der ihr gefolgt

ist W o ?

geht

CHLOTHILDE geht ein paar Schritte weiter, bleibt am Rand der Bühne stehen, deutet mit dem Zeigefinger Dort. Siehst du sie? ALFONS atmet ««/Stimmt. Endlich. Sie gehen zur Bühnenmitte zurück, lassen sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf den welligen Bühnenboden fallen. CHLOTHILDE Hier ist es angenehm. ALFONS Scheint ein guter Ort zu sein. Chlothilde nimmt eine karierte Tischdecke, breitet sie auf dem Boden aus. ALFONS zeigt darauf Ich frage mich wofür. CHLOTHILDE Es ist noch Kaffee da, holt eine Thermoskanne aus dem Korb. ALFONS schaut sich um Ja, es ist ein guter Ort. Es bläst ein angenehmes Lüftchen. Wir müssen nahe am Meer sein. CHLOTHILDE ES gibt keine Bäume, aber das ist egal. Bevor es dunkel wird, machen wir uns daran, das Zelt aufzubauen. ALFONS Sprich jetzt nicht davon. Ich bin fix und fertig. CHLOTHILDE Wir nehmen eine Aspirin und dann geht's wieder, sucht danach im Korb Kopf hoch, Alfons. Sie steckt ihm eine Tablette in den Mund und schluckt selbst eine. ALFONS verschluckt sich Gib mir Kaffee. Sie ist steckengeblieben. CHLOTHILDE DU bist wirklich ein Verschwender. Sie gießt ihm ein. Alfons trinkt.

52

Carlos Manuel Varela

ALFONS Und du denkst nur ans Sparen. So sind wir. CHLOTHILDE Beklag dich nur. Hätte ich nicht gespart, hätten wir dann das Auto, das Häuschen am Meer, die Wohnung? ALFONS

D a s ist u n g e r e c h t .

ALFONS

A u c h nicht meine.

ALFONS

Jetzt w i r d m i r klar, d a ß es nichts g e b r a c h t hat.

CHLOTHILDE Was ist ungerecht? Etwas durch große Opfer zu erreichen? ALFONS ES ist ungerecht, daß wir hier sind. Wir könnten in Aguas Claras sein, in unserem Häuschen. CHLOTHILDE Das ist nicht meine Schuld, oder? CHLOTHILDE zeigt ärgerlich ins Publikum Es gibt nicht nur einen Schuldigen, sondern viele. CHLOTHILDE ALFONS

W a s hat nichts gebracht?

Das Sparen.

CHLOTHILDE Nun gut, unter manchen Umständen bringt es nichts. ALFONS Unter diesen Umständen. CHLOTHILDE Aber unter anderen hat es was gebracht. Wenigstens können wir jetzt die Augen schließen und daran denken, was wir alles hatten. ALFONS Wie eine Art innerer Film. CHLOTHILDE Klar. Wir brauchen uns gar nichts vorzustellen. Es genügt, wenn wir uns an die schönsten Augenblicken erinnern. Zum Beispiel an ein Wochenende in Aguas Claras: du und ich am Strand beim Muschelsammeln. ALFONS lächelnd Für unsere Neffen und Nichten. CHLOTHILDE schließt die Augen An einen schönen Nachmittag nach der Siesta... ALFONS DU und ich in der Laube, in unseren Lieblingssesseln, Paciencen legend. CHLOTHILDE

lächelnd

W a s für ein Leben.

ALFONS Und plötzlich, zack. Der Schlag. CHLOTHILDE Der Hieb des Schicksals, möchte ich sagen. ALFONS Der Streich eines kleinen Bengels, der statt die Kerzen auf der Torte auszupusten, draufspuckt. CHLOTHILDE Verflixt. Als wir Ruhe am nötigsten gebraucht hätten... ALFONS

Genau.

CHLOTHILDE

Erholung und Besinnung.

ALFONS Wir sind für dieses Tempo nicht mehr gemacht. CHLOTHILDE Wie bitte? Ich fühle mich sehr gut. Jung und stark.

Alfons und

Chlothilde

53

Warum hast du dann nicht alles geschleppt? Weil ich geistig jung bin. Weil ich mich bilde. A L F O N S Literatur, kneift sich unterhalb der Augen Und das hier? Die hübschen Tränensäcke und Kraterlandschaften? CHLOTHILDE wütend Deine Krater. ALFONS In unserem Alter darf man nicht zu sehr ins Schwitzen geraten, meine Liebe. CHLOTHILDE Gemeiner Kerl. ALFONS Leg du nur die Koloraturen auf und den Wiener Walzer, ich hab Blasen an den Füßen. CHLOTHILDE nach einer Pause Wie lange werden wir warten müssen? A L F O N S Niemand hat gesagt, daß heute jemand vorbeikäme. CHLOTHILDE Ein paar Stunden... oder ein paar Tage. Nichts weiter. ALFONS holt eine Zigarette heraus und zündet sie an Wir müssen Geduld haben. CHLOTHILDE Ist nur noch eine da? Gib sie mir. Er hält ihr die Schachtel hin. Sie nimmt eine Zigarette und wirft die Pakkungfort. Schön... ich würde jetzt gern Kringel blasen. ALFONS DU hättest sie für mich lassen sollen. Du kommst ohne aus. CHLOTHILDE Ich rauche immer eine nach dem Tee. A L F O N S Von welchem Tee redest du? CHLOTHILDE Nun, es ist doch Teestunde, oder? A L F O N S Ich weiß nicht. Ich hätte eine Uhr, wenn du nicht die Autotür auf meinem Handgelenk zugeschlagen hättest. CHLOTHILDE Sprich jetzt nicht vom Auto. A L F O N S Es wäre nicht so schlecht gelaufen, wenn... CHLOTHILDE schreit Genug. A L F O N S Natürlich, meine Fehler werden mir den ganzen Tag lang vorgehalten, deine unter den Teppich gekehrt. CHLOTHILDE Ich habe eine unendliche Geduld, Alfons. ALFONS Und ich? Ich habe sie die ganzen Jahre auf die Probe gestellt. CHLOTHILDE Was willst du damit sagen? ALFONS

CHLOTHILDE

ALFONS Lieber nicht drüber reden.

Langes Schweigen. Chlothilde nimmt die Sonnenbrille und den Hut ab. Sie schweigt mit geschlossenen Augen. Alfons geht zur Vorderbühne, bückt sich, als suche er etwas. Krabbelt. CHLOTHILDE Ich mag die Stille. Das ist poetisch, es hat was. A L F O N S krabbelnd Was soll an der Stille schon dran sein? Nichts!

54

Carlos Manuel

Varela

CHLOTHILDE Sie hat was, was hier entflammt, Alfons. Spürst du das nicht? Nun, was sollst du schon empfinden, wo du doch so unsensibel bist. ALFONS Ich bin eben kein Weichling. CHLOTHILDE Da haben wir's. Hier stehen wir vor dem großen Meister der Simplifikation. geht hinter ihn Sein ganzes Leben stutzt er die Triebe, verdrängt die Schönheit und wirft Amethyste und Mohn in den Abgrund. Wie furchtbar so die Augen zu verschließen, die Pfirsiche mit der Schale zu essen, breitbeinig wie ein Cowboy daherzugehen. ALFONS stutzt Ich dachte, du magst Cowboys. CHLOTHILDE Die echten. Nicht dich, wenn du auf Cowb.oy machst. ALFONS Und die Spuren? Wo sind sie? Wo sind sie geblieben? CHLOTHILDE Dort. Bist du blind? ALFONS steht auf Du und deine Verrücktheiten. Was soll man in der Stille schon hören? CHLOTHILDE Vieles: neue Stimmen und alte Stimmen, das Echo anderer Stimmen. ALFONS W a s s a g s t d u ?

CHLOTHILDE Und wo die Stimmen verstummen, beginnt die Phantasie. plötzlich erschaudernd Es ist eine Lebensweise, weißt du? Hier leben. Zu bestimmten Zeiten fällt das sehr schwer. Manchmal zur Dämmerstunde... sieht ihn an, wechselt abrupt den Ton Für dich ist Erinnern bestimmt leichter. ALFONS

Danke.

CHLOTHILDE Was kannst du dir schon vorstellen, wo uns doch deine nicht vorhandene Phantasie hierher gebracht hat. ALFONS Und deine kulturbeflissenen Anwandlungen. CHLOTHILDE Meine was? ALFONS Dein gefühlsduseliger Dünnpfiff brachte den Stein ins Rollen. CHLOTHILDE Ich weiß nicht, wovon du sprichst. ALFONS Vom Tag beim Big Boss. CHLOTHILDE Dein Big Boss. ALFONS Verschreckt von deinem politisch-künstlerischen Treffer. CHLOTHILDE Mein Volltreffer. ALFONS Für den Gegner. Du hast ins eigene Tor geschossen. CHLOTHILDE Das wußte ich nicht. ALFONS Und deine Intuition, deine Phantasie, all die hehren Attribute, die du für dich beanspruchst, wo waren die?

Alfons

und

Chlothilde

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etwas verärgert Was weiß ich... setzt sich Kurz und gut... jetzt sind wir hier, gießt zwei Tassen Kaffee ein, schüttelt die Thermoskanne Nichts mehr da. A L F O N S Deine Phantasie ließ dich dieses Ende nicht vorhersehen? CHLOTHILDE Man stellt sich Dinge vor, nicht Enden. ALFONS Wenn ich wenigstens irgendeinen Freund aus dem Club treffen würde. CHLOTHILDE W O Z U taugen die schon? Reicht die Kraft in ihren Armen für was anderes, als ein Whiskyglas zu stemmen? A L F O N S Ich vermisse die Freunde. CHLOTHILDE Und ich? Glaubst du, ich habe in all diesen Tagen nichts vermißt? A L F O N S Wie lange geht das nun schon... wie viele Tage...? CHLOTHILDE schnell Nein, zähl sie nicht. A L F O N S Ich würde gern mit Philipp reden. Er ist so ausgeglichen. Ich mag seine Stimme. Er ist ein toller Typ, dieser Philipp. Ich könnte ihm ganze Abende zuhören. CHLOTHILDE Und dabei die Zeit verschwenden. A L F O N S plötzlich angstvoll Jetzt wird mir bewußt, wie sehr ich die anderen immer gebraucht habe, Chlothilde. CHLOTHILDE betrachtet ihn grämlich Du bist nicht gerade mein Cowboy. A L F O N S Ich sah ihn immer im Club. Wir redeten über Autos. Ich brauchte nur die Geräusche unseres Fords nachzumachen, sofort wußte er, was dran war. lächelnd Er irrte sich nie. CHLOTHILDE versucht zu lächeln Meinst du nicht, daß es dort auch Clubs gibt? A L F O N S Ich weiß nicht. CHLOTHILDE Bestimmt. Sobald wir angekommen sind, machst du dich gleich auf die Suche nach deinem Philipp. CHLOTHILDE

ALFONS

Und

du?

Ich? etwas bitter Ich warte auf den Samstag, wie immer. Ich warte, bis ich an der Reihe bin. A L F O N S Die Samstage waren schön. CHLOTHILDE ein wenig unruhig Mochtest du sie? Er antwortet nicht, nickt. Sie verzieht ihr Gesicht zu einem Grinsen. Ich will dir was beichten. Ich vermisse die Kinobesuche am Samstagabend. Das Kino und... nun ja, Samstag war immer so ein besonderer Tag. Ich frage mich, warum ich darauf immer wie auf den Lichttag der Woche gewartet habe. Es war nicht nur wegen der Lichter

CHLOTHILDE

56

Carlos Manuel

Varela

der Cafés und Kinos, sondern weil etwas passierte, grinst Kannst du dir denken, was? ALFONS Wir sind immer viel spazieren gegangen, betrachtet sie Verausgabten uns auch sehr. CHLOTHILDE beinahe für sich Wie gut tat es, sich Samstags nicht allein zu fühlen. Schweigen. ALFONS Hörst du das Meer? CHLOTHILDE Hört sich wie ein Motorengeräusch an. ALFONS Scheint so... Ist es das Meer? CHLOTHILDE Nähert sich ein Lastwagen? Schweigen. ALFONS ES ist nichts zu sehen. CHLOTHILDE Wer traut schon deinen Augen? geht einige Schritte, schaut in alle Richtungen. ALFONS schaut nach oben Es muß Donner gewesen sein. Es wird Regen geben. CHLOTHILDE Das kann nicht sein. Die Sonne scheint doch, läuft wieder ein paar Schritte, geht zum Hügel, beugt sich darüber und schaut nach unten, schreit Alfons! ALFONS ohne sich umzudrehen Was denn? CHLOTHILDE wie gelähmt, sieht starr hinter den Hügel Al-fons... sieh doch nur. ALFONS Ich kann jetzt nicht. Ich muß das Zelt aufbauen. CHLOTHILDE Alfons, komm! ALFONS dreht sich um Was ist los? CHLOTHILDE Sieh nur... ALFONS bleibt vor dem Hügel stehen Was ist das? CHLOTHILDE

W i e , w a s ist d a s ?

ALFONS Sieht aus wie... eine Hand! CHLOTHILDE Sie ist von dort unten aufgetaucht. ALFONS Sie bewegt sich nicht. CHLOTHILDE fast für sich Eine Hand... Schweigen. Sie tauschen Blicke, beschließen, sich von dem Ort zu entfernen. Sie nehmen die Klappstühle und setzen sich an den Bühnenrand mit dem Gesicht zum Publikum. Sie holt ihr Strickzeug aus dem Korb. Ich habe schon immer gesagt, der Sommer ist eine zu vergängliche Jahreszeit. ALFONS

Was?

CHLOTHILDE

Eins links, eins rechts...

Alfons und

Chlothilde

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ALFONS langsam Es war eine Hand. CHLOTHILDE Eins links... Ich stricke dir einen Pulli, falls es kühler wird. A L F O N S Ich brauche einen Whiskey. CHLOTHILDE Nimm den Kaffeebecher. A L F O N S Ich mag meine Zunge nicht in Pappe stecken. CHLOTHILDE ES war eine Flasche da, aber... ALFONS

War.

CHLOTHILDE ... sie ist im Auto geblieben. ALFONS Adios, Whiskey. CHLOTHILDE ES ist noch eine unangebrochene Tube Zahnpasta da. ALFONS Ich hab jetzt keinen Hunger. Ich will einen Schnaps. CHLOTHILDE seufzt Du hast mich ans Fernsehen erinnert. Daran erinnert und jetzt vermisse ich es. Ich will einen Schnaps, sagte Captain Joe in „Der letzte Held" und schlug mit der Faust auf den klapprigen Holztresen. ALFONS Ich m u ß w a s t r i n k e n .

CHLOTHILDE War es nicht herrlich, sich in die gefederten Blümchensessel mit den dicken Kissen zu setzen und zuzuschauen, wie mein blonder Captain Joe ein Leichenfeld hinterließ. ALFONS Das hast du nicht gesagt, als ich den Femseher gekauft habe. CHLOTHILDE Was habe ich denn gesagt? ALFONS DU hast gesagt: Dieser Apparat ist eine neue Form, mich an eine Gewohnheit zu fesseln, zur Sklavin zu machen, zu... CHLOTHILDE protestiert Das habe ich nicht gesagt! ALFONS DU hast tausend Mal so was gesagt, bis Captain Joe auftauchte. CHLOTHILDE Ich? Pah... ich denk nicht dran, darüber jetzt zu streiten. Dich hat immer gestört, daß ich Captain Joe bewundere. ALFONS Mich hat dein Geschrei gestört, jedes Mal wenn er einen Faustschlag austeilte oder eine Blondine flachlegte. CHLOTHILDE Ich hab nie bei Captain Joe geschrien. Ich hab an den Nägeln gekaut, aber nicht geschrien. A L F O N S D U hast mit den Händen gerungen. CHLOTHILDE Aber nicht geschrien. A L F O N S D U schriest immer wie eine Verrückte. Du schriest und hofftest, er würde aus der Kiste springen und dich auf den Teppich legen. CHLOTHILDE So denkst du von deiner Frau? Daß irgendein Captain Joe sie auf den Teppich legen kann? ALFONS Nicht, wenn sie nicht will, aber ich zweifle stark daran, daß sie sich dagegen wehren würde.

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Carlos Manuel

Varela

CHLOTHILDE Das ist eine Beleidigung! Eins links... eins rechts, ich hätte Lust, dir keinen Pulli zu stricken. ALFONS schreit Glaubst du wirklich, daß ich einen brauche? Oder besser gesagt, daß ich Gelegenheit haben werde, ihn zu tragen? Sie wirft das Strickzeug fort, steht wutentbrannt auf. CHLOTHILDE Dann soll doch Captain Joe kommen... krabbelt auf allen Vieren ...und die Stute besteigen! ALFONS mit einem Lachanfall Ich glaube nicht, daß er kommt. Weder er noch sonst jemand. Selbst wenn er nur ein paar Meter entfernt wäre, würde er nicht kommen. Du weißt doch, wie diese Cowboys drauf sind; am Ende verlieren sie sich am Horizont Seite an Seite mit ihrem Herzensfreund. Chlothilde hat krabbelnd den Hügel erreicht. Ein bläuliches Licht fällt auf die Hand, die aus dem Sand hervorschaut. Sie beginnt zu schluchzen. CHLOTHILDE Sie hat keine Falten. Ist jung. Unten dran ist bestimmt ein jugendlicher Körper. ALFONS ganz leise Zum Teufel. Die tauchen auf, wenn du am wenigsten damit rechnest. CHLOTHILDE zwischen den Tränen deutet sich ein Grinsen an Wir haben keinen Kalender. Wir sind stark. Wir haben keinen Kalender. ALFONS

W a s sagst du?

CHLOTHILDE Komm her. Gemeinsam können wir was tun. Komm her. ALFONS etwas zittrig Warum müssen sie uns unbedingt belästigen? CHLOTHILDE Komm her. schreit Komm. Alfons gehorcht wie ein Automat. Er stellt sich hinter sie, die Hände auf den Boden und gemeinsam beginnen sie mit den rituellen Beilegungen des Geschlechtsaktes. CHLOTHILDE Heute ist Samstag, irgendein Tag voller Licht und Farbe. Heute ist Samstag. So viel Sonnenschein, der kommt und geht, so viele grüne Blätter und Vogelgezwitscher. Und abends Kino. Und danach die weißen, gestärkten Laken, die knistern, mein Captain Joe. Wir müssen gemeinsam kämpfen, Schläge austeilen, uns verweigern, uns so bewegen, in unserem Schweiß baden. Damit sie wissen, daß wir keine Angst haben, erschöpft Daß wir keine... Angst haben. Beide liegen ausgestreckt auf dem Boden. ]emand versucht, auf den Hügel zu klettern, einen Moment lang sind Hände zu sehen, die sich an etwas festzuklammern versuchen, und ein lehmverschmiertes Gesicht. Das Bild ist ganz flüchtig, denn der Körper fällt auf der anderen Seite herunter.

Alfons

und

Chlothilde

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Chlothilde steht auf. Streckt eine Hand aus, während sie gleichzeitig einen Ausruf unterdrückt. A L F O N S der nicht hinschauen will Wir müssen das Zelt aufbauen. Es wird Regen geben. CHLOTHILDE E S ist noch.... ich glaube, es ist noch was... dort. A L F O N S Warum, verflucht, sind dem Auto keine Flügel gewachsen? Ich hab mal gelesen, als ich klein war... CHLOTHILDE Es ist ekelhaft, bleiben zu müssen. Warum hat es gerade uns getroffen? Andere sind geflogen. Konnten fliegen. Sie sind weit weg gelangt, mit ihren Kindern. Sie sehen sich an. Pause. Ist es vielleicht deshalb? Mit ihren Kindern, verstehst du? A L F O N S Nein. CHLOTHILDE Mit weniger Geld als wir sind sie weiter gekommen. Sie haben sich aneinander gedrängt und waren eins. Und die Augen des einen waren die Augen aller. Und die Wolken zogen über ihnen und boten ihnen Schutz. Und dann hagelte es keine Kugeln, es geschah nichts, und ein sanfter Wind trug sie sogar zärtlich zum geeigneten Ort. A L F O N S Ich versteh kein Wort. CHLOTHILDE Sie kamen an und waren glücklich. Sie sagten: Wir fangen neu an. Und einige wählten den Ort, an dem sie sterben wollten, freiwillig, ohne Hast, mit einem Lächeln, am Rande der Hysterie Sie starben mit heilen Händen, mit allen Fingern, mit beiden Hoden und einem dankbaren Körper. Manch einer setzte sich zu einem Bier und, bevor er das Krachen in der Brust verspürte, stieg in ihm bei dem Gedanken, daß er gewonnen hatte, ein Lachen hoch. A L F O N S Und die übrigen? zeigt Die da? Wer, verdammt, beschützt die? CHLOTHILDE Niemand. ALFONS Warum? CHLOTHILDE Sie sind da geblieben. Sie wollten bleiben. A L F O N S Und sind gearscht. CHLOTHILDE mit bitterem Spott Sie sind da geblieben und haben Captain Joe gespielt. A L F O N S Um so zu enden? CHLOTHILDE grinsend Sie glaubten zu gewinnen. A L F O N S Wie gelangen sie hierher? CHLOTHILDE Das Wasser treibt sie her... oder vielleicht... A L F O N S W O zum Teufel ist denn das Wasser, die Wellen, das Meer? CHLOTHILDE Irgendwas bringt sie her.

60

Carlos Manuel

Varela

ALFONS Wer stellt sie hierhin, vor uns? CHLOTHILDE Weil sie geblieben sind, wurden sie blau und verloren die Finger. Weil sie geblieben sind, w o sie nicht hätten bleiben dürfen, dem Ungehorsam ausgeliefert. ALFONS Es wäre einfacher gewesen, sich unter die Wolke zu stellen und loszulaufen. CHLOTHILDE Für uns war das nicht einfaci. ALFONS Deinetwegen. Daß wir unsere W j l k e verpaßt haben, ist deine Schuld. CHLOTHILDE protestiert Natürlich, ich muß hinter allem stecken. Das ist eine schlechte Angewohnheit von dir, mein Lieber. ALFONS W a s habe ich dich gefragt, bevor vir das Haus verließen? Erinnere dich: W a s habe ich gesagt, während wir das G e p ä c k noch einmal durchgingen? CHLOTHILDE Wir haben zu viel dabei, hast du gesagt. ALFONS U n d w a s n o c h ?

CHLOTHILDE erinnert sich Du hast die Reifen geprüft... ALFONS Und was habe ich gesagt? CHLOTHILDE Daß sie Luft verlieren. ALFONS Nein. W a s habe ich gesagt, bevor ich die Reifen geprüft habe? CHLOTHILDE

W a s w e i ß ich.

ALFONS kann seine Wut nicht mehr zurückhalten Ich habe gesagt: Hast du genügend Benzin getankt? Und du hast geantwortet: ja. U n d was passierte dann? CHLOTHILDE neutral Wir sind stehen geblieben. ALFONS O h n e einen Tropfen Benzin. Ein Auto ist kein Feuerzeug, meine Liebe. CHLOTHILDE Der Tank war wohl undicht. ALFONS DU weißt genau, daß der Tank in perfektem Zustand war. CHLOTHILDE ist es leid Okey, ich habe mich geirrt. Einmal verkalkuliere ich mich, und gleich stellst du dich so an! ALFONS wütend Zu Recht. Sieh doch nur, wie wir dastehen. CHLOTHILDE wütend Die Wolken warteten eben auf andere. ALFONS brüllt Fang nicht wieder damit an! Sag das nicht noch mal! CHLOTHILDE

ES ist d i e W a h r h e i t .

ALFONS hebt einen Finger und zeigt nach oben W a s sollen die gegen uns haben? CHLOTHILDE Keine A h n u n g , aber sie können uns nicht zwingen, hier zu bleiben. ALFONS Sie können uns nicht wie die behandeln.

Alfons und

Chlothilde

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Ein Wechsel der Umgebung ist nötig. Wir mußten die Koffer packen, eine Luftveränderung suchen. CHLOTHILDE Was für eine Freude. All das zurückzulassen, den Kopf drehen und Auf Wiedersehen sagen können. Nie ist jemand so fröhlich fortgegangen. A L F O N S mit einem Lächeln Auf Wiedersehen. CHLOTHILDE beschwört die Szene Los, dreh den Schlüssel um. Stell den Motor an. Beeile dich. Sie sind Seite an Seite, als würden sie Autofahren. A L F O N S schaut nach oben Der Mond scheint. Sieht aus wie ein Käse. CHLOTHILDE seufzt Der Mond scheint! Aber es ist nicht der Moment, um romantisch zu werden. A L F O N S mit einer Geste Wir müssen den Schlüssel umdrehen. CHLOTHILDE Los nun! Und gleich können wir die Uhren zum Teufel schicken. A L F O N S Und dann auf dem Rücken den Mond betrachten und versuchen ihn anzuknabbern. A L F O N S und CHLOTHILDE winkend Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, schlechte Zeiten. CHLOTHILDE Ich sehe so gern die Bäume, die Büsche, die Masten vorüberziehen. Welch tiefgrünes Grün! A L F O N S weist mit den Händen in die imaginäre Richtung Volle Fahrt voraus zu neuen Orten. CHLOTHILDE Veränderung, Neuanfang, in Sicherheit. A L F O N S Wir haben genügend Geld, damit der Wechsel nicht weh tut. CHLOTHILDE Geld hilft bei Veränderungen, beide trällern im Duett, plötzlich in verändertem Tonfall Was war das? A L F O N S Ein kleiner Vogel... ist gegen die Windschutzscheibe geflogen. CHLOTHILDE zittrig Gib mir einen Lappen. Wir müssen das Blut wegwischen. A L F O N S E S wird nicht der einzige bleiben. Du wirst doch nicht auf der ganzen Strecke die Scheiben wischen wollen. CHLOTHILDE Wohin er wohl flog? A L F O N S Das sind Selbstmördervögel. CHLOTHILDE Ich kann mir dieses klebrige Zeug, das über die Scheibe läuft, nicht ansehen. A L F O N S Schau zur Seite hinaus. Dort stehen jetzt Schäfchen. CHLOTHILDE verängstigt Alfons, was werden wir tun? A L F O N S Sprich lauter. CHLOTHILDE ALFONS

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Carlos Manuel

Várela

CHLOTHILDE Was werden wir tun, wenn wir ankommen? ... Falls wir ankommen. ALFONS lächelt Natürlich ein Haus aussuchen. CHLOTHILDE schnell Klar, ein Haus. Mit Ziegeldach, Backsteinfront. So ein ähnliches, wie wir hatten. ALFONS

Mit der gleichen Aufteilung.

ALFONS

E r w ä h n e bloß den nicht.

CHLOTHILDE Ein Zimmer zur Straße, geräumig und sonnig für uns und die Möbel... Ich glaube, ich werde die gleichen Möbel wie vorher aussuchen. Auf den englischen Stil werde ich nie verzichten können. ALFONS Ich dachte, es wäre die Gelegenheit, einen Inneneinrichter zu beauftragen und uns ein wenig zu erneuern. CHLOTHILDE etwas überstürzt, was ihre Besorgnis verrät Inneneinrichter gestalten ein kaltes, unpersönliches Ambiente. Ich möchte, daß alles wie vorher ist. ALFONS Nun ja, ohne Neuerungen ist es sicherer. Manchmal... CHLOTHILDE Werden wir „La maternité" kaufen und überm Kopfende aufhängen? Ein neues Leben ohne meinen verehrten Picasso wäre furchtbar... CHLOTHILDE

W a r u m nicht?

ALFONS Deinetwegen baue ich noch einen Unfall. CHLOTHILDE Ich will nicht, daß du ihn haßt, Alfons. Bitte, mag ihn doch ein bißchen. ALFONS

I c h m a g i h n , w e i l e r t o t ist.

CHLOTHILDE

Grobian.

ALFONS Tot hat er uns immerhin zum Paß verholfen. sarkastisch Wir müssen ihm ewig dankbar sein. CHLOTHILDE ES reicht! Es reicht, Alfons. Ich will nicht mehr mitspielen. ALFONS Mach schon, es ist notwendig. Mach weiter. CHLOTHILDE Ich will nicht. Laß uns das Zelt aufbauen, bückt sich und rollt es auseinander Nimm du die andere Spitze, läuft ein paar Schritte, zieht es auseinander. Sie schaut furchtsam zum Hügel, läßt das Zelt auf den Boden fallen. Dann tauscht sie einen langen Blick mit Alfons. Langsam, wie zu sich selbst Einen Ort verlassen, um woanders hinzugehen... Sich verbessern, das ist nicht Flucht... ALFONS wie ein Echo Sich verbessern... CHLOTHILDE Ich war dieses Leben leid. ALFONS Ich auch, läßt das Zelt los, mit neuem Schwung, strahlend Weißt du, was mich am meisten genervt hat? Die Vorstandssitzungen. Die waren eine Art Erniedrigung. Warum haben sie mich verpflichtet, dar-

Alfons

und

Chlothilde

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an teilzunehmen und gaben mir kein Stimmrecht? Ich war schließlich der Geschäftsführer. CHLOTHILDE Und mich hat genervt, die Gattin des Geschäftsführers zu sein, ständig monumentale Abendessen für deinen Vorstand kochen z u müssen. ALFONS Du hast sie nie allein gemacht. Juanita hat dir immer geholfen. CHLOTHILDE Sie half mir. Doch wer erschuf die exotischsten Gerichte, wer verschwendete Abend um Abend seine Phantasie beim Erfinden neuer Geschmäcker? Ich. Und ertrug noch obendrein deren Matronen: „Meine Liebe, das Kanton-Service sieht neben dem Limoges wirklich furchtbar aus." Ich hab die Nase voll. Bis hier stehen mir ihre falschen Wimpern, ihre Perücken, ihre Fingernägel mit weißem, gelbem oder blauem Halbmond. Die Nase gestrichen voll. Paco erscheint schwankend, vollkommen nackt. Beide drehen sich schnell um. Paco weicht instinktiv zurück. Ihre anfangliche Verblüffung wird zu Mißtrauen. Paco weicht noch einige Schritte zurück. Sie rufen ihn zunächst mit Gesten, dann mit Worten. ALFONS He, verstecken Sie sich nicht! CHLOTHILDE Gehen Sie nicht fort. Sie gehen zu ihm. Nehmen ihn beide am Arm und schleifen ihn zur Bühnenmitte. Dann wandern ihre Augen über seinen nackten Körper, sie sind gehemmt. Verschämt holt Chlothilde die karierte Tischdecke. Sie gibt Alfons ein Zeichen und breitet die Decke wie einen Vorhang über Pacos Unterleib. ALFONS ohne ihn anzuschauen Sie müssen uns entschuldigen. Wir wollten noch nie an den FKK-Strand. CHLOTHILDE Ist hier einer in der Nähe? ALFONS Sie tut immer so liberal, aber in Wirklichkeit... CHLOTHILDE Hören Sie nicht auf ihn. Sie müssen wissen, mein Herr, ich habe nichts gegen Nudisten, aber zuweilen bereitet es mir ein gewisses Unbehagen, mit Männern in Ihrem Zustand zu sprechen. ALFONS Ich möchte mich vorstellen, hebt den Kopf, schaut ihn an Ich bin... ruft überrascht Paco! ... Aber das ist ja Paco! läßt den Zipfel der Decke los. Chlothilde befestigt schnell beide Zipfel an der Hüfte des Mannes. CHLOTHILDE Ihr kennt euch! Seht nur, wie klein die Welt ist. ALFONS Sicher. Ich habe ihn nur nicht gleich erkannt, weil ... nun ja, am wenigsten hab ich auf sein Gesicht geachtet. Der Mann verharrt regungslos. Alfons schüttelt ihm überschwenglich die Hand.

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Carlos Manuel

Varela

Wie geht's? Wie läuft's? Und die anderen? W a r u m sind sie nicht mitgekommen? Pause, belustigt Sagen Sie bloß nicht, die haben alles stehen und liegen lassen, die Maschinen, alles, lachend Sagen Sie nicht, daß sie die Fabrik lahmgelegt haben und der Boss kurz vorm Infarkt ist! Schweigen, das nur von Alfons' Lachanfdllen unterbrochen wird. Chlothilde betrachtet befremdet den Mann. CHLOTHILDE Warum antwortet er nicht? ALFONS Er zittert vor Kälte. Geh und hol ihm was zum Zudecken. Chlothilde holt die Wolldecke aus dem Rucksack. Ja, ja. Die Zufälle des Lebens. Uns ausgerechnet hier zu treffen. Was hat das große Arschloch am ersten Tag gesagt, als er meine Abwesenheit bemerkte. Forderte er meine Rückkehr in der Tageszeitung, vergoß er seine Krokodilstränen vor den Mitarbeitern? Und Sie? Sie haben es bestimmt aufrichtig bedauert. Sie wußten immer, daß Sie in mir einen Verbündeten hatten. Klar, nicht immer konnte ich Ihre Forderungen beim Vorstand durchsetzen, doch moralisch war ich stets auf Ihrer Seite. CHLOTHILDE Die wird Sie warm halten, es ist eine Thermodecke. will sie ihm über die Schulter werfen, weicht entsetzt zurück. ALFONS

W a s ist l o s ?

CHLOTHILDE ALFONS

Sein Rücken

W a s ist d a m i t ?

CHLOTHILDE

Er ist voller... S t r i e m e n .

ALFONS dreht sich um und begutachtet Pacos Rücken. Versucht mit gezwungenem Lachen einen Scherz zu machen. Hier wollte jemand Grillfleisch machen! Er gibt Chlothilde ein Zeichen, schnell den Rücken zu bedecken. Jetzt fühlen sich die beiden wohler, was ihren Gesichtern anzusehen ist. Paco streichelt mit zittriger Hand die Decke. ALFONS gibt ihm einen Klaps Was war los? Wir vertrauen uns doch, oder? Reden Sie ohne Furcht, guter Freund. Pause Ein Streit mit Kollegen? Politische Meinungsverschiedenheiten? CHLOTHILDE

H a t er so aggressive

Kollegen?

ALFONS Sie sind sehr müde, nicht? Wir würden Ihnen gern eine Tasse Kaffee anbieten. Aber wir haben keinen. Er ist gerade ausgegangen. etwas beunruhigt Ich weiß nicht, wie lange die Vorräte reichen. CHLOTHILDE Könnten Sie Pfeil und Bogen bauen? Arbeiter sind doch so geschickt! ALFONS Bring einen Stuhl her, Chlothilde. Ich glaube, er muß sich sofort hinsetzen.

Alfons

und

Chlothilde

65

Chlothilde schleppt einen Klappstuhl herbei. Alfons holt eine Feldflasche aus seiner Jacke, hält sie Paco an die Lippen. Er ist sehr müde, erschöpft. Er muß kilometerweit gelaufen sein. CHLOTHILDE E S scheint, als würde er gleich das Bewußtsein verlieren. A L F O N S ohrfeigt ihn Paco! Paco! Sie waren doch immer ein so starker Mensch. Nur Mut! CHLOTHILDE Diese Zurückhaltung! Ich wußte ja, daß solche Leute nicht sonderlich gesprächig sind, aber das geht doch zu weit! A L F O N S Geht es Ihnen nicht gut? Paco! CHLOTHILDE Wir verausgaben uns hier und der da sagt keinen Ton! A L F O N S Was soll er sagen? Er kann sich nicht mal auf den Beinen halten. CHLOTHILDE Ein Danke wäre nicht zu viel verlangt. A L F O N S Was können wir ihm geben? Wir müssen ihn wiederbeleben. CHLOTHILDE Einen Cognac... wenn wir daheim wären natürlich. A L F O N S Er sieht aus, als habe er seit Tagen nichts gegessen. CHLOTHILDE Dann hat er sich also im Ort geirrt. A L F O N S Wir müssen ihm etwas geben. Wir können ihn nicht einfach so sitzen lassen. CHLOTHILDE Wir müssen! Das ist leicht gesagt, wenn man nicht in den Korb geschaut hat. A L F O N S Ist nichts mehr übrig? CHLOTHILDE Nichts! A L F O N S Bist du sicher? CHLOTHILDE Lieber wäre ich es nicht. A L F O N S Und unsere Zahnpasta? CHLOTHILDE protestiert Wir werden doch nicht unsere Colgate an einen Fremden verschwenden. A L F O N S Doch kein Fremder. Das ist Paco! CHLOTHILDE Wer auch immer. Und unser Abendbrot? Es ist kaum noch Paste da. A L F O N S Es geht um Leben oder Tod, Chlothilde. Ein kleines Ende wie für eine Zahnbürste kann ausreichen, um ein Leben vor dem Tod zu retten. CHLOTHILDE unwillig, während sie in dem Korb kramt Ich finde, er sieht nicht so schlecht aus, aber ich will mich auch nicht schuldig fühlen. reicht ihm die Zahnpasta. A L F O N S Gib mir einen Löffel. CHLOTHILDE Hab ich nicht. Steck ihm die Tube in den Mund. A L F O N S Er atmet kaum. Er nähert sich dem Mann und steckt ihm die Tube in den Mund.

66

Carlos Manuel

Vareta

CHLOTHILDE ungeduldig Worauf wartest du? Drück drauf. ALFONS starr Er stirbt. CHLOTHILDE Mach schon. Da Alfons sich nicht rührt, entreißt sie ihm die Tube, beugt sich über den Mann Was für ein Gesicht! ALFONS Beeile dich. Er stirbt. CHLOTHILDE zitternd Ich kann nicht... ALFONS SO, jetzt kommt Paste raus. Noch ein bißchen. So... so ist es gut. Chlothilde vollendet ihre Arbeit. Sie entfernt sich von Paco, in einer Hand die Tube, während sie sich mit der anderen den Schweiß abwischt. CHLOTHILDE stammelt Sein Gesicht... ALFONS Er hat Schaum vor dem Mund. CHLOTHILDE Sein Gesicht... seine Augen. Ist das Paco? Bist du sicher, daß es Paco ist? ALFONS Vollkommen sicher. Er hat Augen wie Paco... und ganz dichte Wimpern... und das Haar ist wie Pacos. CHLOTHILDE zitternd Dennoch hat er nichts gesagt, als er dich gesehen hat. Keine freundschaftliche Geste, nichts. ALFONS Was zum Teufel ist denn los mit dir? CHLOTHILDE Er erinnert mich an jemanden. ALFONS Ich weiß, an den Schulfreund, der dich mit aufs Männerklo genommen hat. Als du mich kennengelernt hast, war ich genauso. CHLOTHILDE

Alfons!

ALFONS Er hört nichts, keine Angst. CHLOTHILDE DU verstehst gar nichts. Du verstehst nichts, knabbert nervös an ihren Fingernägeln Eines Tages, als ich aus dem Haus ging... eines Tages... ALFONS Eines Tages, was? CHLOTHILDE Irgendein Tag, ich weiß nicht mehr, wann. Du hattest mich allein gelassen, wie immer. Eine deiner berühmten Vorstandssitzungen... ALFONS Ich hab nie eine erfunden. CHLOTHILDE An einem Tag, an dem ich mich auf jeden Fall noch einsamer fühlte... ALFONS mißtrauisch Wovon redest du? CHLOTHILDE Es begann damit, daß mir die Hände zitterten... Und plötzlich mußte ich das Nähzeug weglegen. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich jeden Moment sterben. Deshalb mußte ich auf die Straße gehen. Ich lebte. Der Tod hatte mich gestreift, aber ich lebte. Mein Gang war nicht mehr wie vorher. Ich lief schnell und hielt vor keinem Schaufenster.

Alfons

und

Chlothilde

67

Sag bloß nicht, die Geschichte endet ohne Einkäufe. schreit fast Ich brauchte nichts einzukaufen. Ich lebte und mußte das ausprobieren. A L F O N S mit weit aufgerissenen Augen Wie? CHLOTHILDE An einer Ecke hielt ich an, bereit den Nächstbesten anzusprechen, bereit irgend jemanden darum zu bitten, mich einen Moment anzuschauen und mir zu sagen: „Señora, Sie haben hübsche Augen, Sie sind noch jung." A L F O N S D U hast dich an eine Ecke gestellt wie eine...? CHLOTHILDE Nein. Ich habe es schnell bereut und beschloß, dich von der Fabrik abzuholen, um mit dir etwas trinken zu gehen. Aber auf halbem Weg begegnete ich ihm. Er warf mir einen dieser unverschämten Blicke zu, die einen ausziehen. Als wollte er mir sagen: „Señora, geben Sie sich keine Mühe zu sterben." schluchzt Ich habe mich nicht getraut, ihn anzusprechen. Ich stieg in den nächsten Bus und diesmal störte mich nicht das Geschrei, das Gedränge und Schubsen. Irgendjemand berührte leicht meine Hand, als ich ausstieg. Und dann nichts. Keine weiteren Kontakte, kein Lärm, kein Blick in meine Augen. A L F O N S atmet durch Und das ist alles? CHLOTHILDE Ich ging nach Hause, nahm das Nähzeug, machte den Fernseher an. A L F O N S Und der Mann? CHLOTHILDE zeigt Ich glaube, er war's, macht einige Schritte Zumindest seine Augen... A L F O N S Hast du ihn nicht wiedergesehen? CHLOTHILDE Nein. A L F O N S mißtrauisch Du begegnest j e m a n d e m ein einziges Mal und kannst dich an sein Gesicht, seine Augen erinnern? CHLOTHILDE langsam Ich habe nicht mit ihm geschlafen, aber ich hätte es gern getan. A L F O N S erstaunt Was sagst du da? CHLOTHILDE Ich habe nicht mit ihm geschlafen, aber habe oft davon geträumt. A L F O N S Ich kann mir vorstellen, was für Träume. Er war Captain Joe. CHLOTHILDE SO ungefähr. A L F O N S Deine Offenheit ist verletzend, Chlothilde. CHLOTHILDE sieht Paco an Ich muß jetzt wenigstens ehrlich sein. A L F O N S plötzlich ängstlich Warum, Chlothilde? W a r u m draußen etwas suchen, was du daheim hattest? ALFONS

CHLOTHILDE

68

Carlos Manuel

Varela

CHLOTHILDE mit einem Grinsen Du stellst Fragen! ALFONS schreit W a r u m ? CHLOTHILDE macht sich los Ich könnte jetzt sehr gemein werden, Alfons. ALFONS schüttelt sie erneut W a r u m ? CHLOTHILDE brüllend Weil mir die verschwitzte halbe Stunde samstags nicht genügte, das mechanische Auf und Ab, die immer gleiche halbe Stunde, mit d e m i m m e r gleichen Stöhnen, den i m m e r gleichen erstickten Schreien an j e d e m Samstag. ALFONS U n d w a s wolltest du Edelhure? Neuheiten? Spielchen? Grausamkeiten? CHLOTHILDE sarkastisch Du hast so wenig Phantasie! ALFONS Wolltest du täglich? Reichten dir die Samstage nicht? Wolltest du, daß ich von der Fabrik angetrabt k o m m e u n d ins Bett springe? Ich w a r krank, Chlothilde. Versteh das. In den letzten Monat war mein Nervensystem... CHLOTHILDE spöttisch Wir haben's doch immer samstags gemacht. ALFONS brüllt Ein erschöpfter M a n n kann niemals ein Captain Joe sein. Ein M a n n mit den Nerven am Boden kann gerade noch vorschlagen, Karten zu spielen. CHLOTHILDE spöttisch Du hast samstags kaum was vorgeschlagen. ALFONS Ich schlief nicht. Konnte nicht schlafen. CHLOTHILDE spöttisch Was hat dich denn so beunruhigt? Die fortschreitende Schlaffheit, der sterbende Schwan? ALFONS Ich zählte Schäfchen! CHLOTHILDE Und ich, ich hätte Hammel zählen sollen. ALFONS Hunderte s c h n e e w e i ß e r Schäfchen mit den gleichen A u g e n , d e m gleichen idiotischen Ausdruck, wenn sie über den Stacheldraht hüpften. A m Anfang w a r es einfach, bis eines T a g e s der L ö w e auftauchte. Grrrr... er machte einen Prankenhieb und riß den Schäfchen mit einem Biß den Kopf ab. Es war furchtbar. Sie machten ein paar pathetische Hüpfer, bevor sie leblos auf die Wiese fielen. Seit diesem Tag habe ich nicht m e h r geschlafen. Nicht einmal zwei Stunden. CHLOTHILDE ungläubig Du schläfst gar nicht? Gleich drückst du kein Auge zu? ALFONS

Nein.

CHLOTHILDE Das ist gelogen. Ich bin nachts oft w a c h geworden und habe dich schlafen gesehen. ALFONS Ich tue nur so. Ich wahre die Form. CHLOTHILDE

U n d die A t m u n g ?

Alfons und Chlothilde

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Ich atme, als würde ich schlafen. Es beschämt mich, wenn jemand merkt, daß ich nicht schlafe. CHLOTHILDE Und das Schnarchen? A L F O N S genervt Nun... auch wenn's echt scheint, ist es das nicht. CHLOTHILDE mit einem Grinsen Fingierte Schnarcher! A L F O N S Ein von Müdigkeit zerstörter Mensch... das bin ich. Aufgezehrt von der Fabrik, vom Big Boss, von Menschen wie Paco. CHLOTHILDE W a r u m so was vortäuschen? W a s bedeutet ein Schnarcher. Was bedeutet schon, daß ich glaube, du schliefest, und du tust es nicht? A L F O N S Ein schlafloser Mensch verdient Mitleid. Und ich will von niemandem bemitleidet werden. CHLOTHILDE Mir tun die Schäfchen leid, die über den Zaun springen müssen, sooft es dir paßt, nicht du. A L F O N S So finde ich's gut. CHLOTHILDE Du wirst mir nie Mitleid einflößen, Alfons. Ganz im Gegenteil, wenn ich an dich denke, kann ich mir selbst leid tun. A L F O N S nach einer Pause, bitter Ich habe das auch vorgetäuscht, weil ich dachte, daß du dir sonst Sorgen machen würdest, daß es dir nicht egal wäre, daß ich... Vor einigen Monaten war mir das Bild noch wichtig, was ich von mir gab. stottert Ich wollte... wollte dich nicht enttäuschen. CHLOTHILDE D U wolltest der Wolf sein und bist nur ein Schäfchen. A L F O N S Mach jetzt keine Witze. Ich fühle mich schlecht. CHLOTHILDE macht einige Schritte Schlechter noch als der arme Paco? A L F O N S Das Magengeschwür. CHLOTHILDE Etwas Paste? A L F O N S Jetzt nicht. CHLOTHILDE Paco will noch welche. Er bewegt die Lippen. Er will was sagen. Der sieht mich vielleicht an! A L F O N S hält sich die Ohren zu Ich will keine Schweinereien hören. Ich will nichts hören. CHLOTHILDE kniet neben Paco Sieh mich bitte nicht so an. A L F O N S Blind und taub. CHLOTHILDE Paco oder wie du auch heißen magst: ich bin Chlothilde und du gefällst mir sehr. Genug Schaum. Sprich. Ich bin hier, damit du mir sagst, daß noch Zeit ist, damit du mir deine Hand reichst und sagst... verstummt plötzlich, reißt die Augen weit auf, stößt einen Schrei aus. A L F O N S geht zu ihnen, beugt sich über Paco Was ist los? ALFONS

70

CHLOTHILDE

Cirios Manuel Varela

Er hat keine Zunge.

ALFONS W a s sagst du da?

CHLOTHILDE Nur einen... einen schwarzen Stummel, der sich absurd hin und her bewegt. ALFONS unterdrücktes Grinsen Der wird dir keine Komplimente mehr machen! CHLOTHILDE Er kann nicht sprechen. ALFONS Bei den Versammlungen hat er sich dafür ganz schön revanchiert. CHLOTHILDE Warum hat man ihm das angetan? ALFONS Er war sehr aufrührerisch. CHLOTHILDE Er kann sie sich auch aus Versehen abgebissen haben. ALFONS Sicher. Du weißt doch, wie diese Leute sind. Eine Flöte als Sandwich und am Ende bemerken sie, daß die Zähne nicht nur in Brot und Wurst gebissen haben. CHLOTHILDE Oh je, er verdreht die Augen. ALFONS platzt heraus Verflucht sei er! Er ist schuld. Alles beginnt und endet mit ihm. CHLOTHILDE

Schuld?

ALFONS Schuld an meiner Schlaflosigkeit, an allem. Eine Kette: er hat nicht nur seine Leute in Aufruhr gebracht, sondern auch den Vorstand. Und wer stand beschissen da? Ich! Ich, der ich den Kopf hinhalten mußte, der bei Konflikten vermittelte, der Lohnerhöhungen ablehnte, Drohungen weiterleitete, betrachtet ihn Mistkerl. CHLOTHILDE Schuldig. Du hattest einen Schuldigen in der Hand, und was hast du gemacht? ALFONS zuckt mit den Schultern Weiß ich nicht. Was sollte ich schon machen? Ihn mit einem ordentlichen Fausthieb auf den Teppich legen? CHLOTHILDE Warum nicht? ALFONS DU hast Recht. Obgleich er nicht wie jetzt unterlegen war. CHLOTHILDE Gerade deshalb. Manchmal kann uns ein Fehler.... ALFONS unterbricht sie Du redest von Fehler? Ausgerechnet du? CHLOTHILDE Ich war es leid, dich zu bitten, Karate zu lernen. Das war doch das Mindeste, was ein Mann hätte können sollen, der wie du immer zwischen allen Fronten stand. ALFONS mit bitterem Spott Meinst du, das hätte was genutzt? Nein, Chlothilde. Ich hätte ihn platt machen... wie ein Fliege zertreten können und trotzdem... CHLOTHILDE Trotzdem was?

Alfons

und

Chlothilde

71

Gefühle. Man ist doch ein Mensch mit Gefühlen... und zuweilen ist da was in der Ferne, in der Tiefe, in der Kindheit, meine ich... CHLOTHILDE ironisch Du hast dich an die Schule, an deinen verschlissenen Kittel und den ganzen Mist erinnert. A L F O N S fast zu sich Ich habe mich an andere Dinge erinnert... Worte, Gedanken, Sachen, die Papa mal gesagt hat.... CHLOTHILDE ohne ihn zu beachten, aufgeregt Hast du gehört? A L F O N S Was? läßt sie los, rückt von ihr weg, schaut nach allen Seiten. CHLOTHILDE Hast du gehört? A L F O N S Was? CHLOTHILDE Etwas... etwas hat in meinem Ohr gepfiffen. A L F O N S Der Wind. Es ist Wind aufgekommen. CHLOTHILDE E S war ein merkwürdiges Geräusch. A L F O N S Eine Möwe. Sie fliegen manchmal kreischend über uns hinweg. CHLOTHILDE Ein Schrei... Ich glaube, jemand hat geschrien. A L F O N S steht auf reckt sich Aha! Wer? Das war nicht Paco. Der Arme ist ein Luftblase ohne Stimme. CHLOTHILDE Ein winziger Schrei. Ein Stöhnen vielleicht. A L F O N S Es war nicht Paco. Der ist ganz ruhig. CHLOTHILDE steht auf, überzeugt Der letzte Schrei. Der ohne Kraft ausgestoßen wird. Beide gehen zu Paco, beugen sich über ihn. Er hat ganz starre Augen. A L F O N S Einen zusammengekniffenen Mund. CHLOTHILDE Ob er wohl beschlossen hat, von uns zu gehen? A L F O N S legt seinen Kopf auf Pacos Brust Ich höre nichts. CHLOTHILDE Er atmet nicht, ich bin sicher. Er ist von uns gegangen. A L F O N S Ich glaub auch. Seine Brust ist ganz still. CHLOTHILDE Er ist von uns gegangen. Sie bekreuzigt sich. A L F O N S Das verstehe ich nicht. Ausgerechnet jetzt zu sterben. CHLOTHILDE Der Ärmste. A L F O N S Kurz vor dem Ziel zu sterben. Denn er war unterwegs, nicht wahr? Wie wir. CHLOTHILDE schluchzend Schau ihn dir an. Er sieht aus, als lächlte er. A L F O N S Er hätte nicht anhalten dürfen. Wenn man anhält, werden die Gelenke... CHLOTHILDE Wie jung er ist. Wie jung. A L F O N S E S kann eine fortschreitende Lähmung gewesen sein. CHLOTHILDE Wir müssen was tun. Wir können ihn nicht liegen lassen. A L F O N S Was willst du machen? ALFONS

72

Carlos Manuel

Varela

CHLOTHILDE Gib mir die Schaufel. ALFONS W a s ?

CHLOTHILDE Z u m Glück haben wir außer unserem Sonnenschirm immer das Eimerchen und die Schaufel dabei. ALFONS Sie liegen im Auto, Chlothilde. CHLOTHILDE Oh Gott. Ich kann diese Augen nicht mehr sehen. ALFONS Nun gut. Wir werfen einige symbolische Schäufelchen auf ihn, du betest ein Vaterunser, und dann möge er als beerdigt gelten. CHLOTHILDE Ich kann nicht, Alfons. Ich habe einen Knoten im Hals. ALFONS nervös Mach schon, schnell. Packen wir unsere Sachen zusammen und gehen woanders hin. CHLOTHILDE Wohin? ALFONS I r g e n d w o h i n .

CHLOTHILDE Und ihn lassen wir hier liegen? ALFONS Was willst du. Ihn mit uns schleifen? CHLOTHILDE Die Möwen werden ihn fressen. ALFONS ES ist besser, ihn hier zu lassen, Chlothilde. Er läuft blau an. CHLOTHILDE Schon? ALFONS W i e d i e a n d e r e n .

CHLOTHILDE

starrt auf Paco Blau...

ALFONS Ja, t i e f b l a u . CHLOTHILDE Warum?

ALFONS Ich weiß nicht. CHLOTHILDE nostalgisch Papa und Mama wurden nicht blau. Ich habe sie gesehen und erinnere mich an sie: weiß, schneeweiß. ALFONS Wie mein Alter. CHLOTHILDE Das waren andere Zeiten. ALFONS Wozu war unser geordnetes und durchgeplantes Leben gut? Was hat es uns genutzt, daß wir unsere Steuern gezahlt haben, unsere Konten im Haben waren und wir Kunde bei drei Banken? CHLOTHILDE

Gar nichts.

ALFONS Das war deine Schuld! CHLOTHILDE Klar, ich bin immer schuld. ALFONS DU bist bei dem Abendessen ins Fettnäpfchen getreten. CHLOTHILDE Ich konnte nichts dafür, daß das Essen angebrannt ist, Juanita hat nicht aufgepasst. ALFONS Davon spreche ich nicht. Ich spreche von dem großen Dinner. Von dem Tag, an dem der Big Boss kam. CHLOTHILDE

W a s w a r an d e m T a g los?

ALFONS Erinnerst du dich nicht?

Alfons und

Chlothilde

73

Ich möchte nicht. Ich habe jetzt keine Lust dazu, Alfons. nervös Mach schon, denk nach. CHLOTHILDE Geh mir nicht auf die Nerven. Ich will nicht mitspielen. A L F O N S schreit fast Ich verlange, daß du dich erinnerst! CHLOTHILDE unwillig Alles klappte hervorragend. Die Mousse au chocolat war ein Erfolg! A L F O N S schreit Du sollst dich erinnern! Schweigen. Sie blicken sich an. Alfons bückt sich, nimmt die Thermoskanne. Wie bei einem Gong schlägt er mehrmals mit einem Glas dagegen. Danach begrüßen sich die beiden mit einem Kopfnicken. Sie setzen sich einander gegenüber auf die Klappstühle. A L F O N S Das Essen ist fertig. CHLOTHILDE Probieren Sie bitte meine Bouillabaisse. A L F O N S „Bouillabaisse?", sagte die Alte vom Boss mit zitterndem Dreifach-Kinn... CHLOTHILDE Der blonde Boxer, willst du sagen. A L F O N S räuspert sich, mit tiefer Stimme „Bouillabaisse", sagte der Big Boss. CHLOTHILDE Ja, das ist meine Spezialität. A L F O N S räuspert sich Ich weiß nicht, ob das meine Leber aushält, Verehrteste. CHLOTHILDE Na, so was. Das tut mir aber leid. Der zweite Gang ist Hühnchen ä la crapaudine. A L F O N S räuspert sich Geflügel, also... Sie werden mir verzeihen. Als ich klein war, hatte ich ein Küken, das in meinem Rockschoß fraß. CHLOTHILDE Auch ich war ganz verrückt nach Tieren. Ein Gläschen? Der Wein kommt aus dem Kloster in... A L F O N S räuspert sich Sie haben wunderschöne Gemälde. Die Malerei ist mein Hobby, Alfons. CHLOTHILDE Meines auch. A L F O N S mit tiefer Stimme Ist das ein Picasso? CHLOTHILDE Eine bescheidene Reproduktion. A L F O N S räuspert sich Natürlich. CHLOTHILDE E S ist aus der blauen Periode. Übergang Und ich nutzte die Situation zu Ausführungen über seine kunstgeschichtliche Entwicklung, während die Alte vom Boss mich erstaunt anblickte. A L F O N S Was hast du damals gesagt, du dumme Kuh? CHLOTHILDE Ich sagte, welch großes Talent! Welch große Ideen! A L F O N S mit Nachdruck Ideen, hast du gesagt. CHLOTHILDE ALFONS

74

Carlos Manuel

Varela

CHLOTHILDE Und dann wußte ich nicht weiter. Ich führte ein Taschentuch an die Augen und sagte: Warum mußte er sterben? ALFONS räuspert sich, erstaunt Sie bewundern auch seine Ideen? CHLOTHILDE Ja, sagte ich. Aber ich dachte nur an seine Bilder. ALFONS DU hast uns verdammt. CHLOTHILDE War ich nicht göttlich? ALFONS Sie stießen sich mit den Ellbogen an. CHLOTHILDE Ich war kultiviert wie nie, Alfons. ALFONS „Sehr liberal", murmelten sie mit gerunzelter Stirn. CHLOTHILDE Picasso habe ich immer geliebt. ALFONS Daraufhin haben sie uns sofort angezeigt. CHLOTHILDE Sie haben uns angezeigt? ALFONS Das hab ich dir doch gesagt. Sie waren es. CHLOTHILDE Der Big Boss und seine Alte? ALFONS Die zwei alten Knacker. CHLOTHILDE Sie haben uns auf die Liste setzen lassen? ALFONS wütend Wegen deiner Scheißkultur. Wegen deines Picasso! CHLOTHILDE Wie konnten sie uns ohne Anklage darauf setzen? ALFONS Wer glaubt nicht dem Big Boss? CHLOTHILDE Wir haben nie jemandem Unterschlupf gewährt, nie gegen irgend etwas demonstriert. Haben die denn kein Archiv des Wohlverhaltens? ALFONS auf einmal erregt Laß uns gehen. CHLOTHILDE Und Paco? ALFONS Er ist tot, o d e r ?

CHLOTHILDE Ich bin sehr müde, Alfons. Ich will nicht mehr laufen. Ich will keinen anderen Ort suchen. ALFONS Wir können mit ihm nicht hier bleiben. CHLOTHILDE Warum? ALFONS E r stört.

CHLOTHILDE Wir schieben ihn ein wenig zur Seite. ALFONS Er wird anfangen zu stinken. CHLOTHILDE Wir sind doch an der frischen Luft, oder? ALFONS schreit plötzlich verzweifelt Ich will nicht bleiben! CHLOTHILDE Alfons... was sagst du da? Sie geht zu ihm. Er zittert und schluchzt. Sie gibt ihm leichte Klapse auf die Wangen. Alfons, sprich doch. Bitte, mein Lieber, versteh doch. Es gibt keine andere Wahl als hier zu bleiben, wenn wir nicht wie Paco enden wollen. ALFONS Ich will nicht. Ich will nicht, daß man uns mit ihm findet.

Alfons und Chlothilde

75

Wir sind nicht allein mit ihm, Alfons, blickt sich um Es sei denn, du mißachtest die Zeichen. A L F O N S weinend Sie werden kommen. Sie werden kommen. CHLOTHILDE wütend Sei kein Weichei, Alfons. Heule nicht, heftig Ich will nicht, daß du heulst. A L F O N S Ich möchte leben. CHLOTHILDE energisch Wir haben die Räder gesehen, oder etwa nicht? Hier fährt ein Laster, ein Bus, was auch immer, geht zur Vorderbühne Hier sind die Spuren... große Räder... Autobusreifen. Hier ist es, Alfons. Wir können nicht weg. Es ist hier. Darum sind wir nicht allein. Es kommen ständig welche. Wir sind nicht die einzigen. Wir wollen ja auch keine Vergnügungsreise machen. Wir können nicht die besten Sitzplätze wählen oder die Fahrkarten im Voraus buchen. Wir müssen uns hinsetzen und abwarten. A L F O N S verängstigt Ich kann nicht länger warten. CHLOTHILDE Wir sollten ein bißchen schlafen. Das wird uns gut tun. A L F O N S Nein, nein. Wir müssen wach bleiben. CHLOTHILDE mit Bestimmtheit Er wird nicht vorbeifahren! geht zu Paco, bleibt neben ihm stehen, macht Alfons ein Zeichen. Komm, hilf mir. A L F O N S Was willst du tun? CHLOTHILDE Wir legen ihn mitten auf den Weg. Dann müssen sie bremsen oder hupen. A L F O N S Eine gute Idee. Sie machen Anstrengungen, um ihn zu bewegen. Sie keuchen heftig. Schließlich gelingt es ihnen, ihn zur Vorderbühne zu schleifen. Chlothilde fällt erschöpft auf die Leiche. CHLOTHILDE grinst Das war keine böse Absicht, Paco. Du bist ganz blau. Du kannst mir nicht mehr zum schönsten Nachmittag des Sommers verhelfen. A L F O N S keuchend beobachtet er die Szene Ich habe nie geleugnet, was ich besaß. In Wirklichkeit mochte ich jenes Leben. Das ist die reine Wahrheit, Chlothilde. CHLOTHILDE Ja? Wonach haben wir dann gesucht? Was steckte hinter den samstäglichen Umarmungen? Wen suchten wir, Alfons? Langes Schweigen. Alfons kehrt langsam zur Bühnenmitte zurück. Sag mir, daß es sich lohnt, Paco. Daß wir noch rechtzeitig sind. Gib mir Kraft. Ich habe gerade gelogen, was einfacher ist. Sag mir, daß es sich lohnt zu warten, daß die Wolke uns beschützen wird, daß uns keine Kugeln um die Ohren fliegen werden, daß es weder Schmerz noch Blut geben wird. Sprich, Paco. Schrei ganz laut, wähCHLOTHILDE

76

Carlos Manuel Varela

rend du uns führst und tu vor allem so, als seien wir deine Freunde. Sag, daß es noch einen anderen Ort gibt, daß wir nur dorthin gelangen und die Vergangenheit verfluchen müssen. Pause Sie kommen uns holen, stimmt's, Paco? Schweigen. Sie steht auf und schleppt sich langsam zu Alfons. ALFONS ES ist Zeit, das Zelt aufzubauen. CHLOTHILDE Es ist nicht sehr windig. Wir können so schlafen. ALFONS Wie romantisch. Es ist sternklar. Sie setzen sich auf den welligen Boden. Rücken an Rücken. CHLOTHILDE unruhig Alfons... ALFONS Was? CHLOTHILDE Ich möchte mich erinnern... an Dinge erinnern... ALFONS Wozu? CHLOTHILDE Hilf mir, mich zu erinnern... ALFONS Ich habe ein sehr schlechtes Gedächtnis. CHLOTHILDE angstvoll Mir verschwimmt alles, Alfons. ALFONS Was sagst du? CHLOTHILDE sehr erregt Mein Leben, Alfons. Es bleibt nichts davon übrig. Mein Leben. ALFONS versucht zu lächeln Beginn mit dem Wichtigsten. Es gibt unvergeßliche Daten. CHLOTHILDE Daten? ALFONS An einem zweiten Juni haben wir geheiratet. CHLOTHILDE Am 10. Oktober bin ich geboren. Pause, bebend Zwei Daten. Nichts als zwei Daten. ALFONS Und einen Haufen Dinge. CHLOTHILDE Was für Dinge? Was ist zwischen diesen beiden Daten passiert? Und danach? Stufenweise geht das Licht aus. Sie werden nur noch von einem Spot von oben beleuchtet. ALFONS Hast du gehört? CHLOTHILDE Kommen die Vögel? ALFONS Das sind keine Vögel. CHLOTHILDE Was denn? ALFONS Ein Geräusch, ein anderes Geräusch. CHLOTHILDE Irgendwas kommt näher. Beide stehen auf. Das Geräusch wird stärker, umfängt sie. ALFONS Sie kommen uns holen! CHLOTHILDE schreit Ein Wunder!

Alfons

und

Chlothilde

77

Schweigen. Sie schauen sich an. Ihre Gesichter verändern sich. Das Geräusch wird wieder schwächer. Sie schreit angstvoll Etwas entfernt sich! A L F O N S He, fahren sie nicht weiter! Fahren sie nicht! Sie machen einige Schritte, bewegen sich schnell, nervös. CHLOTHILDE völlig verschreckt Alfons, sie sind nicht da. Paco und die anderen. Sie sind nicht da. Sie haben sie mitgenommen. A L F O N S Das kann nicht sein! Warum? Wozu? CHLOTHILDE verzweifelt Wo sind die Spuren? W o sind sie gefahren? A L F O N S Es ist ganz dunkel. Wir haben sie nicht gesehen! CHLOTHILDE Warum haben sie nicht gehupt? Warum nicht gerufen? Sie blicken sich lang an, fühlen sich verloren. Dann fassen sie sich an der Hand, setzen sich ganz nah beieinander auf den Hügel. CHLOTHILDE Alfons... A L F O N S Was? CHLOTHILDE Erzähl mir, was am 1 0 . Oktober geschah. A L F O N S Ich erinnere mich nicht. CHLOTHILDE sehr verängstigt Ich sehe nichts, Alfons. Ich gestikuliere in der Luft. A L F O N S Ich weiß. Es ist sehr dunkel, Chlothilde. CHLOTHILDE Laß mich nicht los. Laß meine Hand nicht los. Schweig nicht. A L F O N S Es war einmal... CHLOTHILDE Ja, erzähl mir Märchen. Hör nicht auf zu sprechen. A L F O N S E S war einmal ein böser, sehr böser König... CHLOTHILDE wiederholt Ein böser, böser König... A L F O N S redet angestrengt Ein böser König, der in einer... CHLOTHILDE wie ein Echo König? Was ist das? König? A L F O N S ...Stadt mit hohen Mauern. CHLOTHILDE Stadt. Was bedeutet das? Stadt? A L F O N S Ich weiß nicht. Ich glaube, früher wußte ich es. CHLOTHILDE mit erstickter Verzweiflung Ich verliere die Worte, Alfons. A L F O N S langsam Ich auch. CHLOTHILDE Was hast du gesagt? Was sagst du? A L F O N S Das Märchen. Ich kannte es auswendig. CHLOTHILDE Und? A L F O N S Weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich sage. CHLOTHILDE Das Märchen, ja. Erzähl ein Märchen. Mit deutlichen, einfachen Worten. A L F O N S E S war einmal ein böser König...

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Carlos Manuel Varela

CHLOTHILDE wie ein Echo Es war einmal ein böser König... verwundert War? ALFONS Ich kannte es auswendig, Chlo... Chlothilde war dein Name? CHLOTHILDE

Ja, ich glaub ja.

Das Licht erlischt langsam, bis es ganz dunkel ist.

Roberto Cossa In grauer Ferne Gris de ausencia

Buenos Aires 1981 Deutsch von Almuth Fricke

Fiir Carlos

Somigliarla

In grauer Ferne

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Roberto Cossa: 1934 in Argentinien geboren, nimmt im Theaterleben seines Landes eine Sonderstellung ein, sowohl, was sein Werk, als auch, was seine Arbeit als Lehrer angeht. Die Frustrationen und Vorurteile der Argentinier, ihre großen Mythen, der Autoritarismus, der einen großen Teil des 20. Jahrhundert die politische Geschichte beherrschte, die vergeblichen Hoffnungen und Träume einer von Gewalttätigkeit und Willkür gezeichneten Generation sind seine Themen. Schon in seinen ersten Stücken: Una mano para Pepito (1960), Nuestro fin de semana (1964), Los días de Julián Bisbal (1966), La nata contra el libro (1966), La pata de la sota (1967) und dem zuerst als Drehbuch erschienenen Tute Cabrera (1968/ 81) zeigt sich seine Suche nach dem schmalen Grat zwischen individuellem und kollektivem Schicksal. Seine Protagonisten stammen aus der argentinischen Mittelklasse. Unter Perón wie während der Militärdiktatur versuchen sie unpolitisch zu bleiben. Dazu müssen sie sich von der Realität abwenden und ihr kleines und ihr großes Elend hinter oberflächlicher Munterkeit verstecken. Mit El avión negro (1970) einer politischen Revue, die Cossa zusammen mit Carlos Somigliano, Roberto Talesnik und Germán Rozenmacher schrieb, wendet er sich neuen und schärferen Formulierungen zu. Mit schwarzem Humor, den Stilmitteln des saínete, der Groteske und des Theaters der Grausamkeit, mit Songs und Satire wird die argentinische Realität attackiert. Sieben Jahre später erscheint La nona (1977), eine außerordentliche Groteske, in der die Großmutter, in allen Kindermärchen der liebevolle Mittelpunkt der Familie, zum gefräßigen Ungeheuer wird, das Kinder, Enkel und Urenkel verschlingt - eine Metapher für das Land, das seine Menschen zerstört. Mit diesem Stück ist Cossa international bekannt geworden. Ein absurdes Stück vollkommen argentinischer Art ist El viejo criado (1980). Es zeigt zwei Spieler in einem nächtlichen Vorstadtcafé. Sie warten darauf, daß die Zeit vergeht, und erinnern sehr an Becketts Estragon und Wladimir. Draußen laufen 30 Jahre argentinischer Geschichte ab. Eines seiner schönsten Stücke ist Ya nadie recuerda a Frédéric Chopin (1982) 1 . Es ist ein sehr poetisches Stück, das zeigt, wie Idealismus zu Realitätsverlust führen kann. Cossas Figuren fliehen in die Nostalgie, um sich vor der Barbarei der Gegenwart zu schützen. In grauer Ferne (1981 für Teatro Abierto geschrieben) stellt das Thema Exil auf die Bühne, das in Argentinien sehr viele Facetten hat. Schauplatz ist Italien. Hier wird eine italienische Familie vorgestellt, die nach 1 Weitere Stücke: No hay que llorar (1979), De pies y manos (1984), Los compadritos (1985), El sur y después (1987), Yepeto (1987), Angelito (1991), Años difíciles (1997), El saludador (1999), Pingüinos (2001).

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Argentinien ausgewandert war und wieder nach Italien zurückgekehrt ist. Der Großvater kann sich in der alten Heimat nicht wieder anpassen, zu lange hat er in Argentinien gelebt. Er spricht ein fast unverständliches Gemisch aus Italienisch und Spanisch. Sein Sohn und Lucia, die wie er italo-argentinischer Herkunft ist, betreiben in Trastevere ein argentinisches Restaurant. Auch sie sprechen ein Gemisch aus Spanisch und Italienisch. Ihre Kinder, Frida und Martin, leben in Madrid und in London. Die Verständigung zwischen Frida und ihren Eltern ist schwierig, weil Frida das Italienisch der Mutter schwer, die Mutter das korrekte Spanisch der Tochter kaum versteht. Unmöglich ist jede Kommunikation mit Martin. Er tritt nicht auf; Cossa demonstriert an einem Telephongespräch mit ihm das Kauderwelsch der Verzweiflung FRIDA Martin? Ich bin's, Frida. Frida! Deine sister! Wie geht's? Wie geht's, habe ich gesagt! Pause How are you, verdammt! Uns gut.... U-huns! ungeduldig Noialtri... Noialtri good. Good, si, good! LUCIA Domángli wann er kommen Besuch! FRIDA ZU Martin Einen Moment. Einen Mo-homent! blickt Lucia an. LUCIA nervös Che gli domandi wann er kommen Besuch! FRIDA Ich verstehe dich nicht, Mutter. LUCIA Che gli domandi wann er kommen Besuch! Frida blickt hilfesuchend zu Chilo. CHILO Keine Ahnung... sie sagt irgendwas von Donnerstag. FRIDA ins Telefon Mutter sagt... Maszer sagt... Nein, Maszer ist... Sie sagt, Donnerstag... Donnerstag! Verdammt, was heißt Donnerstag auf Englisch? Wen soll er Donnerstag besuchen, Mutter? LUCIA hysterisch Domandali si fa freddo a Londra. FRIDA Sie sagt, du sollst Donnerstag Freddy in London besuchen, hört zu Freddy... Freddy. Okey... Okey. hängt ein. Lucia blickt sie erwartungsvoll an. Er sagt, es gehe ihm gut.

Das Exil hat diese Familie ihrer eigenen Sprache beraubt, ohne daß sie dafür eine andere (gemeinsame) hätten lernen können. Adrián Herr

Literatur Miguel Angel Giella: „Inmigración y exilio, el limbo del lenguaje", in LATR 26, 2 (1993), S. 111-121. Woodyard, George: „The Theatre of Roberto Cossa: A World of Broken Dreams" in Perspectives on Contemporary Spanish American Theatre, hrsg. von Frank Dauster. BUCKNELL REVIEW 4 0 , 2 (Fall 1 9 9 6 ) .

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Ferne

In grauer Ferner Personen: Großvater - Chilo - Dante - Lucia - Frida. Der geräumige Vorraum zur Küche in der Trattoria „La Argentina" im Stadtviertel Trastevere in Rom. Er wird als Aufenthaltsraum genutzt. Zur Rechten befindet sich die Küche, die der Zuschauer nicht sieht, zur Linken eine Tür zu den Schlafzimmern des Hauses, auf der Hinterbühne der Durchgang zum Restaurant. Wenn die Handlung beginnt, hört man leise ein Akkordeon spielen. Es ist Großvater, der in einer Ecke des Raumes sitzend hölzern den Tango „Canzoneta": spielt. In der anderen Ecke versucht Frida einen Koffer zu schließen, aus dem Kleider hervorquellen. „Wenn ich höre O sole mioo... senza mamma e senza amore... ich spüren kalt nel cuore mioo... das mich füllen mit ansiedaaad... Sein die Seele von meine Mamma... ich verlassen, wenn kleine bambino... weine, weine O sole mio... weinen wollen auch ich." verzögert die letzten Takte des Tangos. Einen Augenblick später kommt Lucia aus der Küche und bringt Mate, den sie Frida reicht. FRIDA Mist! Der Koffer ist viel zu klein. Ich hätte den größeren nehmen sollen. Immer dasselbe: ich fahre mit mehr zurück, als ich mitgenommen habe. LUCIA Welche Uhr gehen deine avione? FRIDA Ich habe noch Zeit, trinkt vom Mate Mutter, ich möchte nicht, daß du mich verabschieden kommst. Hast du gehört? LUCIA Sai, nicht mir gefallen Abschied. FRIDA Okey! Wenn ich in Madrid bin, schreibe ich dir. Frida trinkt den Mate aus und reicht das Gefäß Lucia. LUCIA E cuando du kommen zurück nach Roma? FRIDA Ich weiß nicht, Mutter. Im Sommer, vielleicht. LUCIA Cosa e vielleicht? FRIDA Nun... ich meine eventuell. Lucia blickt sie verständnislos an. Daß es nicht sicher ist. Das will ich sagen. Daß es nicht sicher ist. LUCIA Sechs Monaten und nicht sein securo? Was du machen in Madrid? Was du hast zu tun in Madrid, das du nicht auch können fare in Roma? FRIDA Mein Platz ist in Madrid. GROßVATER

2 Tango (1951), Text von Enrique Lary, Musik von E r m a Suärez; uraufgeführt v o m Orchester Alfredo Gobbi, gesungen von Jorge Maciel im Kabarett Maipü Pigall.

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LUCIA Deine Platz... deine Platz... Wer haben gesagt? Gott haben gesagt, daß Madrid sein deine Platz? Gott haben gesagt, daß meine Platz in Roma? Daß Platz von Martin sein in Londra? Eh? Gott haben gesagt? Was für eine Gott? Eine Reisebüro? FRIDA müde Jedes Mal wenn ich nach Rom komme, streiten wir über dasselbe. LUCIA Jedes Mal wir also streiten weniger. Weil du k o m m e n immer weniger. Al principio du kommen jeden Monaten. Dann jeden drei Monaten. Jetzt, sind sechs... Und nicht sein securo! FRIDA Geh, Mutter, bring mir noch einen Mate. Lucia geht mit dem Mategefäß in die Küche. FRIDA Weißt du was, Mutter? Ich habe Manolo beigebracht, wie man Mate trinkt. Du solltest sehen, wie gut er ihm schmeckt! Am Anfang hat er gedacht, es sei eine Droge... so etwas wie Marihuana... lacht Aber hör mal, sagte ich... In meinem Land trinken das sogar die Kinder. Er konnte es nicht glauben! In diesem Moment kommt Chilo herein, eine Ausgabe der argentinischen Tageszeitung CLARÍN unter dem Arm und leise vor sich her schimpfend. FRIDA Was ist los, Onkel? Du bist ja ganz aufgebracht. CHILO Dieser Itaker, che, so ein Hurensohn! Bastard! Frida blickt ihn an. Dieser Kniich... Der Zeitungsmann! Bastard von Itaker. Seit zwanzig Jahren kauf' ich ihm jeden lieben Tag den CLARÍN ab. Und, was meinst du, jeden lieben Tag muß ich ihn erst drum bitten. Der weiß genau, daß ich den CLARÍN holen komme. Aber nein. Ich muß erst drum bitten: Einen CLARÍN aus Buenos Aires. Jeden Tag dasselbe Spiel. Also wirklich... In Buenos Aires kaufst du drei Tage die Zeitung beim selben Zeitungsmann, dann wartet der schon mit der Zeitung in der Hand auf dich, kaum daß er dich kommen sieht. Ich hab meine Zeitung immer gegenüber von der Policlinica Presidente Perón gekauft... NOTICIAS GRÁFICAS. Und jeden Tag hat er mit der Zeitung in der Hand auf mich gewartet. Einmal hab ich ihm gesagt: „Ich wechsle zu CRÍTICA." Am nächsten Tag hat er mich mit CRÍTICA in der Hand erwartet. Che! Aber dieser Itaker! ... Zwanzig Jahre! Und obendrein hat er mich beschimpft. FRIDA Wieso hat er dich beschimpft? CHILO

O h ja... d e r h a t w a s a u f Italienisch g e s a g t .

FRIDA

W a s hat er d e n n

gesagt?

CHILO Hab ich nicht verstanden. Aber er hat mich natürlich beschimpft. So sind die! Die Itaker sind so! Wenn die merken, daß du sie nicht verstehst, verarschen sie dich. FRIDA

A l s o , m i r ist d a s n i e p a s s i e r t .

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Echt nicht? Beim letzten Mal hab ich den Alten zum Spaziergang mitgenommen... Wir wollten uns mal die ganzen Trümmer da, die Ruinen, ansehen... Kurz und gut, wir haben uns verlaufen. Und ich sag zum Alten: frag mal, wie wir nach Trastevere zurückkommen. Großvater fragt so 'ne Alte, die grade aus der Kirche kommt. Und die antwortet doch: Scher dich zur Hölle, wo du hergekommen bist. FRIDA befremdet Das hat sie geantwortet? CHILO Nun... auf italienisch. Aber so ähnlich. Und das war 'ne Alte, die aus der Messe kam, che! Durch den Eingang zum Restaurant kommt Dante herein, als Gaucho gekleidet. Über den Unterarm trägt er eine Serviette. D A N T E Luzia... Luzia... LUCIA erscheint Cosa succede? D A N T E Han arribato diente, Gäste da. LUCIA verärgert So früh? D A N T E E SÍ... SO früh. Mach dich fertig. Andiamo! LUCIA Porca miseria! Lucia geht ins Schlafzimmer. D A N T E Chilo... mach Tisch Zwei fertig. Z w o Coperto. Und viere für Tisch Sieben, schaut in die Küche Dreimal Kutteln gut durch... zwomal Bäckchen und einen Tomatensalat und Bratwurst... Und einmal Grillplatte completo für vier. Das Telefon klingelt. Trattoria La Arjentina, bonasera. Comendatore! Come vai? Lucia taucht wieder auf. Sie hat sich einen Poncho umgelegt und geht zum Ausgang Richtung Restaurant. Wenn sie an Frida vorbeigeht, sagt sie: LUCIA Retorno subito. D A N T E hält den Telefonhörer zu und spricht zu Lucia Brot und Chimichurri für Tisch 3. Ah... Comendatore.... Heute gibt Locro. Eintopf Speziale: alla camatarquenna... CHILO verbessert ihn Catamarqueña... Catamarqueña... D A N T E ins Telefon Zu Diensten, Comendatore! Die tavola am Fenster für tre persone. Molto piacere! hängt ein, will hinausgehen und dreht sich zu Frida um Gehst nicht ancora, oder? FRIDA sieht auf die Uhr In einer Weile. D A N T E entschuldigt sich Heute Freitag. Schlimmer Tag. Capisce? FRIDA Kümmere du dich um die Gäste, Vater. D A N T E küßt sie Wir sehen später. Dante geht in das Restaurant. Frida kümmert sich wieder um ihren Koffer. Chilo liest die Zeitung. Großvater spielt „Canzoneta". GROßVATER „La Boca... Callejón... Vuelta de Rocha... Bodegón, Genaro y su acordeón.... Canzoneta, in grauer Ferne, alter Schmerz, grausames Heimweh, das man ertränkt im Nebel von Alkohoool..." CHILO

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CH!LO liest die Zeitung Oha! Guck mal, Papa! Letzten Sonntag hatte die Apotheke von Don Pascual Dienst, liest Bereich 22, Almirante Brown 1302. Das war die Apotheke von Don Pascual, erinnerst du dich? GROßVATER Dann wird er nicht kommen, um spielen Karten. Cuando haben Dienst, nicht kommen, um mit mir spielen Karten. CHILO Was wohl aus Don Pascual geworden ist? Er war ungefähr in deinem Alter. GROßVATER

U n d w i e alt bin ich?

vier und... Laß mich überlegen. Aus Buenos Aires sind wir weg im Jahr... Du bist fünfundachtzig. GROßVATER Dann Don Pascuale dreiundachtzig. Cuando er ist gekommen nach Arjentina, er war achtzehn... und ich zwanzig. Sempre ich war zwei Jahre mehr, macht eine Pause und spielt „La Boca, Callejón, Vuelta de Rocha... Bodegón... Genaro y su acordeón..." Also Don Pascuale heute haben Dienst? CHILO müde Nein, Papa... nein. GROßVATER Sagen doch Zeitung. CHILO Aber diese Zeitung ist von letztem Sonntag. Hab ich dir doch erklärt. Hier werden die Zeitungen mit Verspätung gelesen, zu sich Diese bescheuerten Itaker! Außerdem... wer weiß, was aus Don Pascual geworden ist. Wenigstens die Apotheke gibt's noch. GROßVATER Wann wir gehen zurück nach Buenosaria, Chilo? CHILO Eines Tages, Papa. GROßVATER spielt wieder Ich will zurück nach Buenosaria, spielen Karten mit Don Pascuale. „Canzoneta, in grauer Ferne... alter Schmerz, grausames Heimweh, das man ertränkt im Nebel von Alkohol... Ich träum von Tarento tausendmal wieder, aber hier bin ich, en La Boca, und wein und weine meinen Schmerz..." Nie mir gewonnen beim Kartenspiele, Don Pascuale. lacht Und der sich ärgert! Ma nunca mir haben gewonnen! FRIDA Endlich! läßt den Koffer auf dem Boden stehen und setzt sich neben Chilo. Er betrachet sie. CHILO Die Frida... Wie hübsch du bist. Die jungen Spunde in Madrid sind bestimmt verrückt nach dir, stimmt's? FRIDA Die Spunde? CHILO Die Kerls... die Jungs. FRIDA Wie lustig du sprichst. Ich hör dir gern zu! CHILO Qué chula! Sagen die das zu dir? FRIDA Nein... Qué maja! CHILO Maja? Donnerlüttchen! lacht, wird ernst Hörmal... die sagen das doch wohl nicht wegen der nackigen Maja, oder? FRIDA Nein! beide lachen. CHILO

HM,

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Und wenn sie zu dir „Qué maja" sagen, sagst du, ich bin Argentinierin. FRIDA Argentinierin... Porteña und aus La Boca. CHILO Wie gut du dich erinnerst. FRIDA D U hast es mir doch immer gesagt: Frida, du bist Argentinierin, Porteña und aus La Boca. Das mußt du in die Welt hinausschreien! CHILO

GROßVATER

W e r ist d a ?

Ich bin's, Großvater. CHILO Die Frida, Papa. GROßVATER Ich denken er, Don Pascuale. CHILO Wieso denn Don Pascual? Don Pascual in Rom? GROßVATER E certo. Don Pascuale heute Dienst. Nicht können kommen, um spielen Karten mit mir. CHILO ZU Frida Don Pascual war der Apotheker von nebenan. In der Calle Almirante Brown. Und er kam jeden Abend zu Papa zum Kartenspielen. GROßVATER Nie mir gewonnen beim Kartenspiele, Don Pascuale. Und sich geärgert! Ma nunca mir haben gewonnen! Er lacht. CHILO Erinnerst du dich nicht daran? FRIDA Nein... Fast gar nicht. CHILO Ui... und wie sehr er dich mochte! Und du warst vernarrt in ihn. ahmt Frida nach „Don Pascual... Don Pascual...." Immer, wenn du ihn sahst, hast du dich ihm in die Arme geworfen. Er war vernarrt in dich! Und er war es, der dich auf dem Arm aufs Schiff getragen hat. Erinnerst du dich nicht? Frida schüttelt den Kopf. Klar... du wirst so fünf gewesen sein... FRIDA Unter vier. CHILO Und wie Don Pascual weinte! Das vergeß ich nicht... auf der Mole, weinend und winkend. Ein prima Itaker. GROßVATER Immer wir gegangen zu Piazza Venezia mit Don Pascuale, und wir haben gespielt Karten unter die Bäumen, zu Frida Piazza Venezia, in der Nähe von unseres Haus. CHILO Das ist der Lezama-Park, Papa. GROßVATER Ecco! Der Lezama-Park. Und wir haben geguckt das Colosseo. CHILO Was für'n Kolosseum? Das Stadion von La Boca. GROßVATER Ecco! Alles kaputt von Stadion La Boca, spielt „Aber hier bin ich, en La Boca, und wein und weine meinen Schmerz... Ich träum von Tarento tausendmal wieder..." FRIDA blättert im CLARÍN Weißt du, Onkel, ich erinnere mich fast gar nicht mehr an Buenos Aires. Ich habe ein Bild: einmal gingst du mit mir in einer Straße voller Menschen spazieren... FRIDA

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CHILO Das war bestimmt die Calle Florida. Ich hab dich immer mit in die Calle Florida genommen. FRIDA Dort waren viele Leute. CHILO Und ob! Die schönste Straße der Welt. FRIDA Calle Florida - bestimmt die Straße der Blumen. CHILO Sie ist voller Blumen! Und Bäume, die sich darüber zu einem Bogen wölben... kleinen Brückchen... Gondeln... Musikanten und Poeten, die ihre Gedichte vortragen. Die Menschen tanzen und singen. FRIDA

Wie wunderschön!

In diesem Moment klingelt das Telefon. Dante erscheint und nimmt ab. DANTE Trattoria La Arjentina, bonasera. Qui É? brüllt Telefono da Londra. Aufgeregt kommt Lucia herein. LUCIA E Martinzito... Martinzito... DANTE ins Telefon Si, Signorina. LUCIA nimmt ihm den Hörer aus der Hand Martinzito! Ah, si, Signorina, ich warten. Sie wartet. Dante geht zum Großvater. DANTE Papa... Zieh Poncho an, ich dich brauchen, nimmt einen Poncho und hilft dem Großvater, ihn überzuziehen Der Tisch an der finestra. Da sind drei Gäste molto importante. Da du müssen spielen. Der Großvater nickt. Ma nicht spielen die porquería, die du immer spielen. Spiel La Cumparzita. Si ricorda? Der Großvater blickt ihn an. Dante summt „La Cumparsita". ,,La-la-la-lá.... lalala-la-la-la-lala..." Der Großvater spielt einige schräge Akkorde, die nur entfernt „La Cumparsita" gleichen. Beide gehen ins Restaurant. Dante wiederholt die Melodie von „La Cumparsita". „Cosi-cosi... cosi, cosi, si-si-si-si-si", beide ab. LUCIA ins Telefon Martinzito! Figlio mió. Come vai? Pause Ich sagen, come vai! hört mit einer Geste der Hilflosigkeit zu Ma nicht dich capisco, figlio mió! Come? Come? Maszer? Wer sein Maszer? Achso... Maszer! Si, bin ich. Maszer! was folgt, sagt sie weinend und ohne Pause Ich haben Nostaljia di te. Wann du kommen mich besuchen? Sein molto freddo in Londra? hört zu Come? Come? Was heißen „anderstent"? zu Frida Er sagen „no anderstent". Frida geht zu ihr und nimmt ihr den Hörer aus der Hand. FRIDA Martin? Ich bin's, Frida. Frida! Deine sister! Wie geht's? Wie geht's, habe ich gesagt! Pause How are you, verdammt! Uns gut... Uhuns! ungeduldig Noialtri... Noialtri good. Good, si, good! LUCIA Domángli wann er kommen Besuch! FRIDA ZU Martin Einen Moment. Einen Mo-homent! blickt Lucia an. LUCIA nervös Che gli domandi wann er kommen Besuch!

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Ich verstehe dich nicht, Mutter. Che gli domandi wann er kommen Besuch! Frida blickt hilfesuchend zu Chilo. CHILO Keine Ahnung... sie sagt irgendwas von Donnerstag. FRIDA ins Telefon Mutter sagt... Maszer sagt... Nein, Maszer ist... Sie sagt, Donnerstag... Donnerstag! Verdammt, was heißt Donnerstag auf Englisch? Wen soll er Donnerstag besuchen, Mutter? LUCIA hysterisch Domandali si fa freddo a Londra. FRIDA Sie sagt, du sollst Donnerstag Freddy in London besuchen, hört zu. Freddy... Freddy. Okey... Okey. hängt ein. Lucia blickt sie erwartungsvoll an. Er sagt, es gehe ihm gut. LUCIA Ihm gehen bene, ja? FRIDA Er hat okey zu mir gesagt. Okey heißt, daß es ihm gut geht. Er wird Freddy besuchen gehen. In diesem Moment kommen Dante und Großvater wieder herein. Der Großvater spielt. GROßVATER „Träum von Tarento, tausendmal wieder, aber hier bin ich, en La Boca..." D A N T E schüttelt ihn Ich gesagt, du sollen La Cumparzita spielen. Die Leute nicht wollen hören dieser italienischen Zeug, den du spielst. Die Leute wollen La Cumparzita. Das hier ist arjentinisch Trattoria. Los, los... La Cumparzita üben, zu Lucia Was hat gesagt Martinzito? LUCIA schluchzend Que fa molto freddo, viel kalt in Londra. D A N T E Ach... sempre viel kalt in Londra. zu Chilo Schreib auf: einmal Bauchspeck für die Sieben und einmal Wackelpeter für die Neun. zur Küche Bruno, notieren, zwo Empanadas und drei Locro alla camatarquenna... CHILO korrigiert ihn Catamarqueña. Ca-ta-mar-que-ña. Dante geht ab. Lucia schluchzend, Chilo notiert die Bestellungen. FRIDA Ich mache mich jetzt auf den Weg, Mutter. LUCIA erschrocken Te vai? Du gehen? FRIDA Ja, Mutter. Es wird Zeit. LUCIA Frida... nähert sich ihr Warum du nicht bleiben in Roma? Bleib in Roma, con me. FRIDA Ich kann nicht. Du weißt, ich kann nicht. LUCIA Ma warum? Frida antwortet nicht. Ist wegen Mann, no? Wegen dieser Mann! FRIDA Ja, es ist auch wegen Manolo. Aber nicht allein wegen ihm. LUCIA D U sein verliebt in ihn. FRIDA Ja. Und wir werden heiraten. FRIDA

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LUCIA Heiraten? Er sein Ausländer. Nicht sein wie wir! Er sein Ausländer, er dich werden sitzen lassen! Weil Ausländer sein cosi! schaut sie haßerfüllt an Geh weg! Geh weg und nicht kommen wieder! FRIDA

Mutter...

LUCIA DU mich gehört! Nicht kommen wieder! entfernt sich weinend. FRIDA blickt einen Moment Lucia nach, geht dann zu Chilo Adios, Onkel. CHILO Chau, piba. Gute Reise. Sie umarmen sich. FRIDA gibt dem Großvater einen Kuß Adios, Großvater. GROßVATER Du gehen spazieren? Wenn kommen vorbei an Farmazia, dann sagen Don Pascuale, ich warte, um spielen Karten. FRIDA will gehen, bleibt stehen, zu Lucia. Ich schreibe dir, Mutter, geht ab. GROßVATER „Canzoneta, in grauer Ferne... alter Schmerz, grausames Heimwehe, das man ertränkt im Nebel von Alkohol...Träum von Tarentooo... tausendmal wieder..." Wann wir gehen zurück nach Buenosaria, Chilo? CHILO Eines Tages. Aus dem Restaurant kommt Dante erregt herein. DANTE Ma, was sein los! ... Luzia! ... Drei Tische ohne Bedienung. Tre! LUCIA wütend Pfeif ich auf der drei Tische... Ich pfeifen auf der drei Tische und ich pfeifen auf Kliente! zieht den Poncho aus und wirft ihn auf den Boden, geht weinend hinaus ins Schlafzimmer. DANTE Ma porca miseria! Ausgerechnet Freitag! zu Chilo Mußt mir helfen du in Restaurant. CHILO Im Restaurant? Neee... Nicht als Kellner. DANTE Ma io solo, nicht schaffen! CHILO Ich soll Itaker bedienen? Damit sie mich beschimpfen? Neee.... Das hab ich dir gesagt. Ich mach dir die Kasse. Aber den Kellner, den mach ich nicht. Ich hab's dir gesagt, als du die Idee hattest, ein Restaurant aufzumachen. Nicht als Kellner! Das war die Abmachung. DANTE Sta bene. Du mir nicht helfen. Aber dann auch nicht mehr essen. Ich dir schwören! macht das Zeichen der Vendetta Dann du auch nicht essen! Mußt du betteln gehen! geht zornig ins Restaurant. CHILO Lieber betteln, als einen dreckigen Itaker bedienen! Chilo liest wieder die Zeitung. Pause. Der Großvater spielt „Canzoneta". GROßVATER Wir sind durch die Almirante Brown mit Don Pascuale und nicht gegangen zur Vuelta de Rocha. Du dich erinnern an Vuelta de Rocha, Chilo? CHILO Ja, Papa, ja.... GROßVATER Und wir anschauten Tiber. CHILO Nicht den Tiber. Der ist hier. Den... hält inne Den... erschrickt Wie heißt er noch? Der... Verdammte Scheiße!

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Der Tiber... wütend Nein... der ist hier! Der... der... macht eine ungeduldige Geste Aber! ... Gegenüber von der Vuelta de Rocha... auf der anderen Seite ist Avellaneda... die Schiffe... Wettbüro Martin... Verdammt! erfreut Der Arroyuelo, unser Bächlein! GROßVATER Ecco... der Riachuelo, das Flüßchen... e dopo die Engelsburg... CHILO Genau, der Riachuelo... Der Großvater spielt „Canzoneta". Langsam zieht sich Chilo den Poncho über, den Lucia auf den Boden geworfen hat, und geht in das Restaurant. GROßVATER Sie sein dran, Don Pascuale. Pik ist Trumpf. Wir beenden der Spielchen und dopo wir gehen zu Piazza Venezia, eh? Wir nehmen die Almirante Brown... dann über Paseo Colon und da wir spielen Karten unter die Bäumen. Als ich war jung, immer ging zu Lezama-Park. Mit il mio babbo und la mia mamma... Meine Bruder Anjelito... Alle wir gingen zu Lezama-Park... Und der Duce ist gekommen auf Balkon... die Piazza voll mit Leute. Und Jenerale spräche und sagte: Peronista... von die Arbeit nach Hause und von der Haus nach Arbeit". Und sie, sie war blond und jung. Und zu uns sie haben gesagt: „Paßt gut auf den Jenerale auf." Und dopo, der Duce gefragt: „Was wollt ihr? Panetone o Kanone? Und wir gebrüllt: Brennholz, Jenerale, Brennholz Jenerale". spielt einige Akkorde aus „Canzoneta" Aber dopo... ich haben Schiff genommen. Und Schiff sich haben bewegt und meine Bruder Anjelito mir sagen: In La Arjentina wir werden machen Schotter... viel Schotter... Und dopo wir gehen zurück nach Italia." lacht So sagen meine Bruder Anjelito, Gott habe ihm selig. Ein sonnige Nachmittag er ist gefallen von Gerüst. spielt und summt „Canzoneta, in grauer Ferne... alter Schmerz, grausames Heimweh, das man ertränkt im Alkohol... Träum von Tarentoo... tausendmal wieder..." Wann wir gehen zurück nach Italia, Don Pascuale? Cuando wir gehen zurück nach Italia?

GROßVATER CHILO

Dunkelheit

92 Canzoneta Tango (1951) Text: Enrique Lary, Musik: Erma Suárez La Boca...Callejón...Vuelta de Rocha... Bodegón...Genaro y su acordeón... Canzoneta, gris de ausencia, cruel malón de penas viejas escondidas en las sombras del figón. Dolor de Vida...Oh mamma mía...! Tengo blanca la cabeza, y yo siempre en esta mesa aferrado a la tristeza del alcohol... Cuando escucho "O Solé Mió", senza mamma e senza amore, siento un frío acá en el cuore, que me llena de ansiedad... Será el alma de mi mamma, que dejé cuando era niño... Llora llora "O Solé Mió"; yo también quiero llorar...! La Boca...Callejón...Vuelta de Rocha... Ya se van Genaro y su acordeón... De mi ropa, qué me importa si me mancho con las copas que derramo en mi frenético temblor! Soñé a Tarento en mil regresos, pero sigo aquí, en la Boca, donde lloro mis congojas con el alma triste, rota, sin perdón...

Roberto Cossa

Ramön Griffero Altazor-Aquinoktium Altazor-Equinoxe

Leuven 1982 Deutsch von Almuth Fricke

Uraufführung in der Chapelle-des-Brigittines in Brüssel im Juli 1982 mit einem Bühnenbild von Herbert Jonckers.

Altazor-Äquinoktium

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Altazor-Äquinoktium ist ein Stück des Exils, ein Stück aus einer Zeit, aus der ich keine Unterlagen mehr besitze. Darum schreibe ich aus der Erinnerung, angestoßen durch diese Publikation, die mich zwingt, die Strukturen und Empfindungen einer Fabel noch einmal zu betrachten, die Schmerzen verdecken und mich in den vergangenen zwanzig Jahren ihre Existenz so weit vergessen ließen, daß sie noch nicht in die Sprache ihres Autors übersetzt werden konnten. 1981 lebte man nicht nur in einem anderem Zeitgeist, der ganze Planet dachte anders. Man fürchtete einen dritten Weltkrieg, glaubte an die sozialistische Utopie und sah die Welt in schwarzweiß. Ich, ein junger Exilierter, erlebte mein Ausgegrenztsein im Kreis der alternativen Jugend von Brüssel. Wir schufen uns winzige aber eigene Räume, sahen die Kunst als eine Art Leben an, in dem der Druck des Marktes nicht existiert. Es war normal, daß wir für medizinische Laboratorien arbeiteten, die mit unseren Körpern experimentierten, und daß wir machtlos waren gegenüber einer Diktatur, die jetzt so fern erscheint. In dem Kontext entstand Altazor- Äquinoktium. Der Text versetzt mich wieder in die existentielle Atmosphäre jener Zeit, als die Hoffnung im Metaphysischen wohnte, weil es nur Hoffnungslosigkeit gab. Aber selbst das war Fiktion, so wie das Stück einen Ausweg in Dimensionen sucht, die ihrerseits zu einer anderen Dimension führen, die nichts als Fiktion ist. Das Stück Die Fabel erzählt vom Alltäglichen, von der Verlassenheit der Ausgegrenzten, die im Untergrund unserer Städte leben und beschliessen, mit Hilfe ihrer Phantasie in eine andere Zeit hinüber zu wechseln; in ein verschwommenes Mittelalter von Königen und Prophezeiungen. Das Thema einer Tragödie wird aufgegriffen, d. h. ein klassischer Mythos wird in „parodistischer" Betrachtungsweise auseinandergenommen: Ein Knabe wird geboren, er heißt Altazor. Prophezeiungen sagen dem Königreich durch ihn eine böse Zukunft voraus. Der König beschließt, ihn zu töten. Das Reich verfällt in Langeweile und Stagnation, und es ist Zeit, diesen möglichen Helden wiederzufinden, der nur ausgesetzt und nicht getötet worden war. Die Suche nach diesem verlorenen Helden gebiert Gewalt; die Dimensionen verschwimmen; die Personen haben kurze luzide Augenblicke und versuchen, geliebte Menschen aus einer anderen Zeit wiederzufinden, aber sie erkennen sich untereinander nicht. Das Chaos erreicht seinen Höhepunkt, und wenn alles zerstört ist, sehen wir, daß seine Fiktion nur ein Teil einer anderen Fiktion ist. Man befindet sich im Innern eines Pavillon „wissenschaftlicher" Erforschung der Menschheit, in einem verspielten Konzentrationslager.

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Ramón

Griffero

Die Personen Marguérite ist ein von einem Jungen gespieltes Mädchen voller atavistischer Ängste, unfähig ihre Art zu definieren. Sie ist später Laura, das Landmädchen des Königreichs, das noch von seinen Träumen lebt. Sie wird sich in den mythischen Altazor verlieben, seine Stimme hören und seinen Blick fühlen können. Aurelio, der Vater, baut Särge, die man von innen öffnen kann, weil er Angst hat, lebendig begraben zu werden. Er versucht, die Dinge nach seinem Tod beherrschen zu können, da er über seine Gegenwart nicht entscheiden kann. Er ist später der König, der Vater von Altazor. Herminde, Aurelios Frau, liest Bildergeschichten und Liebesromane, um in der Fiktion Lebenserfahrungen zu finden. Der Weise ist der Intellektuelle mit konfusen Kenntnissen und einer Belesenheit, die er durcheinanderbringt und nicht anwenden kann. Er ist später des Königs Ratgeber. ER ist ein junger Mann unserer Zeit, eine Figur, die zu keiner der Fiktionen gehört, die sich entwickeln. Er hat seine eigene Zeit und einen Diskurs, der uns vom Tod seines Geliebten erzählt, dem Helden Altazor. Er ist der Zeuge der Fiktion. Die Sprache Es war nicht meine Absicht, ein Stück auf Spanisch zu schreiben, um es dann zu übersetzen, vielmehr wollte ich mich der Sprache des Exils als meiner Ausdrucksweise stellen. Darum schrieb ich den Text auf Französisch. Die Inszenierung Nachdem ich mein erstes Stück Ôpera para un naufragio mit dem Universitätstheater von Leuven inszeniert hatte, wollte ich ein neues Stück aufführen. Das geschah als kollektive Kreation. Wir stellten uns eine große Inszenierung vor, aber unsere Mittel waren gleich Null. So wirkten schließlich selbst der Bühnenbildner Herbert Jonckers und der Autor in dem Stück als Schauspieler mit. Die Aufführung sollte im THÉÂTRE DE BLOCRY in Leuven stattfinden, aber das Stück brauchte einen unkonventionellen Raum. Den fanden wir in der verlassenen Chapelle des Brigittines (heute ein Theaterraum mit großem Saal und bester Technik) in Brüssel. Die vollkommen verlassene Kapelle ohne Licht, ohne Wasser, ohne Heizung gab das richtige Ambiente für das Stück: eine gotische Kapelle am Stadtrand, neben den Bahngleisen. Der Raum barg in sich die Fiktionsebenen des Stückes.

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Das Bühnenbild und die Dramaturgie des Raums Bei dieser Inszenierung entstanden der Begriff Dramaturgie des Raums und die Grundlagen für dessen spätere dramatische Theorie. Entscheidend für die Entstehung meiner Texte und ihrer späteren räumlich szenischen Interpretation war die Arbeit des Bühnenbildners Herbert Jonckers, der von 1980-1996 alle meine Inszenierungen machte. Seine Auflösung der räumlichen Strukturen brachte mich darauf, das Schreiben in einer Poetik des Raums zu vollziehen, d. h. ein kreatives Denken zur Aufführung hin zu entwickeln. Spiel und Darstellung sollten nicht einem x-beliebigen Theatermodell folgen, sonder direkt aus dem Text heraus das szenische Format entwickeln, auf dem die Fiktion basiert. Bei dieser Inszenierung erkannte ich, wie die Gestaltung des Raums den Text dramatisch vervielfältigt und strukturiert. Das Bühnenbild von Herbert Jonckers schuf eine Atmosphäre, die beide Zeiten enthielt: In der realen gotischen Kapelle waren zugleich die fiktiven Szenen der Tragödie präsent. Wir hatten die Vorstellung, diesen Raum mit einer großen szenischen Installation zu durchdringen und den Raum in das Stück einzubringen. Die Elemente, die das städtische Habitat der Figuren in ihrer Gegenwart darstellten, wurden auseinandergenommen und von den Figuren wieder zusammengesetzt, um die Burg und den Raum der Tragödie darzustellen. Diese Aktion gab nicht nur ihrem Leben einen anderen Sinn, sondern auch den Dingen. Und auch für das Publikum wurde die Fiktion des mittelalterlichen Raums ebenfalls zur Fälschung. Textur und Material Unsere eigene Marginalität durchdrang Textur und Material der Inszenierung. Die Materialien, die wir für diese Installation benutzten, stammten vom Sperrmüll auf den Straßen und aus dem Keller des Rathauses nebenan, von wo wir sie, indem wir über die Mauer kletterten, unerlaubt ausliehen (z. B. die Girlanden des Weihnachtsbaums der Stadt). Es hatte eine gewisse Poesie, später die Girlanden unserer Installation an dem riesigen Weihnachtsbaum auf den Marktplatz von Brüssel zu sehen. Ein Geheimnis, das nur die Truppe kannte. Die Inszenierung Wir nutzten nahezu die ganze Kapelle, und der Zuschauerraum reichte nur für fünfzig Personen. Eine erzählende Choreographie oder was ich die Strukturierung einer räumlichen Erzählung zwischen Körper-Person und Raum nenne, wurde entwickelt, und daraus entstand die Definition des Spiels, das zuerst auf einem „cinematographischen Realismus" basiert und dann auf der besonderen Art, wie die Figuren die

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Tragödie spielen: Sie sollten laienhaft spielen aber versuchen, für den Tragödienteil klassisch zu sein. Diese räumliche Erzählung wird durchdrungen von spielerischem Gefühl, das den Text im Einklang mit Gemütszuständen verschiedener Ebenen ausdrückt und die Form der Annäherung an den Text in Beziehung zum Körper im Raum und zu den vom Spiel zitierten Referenzen. Das ist die Dramaturgie des Raums im Schauspieler. Tatsächlich war alles nur die Idee einer anderen Idee. Die Atmosphäre war angefüllt von Trostlosigkeit. Der Trostlosigkeit des Stückes, der Trostlosigkeit jener riesigen kalten Kapelle und des in räumliche Poesie verwandelten Abfalls der Straße. Aus der Distanz betrachtet war jene Erfahrung nur ein Ausdruck meines, unseres zerrissenen Zustands, ein Blick, der nur aus eigenem Erleben hervorkommen kann. Die Suche nach Altazor war die Suche eines Altazor. Aber ich glaube fest daran, daß die innersten Gefühle des Künstlers zugleich die Resonanz der Gefühle aus der Phantasie eines anderen sind. Ramón Griffero (1953) Werke: Ópera para un naufragio (1981); Altazor-Äquinoktium (1982); Recuerdos del hombre con su tortuga (1982); Historias de un galpón abandonado (1983); Un viaje al mundo de Kafka (1984), Fassbinder (1985); Cinema-Utoppia (1985)'; 99 La Morgue (1986); Fotosíntesis-Pomo (1988); Éxtasis o la senda de la santidad (1993); Río abajo (1995); Brunch (1998); Las copas de la ira (1999).

„Cinema-Utoppia", deutsch von Bernd Kage, in Theaterstücke aus Chile (Adler, Hurtado 2000), S. 147-172;

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Personen: Er - Herminde - Aurelio - Marguerite - Der Weise. Einige Hinweise zur

Handlung:

Fünf Personen... fünf Personen auf der Flucht... fünf Personen, zurückgelassen an einem verwahrlosten Ort, beginnen eine Tragödie zu spielen. Es befinden sich immer alle Personen auf der Bühne. Im Verlauf der Handlung entwickelt jede Person ihre eigene unausgesprochene Welt. Die Personen sind einfach da, zurückgelassen mit ihren Habseligkeiten. Die Handlung soll immer erstaunen... die Spannung nimmt zu. Die Personen erschaffen das Bühnenbild der Tragödie aus den Elementen des ursprünglichen Bühnenbildes. Steigerung von SchwarzWeiß zu Technicolor. Der Text kann im Widerspruch zum Bühnengeschehen stehen. Die Rolle der Marguerite wird von einem männlichen Schauspieler gespielt. Die Groteske wird verwendet wie „das Vergrößerungsglas unserer Wirklichkeit, wie die klarste Form von Tragik." (V. Meyerhold) ER

bewegt sich auf einem Brett mit Rädern vorwärts, ist mit Tätowierungen übersät Welch tiefe Stille hat sich zwischen seine Flügel gebreitet, sie sagten, es sei die Zeit, in der das Böse käme. Doch diese Stille. Es war nicht gerecht. Man spürte einen seltsamen Geruch, als sie ihn hinuntertrugen. Haltet ihn fest! ... Haltet ihn fest! Doch das Seil war gerissen. Wohin ist er gefallen? Wohin ist er bloß gefallen? Von all dem ist nichts geblieben, und ich stehe hier mit einer Schlinge dieses Seils... nichts als einem Stück Seil. Doch welche Stille und dieses Seil. HERMINDE auf ihrem Bett, liest einen Fotoroman Wann, wenn nicht für den Winter, soll ich denn stricken... Wann? Ach, Aurelio, wenn nicht für den Winter. AURELIO zimmert seinen Sarg Du vergißt nicht, um was ich dich gebeten habe..., du vergißt es nicht, du hast es mir versprochen. HERMINDE Nein... Nein... ich muß noch die versilberte Nadel kaufen. AURELIO Ja..., ja, silbern, und täusche dich nicht. HERMINDE Und ich, wer wird mir die Nadel hineinstechen... Wer? AURELIO Sie soll lang und dünn sein, aber aus Silber. Sie muß aus Silber sein.

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HERMINDE Zum Glück gibt es noch Winter. So kann man sich freuen, wenn der Frühling kommt... Wir freuen uns darauf, nicht wahr, Aurelio? AURELIO Mir fehlen Bretter..., lange Bretter. Komm, wir müssen welche auftreiben... komm doch. HERMINDE Ich bin müde, Aurelio. AURELIO Nein, sie werden mich nicht lebendig begraben! ER Zwischen Morast und Schlamm. Sie wagten es, ihn zu suchen; in den Spinnenwinkeln und Vampirhöhlen glauben sie ihn zu finden. Doch die Mauer, die Mauer, sie ist geblieben. Man hätte ihn nicht suchen dürfen, niemals werden sie ihn finden. NIEMALS. MARGUERITE seilhüpfend Mama... Mama... Wo sind die Wölfe? Ach, Mama, wo sind die Wölfe, Mama... die kleinen Wölfe, wo sind sie, Mama...? HERMINDE Weine nicht, Marguerite... Marguerite! Weine nicht. MARGUfiRlTE Die kleinen Wölfe, Mama. DER WEISE ordnet viele kleine Glühlampen, die in einem Gitter stecken Wölfe, seltsame Rasse in vielerlei Hinsicht, hmmm, nun ja. Sie tun ihre ersten Schritte in einer Ära, die von der Geschichte als eine katastrophale Epoche der Zivilisation, also der Menschheit betrachtet worden ist. Nämlich, während Rom unter dem verteufelten Schatten der Barbaren in Luxus und Ausschweifung seinen Untergang spielte... zeigte der Wolf auf den schroffen Gipfeln des Vesuvs die ersten Anzeichen seiner künftigen fürchterlichen Wildheit, wie man heute sagt. Oh, meine Kinder, befragt mich nicht über das Unheil von gestern. Denn... Er kann nicht fortfahren, weil er seine Hand nicht mehr unter Kontrolle hat. ER Hier bringe ich ihn mit, wie ich ihn gefunden habe. Schon verwester Kadaver, schon verfaultes Fleisch. Doch seine Haut hat ihre Sanftheit bewahrt, wie ein frisch polierter Kristall. Und seine Hände, seine feinen Finger. So fein... wenn sie mich streichelten, waren sie wie Meeresalgen, wilde Algen eines tobenden Ozeans... STEH AUF. Erzähle ihnen, wie du im Kampf gegen die Nacht die Morgenröte verteidigt hast, wie du einem Tyrannen den Kopf abgeschlagen hast. Erzähle es ihnen, damit sie es wissen. So vieles wird verschwiegen. Man verschweigt so vieles, und so vieles meint man zu hören, daß unsere Augen nichts mehr empfinden. Held, verfaulter Held, dir werden sie glauben. Steh auf... STEH AUF, träume nicht weiter. Komm zurück und zeichne einen Blitz in die Berge.

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Komm zurück und brenne die vergifteten Wälder nieder. Komm zurück und zerstöre die weißen Mauern, die großen weißen Mauern. Komm zurück und präge deinen Umriß in den Horizont. Schau, wie leer das Tal ist und wie langsam die Flüsse fließen... so langsam. Komm zurück und strecke deinen Körper aus auf dem Grau. Komm zurück und lege deine Lippen auf mein Geschlecht. AURELIO Glaubst du, man muß ihn anstreichen... Man muß ihn wohl anstreichen, oder? HERMINDE Aurelio, niemand wird die Farbe sehen. AURELIO Wie bitte! Niemand wird sie sehen? Du wirst doch zumindest eine kleine Zeremonie abhalten? HERMINDE Ja, Aurelio. Aber wer wird kommen, wer? AURELIO Das ist unwichtig... das ist unwichtig. Irgendjemand, der gerade vorbeikommt. Aber welche Farbe, welche Farbe? ... Und vergiß nicht, erst stichst du mir die Nadel ein, dann wartest du, vier Stunden, nicht länger, nicht länger. Danach hier, dreißig Milligramm, eine halbe Stunde später... Hier dreißig Milligramm, zeigt ihr die Vene am anderen Arm Du hast schon die Spritze? HERMINDE Ja, Aurelio... AURELIO Und das Öl. Du vergißt nicht das Öl. HERMINDE Nein, Aurelio. Laß uns schlafen gehen, es ist schon spät und es beginnt, kühl zu werden. A U R E L I O Ja, ja, noch fünf Bretter und die Farbe, aber welche Farbe? DER WEISE Das ist wirklich eine schwerwiegende Entscheidung... Man kennt überhaupt nicht... AURELIO Ja, aber welche Farbe? DER WEISE Seht nur, zu Zeiten der Regierung des Königs Midcalia ummantelte Blau den Sarg der Mörder. Rosé den der Huren, Amarantrot den der Kinder... Rot war dem König vorbehalten... Oh, welch schöne Begräbnisse hatten wir in jener Zeit. AURELIO Nein, sie werden es nicht tun. Als man sie fand, war sie noch warm, ihre Fingernägel waren in ihr Gesicht gekrallt, die Haare weiß vor Entsetzen. Die ganze Nacht über war ihr Stöhnen zu hören, keiner wollte hingehen, keiner. Wenn man Angst hat, versteckt man sich, und sie glaubt, sie... HERMINDE Aurelio! Hör auf, alle kennen deine Geschichte. Komm, Aurelio, laß uns tanzen wie auf den Frühlingsbällen. Komm... MARGUERITE Mama, Mama, wie sind die Paläste, Mama, ach, die grossen Palästen, wie sind sie, Mama?

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Die Paläste, hmmmnn, sie sind groß wie die Türme von Babel. Sie sind traurig wie der Tod von Ernypolus auf den Felsen von Calusistrenia. Man baut sie aus Steinen, schweren Steinen, dort stinkt es nach Inzest und Gold. Es gibt keinen einzigen Winkel für die Weisheit. ER An diesem Ort hier haben sie ihren Turm gebaut, ihren Ausguck auf den Horizont, von hier aus glaubten sie die Ankunft der Schiffe zu sehen, aber die Segel haben nie ihre Küsten berührt. Ich habe gesehen, wie der Turm zerstört wurde, und ihre Tränen auf den Ruinen. Und dann sind sie gekommen und haben die Mauer hinterlassen. Die Mauer ohne Risse. HERMINDE Aurelio, ich kann bei deinem Lärm nicht lesen. DER WEISE Ich bin der gleichen Auffassung, ich vermag nichts mehr zu erkennen. Ach, aber welch großartiges Holz... Hmmnnn, wilde Zeder. Ihr werdet mit diesem Duft unter der Erde sein... Hmmnnn, das gibt Hoffnung, nach diesem düsteren Raum. AURELIO Aber nein, ich kann den Duft nicht riechen. Ich darf nicht. HERMINDE Ich finde es auch düster, aber der Frühling wird kommen. DER WEISE Der Frühling bringt immer nur verlorene Hoffnungen. Wieviel unheilvolle Frühjahre gab es in der Geschichte, als man die Weisen auf öffentlichen Plätzen verbrannte, als man die Propheten umbrachte und Kinder massakrierte, wieviel Hunger und Schrecken hat der Frühling gebracht. Es ist wahr, daß es düster ist. MARGUERITE Mama... Mama, wie viele Tage habe ich... Ach, Mama, wieviel und Er, wieviel... Ach, Mama? HERMINDE Ich weiß nicht, Marguerite... Ach, hör auf zu weinen, ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht mehr. Ich weiß, daß ich sehr gelitten habe, und dann... Uff, die Erinnerungen ermüden mich. DER WEISE Sie haben Unrecht, großes Unrecht, Madame. Seit zwanzig Jahren lebe ich allein, und, glauben Sie mir, es ist dank meiner Erinnerungen an damals, als ich mein Laboratorium hatte, damals, damals, als es noch nicht so düster war, in einer Epoche, als man auf den Straßen Geige spielte und... HERMINDE Ja, das weiß ich, erzählen Sie nicht weiter, lassen Sie mich lesen. DER WEISE Wir sollten etwas tun. Wir warten doch nicht, bis es hell wird. Die Christen hatten ihren Spaß in den Katakomben, die Griechen in der Dunkelheit der Tempel. Die Inka beteten zum Mond. Und wir, wir könnten ebenso gut etwas tun. Die Dunkelheit bietet auch ihre Freuden. MARGU£RITE hat einen epileptischen Anfall Sie wollten es nicht, Mama... Sie wollten nicht. DER WEISE

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Beruhige dich, Marguerite, beruhige dich. Sie haben es nie gewollt, werden es nie wollen. Als sie kamen, haben sie große Ziegelsteine gelegt, und Zement und wieder Steine. Dein Gesicht verschwand langsam hinter dem Grau. Ich mache ein Zeichen, und du bist vielleicht noch da. Versteinert in Erwartung der Wärme, die dich in Bewegung setzen wird. DER WEISE Das erinnert mich an die Marter der Erminiginda im Klosterhof von Sankt Cornelius, zwei Männer in Rot zerrten an ihr, ihre Brust durchdrang die Nacht, Fackeln erleuchteten die Nische, in die man sie gestellt hatte. Die Nonnen schlichen durch die Gänge und murmelten das Sanctus und Orbe. Ein Mann in Mauve glättete das Pergament, während die Ziegelsteine aufeinander geschichtet wurden, einer nach dem anderen, das harte Geräusch ließ mich vor Schmerz aufheulen... So schreie ich, sie blieb ruhig und dann haben sie mich mitgenommen. Kommen Sie, Doktor, Sie haben ein schwaches Herz. Haben sie gesagt. AURELIO Hören Sie auf, hören Sie auf, lebendig Begrabene, immer lebendig Begrabene. Ich habe meine Vorkehrungen getroffen. HERMINDE Komm her, Aurelio, komm und lies mit mir. Sieh nur, wie schön sie ist, aber er liebt sie nicht, weil sie arm ist, hör zu: Rose: Ferdinand, was immer das Schicksal für uns vorgesehen hat, ich werde dich immer lieben, er betrachtete sie mit Schaudern von der Türschwelle aus, und nach einer Minute des Schweigens schloß sich die Tür, Rose wirft sich auf die Kissen und weint bitterlich, sie wußte, daß sie ihn nie wiedersehen würde. Daher nahm sie Ferdinands Foto, während ihre Tränen langsam wie Kristalltropfen herunterrannen. Ach, Aurelio, wie traurig. Sag, du wirst mich nicht allein lassen, du wirst nicht das gleiche tun wie Ferdinand. Nicht wahr, Aurelio! AURELIO Es ist wahr, hier ist es dunkel. DER WEISE Z U diesem Thema habe ich mich schon geäußert, aber niemand will auf mich hören, wir könnten... Die Handlung stoppt. Alle Personen schauen Marguerite an, die mit Holzstücken spielt. Sie hat ein Schloß gebaut. MARGU£RITE Der König, tipp, tipp, tipp, der König... und die Königin, tapp, tapp, tapp. AURELIO nimmt den Gegenstand, der den König darstellen soll Ich werde ein echtes Schloß bauen, ein echtes Königreich. Wir werden uns gegen die Dunkelheit wehren. Ich bin König... ich bin König. Los, los, das wird mein Schloß sein, er nimmt das Bett und dies meine Krone, er nimmt eine Vase und meine Roben nimmt den Bettüberwurf.

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DEP, WEISE nimmt einen alten Scheinwerfer und stellt ihn sich auf den Kopf Ein Weiser für das Königreich. Ein Weiser. Gertule, Euer Berater, Mylord. HERMINDE Oh weh, was soll ich bloß anziehen, Aurelio, du hast alles genommen. MARGU£RITE Und ich, Mama? Und ich? Ist das schön, Mama, ist das schön? HERMINDE Komm, Marguerite, zieh das an. Du spielst das kleine arme Landmädchen. Die Tragödie ER

Heute warten wir darauf, ihre Freude zu betrachten, ihre winzigen Ambitionen. Die Mauer steht noch da, robust und heil. Oh, du mein Held, du wirst geboren werden, aber niemandem als mir gehören. Nur mir deine ersten Küsse, für mich deine Stimme und dein Samen. Nur mir deine Freude und dein Haß, du gehörst nur mir. GERTULE Wieder einmal hat das Universum uns verraten. Das Stöhnen einer Frau. Es ist die Niederkunft. Sie schreit: Altazor. GERTULE Oh. Merry, merry kingdom... Es ist ein Junge, Mylord, es ist ein Junge. DER KÖNIG außer sich vor Freude Die Vorhersagen, die Vorhersagen, beeilen Sie sich, Gertule, bevor sich die Planeten ändern. Schnell, lesen Sie in den Sternen. GERTULE holt seine Instrumente hervor Das ist merkwürdig, Mylord, sehr merkwürdig. Nie gab es eine solche Konstellation, nie überlagerten sich Neptun und Mond. Das ist merkwürdig, ein so heller, so fügsamer Himmel. Man könnte meinen, ich könne ihn ergreifen. DER KÖNIG Ja, ja, aber welche Vorzeichen für uns? Für Altazor? GERTULE Oh, Mylord, welch boshafter Himmel. Oh, nur unheilvolle Vorzeichen. Nie gab es einen grausameren Himmel für einen von uns, nie einen feindseligeren für unser Reich. DER KÖNIG Hör auf, hör auf. Sprich kein Wort mehr. Du irrst, du hast dich übrigens schon immer geirrt, verdammter Gertule. Laßt Laura holen, Laura wird zu sprechen wissen. LAURA Oh, wie köstlich, wieder in den Palast zu dürfen, mein Gebieter, welch Privileg für mich. Die arme Laura. DER KÖNIG Träume für mich, Laura, und befrage deine Dämonen nach dem Geschick meines Reiches und meines Sohnes.

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Laura hat einen epileptischen Anfall - ein Gewitter kommt auf und Trugbilderfüllen die Bühne. DER KÖNIG Ich habe verstanden. Hör auf, hör auf. LAURA Oh, was hat die arme Laura nur alles gesehen. Oh welch unendliche Finsternis hat sie gesehen. DER KÖNIG Himmel und Hölle haben ihr Urteil verkündet. Ich vollstrecke es lediglich. Gertule... er soll erwürgt werden. Sein Körper verbrannt und seine Asche im Meer zerstreut werden. GERTULE Erbarmen, Mylord... Erbarmen. D A S V O L K (Laura und Herminde) Erbarmen... Erbarmen. DER KÖNIG Ich tue es nur zum Wohle meines Volkes und des Reiches. Tanz des Todes - Totenchor. Ein erdrosseltes Kind Eine weiße Mauer Ein dunkler Himmel, das ist unser Reich. Der Tanz wird von Marguerite unterbrochen. MARGUERITE Wie sehen Blinde, Mama? He, wie sehen sie? HERMINDE Marguerite, bitte! MARGUERITE Was sehen sie, die Blinden, Mama? Stimmt es, daß diejenigen blind sind, die ihren Blick abgenutzt haben? HERMINDE Marguerite, bitte! MARGUERITE Mama, werden wir alle blind werden, werden wir alle... HERMINDE Marguerite, weine nicht, weine nicht, Marguerite. DER WEISE Die Blinden, messianisches Geschlecht, haben die Morgendämmerung in fernen Zeiten gesehen. HERMINDE Sieh nur, Marguerite, alles ist in Unordnung und Aurelio... Wohin ist er gegangen...? Aureliooo... DER WEISE Unsere frühsten Belege stammen aus dem Zeitalter der ersten Hieroglyphen. Man hat sogar das Vorhandensein von Blinden zu Zeiten der Dinosaurier nachgewiesen. Jaja, die Frühgeschichte. Pharaonen, pardon, Pyramiden. Wir verfügen über Hinweise auf die Existenz von Blinden, die so geboren wurden, und von anderen, die es im Laufe ihres Lebens geworden sind. Diese können wiederum unterteilt werden in durch Gewaltanwendung Erblindete, also durch Außeneinwirkung... seine Stimme schwankt, seine Hand beginnt, sie zu würgen. HERMINDE Man hat mein Bett und meinen Roman genommen. Was soll ich jetzt tun? Aurelio ist nicht mehr da. Wer wird die Nadel hineinstoßen? Es ist immer noch dunkel und kalt. DER WEISE Wirklich erbärmliche Zeiten, Zeiten ohne Licht. Einzug des Königs mit Pauken und Trompeten.

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DER KÖNIG Freuen wir uns, freuen wir uns, meine Vasallen, wir haben die Sterne besiegt, glorreiche Jahre erwarten uns. Laßt uns feiern, unsere Freude. Aber was ist los? Aber warum seid ihr betrübt? So dankt ihr die Sorge, die ich mir um euch mache. Stumpfsinnige Masse! Willenlos. Ich hasse euch, hasse euch... Euer Blick macht mich krank, der Anblick eines Schweines ist zufriedenstellender, nichts als schmierige Hände, nichts als schwielige Füße. Schwachköpfe! Zeigt mir ein einziges Königreich auf dieser Erde, wo sich die klaren Quellen auf den Straßen ergießen. Wo Wein wie Wasser fließt, Fleisch und Früchte aus den Fenstern quellen. Nennt mir einen König, der seinen Sohn dem Wohl seines Volkes geopfert hat. Doch ihr wollt keine Freude und auch nicht die Zeiten des Glücks feiern. Nun denn, so werdet ihr in den Genuß der Zeiten des Unglücks kommen. Da ihr das Schweigen dem Lachen vorzieht, werdet ihr euch eben an eurem Schweigen erfreuen. Die Zeit der Stille. Die Personen sind erstarrt - der König schaut von Zeit zu Zeit aus seinem Fenster. Die Zeit vergeht. Er altert. DER WEISE Das ist nicht mehr zu ertragen. Psstt. ER Ich beginne, ein Murmeln zu hören... das ist das Ende der Stille... das ist das Ende der kalten Töne. Und draußen, was geschieht da draußen? DER WEISE Komisch, komisch, grausige Dinge folgen aufeinander, Grausamkeiten, Grausamkeiten. Und niemand hat es gewagt. Ich bin alt, aber trotzdem, geht zu Marguerite Mademoiselle, haben Sie von den schrecklichen Strafen gehört, die auf den Befehl des Königs folgten? MARGUERITE Haben wir einen König, Mama, stimmt es, daß wir einen König haben, ach, Mama? DER WEISE Grausame Strafen, wir müssen uns zusammentun. HERMINDE Wo ist Aurelio, ich warte auf ihn, wir müssen die Farbe finden. Wir müssen hier raus. DER WEISE Briefe schreiben, verstehen Sie. HERMINDE Er müßte kommen. Wohin ist er? DER KÖNIG Nichts als Seuchen, Krankheiten, Fäulnis. Und ich drauf und dran, mich für sie zu opfern. Warum? ... Warum? So viel Leiden, so große Last auf meinen schmalen Schultern. Ich bin schwach, schwach. Ich bin nur ein Mensch, nichts als ein einfacher Mensch. GERTULE Mylord, Mylord. Das Volk, Mylord. Es schreit. DER KÖNIG Vor Freude, schreit das Volk vor Freude? GERTULE Ja, ja, sie verkünden, daß Euer Sohn Altazor am Leben ist.

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Altazor lebt! ... Und meine Befehle, Gertule, meine Befehle, w o gibt es eine Seele, die so viel Pein ertragen kann? G E R T U L E Welche Pein, Mylord? D E R K Ö N I G D U begreifst nicht, niemand begreift es, wozu, Gertule, wozu dient dann diese Sprache? Wenn alle Silben, die sie hervorbringt, nicht einmal ihren schwachen Laut übersteigen. Wie soll ich dann aus diesem Reich einen strahlenden Stern machen? Wenn meine Befehle, Gertule, wie Planeten verblassen, die aus der Umlaufbahn geraten sind. Sie zerschellen gegen Mauern und dort erlöschen sie. Nichts, nichts gelangt aus diesem Raum heraus. Du verstehst, Gertule, du verstehst, wie könnte ich die Liebe meines Volkes erlangen, wenn es mich nie verstanden hat. Oh, mein Volk, mein verwaistes Volk, dein König hat das Licht gesehen. G E R T U L E Oh, Mylord, Mylord. Unwetter - der König zerstört sein Schloß und zerreißt seine Kleider. Das Volk nimmt seine Tätigkeiten wieder auf. DER KÖNIG

Die Gymnastik und H E R M I N D E Und eins und zwei, und eins und zwei, rechts und links und rechts und links, Brust raus, usw. LAURA Gestern zur Dämmerstunde besuchten Dämonen den König, sein Zimmer verwandelte sich in eine riesige Lichtkugel. Und Flammen schlugen aus den Dielenbrettern. Da wußte er, daß Altazor am Leben ist. Von Ferne sah man den Palast umgeben von einem Lichtkreis. In den ersten Morgenstunden sah man ihn wie einen Büßer hinaustreten, nur mit einem Blinden als Führer. Er ist aufgebrochen, Altazor wiederzufinden. MARGU£RITE W O ist Altazor, Mama? Wo ist er, ach, Mama? HERMINDE Weine nicht, Marguerite. Weine nicht. Aurelio, wo bist du? Warum versteckst du dich vor mir, wir wollten uns doch freuen, wenn der Frühling kommt. Aurelio komm zurück... Altazor, ja, Altazor, finde du meinen Aurelio. ER Das war das letzte Mal, daß meine Hände sich verkrampften, als sie ihn spürten. Die Luft war grau und eine blaue Brise wellte sein Haar. Und ein Schweigen, das Schweigen der Lust. Er schlief, seinen Körper im Laub ausgestreckt, und ein Lichtstrahl streichelte ihn, langsam setzte ich mich an seine Seite, und meine Hand fuhr über sein langes Haar und seine Brust, seine weiße Brust unverständliche Schluchzer, er endet, wenn es ihm kommt. Im Hintergrund sieht man den König als Büßer, der Altazor sucht. MARGUERITE

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DER WEISE Wir befinden uns in einem unerträglichen Dilemma, nichts ist mir mehr verständlich, blättert in seinen riesigen Enzyklopädien Alles ist merkwürdig, zu merkwürdig. Ja, ja Mylord, was wird aus einem König? Nein, nein, Altazor am Leben? Wer ist denn Altazor? Wir sind verloren, wir sind zu schnell, viel zu schnell. Ein Anfall. LAURA Man erzählt sich, sein Gesicht habe die Farbe des Weizens. Er habe Hände wie Gewitterwolken, und seine Stimme sei langsam und durchdringend wie eine warme Brise. Seine Augen leuchteten wie Saphire, seine Haare seien schwarz wie Kohle und alles um ihn herum sei ein Lichtschein. Oh Laura, glaubst du, daß er deine Hand nehmen und seine Lippen auf deine Stirn legen und in dein Ohr flüstern wird: „Folge mir, ich habe dich unter allen erwählt, du wirst meine Prinzessin sein." Oh Laura, du träumst, Verrückte, du träumst. Du weißt gut, daß kein Mensch etwas von der armen Laura will. Weine nicht, Laura. Weine nicht. HERMINDE Weine nicht, Marguerite, weine nicht, Marguerite. ER Sagt mir, habt ihr Altazor schon gesehen? DER WEISE Niemand hat ihn gesehen, wir wissen nicht, wo er ist. Ich warte darauf, ihn zu sehen, wenn möglich, ihn zu sprechen, aber wirklich. Ich will, ich will, daß er uns hier herausholt. Ich kann nichts tun, alle meine Forschungen und Untersuchungen. Sie haben mir mein Laboratorium zerstört, sie haben meine Bücher verbrannt. Ja, ja, er muß kommen. Die Mauer muß zerstört werden. ER Kann man die Mauer überwinden? HERMINDE Wenn es nicht Winter ist. Ähh. Ich hoffe auch, daß man ihn findet, er wird uns herausholen, ich werde Wolle kaufen können und die Nadel, denn die Nadel, die ich habe, ist nicht aus Silber. Pssst, Aurelio kann mithören... Aurelio, wohin ist er gegangen? Altazor, Altazor, finde du meinen Aurelio! MARGUERITE Auch ich möchte, daß er kommt, auch ich, Altazoor... Altazoor... DER KÖNIG Ihr erkennt mich gar nicht. Ich bin Euer König, der als Büßer verkleidet versucht, das Übel abzuwenden, das die Sterne mir zugefügt haben. HERMINDE Habt Ihr Altazor schon gefunden? DER KÖNIG Nein, nein, aber es gibt keinen Winkel in meinem Reich, wo ich nicht gesucht hätte. Ich bin allen Spuren und allen Schatten gefolgt, vergebens, vergebens. HERMINDE Oh, mein König, von Ferne wirkte der Palast so traurig, so traurig.

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DER KÖNIG Komm und laß uns unsere Kräfte einen, laß uns ihn gemeinsam suchen. Altazor, dein König, dein Vater, bittet dich um Vergebung. Altazor, dein Volk fleht dich an zu kommen. Altazor, dein Königreich wartet auf dich. LAURA Wir wissen, daß du da bist. Versteck dich nicht länger, komm heraus, komm heraus. HERMINDE Aurelioo, Aurelioo, Altazooor. ER Er wird kommen, ich fühle, daß er kommen wird. GERTULE ES müßte ein Zeichen am Himmel geben, das würde genügen, um ihn zu finden, es müßte wirklich eins geben. HERMINDE Ich bin müde, Aurelio, ich bin müde. MARGUERITE Mama, leg dich hin, Mama. GERTULE Wir werden ihn finden, Mylord, wir werden ihn finden. DER KÖNIG macht ein Zeichen, um den Marsch anzuhalten, sie schlafen ein. Erwachend Sie haben mich lebendig begraben, ich war am Leben, es war dunkel und ich erstickte, sie hatten die Spritze vergessen. Sie haben alles vergessen, vergessen. LAURA hat einen epileptischen Anfall Gertule, Gertule, wecke den König, verkünde, Gertule, verkünde. GERTULE Meine lieben Kollegen, heute Abend erleben wir einen außergewöhnlichen Augenblick der Wissenschaft. Ich bin gekommen, Ihnen zu erklä... LAURA Kommt, kommt, die arme Laura hat Altazor gefunden. Laura hat ihn am Eingang des Waldes gesehen. Er war ganz in Rot umgeben von einem Lichtschein. Er bewegte sich, ohne den Boden zu berühren. Er wirkte traurig, sehr traurig. Dann näherte er sich der armen Laura und sagte ihr: Laura, ich bin es, Altazor, ich habe gehört, daß Ihr mich sucht. Ich bin hier, sie können kommen. GERTULE weckt den König Mylord, Mylord. Das ist der erwartete Tag, hört die Neuigkeiten, die größte Neuigkeit. Die schönste seit der Eroberung Clausistrenias. Seht den Himmel, Jupiter lacht und Saturn strahlt wie nie zuvor. DER KÖNIG Verständigt meine Frau, sie soll sich bereit machen, verständigt meine Frau und meine Vasallen. Bringt die stärksten Pferde und meine schönsten Kleider herbei. LAURA Ich bin es, die arme Laura, die zu ihm gesprochen hat. Sie erzählt unzusammenhängend von der Begegnung. HERMINDE macht sich bereit Aurelio, komm, Aurelio, man hat Altazor gefunden, beeile dich, wir müssen ihn holen. Aurelioo, warum versteckst du dich? DER WEISE Wir müssen reagieren, wir lassen zuviel mit uns machen.

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HERMINDE Ich warte auf dich, ich möchte den Winter nicht ganz allein verbringen. DER WEISE Nun gut, ich habe verstanden, ihr weigert euch, auf mich zu hören. Nun gut, ihr könnt verrecken. Das ist mir egal. Aber sollten wir uns wieder treffen, dann erwartet nicht von mir... Nein, nein, zum Zeitpunkt des finalen Schreis werdet ihr eure Rollen fressen, erwartet dann nicht, daß ich... Von Mund zu Mund verbreitet sich die Neuigkeit im Volk. ER Sagt ihm, Altazor, Sohn des Königs, habe die Sterne besiegt, er ist am Leben, er wird die Mauer niederreißen. HERMINDE Marguerite, Altazor ist am Leben. DER WEISE Altazor lebt! Das Volk im Freudentaumel - Karneval Was ist los? Das Volk feiert? Was feiert es denn? Dummköpfe, immer verspätet, das Fest hat vor zwanzig Jahren stattgefunden. Dummköpfe. Aber sie reden, sie lachen. Über was? Normalerweise ist es verboten, die Lippen zu bewegen. Das ist die Seuche. Ja, das ist es. Die Seuche, sie vermögen nichts weiter herzustellen als... LAURA Gestern zur Stunde der Vesper habe ich mich neben ihn gesetzt, man wird lebendig begraben, ich war lebendig, ich erstickte, sie hatten vergessen... epileptischer Anfall Gertule, Gertule? GERTULE Welche Freude, mein König, Euer Sohn erwartet Euch. Welche Freude für das Volk. Die Mauer wird besiegt werden. Das ist das Ende! Das ist das Ende! Alle machen sich schön und bereiten die Geschenke, die Prozession zieht los, Laura an der Spitze, der König in seiner Sänfte, usw. GERTULE W o ist es, Laura, w o ?

LAURA Wir sind gleich da, wir sind gleich da. Dort ist es, dort, wo das Gras verbrannt ist. DER KÖNIG Altazor, wir sind gekommen, dein Volk ist gekommen. Dein König, dein Vater bittet dich um Vergebung für seinen furchtbaren Irrtum. Altazor, komm zurück, unsere Geschicke zu lenken, komm und mach aus diesem Reich das größte, das jemals das Universum gesehen hat. Oh, Altazor, wir sind so glücklich. Komm, komm, man erwartet dich. Nur du kannst uns befreien und hast die Kraft, die Mauer zu besiegen. Altazor, komm, bevor sie hier sind. Sie kommen in zehn Minuten. Sie werden kommen. Du mußt herauskommen. HERMINDE Altazor, hab keine Angst, komm. DER KÖNIG DU verstehst uns, Altazor, du hörst uns, es ist dein Volk, das dich anfleht. LAURA Warum kommst du nicht? Ach, Altazor, gestern hast du es mir versprochen. Du hast es mir versprochen.

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vergeht. Laura, du hast uns betrogen, du hast deinen König und dein Volk belogen. Du hast uns etwas vorgemacht. LAURA Aber, es ist wahr, es ist wahr, er hat zu mir gesprochen, er hat mich angefleht zu kommen. Vielleicht will er nur mich. Ja, das ist es. Versteckt euch, ich werde in den Wald gehen, und er wird herauskommen. Altazor, Altazor... Aber versteckt euch doch, und er wird herauskommen. Altazor, ich bin ganz allein, komm, komm, Altazor. Komm und sag mir schöne Dinge wie gestern. K o m m und zeig ihnen, daß Laura nicht lügt. Laura hat nie gelogen. Sie wird wieder Marguerite. Mama, stimmt es, daß Laura nicht lügt? Stimmt das, Mama? HERMINDE stößt sie zurück Aber, was will sie nur, diese Göre. Ich kenne sie nicht. Ich und Aurelio haben niemals Kinder gehabt, laß mich, laß mich. DER KÖNIG Laura, du hast uns belogen, du hast uns ganz falsche Träume gegeben. Du hast uns Hoffnung gegeben. Ich glaubte, meinen geliebten Sohn zu treffen. Laura, ich konnte nicht schlafen, weil ich an ihn dachte. Ich habe nur auf diesen Tag gewartet, und du hast mich betrogen. Tochter des Volkes. Du hast nicht nur einen König betrogen, du bist des Verrates an deinem Lande schuldig. Verstehst du, Laura, du hast uns verraten, und du mußt bestraft werden. Ich verurteile dich dazu, deine Reise in meinem Reich zu beenden, jemand anderes wird dich aufnehmen, aber du darfst ihn nicht verraten. Recht soll walten. LAURA Nein, nein! Die arme Laura wollte Euch nur eine kleine Freude bereiten. Erbarmen. Lauras Hinrichtung HERMINDE Man hat meine Tochter getötet, sie war doch nur ein kleines Mädchen. Marguerite, hör auf zu spielen, hör auf zu spielen. GERTULE Die Vorzeichen haben sich nicht getäuscht. Ich werde nicht mehr den Himmel betrachten, der Himmel ist uns böse, man sollte ihn bestrafen. Betrachten wir nur noch unsere Erde. Sie ist die einzige, die uns Leben geben kann. Oh unsere Erde! Ich hätte den Zeichen folgen sollen... DER WEISE Die Geschichte und die Wissenschaft haben uns viel erstaunlicherer Beispiele gegeben, als Sie, meine lieben Zuhörer, sich vorstellen können. In diesem Fläschchen befinden sich Bakterien. Es bleibt noch etwas Zeit, bevor sie kommen. Sie werden kommen, und sie sollten uns hier nicht finden. Und die Mauer, die Mauer ist noch nicht gefallen. DER KÖNIG

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Ramón

ER

Griffero

Ich w e r d e A l t a z o r s u c h e n gehen, ganz allein. Sie wissen nichts von u n s e r e m g e h e i m e n Pakt. O h , Altazor, w i r w e r d e n u n s lieben, uns lieben. Sie w e r d e n g e b l e n d e t vor dir niederfallen. Beeile dich, sie k o m m e n in kurzer Zeit, wir m ü s s e n uns befreien, bevor sie... HERMINDE A u r e l i o , k o m m , A u r e l i o , m a c h e n wir u n s bereit, sie sind gleich da, k o m m Aurelio. Ich h a b e d e i n e silberne Nadel. Aurelio. U n d Marguerite, w o ist sie hin, diese Göre... Sie sind gleich da! Chaos, sie machen sich bereit zur Flucht. DER KÖNIG U n s bleibt so w e n i g Zeit, so wenig. Diesmal werden wir uns schlagen, w e r d e n wir uns befreien. Ich w e r d e mein Volk anführen. HERMINDE DU k a n n s t nicht o h n e A u r e l i o f o r t g e h e n . Das k a n n s t du nicht, du hast es versprochen. DER WEISE M a n k o n n t e e i n m a l m e i n L a b o r a t o r i u m n i e d e r b r e n n e n . A b e r dieses Mal, nein, nein. Die kriegen mich nicht. Die kriegen keinen, wir w e r d e n die M a u e r zerstören. Ich w e i ß einen A u s w e g . Ich w e i ß , w i e w i r sie b e s i e g e n . W i r w e r d e n die M a u e r zerstören und uns alle befreien, sie w e r d e n schon sehen, ja, ja. HERMINDE Er m u ß zurück k o m m e n , ich w e r d e hier auf ihn warten, wir waren i m m e r hier, er wird k o m m e n . DER KÖNIG Sie w e r d e n w i e d e r k o m m e n . Es ist Zeit, m a n wird uns Fragen stellen, sie w e r d e n mir m e i n e n Palast w e g n e h m e n , sie w e r d e n m e i n V o l k q u ä l e n , sie w e r d e n m e i n R e i c h z e r s t ö r e n . Nein, nein, diesmal w e r d e n w i r W i d e r s t a n d leisten. U n d w e n n sie mich fassen. Ich w e r d e s c h w e i g e n , kein Wort, aber deine Zunge, deine Z u n g e hat dich i m m e r verraten. Sie bringt Verderben über deinen R u h m , sie ist es, die w a h r e Schuldige. Du hast mich leiden lassen, zu sehr leiden. Du bist es, die bestraft w e r d e n muß. Er schneidet sich die Zunge ab. GERTULE O h w e h , M y l o r d , w e l c h ein W a h n s i n n , w e l c h ein W a h n s i n n , M y l o r d . Ich w e r d e das Volk befreien. Ich weiß, wie m a n die M a u e r zerstört, k o m m t mit mir, k o m m t alle... Sie nehmen den sterbenden König mit und brechen auf zur Mauer. HERMINDE Ich w e r d e m e i n e n A u r e l i o w i e d e r f i n d e n , schnell, schnell, zerstört die M a u e r , schnell sie k o m m e n gleich. Große Explosion. Herminde, der König, Gertule fallen am Fuß der Mauer. ER Es hätte nicht geschehen dürfen, sie werden ihn nie finden. Niemals. Sirenen. Aus Lautsprechern hört man: MÄNNERSTIMME W i r hätten früher eingreifen m ü s s e n . FRAUENSTIMME W i r h a b e n es zu spät bemerkt. MÄNNERSTIMME ES w a r trotzdem lustig. FRAUENSTIMME M a n wird wieder alles putzen müssen. MÄNNERSTIMME

O h ja, d a s m u ß m a n wohl.

Carlos Cerda Die Zwillinge von Calanda oder

Über einige Gesetzmäßigkeiten bei der Entwicklung politischer Phänomene Hörspiel

Berlin 1985 Deutsch von Eva Grünstein

Die Zwillinge von Calando

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Carlos Cerda (1942-2001) studierte Philosophie in Santiago de Chile, war Redakteur von EL SIGLO, einem Organ der Kommunistischen Partei Chiles und emigrierte 1973 in die DDR. 1984 promovierte er in Leipzig mit einer Arbeit über José Donoso und kehrte 1985 nach Chile zurück. Zusammen mit Omar Saavedra Santis (geb. 1944) schrieb er kurz nacheinander zwei Hörspiele, Eine Uhr im Regen (1981) und Eine Tulpe, ein Stein, ein Schwert (1982). Beide Autoren konnten an Schreiberfahrungen anknüpfen, die sie zuvor bereits mit Erzählungen und Theaterstücken gemacht hatten.1 Eine Uhr im Regen ist ein beziehungsreiches Kriminalhörspiel, dessen Fabel Blicke freigibt auf Willkürherrschaft und Unterdrückung in einer Militärdiktatur, die, wie in Chile, mit der Landreform und demokratischen Errungenschaften Schluß gemacht hat. In Eine Tulpe, ein Stein, ein Schwert sind wesentliche Merkmale erkennbar, die, bei aller Verschiedenheit, auch für die weiteren Hörspiele als Charakteristika gelten können. Figuren und Handlung sind in Chile angesiedelt. Sie verweisen auf die dramatische, menschliche Dimension der Konsequenzen des politischen Umsturzes von 1973. Vor den Augen eines pensionierten Lehrers wird einer seiner ehemaligen Schüler verhaftet und verschleppt. Die Suche nach den Angehörigen führt den alten Mann in seine Vergangenheit zurück. Zwei Jahre später sendete der DDR-Rundfunk ein Hörspiel von Carlos Cerda unter dem Titel Die Zwillinge von Calanda, oder Über einige Gesetzmäßigkeiten bei der Entwicklung politischer Phänomene. Aus der scheinbar realistischen Ausgangssituation - das Handlungsschema ähnelt dem Erfahrungsbericht eines ausländischen Reporters, der die Menschenrechtsverletzungen einer Militärdiktatur untersucht - entwickelt der Autor eine verfremdende Verdoppelung der Charaktere, die das Stück zu einer Parabel werden lassen: Den Bürgern wächst ein Doppelgänger; eine körperliche Gewissensspaltung. Aus außenpolitischen Rücksichten will die Londoner Redaktion des Journalisten aber keine kritischen Darstellungen des Landes, und es bleibt ihm nur, diese Geschichte der Zwillinge von Calanda in einem dramatischen Stück, einem Hörspiel zu verarbeiten. Nur eine fiktionale, literarische Darstellung vermag ihr noch beizukommen. Die Züge von Rückständigkeit und Iso1 Werke von Carlos Cerda: Romane: Weihnachtsbrot (Pan de pascua), deutsch von Volker Ebersbach. Berlin 1978; Morir en Berlin. Santiago de Chile 1993; Una casa vacía. Santiago de Chile 1996; Sombras que caminan. Santiago de Chile 1999. Theater: La noche del soldado. U A Volkstheater R o s t o c k 1 9 7 5 ; Residencia

en las nubes (1988);

Este domingo (Theaterversion des Romans von José Donoso, 1990). Erzählungen: Begegnung mit der Zeit, deutsch von Achim Gebauer. Berlin 1976; Por culpa de nadie (1986); Primer tiempo. Santiago de Chile 1995; Escrito con L. Santiago de Chile 2001.

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lierung Calandas - die Zeit ist stehengeblieben, das Land scheint von der zivilisierten Welt „vergessen" zu sein, das Problem der „Verschwundenen" verweisen auf die Besonderheiten der Militärdiktaturen Lateinamerikas in den 70er und 80 Jahren. Unter der Maske einer „exotischen" Kritik an den Militärdiktaturen wird aber eine allgemeine Kritik an totalitären politischen Systemen und der außenpolitischen Komplizenschaft der westlichen Welt erkennbar. Spiel gegen die Zeit wurde ebenfalls 1982 produziert, unterscheidet sich aber von den vorherigen Hörspielen durch die ausdrückliche Verarbeitung von Erfahrungen des Lebens im Berliner Exil. Alberto, im Exil in (Ost-) Berlin verfolgt im Fernsehen das Fußball-Weltmeisterschaftsspiel und fühlt sich seinem in Chile gebliebenen Vater verbunden, da er gewiß ist, daß dieser zur gleichen Zeit das Spiel verfolgt. Gespräche des Chilenen in der Berliner Wohnung und die Stimmen aus der Vergangenheit laufen ineinander. Dichter als eine Prosaerzählung es vermag, gelingt es dem Hörspiel, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, dem politischen Kampf in Chile und den Ereignissen, die viele ins Exil zwangen, mit der Betrachtung über das Leben im deutschen Exil zu verbinden. 2 Kein Reisender ohne Gepäck thematisiert das Problem des Erinnerns und der Verantwortung des Einzelnen seinem Nächsten gegenüber. Das Stück unterwirft den Haupthelden einer Art Quiz; er muß Gewissensfragen beantworten und erhält die Chance, seine Schuld abzutragen oder zu verleugnen. Der Gewinn ist eine außergewöhnliche Reise, die sich als Abstieg in das Inferno des Vergessens - ein verkehrter „Orpheus in der Unterwelt" - darstellt. Die verzweifelten Rufe seiner zurückgelassenen Frau, seiner Geliebten und seines Sohnes, machen die Hörer mit den verdrängten, dunklen Stellen seiner angepaßten Biographie bekannt. Der letztlich feige Held will diese Reise ohrie Gepäck, ohne die Opfer seiner Anpassung an die gesellschaftlichen Konventionen und die Zwänge des Lebens in einer an die chilenischen Verhältnisse gemahnenden Diktatur unternehmen. Der Abstieg in die Hölle wird zu einer leicht und fesselnd geschriebenen Hörfunkgeschichte mit scharfem sozialkritischen Impetus, die die Diskrepanz von Alltagsverhalten und Moral herausheben. Er beweist seine Nähe nicht nur zur Theatertradition eines Jean Cocteau oder Fernando Arrabal sondern auch zur phantastischen Literatur des „Cono Sur", für die Namen wie Jorge Luis Borges, Julio Cortázar und José Donoso stehen. Jens Häseler 2 Die Prosafassung ist in den Band Escrito con L aufgenommen worden.

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Die Zwillinge von Calanda oder Über einige Gesetzmäßigkeiten bei der Entwicklung politischer Phänomene Personen: Garces - Robles - Maria - Nicomedes - Filipo - Nachrichtensprecher -2,3 Werbestimmen. Die Handlung spielt in Calanda, einem imaginären Land Lateinamerikas. Im Grand Hotel der Presse. Beharrliches Klopfen. NICOMEDES Maria! Maria! Steh' auf und komm sofort runter. In einer Stunde muß hier Ordnung sein! M A R Í A aus ihrem Zimmer Geh wieder ins bett. Es ist ein Albtraum! NICOMEDES Schlimmer als ein Albtraum! Der Minister hat angerufen! Schritte von Nicomedes: Er klopft an eine Tür. Filipo! Hörst du mich, Filipoß In fünf Minuten bist du in der Küche. Wir werden Gäste haben. Noch heute abend. Eilige schritte auf der treppe. Es wird bald dunkel. Wenn die Sonne untergeht, wird der reisende hier sein. Wir haben keine Minute zu verlieren! Maria! Filipo! Schritte auf der Treppe. M A R I A Was ist los, Nicomedes? FILIPO Ein neues Attentat? Eine Bombe? Hat man den Minister getötet? NICOMEDES Der Minister lebt und hat gerade angerufen. Meine Damen und Herren, ich habe euch eine höchst unangenehme Mitteilung zu machen: Ein Gast ist unterwegs. Maria, du wirst die Türen und Fenster öffnen und das Moos von den Geländern kratzen; nimm die Überzüge von den Möbeln und lösch die Spuren der Zeit auf den Fenstern; du mußt das Tafelgeschirr auf Hochglanz bringen und den Gläsern ihre Transparenz wiedergeben. Und du, Filipo, hol' die toten Fische aus dem Brunnen und setze Kanarienvögel in den leeren Käfig. Die Speisen müssen aufgefüllt und die Keller mit Wein versorgt werden. Und das alles in einer Stunde! M A R Í A Wer kommt? NICOMEDES Jemand Wichtiges. Ich habe es an der Stimme des Ministers gespürt. FILIPO Wird er lange bleiben? NICOMEDES Ich weiß es nicht. M A R Í A Kommt er allein? NICOMEDES Ich weiß es nicht. - Er kann der erste sein oder der einzige. Und da kommt er schon. - Hört ihr?

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Geräusche eines Flugzeugs. Er muß von weit her kommen. FILIPO Ich hatte schon vergessen, daß es Flugzeuge gibt. Geräusche der Flugzeuglandung. MARÍA

Im Speisesaal des Grand Hotels Haben sie gut geschlafen? G A R C E S Wie das letzte Mal in dieser Stadt. M A R Í A Wünschen der Herr Kaffee, Tee oder Schokolade? G A R C E S Kaffee. M A R Í A Tut mir leid, wir haben nur Schokolade. G A R C E S Das macht nichts. Haben Sie die Morgenzeitung? M A R Í A Die Zeitung erscheint mittags, mein Herr. G A R C E S Und die ausländische Presse? M A R Í A Die können sie in der Bibliothek lesen, mit Genehmigung des Presseministers. Aber keine Sorge: die ausländischen Korrespondenten erhalten sie ohne weiteres. Außerdem sind Sie der einzige. G A R C E S Woher wissen Sie das? M A R Í A Weil Sie unser einziger Gast sind. Alle Korrespondenten logieren in diesem Hotel. Deshalb heißt es ja Grand Hotel der Presse. G A R C E S Ist es immer so leer? M A R Í A Jetzt ist es nicht leer. Wollen Sie wirklich lieber Schokolade? G A R C E S Lieber nicht, aber wenn ich keine andere Wahl habe... M A R Í A Ich meinte, ob es unumgänglich ist, daß Sie jetzt eine Tasse Schokolade trinken: Schließlich wollten Sie ja eigentlich Kaffee. Ich kann Ihnen ein kaltes Bier bringen. Da brauche ich nicht erst in die Küche zu gehen. Außerdem ist der Koch in der Stadt. Geräusche von Gläsern und einer Flasche, die geöffnet wird. Wünscht der Herr das Bier mit Blume? G A R C E S Mit Blume oder ohne Blume, ich mag kein Bier. M A R Í A Das ist bedauerlich, bei dieser Hitze... G A R C E S Die Tatsache, daß ich keinen Kaffee bekommen kann, bedeutet nicht, daß ich bereit bin, alles zu trinken, was nicht Kaffee ist. M A R Í A Der Herr hat recht. Ich bitte um Verzeihung. G A R C E S Schon gut. M A R Í A Das sagen Sie nur, damit ich denken soll, Sie haben sich nicht über mich geärgert. Aber Sie haben sich über mich geärgert. Und das ist ungerecht, denn wir haben keine Schuld. Erst gestern abend haben wir erfahren, daß ein Gast kommt. G A R C E S Ich bitte Sie, grämen Sie sich nicht. Ich wollte sowieso einen Spaziergang in die Stadt machen. Da kann ich auch in einem Café frühstücken. MARÍA

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Cafés, Restaurants und Geschäfte öffnen nachmittags. Das ist das neue Gesetz. Haben Sie nichts von der großen Kampagne gegen den Überkonsum gehört? Außerdem hat mir Nicomedes aufgetragen, daß ich alles tun soll, damit Sie das Hotel nicht verlassen. G A R C E S Wieso? M A R Í A vertraulich Jemand wird Sie besuchen kommen. G A R C E S Wer? M A R Í A Das weiß ich nicht. Aber es muß jemand Wichtiges sein: Ich habe es an der Stimme von Nicomedes gespürt. Kommen Sie von weit her? G A R C E S Aus London, in gewisser Weise. Und auch ganz aus der Nähe, sogar direkt von hier. M A R Í A Das habe ich schon gemerkt. Sie sind wie wir. Mit Ihnen fühle ich mich vertraut. Man hat nicht den Eindruck, daß man mit einem Fremden redet. Kann ich Ihr Bier trinken? G A R C E S Bitte. Und setzen sie sich, wenn Sie möchten. M A R Í A Nein, was denken Sie! Das wäre ja unverschämt. G A R C E S Könnten Sie bitte diese Vorhänge zurückziehen? Ich möchte die Sonne sehen. M A R Í A Das hat keinen Sinn. Auf den Scheiben hat sich der staub von zehn Jahren gesammelt. Wenn ich die Vorhänge beiseite schiebe, werden Sie deprimiert sein. So dagegen haben wir die intime Atmosphäre der Leuchter, und die Sonne draußen können Sie sich vorstellen. Alle, die zurückkommen, möchten die Sonne des Tages spüren. G A R C E S Kennen Sie welche, die zurückgekommen sind? M A R Í A Ich nicht. Meine Schwester. Wünscht der Herr noch ein Bier? G A R C E S Wie Sie wollen. Und Ihre Schwester, sagen Sie, kennt Leute, die aus dem Exil zurück sind? M A R Í A Ist dem Herrn vielleicht warm? Wollen Sie, daß ich die Klimaanlage einschalte? G A R C E S Das wäre wenigstens etwas. Schritte von Maria, die sich entfernen. Dann Musik und die stimme eines Mannes und einer Frau im Stil von Werbespots. S T I M M E 1 Deine Zukunft liegt in unseren Händen. Hilf uns, damit wir dir eine sichere Zukunft garantieren können. S T I M M E 2 Zurückbleiben ist keine Schande. Hauptsache, wir alle kommen voran. Bekämpfe die fremden Ideen in dir selbst. G A R C E S Was ist das? M A R Í A Die Klimaanlage. G A R C E S Diese Stimmen, meine ich. MARÍA

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MARÍA Das ist die Klimaanlage. Die Stimmen gehören dazu. Ein hochmoderner Apparat. GARCES Schalten Sie das ab, bitte. MARÍA Am Anfang stört es ein bißchen, aber dann gewöhnt man sich daran. Die Musik ist nicht schlecht... GARCES Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Sie bitten, diese Anlage abzustellen. MARÍA Wie Sie wollen. Aber mittags, wenn die Hundshitze kommt, werden Sie auf Knien darum bitten, daß ich sie wieder einschalte. Ohne die Stimmen ist die Luft wirklich nicht zu atmen. Hören Sie! STIMME Hab Vertrauen. Wir denken für dich. MARÍA summt mit. Pause Aber wenn sie sich schwer daran gewöhnen, kann ich auch abschalten. Schritte, sie schaltet ab. GARCES Ihre Schwester... arbeitet auch in diesem Hotel? MARÍA Nein, mein Herr. GARCES Wie kommt es, daß sie Kontakte hat... MARÍA Ich habe nicht gesagt, daß sie Kontakte hat. Das habe ich nicht gesagt... GARCES Kennt sie jemanden, der... MARÍA Nein. Das war nur eine Vermutung. Wäre es dem Herrn angenehm, den Springbrunnen auf der Terrasse zu besichtigen? GARCES Nein, danke. MARÍA Um so besser. Filipo hat die toten Fische bestimmt noch nicht herausgeholt. NICOMEDES im Hintergrund Hier entlang, Herr Robles, hier bitte. Haben sie die Güte. Sehr freundlich. ROBLES Mein Name ist Robles. GARCES Ich habe Sie erwartet. NICOMEDES Haben Sie gut gefrühstückt? zu Maria Hast du den Herrn gut bedient? MARÍA Ich habe getan, was ich konnte. ROBLES ZU Garces Haben Sie einen besonderen Wunsch? GARCES Ich hätte gern eine Tasse Kaffee. NICOMEDES Bedauerlicherweise sind wir heute nicht in der Lage... ROBLES Ist gut, Nicomedes. Ich habe Kaffee mitgebracht. NICOMEDES Maria kochendes Wasser. Marias Schritte entfernen sich. ROBLES Du kannst dich zurückziehen, Nicomedes. NICOMEDES Wenn Sie etwas brauchen, ich stehe zu Ihrer Verfügung. Schritte von Nicomedes entfernen sich. ROBLES setzt sich Leider ist meine Zeit sehr knapp. Ich muß bald in die

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Redaktion zurück. Wie Sie sicher schon vermutet haben, wurde ich beauftragt, mich um Sie zu kümmern, solange Sie sich hier aufhalten. - Ein Auftrag, dem ich gern nachkomme, möchte ich betonen. Die Entscheidung des Staatsrates, Ihren Antrag auf Rückkehr zu genehmigen, ist ein Zeichen besonderer Großzügigkeit. Ich bin sicher, Sie wissen das zu würdigen. Ihre Aufenthaltserlaubnis ist unbegrenzt. Wie lange Sie bleiben können und unter welchen Bedingungen, hängt ganz und gar davon ab, was Sie hier tun werden. Alles liegt in Ihrer Hand. Sie sind vollständig frei. Darf ich fragen, weshalb sie gekommen sind? GARCES Ich suche meinen Vater. ROBLES Das habe ich vermutet. Ich kann nur wiederholen, was Sie schon wissen. Ihr Vater hat das Land vor drei Jahren mit offiziellen Ausweispapieren verlassen. Hier ist nicht der Ort, ihn zu suchen. GARCES Können Sie beweisen, daß er ausgereist ist? ROBLES

Ja, das kann ich.

GARCES Da bin ich sehr gespannt. Ich weiß nämlich, daß mein Vater Calanda nicht verlassen hat. ROBLES Selbst wenn Sie das glauben, ist es noch kein Beweis dafür, daß die Obrigkeit mit Gewalt gegen ihn vorgegangen ist. GARCES Sie glauben also, daß ihn die Erde verschluckt hat. Mein Vater ist kein Einzelfall, Robles. In diesem Land sind Tausende verschwunden, das ist allgemein bekannt. Sie sind Journalist. Warum haben Sie nie über dieses Thema geschrieben? ROBLES Weil ich meinen Beruf respektiere. Ich gehe dokumentarisch vor, und ich bin objektiv. Unglücklicherweise habe ich keine Begabung für Literatur. Phantasie geht mir ab. GARCES Sie haben über die vermutliche Reise meines Vaters eine Chronik verfaßt. Die war gar nicht schlecht, fast überzeugend. Allem Anschein nach war sie sogar mit Dokumenten belegt. Perfekt dokumentarisch erlogen. ROBLES Ich verstehe Ihre Gefühle. Aber diese Unterstellung muß ich doch zurückweisen. Ihr Vater war ein anerkannter Journalist... GARCES Und deshalb auch sehr gehaßt. ROBLES Das würde ich nicht sagen. Verhaßt, nein. Vielleicht gefürchtet. Aber das ist doch kein Beweis für Ihre Behauptung, Garces. Und noch weniger ein Grund, mich zu beschuldigen. Diesen Bericht habe ich mit Hilfe von Unterlagen geschrieben, die uns von der Obrigkeit zur Verfügung gestellt wurden. Die Tatsache, daß man Ihnen die Rückkehr genehmigt hat, zeigt schon, daß die Obrigkeit, zumindest in diesem Fall, nichts zu verbergen hat.

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GARCES Oder umgekehrt. Hätte sie mir die Einreise verweigert, wäre das einem Geständnis gleichgekommen. ROBLES Fakt ist, daß man sie Ihnen nicht verweigert hat. GARCES Ich werde versuchen, die großzügige Entscheidung des Staatsrats maximal zu nutzen. Schritte kommen näher. MARÍA Es tut mir leid, aber ich kann kein Wasser kochen. Der Strom ist wieder gesperrt, bestimmt ein neues Attentat. Das bedeutet Ausgangssperre. Ausgangssperre bedeutet: Ich kann nicht zum Friseur gehen. Wenn ich nicht zum Friseur gehen kann, werde ich deprimiert sein. Wenn ich deprimiert bin, kann ich nicht schlafen. Und wenn ich nicht schlafen kann, werde ich morgen wahrscheinlich nicht in der Lage sein, Ihnen das Frühstück zu servieren: Ich werde Ihnen deshalb einen Apfel auf den Nachttisch legen. Sie entfernt sich. GARCES Scheint Ihnen das nicht ein wenig... ungewöhnlich? ROBLES Ja, aber da haben Sie es. Wenn der Strom ausfällt, denkt man hier gleich an ein Attentat. Wenn jemand verschwindet, gleich an ein Verbrechen. Sie werden sicher verstehen, daß in einem Land, wo die Leute soviel Phantasie haben, die Regierung gezwungen ist, eine gewisse Autorität auszuüben. GARCES Aber es ist doch nicht unwahrscheinlich, daß es ein Attentat gegeben hat. ROBLES Es ist auch nicht unwahrscheinlich, daß es sich nur um eine weniger spektakuläre Panne handelt. Es tut mir Ihretwegen leid. Das Schlimmste ist nicht, daß man kein Wasser kochen kann. Schlimmer ist, die Hitze ohne Klimaanlage ertragen zu müssen. GARCES Mir fällt es viel schwerer, die Klimaanlage zu ertragen. ROBLES Um so schlimmer für Sie. steht auf Ich muß gehen. GARCES

Bitte.

ROBLES

W a s ist?

Schritte entfernen sich. ROBLES Wenn ich Ihnen nützlich sein kann, ich stehe zu Ihrer Verfügung. Ich will versuchen, Ihnen die offiziellen Dokumente über Ihren Vater so bald wie möglich zukommen zu lassen. Warum sehen sie mich so komisch an? GARCES Ich möchte nicht unhöflich sein. GARCES Sie haben da was am Hals. ROBLES leise Oh Gott. Eilige Schritte ab.

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Im Zimmer von Garces Man hört die Dusche. M A R Í A Wünscht der Herr im Salon oder im Bett zu frühstücken? G A R C E S durch die Tür Einen Moment, bitte. M A R Í A trällert die Melodie eines Werbespots und imitiert dann den verzuckerten Ton der Ansagerin Zurückbleiben ist keine Schande. Hauptsache, wir alle kommen voran. Hab Vertrauen! Wir denken für dich. G A R C E S kommt herein Was sagen Sie? M A R Í A Ich habe gesungen. Wollen Sie nicht frühstücken? G A R C E S Nichts lieber als das. Ich habe nichts gegessen, seit ich hier bin. M A R Í A Ich kann Ihnen noch Äpfel bringen. Oder, wenn es Ihnen lieber ist, können Sie im Speisesaal essen. G A R C E S Äpfel? M A R Í A Immer noch kein Strom. Das muß ein großes Attentat gewesen sein. G A R C E S Könnte ich ein Glas Milch bekommen? M A R Í A Bei dieser Hitze wird die Milch sauer. Haben Sie etwas gegen Äpfel? G A R C E S Nichts dafür, nichts dagegen. Ich esse keine Äpfel, das ist alles. Haben Sie keinen Hunger? M A R Í A Nein. Ich habe sehr gut gefrühstückt. G A R C E S Könnten Sie mir auch ein Sandwich machen? M A R Í A E S ist strikt verboten, vom Personalproviant falschen Gebrauch zu machen. G A R C E S Sie könnten Nicomedes erklären, daß ich es war, der Sie darum gebeten hat. M A R Í A Was die Anweisungen angeht, ist Nicomedes unbeugsam. G A R C E S Ich bezahle natürlich, das ist doch klar. M A R Í A Nicomedes wird keinen Centavo nehmen. Er nicht. G A R C E S Verstehe. Bringen Sie mir etwas zu essen. M A R Í A Da muß ich warten, bis er aus der Küche geht. Im Augenblick frühstückt er gerade. G A R C E S Ich bin bereit, nicht nur für das Essen zu bezahlen, solange dieser Notfall anhält. Sie werden verstehen, wenn ich nicht auf die Straße kann... M A R Í A Ich verstehe, aber das ist viel teurer als das Essen. G A R C E S Of course. M A R Í A Wir müssen warten, bis Nicomedes schläft. Er hält seinen Mittagsschlaf. Ich kommen dann nach dem Mittagessen. GARCES Ich würde Sie bitten mit dem Mittagessen zu kommen. Es klopft an der Tür. ROBLES Garces!

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GARCES

Herein.

ROBLES

Nein.

GARCES

Erstaunlich.

Die Tür wird geöffnet. ROBLES In dieser Mappe ist alles, was ich versprochen habe. GARCES Das ging aber schnell. ROBLES Der Paßantrag, das Ausreisevisum und die Flugreservierung. Auch die argentinische Presseinformation über den Zusammenstoß zwischen Polizei und Terroristen, die versucht haben, den Botschafter zu entführen. Ich glaube nicht, daß Ihr Vater ein Terrorist war, aber in irgendeiner Form hatte er mit der Sache zu tun. Wenn es Beweise gibt, daß er während dieser Aktion gefallen ist, darin können Sie nicht weiter darauf bestehen, daß er hier verschwunden ist. GARCES Sie überraschen mich, Robles. Glauben Sie, daß ich in London keine Zeitungen gelesen habe? Es ist doch bekannt, daß die Leichen, die in Argentinien begraben sind, nicht den Namen entsprechen, die die hiesige Presse angegeben hat. Mein Vater ist hier verschwunden, und erst danach hat man sich diesen ganzen Humbug ausgedacht. Wenn Sie mir nur das alte Lügenmärchen wieder auftischen wollen, können Sie Ihre Mappe nehmen und gehen. ROBLES Sie haben mich falsch verstanden. Ich hatte Ihnen die Offiziellen Dokumente versprochen, und hier sind sie. vertraulich Sie brauchen diese Dokumente auch, wenn Sie nachweisen wollen, daß sie gefälscht sind. Ich habe keineswegs die Absicht, Ihre Ermittlungen zu behindern. Ich wollte nur helfen. GARCES Wie lange werde ich hier noch festsitzen? ROBLES Ein paar Tage wird die Ausgangssperre sicher dauern. GARCES Maria hatte recht. Wenn der Strom gesperrt wird, hat es ein Attentat gegeben. Wenn jemand verschwindet, dann war es ein Verbrechen. Die Leute haben viel weniger Phantasie, als Sie sich ausmalen können. Und die Obrigkeit hat überhaupt keine. Ist Ihnen nicht warm?

GARCES Sie schwitzen, Robles. Wollen Sie nicht den Schal ablegen? ROBLES Ich wollte Ihnen den Anblick dieses häßlichen Flecks ersparen. GARCES Seien Sie nicht so eitel. Das können Sie sich für Ihre Rendezvous aufsparen. ROBLES Sie werden sich wundern. Jetzt ist es ein Ei. Sehen Sie! Zum Glück ist es nicht rot, nur rosa. GARCES Sie müssen damit zum Arzt. Haben Sie Schmerzen? ROBLES Schmerzen? Nein. ROBLES ES stört nur, wenn ich den Kopf aufs Kissen lege. GARCES Das muß operiert werden.

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Nein, nein. Das geht seinen natürlichen Gang. Nach einiger Zeit verschwindet es wieder. Diese Krankheit ist in Calanda ziemlich verbreitet. G A R C E S Und wie lange dauert dieser „natürliche Gang"? ROBLES Das ist von Fall zu Fall verschieden. Die Medizinische Gesellschaft führt gerade mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation eine Untersuchung durch. Alles weist daraufhin, daß dieses Phänomen nicht nur eine nationale Erscheinung ist. G A R C E S Bis heute habe ich kein einziges Wort darüber gehört. ROBLES Wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen dazu eine ausführliche wissenschaftliche Dokumentation beschaffen. G A R C E S Das ist zwar nicht mein Gebiet, aber es interessiert mich. ROBLES Wie haben Sie das Problem mit dem Essen gelöst? G A R C E S Bestechung des Dienstmädchens, um etwas von den bescheidenen Reserven des Personals zu bekommen. ROBLES Das scheint mir richtig zu sein. G A R C E S Die Furunkel sind nicht die einzige Pest in Calanda. ROBLES Bis morgen. Die Tür öffnet und schließt sich. Garces stellt seine Schreibmaschine auf und beginnt zu schreiben; es klopft an der Tür. M A R Í A Machen Sie auf! Ich bin's, Maria. G A R C E S geht zur Tür, öffnet sie. Endlich. Ich könnte einen Elefanten verschlingen. M A R Í A Elefanten gehören nicht zu unseren Reserven. Ich bringe Austern, Huhn in Cognac, Maispastete, Erdbeeren mit Sahne und französischen Käse. Außerdem Rheinwein, Kaffee und eine Flasche Champagner, den wir dann im Bett trinken. Wünschen der Herr, daß wir gleich ins Bett gehen oder nach dem Essen? Pause Nicht so schüchtern, oder haben Sie keine Lust mehr? G A R C E S Ich glaube, hier gibt es ein Mißverständnis. M A R Í A Wieso? G A R C E S Ich wollte etwas anderes von Ihnen. M A R Í A Was denn? Ich mache Sie darauf aufmerksam, Schweinereien gibt's bei mir nicht. Sie stellt das Tablett ab. G A R C E S Ich wollte einfach mit Ihnen reden. M A R Í A Seien Sie doch nicht albern. Niemand bezahlt nur fürs Reden. G A R C E S Setzen Sie sich, Maria. Darf ich Ihnen die Austern anbieten? M A R Í A Austern habe ich satt, aber Maispastete. G A R C E S Wein? M A R Í A Champagner, wenn wir ihn nicht für nachher brauchen. Geben sie her, ich kann das. Geräusche, Korken knallt etc. ROBLES

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essend Ich muß meinen Bericht machen, Maria. Aber unter diesen Bedingungen ist das nicht so einfach. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen. Selbstverständlich werde ich Ihnen Ihre Informationen vergüten. M A R Í A Was wollen Sie wissen? GARCES Als der Strom abgeschaltet wurde, haben Sie gesagt, es hätte ein neues Attentat gegeben. In der Zeitung von gestern stand aber kein Wort darüber. Auch im Radio wurde nichts gesagt. Gibt es oft solche Attentate? M A R Í A Fast jeden Tag. GARCES Woher wissen Sie das? M A R Í A Das wissen alle. Es gibt auch Streiks, Demonstrationen und Zusammenstöße mit der Polizei. GARCES Sie sagten etwas von Exilierten, die nach Calanda zurückgekehrt sind. Kennen Sie welche? M A R Í A Nein. Das habe ich Ihnen schon gesagt. GARCES Aber Ihre Schwester. M A R Í A Das ist nur eine Vermutung. GARCES Maria. Weiß man, daß in Calanda Menschen verhaftet werden, die dann nie wieder auftauchen? M A R Í A Die Verschwundenen. Ja. Das weiß man. GARCES Wußten Sie, daß mein Vater einer der verschwundenen ist? M A R Í A Nein. Nicomedes hat mir erzählt, daß Ihr Vater in Argentinien getötet wurde. Daß er einen Botschafter entführen wollte. GARCES Wissen Sie wie alt mein Vater war? M A R Í A Nein. GARCES Siebzig war er. M A R Í A Aber so wurde es gesagt. GARCES Maria. Ich will beweisen, daß mein Vater Calanda nie verlassen hat. M A R Í A Und wie wollen Sie das machen? GARCES Ich bin sicher, daß es Leute gibt, die mit ihm zusammen in Haft waren. Ich muß diese Leute finden, verstehen Sie? Ist Ihre Schwester im Gefängnis? M A R Í A schrill, abwehrend Nein! GARCES bedrängt sie Ist sie verschwunden? Pause Maria, was ist mit Ihrer Schwester? M A R Í A aufgeregt Lassen sie mich, ich muß in die Küche! Sie rennt aus dem Zimmer, Garces hinterher. GARCES Maria! Bleiben sie doch stehen! Maria! Geräusche einer Terrassentür, rasche Schritte, die sich im Kies entfernen. Ein Springbrunnen plätschert, Garces ist außer Atem. GARCES

Die Zwillinge von Calando

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Sehen sie? Alle sind tot. Die habe ich gestern erst in den Brunnen gesetzt. Nicht nur die Vögel verschwinden, auch die Fische. G A R C E S Die Vögel? FILIPO Sie fliegen weg, oder sie sterben. Haben Sie einen Vogel gesehen, seit Sie hier sind? Es gab eine Zeit, da fielen die Vögel tot vom Himmel. Jetzt sterben die Kinder. G A R C E S Wie lange wird der Ausnahmezustand noch dauern? FILIPO Morgen hat der General Geburtstag. Nationalfeiertag, Militärparade, Olympische Spiele und Karneval. Morgen wird die Ausgangssperre aufgehoben. G A R C E S Und wenn die Attentäter nicht gefunden werden? FILIPO Sie finden immer welche. Fünf, drei, sieben, das wechselt. Noch in derselben nacht erschießt man sie, und am nächsten Tag beginnt der Karneval. Der Geburtstag des Generals wird immer auf dieselbe Weise gefeiert. Der Springbrunnen plätschert. FILIPO

In der Hotelhalle Ein Telephon läutet, Schritte nähern sich. G A R C E S Hallo? ROBLES durchs Telephon Garces? Hier ist Robles. Ich muß mit Ihnen sprechen. Es ist dringend. G A R C E S Ich höre. ROBLES Nicht am Telephon. Ich muß Ihnen etwas zeigen. G A R C E S Dann kommen Sie. G A R C E S Ich kann nicht. Ich möchte sie bitten, zu mir zu kommen. Calle San José 15, 3. Stock. G A R C E S Soll ich mich erschießen lassen? ROBLES Machen Sie das Radio an. Er legt auf. Radiogeräusche. SPRECHER ...Maria Campuso, Fernando Dominguez, Juan Ponce, Mercedes Saravia, Luis Salmas, die in den frühen Morgenstunden hingerichtet wurden, nachdem sie zuvor ihre Teilnahme an der Terroraktion gestanden hatten. Gemäß Paragraph 147 und in Übereinstimmung mit den Artikeln der neuen Verfassung hat der Präsident die sofortige Aufhebung des Ausnahmezustands und damit... Bei Robles Garces geht eine Treppe hinauf, bleibt stehen, klingelt. ROBLES von innen Garces? GARCES ROBLES

Ja.

Warten Sie. Ich muß Ihnen was sagen. Wenn Sie jetzt die Tür

Carlos Cerda

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aufmachen, werden Sie etwas Schreckliches sehen. Aber ich brauche Ihre Hilfe.

GARCES W a s ist passiert?

ROBLES Sie dürfen nicht erschrecken. Es besteht keine Gefahr für Sie. Versprechen Sie, daß Sie nicht wegrennen? GARCES kurze Pause Ich verspreche es. Die Tür wird vorsichtig geöffnet. ROBLES ES ist weiter gewachsen. GARCES Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie zum Arzt müssen. Machen Sie endlich auf. ROBLES Bitte, hören Sie mir zu. Es ist kein Ei mehr. Es ist ein Kopf geworden. Ich habe zwei Köpfe, Garces. Die Tür wird entschlossen ganz geöffnet. Kommen Sie herein. Setzen sie sich. Ich hole uns ein Bier. Er entfernt sich, spricht dabei weiter. Oder wollen Sie lieber einen Whisky? Garces? Soll ich lieber in der Küche bleiben? Dann können Sie sich langsam dran gewöhnen. Whisky oder Bier? GARCES

ROBLES

Whisky!

Mit Soda oder Eis?

GARCES Pur u n d doppelt.

ROBLES noch in der Küche In der Mappe auf dem Tisch liegt die Dokumentation. Sehen Sie sich die Photos an. Interessant, nicht? Wir sind Phänomene mit einem höheren Sinn für Moral. Und außerdem sind wir vorübergehende Phänomene. In ein paar Tagen wird der zweite Kopf verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Was halten sie davon, wenn ich jetzt aus der Küche komme? Ich kann auch einen Schluck gebrauchen. Aber werden Sie bloß nicht pathetisch. Und geben sie sich keine Mühe, Ihren Ekel zu verbergen, das wäre albern. Ich komme jetzt. Schritte, aus der Nähe Prost. GARCES Prosit, unbehagliche Pause, hüstelt Eigentlich merkt man nichts. ROBLES

Was?

GARCES Einen Unterschied, meine ich. Ich weiß nicht mal, an wen ich mich wende, an Sie oder an Ihren... Doppelkopf. ROBLES Seien Sie bitte höflich. Er versteht jedes Wort. Wenn Sie in seine Augen blicken, werden Sie es merken. Er versteht und denkt. Das ist das Schlimmste. GARCES Warum? Um so besser, wenn es ein vernünftiger Kopf ist. ROBLES Aber es ist unsagbar ermüdend. Er denkt, was ich nicht denken will. GARCES ironisch Wenn er uns sieht und hört, wäre es vielleicht unhöflich, ihn nicht zu fragen, ob er einen Whisky mit uns trinken will. ROBLES Keine Sorge. Heute hat er schon mehr als genug getrunken.

Die Zwillinge von Calando

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Vom Frühstück an habe ich ihn betrunken gemacht. Ich kann diese absurden fremdländischen Ideen einfach nicht ertragen! Bemerken Sie nicht diese stumpfsinnige Glückseligkeit in seinem Blick? G A R C E S Warum haben Sie mich hergebeten? ROBLES Um Sie um einen Gefallen zu bitten. Wie Ihnen sicher klar ist, berichten Maria und Nicomedes nicht nur über jeden Schritt, den Sie tun, und über jedes Wort, das Sie sagen, sondern auch wie ich meinen Auftrag erfülle. Ich hätte Sie heute aufsuchen müssen. Haben Sie mit irgendwem über diese Geschichte mit meinem... äh, Hals gesprochen? G A R C E S Nein. ROBLES Wenn man etwas von meinem zweiten Kopf erfährt, bin ich verloren. Sie müssen Maria und Nicomedes sagen, daß wir heute zusammen waren, in meiner Wohnung. Als ob alles ganz normal wäre. Sagen Sie ihnen, Sie hätten meine Frau und meine drei Kinder kennengelernt. Es ist wichtig, daß Sie überzeugend davon berichten. G A R C E S Und wo ist Ihre Familie jetzt? ROBLES Z U Hause. Ich habe etwas von einer Dienstreise erzählt und daß ich nach dem Karneval zurück bin. Und hier habe ich mich versteckt. G A R C E S Robles! ROBLES Was ist? G A R C E S Ihr Kopf! Sehen Sie doch, Ihr Kopf! Er will sprechen! Kehlige unverständliche Laute. R O B L E S gequält Maa... maa... maa...no. G A R C E S leise Mano? ... Hand? ROBLES Maa... no... er... maa...no. G A R C E S leise Hermano. Bruder. Er hat Bruder gesagt. ROBLES deutlich erschrocken Mein Gott! Im Zimmer von Garces Bettgeräusche, von draußen Karnevalsmusik. M A R Í A flüstert Kannst Du nicht schlafen? G A R C E S lüstert ebenfalls Nein. Bei dieser Musik? M A R Í A Das ist das einzige, was vom Karneval geblieben ist. Keine Menschenseele ist auf der Straße. Nach den Erschießungen haben sich alle verkrochen. Morgen früh werden die Truppen durch eine leere Stadt marschieren. Niemand wird tanzen. G A R C E S War der Geburtstag des Generals letztes Jahr genauso? M A R Í A Das war anders. Weniger als in den Jahren davor, aber es gab noch welche, die tanzten und sich betranken. Das ist das erste Mal, das niemand auch nur den Kopf herausstreckt. Türen und Fenster

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sind fest verrammelt, und die Frauen haben beschlossen, in ihren Betten zu gebären, solange Karneval ist. Pause Wo warst du heute nachmittag? Musik. Bei Robles Schritte auf der Treppe, Klingeln. ROBLES Garces? ... Kommen Sie herein. Pause, lacht Ich habe Ihnen doch gesagt, daß der Kopf verschwinden wird. GARCES Bin ich wirklich hier gewesen? Oder hatten wir vielleicht denselben Albtraum? ROBLES Ja, denken wir einfach, es war ein Albtraum. Das wird das beste sein für uns beide. GARCES Dies... Krankheit, gibt es Rückfälle? ROBLES Nein. Mir ist kein einziger Rückfall bekannt. GARCES Also sind Sie wieder gesund. ROBLES Ja. Pause Allerdings möchte ich ein paar Tage allein sein. Ich muß mich erholen. GARCES Ich will Sie nicht lange stören. Aber ich muß endlich wissen, was mit meinem Vater passiert ist. Pause ROBLES Wenn Sie auch nur ein Wort darüber sagen, was Sie hier gesehen haben... niemand wird Ihnen glauben. Ich nehme an, das ist Ihnen klar. GARCES Ich bin nicht hier, um Sie zu erpressen, Robles. Das ist nicht mein Stil. Lauter Aber ich habe getan, worum Sie mich gebeten haben. Und jetzt bitte ich Sie. Natürlich sage ich niemandem, woher ich die Information habe. ROBLES Sprechen Sie leiser. GARCES W a r u m ?

ROBLES Mir gefällt es nicht, wenn Sie laut reden, das ist alles. Morgen können wir uns treffen. Jetzt möchte ich Sie bitten zu gehen. Geräusche aus dem Nebenzimmer.

GARCES D a ist j e m a n d .

Jemand versucht mit geknebeltem Mund zu sprechen. Hören Sie! Die Laute werden deutlicher. Was ist das? Wer ist da? ROBLES Gehen Sie, Garces! Morgen werde ich Ihnen alles über Ihren Vater erzählen, alles, was ich weiß. Aber jetzt gehen Sie bitte! GARCES Ich weiß nicht, was da vorgeht, aber ich nehme an, andere werden es verstehen, wenn ich es erzähle.

Die Zwillinge von Calanda

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Wieder die Geräusche aus dem Nebenzimmer. Also gut, Garces. Ich sage es Ihnen. Im Zimmer nebenan ist mein Bruder. Aber es ist nicht mein Bruder, ich bin es selbst. In der Dokumentation steht nicht alles über die Krankheit. Der zweite Kopf bildet sich nämlich nicht zurück. Im Gegenteil. Er entwickelt sich. Sie haben sein erstes Wort gehört: „Hermano/Bruder". Noch in derselben Nacht hat er perfekt gesprochen. Er hat mich beschuldigt, mich angeklagt, hat mir die schlimmsten Sachen vorgeworfen. Das war nicht nur grauenhaft, es war entsetzlich langweilig. Er sagte alles, was ich lange weiß. Ich mußte ihn zum Schweigen bringen. Wir haben uns betrunken, Tabletten genommen. Dann sind wir in einen tiefen Schlaf gefallen mit einem schrecklichen Albtraum. Ich sah, wie mir Arme und Beine wuchsen. Es war wie eine Geburt, verstehen Sie? Ich träumte, daß ich nicht träumte und daß der andere Körper wuchs. Vielleicht sah und fühlte ich die Verwandlung und wollte nur glauben, daß ich träume. Plötzlich spürte ich einen starken Schmerz in der Brust und verlor das Bewußtsein. Als ich aufwachte, begann schon die Dämmerung. Instinktiv berührte ich meinen Körper. Es war wie immer. Ich hatte einen Kopf, zwei Arme, zwei Beine. Er saß neben meinem Bett. Auf dem Nachttisch stand ein Tablett mit Frühstück, und er sah mich mit einem ruhigen Lächeln an. Mein Bruder hatte darauf gewartet, daß ich aufwache. Pause G A R C E S Warum haben Sie ihn eingesperrt? Was haben sie mit ihm vor? ROBLES Das weiß ich noch nicht. Im Augenblick muß ich verhindern, daß er auf die Straße geht. Niemand darf ihn sehen. Da die Ausgangssperre aufgehoben ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn einzuschliessen. G A R C E S Bis wann? ROBLES Bis ich eine Lösung gefunden habe. Ich habe es in allen Tonarten mit ihm versucht, aber er ist unglaublich stur. Absolut unzugänglich, mit fixen Ideen. Ein Moralist! Solche Typen sind eine öffentliche Gefahr, vertraulich Wenn man den auf die Straße läßt, wird er Terrorist, das kann ich Ihnen versichern. G A R C E S Aber Sie können ihn doch nicht für den Rest des Lebens in diesem Zimmer einsperren. ROBLES Als ich einsehen mußte, daß er nicht zu überzeugen ist, habe ich versucht, ihn zu bestechen. Ich habe ihm eine lange Reise ins Ausland angeboten. Er hätte sogar seinen Doktor machen können! G A R C E S ironisch Sie konnten ihm die Wonnen des Exils nicht schmackhaft machen? ROBLES

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ROBLES Auch wenn er akzeptierte, wären da noch Schwierigkeiten. Es fehlen ihm zum Beispiel alle Papiere: Steuernummer, Geburtsurkunde, von einem gültigen Pass ganz zu schweigen. Sicher, das könnte ich irgendwie regeln, wenn auch nicht ohne Probleme. Viel schlimmer ist, daß er mich überall blamieren wird. Ein Beispiel: Bevor Sie kamen, ist er in die Küche gegangen und wollte kochen. GARCES Aber das ist doch prima. Er ist hilfsbereit. ROBLES fassungslos Eintopf aus den Resten von gestern. Und behauptet, so ein Mist sei eßbar. GARCES Diese kulinarische Auffassung hat sich in letzter Zeit sehr verbreitet. Freuen Sie sich doch, daß er so sparsam ist. ROBLES Sparsam? Wissen Sie, was mich das kostet? Jetzt brauchen wir doppelte Rationen Brot, Fleisch, Zigaretten, Zahnpasta, Kaffee. Ich muß ihm einen Anzug kaufen. Hemden, Socken, Unterhosen, Schuhe, einen Schlafanzug, eine Uhr. Die Liste ist unendlich! GARCES Ein Glück, daß er dieselbe Größe hat. ROBLES zögernd er will meine Frau und die Kinder kennenlernen. Geräusche aus dem Nebenzimmer. Er will so leben wie ich. Er meint, er hätte ein recht darauf. Finden Sie das nicht absurd, Garces? So einer hat doch weder die Absicht noch die Möglichkeit, sich einer Gesellschaft wie der unseren anzupassen. Eine Demokratie im Aufbau kann solche Miesmacher nicht gebrauchen. Zu seinem eigenen Wohl habe ich ihn eingeschlossen. Das schützt ihn, verstehen Sie? GARCES Ich verstehe. Außerdem ist es die einzige Möglichkeit, Ihre eigene Karriere zu sichern. Die Geräusche werden lauter. ROBLES Das gebe ich zu. An dem Tag, an dem er durch diese Tür geht, sind wir verloren. Er und ich. Unsere Interessen stimmen da absolut überein. GARCES Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken. Gepolter im Nebenzimmer. ROBLES Bitte, gehen Sie jetzt! Gehen Sie! Gepolter. Ich komme ja schon, Mensch, ich komme ja. GARCES Wir sehen uns morgen. Und vergessen Sie nicht, ich will wissen, was mit meinem Vater passiert ist. Gepolter. ROBLES

Bis morgen.

Die Tür geht, Schritte entfernen sich auf der Treppe.

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Im Zimmer von Garces Geräusche einer Schreibmaschine M A R Í A Der General schickt dir dieses Geschenk. Die Blumen sind importiert, und der Cognac ist die Lieblingsmarke des Generals. G A R C E S Der General, warum? M A R Í A „Zum Dank für Ihre sachliche Berichterstattung über unseren Karneval. Mit herzlichen Grüßen. Der Präsident der Republik." Die Karte trägt das Emblem von Calanda in Goldrelief. G A R C E S Aber ich habe kein Wort über den Karneval geschrieben. M A R Í A Dann ist das ein Fingerzeig. Die Blumen stelle ich in die Vase da. G A R C E S Ich schenke sie Ihnen, Maria. M A R Í A Der Cognac wäre mir lieber. G A R C E S Schenken Sie ein, ich kann auch einen gebrauchen. M A R Í A Wir können die ganze Flasche austrinken. Nicomedes geht es nicht gut. Er wird sein Zimmer in den nächsten Tagen nicht verlassen. G A R C E S Prosit! M A R Í A Prost! Ich nehme an, Sie haben keine Fragen mehr über meine Schwester. G A R C E S Nein. M A R Í A Heute morgen beim Saubermachen habe ich die Mappen gesehen. G A R C E S Hatten Sie von der Krankheit gehört? M A R Í A Haben Sie alle Photos gesehen? G A R C E S Nein. Papier wird geblättert. Pause. M A R Í A Sehen Sie sich dieses einmal an. Das ist schon einige Jahre her. G A R C E S Sie, Maria? M A R Í A Früher hatte ich eine andere Frisur. Finden Sie mich so besser oder wie auf dem Photo? G A R C E S Geben Sie mir die Flasche. M A R Í A Sie sind ganz blaß. Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich bin wieder vollkommen gesund. G A R C E S Und wer ist das? M A R Í A Meine Schwester hat sich verändert. Ich sehe aus wie immer. Pause Schreiben Sie über diese Plage? G A R C E S Ja. Möchten Sie lesen, was ich bisher geschrieben habe? M A R Í A Ich kann nicht lesen. G A R C E S Ich kann es vorlesen. M A R Í A Nein. Von außen Straßengeräusch eine große Demonstration nähert sich. Maria geht ans Fenster.

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MARIA Sie k o m m e n .

Es klopft an der Tür. Robles kommt herein. Maria geht. Wenn Sie mich brauchen, ich bin in der Küche. Sie schließt die Tür. ROBLES Hier ist, was ich versprochen habe. Lesen Sie, und wenn Sie Fragen haben, sprechen wir woanders darüber. Sie wissen ja, wo Sie mich finden können. Wäre es nicht besser, das Fenster zu schließen?

GARCES W i e Sie wollen.

Das Fenster wird geschlossen, die Straßengeräusche gedämpft. ROBLES Worüber schreiben Sie? GARCES Über Sie und Ihren Bruder. Und über Maria. Und über Nicomedes, der in seinem Zimmer „unpäßlich" ist, und über viele, die ich nicht kenne. ROBLES Ohne Namen natürlich. GARCES Ich verwende andere Namen. ROBLES Das könnte eine sensationelle Reportage werden. GARCES Das ist keine Reportage. Es ist ein Hörspiel. ROBLES Aha. Verstehe. Fiktion. GARCES Nennen Sie es, wie Sie wollen. Wie geht es Ihrem Bruder? ROBLES

Gut, danke.

GARCES Konnte Sie ihn überzeugen? ROBLES Exil akzeptiert er nicht. GARCES Was will er tun? ROBLES Er will auf die Straße zu den anderen. Wie endet Ihr Hörspiel? GARCES Das Ende kenne ich noch nicht. ROBLES Schade. Ein interessantes Thema. Sehr aktuell. GARCES Wenn der Augenblick da ist, werde ich das Ende wissen. ROBLES Genau das denke ich auch. Was mich betrifft, müßte es natürlich ziemlich bald sein. GARCES Bei mir auch. Morgen muß ich das Hotel verlassen. ROBLES Warum? Kehren Sie nach London zurück? GARCES Man hat mich entlassen. Ich bin nicht mehr Korrespondent, also ist mein Aufenthalt hier nicht länger gerechtfertigt. ROBLES Entlassen? Warum? GARCES Ich habe einen ersten Artikel über Calanda nach London geschickt. Man hat mir geantwortet, die internationale Lage ... Sie wissen schon, wie immer. Die London News ist in gewisser Weise auch eine offizielle Zeitung. Und Calanda ist das einzige lateinamerikanische Land, das England von Anfang an im Maledivenkrieg unterstützt hat. In Zukunft wird die London News keine Zeile über Calanda bringen. ROBLES Sie meinen, nichts gegen Calanda. GARCES Glauben sie, für wäre möglich?

Die Zwillinge

von

Calando

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Sie reden in demselben Extremistenton wie mein Bruder. Der Radikalismus führt nirgendwo hin, Garces. Letztlich ist das, was Sie schreiben, nur ein Teil unseres Handwerks. Die Leute haben gelernt zu lesen, was wir nicht schreiben. GARCES Diese Theorie kenne ich, Robles. Und in Ihrem Fall kenne ich sogar die Konsequenzen. Ihr Bruder ist eine Berufskrankheit. ROBLES Reden Sie doch keinen Unsinn, Garces. Das hört sich ja an wie die Klimaanlage. Wir sind uns doch klar darüber, daß die Wahrheit auch destruktiv sei kann. Was man braucht, ist vielmehr ein gemeinsamer Glaube. GARCES Hier glauben alle an die Demokratie. ROBLES Nein, nein. Nicht so etwas Abstraktes, etwas Positives. Einen von allen akzeptierten Wert. Die Gewaltlosigkeit zum Beispiel. Wir müssen die Gewalt bekämpfen, Garces. In diesem Land ist schon nicht einmal mehr ein Karneval möglich. GARCES Die Leute sind in zu Hause geblieben. Einen gewaltloseren Protest kann ich mir nicht vorstellen. ROBLES Eine gewaltlose Demonstration ist auch Gewalt. Wenn ich diese schreiende Masse höre, kann ich nur mit Schmerz an die Zukunft dieses Landes denken. GARCES Nach allem, was jetzt auf der Straße passiert, müssen Sie auch an Ihre Zukunft denken. ROBLES Sie meinen meine Gegenwart. Sie haben recht. Irgend etwas muß ich mit diesem „Bruder" machen. Ich kann ihn doch nicht ewig unter Verschluß halten. Gestern hat er mir einen Vorschlag gemacht. Wenn ich ihn freilasse, verspricht er, in absoluter Illegalität zu leben. GARCES Akzeptieren Sie. Eine gute Lösung. ROBLES Das Risiko ist enorm. Für ihn, meine ich. Na gut, ich gehe jetzt. Er wartet. Schritte zur Tür. Wie heißt Ihre Erzählung? GARCES Calanda oder über einige Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung politischer Phänomene. ROBLES Sehr lang. Das wird keiner hören. Calanda, das reicht. Das andrere versteht man. Bis bald. Robles schließt die Tür. Garces geht ans Fenster und öffnet es. Der Lärm der Demonstration dringt in den Raum. ROBLES

Im Speisesaal des Hotels Tellergeklapper etc. M A R Í A Nicomedes ist noch immer unpäßlich. Er bittet mich, Ihnen eine gute Reise zu wünschen und daß Sie Verständnis haben möchten

Carlos Cerda

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für die vielen Pannen. Sie haben Ihre Zahnbürste und den Regenmantel im Zimmer vergessen. GARCES Legen Sie den Mantel auf den Koffer. Pause MARÍA Möchten Sie einen Cognac, bevor Sie aufbrechen? GARCES

Gut.

GARCES

Ja.

MARÍA schenkt ein Haben Sie die Beweise gefunden, die Sie suchten? GARCES Nein, aber ich weiß jetzt mehr als vorher. MARÍA Dürfte ich Sie um etwas bitten? MARÍA Schenken Sie mir mein Photo. GARCES Nehmen Sie es sich. Es liegt in der Mappe. MARÍA Ich möchte es als Erinnerung, wissen Sie. Ich habe nicht ein einziges Photo aus dieser Zeit. Meine Schwester! Jetzt ist sie sicher auf der Straße. Möchten Sie, daß ich das Fenster öffne? Lauter Lärm der Demonstration. Nachts mache ich oft das Fenster auf und höre diese Stimmen. Nach einer Weile kann ich sie unter den anderen heraushören. Meine eigene Stimme. Wie oft habe ich das Bedürfnis, sie zu hören! Glauben Sie, daß das einmal enden wird? GARCES Es wird.

MARÍA Dann werde ich meine Schwester sehen können. Und wenn bis dahin nicht zu viel Zeit vergeht, könnten wir vor dem Sterben wieder eins werden. GARCES Warum gehen Sie nicht auf die Straße? MARÍA Ich habe Angst. Ein Telephon läutet. Maria hebt ab. Hallo! Einen Moment, bitte. Für Sie. GARCES

Hallo.

GARCES

Was?

ROBLES

Robles.

ROBLES durchs Telephon Hier spricht Robles. Ich rufe an, um Ihnen das Ende Ihrer Geschichte vorzuschlagen. Heute Nacht habe ich meinen Bruder getötet.

ROBLES Ich habe ihn getötet. GARCES Und wenn man ihn findet? ROBLES Findet man mich. GARCES Und Sie? Was werde Sie jetzt tun? ROBLES Ich verschwinde, Garces. Pause Ich gehe endlich auf die Straße. Pause Vielleicht begegnen wir uns einmal. GARCES Hallo! Wer spricht daß GARCES Welcher Robles? Sie oder Ihr Bruder?

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Ich. Mein Bruder. Das spielt keine Rolle. Ich hoffe, wir sehen uns bald. G A R C E S Hallo! Es wird aufgelegt. MARIA Soll ich Ihnen ein Taxi rufen? G A R C E S Ja, bitte. ROBLES

MARIA Z u m Flughafen?

Nein, in die Stadt. Der Lärm der Demonstration schwillt an.

GARCES

Griselda Gambaro Zornige Antigone Antigona furiosa

Buenos Aires 1986 Deutsch von Almuth Fricke

Für Laura Yusem und Bettina

Murana

Zornige

Antigone

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Griselda Gambaro, 1928 in Buenos Aires geboren, begann ihre Karriere als Theaterautorin 1963 mit Las paredes, einem auf den ersten Blick existenzialistischen Stück: Die Wände eines Zimmers, in dem ein junger Mann lebt, rücken immer näher zusammen, hinter den Vorhängen verbergen sich keine Fenster, gedämpfte Schreie aus den Nebenräumen: ein Alptraumszenario. Aber Gambaro dachte nicht an eine absolut aussichtslose Situation des Menschen in der Welt, vielmehr an die individuelle, wenngleich verbreitete Passivität gegenüber Manifestationen der Macht. Gambaro mahnte politische Wachsamkeit und Verantwortungsbewußtsein an, lange bevor der politische Terror in Argentinien jedermann in seinen Bann schlug. Die Öffentlichkeit wurde auf Gambaro erst aufmerksam, als El desatino, Das Unding, im April 1965 im INSTITUTO TORCUATO DI TELLA urauf-

geführt wurde. Dieses Unding ist ein mysteriöses Eisenstück, das eines Morgens an Alfonsos Bein festhängt und ihn unfähig macht, sich selbständig zu bewegen. Kati Röttger deutet Das Unding als „parodistisches Bravourstück über den Ödipuskomplex, das keiner aktuellen feministischen Dekonstruktion der Freudschen Psychoanalyse nachsteht." 1 Gambaros umfangreiches Werk enthüllt den Diskurs der Macht. Mit den Mitteln des grotesco criollo, der Farce und der Parodie analysiert sie immer wieder die Mechanismen der Macht, nicht allein auf politischer Ebene, vielmehr in allen zwischenmenschlichen Bereichen. Dabei bedient sie sich der dem Theater ureigenen Dynamik zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen dem Dargestellten und den Assoziationen, die es hervorruft. Sie benutzt die Macht der Theatralität, um die Theatralität der Macht sichtbar zu machen. 2 Die für Gambaros Stücke typische Konstellation Unterdrücker-Unterdrückter-Kollaborateur, die klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse, sind schon in Las paredes nur oberflächliche Muster. Entscheidend für die Wirkung dieses Theaters ist die Trennung von Rede und Gestik. (Röttger 11) Die Rede des Unterdrückers ist freundlich - sein Verhalten widerspricht dem; sein Opfer geht auf die Rede ein - sein Körper zeigt die Auswirkungen der Unterdrückung; das Opfer ist passiv, arbeitet der eigenen Vernichtung in die Hand. Noch deutlicher wird Gambaros Arbeitsweise an den Einaktern El despojamiento und El nombre, die sie für Teatro abierto schrieb. Es sind Mo-

1

2

Kati Röttger: „Griselda Gambaro", in Theater in Argentinien, hrgs. von Karl Kohut und Osvaldo Pelletieri. Frankfurt/Main 2002, S. 173-193. Dazu Nina Molinaro: „Discipline and Drama: Panoptic Theatre and Griselda Gambaro's El campo", in LATR 29, 2 (1996), S. 29.

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Griselda

Gambaro

nologe von Frauen in alltäglichen Situationen. Trotzdem tragen sie eine eindringliche politische Botschaft, und das Vehikel ist Theatralität. In El despojamiento tritt wiederholt ein Mann auf, der der Frau ohne jede Erklärung Kleidungsstücke wegnimmt, bis sie fast nackt und erniedrigt zurückbleibt. In El nombre berichtet eine alte Frau, wie ihr in jedem Haus, in dem sie arbeitete, ein anderer Name gegeben wurde, bis sie darüber ihren Verstand verlor. Es sind einfache Frauen, die sich mit Frechheit oder Gleichmut zur Wehr setzen und doch zulassen, daß man sich über ihre persönlichen Rechte hinwegsetzt. Der U n t e r d r ü c k e r ' ist unsichtbar, er entsteht in der Phantasie des Zuschauers; die Vergewaltigung' eines Menschen durch einen anderen wird mit Hilfe unserer Vorstellungskraft sichtbar. Genauso funktioniert auch Gambaros bekanntestes Stück El campo3, das immer wieder fälschlich als konkrete Konzentrationslagersituation gedeutet wird. Es ist aber ein Stück, in dem Gambaro die „Ambivalenz der Funktion der Macht in nahezu perfekter theatralischer wie dramaturgischer Umsetzung bis in den Titel zuspitzt." (Röttger 13) Die Botschaft ist dieselbe wie schon in den anderen Stücken: Das Gefängnis, so Gambaro, befinden sich im Bewußtsein des Zuschauers. Was die Theaterästhetik und ihre politische Vision angeht, war Griselda Gambaro, als sie zu schreiben begann, ihrer Zeit weit voraus - und je mehr Zeit vergeht, desto deutlicher zeigt sich dies. 4 Zornige Antigone greift die griechische Figur auf und stellt sie in die argentinische Gegenwart. Das Stück ist eine Montage aus verschiedenen Genres: Lyrik, Parodie, den Text von Sophokles, Shakespeare und Rubén Darío. Nach der letzten Diktatur in Argentinien sind es die Frauen, die anklagen - Gambaros Antigone stellt das Gesetz des Mannes in Frage. Sie spricht die alten Texte, während die männlichen Figuren sich über sie lustig machen und versuchen, das Publikum davon zu überzeugen, daß Antigone keine tragische Figur sei, sondern einfach verrückt. Auf diese Weise führt Gambaro mit viel Humor die argentinische Gegenwart vor Augen. Heidrun Adler

3

4

Weitere Werke: Los siameses, 1967; El campo, 1967; Nada que ver, 1972; Sucede lo que pasa, 1976; Información para extranjeros, 1978; Decir sí, 1981; La malasangre, 1982; Real envidio, 1984, Nosferatu, 1985; Antígona furiosa, 1986, um nur die bekanntesten zu nennen; auf Deutsch sind bisher erschienen: Das Lager, Siamesische Zwillinge, Böses Blut, Ja Sagen, Das Unding. Über keinen argentinischen Theaterautor/in ist inzwischen so viel geschrieben worden wie über Griselda Gambaro; siehe Geschlechter/Performance, Pathos, Politik. (Adler, Röttger 1998), Bibliographie.

Zornige

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Antigone

Zornige Antigone Personen: Antigone - Chorführer - Antinoos. Ein Gerippe stellt Kreon dar. Wenn der Chorführer hineinkriecht, übernimmt er offensichtlich den Thron und die Macht. Antigone erhängt. Ein Kranz aus verwelkten weißen Blüten umgibt ihr Haar. Nach einer Weile löst sie sich langsam, nimmt die Schlinge vom Hals und zieht ihr weißes und schmutziges Kleid zurecht. Sie summt vor sich hin. An einem runden Tisch sitzen zwei Männer in Straßenanzügen und trinken Kaffee. Der Chorführer spielt mit einem biegsamen Zweig, er reißt kleine Stücke von einer Papierserviette ab und steckt sie wie Blüten an den Zweig. Er tut dies zerstreut, mit einem spöttischen Lächeln. Wer ist denn das? Ophelia? Sie lachen. Antigone blickt sie an. Kellner, noch einen Kaffee! ANTIGONE singt „Er starb und ging von uns; Er starb und ging von uns: Rasen bedeckt seinen Leib, Zu seinen Füßen steht ein Stein." CHORFÜHRER Das sollte so sein, ist es aber nicht. Siehst du Rasen? Einen Stein? Ein Grab? ANTIGONE singt „...ein Leichentuch umhüllte ihn. sein Grab bedeckten Blumen, von Tränen begossen." Sie nähert sich dem Tisch, betrachtet neugierig die Tassen. Was trinkt ihr? CHORFÜHRER Kaffee. ANTIGONE Was ist das? Kaffee. CHORFÜHRER Koste. ANTIGONE Nein, zeigt darauf Schwarz wie Gift. CHORFÜHRER greift das Wort sofort auf Ja, wir vergiften uns! lacht Ich bin tot! er steht steif auf, die Arme nach vorn gestreckt, keucht röchelnd. ANTINOOS Niemand darf ihn anfassen! Verboten! Seine Pest ist anstekkend. Er wird die ganze Stadt anstecken. ANTIGONE Verboten! Verboten? Als wäre ihr fremd, was sie tut, nimmt sie dem Chorführer die Krone ab, zerbricht sie. ANTINOOS Sie hat dir das Krönchen abgenommen! CHORFÜHRER Niemand wird mich begraben! ANTINOOS Keiner! CHORFÜHRER Die Hunde werden mich fressen! keucht röchelnd. CHORFÜHRER

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Gambaro

ANTINOOS DU Ärmster! Er umarmt ihn. Sie lachen, klopfen sich auf die Schultern. CHORFÜHRER bietet seinen Stuhl an Möchtest du dich setzen? ANTIGONE Nein. Sie kämpfen jetzt. ANTINOOS Was du nicht sagst! CHORFÜHRER Ja. Mit den Schwertern werden sie sich verwunden. Auja, und du bist dann die Krankenschwester, nähert sich ihr in zweideutiger Absicht, was Antigone nicht registriert, sie entfernt sich Wie wirst du sie pflegen? Wo? ANTIGONE Ich werde die sein, die den Versuch wagt. CHORFÜHRER

Welchen?

CHORFÜHRER

Logisch.

ANTIGONE Polyneikes bestatten, meinen Bruder. CHORFÜHRER spaßhaft Verboten, verboten! Der König hat's verboten! Ich habe es verboten! ANTINOOS Niemand darf ihn anfassen! CHORFÜHRER Wer es wagt... schneidet sich mit einer Geste die Kehle durch. ANTIGONE Sie wollte mir nicht helfen. CHORFÜHRER Sie? Wer ist sie? ANTIGONE Ismene, meine Schwester. Ich tat es allein. Keiner hat mir geholfen. Nicht einmal Haimon, mein Tapferer, den ich nicht heiraten werde. CHORFÜHRER Und wann soll die Mißheirat stattfinden? lacht, sehr belustigt, und Antinoos fällt kurz darauf ein. Sie stoßen sich mit den Ellbogen und klopfen sich auf die Schultern. ANTIGONE Den ich nicht heiraten werde, habe ich gesagt. Für mich wird es keine Hochzeit geben. CHORFÜHRER sanft Wie schade, stößt Antinoos an. ANTINOOS beeilt sich Schade. ANTIGONE Keine Hochzeitsnacht. ANTINOOS ANTIGONE

wie ein Echo Logisch. Auch keine Kinder. Ich werde sterben... Allein.

Die Schlacht. Metallisches Klirren der Schwerter, das Tänzeln der Pferde, Schreie und undeutliches Wehklagen. Antigone entfernt sich. Sie sieht vom Palast aus zu. Fällt zu Boden, ihre Beine schlagen von einer Seite zur anderen, in einem Rhythmus, der sich zum Paroxysmus steigert, als würde sie die Schlacht am eigenen Leib erfahren. ANTIGONE schreit Eteokles, Polyneikes, meine Brüder, meine Brüder! CHORFÜHRER kommt näher Was will diese Verrückte? Leid auf Leid erzeugen?

Zornige

Antigone

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Polyneikes bestatten, das will sie, an einem so schönen Morgen! CHORFÜHRER Man sagt, Eteokles und Polyneikes sollten Jahr um Jahr die Herrschaft unter sich aufteilen. Doch die Macht schmeckt süß. Sie klebt wie Honig an der Fliege. Eteokles wollte sie nicht teilen. ANTINOOS Ein anderer hätte sich damit abgefunden. Nicht aber Polyneikes! CHORFÜHRER Er griff die Stadt an sieben Toren an und wurde geschlagen, an allen sieben! lacht Und dann trat er seinem Bruder Eteokles entgegen. ANTIGONE Mit Schwertern gaben sie sich den Tod! Eteokles, Polyneikes! Meine Brüder, meine Brüder! CHORFÜHRER geht wieder zum Tisch Immer Streit, Kampf und Blut! Und diese Verrückte da, die eigentlich hängen sollte. Sich an die Toten erinnern, ist vergebliche Liebesmüh, das bringt nichts. Kellner, noch einen Kaffee! ANTINOOS schüchtern Es ist nicht lange her, daß es geschehen ist. CHORFÜHRER brutal Es ist vorbei. Neues Thema! ANTINOOS Warum feiern wir nicht? CHORFÜHRER düster Was gibt es zu feiern? ANTINOOS strahlend, dümmlich Die Rückkehr des Friedens! CHORFÜHRER lacht Laßt uns feiern! Mit was? ANTINOOS Mit... Wein? CHORFÜHRER Ja, mit viel Wein! Und nicht Kaffee! nachäffend Was ist diese dunkle Flüssigkeit? Gift! lacht. Keucht übertrieben röchelnd. Kurz danach fällt Antinoos ein. Antigone läuft zwischen ihren Toten umher, mit merkwürdigem Gang, sie fällt und steht wieder auffällt und steht wieder auf. ANTIGONE Leichen! Leichen! Ich trete auf Tote. Ich bin von Toten umgeben. Sie streicheln mich... umarmen mich... sie flehen... Wonach? CHORFÜHRER tritt vor Kreon. Kreon wendet das Gesetz an. Kreon. Kreon wendet darauf das Gesetz an Kreon wendet das Gesetz auf die Toten an öffnen Kreon öffnen und auf die Lebenden. Das gleiche Gesetz. Kreon wird nicht gestatten, daß Polyneikes begraben wird er wollte in Schutt und Asche legen In Schutt und Asche die Erde seiner Eltern. Sein Leib wird als Fraß dienen Fraß für Hunde und Raubvögel. Kreon öffnen Kreon Sein Gesetz heißt: Eteokles soll geehrt werden ANTINOOS

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Griselda

Gambaro

U n d Polyneikes Festmahl für die Hunde. Fäulnis und Fraß. N i e m a n d darf sich u m d r e h e n - es w a g e n - sich umdrehen öffnen u m d r e h e n wie eine Verrückte sich drehen im Angesicht der unbegrabenen Leiche öffnen unbegraben öffnen unbegraben. Er geht zu seinem Platz zurück, setzt sich N i e m a n d ist so verrückt, daß er zu sterben wünscht. Das wird der Lohn sein. ANTIGONE Meine Mutter schlief mit meinem Vater, der aus ihrem Leib geboren war, und so zeugten sie uns. U n d in dieser Kette von Lebenden und Toten zahle ich für ihre Schuld. Und für die meine. Dort ist er. Polyneikes. Polyneikes, mein Lieblingsbruder. Kreon will für ihn kein Begräbnis, Wehklagen, Weinen. Schmach nur. Ein Leckerbissen für die Raubvögel. CHORFÜHRER Wer Kreon herausfordert, wird sterben. ANTIGONE Siehst du mich, Kreon? Ich weine! Hörst du mich, Kreon? Tiefes, wildes, gutturales Wehgeschrei. CHORFÜHRER Ich h a b e nichts gehört! Ich habe nichts gehört, singt stotternd, aber mit spöttischem Unterton Un-un-un-ter dem so friedlichen Hi-hi-himmel ist kein Wehgeschrei! ANTINOOS Verboten! schüttelt den Chorführer Stimmt es nicht, daß es verboten ist? ANTIGONE W e m ? D e n e n , die wie H u n d e mit d e m S c h w a n z wedeln! Nicht mir! Siehst du mich, Kreon? Ich w e r d e ihn bestatten, mit diesen A r m e n , mit diesen Händen! Polyneikes! langer stummer Schrei, wenn sie die Leiche des Polyneikes entdeckt, die nur ein Leichentuch ist. Sie wirft sich auf ihn, bedeckt ihn von Kopf bis Fuß mit ihrem Körper. Oh, Polyneikes, Bruder. Bruder. Bruder. Ich will dein Atem sein. keucht, als wollte sie ihn wiederbeleben Dein M u n d , deine Beine, dein Füße. Ich will dich bedecken. Will dich bedecken. CHORFÜHRER Verboten! ANTIGONE Kreon hat es verboten. Kreon, ich glaube dir, ich glaube dir, Kreon, daß du mich töten wirst. CHORFÜHRER Das wird der Lohn sein. ANTIGONE Bruder, Bruder. Ich will dein Körper sein, dein Sarg, deine Erde. CHORFÜHRER Kreons Gesetz verbietet es! ANTIGONE ES war nicht Gott, der es erlassen hat, auch nicht die Justiz. lacht Die L e b e n d e n sind die große Grabstätte der Toten. Das weiß Kreon nicht! Auch nicht sein Gesetz! CHORFÜHRER sanft Als wüßte er es nicht. ANTINOOS sanft W a s ?

Zornige

Antigone

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Abgesehen von Polyneikes, den sein Tod verdoppelt, tötet Kreon nur die Lebenden. ANTINOOS Er besorgt die Gräber, lacht Von einem zum anderen. CHORFÜHRER Sehr weise. Wie an einer Kette. ANTIGONE Auch Erinnerungen greifen ineinander. Das wissen weder Kreon noch sein Gesetz, Polyneikes, ich werde zu Rasen und Stein. Weder die Hunde noch Raubvögel werden dich anrühren, mit einer mütterlichen Geste Ich will deinen Körper säubern, dich kämmen, tut es Ich werde weinen, Polyneikes... ich werde weinen... Ihr Verfluchten!

CHORFÜHRER

Zeremonie, sie scharrt mit den Fingernägeln in der Erde, wirft trockenen Staub auf den Leichnam, legt sich auf ihn. Steht auf und schlägt rhythmisch zwei große Steine gegeneinander, was wie ein Totentanz klingt. Sie erweist ihm die letzte Ehre. Lieber keine Taten sehen, die nicht begangen werden dürfen, schieben den Tisch weg. ANTINOOS schaut heimlich zu Es ist ihr nicht gelungen, ihn zu begraben. Die Erde war zu hart. CHORFÜHRER Dabei überraschten sie die Wachen. Verachtenswert, wer ein geliebtes Wesen höher schätzt als das eigene Vaterland. ANTINOOS Genau! CHORFÜHRER sanft Mädchen, warum hast du das nicht bedacht? läuft zu Kreons Gerippe ANTINOOS verbeugt sich parodistisch Der König! Der König! CHORFÜHRER Der bin ich. Mein ist der Thron und die Macht. ANTINOOS Sie wird mit dir abrechnen. Antigone. Geste, sie soll vortreten. CHORFÜHRER Ach die, die sich erniedrigt, die jammert, die Angst hat und zittert. ANTIGONE tritt gelassen vor Mit Furcht und Zittern, Furcht und Zittern. CHORFÜHRER Du hast getan, was ich verboten habe. ANTIGONE Ich gebe zu, es getan zu haben, streite nichts ab. ANTINOOS erschrocken Sie streitet es nicht ab! CHORFÜHRER D U hast das Gesetz übertreten. ANTIGONE Weder Gott noch die Justiz haben es erlassen. CHORFÜHRER D U hast es gewagt, mich herauszufordern, mich herauszufordern. ANTIGONE Ich habe es gewagt. CHORFÜHRER Verrückte! ANTIGONE Verrückt ist, wer mich des Wahnsinns bezichtigt. CHORFÜHRER Stolz hilft nichts, wenn man Sklave des Nachbarn ist. CHORFÜHRER

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Griselda

ANTIGONE zeigt auf Antinoos, spöttisch auch nicht. ANTINOOS stolz Ich bin es nicht. CHORFÜHRER

Doch!

CHORFÜHRER

Verrückte!

Gambaro

Der etwa, mein Nachbar? Du

ANTINOOS Ich bin es doch! verwirrt Was denn? Nachbar des Sklaven oder Sklave des Nachbarn? CHORFÜHRER weil Antigone lacht Die da beleidigt mich, indem sie die Gesetze verletzt, und nun fügt sie eine zweite Schmähung hinzu: sie macht sich lustig und lacht. ANTIGONE Ich lache nicht. CHORFÜHRER Sie wäre ein Mann und nicht ich, ließe ich sie ungestraft. Weder sie noch ihre Schwester entgehen dem schrecklichsten Tod. ANTIGONE wird bleich Ismene? Warum Ismene? ANTINOOS Ja. Warum Ismene? CHORFÜHRER steigt schnell aus dem Gerippe, um wieder seine Rolle einzunehmen Warum? ANTIGONE Sie wollte mir nicht helfen. Sie hatte Angst. CHORFÜHRER Wie sollte sie keine Angst haben? Sie ist ein Kind. So zart! ANTIGONE Vor Kreon hatte auch ich Angst. ANTINOOS Er ist unser König! ANTIGONE Und ich eine Prinzessin! Auch wenn das Unglück mich auserkoren hat! ANTINOOS Ja! Tochter von Ödipus und lokaste. Prinzessin. CHORFÜHRER Die Prinzessin ist traurig... / Was trübt ihr die Stunde? / Ein Seufzer entfährt ihrem Erdbeermunde. ANTINOOS Kein Kuß noch ein Flehen im Schlünde. CHORFÜHRER Hätt' sie sich nur ruhig betragen/den Bruder nicht begrab e n / H a i m o n s Frau könnt sie sich sagen! Sie lachen. ANTIGONE Vor Kreon hatte ich Angst. Doch er wußte es nicht. Herr, mein König, ich habe Angst! Ich beuge mich unter jener gemeinen Last, die da Angst heißt. Bestrafe mich nicht mit dem Tod. Laß mich Haimon heiraten, deinen Sohn, die Freuden von Ehe und Mutterschaft erfahren. Ich möchte meine Kinder aufwachsen sehen, langsam alt werden. Ich habe Angst! mit einem Schrei besinnt sie sich auf ihren Stolz Antigone! steht auf aufrecht und herausfordernd Ich habe es getan! Ich habe es getan! ANTINOOS Kreon rief mich zu sich, dieser vollkommen Wahnsinnige, der meint, der Tod sei von geringem Haß. Er meint, ein Gesetz sei ein Gesetz, weil es aus seinem Munde kommt. CHORFÜHRER ES herrscht der Stärkere. Das ist das Gesetz! ANTINOOS Frauen kämpfen nicht gegen Männer!

Zornige

Antigone

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Weil ich eine Frau bin, wurde ich geboren, um Liebe, nicht Haß zu teilen. ANTINOOS Manchmal vergißt du das. CHORFÜHRER Wir haben es gehört! Wie gut das klingt! Ich wurde geboren, um Liebe, nicht Haß zu teilen. ANTIGONE Ich habe es zu Kreon gesagt, der seinen Haß immer mit sich trägt, denn der kommt nie allein. Der Haß. CHORFÜHRER Die Wut. Die Ungerechtigkeit. ANTIGONE Ich befehle. CHORFÜHRER Eine Frau hat mir nichts zu befehlen. ANTIGONE Und ihm wurde schon befohlen, er wurde schon erniedrigt. Gedemütigt durch die eigene Allmacht. ANTINOOS Ich würde nicht gedemütigt sagen. CHORFÜHRER äfft ihn nach, verletzend Ich würde nicht, ich würde nicht! Ich auch nicht. Ismene war klüger. ANTIGONE Sie wollte mir nicht helfen. Sie hatte Angst. Wie eine Schuldige zwang Kreon sie, mit Angst vor ihn zu treten. Polyneikes fleht nach Erde. Erde erbitten die Toten und nicht Wasser oder Hohn. wimmert wie Ismene Weine nicht, Ismene. Du willst mir nicht helfen. „Psst! Sei still, damit niemand von deiner Absicht erfährt. Wer Polyneikes Leichnam berührt, der wird gesteinigt werden. Ich bitte die Toten um Vergebung. Ich werde Gehorsam leisten." Wem, Ismene? Kreon, dem Henker? CHORFÜHRER Henker. Sie hat Henker gesagt. BEIDE Wenn man von Macht spricht/beginnt Blut zu fließen. Sie schieben den Tisch zur Seite. ANTIGONE Ich wollte nichts von ihr verlangen. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, sie getröstet wie in der Kindheit, wenn sie weinend zu mir kam, weil man ihr die Steinchen beim Spielen fortgenommen oder sie sich gestoßen hatte. Kindchen, Kindchen, ist ja gut. Aber ich hörte mich schreien. Wut! Wut! Ich hasse dich für so viel Feigheit! Alle Welt soll wissen, daß ich Polyneikes begraben werde. Lauthals werde ich meinen Toten begraben! CHORFÜHRER Ohne Verstand lief Ismene durch den Palast, unschuldig schuldig, wissend, was sie um jeden Preis nicht zu wissen wünschte. ANTIGONE schlägt sich vor die Brust „Ich weiß! Nichts ist mir unbekannt! Vor Kreon überkam sie der Mut, stärker als der meine, denn der war aus Angst geboren. „Ich war Komplizin, Komplizin." lacht, spöttisch Sie und Komplizin, die doch nur in Worten liebte! CHORFÜHRER Ich akzeptiere keine Komplizenschaft, die du nicht eingegangen bist. ANTINOOS SO hat er sie zurückgewiesen? ANTIGONE

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Griselda

Gambaro

CHORFÜHRER SO. In ihrem Unglück wollte Ismene dasselbe Risiko eingehen. Eine andere, nicht Antigone, hätte was getan? Hätte, von Dankbarkeit erfüllt, die Arme geöffnet! ANTIGONE

Ich s c h l o ß sie.

ANTINOOS Unersättliche! Es schien ihr zu wenig. CHORFÜHRER Sie hat das Laster des Stolzes. Stolz plus Heldentum, wohin führt das? schneidet sich mit einer Geste die Kehle durch. ANTIGONE sanft Ismene, geliebtes Antlitz, Schwester, mein kleines Mädchen, ich brauche die Härte meiner eigenen Wahl. Ohne Mißgunst möchte ich, daß du dem Tod entrinnst, der mich erwartet. Kreon nannte uns beide verrückt, weil wir beide ihn herausgefordert, beide seine Gesetze mißachtet haben. Wir wollten Gerechtigkeit, ich um der Gerechtigkeit willen, sie aus Liebe. CHORFÜHRER Sie mag ja viel reden, aber ihr Schicksal ist besiegelt. ANTINOOS steht auf und geht Ich möchte das nicht sehen. Ich habe schon im Übermaß gesehen! CHORFÜHRER holt ihn Setz dich! Haimon wird für sie bitten. ANTINOOS Und was wird er für ein Gesicht machen? Bekümmert? CHORFÜHRER Was meinst du? Zähl zwei und zwei zusammen: Antigones Strafe, keine Hochzeit. ANTINOOS

Der Ärmste!

CHORFÜHRER ANTINOOS

Er wird das für einen meisterlichen Satz nutzen. Welchen?

CHORFÜHRER Allein auf verlassenem Land läßt sich gut herrschen. ANTIGONE Haimon, Haimon! CHORFÜHRER geht zum Gerippe Er liebt Antigone. ANTIGONE Nimm sie ihm nicht fort! CHORFÜHRER im Gerippe Das bin nicht ich. Es ist der Tod. lacht, Haimon? Antigone dreht sich zu ihm um. Bist du nicht zornig? ANTIGONE mit neutraler Stimme Nein. CHORFÜHRER Ich werde unbeugsam sein. ANTIGONE

leise

D a s w e i ß ich.

CHORFÜHRER Nichts wird meine Entscheidung ändern. ANTIGONE Ich werde nicht versuchen, sie zu ändern. CHORFÜHRER Das freut mich. Man wünscht sich unterwürfige Kinder, die dem Feind des Vaters Schlechtes mit Schlechtem vergelten und seine Freunde ehren. ANTIGONE

D a s ist richtig.

CHORFÜHRER Anarchie ist das schlimmste aller Übel. Wer das Gesetz übertritt und mir Befehle erteilen will, wird mein Lob nicht erhalten. Ich traue nur denen, die gehorchen.

Zornige

Antigone

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Ich würde nicht zu sagen wagen, daß deine Worte nicht vernünftig wären. Allerdings kann auch ein anderer mit Vernunft sprechen. Dein Blick schüchtert ein. Ich kann hören, was die Leute sagen. Verdient sie nicht Belohnung statt Strafe? CHORFÜHRER Diese Frau ist dir zu Kopfe gestiegen. ANTIGONE Ich spreche mit meinem Verstand. CHORFÜHRER Der eine Frauenstimme hat. Es gibt keine kälteren Umarmungen als die einer unnatürlichen, unbändigen Frau. ANTIGONE Unnatürlich? Unbändig. CHORFÜHRER Wie jene. Spuck ihr ins Gesicht, auf daß sie sich einen Mann in der Hölle suche. ANTIGONE Ich werde sie anspucken. Stille, führt die Hand zum Gesicht. Er hat mich nicht bespuckt, Kreon. CHORFÜHRER klettert aus dem Gerippe und stellt sich vor Antigone Du müßtest stolz sein. ANTIGONE Auf was? CHORFÜHRER Daß ein Jungchen wie Haimon vorhat, seinem Vater, dem König, eine Lehre zu erteilen! ANTIGONE Auch wenn ich jung bin, halte dich nicht an mein Alter, sondern an meine Taten. Auf Haimons Stolz bin ich stolz. CHORFÜHRER geht in Richtung Tisch, gekränkt Jugend! ANTINOOS Jetzt läuft alles glatt, aber, was für ein Streit! Er war bis an die Ecke zu hören. CHORFÜHRER Sollte sie die Stimme erhoben haben, dann war es gerechtfertigt. ANTINOOS D U sagtest, was für eine Jugend! CHORFÜHRER Na und? Ich meinte nicht Haimon. Er sprach für uns. Er sagte alles, was wir dachten. ANTINOOS verstört Was? fasst sich an den Kopf. CHORFÜHRER D U hast sie zu Unrecht verurteilt. ANTINOOS Genau! CHORFÜHRER Welche Anwälte hatte sie? Welche Richter? Wer stand ihr zur Seite? ANTINOOS Ihr Vater? CHORFÜHRER Hat sie nicht! ANTINOOS Ihre Mutter? der Chorführer macht eine schnelle Geste der Verneinung Ihre Brüder? ibid Ihre Freunde? Er packte sie und beschloß: die mach ich fertig. CHORFÜHRER Und wir sagen: Wie bitte? Ausgerechnet sie verurteilt? Sie duldete nicht, daß ihr im Kampf gefallener Bruder ohne Begräbnis blieb. Verdient das nicht Belohnung und nicht Strafe? ANTINOOS zufrieden Das sagen wir! ANTIGONE

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Griselda

Gambaro

CHORFÜHRER Davon zu Kreon... Geste ANTIGONE Öffentliches Gerede entsteht immer aus heimlichen Worten. Wer meint, allein er spräche oder denke wie kein anderer, ist innen vollkommen hohl. ANTINOOS Haimon hat sehr gut gesprochen. CHORFÜHRER Ebenso Kreon! Er sagte: Ich traue nur denen, die gehorchen. Sie werden das Gesetz nicht brechen. ANTINOOS sehr verstört Einer muß nur gut reden, damit keine Unentschiedenheit herrscht! CHORFÜHRER Ich löse das. Majestätisch geht er zum Gerippe, hält jedoch inne, dreht sich zu Antigone Die Stadt gehört dem, der sie regiert. ANTIGONE Allein auf verlassenem Land könntest du gut herrschen. CHORFÜHRER

D a s ist er. D e r Satz.

ANTINOOS sehr verstört Ich bestehe darauf! Wem gehört das Recht? CHORFÜHRER Und sie beschimpften sich. Kreon nannte ihn einen Dummkopf, und Haimon sagte, er rede kindisch daher! ANTINOOS

Z u m Vater?

ANTINOOS

Gut!

ANTINOOS

Wie kühn!

CHORFÜHRER Kreon.

Zum Vater! Niemals wirst du sie lebend heiraten, sagte

CHORFÜHRER Sie wird sterben, aber sie wird nicht allein sterben, antwortete Haimon. CHORFÜHRER Was? Dumme Antworten zu geben? ANTINOOS Die waren nicht dumm. CHORFÜHRER schaut ihn drohend an, dann lächelt er Mag sein... Meine Schwäche ist, daß ich mich leicht aufrege. ANTIGONE Kreon ließ mich rufen - mich, verhaßtes Geschöpf - damit ich in Haimons Gegenwart und unter seinen Augen sterbe. CHORFÜHRER ES ist ihm nicht gelungen. Haimon wollte nicht! ANTIGONE Ich weiß, daß er nicht wollte. CHORFÜHRER Sie wird nicht in meiner Gegenwart sterben - sagte Haimon - und deine Augen werden mich niemals wiedersehen! steht auf Mit willfährigen Freunden wirst du dich deinen Zornesausbrüchen hingeben können. Mich wirst du niemals wiedersehen. ANTINOOS Setz dich! Laß mich nicht allein! CHORFÜHRER Warum? Wovor hast du Angst? ANTINOOS Vor nichts! vertraulich Ich wagte es, Kreon zu sagen, wie verzweifelt Haimon war. Schlimme Sache in seinem Alter. CHORFÜHRER Und was bringt das? Was hast du riskiert? Ich, ich trat für Ismene ein. Welche Schuld trug sie? Daß sie auf die Verrückte gehört hat. Sie hat den Leichnam nicht berührt.

Zornige

Antigone

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Kreon ist nicht unvernünftig. Er hat ihr verziehen. ANTINOOS Ja, und danach? CHORFÜHRER Danach, was? ANTINOOS D U hast die Sache geregelt. Was für ein Tod erwartet Antigone, hast du liebenswürdig gefragt. CHORFÜHRER Das war schon entschieden. Was hätte ich ändern können? Ich werde sie in einer Felsenhöhle verstecken, mit Nahrung für einen Tag. ANTIGONE Ich habe meine letzte Reise angetreten. CHORFÜHRER Dort kann sie den Tod anrufen und ihn bitten, sie nicht zu berühren. ANTIGONE Er soll mich nicht berühren. Berühre mich nicht, oh Tod! CHORFÜHRER Oder sie wird - ein wenig zu spät - bemerken, wie überflüssig es ist, ihn um Leben anzubetteln. ANTIGONE Und doch bitte ich darum. CHORFÜHRER traurig Überflüssig, aber umsonst! ANTIGONE Ich flehte um Sonnenlicht. Meine lichthungrigen Augen. CHORFÜHRER Liebe, Liebe! So ein Pech! Ich meine, wegen Haimon. Er besiegt die Lust, und wo bleiben die Gesetze der Welt? ANTINOOS Ja, ja, aber was haben die Gesetze mit Antigone zu tun? Ich betrachte sie und... CHORFÜHRER Sie geht in das Bett, in das wir alle müssen. ANTIGONE Ich habe meine letzte Reise angetreten. „Das letzte Mal" sagen. ihre Stimme bricht Letz...tes Mal. Wissen, daß im Jenseits kein Licht ist, keine Stimme. Der Tod, der alles einschläfert, was atmet, zerrt mich an seinen Rand. Ich habe keine Hochzeitsnacht gekannt, keine Brautgesänge. Als Jungfrau gehe ich. Mit dem Tod vermähle ich mich. CHORFÜHRER D U vergißt die Vorzüge: Du schreitest ruhmvoll, verherrlicht in die Dunkelheit. ANTINOOS Alle spenden dir Beifall. CHORFÜHRER Ohne Krankheit, ohne Leiden. ANTINOOS Ohne Altersgebrechen. CHORFÜHRER Aus eigenem Willen, könnte man unter uns sagen, wirst du frei und lebendig zu den Toten hinabsteigen. Das ist nicht so tragisch! ANTIGONE Wie Niobe wird mich das Schicksal unter einem Mantel aus Steinen einschläfern. CHORFÜHRER Aber Niobe war eine Göttin und von Göttern geboren. Wir sind sterblich und geboren von Sterblichen. ANTINOOS

CHORFÜHRER

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Griselda Gain baro

ANTINOOS ES klingt ziemlich großspurig, wenn sie sagt, sie teile das Schicksal der Götter. Sie lachen. ANTIGONE Ihr lacht über mich! CHORFÜHRER Nein, nein! Sie lachen. ANTIGONE Warum schmäht ihr mich vor meinem Tode, wenn ich noch atme? CHORFÜHRER Gut, es war ein Scherz! Sei nicht gekränkt! Sie verbeißen sich das Lachen. ANTIGONE Oh, ihr glücklichen Bürger, seid Zeuge, daß niemand mich mit seinen Tränen begleitet... CHORFÜHRER Mein Gott, sie tut sich schon selbst leid! sie versuchen zu ßüchten. ANTIGONE Daß die Gesetze, was für Gesetze, mich in eine Höhle schleifen, die mein Grab sein wird. Niemand wird mein Weinen hören, niemand mein Leid bemerken. Man lebt im Licht, als wäre nichts geschehen? Mit wem werde ich mein Haus teilen? Ich werde weder bei den Menschen sein noch bei den Gestorbenen, man wird mich nicht zu den Toten und nicht zu den Lebenden zählen. Ich werde lebend aus der Welt verschwinden. CHORFÜHRER gutmütig Der Strafe geht immer die Verfehlung voraus, meine Tochter. Es gibt keine Unschuldigen. ANTIGONE leise Nie? fasst sich Ich stimme dir zu: sehr gut gesagt! CHORFÜHRER Und wenn auf dich Strafe gefallen ist, so hast du etwas getan, was du nicht tun durftest. Was willst du? Du hast deinen Wagemut auf die Spitze getrieben und bist gewaltig gestürzt. ANTINOOS

Bumm!

ANTIGONE Ach, welch unheilvolle Ehe hast du für mich gestiftet, mein Bruder! Mit deinem Tod hast du mich getötet, als ich dich überlebte. ANTINOOS ES bricht mir das Herz! CHORFÜHRER Mir auch. Aber die Macht ist für den, der sie besitzt, unantastbar. Wie konnte sie sich ihr widersetzen? Beklage dich nicht, meine Freundin, ein Schicksal so innerhalb und so außerhalb der Norm läßt sich nicht mit Kleingeld bezahlen. ANTINOOS Ihr Charakter hat ihr Verderben gebracht. CHORFÜHRER Hätte sie nur auf Rat gehört. Unseren Rat! ANTIGONE Die Sonne! Die Sonne! CHORFÜHRER Da ist sie. Schau sie dir zum letzten Mal an. ANTIGONE Zum letzten Mal. Man nimmt mich fort ohne Wehgeschrei, ohne Freunde, ohne Ehemann. Bei meinem Tod gibt es weder Tränen noch Klagen. Nur die meinen.

Zornige

Antigone

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CHORFÜHRER H a s t d u die S o n n e a n g e s c h a u t ? H a t e s dir gefallen? Hat sie dich g e w ä r m t ? Gut, es reicht! Ließe m a n u n s vor d e m Sterben j a m m e r n , w ü r d e n wir nie sterben. ANTINOOS ES langweilt. Sie hört gar nicht m e h r auf! CHORFÜHRER Ich m a c h e S c h l u ß mit ihr. geht zum Gerippe, bleibt auf der Hälfte des Weges stehen Diese L a n g s a m k e i t w i r d jenen leid tun, die so lange b r a u c h e n , u m sie abzuführen, im Gerippe Schließt sie ein! M a n soll sie in d i e s e m Grab lassen. W e n n sie dort sterben will, soll sie sterben. W e n n sie unter d i e s e m Dach b e g r a b e n leben m ö c h t e , soll sie leben. W i r bleiben unbefleckt von ihrem T o d , u n d sie hat keinen Kontakt zu den Lebenden. ANTINOOS W i e weise! Sie ist da und ist es nicht, w i r töten sie und töten sie nicht! ANTIGONE O h , G r a b , oh, H o c h z e i t s z i m m e r . In d e n Fels g e g r a b e n e Beh a u s u n g , e w i g e s G e f ä n g n i s , w o ich die M e i n e n treffen w e r d e . Als letzte und allerunglücklichste steige ich hinab, b e v o r m e i n e Lebensfrist verwelkt. Doch groß ist m e i n e H o f f n u n g , d a ß ich dort die Liebe m e i n e s Vaters finde, und auch deine Liebe, Mutter, und die deine, mein Bruder. Als sie starben, w u s c h ich ihre K ö r p e r mit meinen eigenen H ä n d e n , vollzog die Bestattungsriten. U n d nun dieser traurig e Lohn für Dich, liebster Polyneikes. W ä r e ich M u t t e r g e w e s e n , hätte ich dies niemals für m e i n e Kinder getan. Nie hätte ich für mein e n toten G a t t e n solch M ü h s a l auf m i c h g e n o m m e n . Polyneikes, P o l y n e i k e s , du sollst w i s s e n , w a r u m ich d a s sage! Einen a n d e r e n E h e m a n n hätte ich finden können, Kinder e m p f a n g e n , trotz meines S c h m e r z e s . D o c h mein V a t e r und m e i n e M u t t e r sind tot, n i e m a l s m e h r k a n n ein Bruder g e b o r e n w e r d e n . N i e m a l s wirst du w i e d e r g e b o r e n w e r d e n , Polyneikes! K r e o n hat m i c h verurteilt, m e i n Bruder. CHORFÜHRER klettert aus dem Gerippe Und gut geurteilt! ANTIGONE W e l c h e s G e s e t z h a b e ich verletzt? W e l c h e n G o t t h a b e ich beleidigt? A b e r wie soll ich noch an G o t t g l a u b e n ? W e n soll ich anrufen, w e n n m e i n Mitleid mir solch u n b a r m h e r z i g e B e h a n d l u n g e i n g e t r a g e n hat? W e n n d a s gerecht ist, d a n n h a b e ich mich geirrt. D o c h , sind es m e i n e Verfolger, die irren, w ü n s c h e ich ihnen dasselb e Leid, das sie mir ungerecht z u f ü g e n ! D a s s e l b e Leid, nicht mehr, nicht weniger, dasselbe Leid! ANTINOOS Sie hört nicht auf damit! Die alte Leier! CHORFÜHRER S i e ist n a c h t r a g e n d , für sie b l ä s t n o c h d e r s e l b e W i n d . heimlich zu Antigone Es gibt so e t w a s w i e R e u e ! D a s nützt nicht viel, tröstet aber. ANTINOOS W i r wissen, daß sie stirbt, w a r u m stirbt sie d a n n nicht?

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Griselda

Gambaro

CHORFÜHRER Hat Kreon nicht gesagt, die Langsamkeit wird jenen leid tun, die so lange brauchen, um sie abzuführen? Leise setzt das Geräusch von Flügelschlagen und Krächzen ein. ANTIGONE Sie holen mich! Seht nur, zu welchen Qualen und von welchen Richtern ich verdammt bin. Sie leidet.

ANTINOOS

CHORFÜHRER Man leidet immer, wenn man das himmlische Licht gegen das Dunkel eines Gefängnisses eintauscht. Viele hat ein ähnliches Schicksal ereilt. Wenn man die Macht schmäht und die Grenzen überschreitet, meine Tochter, bezahlt man stets mit seinem Blut. Das Geräusch der rauhen, düsteren Krächzer und des heftig zu- und abnehmenden Flügelschlagens wird lauter. CHORFÜHRER

W a s ist d a s für e i n L ä r m ?

ANTINOOS Vögel im Frühling. CHORFÜHRER kühl Dummkopf. ANTINOOS Man beschimpft mich: ich gehe. CHORFÜHRER Bleib! Irgendetwas wird im letzten Moment passieren. ANTIGONE Ich habe es nicht gewußt. Ich wußte nicht, daß Kreon... ANTINOOS Heißt das, sie wird einen Verteidiger haben? CHORFÜHRER Nein, niemals! ANTINOOS

W a s darin?

ANTIGONE schiebt riesige Flügel vor sich her Fort! Fort! stöhnt vor Angst und versucht sich zu schützen, beherrscht sich mühsam Nein! Es ist gut, daß sie mich mit ihren stinkenden Flügeln bedecken, daß sie mich mit ihren Schnäbeln streifen, entschlossen bietet sie sich mit zusammengebissenen Zähnen dar Beißt zu! Beißt zu! Ihr werdet mich nicht stärker verwunden als Kreon! ANTINOOS Ich möchte nach Hause. Mir ist kalt! CHORFÜHRER Wir gehen gleich! Ich würde gern noch einen Kaffee trinken. steht mit seiner Tasse in der Hand auf und holt sich noch einen Kaffee. Er bleibt neben Kreons Gerippe stehen. ANTINOOS etwas fällt auf den Tisch, er hebt es angeekelt auf Was ist das? Was für ein Dreck! CHORFÜHRER Keine Sorge! Tiresias wird kommen und wenn er auch blind ist, klärt er alles, der Priester Tiresias! steigt ins Gerippe Was gibt es Neues, alter Tiresias? Dein verdunkeltes Gesicht erschreckt mich, als wäre es von doppelter Blindheit. Nie habe ich deine Ratschläge ausgeschlagen. Daher habe ich die Stadt gut regiert, für sich Durch geschicktes Paktieren. Pause Was ist das für eine Schweinerei? Es ist auf mich gefallen! kommt raus, wischt sich Dreck ab, der auf ihn fällt.

Zornige

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Antigone

ANTINOOS verbirgt mit der Hand etwas, was auf seinen Arm gefallen ist, furchtsam und reglos. Langsam schiebt er die Hand fort, während er nach oben schaut. Pest! CHORFÜHRER W a s ? Pest! ANTINOOS Ich will nach Hause! CHORFÜHRER Die h u n g r i g e n Vögel h a b e n S t ü c k e aus Polyneikes Leichn a m gerissen. Deshalb schreien sie. Sie h a b e n d a s Fleisch und Blut eines im K a m p f Gestorbenen gefressen. ANTINOOS Soll Tiresias sich d a r u m k ü m m e r n ! Ich will nach Hause! CHORFÜHRER U n d in dein H a u s wird die Pest dir folgen! ANTINOOS Ich w e r d e mich einschließen! CHORFÜHRER Die Pest wird dir folgen. Kein Gott w i r d unser Flehen erhören. Verfluchte Vögel! ANTIGONE Das Übel, das wir zuließen, w i r d u n s alle anstecken. In euren Häusern versteckt, von Angst zerfressen w i r d euch die Pest verfolgen. CHORFÜHRER Vielleicht nicht, w e n n T i r e s i a s b e i K r e o n erreicht, w a s dein Starrsinn dir verweigert hat. ANTIGONE V e r s u c h e nicht, Kreon zu ü b e r r e d e n , Tiresias. Kreon hat zu dir gesagt, die gesamte Rasse der Priester liebe d a s Geld, lacht U n d du hast geantwortet, d a ß die der T y r a n n e n d e m schändlichen Profit huldige. Ihr versteht e u c h gut! schiebt Flügel beiseite, deren Schlagen nachgelassen hat Ich fürchte nichts. W a s sagt Tiresias? D a ß du mit d e m Tod eines von deinem Blut g e b o r e n e n W e s e n s zahlen wirst... Es wird dunkel. Hai... Haimon... weil du m i c h ins G r a b g e w o r f e n hast u n d P o l y n e i k e s L e i c h n a m u n b e s t a t t e t z u r ü c k b e h a l t e n hast. Im M u n d e von Tiresias m i s c h e n sich W a h r h e i t u n d L ü g e . L a ß deine W u t nicht an einer Leiche aus. W a s ist d a s für eine Heldentat, einen Toten zu töten? CHORFÜHRER Ja, das wird er sagen. ANTIGONE H u n d e , Wölfe und Geier zerfleischten den L e i c h n a m meines Bruders und befleckten mit den Überbleibseln die Altare. CHORFÜHRER

ANTIGONE CHORFÜHRER

Pest!

Die Städte geraten in Aufruhr. Pest!

ANTIGONE Tiresias, das erschreckt dich! G e s c h i c k t bist d u der F r e u n d der Macht, w e n n sie a u f ihrem Gipfel steht, u n d w e n d e s t dich ab, sobald der Niedergang beginnt. Du hieltest Fürsprache für mich, für den zerfleischten P o l y n e i k e s . U n d a u s A n g s t v e r z i e h m i r Kreon. Pause Ich habe das nicht gewußt. Das Krächzen und Flügelschlagen hört auf

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Griselda

Gambaro

Ich fürchte, ich werde die Gesetze beachten müssen, hat Kreon gesagt. ANTINOOS Zur rechten Zeit! CHORFÜHRER Auch wird er seine Gefühle beachten müssen, wenn Haimon sich... macht ein Geste, als würde er sich erstechen. ANTIGONE summt, setzt sich den Blumenkranz auf Ich habe mich verlobt. verbiegt merkwürdig den Hals, wie erhängt Der Tod ist gekommen, Gatte, Vater, Bruder... CHORFÜHRER Oh weh, Haimons Zorn! ANTINOOS Zorn der Jugend! CHORFÜHRER Kreon rief ihn unter Schluchzen. Wie bist du in das Grab eingedrungen? Höre ich deine Stimme oder täuschen mich die Sinne? Schafft den Stein fort, der den Eingang versperrt. Haimon! Ich flehe dich an! Komm aus diesem Grab! schluchzt, überzogen. ANTIGONE Haimon schlang sich um meine Taille. CHORFÜHRER Und was tat Haimon? Er spuckte seinen Vater an. spuckt Antinoos ins Gesicht. ANTINOOS Nicht mich! CHORFÜHRER Und zog das Schwert und...! greift an. ANTINOOS springt zur Seite Kreon rettete sich um Haaresbreite. CHORFÜHRER Es wäre besser für ihn gewesen, drauf zu gehen. Gibt es ein größeres Unglück als das eigene? Nicht nur Haimon, auch Eurydike, seine Mutter, kam durch ein scharfes Messer zu Tode. ANTINOOS Sie auch? Keiner ist übrig! CHORFÜHRER Kreon ist übrig, begibt sich ins Gerippe. ANTIGONE Er weinte um meine Taille geschlungen. CHORFÜHRER Haimon, oh du Unglücklicher! In welchem Unheil willst du dich verlieren? ANTIGONE Er verfehlte den Schlag gegen Kreon und warf sich in sein Schwert. Noch atmend umschlang er meine Arme und starb in Wogen von Blut... Wogen von... Blut... in meinem Gesicht schreit unvermittelt Haimon, Haimon, nein! Töte dich nicht! Verdopple nicht meine Einsamkeit. ANTINOOS Alle die Probleme aus Mangel an Vernunft. Oder? CHORFÜHRER Ach, Irrtümer dieser Seelen! Sie töten, und es sterben die von meinem Geschlecht. Ach, Sohn, Sohn. All das Unglück, das in meiner Familie und auf dieser Erde gesät wurde! Und nun bin ich es, schuldig! Gegen mich richten sich alle Speere! Ich werde in diesem Gefängnis leiden, bei Wasser und Brot! schluchzt ehrlich. ANTINOOS verwirrt Noch ist er an der Macht, wieso Gefängnis? Was nennt er Gefängnis? Nennt er Wasser und Brot den Wein und die Gelage? Die Ehrbezeugungen und Festlichkeiten? CHORFÜHRER

Zornige

Antigone

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Ich werde so lange leiden, bis ihr es versteht! Er hat ein großes Herz, das leicht begnadigt... ANTIGONE Seine Verbrechen. CHORFÜHRER Mein war der Thron und die Macht, beschämt Sie sind es noch... ANTINOOS Trotz seines schrecklichen Schmerzes genießt er vollkommenes Glück! Wie wir! Antigone stößt einen animalischen Schrei aus. CHORFÜHRER Ich verzeihe euch! Ihr wißt nicht, was ihr tut! Ihr wollt mich verurteilen, mich, der ich meinen Sohn, meine Frau geopfert habe. Antigone, die du so viel Unheil über mich und meine Sippe gebracht hast, ich verzeihe dir! ANTINOOS theatralisch Bravo! Der Chorführer steigt aus dem Gerippe, grüßt. ANTIGONE singt „Ein Leichentuch umhüllte ihn. Sein Grab bedeckten Blumen, von Tränen begossen." Ich beweine dich, Haimon! Blut, wieviel Blut in dir war! berührt ihr Gesicht Außen und innen bin ich voll von deinem Blut. Ich will es... nicht, ich will es... nicht. Es ist deins. Trink dein Blut, Haimon! Hol dir dein Blut zurück! Lebe wieder! ANTINOOS Wird sie es schaffen? CHORFÜHRER abschätzig grinsend Etwas schwierig. ANTINOOS Aber... CHORFÜHRER scharf Wenn Blut im Spiel ist, lassen sich die Taten nicht berichtigen, Idiot! ANTIGONE zärtlich Du hast meine Einsamkeit verdoppelt. W a r u m wolltest du lieber das Nichts statt der Strafe. Die Flucht statt des Starrsinns des Besiegten. ANTINOOS Er war sehr jung! CHORFÜHRER Und du, warum hattest du solch Eile? macht eine Geste, als würde er sich erhängen. ANTIGONE Ich fürchtete Hunger und Durst. Unwürdig dahinzusiechen. Im letzten Moment zu kriechen und zu flehen. ANTINOOS Die härtesten Herzen können zuletzt weich werden. Hast du sein Weinen gehört? Er hat dir verziehen. ANTIGONE Nein. Noch immer will ich Polyneikes begraben. Immer werde ich Polyneikes begraben wollen. Und wenn ich tausend Mal geboren würde und er tausend Mal stürbe. ANTINOOS Nun dann wird Kreon dich immer strafen! CHORFÜHRER ANTINOOS

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Griselda

Gambaro

CHORFÜHRER Und tausend Mal wirst du sterben. Den Tod, meine Tochter, muß man nicht rufen. Er kommt von allein, lächelt Übereilung ist dabei fatal. ANTIGONE Hört der Spott nie auf? Bruder, ich kann diese Wände, die ich nicht sehe, nicht ertragen, diese Luft, die mich wie ein Stein niederdrückt. Den Durst, ertastet die Schale, hebt sie hoch und führt sie an die Lippen, erstarrt Ich werde trinken und durstig bleiben, meine Lippen werden springen und meine Zunge schwillt an zu einem stummen Tier. Nein. Ich verweigere diese Schale der Barmherzigkeit, die euch zur Beschönigung eurer Grausamkeit dient, schüttet sie langsam aus Mit vom eigenen Speichel befeuchteten Mund werde ich in den Tod gehen. Stolz, Haimon, werde ich in den Tod gehen. Und du wirst gelaufen kommen und dir das Schwert einrammen. Ich habe es nicht gewußt. Ich wurde geboren, um Liebe nicht Haß zu teilen. lange Pause Doch es herrscht der Haß. zornig Der Rest ist Schweigen! gibt sich den Tod. Voller Zorn.

Jorge Díaz Das andere Ufer La otra orilla

Madrid 1986 Deutsch von Heidrun Adler

... seltsam, ja unglaublich ist, daß ich trotz meiner schutzlosen Erwartung nicht weiß, was der Wind vom Exil sagt. Mario Benedetti

Das andere

Ufer

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Jorge Díaz: (1930) ist in Argentinien geboren, seine Eltern waren Spanier. Er ist in Santiago de Chile aufgewachsen und studierte Architektur. Seine Arbeit für das Theater begann mit einer Zeichnung für ein Bühnenbild. Seit 1960 widmet er sich ganz dem Theater als Autor, Regisseur, Schauspieler, Bühnenbildner. In seinen ersten Stücken zeigt er Personen, die in ihrer eigenen Welt befangen sind, unberührt von den Gefühlen ihrer Mitmenschen. Da diese Gleichgültigkeit unweigerlich zu Reibungen führt, die sich zu physischer Aggression steigern können, präsentiert Díaz ein außerordentlich gewalttätiges Theater. Seine bevorzugten Stilmittel sind Komik, schwarzer Humor und Ironie, die sich in krassen Situationen manifestieren und vor allem in provokativen Sprachspielen. In El cepillo de dientes (1961) streitet ein Paar jeden Tag auf die absurdeste Weise in ineinandergreifenden Monologen, Sprachmanipulationen, unsinnigen Sprichwörtern und Anleihen aus fremden Sprachen um die Zahnbürste. Diese Parodie absoluter Kommunikationslosigkeit führt konsequent bis zum Mord. Während El cepillo de dientes ein sehr komisches Stück ist, zeigt Réquiem para un girasol (1961), das in einem Beerdigungsinstitut für Haustiere spielt, bittere Züge. Der Beerdigungsunternehmer Linfa interessiert sich auf groteske Weise nur für den Tod, sein Assistent für das Leben. Die Gewalt äußert sich hier in der Vergewaltigung des Lebens. In El velero en la botella (1962) isoliert die Gleichgültigkeit einer Familie den Sohn wie „ein Schiff in einer Flasche". Hier betont Díaz die kreative Macht der Sprache. David ist stumm, bis er eine herzliche Beziehung zu Rocío, dem Dienstmädchen, eingehen kann und ist dann von den Worten überwältigt. 1965 geht Díaz nach Spanien. Dort entsteht Topografía de un desnudo (1965). Der Mord an Rufo soll aufgeklärt werden - er starb, weil er nicht mit der Polizei zusammenarbeiten wollte, die ein Elendsviertel evakuieren will. Ein Zeitungsverleger hat das Gelände gekauft, um dort lukrative Wohnungen zu bauen. Er schreckt bei der Verfolgung seines Ziels nicht vor Einschüchterung und Mord zurück. Das klingt sehr nach didaktischem Theater, aber Jorge Díaz präsentiert ein ironisches und bitterböses Meisterwerk. Danach schreibt er eine Reihe sozialkritischer Stücke. 1 Das Thema Chile unter den Militärs behandelt er in Toda esta larga noche (1976) 2 . Es zeigt vier Frauen im Gefängnis. Díaz dramatisiert die Angst mit Hilfe von Geräuschen, Stille und der Unsichtbarkeit der Peiniger, ein Motiv, das immer wieder bei ihm auftaucht. 1

Das witzigste, das seine aktuelle Situation überlebt hat, ist Introducción otras zoologías; es wurde 1968 von ICTUS aufgeführt.

2

Diese ganze lange Nacht, 1981 in Deutschland aufgeführt.

al elefante y

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jorge Díaz

J o r g e D i a z h a t m e h r e r e S t ü c k e z u m T h e m a Exil g e s c h r i e b e n : Ligeros de equipaje (1982), ein M o n o l o g , zeigt M a r t a , e i n e c h i l e n i s c h e S c h a u s p i e l e rin in S p a n i e n , d i e i h r e n A u f t r i t t v o r b e r e i t e t . D a b e i ü b e r w ä l t i g e n sie Eri n n e r u n g e n u n d d a s B e w u ß t s e i n , e n t w u r z e l t z u sein. Muero, luego existo ( 1 9 8 6 ) e r i n n e r t a n d i e e r s t e n , a b s u r d e n S t ü c k e d e s A u t o r s . Z o i l o , ein F l ü c h t l i n g a u s C h i l e , f i n d e t i m Exil k e i n e A r b e i t . Er e r n ä h r t s e i n e K i n d e r d a d u r c h , d a ß er B l u t s p e n d e t . W e i l d a s n i c h t a u s r e i c h t , s p e n d e t er O r g a n e . S c h l i e ß l i c h v e r k a u f t er s e i n e n g a n z e n K ö r p e r an d i e A n a t o m i e u n d m a c h t g l e i c h z e i t i g P l ä n e , w i e sie n u n alle m i t d e m G e l d ein b e s s e r e s Leb e n f ü h r e n w e r d e n . Dicen que la distancia es el olvido ( 1 9 8 5 ) 3 d r a m a t i s i e r t d i e p s y c h i s c h e n F o l g e n v o n Folter u n d Exil. Das andere Ufer (1986) b e s c h r e i b t eine s p a n i s c h e F a m i l i e , die v o r d e m S p a n i s c h e n B ü r g e r k r i e g n a c h A r g e n t i n i e n u n d C h i l e flieht u n d in d e r n ä c h s t e n G e n e r a t i o n m i t d e m M i l i t ä r r e g i m e in C h i l e k o n f r o n t i e r t n a c h S p a n i e n z u r ü c k k e h r t . D i a z stellt v i e r F i g u r e n g e g e n e i n a n d e r : d e n z w e i m a l g e f l o h e n e n a l t e n R e p u b l i k a n e r , s e i n e n S o h n M a n u e l , d e r in C h i l e a u f g e w a c h s e n ist u n d i m s p a n i s c h e n Exil n u r a u f d e n A u g e n b l i c k w a r t e t , n a c h C h i l e z u r ü c k z u k e h r e n , d e s s e n T o c h t e r , d i e in S p a n i e n a u f w u c h s u n d d o r t b l e i b e n m ö c h t e , u n d d e n A r g e n t i n i e r T r o t s k y , d e r sein S c h i c k sal v o n d e r p r a k t i s c h e n S e i t e a n p a c k t . E i n e f ü n f t e F i g u r ist C e c i l i a , sie ist C h i l e n i n , w a r m i t M a n u e l v e r h e i r a t e t u n d t r e n n t e sich v o n i h m , w e i l er „ a u f d e r S e i t e d e r V e r l i e r e r " s t a n d . N u n ist sie m i t i h r e m b i s h e r P i n o c h e t treuen Ehemann vor dem Z u s a m m e n b r u c h der Diktatur nach Spanien a u s g e w i c h e n ins „exilio d e t e r c i o p e l o " (das s a m t e n e Exil), w i e die K u b a ner diese Art Emigration ohne Not nennen. George Woodyard Literatur Bauer, Oksana M. : Jorge Díaz: Evolución de un teatro ecléctico. Ann Arbor 1999. Boyle, Catherine M. : Chilean Theater, 1973-1985: Marginality, Power, Selfhood. London, Toronto 1992. Epple, Juan Armando: „Teatro y exilio. Una entrevista con Jorge Diaz", in GESTOS 2 (November 1986), S. 146-154. Rojo, Grínor: Muerte y resurrección del teatro chileno 1973-1983. Madrid 1985. Woodyard, George: „Jorge Díaz: Chilenisches Theater aus dem Exil", in Widerstand und Macht: Theater in Chile, hrsg. von Heidrun Adler, George Woodyard. Frankfurt/Main 2000, S. 79-94.

3

„Aus den Augen aus dem Sinn", in Theaterstücke aus Chile, hrsg. von Heidrun Adler, Maria de la Luz Hurtado. Frankfurt/Main 2000, S. 171-214.

Das andere Ufer

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Das andere Ufer Manuel (52) - Camila (17) - Benigna (72) - Trotsky (35) - Cecilia (45). Erster Akt Ein großer Raum einer Altbauwohnung. Wenige und unterschiedliche sehr abgenutzte Möbel schaffen den Eindruck einer provisorischen Situation. Mit ein paar Postern an den Wänden, einigen Pflanzen und einem folkloristisch lateinamerikanischen Wandbehang hat man versucht, den Raum etwas anheimelnder zu gestalten. Mehrere Türen führen zu anderen Zimmern. Der Raum, den wir sehen, dient als Werkstatt, als Eßzimmer und als Wohnzimmer. Es ist elf Uhr nachts an einem Wintertag. Manuel klopft an eine verschlossene Tür. Er ist kräftig, wirkt eher spanisch als lateinamerikanisch. MANUEL Papa, nun reicht es, mach die Tür auf! Ich verstehe, daß du verärgert bist, aber schließ dich nicht ein wie ein trotziges Kind. Ich erwarte keine Erklärungen von dir. Ich will nur, daß wir zusammen einen Kaffee und einen Cognac trinken. Es ist verdammt kalt! Du brauchst ihn bestimmt genau so dringend wie ich. Schweigen Hast du dich schon hingelegt? Schweigen Bist du wütend oder geht es dir nicht gut? Camila kommt herein. Sie spricht und kleidet sich wie ein junges Mädchen in Madrid: ungezwungen, vital, ohne Vorurteile. CAMILA wirft ihre Handtasche irgendwo hin Was ist los? MANUEL Dein Großvater. CAMILA Was? Manuel setzt sich an den Tisch, senkt die Stimme. MANUEL Er ist heute früh weggegangen, und erst vor einer halben Stunde hat ihn ein Polizist nach Hause gebracht. CAMILA grinst Ein Polizist? MANUEL Man hat ihn auf dem Platz gefunden, zusammengerollt, halb erfroren. CAMILA Betrunken? MANUEL Nein. CAMILA Komisch! Das verstehe ich nicht. MANUEL Der Polizist hat gesagt, er sei verwirrt, wollte nicht sprechen. Zum Glück hatte er seinen Ausweis dabei, so konnten sie ihn herbringen. CAMILA Hast du einen Arzt gerufen? MANUEL Lucho Orellana. Er kennt ihn. Er hat nichts gefunden.

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jorge Díaz

CAMILA

tickt.

Sowas, der Großvater! Der hat doch immer ganz richtig ge-

Tja, jetzt läuft irgendwas schief. Gedächtnisschwund? Quatsch! Sie geht zur Tür und klopft energisch. Großvater, ich bin's, Camila! Laß doch den Unsinn und mach die Tür auf, bevor ich böse werde. Verdammt, ich will dir ins Gesicht sehen! Benigno niest in seinem Zimmer. Siehst du, jetzt hast du 'ne Erkältung. Was du jetzt brauchst, ist eine heiße Milch mit Rum. Großvater, spiel nicht den Beleidigten, das nervt nur, ehrlich! Die Tür geht auf, Benigno erscheint, ein aufrechter, energischer Mann. Er sieht weder seine Enkelin noch seinen Sohn an. Er geht zu einer Kommode und öffnet eine Schublade, sucht darin. BENIGNO Kruzitürken! CAMILA Was suchst du? BENIGNO ZU sich selbst Immer dasselbe! Nichts liegt an seinem Platz. Er stößt die Schublade zu und geht wieder in sein Zimmer. CAMILA klopft wieder energisch an die Tür Darf man wissen, was du suchst? Die Tür geht abrupt auf. Benigno erscheint mit einer Keksdose. BENIGNO Hör auf, an meine Tür zu schlagen, sonst zähle ich dir die Schläge auf dem Hintern ab! Er geht zum Tisch und schüttet den Inhalt der Dose aus: Knöpfe, Fäden, Nägel, Zahnpasta etc. M A N U E L Brauchst du etwas? BENIGNO Ja, daß ihr verschwindet! nimmt eine Vase und leert Wasser und Blumen auf den Fußboden aus. Wo, zum Teufel, ist das Aspirin? CAMILA W O es immer ist. geht zum Tisch, nimmt eine Schachtel Aspirin aus der Obstschale, und reicht sie ihm. BENIGNO Seit dieser idiotischen Sitte, den Blumen Aspirin zu geben, halten sie nicht mal mehr eine Woche. CAMILA Warte, nimm es mit einem Kaffee! M A N U E L Das Wasser kocht. Camila geht in die Küche. Benigno geht wieder in sein Zimmer und kommt mit einem Schal wieder heraus. M A N U E L Fühlst du dich nicht wohl? BENIGNO Besser als ihr alle zusammen. Er niest. M A N U E L Möchtest du, daß ich den anderen Ofen anmache? BENIGNO Ich hasse Öfen. M A N U E L E S ist saukalt. BENIGNO Was sagen sie im Fernsehen? MANUEL Worüber? MANUEL CAMILA

Das andere Ufer

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Über das Wetter. Er funktioniert nicht. B E N I G N O Schon wieder? MANUEL Sieh mich nicht so an, ich habe ihn nicht angefaßt. B E N I G N O Ein hervorragender Apparat. MANUEL Den du vom Sperrmüll hast. B E N I G N O Na und? Camila kommt mit einem Tablett, drei Tassen und der Kaffeekanne. Sie bringt auch etwas zum Essen. Sie stellt alles auf den Tisch. CAMILA E S war noch Käsekuchen im Kühlschrank, zu Benigno Ich bin sicher, du hast nichts gegessen. B E N I G N O Hab keinen Hunger. Manuel setzt sich an den Tisch und nimmt eine Tasse. MANUEL Nimm das Aspirin mit dem Kaffee. Alle drei trinken Kaffee. CAMILA ZU Benigno Bist du noch böse? B E N I G N O Ja, mit mir selbst. CAMILA Warum? B E N I G N O Das Gebälk will nicht mehr. CAMILA Welches Gebälk? B E N I G N O Der Körper, die Eingeweide, das Skelett, diese ganze Scheiße, die wir mit uns herumschleppen. MANUEL Hast du Schmerzen? B E N I G N O Mich schmerzen meine siebzig Jahre. MANUEL Was willst du damit sagen? B E N I G N O Vergiß es. Ich bin ziemlich gut als Nebenrolle, aber als Hauptdarsteller, werde ich nervös. M A N U E L grinst Heute Abend nimmt mir keiner die Hauptrolle. Ich habe eine Neuigkeit. Sie sehen ihn erwartungsvoll an. Ich habe heute morgen die Passagen bekommen. Camila richtet sich auf. Schweigen. Die Leute von den Vereinten Nationen haben mich angerufen. Wir können noch diesen Monat fahren. Ich kann es nicht glauben. Seit zwei Jahren stehe ich auf der Liste. Sie haben sich Zeit gelassen. B E N I G N O Wie viele Tickets? MANUEL Zwei, natürlich. Du bist Spanier. Du rechnest nicht als Exilant. B E N I G N O Z U komisch. Mein ganzes Leben lang mußte ich Grenzen überschreiten... Aber ich rechne nicht als Exilant. Sechsunddreißig Jahre sind eine lange Zeit für einen Koffer im Schrank. MANUEL Für die bist du in deiner Heimat. B E N I G N O Man hat keine Heimat mehr. Die Rückkehr kam zu spät. BENIGNO MANUEL

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jorge

Díaz

hattest Glück, Vater, die meisten konnten nicht zurück. hast recht. Unser Tal der Gefallenen ist überall, in Amerika und einem großen Teil Europas. Wohin du auch gehst, du stolperst über die Knochen eines spanischen Republikaners. Das Exil war zu lang, weil der Alte nicht sterben wollte. Und als der endlich in die Grube fuhr, waren wir Exilanten auch alle längst fällig für die Grube. Ich habe hier mehr Ärzte aufgesucht als alte Kameraden. CAMILA gespannt zu ihrem Vater Zwei Tickets reichen. Eins für dich und eins für Großvater. M A N U E L Großvaters geht klar, das weißt du doch. Das haben wir zurückgelegt. CAMILA Und du weißt, daß ich nicht zurückgehe. MANUEL E S ist deine Heimat, Camila! Ich war vier Jahre alt, als ich nach Chile kam. Ich bin in Mieres geboren, wie mein Vater. CAMILA steht auf, nervös Meine Heimat! Meine Heimat! Ich bin diesen Heldensermon so leid! Meine Heimat ist ein Platz von dreißig Quadratmetern mit einem Plattenspieler und einer Matratze, das ist meine Heimat! M A N U E L Später karinst du wählen. Jetzt bist du erst siebzehn, und ich, dein Vater, gehe nach Chile zurück. CAMILA Später? ... Wie alt muß man sein, um zu leben, um zu lieben, Spaß zu haben? Ich lebe! Ihr seid doch tot! MANUEL Halt den Mund. Ich hasse Phrasen. CAMILA Und ich hasse was anderes: Deine revolutionären Lieder, deine Nostalgie, Radio Moskau, das Exilanten-Ghetto. MANUEL Das alles bin ich. CAMILA nach einer Pause leise Ich glaube, dann fange ich an, dich zu hassen, Papa. Sie rennt in ihr Zimmer, schlägt die Tür hinter sich zu. Schweigen. Manuel gießt sich Kaffee ein, steckt sich eine Zigarette an. Benigno steht auf, geht zum Fernseher, macht ihn an. Er funktioniert nicht. MANUEL Ich hab dir gesagt, daß er nicht funktioniert. Benigno murmelt unverständlich, nimmt die Rückwand des Apparats ab, holt etwas heraus, befestigt etwas anderes. Hör doch auf damit. B E N I G N O Er wird funktionieren. M A N U E L A U S irgendeinem Grund hat man ihn auf den Sperrmüll gebracht. B E N I G N O Das ist einfacher, als einen Mechaniker zu rufen. MANUEL D U bist kein Mechaniker, Papa. B E N I G N O Muß ich auch nicht. Der Fernseher gibt gewaltige Funken von sich. Scheiße! Er zieht den Stecker heraus. MANUEL

DU

BENIGNO

DU

Das andere

Ufer

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Die Sachen, die du vom Sperrmüll mitbringst, haben nie funktioniert. B E N I G N O mürrisch Der Sessel, in den du deinen Hintern gesetzt hast? MANUEL Na schön, aber... B E N I G N O Und das Öfchen, auf dem du die Milch warm machst? M A N U E L W O wir von Milch reden, deine ist heute ganz schön sauer. Was ist los? B E N I G N O Nichts. MANUEL Ich finde es ja nicht schlecht, daß du Sachen vom Sperrmüll holst. B E N I G N O Nützliche Sachen, die du nicht kaufen kannst. M A N U E L Als wir aus Chile kamen, hatten wir keine elende Matratze, aber jetzt... B E N I G N O Jetzt was? Den Kühlschrank hab ich in der Anton Martin gefunden, die Lampe in Cabestreros, das Bücherbord in Lavapies... MANUEL Verrückt! B E N I G N O beleidigt Ich hab meine Macken, aber noch quatsche ich nicht dumm daher. M A N U E L Wer spricht von Dummquatschen? düster Ich mag einfach so nicht leben. B E N I G N O Wie? MANUEL Von fremden Sachen umgeben. Das ist wie auf Pump leben und obendrein in einem fremden Land. B E N I G N O Man lebt immer auf Pump. M A N U E L Wenn wir nach Chile zurückgehen, werfen wir den Fernseher auf die Straße, und irgendein Exilant holt ihn sich wieder. B E N I G N O nach kurzer Pause Ich werde nicht zurückgehen, Manuel. MANUEL Das haben wir bereits besprochen, Papa. B E N I G N O Ja, das haben wir besprochen. MANUEL D U hast deinen Pass erneuert und dich ärztlich durchchecken lassen. B E N I G N O Ja, aber ich werde nicht zurückgehen. MANUEL Ich verstehe dich nicht. Denkst du wie Camila? B E N I G N O Nein, ich denke nicht wie Camila, aber manchmal verstehe ich sie. Der Platz für so ein Mädchen ist da, wo sie geliebt wird, wo sie selbst liebt. MANUEL Ich spreche von konkreteren Dingen. Wir sind eine Familie, du bist siebzig Jahre alt und Camila ist siebzehn. Wir müssen zusammen bleiben, das ist doch klar. Und in Chile habe ich ein anständiges Haus und eine ordentliche Arbeit, ein Ansehen. B E N I G N O Anständiges Haus, ordentliche Arbeit, Ansehen... Manuel, ein Alter von siebzig Jahren denkt nicht an sowas, er denkt ans AusruMANUEL

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hen, an seine letzte Verbannung. Und ich denke, ein siebzehnjähriges Mädchen entdeckt gerade die unmittelbare Gegenwart, vielleicht einen Jungen, der sie küßt, zum Beispiel. MANUEL beunruhigt Willst du damit sagen, daß Camila schon... Es klingelt an der Haustür. Manuel sieht seinen Vater an, der sich am Fernseher zu schaffen macht, dann geht er zur Tür. Im off Hallo, Trotsky, komm rein. TROTSKY im off Es ist ziemlich spät, oder? MANUEL im off Keine Ahnung wie spät es ist, wir sind noch auf. Manuel kommt mit Trotsky herein, der leger aber modisch gekleidet ist. TROTSKY Hallo, Großvater! Gummi 2 in Arbeit? BENIGNO Um ihn dir in den Arsch zu schieben. TROTSKY Junge, was hat denn dein Alter? MANUEL E S ist noch Kaffee da. Bediene dich. TROTSKY Habe grade meinen Mate getrunken. MANUEL Immer noch auf Folklore? TROTSKY Jetzt misch ich den Mate mit einem Blättchen grünem Marihuana. Phänomenal! MANUEL Und woher hast du das? TROTSKY Ich habe einen Blumentopf auf dem Balkon. Die Hauswartsfrau begießt ihn mir, sie glaubt, das sind Heilkräuter. Er lacht. BENIGNO Ziemlich dumme Kuh, diese Hauswartsfrau. Wenn sie mich sieht, fragt sie jedes Mal, wie es Largo Caballero geht. TROTSKY lacht Schön, wie sie sich um das Wohlergehen der Toten kümmert. BENIGNO Soll sich um ihre eigenen Leute kümmern. Meine Toten erfreuen sich aller bester Gesundheit. TROTSKY Ich dachte mir schon, daß das hier 'ne Totenwache ist, Großvater. MANUEL Im Gegenteil, es ist eine Feier. TROTSKY Im Ernst? MANUEL Heute habe ich die Tickets bekommen. TROTSKY Das heißt, du willst den Pinocho ein bißchen ärgern. Ihr seid mir ein paar Masochisten, ihr Chilenen! MANUEL Die hier oder die da? TROTSKY Hier werden nicht mehr viele bleiben... A propos, stimmt es, daß Alberto aus Spanien ausgewiesen werden soll? MANUEL Ja, sie wenden die Verordnung 5 2 2 / 7 4 auf ihn an. TROTSKY Und was, zum Teufel, ist das? M A N U E L Was weiß ich. Ich glaube, es geht um Ausländer und gesellschaftliche Agitation, oder irgend so etwas. TROTSKY Das kommt davon! Was mußte er sich einmischen.

Das andere Ufer

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Aber seine Papiere sind in Ordnung, und der Streik war legal. Und was heißt das? Die Spaniaken haben mit den Sudacas 4 nicht viel am Hut. M A N U E L Trotsky, manchmal redest du wie ein Wendehals. TROTSKY Was willst du, Mann? Ich passe mich den objektiven Gegebenheiten des historischen Prozesses an. BENIGNO Das heißt, sie sind dir scheißegal. Ich denke, du hast das Exil ganz gut überlebt, Trotsky. TROTSKY Bitte keine Blumen, Großvater, ich bin allergisch. M A N U E L Was machst du jetzt, Trotsky? TROTSKY Ich beende die Winterzeit. M A N U E L Das klingt nach Ausverkauf im Warenhaus. TROTSKY Ihr seid nicht flexibel, mein Alter, ihr geht nicht mit der Zeit. MANUEL

TROTSKY

MANUEL

Und du?

Ich arbeite für eine feministische Zeitschrift. Die Artikel unterzeichne ich als Agustina de Aragon. M A N U E L Und das schlucken sie? TROTSKY Ob sie das schlucken? Die Ärmsten haben vierzig Jahre lang geschlafen. Die kennen nicht einmal Freud. Wir Argentinier haben die Psychoanalyse mit der Polenta gefrühstückt und wenn wir von Begriffsebenen, Gefühlsübertragung, Strukturalismus und anderem Unsinn reden, bleibt ihnen der Mund offenstehen. Auch CASTILLAGAY5 bringt Artikel von mir. Man muß sich anpassen, wenn man ein paar Kröten verdienen will. M A N U E L Und dann beklagst du dich, daß man uns mißtraut. Du änderst deine Identität den Gesetzen des Marktes entsprechend. TROTSKY Sieh das nicht so eng, Junge, Opium ist nichts für mich. BENIGNO Ganz schön kaltschnäuzig, Trotsky! TROTSKY Ich bin kein Schwein, Großvater. Ich bin ein gemäßigter Revolutionär. M A N U E L Warum bist du gekommen? Brauchst du was? TROTSKY Ich wollte mich verabschieden. M A N U E L Du gehst nach Buenos Aires zurück? TROTSKY Zurück? lacht Den Tango überlaß Gardel! M A N U E L Was dann? TROTSKY Morgen Mittag fahren wir an die Costa Brava, mal sehen, ob wir ein bißchen Schmuck verkaufen. M A N U E L Frühlingsanfang, oder? TROTSKY

4

Südamerikaner

5

Zeitschrift für Homosexuelle.

172

Jorge Díaz

Genau. Graciela kann Karten legen und sich damit ein paar Peseten dazu verdienen. M A N U E L Trotsky, Trotsky, von der Weltrevolution zum Auffädeln von Perlenketten. TROTSKY SO haben uns die Spanier erobert. Für Glasperlen haben sie Quadratkilometer von Lateinamerika eingetauscht. Jetzt verkaufen wir ihnen Plastikketten und Glasschmuck. Scheiß doch der Hund drauf! M A N U E L Die Angeschissenen sind am Ende wir. TROTSKY Heul dich bitte nicht an meiner Schulter aus, Manolo, ich kann keine Tränen sehen. BENIGNO Glaubst du noch an irgendetwas, Trotsky? TROTSKY Aber sicher, das fehlte noch! BENIGNO Und an was? TROTSKY An Parapsychologie und an wilde Kräuter. BENIGNO Ziemlich wenig, Trotsky. Ich hab einen Krieg verloren und glaube immer noch an dieselben Dinge. Du hast nur den Flughafen und die Hauswartsfrau ausgewechselt. TROTSKY Vergessen Sie den Krieg, Großvater, darüber gibt es inzwischen zu viele Filme. Sie hätten Mieres nie verlassen müssen. BENIGNO Wenn ich geblieben wäre, würde ich jetzt die Radieschen von unten sehen. TROTSKY Sie hätten vorher zurückgehen können. BENIGNO Und den Prinzipien abschwören? Niemals! M A N U E L ironisch Soll ich dein Marihuana gießen, während du weg bist? TROTSKY Nein, mein Alter, die Pflanze nehme ich mit, aber Graciela will dir die Schlüssel dalassen. M A N U E L Wir gehen in einem Monat, das sagte ich schon. TROTSKY Darüber wollte ich mit dir reden. Du weißt, das Loch, in dem wir wohnen, ist beschissen. Graciela kriegt jeden Winter Asthma. Vielleicht könntest du uns diese Wohnung überlassen. M A N U E L Ich muß sie dem Hauswirt zurückgeben. TROTSKY Wozu, wenn wir uns arrangieren? M A N U E L Was meinst du? TROTSKY Die Wohnung könnte weiter auf deinen Namen laufen, ich zahle die Miete, und der Hauswirt erfährt es nicht mal. M A N U E L Solche Sachen kommen immer raus. TROTSKY Na und, wenn sie es rauskriegen, wohnen wir bereits hier, und man kann uns nicht mehr rauswerfen. BENIGNO Das ist illegal. TROTSKY Das sind bürgerliche Gesetze, Großvater. Wofür haben Sie die Revolution in Asturien gemacht? TROTSKY

Das andere

Ufer

173

Um mit Typen wie dir aufzuräumen. lacht Großvater beschimpft mich, und doch hat er mich gern. Benigno murmelt unverständlich, ohne ihn anzusehen. Kannst du einen Augenblick mit runterkommen? Graciela möchte dir die Schlüssel geben und dir ein paar Tücken der Höhle erklären. MANUEL Gehen wir. Ich bin gleich zurück, Vater. Benigno nickt. Laß den Fernseher und geh schlafen, Vater. B E N I G N O Laß mich in Ruhe! Manuel und Trotsky gehen. Benigno bastelt am Fernseher herum, dreht ihn dann um und steckt den Stecker in die Dose. Auf dem Schirm erscheinen nur schzvarze und weiße Streifen, man hört es rauschen. Verfluchte Scheiße! Er setzt sich müde in einen Sessel und schläft ein. Eine Tür öffnet sich leise, Camila kommt, sieht den Großvater schlafen und geht auf Zehenspitzen zu ihm. Sie trägt einen Pyjama, darüber einen Bademantel. Sie macht den Fernseher aus. Benigno wacht erschrocken auf. Was ist los? CAMILA Ich hab die Glotze ausgemacht, weil du eingeschlafen bist. B E N I G N O ärgerlich Eingeschlafen? Unsinn! Der Film war langweilig. CAMILA lacht Geh ins Bett. B E N I G N O Heute wollen alle, daß ich ins Bett gehe. Und du? CAMILA Ich konnte nicht schlafen. B E N I G N O Du warst sehr hart zu deinem Vater. CAMILA Das raubt mir nicht den Schlaf. Ich habe ihm nur die Wahrheit gesagt. B E N I G N O Du bist siebzehn und kennst schon die Wahrheit. CAMILA Ich bin bald achtzehn. B E N I G N O Ich weiß mit siebzig noch nicht, wo die Wahrheit ist, im Norden, im Süden oder im Westen. CAMILA grinst Das kommt, weil du so zerstreut bist. B E N I G N O In deinem Alter war ich schon Kanonenfutter. Da gab es weder Rock noch Joints, aber ich glaube nicht, daß wir besser waren. Unsere Droge waren die Ideen. Wir sind für sie gestorben. CAMILA Großvater, ich muß dir was sagen. Wirst du auch nicht böse? B E N I G N O Warum? CAMILA Ich bin deine Geschichten vom Bürgerkrieg leid und die revolutionäre Nostalgie von Papa. B E N I G N O Jede Generation hat ihre Sache. Ich nehme an, die Helden deiner Generation kommen mit elektrischen Gitarren daher. CAMILA Ich will nicht, daß man mir das Hirn mit Utopien verklebt. BENIGNO

TROTSKY

174

jorge

Díaz

BENIGNO N i e m a n d v e r k l e b t dir das G e h i r n , C a m i l a . Vielleicht b e s t e h t dein g a n z e r R e a l i s m u s n u r in der E n t d e c k u n g , daß du es schön findest, mit e i n e m J u n g e n z u s a m m e n zu sein. CAMILA verwirrt W o h e r weißt du das? BENIGNO A u c h w e n n ich bis zu den O h r e n verkalkt bin, ich w a r auch mal siebzehn. CAMILA DU gehst auch nicht zurück nach Chile, Großvater, oder? BENIGNO Nein, ich gehe nicht zurück. CAMILA W i r k ö n n e n z u s a m m e n w o h n e n , nicht w a h r ? Soll mein Vater gehen und die Fahnen schwingen. BENIGNO N e i n , C a m i l a , ich k a n n nicht mit dir z u s a m m e n w o h n e n . Du wirst dich einsam fühlen. CAMILA

Warum?

BENIGNO

Lassen wir das.

CAMILA bettelnd Ich hab mich auf dich verlassen, G r o ß v a t e r . Enttäusch mich jetzt nicht! BENIGNO T u t m i r leid, C a m i l a . R e c h n e nicht mit mir. G e h n a c h Chile. D u hast n o c h dein g a n z e s Leben, u m hin und her zu gehen, w i e es dir gefällt. CAMILA R e d e nicht von der Z u k u n f t , d a v o r graust es mir, und vor allem, w e n n ich sie mit m e i n e m Vater verbringen muß. BENIGNO Dein Vater ist ein guter M e n s c h , C a m i l a , auch w e n n du einen W i n d h u n d wie Trotsky bevorzugen würdest. CAMILA Ja, den w ü r d e ich vorziehen. Er hat H u m o r , er sieht zu, daß ihm nichts anbrennt und lebt, wie es ihm gefällt. BENIGNO verärgert G e h mit ihm an die C o s t a Brava, v e r k l e i d e dich als Hippie und verkaufe Ketten! CAMILA G u t e Idee. D u siehst, ich b r a u c h e euch nicht! BENIGNO mürrisch D a n n v e r s c h w i n d e und laß mich in Ruhe! CAMILA wütend die Tränen zurückhaltend Ihr b e n e h m t e u c h das g a n z e L e b e n w i e im Exil, hier u n d da. H i e r e r z ä h l t ihr e u c h die G r e u e l v o m M i l i t ä r p u t s c h und da erzählt ihr e u c h , w i e schrecklich e s im Exil war. Ihr wollt n u r Mitleid erregen. Dieser g a n z e politische Mist ist n u r V o r w a n d , u m v o n der G e s c h i c h t e zu leben. Du bleibst hier, weil m a n in Chile nichts m e h r von d e i n e m alten H e l d e n q u a t s c h hören will, u n d m e i n Vater geht, weil er n o c h w a s a b b e k o m m e n will, w e n n der d e m o k r a t i s c h e K u c h e n verteilt wird. BENIGNO laut D a s reicht, Camila! Du hast doch keine A h n u n g ! CAMILA sieht ihn unter Tränen fest an Du w e i ß t auch nichts, alter Held! Steck endlich deine O r d e n ein und k ü m m e r e dich u m das, w a s vor deiner N a s e passiert!

Das andere Ufer

175

Benigno gibt ihr mit der flachen Hand eine Ohrfeige. Ein Augenblick Spannung, dann geht Camila in ihr Zimmer und schlägt die Tür hinter sich zu. Benigno fühlt sich unbehaglich. Um sich Luft zu machen, schlägt er auf den Fernseher, der davon angeht. Benigno reißt den Stecker aus der Dose, der Apparat geht aus. Er geht in sein Zimmer und schließt die Tür. Langsam wird es dunkel. In der Dunkelheit hört man die Stimme eines Radiosprechers, der die Morgennachrichten verliest. STIMME „Um 9 Uhr 5 heute Morgen haben Terroristen in der Straße Diego de León in Madrid ein Attentat begangen. Offenbar handelte es sich um eine Autobombe, die ferngezündet wurde, als ein Wagen der Guardia Civil daran vorbeifuhr. In dem verunglückten Wagen waren sechs Guardias, die von der Wache vor der Holländischen Botschaft abgelöst worden waren. Die Zahl der Opfer ist noch nicht bekannt, obwohl es vermutlich mehrere Tote gegeben hat..." Das Licht geht an, und wir sehen Manuel beim Frühstück am Tisch sitzen. Er lauscht einem Transistorradio. Benigno erscheint in Bademantel und Pantoffeln. Er hustet. Manuel macht das Radio aus. B E N I G N O Wie spät ist es? MANUEL Halb zehn. B E N I G N O Das Radio hat mich geweckt. Was gibt's? MANUEL Ein Terrorattentat. B E N I G N O Faschisten? M A N U E L Sie sagen, es war die E T A . B E N I G N O Das meinte ich mit Faschisten. MANUEL D U vereinfachst zu sehr. B E N I G N O Und du unterscheidest zu sehr. In diesem Land ist noch so manches faul. Er setzt sich an den Tisch. M A N U E L Gefällt es dir nicht, wie sie den Übergang geschafft haben? B E N I G N O Wenn das Land ihn so gemacht h a t , , müssen sie ihn fressen, wie er ist. Gibt's noch Kaffee? MANUEL Ich glaube ja. Benigno gießt sich ein. Glaubst du, es besteht die Gefahr einer Involution? B E N I G N O Nein. Tejeros Operettenauftritt hat nicht viel Beifall gefunden. Als dieser Junge auf dem Bildschirm erschien, und sagte, der König würde sprechen, haben wir alle aufgeatmet. MANUEL D U auch? Ein eingefleischter Republikaner? B E N I G N O Dreimal Kaserne ist zu viel für meinen Körper. MANUEL Ach nein, jetzt warst du offenbar dein ganzes Leben lang Monarchist.

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Jorge Díaz

BENIGNO Ein König wie dieser verdient den vollen Respekt eines Republikaners. Und hör auf, mich zu ärgern, ihr paktiert selbst mit dem Opus Dei, nur um Pinochet zu stürzen! MANUEL W a s ihr mit Franco nicht geschafft habt. BENIGNO Wir m u ß t e n glauben, daß der Gallego unsterblich ist, aber verliere nicht die Hoffnung, Pinochet werden die G e s c h w ü r e schon noch aufbrechen. MANUEL Ich werde nicht wie du den üblichen Bericht der Leibärzte abwarten, um zurückzugehen. BENIGNO DU tust gut daran. MANUEL will gehen Ich m u ß noch einmal zur Repatriierungskommission. Sie verlangen die Erlaubnis von Cecilia, d a m i t Camila nach Chile zurück kann. BENIGNO Cecilia hat mit Camila nichts zu schaffen. MANUEL Sie ist ihre Mutter. Sie ist vorübergehend in Madrid. BENIGNO Hat sie dich wieder angerufen? MANUEL Ja. Sie will Camila sehen. Sie wird herkommen. BENIGNO Das ist nicht das Problem. MANUEL BENIGNO MANUEL

Sondern? Camila. H a t sie m i t dir g e s p r o c h e n ?

BENIGNO

Ja.

MANUEL

Und...?

BENIGNO Sie ist sehr aggressiv. So war sie noch nie. MANUEL Aber, was hat sie gesagt? BENIGNO Daß für sie feststeht, sie geht nicht nach Chile. MANUEL Ist sie schon zur Schule gegangen? BENIGNO Weiß ich nicht. Ich nehme es an. In letzter Zeit schlafe ich mit den Pillen wie besoffen. MANUEL

W a s für Pillen?

BENIGNO Nichts. Meine Sache. MANUEL DU hustest zu viel und willst nicht zum Arzt. BENIGNO Der Tabak. Ich werde nicht wegen einer Erkältung ins Gras beißen, oder? MANUEL Du wirst machen, was dir dein Bauch sagt, du bist stur wie ein Maulesel. BENIGNO Für einen Soziologen redest du ziemlich grob daher. MANUEL Ein Arbeitsloser. Ciao. Der Teufel soll dich holen. BENIGNO

Gleichfalls.

Manuel geht. Benigno trinkt seinen Kaffee aus und muß husten. Er holt einen kleinen Zerstäuber aus der Bademanteltasche und sprüht sich in den Mund. Dann nimmt er eine Tablette und geht zu Camilas Zimmer, klopft.

Das andere Ufer

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C a m i l a ! Niemand antwortet. Er sieht hinein, da niemand drinnen ist, geht er wieder ins Wohnzimmer und öffnet einen Schrank, holt einen kleinen Koffer heraus, stellt ihn auf den Tisch und öffnet ihn. Er geht in sein Zimmer und kommt mit einiger Kleidung und persönlichen Gegenständen zurück. Er legt alles in den Koffer und schließt ihn. Es klingelt an der Tür. Benigno versteckt den Koffer. Er geht auf den Flur. Geräusche der Tür und die Stimmen von Trotsky und Benigno. im off K o m m rein. TROTSKY

im off V^ie

geht's?

BENIGNO im off B a h , k e i n e K l a g e n . Beide kommen herein. M a n u e l ist g e r a d e w e g . TROTSKY Ich w e i ß . Ich h a b ihn v o m H o f a u s g e h e n s e h e n . BENIGNO W a s soll d a s h e i ß e n ? TROTSKY D a ß ich g e w a r t e t h a b e , bis er g e h t . BENIGNO

Warum?

TROTSKY W e i l ich m i t I h n e n r e d e n will. BENIGNO mißtrauisch W o r ü b e r ? TROTSKY Ü b e r C a m i l a . BENIGNO Ich v e r s t e h e nicht. C a m i l a ist in d e r S c h u l e . TROTSKY Sie ist nicht in d e r S c h u l e . Sie ist b e i m i r z u H a u s e . BENIGNO

W a s m a c h t sie da?

TROTSKY BENIGNO TROTSKY BENIGNO TROTSKY

Sie k a m u m 8 U h r m i t e i n e m Koffer. versteht nicht E i n e m K o f f e r ? Ihren S a c h e n , d e n k e ich. Sie will mit u n s a n d i e C o s t a B r a v a . verwirrt W a r u m ? W e i ß ich nicht. Sie will w e g , d a s ist alles.

BENIGNO

Uns verlassen?

TROTSKY K l a r , v e r s c h w i n d e n , v e r d u f t e n . Ich v e r s t e h e i n b i ß c h e n d a v o n . Ich b i n a c h t M a l v o n z u H a u s e w e g g e l a u f e n , b i s m e i n A l t e r a u f g e g e b e n hat. U n d als es i h n e n e n d l i c h e g a l w a r , o b ich g e h e o d e r bleib e , w u r d e ich w ü t e n d , u n d ich h a b e m i c h i m H a u s e i n g e s c h l o s s e n , bis d e r A l t e m i c h r a u s g e w o r f e n hat. BENIGNO W a s hat C a m i l a g e s a g t ? TROTSKY D a ß sie m i t u n s g e h e n w i l l , d a ß s i e G r a c i e l a h e l f e n u n d S c h m u c k v e r k a u f e n will. BENIGNO H a t sie dir g e s a g t , w a r u m ? TROTSKY Sie k e n n e n sie d o c h . S i e redet n i c h t viel. BENIGNO DU hättest ihr s a g e n k ö n n e n , d a ß d a s v e r r ü c k t ist, d a ß sie nicht mit dir r e c h n e n k a n n . TROTSKY Ich h a b e v e r s u c h t , n i c h t m i t ihr z u d i s k u t i e r e n . Ich d e n k e , es ist b e s s e r , sie ist b e i m i r , als d a ß w i r sie a u s d e n A u g e n v e r l i e r e n .

Jorge Díaz

178

BENIGNO Weiß sie, daß du hier bist? TROTSKY Nein. Sie frühstückt mit Graciela. Ich hab gesagt, ich gehe Zigaretten kaufen. Ich nehme an, Camila findet das b e s t i m m t gemein, aber ich mußte kommen und es Ihnen sagen. BENIGNO TU mir einen Gefallen, Trotsky, sag Camila, ihr Vater ist nicht da, und ich bitte sie zu kommen. Ich will nicht versuchen, sie zurückzuhalten, das wäre nutzlos, aber bevor sie geht, m u ß sie etwas wissen. TROTSKY Ich will es versuchen. Aber vielleicht k o m m t sie nicht und haut einfach ab, und wir sehen sie nie wieder. BENIGNO Sag ihr, ihr Großvater will sich von ihr verabschieden, m e h r nicht. TROTSKY

Ich s a g es ihr. C i a o .

Trotsky geht. Benigno zieht den Bademantel aus und geht in sein Zimmer. Nach einer Weile kommt er angezogen heraus, knöpft sich noch das Hemd zu, holt den Koffer hervor und legt ihn auf einen S tuhl. Dann zieht er sich das Jackett an, setzt eine alte Lederkappe auf und steckt sich eine Zigarette an. So bleibt er stehen und sieht zur Tür. Schließlich hört man, wie die Haustür aufgeht. Camilas Schritte. Camila kommt herein, bleibt mißtrauisch an der Tür stehen. BENIGNO Willst du dich nicht setzen? Camila schüttelt den Kopf. Benigno zieht die Pantoffeln aus und Schuhe an. Dabei versucht er seine Verlegenheit abzutauschen. Ich will dich nichts fragen. Ich will mich auch nicht für die Ohrfeige entschuldigen, denn ich bin stolz, und wenn es mich auch schmerzt, w e r d e ich das nicht zugeben. Als Trotsky dir gesagt hat, daß ich mich von dir verabschieden will, bist du bestimmt nicht auf die Idee g e k o m m e n , d a ß ich es bin, der geht, stimmt's? lacht leise Es sieht so aus, als wäre heute der Tag der Flucht... D a r u m hab ich dir gestern gesagt, du sollst nicht mit mir rechnen. Ich werde nicht hier sein. CAMILA verwirrt Du gehst? Wohin? BENIGNO Nach Mieres, natürlich. Wohin sollte ich sonst gehen? CAMILA W a r u m ? Du hast da niemanden mehr. BENIGNO G e n a u deshalb, D u m m c h e n . Für das, was ich tun muß, zieh ich es vor, allein zu sein. CAMILA W a s mußt du tun? BENIGNO lächelt zärtlich Sterben. CAMILA Aha, das Melodrama. Du willst mich mit der Geschichte v o m armen, verlassenen alten Mann erpressen und mir dabei die Flügel stutzen. BENIGNO lächelnd Hoffentlich verlierst du nie deine Flügel. Nicht ich w e r d e es sein, der sie dir stutzt, geht zu ihr Na k o m m , Camila, gib

Das andere Ufer

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mir einen Kuß und geh. Ich habe dich gerufen, um dir Ade zu sagen. Schließlich bist du mein einziges Enkelkind, verdammt. Aber ein fröhliches Ade, Camila, ohne Schnute! Er muß husten. CAMILA Hör endlich auf zu rauchen! B E N I G N O Das nimmt mir keiner: schwarzen Tabak und Landwein. CAMILA Rauch doch wenigstens hellen Tabak mit wenig Nikotin. B E N I G N O Laß mich in Ruhe. Er holt den Zerstäuber aus der Tasche und besprüht sich. CAMILA Seit wann benutzt du das Ding? B E N I G N O Seit drei Tagen. Es erleichtert. CAMILA Erleichtert was? B E N I G N O Die Lungen. CAMILA Was hast du an den Lungen? B E N I G N O Die poetischen Ärzte nennen es Neoplasie. Damit wir uns verstehen: Krebs. CAMILA Dann... meinst du es ernst. B E N I G N O Diese Sachen sollte man nicht ernst nehmen. CAMILA Darum bist du gestern verschwunden, und ein Polizist mußte dich nach Hause bringen. B E N I G N O grinst Das war die Hauptprobe für die endgültige Flucht. Camila setzt sich. Sie ist beeindruckt, aber keineswegs weinerlich. CAMILA Ist das eine gute Idee? B E N I G N O Was? CAMILA S O ZU gehen. B E N I G N O Die beste. Ich habe Zeit. Der Krebs meint es gut mit den Alten. Weil er seiner Beute sicher ist, hat er es nicht eilig. CAMILA Und warum nach Mieres? B E N I G N O Um den Kreis zu schließen. Der Krieg hat mich vor der Mine bewahrt. Mein Vater hatte mit vierzig schon eine Staublunge. Ich hätte ein frühes Ende im Schützengraben von Oviedo finden können oder bei den Bombenangriffen auf Gijön. Aber, wie du siehst, gelang es mir, ein Schiff mit Exilanten nach Mexiko zu erreichen. Jetzt geh ich nach Mieres zurück, um zu husten. Im Tal der Minen ist der Husten so eine Art Personalausweis. CAMILA Bestimmt kann man das behandeln. Es ist reine Dickköpfigkeit, einfach so zu gehen. B E N I G N O Ich will keine Behandlung. Um ein bißchen Zeit herauszuschinden? Nein, Camila, ich bin nicht der Caudillo, und ich will nicht, daß man mich mit Nadeln spickt. Auf den letzten Photos sah er aus zum Steinerweichen, er, der für Tausende von Landsleuten kein Mitleid hatte. Ich möchte mit Würde sterben.

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Jorge Díaz

CAMILA verwirrt Ich dachte, in so e i n e m A u g e n b l i c k w i l l m a n mit der Familie sein. BENIGNO M i t d e n allerbesten A b s i c h t e n m a n i p u l i e r t d i c h die Familie, w e n n du den Überblick verlierst. Ich möchte auf m e i n e W e i s e warten. Das hat auch w a s mit S c h a m zu tun. Sterben ist w a s so Persönliches w i e Lieben. CAMILA Bis dahin ziehe ich es vor, v o m Leben zu sprechen. Sind w i r so weit? Sie steht auf und geht entschlossen zur Flurtür. BENIGNO DU willst g e h e n ? CAMILA Ja, m e i n e n Koffer bei Trotsky abholen. BENIGNO W a r u m ? CAMILA W i e s o , w a r u m ? D e n k s t du ich geh nach M i e r e s mit n u r einer Unterhose? BENIGNO Ich geh nach Mieres, M ä d c h e n . CAMILA U n d das ist gut. Aber ich geh mit. BENIGNO K r ü c k e n w i e dich k a n n ich nicht gebrauchen, geh schon, mach mich nicht ärgerlich. CAMILA Ich frage dich gar nicht, Großvater. Ich frage nie gern u m Erlaubnis. Ich geh einfach mit dir, fertig. BENIGNO N a , fein! W a s stellst d u dir vor? D a ß d u m i t mir u m g e h e n kannst w i e mit d e i n e m Vater? Soweit k o m m t es noch! CAMILA W e n n du glaubst, ich tu das für dich, hast du dich geschnitten. Ein j ä h z o r n i g e r G r o ß v a t e r mit Krebs im G e p ä c k ist ein schöner Vorwand. BENIGNO V o r w a n d ? W o f ü r ? CAMILA U m zu verduften, G r o ß v a t e r , du m e r k s t a u c h gar nichts. Ich g e h m i t dir, weil ich nicht in M a d r i d bleiben will u n d n i c h t w e i ß wohin. BENIGNO D e n k s t e , d u bleibst bei d e i n e m Vater, bis du dir ' n e e i g e n e Jacht kaufen kannst! CAMILA Mein Vater ist der Letzte, den ich jetzt sehen möchte. BENIGNO W a s hat dich denn angestochen? CAMILA lacht In m e i n e m Fall klingt die F r a g e z i e m l i c h k o m i s c h . Sie lacht schluchzend. Dann setzt sie sich und trocknet sich die Tränen. BENIGNO verwirrt W a s ist los mit dir? CAMILA nach kurzem Zögern Ich bin schwanger. BENIGNO

Heiliges...!

Schweigen. Camila steht auf und geht in die Küche. CAMILA Ich n e h m e an, jetzt brauchst du einen Kaffee. BENIGNO Einen C o g n a c . CAMILA DU wirst w i e d e r husten. BENIGNO U n d du kriegst ein Kind.

Das andere Ufer

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Stimmt. Ich brauche auch einen. Sie öffnet einen Schrank, holt eine Flasche heraus, gießt zwei Gläser ein. Wenn ich gewußt hätte, daß du nicht gleich losschimpfst, hätte ich es dir schon viel eher gesagt. BENIGNO Bist du sicher? CAMILA Was meinst du? Daß ich schwanger bin? Benigno nickt. Seit einem Monat. BENIGNO Und es war natürlich nicht der Heilige Geist. CAMILA Der Heilige Geist rührt mich nicht an, nicht mal im Suff. Pause Curro war es, ich meine, wir beide. Ich weiß nicht, ob du das weißt, aber die Kinder macht man zu zweit. B E N I G N O Jetzt ist es zu spät, mir die Augen zu öffnen. CAMILA Ich liebe ihn. B E N I G N O Und ihr konntet euch nicht... lieben, ohne daß... CAMILA War 'ne Art russisches Roulette. Es nützt nichts, Rechnungen anzustellen. CAMILA

BENIGNO

W o ist e r ?

CAMILA

Curro?

BENIGNO

Ja.

schnippt mit den Fingern Abgehauen. BENIGNO Hat einen Schreck bekommen. CAMILA Mehr als ich. Wir haben uns gestritten. BENIGNO Warum? CAMILA Er wollte, daß ich das Kind loswerde. BENIGNO Und was hältst du davon? CAMILA Großvater, ich schäme mich für nichts. Das gehört mir. Curro wollte, daß wir eine Abtreibungsreise nach London machen mit Theaterkarten und so... Scheißkerl! Mein Körper gehört mir, und das hier ist das erste, was ich auf eigene Rechnung mache. Papa würde sagen: „Dein Anarchismus bringt dich noch ins Unglück. Du bist unverantwortlich!" Weder Anarchismus noch sonst was. Was ich nicht ausstehen kann, sind die Gardinenpredigten der Gebrüder Marx. B E N I G N O Ach nein, du bist nicht nur schwanger, du wirst nun auch noch Faschist. Camila erschauert. Was hast du? CAMILA Nichts. BENIGNO Fühlst du dich nicht gut? Beruhige dich. CAMILA Rauchen würde mich beruhigen. BENIGNO Da... reicht ihr seine Zigaretten. CAMILA

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Jorge Díaz

lächelt traurig Nein, danke. Tabak bringt um. Ich denke an was anderes. B E N I G N O Kraut? CAMILA zieht die Schultern hoch Irgendwas, das mir die Katerstimmung vertreibt. B E N I G N O Hängst du an irgendeiner Droge? CAMILA Nein, das ist nichts für mich. In der Schule, sicher, da haben wir uns Novopren reingezogen; nur mal so. Dann war Coca-Cola dran und Optalidon, du weißt schon 'ne ziemliche Schweinerei! Ein Joint unter Freunden, Musik hören, das ist was anderes. Du fühlst, daß du da bist, daß du existierst. ... Reg dich nicht auf, Großvater. Ich nehme kein Koks, keine Anphetas, das ist Spielkram. Wenn ich von meinem Vater nicht abhängig sein will, dann auch nicht von einem Schuß oder Tabletten, meinst du nicht? B E N I G N O Ich möchte dieses Gespräch nicht zum Verhör machen. CAMILA Dazu hättest du auch gar kein Recht, verdammt. Du hast dich mit deinem schwarzen Lolli zum Tode verurteilt, und wenn mein Vater Sehnsucht hat nach der Unidad Populär, säuft er sich mit Whisky blind. B E N I G N O Ist es wegen... wegen dem Bauch, daß du nicht nach Chile zurück willst? CAMILA Natürlich nicht. Ich glaube, du verstehst nicht, Großvater. B E N I G N O Nein, ich verstehe nicht. CAMILA Ich lebe hier. Warum soll ich mich in so einem Nadelöhr wie Chile herumquälen? B E N I G N O Weil du Chilenin bist. CAMILA Das sagt ein Computer, nicht ich... Weißt du, deine Generation hat den Bürgerkrieg in den Eingeweiden. Durch zwanzig Länder bist du gezogen mit deinem Köfferchen voller Auszeichnungen, voller Gespenster und voller Ressentiments. Du könntest nicht aufhören ans Tal von Mieres zu denken, an das Mädchen von Turön, das dir auf dem Kai von Cudillero die Splitter rausgezogen hat. Bei mir läuft das nicht. Meine Nationalität ist eine Straße von Madrid, drei oder vier Ecken, sechs Freunde. Die Lieder von den Quila und Inti sind für mich so alt wie die Freunde von Papa mit ihren vorgefertigten Sätzen und ihrem traurigen Gelächter, geht zu Benigno und nimmt ihn am Arm Gehen wir nach Mieres, Großvater! Das ist ein Platz so übel oder so gut wie jeder andere. B E N I G N O Ich werde dir nicht lange bleiben. CAMILA An Übermorgen zu denken, ist idiotisch. Ich könnte Drillinge kriegen und genau so gut im Kindbett sterben. Großvater, denk nur an die nächsten vierundzwanzig Stunden. CAMILA

Das andere

Ufer

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Gut. Und was wird in den nächsten vierundzwanzig Stunden passieren? CAMILA Wir werden den Nachtzug nach Asturien nehmen und auf dem Bahnhof Calamares essen. B E N I G N O Wenn es Calamares sein müssen, geh ich nicht. Entweder gibt es Rührei mit Bratkartoffeln, oder ich rühre mich hier nicht weg. CAMILA lacht Also Rührei. Ich fahre zum Bahnhof und besorge uns die Fahrkarten. Sic umarmt Benigno flüchtig, gibt ihm einen Kuß und geht. Benigno bleibt sinnend stehen. Langsam geht das Licht aus. BENIGNO

Zweiter Akt Wenn der Vorhang aufgeht, sehen wir Benigno und Trotsky wenig später im Wohnzimmer. Benigno ist in sich gekehrt. TROTSKY Sind Sie sicher, daß sie zurückkommt? B E N I G N O Wer? TROTSKY Camila. B E N I G N O Ganz sicher. TROTSKY Ich wäre nicht so sicher. B E N I G N O deutet aufCamilas Reisetasche Da sind ihre Sachen. TROTSKY Ba, in dem Alter haut man ab, mit 'nem Kaugummi als einzigem Gepäck. B E N I G N O In meinem Alter auch. TROTSKY Graciela hat der Kleinen die Karten gelegt, als wir Kaffee tranken. Der Schwarze Vogel ist rausgekommen. B E N I G N O Was bedeutet das? TROTSKY Fliegen. Dieser Vogel baut nie ein Nest. B E N I G N O Besser, als sich dahinzuschleppen. TROTSKY Kommt drauf an. Ich hab mich durch die Abwasserleitung geschleppt, um den Fängen der Milis zu entgehen. B E N I G N O nach langem Schweigen Warum wartest du auf Camila? TROTSKY Ich möchte sie nicht im Kofferraum finden. Ihre Enkelin hat dicke Flausen im Kopf. Schweigen B E N I G N O Du wirst weder vor Hunger noch vor Sehnsucht sterben, Trotsky. TROTSKY Denken Sie das nicht, Großvater, ehrlich Manchmal wache ich nachts auf, berühre den schlafenden Körper von Graciela und sage mir: Wer ist diese Tante? Und was, zum Teufel, tue ich in Spanien? ... Und dann erinnere ich mich an die Plaza Irlanda, an die Gärten der Agronomia, an den Geruch und die Stille der Sommernächte im

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Dock Sur, an die Bar an der Ecke, das Geräusch der Unterröcke der Mädchen auf der Avenida Santa Fé und an das Café von Puente Aisina mit den Bildern voller Fliegendreck. B E N I G N O Die verdammte Sehnsucht ist auch weiter nichts als ein Bild voller Fliegendreck. Es klingelt. TROTSKY Das ist Camila. B E N I G N O Ich glaube nicht, sie hat einen Schlüssel. Er geht an die Tür und kommt mit Cecilia herein. Sie ist sehr elegant und spricht selbstsicher mit eindeutig chilenischem Akzent. Benigno stellt sie lustlos vor: Cecilia, Camilas Mutter. CECILIA lächelt Das ist keine gute Definition, aber... TROTSKY überrascht Ich dachte... CECILIA Ich sei in Chile, nicht wahr? TROTSKY S O ähnlich. CECILIA Ich kam mir eher vor wie auf den Osterinseln. Sie lacht. TROTSKY Eine Überraschung für Camila. B E N I G N O trocken Nein. Ganz und gar nicht. CECILIA protestiert Sie hat mich seit zehn Jahren nicht gesehen! B E N I G N O ohne sie anzusehen Weil du es so wolltest. CECILIA Darf ich mich setzen? B E N I G N O Camila ist nicht hier. CECILIA Ich werde auf sie warten. Sie setzt sich. Tatsächlich sind wir vor vierzehn Tagen angekommen, aber Alfonso bestand darauf, erst nach Andalusien zu fahren, du weißt schon, die Costa del Sol. TROTSKY Hat es ihm nicht gefallen? CECILIA Es wurde zu viel geschrien, um lustig zu sein. TROTSKY Schreit man in Chile nicht so viel? CECILIA lächelt Da fängt man jetzt auch an zu schreien. Vielleicht sind wir deshalb hergekommen. TROTSKY Definitiv? CECILIA Sagen wir, vorläufig. Von hier aus hat man ein objektiveres Bild von Chile. B E N I G N O Und sicherer. CECILIA Ja, das ist richtig. Man sucht am Ende immer die Sicherheit. Auch Manuel, als er 1976 wegging. B E N I G N O Er ging nicht weg, man hat ihn ausgewiesen. TROTSKY Die einen gehen, die anderen kehren zurück. Wie umständlich wir Sudacas sind! Der Atlantik ist ein Flur, auf dem sich die Flüchtlinge in beiden Richtungen drängen. CECILIA leicht gespannt Was willst du damit sagen? TROTSKY Das Exil ändert sein Ziel.

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Ich verstehe nicht. Wenn die Diktatur verrottet, kehren die linken Exilanten in ihr Land zurück, und über Spanien fällt die Wolke verschämter Flüchtlinge ein: Militärs in Zivil, Flüchtige als Touristen in den verschiedensten Verkleidungen, Henker mit Beamtenkoffern und junge Bastarde. Die Spanier müssen ihre Optik dem neuen Bild des Exilanten anpassen. Arme Spaniaken! Wir Sudacas bringen sie ganz durcheinander. Sie wissen nicht mehr, ob von da kommen heißt, Faschist sein oder Subversiver. CECILIA pikiert Und Sie, sind Sie Faschist oder Subversiver? TROTSKY Ich bin Faschiver oder Subfaschi, ganz wie Sie wollen. CECILIA Was machen Sie? TROTSKY In der freien Zeit, die mir die Revolution läßt, verkaufe ich Plastikketten und Schmuggelware. CECILIA Aufregend. TROTSKY Und sehr rentabel. CECILIA Das vergoldete Exil, oder? TROTSKY Das industrialisierte Exil, würde ich sagen. CECILIA ironisch Manuel macht das auch? B E N I G N O ärgerlich Hör auf, Trotsky, diese Unterhaltung ist dämlich. CECILIA lacht laut auf Und er heißt Trotsky! Das muß Ihr Deckname sein. Wie heißt Manuel? BENIGNO noch ärgerlicher Laß Manuel in Frieden! CECILIA Es interessiert mich wirklich, Großvater. BENIGNO wütend Nenn mich nicht Großvater! Für dich bin ich absolut gar nichts! Er geht in sein Zimmer und schlägt die Tür hinter sich zu. CECILIA Obwohl er so lange in der Verbannung gelebt hat, ist Großvater immer ein wütender Spanier geblieben. TROTSKY ehrlich Seine größte Tugend. Darum achte ich ihn. Die Haustür wird geöffnet. Manuel erscheint, bleibt im Türrahmen stehen, sieht Cecilia überrascht an. Wenn ich euch vorstelle, mache ich mich wohl lächerlich. MANUEL ernst, ohne sich zu rühren Hallo. CECILIA lächelt Du siehst gut aus, Manuel. TROTSKY Ist nicht sein bester Tag. Warum gehst du nicht und rasierst dich? Schioeigen Na gut, ich gehe schon, zu Cecilia Wenn wir uns das nächste Mal sehen, verkaufe ich Ihnen ein paar Kleinigkeiten, zum Freundschaftspreis, versteht sich. Er geht. Unbehagliches Schweigen. CECILIA Ich konnte dich nicht benachrichtigen... du hast kein Telephon. MANUEL Und mein Vater? CECILIA

TROTSKY

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macht eine Bewegung mit dem Kopf in Richtung Zimmer Offenbar mache ich ihn nervös. MANUEL Möchtest du etwas? CECILIA gespannt Was meinst du? MANUEL Ob du eine Tasse Tee oder ein Glas Wein möchtest. CECILIA entspannt sich Ah, nein, danke, lächelt Ich habe zwei Whiskies getrunken, bevor ich herkam, um mich einzustimmen. Pause Ich hatte Angst. MANUEL Das wäre das erste Mal. CECILIA Daß ich trinke? MANUEL Daß du Angst hast. CECILIA Glaub das nicht. In diesen zehn Jahren habe ich gelernt, Angst zu haben. MANUEL Ihr auch, ihr seid doch für die Regierung? CECILIA leise Ja, wir auch. MANUEL Ist dein Mann in Ungnade gefallen? CECILIA Nein, aber es ist spürbar, daß das zu Ende geht. MANUEL Und ihr verlaßt das Schiff. CECILIA E S war nie „unser" Schiff. MANUEL Als Alfonso zum Abgeordneten der Regierung ernannt wurde, um die Soziologie-Fakultät zu säubern, hätte ich es beschworen. CECILIA D U bist ihm immer noch böse. MANUEL Warum? Er hat nur erreicht, daß man mich von der Universität verweist. Anderen ist es mit ihm schlimmer ergangen. CECILIA Schlimmer? MANUEL In der Fakultät gab es Verhaftungen, Folterungen, Verschwundene. CECILIA gespannt Alfonso hatte damit nichts zu tun. MANUEL Er hatte einen Auftrag. Es war seine Pflicht. Es ist sogar möglich, daß er tatsächlich glaubte, er würde die Universität vom Abschaum reinigen. CECILIA Das ist so lange her. M A N U E L Ja, du hast recht. Die Jahre, die ich mit dir gelebt habe, erscheinen mir auch unendlich fern. CECILIA Aber wir haben zusammen gelebt, wir haben eine Tochter. MANUEL Schwer zu begreifen. CECILIA Warum? Wir haben uns geliebt. MANUEL E S kommt mir vor wie das Leben eines anderen, das man mir zum ersten Mal erzählt. Was genau ist passiert? CECILIA Der politische Rausch überkam uns, und du bist zu den anderen übergegangen. MANUEL Die anderen! Das ist komisch. CECILIA

Das andere

Ufer

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Nein, das war nicht komisch, jedenfalls nicht für mich. hast dir ausgerechnet, daß wir auf der Seite die Verlierer sind, und hast mich verlassen. CECILIA D U hast mich verlassen mit deinen Märschen und Versammlungen. MANUEL Das ist wahr. Wir hatten uns nichts zu sagen. Alfonso sprach deine Sprache. CECILIA Alfonso gab mir Sicherheit. Mit ihm schien alles viel realer. MANUEL Und jetzt? CECILIA Du siehst ja, hier bin ich und nach all den Jahren glücklich, dich zu sehen, und sei es auch nur, um deine Ablehnung zu spüren. MANUEL Wie geht es deinem Sohn? CECILIA leise Es sind drei, Manuel. MANUEL Das wußte ich nicht. CECILIA E S hätten deine sein können. MANUEL lächelt fast wider Willen Wir wollten immer viele Kinder haben, weißt du noch? CECILIA Ich habe ihnen die Namen gegeben, die du für sie ausgesucht hattest. MANUEL überrascht Santiago, Diego und Jaime? CECILIA Die Dreieinigkeit: drei Variationen eines Namens. MANUEL Heißen sie wirklich so? CECILIA Ja, sie heißen so. MANUEL Sie werden glücklich sein. CECILIA Das müssen sie: du hast sie getauft, bevor sie geboren waren. Sie geht zu ihm, streicht mit den Fingerspitzen über seine Lippen. Erinnerst du dich an unsere heimliche Geste? CECILIA

MANUEL

DU

MANUEL

Ja.

Sie bedeutete... MANUEL Verlangen. CECILIA Wenn einer von uns sie machte... MANUEL War das eine Einladung... CECILIA Zur Liebe. Sie tritt noch näher an ihn heran und küßt ihn zärtlich. Manuel entfernt sich ohne Heftigkeit. Warum? Ich bitte dich um nichts. MANUEL Wenn dir die Haut des anderen nichts sagt... ist das peinlich. CECILIA Entschuldige. MANUEL Im Gegenteil, ich fühle mich peinlich. CECILIA Ist es so peinlich, einem zärtlichen Impuls nachzugeben? MANUEL Ich empfinde keine Zärtlichkeit, Cecilia. Auch keinen Groll. Ich empfinde nichts. Und das ist mir peinlich. Logisch wäre, diesen Augenblick zu nutzen, um dich zu demütigen, aber ich kann nicht. CECILIA

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Ich will dir weder Schaden noch Schmerz zufügen. Ich möchte dich einfach nicht mehr sehen. CECILIA Deine kleine Rache. Bestimmt hast du von diesem Augenblick geträumt. MANUEL leise, ohne Bitterkeit Es ist lange her, daß ich aufgehört habe, von dir zu träumen. Ich träume von anderen Dingen: ich sehe mich wieder in der Nacht, in der ich verhaftet wurde, denunziert von Alfonso; ich sehe mich, wie ich dir Botschaften schicke, dich bitte, Camila zu beschützen, dich um sie zu kümmern; ich sehe mich aus Chile ausgewiesen mit einer Fahrkarte ins Nirgendwo. Davon träume ich immer noch. CECILIA Das wäre dir früher oder später sowieso passiert. Man träumt, was man wünscht, daß einem geschehe. MANUEL Politischer Masochismus, das erklärt alles. CECILIA D U warst immer gebrandmarkt, Manuel, die Generation der Sechziger. Engagement hast du es genannt, Praxis etc. Worte, um immer dasselbe zu benennen: das Scheitern. Du gehörst zu einer Generation von Verlierern, nicht Helden, schlicht Verlierern. MANUEL müde Hast du nicht den Eindruck, daß wir uns diese Dinge vor Jahrhunderten schon einmal gesagt haben? CECILIA Vor nur dreizehn Jahren, als du bereits ein Verlierer warst und es nicht wußtest. MANUEL nach einer Pause Warum bist du hergekommen, Cecilia? CECILIA Wegen Camila. MANUEL Möchtest du, daß deine Söhne sie kennenlernen? CECILIA Ich will, daß sie bei mir lebt. MANUEL Camila ist kein kleines Mädchen mehr. Sie fällt ihre eigenen Entscheidungen. CECILIA Ich kenne diese Entscheidungen: Sie will nicht nach Chile zurück. MANUEL Woher weißt du das? CECILIA Ich weiß es, das genügt. MANUEL Sie ist minderjährig. CECILIA D U widersprichst dir. M A N U E L ärgerlich Ich habe das Recht, mir zu widersprechen, und ich habe das Recht, zu versuchen, sie von dir fernzuhalten. CECILIA D U weißt, daß sie bei mir besser leben würde als bei dir. MANUEL Für dich bedeutet besser leben, Heizung und Videorecorder haben. CECILIA Für sie vielleicht auch.

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D U glaubst, Camila zu kennen, weil du ein Photo von ihr in der Brieftasche trägst. Sie hat sich in dreizehn Jahren ein bißchen verändert. CECILIA Ich weiß, wie sie sich verändert hat. Ich habe sie gesehen. MANUEL verwirrt In Madrid? CECILIA Ja. Wir haben uns getroffen, haben miteinander gesprochen. Sie ist ein amüsantes, intelligentes Mädchen. Sie weiß, was sie will. MANUEL Und was ist das? CECILIA Fröhlich leben, ohne Masochismus, ohne Nostalgie. Ich verstehe sie. MANUEL Und diese Art Leben karinst du ihr hier bieten? CECILIA Alfonso hat aus Chile ein Vermögen mitgebracht, das will er hier investieren. Es wird leicht sein MANUEL E S ist nie leicht. Nicht einmal für Bürger mit Dollars, die vor der Verantwortung fliehen. Auf deine Weise wirst auch du am Exil leiden. Die Haustür geht auf. CAMILA im off Großvater! Sie kommt herein. Hallo, Mama, zu Manuel Wo ist Großvater? MANUEL In seinem Zimmer. CAMILA Geht es ihm nicht gut? MANUEL befremdet Warum fragst du das? Gestern Abend hat er etwas gehustet, das ist alles. CAMILA wirft ihre Tasche irgendwo hin Mama wird dir gesagt haben, daß wir uns getroffen haben. MANUEL

MANUEL

Ja.

Ich wollte es dir sagen. MANUEL Sicher. CECILIA Wir haben gerade von dir gesprochen, daß du in Spanien bleiben willst. MANUEL Das wußte ich bereits, du sagtest es mir gestern Abend. Ich wußte allerdings nicht, daß du bei deiner Mutter leben willst. CAMILA Darüber möchte ich jetzt nicht reden. MANUEL Warum nicht? CECILIA Du bist kein Kind mehr. Du kannst deine Gründe angeben. CAMILA Für euch bin ich mal ein Kind und mal nicht, das hängt davon ab, was ihr von mir wollt. Es ist besser, nichts zu sagen. MANUEL Sag es schon. CAMILA Ich mag nicht. Ihr macht alles zu Aussagen, Worten, Überlegungen. Ich bin das leid. CECILIA Was meinst du damit? MANUEL Wer es leid ist, das bin ich. CAMILA

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CAMILA steht entschlossen auf Gehen wir, Mama. Ich will mit dir allein sprechen. Zu lange Szenen langweilen mich. Sie geht. Cecilia nimmt ihre Sachen und folgt ihr. CECILIA Ich hoffe, ich sehe dich wieder. Wenn sie bei mir wohnen wird, mußt du mir einiges erklären. MANUEL Wenn sie bei dir wohnen wird, muß ich gar nichts erklären. Cecilia zuckt die Schultern und geht. Manuel bleibt wütend allein. Er geht zum Schrank, gießt sich einen Whisky ein und kippt ihn in einem Zug runter. Benigno hustet in seinem Zimmer. Manuel geht hin, öffnet die Tür und spricht von der Tür aus mit seinem Vater. Geht es dir gut? BENIGNO hustet, kommt aus dem Zimmer Weißt du, was es heißt, alt zu sein? Am Tage schlafen und nachts wachliegen. Kaum plaziere ich meinen Hintern in einen Sessel, schon bin ich weg, und nachts sehe ich bunte Mäuse an der Decke. Scheißjahre! sieht sich um Was wollte Cecilia? MANUEL Camila mitnehmen. BENIGNO Camila geht nicht mit ihr. MANUEL sarkastisch Sie ist schon gegangen. Er gießt sich einen Whisky ein. BENIGNO

Was?

MANUEL

Ist m i r e g a l .

MANUEL

Wer?

MANUEL Sie haben sich schon vorher heimlich getroffen, und jetzt sind sie zusammen gegangen. BENIGNO verwirrt Das verstehe ich nicht. Camila und ich wollten nach... schweigt verwirrt. MANUEL Camila und du... wollten was? BENIGNO Nichts. Pause Sie kommt zurück. BENIGNO Das ist dir nicht egal, laut Und hör endlich auf zu trinken, verdammt! Er hustet. MANUEL wird ebenfalls laut Und du hör auf zu rauchen! Du wirst noch mit dieser verfluchten Celta im Mund sterben. BENIGNO grinst Wie recht du hast! Gemütlich im Sarg, die Kippe im Mundwinkel, setzt sich Sie kommt wieder. BENIGNO Camila. Sie will nur mit ihrer Mutter reden. Logisch. MANUEL Worüber reden? BENIGNO Worüber sie mit uns nicht spricht. Pause Ich habe ein Mädchen aus Langreo gekannt, sie war erst sechzehn. Jünger als Camila. MANUEL nervös Bitte, Vater, erzähl mir keine Geschichten mehr aus dem Krieg. Die höre ich, so lange ich denken kann. BENIGNO Diese habe ich dir nie erzählt. Pause 1934 war ich ein junger Anarchist, weder sie noch ich glaubten an die Ehe und den ganzen

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Kram. Sie wurde schwanger, kurz bevor wir die Minen lahmlegten und gegen die Soldaten antraten, die aus Madrid geschickt worden waren. Die Niederschlagung war schrecklich. Ich hatte Glück, sie haben mich nur verprügelt und ins Gefängnis geworfen. Ihr haben sie den Kopf geschoren und sie gezwungen, Rizinusöl zu trinken. Die Entbindung war sehr schwer. Das Kind überlebte, sie aber nicht. ... Als ich mit der Amnestie 1936 aus dem Gefängnis kam, warst du schon eineinhalb Jahre alt... Das Mädchen war deine Mutter. MANUEL bewegt Du hast immer gesagt, Mama sei 1937 bei der Bombardierung von Gijön ums Leben gekommen. B E N I G N O Sie starb an den Schlägen, mit denen man sie 1 9 3 4 traktiert hat. Sie war sechzehneinhalb Jahre alt und sehr zart. Camila ähnelt ihr sehr. MANUEL Und warum erzählst du mir das jetzt? B E N I G N O Weil Camila schwanger ist und vielleicht so durcheinander ist wie deine Mutter damals. Beide schweigen. Das Licht geht langsam aus. In der Dunkelheit hört man ein chilenisches Lied aus den 70er Jahren: Quilapayün oder Intillimani. Wenn das Licht zvieder angeht, packt Manuel Bücher und Kassetten in einen großen Karton. Andere Kartons stehen herum. Manuel hält eine Kassette in der Hand. Die Haustür geht auf und Trotsky kommt mit Böcken und einem Brett beladen. TROTSKY Die Musi des Exils. Junge, leg 'nen andern sound ein. Wenn du zurückkommst, spielen sie einen ganz anderen Streifen. MANUEL Ich nehme nichts davon mit. Ich weiß, daß man jetzt was anderes singt. TROTSKY Klar. Die Kids lieben Pink Floyd und nicht Quila. M A N U E L zeigt auf die Kartons Ich nehme an, du willst nichts von dem Krempel. TROTSKY Folklore hat mir noch nie 'ne Träne entlockt. MANUEL Ich habe schon mit einem Freund gesprochen, er holt alles in ein paar Tagen ab. TROTSKY Sei unbesorgt. Ordnung macht mich nervös, also, wenn du mir helfen willst, laß einfach alles rumliegen. Das ist meine natürliche Dekoration. M A N U E L grinst Graciela wird sich schon um etwas Ordnung in diesem Stall kümmern. TROTSKY stellt die Böcke mit dem Brett auf Sie ist zum Glück nicht hier, sondern in dem Stall, in dem sie leben will. Endlich wird sie ihren eigenen Dreck haben. MANUEL Was soll das heißen?

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Wie findest du meinen Arbeitstisch? Hier mach ich alles, vom Keuschheitsgürtel bis zur Brustschnüre für Toreros. Weißt du, daß man mir den Auftrag für den Schmuck eines Torero-Kostüms gegeben hat? M A N U E L Ich habe von Graciela gesprochen. TROTSKY Wechsel das Thema. Sie hat mich heute Morgen verlassen. M A N U E L Im Ernst? TROTSKY Solche Sachen macht man niemals im Ernst. Das sind Bravourstückchen, mal sehen, ob es klappt. Aber, wenn man sieht, daß der andere nicht am Herzinfarkt stirbt, dann ade, alles Gute... M A N U E L Tatsache ist, daß niemand es mit dir aushält. TROTSKY melancholisch Graciela war okey. M A N U E L Auch wenn es dich ärgert, muß ich dir sagen, daß sie dich mit dem Kartenlegen ernährt hat. TROTSKY wie zu sich selbst Graciela war okey. M A N U E L Sie hat dich den Feministinnen vorgestellt. TROTSKY Und dem Schwülen-Kollektiv. M A N U E L Wenn sie nicht gewesen wäre, hättest du nie angefangen zu schreiben. TROTSKY Die Hexe hat es sogar geschafft, daß ich spare! M A N U E L SO habt ihr euch das Auto gekauft, oder? TROTSKY Und den Fernseher, träumerisch Graciela war okey. Waschechte Katalanin, feiner Kerl... Aber man sieht es ihr an, Junge. Ich jedenfalls sehe es ihr an. M A N U E L Was sieht man ihr an? TROTSKY Daß sie als Kind keinen Milchpudding gekriegt hat. M A N U E L Trotsky, du und dein Chauvinismus! TROTSKY Nicht Chauvinismus, Junge, Rassismus. Milchpudding prägt einen, das ist wie 'ne Veredelung. M A N U E L Und was hast du jetzt vor? TROTSKY Meinen Umzug in dein Appartment beenden und mir einen Mate aufgießen. M A N U E L Ich meine nicht jetzt sofort, ich meine, mit deinem Leben. TROTSKY Wie sagt Mario Benedetti: „Alleinsein ist eine weiße Unordnung/ein Mißerfolg des heimischen Herdes", also werde ich dem biologischen Kreislauf der verlassenen Säugetiere folgen: vierzehn Tage herrlicher Ausschweifungen und dann Valium 10, bis die Ersatzbiene auftaucht. M A N U E L Die als Kind Milchpudding bekommen haben muß. TROTSKY Ah, ja, keine Experimente mehr. Die Phönizier sollen Phönizierinnen heiraten. Ich habe meine eigenen Wurzeln. M A N U E L Und das sind? TROTSKY

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TROTSKY Kalabresische, patagonische, ukrainisch jüdische, und irgendein verkappter Gallego ist auch dabei. MANUEL Das sind keine Wurzeln. Das ist ein Gazpacho aus dem Starmix. Bei solchem Durcheinander wäre ich in ständigem Kampf mit meinen Eingeweiden. TROTSKY DU weißt nicht, wieviel Frieden es dir gibt, eine Heimat zu haben und gleichzeitig drauf scheißen zu können... Möchtest du auch einen Mate? MANUEL ironisch Mit Marihuana? TROTSKY Graciela hat den Topf mitgenommen. Katalanische Vendetta! MANUEL Laß gut sein. Ich nehme Pfefferminz. TROTSKY während er den Mate aufgießt Mein Alter war aus Kalabrien, aber er starb mit argentinischen Flüchen auf den Lippen. Toller Typ, der Alte. ... Sonntags standen er und Mama schon früh in der Küche. Mama war eine feine Criolla aus Camarones. Er rührte mit einem Holzlöffel die Polenta und sang dabei Puccini, und sie machte Chinchulines. Da war was los! MANUEL DU hast nie von deiner Familie erzählt. TROTSKY Wenn man mich auf dem Friedhof ausdrückt wie eine Kippe, kriege ich den nostalgischen Schluckauf. Gastritis der Erinnerung! Ein Mate zur rechten Zeit nimmt den schlechten Geschmack aus dem Mund, wechselt das Thema Und der Großvater? MANUEL Ich hab ihn gezwungen, Lucho Orellana aufzusuchen. Er hat die ganze Nacht gehustet. TROTSKY Er ist unverwüstlich. Das einzig Schlimme, das ihm passieren kann, wäre ein neuer Anfall von Anarchismus. MANUEL Ich mache mir Sorgen. TROTSKY

Warum?

TROTSKY MANUEL

Und Camila? I c h w a r t e a u f sie.

MANUEL Er hat sich nicht an den Reisevorbereitungen beteiligt, er, der mich immer in der Hand hatte TROTSKY Bleibt sie bei ihrer Mutter? MANUEL Ich weiß es nicht. Sie will das Kind in Spanien zur Welt bringen. TROTSKY Und du kannst nicht warten? Das ist dein Enkel, Junge! MANUEL Man hat mir eine Frist gesetzt, und ich muß mein Leben neuorganisieren. In Chile fange ich bei Null wieder an: Arbeit, Wohnung... Außerdem ist Camila unberechenbar, genauso kann sie in zwei Jahren entbinden. Er lacht. TROTSKY Wenn es dir nichts ausmacht, hole ich meinen Kram rauf. Die Hauswartsfrau will nicht, daß ich den Fahrstuhl benutze.

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Na los. Ich helfe dir. Sie wollen gehen. Die Haustür geht auf, und Benigno erscheint. Er trägt eine dicke blaue Jacke und einen Schal. TROTSKY Hallo, Benigno. BENIGNO Hallo. MANUEL Was hat er dir gesagt? BENIGNO Wer? MANUEL Der Arzt. Warst du nicht bei Lucho Orellana? BENIGNO Ah, ja. Nun, was ich schon wußte. MANUEL Was? BENIGNO Daß „für mein Alter" ... Den blöden Ärzten fällt nichts Besseres ein... „für Ihr Alter", das heißt: „hören Sie zu, nerven Sie nicht, daß Sie noch leben, ist ein Wunder." MANUEL Und sonst? BENIGNO Daß das alles davon kommt, daß ich zu wenig getrunken und geraucht und absolut nie gevögelt hab. TROTSKY lacht Dann kennen Sie ja jetzt das Gegenmittel, Großvater. MANUEL Hat er dir kein Rezept gegeben? BENIGNO Die Adresse von einem Hurenhaus. TROTSKY Massagesalon heißt das heute, Großvater. „Französisch", „griechisch", „Kreditkarten werden angenommen". MANUEL Und der Husten? BENIGNO Wann hast du mich husten hören? Er muß husten. MANUEL D U bist unmöglich! Ich werde Lucho Orellano anrufen. BENIGNO Meinetwegen die Feuerwehr. MANUEL Ich helfe Trotsky den Rest seiner Sachen raufbringen. TROTSKY Sie werden mich eine Woche ertragen müssen, bevor Sie weggehen, Benigno. BENIGNO Ich werde dich schnell vergessen, Trotsky. Du stehst nicht in meiner Galerie berühmter Persönlichkeiten. Manuel und Trotzsky wollen gehen. Benigno hält Manuel zurück. Manuel. MANUEL

MANUEL

Ja...

legt ihm eine Hand auf die Schulter, sieht ihm einen Augenblick in die Augen, bewegt Du bist ein großartiger Kerl. Bitte, verzeih mir alle meine Geschichten. Du bist ein guter Sohn gewesen. MANUEL Aber...? Was soll das? Hast du etwas? BENIGNO kehrt ihm den Rücken zu, um seiner Bewegung Herr zu werden Nichts, nichts, ich habe nur bei Blas zwei Glas Rotwein getrunken, das macht mich immer redselig. MANUEL lacht Wenn es drei gewesen wären, hättest du mir einen Kuß gegeben. BENIGNO

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immer noch mit dem Rücken zu Manuel Das hätte ich bestimmt. Manuel und Trotsky gehen. Benigno putzt sich die Nase, hustet und geht in sein Zimmer. Er kommt mit seinem Koffer und einer alten Sporttasche wieder, stopft ein paar Dinge hinein. Dann sieht er den Koffer an, als wäre alles überflüssig. Er stößt den Koffer zu den herumstehenden Kartons. Er nimmt die alte Tasche und wirft noch einen Blick ins Zimmer, bevor er mit müden Schritten geht. Das Licht geht langsam aus. Kurze, sehr sehnsüchtige Akkorde. Wenn das Licht angeht, herrscht noch dieselbe Unordnung im Zimmer. Camila liegt barfuß auf dem Sofa oder sitzt auf dem Boden. Manuel trinkt Tee. Er ist nervös. M A N U E L Ich habe Lucho Orellana angerufen. Er sagt, Großvater sei nicht bei ihm gewesen. CAMILA D U weißt doch, daß er Ärzte nicht ausstehen kann. Er weiß mit seinen Eingeweiden ganz gut Bescheid. M A N U E L Aber es geht ihm nicht gut! CAMILA Er mußte allein sein. M A N U E L Und er geht wie ein Dieb, ohne jede Erklärung! CAMILA Er ist wie ich. Er mag keine Erklärungen. M A N U E L ungeduldig Und warum Asturien? CAMILA D U solltest das wissen, du bist da geboren. M A N U E L Ich war ein Kind. Ich erinnere mich nur noch an das Tuten der Schiffe, wenn sie ablegten. CAMILA Großvater hat mir gesagt, daß er wieder am Kai sitzen möchte und zusehen, wie die Schiffe ablegen. M A N U E L erleichtert Ich war vier Jahre alt und dachte, die ganze Welt ist Spanien und das große Wasser ist ein Fluß. Ich dachte, daß wir vom anderen Ufer denen winken könnten, die zurückblieben. CAMILA Und das ist es auch: weniger als ein Fluß. Mit vier Jahren kennt man die Wahrheit. Wenn du ankommst, machen wir dir hier vom anderen Ufer Zeichen. M A N U E L nach einer Pause Ich werde ins Flugzeug steigen, ohne irgendetwas zu begreifen. CAMILA Und was willst du begreifen? M A N U E L Scheiße! Ich kam hier an mit einer Familie, und ich geh allein zurück... ich weiß nicht warum. CAMILA D U weißt genau, warum. M A N U E L Das sagst du. Mein Vater haut ab wie ein Junge; meine siebzehnjährige Tochter ist schwanger und will leben, wie es ihr gefällt. CAMILA Das hast du gut zusammengefaßt. Findest du das nicht phantastisch? BENIGNO

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Nein, das finde ich nicht phantastisch. Es wäre vernünftig, zusammen zu bleiben. CAMILA Weißt du was? Ich habe den Eindruck, daß wir uns jetzt sehr viel näher sind. MANUEL Über die Post? ... Dich kenne ich. Du hast im Leben noch keinen Brief geschrieben. CAMILA Ich will sagen, wir fangen an, uns zu verstehen. MANUEL Und vorher? CAMILA E S war schwer, mit dir zu reden. Ich fand, du bist schlecht drauf. Und ich will nicht im Sudaca-Ghetto versumpfen. MANUEL Denkst du, ich hätte mich verändert? CAMILA Ich hab mich verändert. Weißt du, Papa, die ganzen Jahre bist du meine Mutter und mein Vater gewesen. Das war ein Problem. Jetzt hab ich mit Mama geredet und weiß, woran ich mich halten soll. MANUEL Was meinst du? CAMILA Daß es sich gelohnt hat, mit einem Typ wie dir zusammen zu leben. MANUEL Ich habe mich nicht sehr viel um dich gekümmert. CAMILA D U hast mir das Gefühl gegeben, frei zu sein. Mit Mama im Haus wäre ich mit acht aus dem Fenster gestiegen und getürmt. MANUEL Ich habe versucht, dich nicht in einem Provisorium, wie auf der Durchreise leben zu lassen. Es ist mir aber nicht gelungen. CAMILA Und ob es dir gelungen ist! Ich habe Wurzeln geschlagen, darum bleibe ich. zögert Obwohl ich dir was gestehen muß: Wenn ich so aggressiv auf das Sudaca-Ghetto reagiere, ist das, weil ich auch dazu gehöre und es nicht zugeben will. Lieber geht man im Dunkeln und stößt gegen die Wand, als daß man das Licht anmacht. Pause Du verstehst, oder? MANUEL Wie soll ich das nicht verstehen, ich stecke doch bis zum Hals in denselben Widersprüchen. Wenn wir früher darüber gesprochen hätten, wäre manches leichter gewesen. CAMII.A Ich wollte dir nicht noch mehr Probleme aufladen. Ich hab mich nicht mal getraut, dir zu sagen, daß ich nicht zurück will. MANUEL Warum willst du nicht zurück? CAMILA Hört sich idiotisch an, aber ich will nicht wieder einen Exilanten zur Welt bringen, jemanden, der hier empfangen wurde und verbannt wird, bevor er geboren ist. ... Ich möchte, daß das Kind einen eigenen Platz hat, daß niemand fragt, woher es kommt. Pause Außerdem hab ich Curro wiedergesehen. MANUEL Er hatte dich sitzen lassen? CAMILA Ich hab ihn sitzen lassen. MANUEL

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Warum? Er war so erschrocken, als ich ihm sagte, daß ich schwanger bin. Das hat mich wütend gemacht. MANUEL grinst Ich wäre aber auch erschrocken. CAMILA Wenn wir jetzt neu anfangen, dann nicht, um der Sache einen ehrbaren Anstrich zu geben. Nein, wir wollen versuchen, ernsthaft zusammen zu leben. MANUEL Das wird nicht leicht. CAMILA Ich weiß. MANUEL Wenn Curro eine Notlösung gegen deine Einsamkeit ist, wird die Sache nicht funktionieren. CAMILA Das ist er nicht. Curro ist ziemlich unsicher, aber vielleicht mag ich das an ihm. MANUEL Manchmal machst du mir Angst. Du bist so schnell erwachsen geworden, wirkst so unabhängig. CAMILA D U hast mich so gemacht. MANUEL Glaube ich nicht. Ich war auch nicht aufrichtig. CAMILA Hast du mir was verschwiegen? MANUEL

CAMILA

MANUEL

Ja.

grinst Du willst mir doch nicht sagen, daß du schwanger bist? MANUEL Beinahe. Es gibt einen Grund, der mich nach Chile treibt. CAMILA Braucht man dafür Gründe? Du willst zurück, das ist alles. MANUEL Nicht alles. Da ist noch etwas... Als ich mich von deiner Mutter trennte, habe ich Sara kennengelernt, eine Landschullehrerin. Wir haben eine recht unkonventionelle Beziehung angefangen. Du warst vier Jahre alt und hast nichts gemerkt. Sie wurde verhaftet und verschwand. Vor sechs Monaten hat mir ein Freund von ihr geschrieben, daß sie wieder aufgetaucht ist. CAMILA Warum hast du sie nicht hierher geholt? MANUEL Es geht ihr schlecht, irreversible Verletzungen. Ich glaube, sie braucht mich. CAMILA bewegt Na klar braucht sie dich! Ich würde mich freuen, sie kennenzulernen. MANUEL Wenn du kannst, nimmst du das Kind und besuchst uns. CAMILA Mach ich bestimmt. Bis dahin bin ich in Mieres. MANUEL Und deine Mutter? CAMILA Dachtest du auch nur einen Moment, ich könnte bei ihr leben? MANUEL Ja, das hab ich gedacht. Warum bist du mit ihr gegangen? CAMILA Ich mußte mir ein Gespenst austreiben. MANUEL Cecilia ist die einzige Chilenin in der Familie. CAMILA Sie ist nicht Chilenin. Ihr Pass ist die Amex-Karte, ihre Heimat ist da, wo „nette" Leute leben, die nicht so laut reden. Sie hat CAMILA

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Freunde in j e d e m politischen Regime, Gefahren geht sie aus d e m W e g , ihre Wendigkeit ist absolut. Sie beobachtet die Geschichte aus der I. Klasse internationaler Fluggesellschaften. Die Haustür geht auf und Trotsky erscheint mit einer Aluminium-Trittleiter und Papierrollen (Poster). MANUEL SO viel Krempel, man kann sich k a u m noch bewegen! TROTSKY Junge, ich weiß nicht mal, was dir und was mir gehört. CAMILA Und w a r u m schleppst du soviel Müll zusammen? TROTSKY Alle Frauen, mit denen ich zusammenlebe, lassen ihre Sachen da, und ich denke natürlich, sie kommen irgendwann zurück. CAMILA Bist du romantisch oder zynisch? TROTSKY Im Exil wird man zum Maskenspezialisten, zu Manuel Selbst in Chile wirst du eine brauchen. MANUEL Ich hoffe nicht. CAMILA ZU Manuel Wer wird dich erwarten, Papa? MANUEL Niemand weiß, daß ich komme. CAMILA Willst du niemanden benachrichtigen? Sara, zum Beispiel? MANUEL Nein, ich wüßte auch nicht wie. TROTSKY Das erledigt Trotsky, j u n g e ! Willst du nach Chile telephonieren? Halbe Stunde, ganze Stunde? Du brauchst nur in eine öffentliche Telephonzelle zu gehen. MANUEL Bist du verrückt geworden? TROTSKY Das war ich immer ein bißchen. Manolo, Junge, ich wollte gerade mit Buenos Aires telephonieren. Meine Schwester m u ß mir die Schlagzeilen der Zeitungen vorlesen. MANUEL Und wie machst du das? TROTSKY ES gibt erprobte und nie versagende Methoden. Erstens: die magische Münze. Er holt eine 50-Peseten-Münze an einem feinen Faden aus der Tasche. Zweitens: der Blockierdraht. Aus der anderen Tasche zieht er einen dünnen Draht. Drittens: Gefrierspray, das den Zähler lähmt. Er holt eine kleine Spraydose hervor. Viertens: die zerstörte Zelle. Er holt einen Zettel mit Aufzeichnungen hervor. In diesem Augenblick stehen an den Telephonzellen von Lopez de Hoyos, Ecke Arturo Soria, Francisco de Rojas, Ecke Legazpi die Sudacas Schlange. Du siehst, du hast die Auswahl. MANUEL grinst Nein, ich will mit n i e m a n d e m sprechen. Es ist wichtiger, daß m a n dir die Schlagzeilen der argentinischen Presse vorliest. CAMILA erregt Ich möchte sehen, wie du das machst, Trotsky! TROTSKY K o m m mit. W e n n du willst, kannst du mit Rio de Janeiro sprechen. CAMILA Ich kann nicht Portugiesisch. TROTSKY Oder mit Montevideo oder Mexiko.

Das andere Ufer

CAMILA

chen.

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Ich rufe irgendwo an. Wichtig ist nur, daß sie Spanisch spre-

Also, los. Ich hab alles bei mir. Er geht. Trotsky, warum bewirbst du dich nicht bei der Telefönica? ab. Manuel bleibt allein. Schweigen. Langsam geht das Licht aus. MANUEL im Dunkeln „Ich war vier Jahre alt und dachte, die ganze Welt ist Spanien, und das große Wasser ist ein Fluß. Ich dachte, daß wir denen, die zurückbleiben, vom anderen Ufer zuwinken können..."

TROTSKY CAMILA

Roma Mahieu Der Feuerdrache El dragön de fuego Drama in einem Akt

Madrid 1988 Deutsch von Dieter Welke

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Roma Mahieu: (1976) ist Theaterautorin, Regisseurin, Schriftstellerin und schreibt Drehbücher für Film und Fernsehen. Sie war Schauspielerin, Journalistin und Fotografin. Ihr erstes Theaterstück, Juegos a la hora de la siesta, 1976 uraufgeführt, brachte ihr eine Reihe von Auszeichnungen ein, unter anderen den Premio de la Critica Argentina für das beste Stück und die beste Inszenierung, den Premio de la Sociedad Argentina de Autores für das beste Erstlingswerk und den Premio Molière, den die französische Botschaft für das beste Theaterstück des Jahres verleiht. In Buenos Aires stand es zwei Jahre lang auf dem Spielplan. Im Januar 1978 wurde es verboten, weil es „subversive Techniken" zeige. Maria Lamuerte, 1978 uraufgeführt, wurde ebenfalls verboten, weil dem Text „eine Haltung zugrunde liegt, die die Moral, die Familie, den Menschen und die Gesellschaft bedroht". (EL LITORAL, 10. Januar 1978) Juegos a la hora de la siesta zeigt Kinder im Alter von fünf bis acht Jahren, dargestellt von Erwachsenen, die beim Spielen in einem Park naiv Sprache, Vorurteile und Verhalten ihrer Eltern imitieren. Sie inszenieren eine Hochzeit, einen Prozeß und eine Beerdigung. Die Gewalt im Umgang miteinander ist offen und brutal. In Maria Lamuerte tyrannisiert die Großmutter ihre Enkelin. Angestiftet von ihrem Freund, versucht Maria vergeblich, die Großmutter zu töten. Die Geschichte wiederholt sich wie in einem Teufelskreis, dem niemand entrinnen kann. Roma Mahieu ging 1978 ins Exil nach Madrid. Bei der Distanz zu Argentinien und der Fremdheit im Aufnahmeland wundert es nicht, daß in nahezu allen ihren Stücken geisteskranke und verstoßene Figuren auftauchen, die vom mainstream der Gesellschaft vertrieben werden. Die Thematik ihrer Stücke bezieht sich meistens auf die Familie und impliziert stets politische Konnotationen. Die poetische Sprache ist bezwingend und eindringlich. Mahieu gibt detaillierteste szenische Anweisungen, für Kostüme und Musik. Sie kleidet ihre Figuren in pathetische Bilder mit großem Mitgefühl und Scharfblick. Das Ende ist immer offen oder dem Zufall überlassen. Drei Stücke mit geistig Behinderten als Protagonisten sind Ring Side, Òpera nuestra de cada dia und El dragón de fuego. In allen dreien werden diese schwachen Menschen als Opfer von Vorurteilen, Betrügereien und familiärer sowie gesellschaftlicher Grausamkeiten dargestellt. Ring Side findet in einem Boxring statt. Der Gorilla ist ein ausgedienter und durch die vielen eingesteckten Hiebe geistig wie körperlich verbrauchter Boxer. José Maria, der junge Protagonist in Òpera nuestra de cada dia ist ein geistig Behinderter, der von seiner Mutter eingesperrt wird. In El dragón de fuego ist der Protagonist ein geistig behinderter Junge, der bei seiner Schwester, einer Variete-Tänzerin und Prostituierten, in dem Nachtlokal lebt, in dem sie auftritt. Er weiß, daß er für sie eine

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Last darstellt. Darum denkt er sich die Geschichte vom Feuerdrachen aus, der stirbt, weil er sich zwingt, sein eigenes Feuer zu schlucken. El Benshi zeigt einen Erzähler bei Stummfilmen in Japan. Was er berichtet, hat nichts mit der Handlung zu tun, die sich auf der Bühne als Film abspielt, nämlich eine Dreiecksgeschichte zwischen Mutter, Tochter und Stiefvater. Der Benshi kommentiert die brutalen Ereignisse, als ginge es um eine vollkommen harmonische Familie. Gleichzeitig spielt sich im Saal des Theaters ein anderes Drama ab (Theater im Theater, aber nicht auf der Bühne). Zwei in Zivil gekleidete Männer stürmen mit Maschinengewehren herein und holen einzelne Zuschauer heraus und bringen sie nach Mißhandlung wieder in den Saal zurück. Das Publikum protestiert nicht. Das Stück zielt auf die Angst der Menschen ab, die vor der Wirklichkeit die Augen verschließen. In Rinàscerà erinnert sich Carmen, die verängstigte Mutter eines Verschwundenen, in unzusammenhängender Form und poetischer Sprache, an die Schicksalsschläge ihres Lebens und an den Schmerz über ihren Verlust. A fuego lento erhielt 1992 den zweiten Preis des jährlichen Wettbewerbs, d e n d a s TEATRO OLIMPIA N U E V A S TENDENCIAS DEL TEATRO ESPAÑOL a u s -

schreibt. Es ist das Gegenstück zu Rinàscerà. Der Einakter schildert die Selbstentfremdung eines Folterknechts und zeichnet mit genialem Einsatz von Schaufensterpuppen die geistige Zerrüttung des Protagonisten nach. Percusión spielt auf einer Müllhalde. Eine heterogene Gruppe von Menschen lebt in großen Mülltonnen, die zu einer Pyramide aufgetürmt sind. Mahieus letztes Stück ist Sida bebé und handelt von einem Kind, das von seinen Eltern verlassen in einem Krankenhauszimmer liegt und von einer despotischen Krankenschwester betreut wird. Eine Straßenkatze schleicht sich in das Zimmer, und zwischen den beiden entwickelt sich eine liebevolle Freundschaft. Die Ironie des Stückes besteht darin, daß das Tier mehr Mitleid mit dem kranken Baby empfindet als die Menschen. Nora Eidelberg

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Der Feuerdrache Personen: Eva, Varietetänzerin; Angel, Evas Bruder, geistig behindert; Stimme des Herrn Fernändez, Varietebesitzer. Das Alter der Personen ist unwichtig. Die Bühne wird durch eine Sofitte oder durch eine Stufe in zwei Bereiche unterteilt: Den Bereich der Varietebühne und den Privatbereich. Im Bereich der Varietebühne ein Vorhang, bemalt mit Engelchen, die eine Nymphe verfolgen. Auf der Seite gegenüber der Sofitte stehen einige Tische, an denen Schaufensterpuppen sitzen, auch im Publikum könnte eine gewisse Anzahl von Puppen sitzen, mit einem Glas in der Hand. Sowohl die Bühne als auch der Zuschauerraum werden von intermittierendem Licht überßutet, wie in einem beliebigen Nachtklub irgendwo an der Landstraße. Es wäre wünschenswert, daß das Publikum an kleinen Tischen sitzt und Getränke serviert werden. Der private Bereich dient als Garderobe, Schlafraum, Küche usw. für die gastierenden Künstler. Im Vordergrund ein Tisch mit Schminksachen und Küchengeräten, eine Perücke, ein Spirituskocher usw. Am Tisch lehnt ein Spiegel. Auf der anderen Seite, ebenfalls im Vordergrund eine Couch mit zerwühlten Decken, darunter schaut ein Koffer hervor. An der Wand hängen Kleidungsstücke zwischen verblichenen Plakaten; auf einem dieser Plakate ist ein verblaßtes Bild von Eva als üppige, halbnackte Diva zu sehen. In den zerwühlten Decken schlafen Eva und Angel. Eva schläft den tiefen Schlaf der Betrunkenen, ihr Kopf hängt über den Bettrand, sie fällt fast von der Bühne. Angel liegt zusammengekauert. Ein Wecker, der neben dem Bett auf dem Boden steht, beginnt zu klingeln. Es ist fast dunkel. Eine kleine Schüssel ist zu sehen. EVA Scheiße! Ruhe! Er klingelt.... EVA Bitte! ANGEL Er klingelt von allein. EVA Ja, ja, ich weiß, er klingelt von allein, aber stell' ihn aus, verflucht. Ich kann mich nicht rühren. ANGEL Geht nicht... EVA Was? Geht nicht? ANGEL Geht nicht. Wenn ich ihn aus mach', wird er traurig, dann klingelt es immer noch alleine, innendrin in der Uhr. EVA Ich werde noch verrückt. Willst du das? Mach ihn jetzt aus! ANGEL Nein. EVA Das bringt mich um! Sie versucht, den Wecker zu erreichen, kann aber wegen Kopfweh und Kater ihre Bewegungen nicht koordinieren. Willst du, daß mich das umbringt?

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Nein... Er versucht über den Körper seiner Schwester hinweg nach dem Wecker zu greifen. Die Berührung verwandelt sich in eine Umarmung. Sie ringen miteinander. EVA versucht sich loszumachen Laß mich! Laß mich in Ruhe! Nein, jetzt nicht! ANGEL Eva... Eva... EVA Laß mich! Es gelingt ihr, sich loszureißen, sie greift nach dem Wecker und wirft ihn mit aller Gewalt auf den Boden. Der Wecker hört auf zu klingeln. ANGEL Neee. Jetzt ist er still... Jetzt schreit er nicht mehr... Der schreit nicht mehr... Schreit nicht mehr... Jetzt ist er still. EVA Und du, sei du auch still! Bitte... ja so... so... ANGEL Ich bin ja still, aber Wecker... ist jetzt still... und ist nicht still. EVA Nein... ANGEL Wenn du still bist, kannst du es hören... EVA Willst du, daß ich krank werde? ANGEL Nein... Ich hab dich sehr lieb... EVA Dann halt die Klappe, um Himmelswillen... Noch zehn Minuten Schlaf, sonst komm' ich nicht auf die Beine. ANGEL Ich hab den Mund zu. mit zusammengepreßten Zähnen Guck mal, ich hab den Mund zu. Der geht nicht auf, nicht mal ein bißchen. EVA Still... ANGEL Ich spreche still, wenn ich nicht still spreche, platzen mir die Wörter aus dem Mund und fliegen überall rum wie Pfeile und machen alles kaputt... Die machen Angel kaputt... Du willst doch nicht, daß sie Angel kaputtmachen... EVA Nein... Dann sprich leise... Ich möchte schwören, daß ich meinen Kopf gerade erst aufs Kopfkissen gelegt hab. Sprich leise wie eine Fliege. ANGEL Da ist kein Kopfkissen. Er steigt aus dem Bett und geht in die Ecke auf der gegenüberliegenden Seite. EVA Kein Kopfkissen? Macht nichts, das schadet mehr, als es gut tut... so sagt man... Hier gibt es nie Kopfkissen... Warum sollten die auch ein Kopfkissen hinlegen? Wieviel Uhr ist es? ANGEL Weiß nicht, es ist dunkel, wenn es nicht dunkel wäre, würde ich es auch nicht wissen, weil der Wecker so weit weg ist, und wenn er nicht so weit weg wäre, würde ich es auch nicht wissen, weil er jetzt still ist. Der ist still von außen und sagt nichts... Ich weiß auch nicht, ob dir eine Fliege gefällt, die Lärm macht. Wenn ich allein bin, und es ist ganz still, dann macht die Fliege einen Riesenlärm, wie ein Zug... Und wenn ein Haufen Leute da ist, dann machen die keinen ANGEL

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Lärm, auch wenn es tausend Fliegen gibt. Ich weiß nicht, was ich für einen Lärm machen soll, damit ich nicht still bin. Eva schaut ihn an. Sie gleichen Tieren, die sich belauern. EVA M a c h den Lärm, den du willst. Sag mal, auf wieviel U h r hast du den Wecker gestellt? ANGEL Kann mich nicht erinnern, steht auf K a n n mich nicht erinnern. Ich kann noch so viel denken, es k o m m t mir nicht in den Kopf. EVA Schon gut... Ist sowieso egal... und der Tag... Weißt du nicht, welcher Tag heute ist? W e n n du dich an den T a g erinnern könntest, dann wüßtet du auch die Uhrzeit... Aber die Tage vermischen sich... Es kann Montag sein, aber auch Donnerstag... ANGEL Ich erinnere mich an nichts, ich bin nicht so schlau. EVA DU bist schlauer als manche, die hier rumlaufen und sich aufspielen... Das schwöre ich dir... Es k o m m t einem vor, als wäre es Dienstag, aber wenn man sich erinnert, ist schon wieder Samstag... Dagegen k o m m t mir jeder einzelne Tag unendlich vor... Du wirst dich noch erkälten. Angel beginnt hin und her zu gehen, als wäre er in einem Käfig. ANGEL Ich erinnere mich nicht, auf welche Zeit ich den Wecker gestellt hab, ich hab den Wecker nicht gestellt, damit er klingelt. Damit er klingelt, hat ihn Herr Fernández aufgezogen, zieht sich wieder in eine Ecke zurück Er hat ihn aufgezogen, damit er u m sechs klingelt. Deswegen kann ich, Angel, mich nicht m e h r erinnern, auf welche Zeit ich den Wecker gestellt hab, damit er klingelt, weil ich nicht... Er hat ihn aufgezogen, damit er um sechs klingelt. Eva setzt sich mühsam auf den Bettrand. EVA U m sechs! W e m fällt denn so was ein! ANGEL Herrn Fernández fällt es ein. Mir fällt w a s anderes ein. Mir fällt ein Haufen anderes ein, aber niemand.... EVA Jetzt reicht es. Der Saukerl weiß genau, w a s hier für ein Bohei ist am Wochenende, in diesem Dreckloch... W a s der sich einbildet. Ich bin doch keine Wurstmaschine. U m sechs... Ich bin doch nicht aus Gummi. W e m fällt denn so was ein... Eva steht auf. Angel zieht sich noch weiter in seine Ecke zurück. ANGEL Mir fällt was ein: der Wecker, der m u ß m a n an einem Ast aufhängen, an d e m B a u m hinterm Haus, u n d d a n n m u ß m a n Herrn Fernández aufziehen, der hat so große Ohren... rrrrr... rrrrr! EVA Ha, ha...! Herr Fernández klingelt... Ha, ha, ha...! Wie ein Kanarienvogel mit gelben Federn... Ha, ha, ha...! Ich lach mich tot... Ha, ha, ha...! ANGEL W e n n H e r r F e r n á n d e z klingelt, d a n n k o m m e n i h m solche Wörter nicht aus dem M u n d , dann redet der nicht solche Sachen...

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Der redet... und redet... und redet, da lache ich überhaupt nicht. Wenn du willst, häng ich ihn auf, den Herrn Fernández, an dem Ast. Eva, die sich vorwärts getastet hat, bleibt stehen. EVA Komm bloß nicht auf so was! ANGEL Ich komm auf so was. EVA Vergiß es! Was sagt Herr Fernández, wenn er nicht schweigt? Und das mit dem Aufhängen war nur ein Witz. Verstehst du? ANGEL Er ist böse... sehr, sehr böse... Eva will sich ihrem Bruder nähern, er weicht aber aus. EVA Da ist nichts zu machen... Aber was hat er dir gesagt? Er hat dir doch was gesagt, der Hund... ANGEL Herr Fernández hat gar nichts gesagt. Der hat geschrien! Und wenn einer schreit, dann sagt er nichts... dann schreit er nur... EVA Und was hat Herr Fernández geschrien? ANGEL Der hat geschrien! So hat er geschrien, so: „Ich stell' jetzt die Uhr auf sechs, dann steht sie wenigstens auf, deine Drecksau von Schwester...! Um sieben kommen die Rülpser. Kapierst du das, Mongo?" Eva gibt es auf, ihm nachzulaufen. EVA Hör auf damit, bitte, hör auf! Also, das hat er gesagt... der Hurenbock... Das wird er mit bezahlen, so wahr ich Eva heiße, das wird er mir bezahlen. Der Scheißhaufen! Der dreckige Lude! Angel bleibt stehen. ANGEL Aber du heißt doch gar nicht Eva. Und wenn du nicht Eva heißt, dann stimmt das nicht. Du heißt Antoña. EVA Für so was hast du ein Gedächtnis... komm, mach das Licht an, vielleicht krieg ich doch noch die Augen auf... Antoña... Wer erinnert sich denn daran? Angel sucht nach dem Schalter. ANGEL Was sind Rülpser? Warum kommen die Rülpser? Eva wirft sich wieder auf das Bett. EVA Ah, das tut gut! Der Fernández ist noch nicht mal ein Baubudenrülpser. Rülpser bleibt Rülpser, dagegen ist kein Kraut gewachsen. Manchmal sind sie sogar angenehm... ANGEL Wenn die Rülpser kommen, schnappen die mich. EVA Nein... Du brauchst keine Angst zu haben, die sind besser als Herr Fernández... viel besser... Findest du den Schalter nicht? Du findest nie was. Wie kriegst du das nur fertig? ANGEL Weiß ich nicht, der ist bestimmt verkehrt rum, die machen alles verkehrt rum... Dieser Mann macht alles verkehrt rum... absichtlich. EVA Würde mich nicht wundern... Also, mein Schatz, jetzt liege ich schon wieder flach und schlafe weiter... Aaah... Die Matratze ist

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wirklich Scheiße... Eines Tages werden wir eine schöne, weiche Matratze haben, ohne Buckel und Kuhlen. Angel zündet ein Streichholz an, um den Schalter zu finden. Steck bloß nichts an. ANGEL Nein. Er hält das Streichholz vor Evas Gesicht und schaut sie an. EVA Ich sehe bestimmt geschwollen aus, wie eine Kröte. Hör auf damit! Sie dreht ihr Gesicht weg und sieht den Schalter. Da ist er! Vor deiner Nase! Glotze nicht auf das Feuer, schau auf die Wand, Idiot! ANGEL Ja. Er sieht weiter auf das Feuer. EVA Auf was wartest du? ANGEL E S tanzt... und tanzt... und tanzt... EVA Ja... schön... Du verbrennst dir noch die Finger. Das Streichholz geht aus. Eva setzt sich auf den Bettrand. Angel macht das Licht an, er hat sich die Finger verbrannt und saugt daran. Hast du dir weh getan? ANGEL Herr Fernández spricht nicht wie eine Person, der spricht auch nicht wie ein Rülps. Was ist Herr Fernández? EVA Ein Gauner... ein Lude... Das ist er, aber sag ihm das bloß nicht. Der ist ein Blutegel, ein Riesenblutegel, der saugt und saugt das Blut der andern. ANGEL Ich bin nicht dumm. EVA Natürlich nicht. ANGEL Wenn ich rede, haut er mich. Wenn ich nur den Mund aufmache, paff! schlägt sich selbst. EVA steht jäh auf Scheiße! Ich hab dir doch gesagt, du sollst dir was überziehen. Du wirst dich noch erkälten. Kümmere dich nicht um ihn. Blutegel scheißern nur rum. Sie nimmt eine Decke und legt sie Angel um die Schultern. Sie beginnt, ihn anzuziehen. ANGEL Ich kümmere mich nicht um ihn. Aber der ist wie ein Zug, der fährt über dich drüber, der drückt dich platt... platt... Aber wenn der Zug vorbei ist, stehst du auf, und dann geht's wieder. EVA Also, du mußt dich schon um ihn kümmern, aber hör nicht auf alles, was er sagt. ANGEL Wenn ich nicht auf ihn höre, kann ich mich nicht um ihn kümmern. Also muß ich alles hören, was er sagt... weil, wenn ich nicht auf ihn höre, dann wirst du sauer. Er entfernt sich von ihr. Eva läßt sich auf den Bettrand fallen. EVA Ich werde nicht sauer... Ist noch Kaffee da? ANGEL Ich weiß nicht... Ich weiß nicht, ob Kaffee da ist, aber ich weiß, wann du sauer bist... Das mag ich nicht. EVA LOS, schau nach, ob noch etwas da ist... Angel wühlt in den Küchensachen auf dem Tisch.

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Ich schau grade nach. Die Tiere, sind die gut oder schlecht? Warum hat er gesagt: „Darin kommen die Tiere", so hat er gesagt... EVA Kümmere dich nicht drum... Das Arschloch wollte doch nur sagen, daß die Männer kommen... Für einen Blutegel ist jeder ein Tier... Der sieht doch nichts anderes als den Ort, wo er sich festbeißen und Blut saugen kann. ANGEL Und wenn das Männer sind, warum bist du dann sauer? EVA Weil sie Schmarotzer sind... Die Männer können mich mal, mein Lieber... Außerdem bin ich müde. ANGEL D U bist sauer... Immer bist du sauer... also, fast immer... Eva kauert sich auf dem Bett zusammen und dreht Angel den Rücken zu. Es ist noch ein bißchen Kaffee da, aber er ist kalt. Ich mach' das Feuer an. Ich mach es langsam an, dann verbrenne ich mich nicht mehr. Obwohl sich die Flamme so langsam bewegt hat, hab ich mir trotzdem den Finger verbrannt. Ich mag Feuer... Magst du auch Feuer? EVA Ja.... ich mag es. ANGEL Klar... Aber die Männer mag ich nicht... Sie machen mir Angst, und ich weiß nicht warum... Er zündet den Spirituskocher an. EVA Weil du ein Kind bist. ANGEL Kinder machen mir auch Angst... obwohl sie lachen... Und wenn sie lachen, machen sie mir Angst. EVA Ich hab dir schon tausendmal gesagt, daß du keine Angst zu haben brauchst, dreht sich ihm zu Es gibt keine Angst. ANGEL Doch, es gibt Angst. EVA Nur wenn du dran denkst! Nur wenn du sie im Kopf hast! Verstehst du? ANGEL Die Angst passiert nicht im Kopf, die sammelt sich im Bauch, da kriege ich Dünnschiß. EVA Vergiß sie! Du mußt sie vergessen! steht auf, stellt sich vor Angel, packt ihn an den Schultern und schüttelt ihn Du mußt immer wieder sagen: Ich hab keine Angst! Ich hab keine Angst! Los, sag: ich hab keine Angst. A N G E L und E V A Ich hab keine Angst! Ich hab keine Angst! EVA Ja, genau... ANGEL D U hast auch Angst... EVA Was sagst du da? ANGEL Und wenn ich Angst hab... hab ich Angst... EVA Was sagst du da? Hast du 'ne Meise? Schau mich an! Schau mir ins Gesicht! ANGEL Ich schau dich an. EVA Dann siehst du, daß ich nie Angst hab! Bei den Klopsen, die die mir zumuten! Und was für Klopse... ANGEL

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Ja... klar... ich bin ein bißchen blöde, ich weiß nicht, was ich zu mir sage... Und wenn einer nicht weiß, was er zu sich sagt, ist er ein bißchen blöde... Und wenn einer ein bißchen blöde ist, dann merkt er die Dinge nicht richtig und dann ist es besser, er schweigt... Der Kaffee ist gleich fertig. EVA Entschuldige... Ich weiß nicht, warum ich angefangen hab zu schreien... Du bist nicht blöde. ANGEL Doch, ich bin's... Das kann jeder merken... Sogar ich merke es... Nur du merkst es ganz wenig, weil du mich lieb hast... Ich weiß es, wenn du mir in die Augen schaust... so... Und ich weiß es auch, wenn du mich nicht anschaust. EVA Ich hab dich wirklich lieb... sehr, sehr lieb... Das weiß nur Gott allein... Vergiß es nie... Vergiß es nicht, auch wenn ich mich manchmal saumäßig benehme. ANGEL Ich hab gemerkt, daß ich die Dinge nicht schnell merke... Deswegen merk ich 's ein bißchen spät, wenn du müde bist... Eva entfernt sich von ihm. Siehst du? Ich merke es, daß ich ein Depp bin. Ich finde mich zurecht. EVA Ach Kind... Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde... Wenn ich müde bin, hat das nichts mit dir zu tun... Gar nichts... ANGEL Der Kaffee ist schon heiß... Guck mal, das Feuer wird nie müde... Er leert ein Glas aus und schüttet Kaffee hinein. EVA Tu bloß keinen Zucker rein, ich werde fett wie eine Atzel... Ist noch ein Stück Brot da? Ich hab einen klebrigen Mund. Wenn ich mir was reintue, werde ich wieder munter... Der Kaffee ist sehr heiß... Der verbrennt mir alles... trinkt in kleinen Schlucken. A N G E L findet einen Kanten Brot Da ist noch was... Aber iß es nicht ganz... Die Vögel kommen... Die Vögel sterben immer vor Hunger. Eva bricht sich ein Stück von dem Kanten ab und gibt ihn Angel zurück. EVA Langt das? Angel nimmt das Brot und entfernt sich. ANGEL Ja, es langt... Es langt für die Vögel, die sind so klein, daß sie überall rein passen, du siehst sie gar nicht... EVA Und was ißt du? ANGEL Ich esse später. Wenn ich später esse, hab ich den Bauch voller. Wenn ich jetzt esse, wird er wieder leer... Wenn er leer wird, hab ich wieder Hunger... Ich bin kein Vogel... Eines Tages bin ich ein Vogel. EVA Am Montag geh' ich mit dir ins Kino. Wäre doch toll, ins Kino zu gehen, Popcorn essen und einen Liebesfilm anschauen... ANGEL An welchem Montag? ANGEL

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EVA Was soll's?! Der nächste freie Tag ist ein Montag... Wenn er die Uhr auf sechs gestellt hat, dann kommen sie um sieben... Und wenn sie um sieben kommen, ob Samstag, Sonntag, die Tage hier plumpsen vor sich hin wie Kartoffelsäcke... ohne Anfang und Ende... ANGEL Bist du müde? EVA Ich gehe mit dir, ich schwöre es. ANGEL Schwöre nicht, das tut weh... sehr weh... das tut Angel weh... Denn wenn du schwörst, und es ist nicht wahr, dann kommst du in die Hölle. Ich will nicht... Eva versucht, mit dem Glas in der Hand aufzustehen, es gelingt ihr nicht. Du bist sehr schwer. EVA Wie Blei... Ha, ha...! Komm... setz dich hier an meine Seite... drück mich... drück mich ganz fest... Ja so... ANGEL hat sich gesetzt und umarmt sie Ich mag das. EVA Ich auch. ANGEL Darf ich mal deine Titte anfassen? EVA Aber nur kurz. ANGEL Nur kurz. Er berührt sanft die Brust. Ich mag das... Warum mag ich das so? EVA Weil du ein Strizzi bist... ANGEL Weil ich ein Strizzi bin... Ich bin ein Strizzi... ein Strizzi... Die Zärtlichkeit seiner Umarmung verwandelt sich in sexuellen Drang. Eva versucht ihn wegzudrücken. EVA Jetzt langt's! Weg! Weg! Es gelingt ihr, ihn wegzustoßen; er entfernt sich erschrocken. ANGEL Ich bin ein Strizzi... Aber jetzt muß ich weinen... Warum muß ich weinen? EVA Weil du eine Heulsuse bist... Warum wohl... ANGEL Ich möchte... kann den Blick nicht von seiner Schwester lösen. EVA bedeckt sich mit einem Bettuch Warum schaust du nicht nach, ob noch etwas Kaffee da ist? ANGEL Du läßt mich nicht allein...? EVA Wie kommst du darauf? ... Ich lasse dich nicht allein. Angel kauert sich zusammen und starrt auf den Koffer. Eva bemerkt es und stößt den Koffer weg, damit er aus seinem Blickfeld verschwindet. Du wolltest mir doch noch was von dem verdammten Kaffee bringen? Angel steht auf wie ein Automat und greift nach dem Glas. ANGEL Ich weiß ja, ich bin schon volljährig, aber ich mag nicht allein bleiben. Der Kaffee ist heiß, es ist nicht mehr viel da... Sehr heiß... EVA TU' ein bißchen kaltes Wasser rein, aber keinen Zucker. ANGEL Weiß ich schon. Glaubst du, ich bin so dumm?

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EVA Nein, überhaupt nicht... aber du bist ein Quälgeist... Weiß ich schon... Aber es gefällt mir nicht, daß man mir das sagt. Gefällt mir nicht. EVA Ich werde es nicht mehr sagen, tut mir leid... ANGEL Du, du bist dumm... Dumm und blöde... EVA Sag mir so was nicht... ANGEL Aber du bist sehr dumm... Und merkst es nicht... EVA Könnte fast stimme... Ich glaube, es stimmt... Ha, ha...! Ich bin bekloppt... Soweit kann es nur eine Bekloppte bringen... ANGEL Aber du bist kein Quälgeist. EVA Weißt du, was sie gesagt haben, als ich zum ersten Mal auf einer Bühne auftrat? In einer Zeitung... das stand in der Zeitung, schwarz auf weiß, so daß es jeder lesen konnte... Weißt du was da stand? ANGEL Herr Fernández sagt, daß du mich in ein Irrenhaus stecken willst. EVA Der soll krepieren, der Sauknüppel! Auf der Stelle! ANGEL E S gibt kein kaltes Wasser. Der Kaffee ist sehr heiß, drückt ihr das Glas in die Hand Wenn du nicht ruhig bleibst, fällt er dir runter und verbrennt dich... Als du zum ersten Mal auf die Bühne gekommen bist, da haben sie gesagt: „Das Fräulein Eva ist eine wirkliche Hoffnung für das Vaudeville." Was ist eine wirkliche Hoffnung für das Vaudeville? EVA Der b e k o m m t was zu hören! Dem poliere ich die Fresse... Du glaubst doch nicht, was dieser Mistkerl sagt. ANGEL Wenn du Angst hast, dann brauchst du nur die Hand zu heben, so, und dann steckst du sie in den Mund und beißt... Aaaa... Er beißt sich in die Hand. Eva ist aufgestanden und versucht, ihm die Hand aus dem Mund zu reißen. EVA Was machst du da? Nimm sie raus, nimm sie raus, du Dummkopf. ANGEL nimmt die Hand aus dem Mund Siehst du? Siehst du, wie man die Angst wegbekommt? EVA Wie du sie zugerichtet hast, die Hand... Himmel noch mal... Lieber Gott, schick' mir einen Blitz, haue ihn entzwei, den Scheißkerl.... Wann hat er dir das gesagt? ANGEL Wenn der Blitz ihn entzweihaut, dann gibt es Herrn Fernández zweimal. EVA Wann hat er dir das gesagt? ANGEL entfernt sich Gestern... Gestern nacht... Die gefällt mir nicht, die Nacht.. EVA Gestern nacht hab ich dich ins Bett gebracht. ANGEL Ja... Aber wenn ich aufstehe, liege ich nicht mehr im Bett. Wenn ich aufgestanden bin, bin ich nicht im Bett. ANGEL

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EVA Stell den Film ab! Wieso stehst du auf, wenn du weißt, daß du im Bett sein mußt? Angel hat begonnen, das Bett zu machen, er schüttelt die Decken heftig aus. ANGEL Ich stelle den Film ab, aber der Film läßt sich nicht abstellen. EVA Wenn ich sage, bleib im Bett, dann weiß ich, was ich tue. Oder glaubst du vielleicht, ich bin bescheuert? Daß ich hier rumlaufe und Kinder einsperre, bloß weil mir das mein Arsch sagt? Ich hätte dich festbinden müssen an das verdammte Bett, dann hätten wir heute weniger Probleme...! Wenn ich dich im Bett lasse, dann weiß ich wirklich sehr gut, was ich tue! ANGEL Du siehst, der Film läßt sich nicht so leicht abstellen. Er läßt sich nicht abstellen und das macht dich sauer... EVA Und du bringst mich aus dem Häuschen. Siehst du das nicht? Also gut... gut... Sag mir, sag mir nur eines. Stehst du immer auf, wenn ich dich ins Bett gebracht habe. ANGEL Nein, nicht immer... EVA Wann stehst du auf? Schau mich an, wenn ich mit dir rede! ANGEL Nur wenn er weint... Wenn er weint, dann... Ich mag dich nicht anschauen, wenn du sauer bist... EVA Wenn wer weint? ANGEL Der Hund. EVA Der Hund... iveiß nicht, was sie tun soll, schließlich schminkt sie sich mit viel Creme ab Der Hund... ANGEL Ja... Der weint... Der hört nicht auf zu weinen... Und dann stehe ich auf, weil der Hund weint, ganz allein, und weil er festgebunden ist mit einer Kette am Hals, mitten in der Nacht. Dann stehe ich auf und gebe ihm zu essen, weil ich weiß, wenn man mit so einer Kette am Hals festgebunden ist, dann kriegt man einen Mordshunger... Einen Hunger ohne Ende... Und wenn du nicht ißt, dann platzt du von innen... Verstehst du? Dann nehme ich die Tüte mit dem Essen und... EVA Von welchem Essen redest du? ANGEL Ich hab keinen Hunger, weil ich nicht festgebunden bin... Dann tue ich ein bißchen in eine Tüte... EVA Das ist ja nicht zu fassen. Und dafür reiß ich mir den Arsch auf? Jetzt kommt es raus: Ich reiß mir den Arsch auf, damit so ein lausiger Köter was zu fressen kriegt...! Kann ich nicht glauben... ANGEL Wenn du hingehst und guckst, dann glaubst du es. Deshalb... Weil er heute nacht zu weinen angefangen hat, mußte ich aufstehen und bin raus gegangen. Und da lag er auf dem Boden und weinte... Da hab ich mich zu ihm gelegt, hab ihm zu essen gegeben und ihm

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eine Hundegeschichte erzählt. Dann bin ich eingeschlafen, ich weiß nicht wie, aber ich hab geschlafen, weil ich nicht schlafen wollte... Als ich aufgewacht bin, war alles ganz ruhig, ohne den Krach, den die Musik macht, und der Himmel war wie Feuer und die Sonne hat alles angezündet... Ich hab ganz still gelegen, bis das Feuer ausging... Da hab ich gemerkt, daß ich nicht im Bett war. Und wenn ich nicht im Bett bin, dann wirst du sauer, und ich mag nicht, daß du sauer bist... Deshalb hab ich an die Tür geklopft... Und geklopft und geklopft... Ich mußte klopfen, weil sie zu war... EVA Das Dreckschwein... ANGEL Dann hab ich ein Geräusch gehört, und Herr Fernández ist erschienen. Er ist erschienen, weil er die Tür aufgemacht hat, und da hab ich ihm gesagt: „Danke Herr Fernández, daß sie mir die Tür aufgemacht haben, klar, ich hab geklopft, weil die Tür zu war und wenn sie zu ist, kann ich sie nicht aufmachen." EVA Das Schwein... ANGEL Und dann, ich weiß nicht warum, vielleicht weil ich sehr gut erzogen bin und nie schreie, weil Schreien ungezogen ist... Vielleicht hat sich deshalb Herr Fernández geirrt und angefangen zu schreien und zu schreien, und sein Gesicht ist immer röter geworden und geschwollen. Da hab ich ihm gesagt: „Wenn Sie nicht aufhören zu schreien, dann platzt Ihnen das Gesicht." Und da hat er auf mich gehört und ist ruhiger geworden, und mit der ruhigeren Stimme hat er gesagt: „Deine Schwester, die Hurensau, will dich in die Klapse stecken, das ist das einzig Gute, was sie tun kann. Ich hab den Kanal voll, ich halt's nicht mehr aus, daß mir so ein Vollidiot zwischen den Beinen rumläuft... im eigenen Haus." Ich hab ihn angeschaut und nichts gesagt, damit er nicht wieder anfängt zu schreien... Aber ich lauf Herrn Fernández nicht zwischen den Beinen rum... Ich bin doch nicht so klein... Stimmt's? EVA Herr Fernández ist Scheiße am Stiel, schminkt sich. ANGEL Was ist ein eigenes Haus? EVA Möchte ich auch mal wissen. ANGEL Wenn das Haus auf meinem Kopf ist, dann ist es nicht mein eigenes Haus. EVA ES ist dein eigenes Haus, solange es auf deinem Kopf ist. ANGEL Und was ist eine Klapse? EVA Schau mich an... schau mir in die Augen... so... Hör auf niemanden, nur auf mich! Verstehst Du? ANGEL Ich verstehe... Und warum schreien sie dann: „in die Klapse, in die Klapse"?

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Roma Mahieu

EVA Weil das Dreckskerle sind... Und Dreckskerle wissen nicht, was sie sagen... ANGEL Aber das mag ich nicht... die Klapse mag ich nicht... die macht mir Angst... Sie ist so weit, ganz weit... Weiter als die Sterne, die sehen so nah aus... Sie sehen so aus, als würdest du sie greifen, wenn du die Hand ausstreckst... Aber du greifst nach nichts und da sind sie und fallen dir fast auf den Kopf... EVA Hör mir zu! Hör mir gut zu! Solange ich lebe, brauchst du nie an einen Ort zu gehen, den du nicht magst. ANGEL Wirst du immer leben? EVA Klar... ANGEL Dann ist alles gut... Dann brauchst du nicht sauer zu sein... EVA Ich bin nicht sauer... Also sei zufrieden jetzt, es ist alles gut... Hab' ich dich schon mal belogen? ANGEL

Ja.

ANGEL

Und du?

EVA Weil ich blöde war... einfach blöde Sie sucht in ihren Taschen und findet einige Münzen. Hier muß noch was sein... Hier hast du was, laß dir 'ne Cola und Fritten geben. ANGEL Eis ist besser. EVA Dann nimm ein Eis. ANGEL Ein Eis und eine Cola. EVA Gut... damit kommst du aus... Nein, hier hast du noch was... ANGEL Dann hast du kein Kleingeld mehr. EVA Egal, ich kriege heute wieder welches... Da fliegt immer was rum... Man muß nur wissen, wie man die Hand ausstreckt... ANGEL W O fliegt es rum? EVA WO du es nicht siehst. EVA Ich auch nicht... Sie werfen es mir zu, wie einem Hund. ANGEL Wer wirft es dir zu? EVA Wer? Na... Herr Fernández... ANGEL Dann ist es gut. EVA Nein, das ist Scheiße, verdammt. ANGEL Aber er wirft dir doch Münzen zu... und Münzen... EVA Er wirft sie mir zu, weil es meine sind... Und damit ich sie kriege, reiß ich mir den Arsch auf, und noch mehr... Aber die Scheine, die bleiben in den Taschen, den engen Taschen von Herrn Fernández. Sie sieht sich nach einem Kostüm fiir die Vorstellung um. ANGEL Mag ich nicht. Ich mag nicht, daß sie dir was aufreißen. EVA Das ist eine Redensart... verstehst du? Die reißen dir dies auf... und das... Schau mich an? Siehst du was Aufgerissenes? ANGEL Weiß ich nicht... Verstehe ich nicht...

Der

Feuerdrache

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EVA LOS! Schau mich an. Bin ich nicht wunderschön? ANGEL

Ja.

ANGEL

M a g ich...

ANGEL

Glaubst du?

ANGEL

Warum?

ANGEL

D a s ist ein G e h e i m n i s . . .

EVA gerührt Komm... Du mußt mir den Hals massieren... Er ist so steif, daß er jeden Moment abbrechen kann, dann rollt mein Kopf herum... Er rollt und rollt... ANGEL Ich mag nicht, daß du das sagst. EVA Ist nur ein Scherz... Ich hab keinen Kopf... Angel geht zu ihr und beginnt, sie zu massieren. Eva zieht den Kopf weg, als würde sie ihren eigenen Gefühlen ausweichen. ANGEL Halt still... Wenn du dich bewegst, hältst du nicht still, und wenn du nicht still hältst, rutschst du mir aus den Händen... EVA Ich halt ja still. So... Ja so... Eine Wohltat! Du hast goldene Hände... „Goldene Hände", was für ein Titel... Kannst du dir die Nummer vorstellen, die wir daraus machen könnten? „Der Engel mit den goldenen Händen". Was meinst du? EVA Klar. Wer denn nicht! Zuerst gehe ich raus und mache sie richtig geil, und dann trittst du auf, in einem wunderschönen Goldanzug... Du gehst auf sie zu und reibst sie, mit goldenen Handschuhen an den Händen reibst du sie... so... so... Und die Kerle Ajaijaijai, ajaiaj a i . J Die stöhnen vor Lust und stopfen dir Scheine in die Tasche... gelbe Scheine... blaue... in allen Farben.

EVA Und ob ich das glaube! Wir würden schwimmen in Geld... Ferien machen in Benidorm, eine Jacht kaufen... ANGEL Eine Jacht, nein... Das Wasser macht mir Angst... EVA Na gut... keine Jacht... Aber es wäre phantastisch... Warum, glaubst du, kommen die jede Nacht hierher? Eva schaut ihn an. Es ist klar, daß er mehr weiß, als er ausdrücken kann. EVA Warum wohl... Damit sie nicht den Kopf verlieren. ANGEL Sie sehen alle aus, als hätten sie den Kopf fest auf den Schultern... Sehr fest... EVA Aiiii...! Du tust mir weh... ANGEL Ich will dir nicht weh tun. EVA Ja, weiß ich... so... so... Ja, so ist es gut... weil... ich bin am Boden zerstört... ANGEL Ich will dir nicht weh tun... Wenn ich da bin... weil, wenn ich nicht da bin, bin ich nicht da... EVA Was soll das denn, wenn du da bist, bist du da, und wenn du nicht da bist, bist du nicht da.

Roma Mahieu

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EVA Wieso denn das? ANGEL Eva ist auch ein Geheimnis... Und wenn sie kein Geheimnis wäre, dann wäre sie nichts... M a n c h m a l bin ich da u n d bin nicht da... legt sich aufs Bett Ich und mein Körper sind hier, sie liegen hier... Ausgestreckt auf d e m Bett, hier... Aber ich, Angel, bin nicht da. Verstehst du? W e n n ich nicht da bin, dann passiert mir nichts. W e r d e nicht traurig, ich m a g das nicht. EVA Ich w e r d e nicht traurig, Herrgottnochmal, aber das Spiel gefällt mir nicht! Das ist alles. ANGEL Ich bin nicht traurig. EVA Hör auf jetzt... Es wird bald sieben, die warten alle schon draußen und wie sehe ich aus... K o m m , sei so gut, geh raus u n d probiere schon mal, bis ich fertig bin... ANGEL

M a g ich nicht...

ANGEL

Ja...

EVA Und ich? W a s bildest du dir ein? Es gibt einen Haufen Dinge, die man macht, ohne daß m a n sie mag, und sie erwischen dich doppelt und dreifach... ANGEL Vielleicht bin ich nicht so gut. EVA DU mußt jetzt gehen... Schau mich an, schau mich mal an! Gib mir ein bißchen Zeit, ich sehe aus wie eine Vogelscheuche... Schau mich an... bitte... Musik und Geräusche im Lokal werden lauter. Angel richtet sich ein wenig auf und sieht seine Schivester an. Na gut... Laß es sein... Wenn du nicht willst, laß es sein... Eva versucht, ihre Vorbereitungen zu beschleunigen. ANGEL Doch, ich will. Manchmal will ich... Ich mag das... EVA Bist du sicher? ANGEL Ich mag, wenn du zufrieden bist... EVA Ja? Es ist nur die eine Vorstellung... Du wirst sehen, wie schnell ich mich umziehe... Ich verspreche es dir... Die Uhr. W o ist denn jetzt die Uhr hin? ANGEL W o ist denn jetzt die Uhr hin? Schschsch..! Hier ist sie... Erfindet die Uhr auf dem Boden. EVA Ja... Uhren sind aus Eisen... EVA hebt die Uhr auf beeilt sich Lieber Gott, tu was... Ich w e i ß nicht, w o ich anfangen soll... Du wirst sehen, alles klappt... Z u m Schluß klappt alles... Wir machen schnell unsere Nummern... D a n n leg ich dich ins Bett und decke dich gut zu... ja, genau... Ich decke dich gut zu und gehe aus... Ich gehe ein bißchen aus, dann wirst du sehen, wieviel Moneten wir haben werden... Du wirst schon sehen... morgen... Lieber Gott...

Der

Feuerdrache

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ANGEL Bestimmt... Ich werde sieben Eis essen... und einen Haufen Fritten... und eine Limo... EVA Auch die Limo... was du willst... Aber beeile dich... ANGEL zieht sich aus Guck... ich bin sofort fertig. Du wirst sehen, wie sie klatschen... Immer wenn sie mich sehen, gibt es Beifall. Sie sind zufrieden, sie sind zufrieden, wenn sie mich sehen, mich, Angel. Sie sind zufrieden, weil sie lachen... Wenn sie lachen, sind sie zufrieden... Sogar der... der da., ist zufrieden. EVA Den sollen sie in den Arsch ficken... ANGEL Ja aber, es ist besser, wenn er zufrieden ist, weil ich nicht gewollt habe... Weil ich nicht wollte... Ich war nur am Schlafen... ich war am Schlafen und bin nicht wach gewesen... EVA Sei still... bitte... Jetzt sei bitte ein bißchen still... Ja? Eva schaut zum Koffer. Angel bemerkt ihren Blick. Eva beherrscht sich. Aspirin... ich brauche ein paar Tabletten... Sie durchwühlt alles. W o sind sie denn, verdammt noch mal? Die sind nie da, wo man sie sucht... Und dein geheimes Spielchen gefällt mir gar nicht... Immer mußt du irgendwie „da sein" oder „an etwas sein" verstehst du? Keine Spielchen mehr... ANGEL Ich rede zuviel... EVA Nein... ich. ANGEL Ich weiß, daß ich zuviel rede. Ich kann nicht nicht reden... Wenn ich nicht rede, bin ich nicht... Wenn ich nicht ein bißchen rede, bin ich ein Stuhl... oder ein Tisch... Wenn ich die Wörter höre, die mir aus dem Mund kommen, weiß ich... EVA findet die Tabletten, unterbricht ihn Hier ist das verfluchte Aspirin! Wasser... Ich brauche ein bißchen Wasser... Angel fühlt sich nützlich. Er sucht und findet eine Schüssel. ANGEL Ich hab Wasser gefunden, aber es ist schmutzig. Ich kann Wasser im Bad suchen. Im Bad ist ein Hahn, der ist voll mit sauberem Wasser. Er läßt das Wasser aus der Schüssel durch seine Finger laufen. EVA Vergiß es... kaut die Tabletten ohne Wasser Brrr scheußlich! Ich will nicht, daß du rausgehst! ANGEL Ich gehe nicht raus. EVA hält die Hände unter die Schüssel Gib mir ein bißchen Wasser, mal sehen, ob ich wach werde. Angel gießt ihr ein wenig Wasser in die Hände. Eva wäscht sich das Gesicht. ANGEL ES ist sehr schmutzig... Aber ich gehe nicht raus, denn, wenn ich rausgehe, sehen sie mich, und wenn sie mich sehen, gibt es ein Problem. Sie können mich nicht sehen, aber wenn ich da bin, sehen sie mich. Aber wenn ich durchsichtig werde, sehen sie mich nicht.

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Roma Mahieu

EVA Gib mir mal das Handtuch! Das Handtuch! An was denkst du jetzt? ANGEL Es ist besser, wenn man durchsichtig ist. EVA Das Handtuch, bitte...! Angel scheint aufzuwachen, er sucht das Handtuch und findet es nicht. Laß sein... Ich trockne mich damit ab... Na ja... Eva trocknet sich mit dem zerknittertem Bettuch ab. Angel sieht die Schüssel und schüttet sich Wasser auf den Kopf. ANGEL Mal sehen, ob ich aufwache... Ich bin... ich bin aufgeblasen wie ein Luftballon... Ha, ha, ha..! Wie ein Ballon... Ich schwebe... schwebe... Ich bin ein Ballon... Er bespritzt Eva mit Wasser. EVA DU machst mich naß. ANGEL Das ist Regen! Es regnet... es regnet... Ich mag, wenn es regnet... Ha, ha, ha...! Sie spritzen sich gegenseitig naß. EVA Nimm den Regen! Ha, ha, ha... Magst du das? ANGEL Ich mag das... Ich mag das... Die Musik im Lokal wechselt. Eva besinnt sich. EVA Hör auf! Hör schon auf! Siehst du nicht, daß du alles ruinierst? Die Kostüme! Mein Gott, die Kostüme... Angel hört nicht auf sie und spritzt weiter. Eva schüttelt ihn, gibt ihm schließlich eine Ohrfeige. Angel hält überrascht inne. Sie nimmt ihm die Schüssel aus der Hand. Du kriegst noch eine Lungenentzündung... Zieh das aus... Los! Das fehlt noch, daß ich einen Arzt bezahlen muß. ANGEL Einen Arzt, nein... Ärzte sind böse... EVA Also, zieh dich endlich aus und zieh trockene Sachen an... los... Schau, so weit treibst du mich... Ich wollte dich nicht schlagen... ANGEL Das Wasser ist... EVA Ja gut... Jetzt trockne dich ab... Angel hat das nasse Kleidungsstück ausgezogen und schaut sie an. Ihm ist kalt. Eva wickelt ihn in das Bettuch und reibt ihn trocken. ANGEL Ich mag das... EVA Wer nicht? Jetzt mach allein weiter. Du solltest was Warmes trinken, hier ist noch ein Schluck Milch. ANGEL Zucker nein, ich werde sonst dick... und dicker... und dicker... EVA DU Clown... Trink sie kalt... Wenn ich darauf warte, bis sie warm wird... mit dieser Matschbirne... Stell dir vor... ich hab sogar vergessen, daß ich Kopfweh hatte... Du Clown... Eva gibt ihm aus der Flasche zu trinken. Angel wickelt ein Kleid zusammen und steckt es unter das Bettuch, um eine Schwangerschaft zu simulieren.

Der Feuerdrache

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Zappel nicht so viel und trink das aus. ANGEL Und dicker... und dicker... u n d dicker... Er macht die Beine breit und läßt das Bündel auf den Boden fallen, simuliert eine Geburt. EVA W a s machst du da? Das gefällt mir gar nicht. ANGEL Aaaah... Angel... Angel... Angel...! EVA M a c h das nicht... Angel trampelt auf das Bündel, gibt sich dabei selbst Ohrfeigen. H ö r auf! Hör auf jetzt! Sonst m u ß ich das Scheißkleid auch noch waschen... Jetzt langt es! D u machst mich verrückt...! R u h e oder sie schmeißen uns auf die Straße! Auf die Straße! Ruhe... Ja so... ruhig... D u mußt das verstehen, wenn du schreist, schmeißen sie uns auf die Straße... Hier sind Leute, die das hören... verstehst du? Auf die Straße... die Straße... Angel hat sich beruhigt. ANGEL Nicht auf die Straße. EVA Dann schreie nicht. ANGEL Ich hab nicht geschrien, ich hab nicht geschrien, denn, w e n n ich schreie, dann hör ich das, und w e n n ich nicht gehört habe, hab ich nicht geschrien. Außerdem bin ich gut erzogen. E V A Ist ja gut. ANGEL Ein andrer hat geschrien... EVA Dann sag d e m andern, er soll nicht mehr schreien. ANGEL Der wird nicht schreien. Jetzt ist mir heiß, w e n n mir heiß ist, ist mir nicht kalt, und wenn mir kalt ist, ist mir nicht heiß. EVA Ist ja schon gut. W o ist denn bloß der v e r d a m m t e Stuhl? Das m u ß alles ein bißchen aufgeräumt werden... Irgendwann... betrachtet sich im Spiegel, wendet den Blick ab Gott... Ich k ö n n t e sogar mir selbst Angst einjagen... Suche mir den Stuhl.. Tu mir den Gefallen, Lieber. Hier sind noch ein paar Tabletten... Angel nimmt einige Kleider vom Stuhl, während Eva die Tabletten kaut und versucht, die letzten Milchtropfen aus der Flasche zu schlürfen. Nichts m e h r drin... Scheußlicher G e s c h m a c k ! ... M ü ß t e m a n dringend verbessern... Brrr! ... Aber es geht nicht anders, mein Kleiner... Es geht wirklich nicht anders, Lieber... Scheußlich, aber bringt die W a t t e aus d e m Kopf... Naja, ein bißchen wenigstens... W i r d wohl noch ein bißchen Knete eintrudeln, aber bis z u m W o c h e n e n d e werden wir w o h l warten m ü s s e n , weil die S a u k e r l e alles auf einmal zahlen... Die können zusehen, w i e m a n krepiert... Ich halt das nicht mehr aus! Sie geht zum Bett und zerrt den darunterliegenden Koffer hervor. ANGEL

Nein...

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Roma Mahieu

EVA Schau weg... W e n n die A u g e n nichts sehen, fühlt das H e r z auch nichts... Sie öffnet den Koffer, holt eine Flasche heraus, entkorkt sie, während Angel unaufhörlich auf die Wäsche im Koffer starrt. Das ist für das Geschwür... W e n n du Aspirin e i n n i m m s t , o h n e einen zu heben, kriegst du ein Geschwür... Ein G e s c h w ü r ist ein großes Loch, aus d e m die D ä r m e raushängen... Du willst doch nicht, daß mir die Därme raushängen... ANGEL Nein. EVA Dann drehe dich um, und schau weg... Angel sieht weiter zu. Eva trinkt. Nur um das Aspirin runterzukriegen... Das schwöre ich dir bei meiner Mutter... N u r darum... ANGEL M a n darf nicht schwören... stellt den Stuhl vor den Spiegel Hier hast du den Stuhl. W e n n der Stuhl auf seinem Platz steht, dann mußt du dich auf deinen Platz setzen, und dich anmalen, sonst hast du ein dreckiges Gesicht... Jetzt trink nicht mehr... Eva korkt die Flasche wieder zu und stellt sie weg. EVA Nicht mehr? ... Du siehst ja, ich tue es nur, um das Aspirin runterzukriegen... D a s S c h e i ß z e u g b r e n n t w i e Feuer, w e n n du keinen trinkst. Aber jetzt, schau her, jetzt hab ich sie w e g g e t a n und rühre sie nicht mehr an. Zufrieden? ANGEL Nein. EVA Soll ich sie wieder rausholen? ANGEL Die Wäsche im Koffer ist ganz zerknittert. EVA W e n n du willst, tun wir sie raus. ANGEL Nein. EVA So stört sie nicht. Mit einem Fußtritt schiebt sie Koffer unter das Bett. ANGEL Der Koffer ist sehr hart. EVA Ja, ja... Jetzt schau mich an: sieh mal wie schön ich mich mache... Da bleibt denen der M u n d offen stehen... Du wirst schon sehen, was da abläuft. Ein Riesenerfolg. Du wirst schon sehen, die werden uns engagieren, an einem sehr großen Ort... In einer Stadt! Wir werden in wirklichen Hotels wohnen... Hotels mit Dusche... Seit wann hast du nicht mehr geduscht? ANGEL Weiß ich nicht... Ich kann die Zeit nicht zählen... EVA W e r k a n n das s c h o n ? A b e r d u s c h e n w ü r d e s t du d o c h gerne. Stimmt's oder hab ich recht? ANGEL Stimmt nicht. Er weicht zurück, meidet den Kontakt. EVA Das w ü r d e mir gefallen, und wie! ... Könnte m i c h verrückt machen... Dusche... Abendessen... H ä h n c h e n und Champagner... W a s meinst du? ANGEL W e n n m a n zufrieden ist, ist man nicht traurig.

Der

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EVA Das hast du gut gesagt. Jetzt bin ich... sagen wir mal, ein bißchen... ein klein bißchen zufrieden... Ist das was Schlechtes? ANGEL Nein. EVA Um so besser... Heute muß alles klappen, wunderbar... Eva schminkt sich. Angel kauert sich in die Ecke. Jeden Tag muß ich eine Schicht mehr drauf tun... damit man's nicht merkt... Und du, denke immer daran... Was auch geschieht, denke daran, ich liebe dich mehr als alles auf der Welt... Und wenn ich nicht mehr tun kann, dann ist es deshalb, weil... das siehst du doch... weil ich müde bin... hundemüde... Die kannst du dir nicht vorstellen, diese Müdigkeit... ANGEL Ich kann sie mir vorstellen... Manchmal laufen sie mir weg, die Vorstellungen... aber manchmal kommt mir auch eine Vorstellung... EVA DU bist wie Mama, die war auch immer mit allem einverstanden... ANGEL Ich bin nicht mit allem einverstanden... Manchmal sag ich nichts, aber ich bin nicht einverstanden... EVA Sag, was du willst, aber jetzt komm und halte mir die verdammte Lampe... Halte sie mir ein bißchen näher ans Gesicht, hier kann nur ein Blinder sehen. Na, komm, wenn du mir die Lampe hältst, bin ich noch zufriedener, dann sterbe ich vor Lachen... Los, tu mir den Gefallen... Angel kommt näher, hebt die Lampe hoch und beleuchtet Evas Gesicht. Zum Fürchten! Angel nimmt die Lampe weg. Nein, laß sie hier... Was mach ich bloß!? ANGEL hält die Lampe wieder näher Ich hab dich sehr lieb... EVA Weiß ich... Wie konnte ich so herunterkommen. Kriegst du keinen Schrecken, wenn du mich siehst? ANGEL Ich kriege einen Schrecken, wenn ich dich nicht sehe... Denn, wenn ich dich nicht sehe, bist du nicht da... Und wenn du nicht da bist, möchte ich sterben. EVA Sage so was nicht! ANGEL Wenn du nicht willst, daß ich so was sage, dann sage ich es nicht. EVA Hör zu! Du, Angel, und ich, Eva, wir sind zwei Personen. Zwei. Verstehst du? Zwei verschiedene Personen. Angel kann Hunger haben, aber Eva hat Durst. ANGEL Wenn Eva Durst hat, dann holt Angel Wasser... EVA Manchmal. ANGEL Immer. EVA Wenn Eva weit weg ist, oder nichts sagt, kann Angel nicht wissen, ob Eva Durst hat. Dann wird er auch kein Wasser holen. Ich kann an

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einem Ort sein und du an einem anderen, weil wir zwei Personen sind. Ich kann wach sein, und du kannst schlafen. Wir sind verschieden, wie Herr Fernández und der Barmann. Verstehst du? Die sind immer zusammen, aber... ANGEL Aber Herr Fernández verprügelt den Barmann und dann fängt der Barmann an zu weinen und Herr Fernández lacht... Bumm... Bamm... Bumm... Bamm... Er ahmt die Schläge nach und schüttelt die Lampe. EVA Halt die Lampe ruhig. Du kriegst noch einen Schlag. Laß sie los! Wird's bald! Fehlt bloß, daß du einen Kurzschluß auslöst... Gib sie mir jetzt, du Tier! Laß los! Angel beruhigt sich und läßt die Lampe los. Eva hält sie. Und jetzt? Was mache ich jetzt? So kann ich mich nicht schminken, siehst du das nicht. Wenn du sie so schüttelst, kann was passieren... Außerdem sehe ich nichts. Und die Zeit läuft mir davon... ANGEL Ich bin kein Tier. EVA stellt die Lampe auf den Tisch Na ja... Das Tier bin ich... Ich bin ein Ding, schau mich an... dann brauchst du auf mich keine Rücksicht zu nehmen... Ach, ich weiß nicht, was ich sage, ich weiß auch nicht, was ich zuerst denken soll... Ich kann noch nicht mal denken... Das macht mich alles sehr nervös... Na ja, geht vorbei... setzt sich eine Perücke auf Wie sehe ich aus? ANGEL Ich bin auch keine andere Person. Zwei Personen sind zwei. Angel und Eva sind eine... Sie sind Geschwister. Geschwister sind ein einziges Ding... Und wenn es ein einziges Ding ist, dann können es nicht zwei sein... Zwei Zweige auf einem Baum sind ein einziger Baum. Zwei Beine von einem Hund sind ein einziger Hund. Er nimmt die Lampe und leuchtet Eva ins Gesicht. EVA Dann sei vorsichtig mit dem elektrischen Strom, er ist wie ein Messer, er schneidet und brennt... Ich hab dir tausendmal gesagt, daß du vorsichtig sein sollst mit dem Strom... Ich halte das nicht aus, das Licht in den Augen... ANGEL Ich bin vorsichtig. Ich halte sie vorsichtig, und wenn ich sie vorsichtig halte, dann halte ich sie vorsichtig... EVA Ja, du hältst sie vorsichtig, aber jetzt ist es besser, du ziehst dich an. ANGEL Ich halte still wie eine Wand. EVA Ja, du bist still... Ich hab gesagt... heute hilfst du mir, wenn du willst... ANGEL Ich will. EVA Dann laß das jetzt sein und zieh dir das Trikot an... Es muß hier irgendwo liegen... Zu Evas Erleichterung läßt Angel die Lampe los.

Der

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ANGEL Ich suche es. W e n n ich es suche, d a n n finde ich es. Ich finde alles, w a s ich suche... W e n n es nicht an e i n e m T a g ist, d a n n ist es an e i n e m anderen, weil die D i n g e hier ruhig b l e i b e n u n d warten. Ich finde nicht das, w a s ich nicht sehen kann. In seiner hastigen Suche nach dem Trikot wirft Angel alles durcheinander. Eva schaut ihm zu. Der Rhythmus der Musik im Lokal ändert sich. EVA Ich könnte eine ganze W o c h e schlafen. ANGEL Eine W o c h e , das sind ein H a u f e n T a g e u n d Nächte, o b w o h l es schwer ist zu wissen, w a n n der Tag anfängt und w a n n die Nacht... EVA W a r doch nur ein Scherz. ANGEL

EVA

Ich m a g d a s nicht.

Na ja... Aber herumliegen, o h n e daß dieses S c h e i ß d i n g v o n W e c k e r rappelt... W e i ß du? U n d plötzlich m e r k e ich, d a ß ich m i c h fühle wie eine alte Kuh... W e r d e ich nicht alt? Sag mir. S e h e ich alt aus? Sie hält Angel fest und zwingt ihn, sie anzuschauen. Bin ich alt?

ANGEL

Nein.

EVA Das sagst du nur so... weil du ein guter Kerl bist... ANGEL Ich sage die D i n g e nicht nur so. Du wirst nie alt sein. W e n n einer i m m e r gleich ist, wird er nicht alt. Die Alten sind alt und die, die nicht alt sind, sind nicht alt... Und du bist nicht... EVA Ich bin nicht alt? Aber ich will nicht mein g a n z e s Leben in so einem Loch verbringen... D a s ist w i e der Tod, eine S c h e i ß e ist das... verstehst du? Und du brauchst das auch nicht zu ertragen. ANGEL

EVA

ANGEL

EVA

M i r gefällt es.

Das gefällt dir ü b e r h a u p t nicht, das k a n n n i e m a n d e m gefallen, das hier ist eine Kloake, sie spucken auf dich, u n d lachen dich auch noch aus... Hier ist es! Sie zieht das Trikot unter einem Kleiderhaufen hervor. M i r gefällt es.

W a s weißt du denn s c h o n ? Du bist ein z u f r i e d e n e r W u r m in einer faulen Kartoffel... Setz dich, ich helfe dir. Er setzt sich auf den Bettrand. Sie zieht ihn an, als wäre er ein Kind. H e b den Fuß hoch... Ja so... Die lachen... Ich halte es nicht aus, w e n n sie lachen... Die Schleimer... Die stehen d o c h n u r a u f s Ficken, wie die Hunde... Die wissen nicht, w a s 'ne Künstlerin ist, w i e m a n sich s c h i n d e t , w e n n m a n s e i n e K o f f e r v o n B a h n h o f zu B a h n h o f schleppt... U n d diese Dreckszüge.

ANGEL

Ich m a g Züge.

EVA Die können dir gar nicht gefallen... Du hast kalte Füße. ANGEL Mir ist nicht kalt. EVA U n d das hier, der Dreck? Die W ä n d e , die dich fast erschlagen. ANGEL

EVA

M a g ich.

Das kann nicht sein.

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Roma Mahieu

Wenn Eva nicht will, dann mag ich nicht. Aber eine Wand ist nur eine Wand. EVA ES geht nicht darum, was ich will oder nicht mehr will. Die Dinge sind, wie sie sind... Schau dir das genau an, die Feuchtigkeit nimmt dir die Luft zum Atmen... ANGEL Ich bin ziemlich schlecht... EVA Was sagst du da, du weißt doch gar nicht, was das heißt... ANGEL Doch, ich weiß es. Es klopft an der Tür. STIMME Ihr Penner in eurem Dornröschenschloß, ihr habt noch 'ne Viertelstunde. Pause Hört ihr mich? EVA Geh zum Teufel! STIMME Ha, ha, ha...! EVA Scheißtyp, dreckiger! Und du, zieh das jetzt an... Heiliger Strohsack... Die Musik wird lauter, das intermittierende Licht wird heller. Angel, der aufgestanden ist, beginnt, sich im Rhythmus der Musik zu wiegen, völlig in sich selbst versunken. Eva stellt das Schminkzeug hin, holt die Flasche. Da sind wir wieder... Angel versucht, ihr die Flasche wegzunehmen; es gelingt ihr, einen Schluck zu trinken. EVA O...! Ich werde nicht mehr trinken... Ich verspreche es dir... Aber ich konnte es nicht lassen... Verstehst du mich? Ich konnte nicht... ANGEL Ich verstehe... Ich bin nicht so dumm... EVA Jetzt wird mir besser. Ja, es geht... Sie stellt die Flasche weg. ANGEL Und was ziehe ich jetzt an? EVA Das Tutu, dann bleibt mir ein bißchen mehr Zeit... ANGEL Ich verstehe... Aber ich mag nicht... Der Wein macht deinen Kopf toll... Er macht ihn voll, so daß nur noch Wein drin ist... Ich mag das nicht... Ich hasse es... ich hasse es... EVA Kindchen, deine Schwester ist keine Heilige. Hör mal, die Salsa ist nicht schlecht... Das könnte eine Nummer werden. Angel sucht sein Tutu. Eva konzentriert sich auf die Musik. ANGEL Ich mag keine Heiligen. Die stehen nur rum und machen gar nichts... Eva wird nie eine Heilige sein. EVA Was weißt du denn von Heiligen? Und nachts? Weißt du, was nachts passiert, wenn sie die Kirche zuschließen und alle Lichter aus sind? ANGEL Dann werden sie blind. EVA Heilige sehen immer. ANGEL Glaub ich nicht... Du kannst immer sehen, ohne irgendein Licht... ANGEL

Der

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EVA Da hast du recht. Darin bin ich den Heiligen ähnlich. A u ß e r d e m haben die Heiligen A u g e n aus b e m a l t e m Holz. Die können nur am Tag sehen. Ich finde das Tutu nicht. EVA Schau mal unterm Bett nach. W a s weißt du, wie die Augen von Heiligen aussehen. Eva und Angel kriechen auf dem Boden auf der Suche nach dem Tutu. ANGEL Wenn du ein bißchen kratzt, geht die Farbe ab... EVA Was weißt du schon! ANGEL Ja, ich weiß es... Der Heilige hat mich so starr angeguckt... Ja, so... ganz starr, mitten in die Augen. Das m a g ich nicht. Ich mag das nicht, wenn sie mich so starr angucken, mitten in die Augen, weil die in meine Augen rein gehen, und dann sind sie drin... D a r u m m a g ich das nicht... Darum bin ich raufgestiegen und hab ein Auge weggekratzt. EVA Heilige Mutter Gottes...! Hast du das gemacht? Ha, ha, ha...! ANGEL Ja, weil ich sehr böse bin. EVA Hat dich niemand gesehen? ANGEL Manchmal bin ich sehr böse EVA Haben sie dich gesehen oder nicht? ANGEL Ich bin d u m m aber nicht blöde, die Kirche war immer leer. EVA H a b ich's nicht gesagt? Unterm Bett... Ist alles u n t e r m Bett... Mal sehn, heb den Fuß! Eva hat das Tutu gefunden. Sie zieht es Angel an, dann schminkt sie ihn. Dann war er ja einäugig... Armer, armer Heiliger... nur ein Auge... ANGEL Eins... Das war gar nicht spaßig... Der Heilige stand da und wußte nicht, was er tun sollte, mit nur einem Auge... Ich war so böse, daß ich mir in die Hose gemacht hab... Dann bin ich rausgelaufen aus der Kirche und hab nicht aufgehört zu laufen, bis ich im Schlafsaal w a r und da hat mich Schwester María Jesús a m Haar erwischt und dran gezogen und an den Ohren auch... Und ich hab angefangen zu schreien und zu schreien... Ich wollte m e i n e H o s e nicht schmutzig machen, ich wollte nur die A u g e n w e g h a b e n , die mich i m m e r so angucken... Aber S c h w e s t e r María Jesús hört nicht gut und kann so was nicht verstehen, und da hat sie mich stehen lassen, ohne Hosen, mitten auf dem Hof. Alle haben dagestanden und gelacht... U n d ich hab das H e m d runtergezogen und gezogen, weil man das Pimmelchen sehen konnte, das ist Todsünde. EVA Das hat sie mit dir gemacht, die Drecksau, die Hurentochter mit der frommen Fratze. ANGEL Die ist keine Drecksau. Die badet jeden Tag, dann werden ihre Titten naß... Die hat so große Titten... so große... ANGEL

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Roma

Mahieu

EVA Nur gut, daß sie nicht hierher kommt und mir Konkurrenz macht. Und woher weißt du das? ANGEL Durch das Loch EVA Das Loch... ANGEL In der Tür vom Badezimmer ist ein Loch. EVA Ha, ha, ha...! Die Drecksau! Die Hurentochter! ... Ein Loch... Ha, ha...! ANGEL Und woher weißt du das? EVA Was? Halt still, sonst mal ich dir den Mund aufs Ohr. ANGEL Ich halte still, du hältst nicht still. Wer hat dir erzählt, daß die Mutter von Schwester María Jesús eine Hure war? EVA Bestimmt... ANGEL Hat sie deshalb so große Titten? EVA reicht ihm eine Perücke Setz dir die Perücke auf. ANGEL Diese Perücke ist verkehrt herum oder ich hab heute Finger aus Gummi... Guck mal... Pfff... Die Haare gehen auseinander... Die kann ich nicht aufsetzen. EVA Komm... Du bist ein Schatz... Sie setzt ihm die Perücke auf und schaut ihn an. So ähnelst du Mama auch im Gesicht... Nur hatte die braunes Haar, obwohl, zuletzt war es weiß... Du wirst dick... ANGEL Was ist eine Hure? EVA Eine Hure? Eine Hure ist eine Frau... Na, was wird sie sein...! Es gibt einen Haufen Frauen... ANGEL Und die mit Titten, sind das Huren? EVA Tja... In gewisser Weise... Wieso kommst du darauf? ANGEL Ich komme drauf, weil alle immer gern an die Titten fassen. EVA Du auch... ANGEL Ja... Ich mag Titten... Ich mag sie sehr. Er faßt Evas Brüste an. EVA Ferkel...! ANGEL Sie sind so weich, das man weinen möchte... Deswegen... wenn sie mich durchs Loch schauen ließen, hab ich es mit mir machen lassen. EVA Was? ANGEL Die Todsünde... Da haben sie mich durchs Loch schauen lassen... EVA Und da hat niemand auf dich aufgepaßt. ANGEL Ja, doch... Schwester María Jesús... Da war noch eine andere, aber an die erinnere ich mich nicht mehr... Und noch eine andere... EVA An die erinnerst du dich auch nicht mehr... ANGEL Nein. EVA Wenigstens brauchst du jetzt nicht durchs Loch zu schauen. ANGEL Jetzt nicht.

Der

EVA

Feuerdrache

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U n d ich bin eine H u r e ?

ANGEL

Ja klar.

EVA Ja... klar... W o sind bloß die Ballettschuhe? ANGEL Eine gute Hure. E V A Ja? ANGEL

EVA

Bestimmt.

D a s hat m a n mir nie so gesagt. Angel, sag mal. W a s haben sie mit dir g e m a c h t w e n n sie dich durch das Loch s c h a u e n ließen. ANGEL H a b ich dir doch schon gesagt... EVA DU hast m i r gar n i c h t s gesagt. Hilf m i r n a c h d e n v e r d a m m t e n Schuhen zu suchen... W a s genau haben sie mit dir gemacht? ANGEL Das darf m a n nicht sagen. Das ist verboten. EVA N o c h nicht mal mir? Pause D a n n sag es m i r nicht! Ich will es nicht hören... U n d du, d e n k daran, daß ich nicht n u r H u r e bin, s o n d e r n auch Tänzerin. U n d wie haben sie das mit dir g e m a c h t , w o du doch nicht mal fünf Jahre alt warst? ANGEL Ich bin auch eine Tänzerin, aber keine Hure, n u r Tänzerin. Ich hab keine Titten... D a s haben sie auch mit mir g e m a c h t , als ich älter war. EVA Also doch. ANGEL schiebt sich falsche Brüste unter das Trikot Die sind falsch, w e n n sie falsch sind, sind es keine Titten, und w e n n es keine Titten sind, kann ich keine Hure sein. Ich m a g das nicht. EVA W e n n Gott sich irgendwie an dich erinnert hat, d a n n hat er dir genau deshalb keine Titten gemacht. ANGEL W e n n Gott mir Titten m a c h e n will. W w u t s c h ! D a n n k o m m t er und m a c h t sie. EVA Soll ihm bloß nicht einfallen. ANGEL W e n n ich Titten hab, bleibe ich nicht m e h r allein... Er soll mir w e l c h e m a c h e n ! D a n n b l e i b e ich n a c h t s a u c h nicht m e h r allein... W e n n ich w e l c h e hätte, dann w ü r d e ich nicht daliegen u n d warten, d a ß der Schlüssel k l a p p e r t und sich im S c h l o ß r u m d r e h t . . . D e n n , w e n n der Schlüssel klappert, dann geht die Tür auf. Eva k o m m t rein und ich, Angel, bin nicht m e h r allein... U n d d a n n b e g i n n t mir das H e r z z u k l o p f e n b i s z u m Hals, d a ß es fast a u s d e m M u n d raus k o m m t . W e n n ich Titten hätte, d a n n w ü r d e n w i r z w e i als H u r e n losgehen. EVA Das w ä r e wirklich sehr sehr lustig... Ach, hier ist er ja... In der Not frißt der Teufel Fliegen... Sie findet einen ihrer Schuhe, zieht ihn an, hinkt durch den Raum und sucht nach den Ballettschuhen. ANGEL U n d w e n n ich mir die falschen Titten anziehe? EVA W a r u m hilfst du mir nicht.

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Roma Mahieu

ANGEL Die falschen, nein... Die werden das ganz schnell merken, wenn sie sie anfassen. D e n n w e n n ich Titten habe, dann möchten sie sie anfassen, und d a n n finden sie nichts u n d h a u e n mich u n d hauen... Die sind ja nicht blöde, und ich mag nicht, wenn sie mich hauen. Ich mag nicht, w e n n m a n mir wehtut. EVA Dann laß die Kirche im Dorf... Hier sind sie. Setz dich. Angel setzt sich auf das Bett. Eva zieht ihm die Ballettschuhe an. ANGEL Für was brauche ich die Titten jetzt? EVA Weil wir spielen. Rück sie gerade... Die Ballettschuhe passen dir gut... Ich k ä m m e dir die Perücke fahrt mit dem Kamm durch die Perükke Du siehst sehr gut aus. Pause Was ist jetzt mit dir los? Du stehst rum wie ein Trottel. ANGEL Ich weiß nicht, was ich tun soll, und w e n n ich nicht weiß, was ich tun soll, ist es besser, ich tue nichts. Denn, wenn ich rum laufe, ohne zu wissen, was zu tun ist, dann irre ich mich die ganze Zeit... Und wenn ich mich irre, dann werden sie alle zornig... Ich irre mich viel... Und du wirst zornig... EVA Willst du mich verarschen? Beweg dich mal, das hat keinen Pfiff. ANGEL Nein... Es hat keinen Pfiff. Nicht mal ein bißchen Pfiff. Du hast Pfiff. W a r u m bringst du mir nicht bei, wie m a n Pfiff kriegt? Weil ich lernen kann, w e n n ich will, ich lerne... Ich lerne alles, was du mir beibringst... W e n n du mir Pfiff beibringst, habe ich Pfiff. Ich brauche Pfiff. EVA Ah, mein Kleiner... Du hast sehr viel Pfiff. ANGEL Wenn sie mich sehen, dann lachen sie... EVA Weil du Pfiff hast, genau deshalb... ANGEL Nein! Die lachen ohne Pfiff. Aus vollem Hals und ihr M u n d ist weit auf... Ha, ha, ha. Das macht mir Angst, ganz ohne Pfiff. EVA Das sind arme Schweine... Die können nichts anderes als lachen... arme S ä u e o h n e Pfiff... Das sind sie... Zieh das aus! Zieh das alles aus! Hilf mir, Herrgottnochmal... reißt ihm die Perücke runter und versucht, ihn auszuziehen. ANGEL sträubt sich Bist du jetzt traurig? EVA Zieh das alles aus! ANGEL Du bist traurig, das ist meine Schuld... meine Schuld... EVA Nein... Überhaupt nicht... Nur, du brauchst hier nicht aufzutreten, wenn du keine Lust hast. ANGEL Ich habe Lust... EVA Von wegen... ANGEL Ich weiß. M a n c h m a l sage ich, ich will etwas nicht, aber das ist ein Irrtum, weil ich es doch will. Ich denke sehr langsam... Siehst du das nicht? Ich h a b große Lust aufzutreten... ganz große... Setz mir

Der

Feuerdrache

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die Perücke wieder auf... Ich will, es ist nur... daß ich die Musik höre, von weitem, und dann sehe ich alle diese Augen... und ich steh da oben so allein... Setz mir die Perücke auf! EVA Ich war schlecht zu dir. ANGEL D U bist nie schlecht zu mir... Die Dinge sind manchmal schlecht... Und wenn die Dinge schlecht kommen, kann man nichts machen... Es lohnt sich nicht, traurig zu sein. EVA Ich war sehr schlecht zu dir. ANGEL E S lohnt sich auch nicht, zufrieden zu sein, denn das geht vorbei, schnell wie der Wind... Aber trotzdem bin ich gern zufrieden. EVA Und jetzt, was bist du jetzt? ANGEL Was glaubst du denn...? Siehst du nicht, daß ich zufrieden bin? Eva setzt ihm die Perücke auf. Bin ich schön? EVA Wunderschön. ANGEL Stimmt' s? EVA Der Beste. ANGEL Ich bin wie ich bin, aber ich hab dich trotzdem lieb... Ich hab doch Pfiff, oder? EVA Ich frage mich, warum ich alles vermurkse. Es passiert immer wieder dasselbe, wie bei den Enten: ein Schritt, Kacke, der nächste Schritt, wieder Kacke... Wie mache ich das nur, daß wir so herunterkommen... ANGEL Guck mal, wie schön die Perücke geworden ist! Und du hast es ganz gut hingekriegt... Auch wenn es manchmal nicht so aussieht... EVA Ja... Sie ist schön geworden... Es gibt nur eins, was nicht kaputtgeht: mein Gedächtnis... Ich erinnere mich an alles... An Töne, an Farben, sogar an den Geruch. Ein Alptraum. Was würde ich geben, wenn ich ein Stück Hirn verlieren könnte... Vielleicht könnte man... Wenn alles noch mal neu anfangen würde... ANGEL Angel erinnert sich auch. Er erinnert sich, und erinnert sich... EVA Gott hat dir etwas gegeben, das er dir lieber hätte nehmen sollen... ANGEL Gott ist weit weg... EVA Sehr weit... Rühr dich nicht, ich schminke dich jetzt. ANGEL Manchmal ist die Erinnerung stark... Dann passiert alles noch mal. Das mag ich nicht. EVA Jetzt hör auf, dich zu erinnern. Die Maske steht dir super... Schau mal in den Spiegel. Die steht dir besser als mir. Weißt du was...? Das hab ich nie jemandem erzählt, die hätten bloß gelacht... Aber daß mich einer... einer von denen, die mich einladen... also... auf ein Glas, du weißt schon, und ich weiß es auch, aber ich, wie eine Idio-

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Mahieu

tin, wie eine die nichts im Kopf hat, ich mach mir einen Film. Halt still, sonst rutscht mir die Hand aus! Sie schminkt Angel. ANGEL Was für einen Film? EVA Kein wirklicher Film, ich mache ihn mir im Kopf, verstehst du? ANGEL Nein. EVA Etwas, das ich mir im Kopf ausdenke, wie einen Film, einen Superfilm, so einer mit Luxuskostümen, wie das, was ich anhabe, wie Rita Hayworth in „Gilda". Ich trage ein rotes Kleid, rot wie Blut, gesäumt mit Edelsteinen und Goldblättchen. Ich geh vorbei, und alle Männer fallen mir ohnmächtig zu Füßen... Ich geh nach vorn und bleibe vor dem besoffenen Typen stehen, und wenn er mich anschaut, ist er gar kein besoffener, stinkiger Bock... nein, überhaupt nicht... Er ist ein gepflegter Herr. Schwarzer Smoking, weißes Hemd, Fliege, das Haar gekämmt comme il faut, und ein Parfüm... ein Parfüm, das mich betrunken macht. Es ist einer von diesen Männern, die ich nie gesehen habe, noch nicht mal auf der Straße... Und dieser wunderbare Mann schaut mir tief in die Augen, und dann verliebt er sich in mich, mit Haut und Haar... Er liebt mich so sehr, daß er mich nicht mal zu Fuß gehen läßt, er hebt mich hoch, mit seinen starken Armen und trägt mich wie ein schwaches Kind. Mir ist, als wäre ich schwerelos und schwebte... ich fühle mich geborgen in seinen starken Armen... So trägt er mich, bis wir zu einem riesigen Kaufhaus aus leuchtend weißem Marmor kommen, er stellt mich auf einen Sockel, und schweigende Verkäuferinnen mit sanften Händen ziehen mir langsam das rote Kostüm aus, das vor mir auf den Boden sinkt... Dann ertönt eine nie gehörte Musik, und man zieht mir ein Kleid an, weiß wie Meeresschaum, bedeckt mit Blumen und Rosenblättern... Und er schaut mich an mit seinen verliebten Augen und sagt mit seiner sanften, starken Stimme, so wie Clark Gable zu Scarlet O'Hara: „Du bist die Frau meiner Träume. Auf dich hab ich gewartet, mein Leben lang." Ich schaue ihn an und weiß, daß es stimmt, denn das Herz schlägt mir bis zum Hals... Und dann nimmt er mich in seine starken, zärtlichen Arme und küßt mich, küßt mich auf den Mund, während er mir das Brautkleid auszieht, das langsam herabgleitet, bis ich nackt daliege, rein und weiß, für ihn. Und dann wirft sich der Mann auf mich, und ich spüre seinen faulen Atem, sein Bart zerkratzt mir das Gesicht, und er sagt mir Dinge, die ich nicht verstehen kann. Und da sind die Wände mit der zerrissenen Tapete und ich zittere wie Espenlaub und schreie: „Nicht auf den Mund, nicht auf den Mund...!" Dann sehe ich, wie die Hände des Mannes ein paar Geldscheine auf den Nachttisch legen und höre ihn etwas sagen wie: „Wirst du an mich denken?"

Der Feuerdrache

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Und ich höre, wie ich ihm antworte: „Ich werde dich nie vergessen...", als wären die Bettücher aus Seide, ich kann sie fühlen, wie sie auf meiner Haut gleiten, ich sehe die Blutflecken, die roten Blutflecken, weil ich nicht mehr Jungfrau bin... Und ich merke, daß das Kondom unbenutzt rumliegt, es kann mich jeden Tag erwischen und alles ist aus. ANGEL War da viel Blut? EVA Nein... nicht so viel, aber es ist schon so lange her... ANGEL Ich mag kein Blut. EVA Besser man sieht nicht hin... ANGEL Ich mag ihn nicht, diesen Mann. EVA Nein? Na ja, vielleicht gibt es ihn gar nicht... ANGEL Warum geht er weg? EVA Ja, natürlich geht er weg. ANGEL Und kommt nicht zurück. EVA Der nicht. Es hämmert an dieTür. STIMME Was glaubt ihr denn? Das hier ist kein Wohltätigkeitsverein! Noch eine Minute, ihr Arschlöcher! EVA Ruhe! Der soll ruhig sein! ANGEL Ja... Er ist schon weg. EVA Ich halt es nicht mehr aus... Alles geht wieder von vorne los, und wieder von vorne, und wieder und wieder, wie 'ne kaputte Schallplatte... Was wollte ich gerade machen? Angel holt die Flasche heraus, entkorkt sie und reicht sie ihr. ANGEL Du hast einen trockenen Mund... Wenn du einen trockenen Mund hast, dann weißt du nicht, was du denkst... Und du kannst viel, viel mehr als alle anderen... Du hast nur Durst... EVA trinkt einen großen Schluck Ja... Es ist der Durst... Du weißt doch, daß ich dich sehr lieb hab? ANGEL

Ja.

EVA Das ist gut! ... Hilf mir mit der Kassette. Beide suchen. Eva findet sie. Hier ist sie... Alles läuft gut. ANGEL Alles läuft gut und wenn alles gut läuft, läuft es nicht schlecht. Die Ballettschuhe sind mir zu eng. EVA DU wirst schon sehen, sie dehnen sich. ANGEL Das sagst du immer, aber die Schuhe merken das nicht und dehnen sich überhaupt nicht. Die Musik mischt sich mit Getrampel, Pfiffen und Klatschen. Ich hab Angst. EVA ES gibt keine Angst, das weißt du doch.

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Das ist gelogen. EVA Schau mich an, schau mir in die Augen. Bitte. Macht dir das Angst, wenn du mir in die Augen schaust? ANGEL Nein. EVA Dann schau mich an! Ja so. Ich schwöre dir, ich schwöre dir, bei allem was mir heilig ist, es wird das letzte Mal sein, aber du mußt jetzt raus. Glaubst du, daß ich rausgehen kann, so wie ich aussehe? Noch nicht mal den verdammten Schuh hab ich gefunden. Wenn ich so auftrete, schmeißen sie mich raus... auf die Straße. Verstehst du das? ANGEL Das verstehe ich. EVA Gib mir nur Zeit, damit ich mich noch ein bißchen zurechtmache. Siehst du? Ich hab die Kassette eingelegt, sie funktioniert. Sobald sie die verfluchte Salsa zurückfahren, bist du dran. Du brauchst keine Angst zu haben. Eva ist hier. ANGEL Ist sie immer hier? EVA Bestimmt... Wenn die Kassette anfängt, gehst du raus. Ich bin gleich fertig, und geh mit dir. Und dann spielen wir beide. Alles klar? ANGEL

ANGEL

Ja.

Die Musik im Lokal hört auf. Eva drückt eine Taste des Man hört nichts. Eva schlägt auf den Recorder.

Kassettenrecorders.

Vorhin lief er noch... Was ist jetzt los? Los, mach schon, verflucht noch mal! Der funktioniert auch nur, wann er will.

Der Kassettenrecorder läuft: man hört die „Schöne blaue Donau". ertönt wieder Salsa. Eva wendet sich zum Lokal hin.

Im Lokal

Putz die Platte, Hampelmann! Hör auf mit dem Orchester! ... Vollidiot! STIMME Stets zu Diensten, Königin! EVA Ha, Königin! Leck mich! Als Antwort wird die Musik lauter, dann verstummt sie. Gelächter Herrn Fernández. Applaus, dann die „Schöne Blaue Donau".

von

Der Hurenbock! Und du, geh jetzt.

Angel

rührt sich

nicht.

Was ist jetzt mit dir los? ANGEL Mit mir? Nichts... Was soll mit mir los sein? EVA Dann rühr' dich! Eva bringt ihn bis zur Sofitte und stößt ihn nach vorn. Angel fliegt pernd bis zur Bühnenmitte. Das Publikum lacht. Eva dreht die Musik ter.

stollau-

Der

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Ihr Vollidioten! Sie geht zurück zur Sofitte und versucht, Angels Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Angel! Angel, sieh mich an! Sie wendet sich ans Publikum. Ruhe! Ruhe! Ruhe, das hier ist kein Zirkus! Das Gelächter beruhigt sich. Eva stellt sich hinter die Sofitte und gibt Angel Zeichen für seine Tanzschritte. Okay Angel, schau her. Tanz, tanz jetzt, du Idiot. Heb die Arme hoch, ja so... Hör nur auf die Musik... auf die Musik, nur auf die Musik...! Ja so... so, mein Kleiner... Angel tanzt wie eine klassische Tänzerin und konzentriert sich immer stärker auf die Musik, während alles übrige für ihn verschwindet. Eva bemerkt, daß ihr ein Schuh fehlt, sie sucht, bis sie ihn findet und zieht ihn mühsam an. Schließlich rafft sie einige Sachen zusammen und steckt sie in den Koffer. Beim Öffnen des Koffers stößt sie auf die Flasche, trinkt und zieht sich die Kostümteile an, Schmuck und eine schäbige Federboa, die sie sich um die Schultern legt. Die „Schöne blaue Donau" geht zu Ende. Eva sucht verzweifelt nach einer anderen Kassette und schiebt sie in den Recorder. Es ertönt eine typische Striptease-Musik. Eva läuft zur Bühne, auf der Angel immer noch wie eine Tänzerin tanzt, ohne zu bemerken, daß die Kassette zu Ende ist und eine neue Musik läuft. Eva wiegt sich sinnlich und versucht verzweifelt die Aufmerksamkeit ihres Bruders zu wecken. Pfiffe und Applaus für Eva, die dem Publikum zuzwinkert, während ihre Aufmerksamkeit Angel gilt. Sie geht im Tanzschritt nach vorn, bis sie mit ihrem Bruder zusammenstößt, der versucht, weiter auf den Zehenspitzen zu tanzen. Eva umarmt ihn, um ihn anzuhalten. Er tanzt immer weiter, und zieht sie hinter sich her. Eva wendet sich ans Publikum. Der Ausreißer! Mein Gott! Was hat ihn denn so erschreckt? Ha, ha, ha...! Probieren wir's nochmal. Angel... Angelito... Ich bin ich... ich... Eva. Angel bleibt stehen. Liebst du Eva? Angel umarmt sie. Zum Publikum Er liebt mich... zu Angel Wer bin ich? ANGEL Eva... Das ist Eva... Hab ich das gut gemacht? Eva versucht sich loszumachen, Angel hält sie fest. EVA Sehr gut. ANGEL Sehr gut. EVA Jetzt laß mich los. ANGEL Nein. EVA Wenn du mich losläßt, können wir spielen... Ha, ha, ha...! Willst du mit mir spielen? ANGEL Nein. EVA Laß los... Wenn du mich nicht losläßt, gehe ich... verstehst du?

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Roma

Mahieu

ANGEL Ich bin nicht so dumm... EVA Dann laß los... zum Publikum Er liebt mich z u sehr... Er läßt sie los. A b e r geh nicht so weit w e g . ANGEL A n g e l geht nicht w e g . Sie schauen sich an. Eva tanzt provozierend und entfernt sich. EVA W a r u m faßt d u mich nicht an? ANGEL Nein. EVA LOS, pack mich! Angel packt sie. Laß los... So geht das nicht, im Tanz, du mußt m i c h im T a n z anfassen. Angel läßt sie los, versucht, ihre Bewegungen nachzuahmen. Erfolgt ihr, will sie erreichen. Sie hält ihm die Boa hin. Er nimmt sie, wickelt sich darin ein. Gerissen...! So sind sie halt, die Unschuldslämmchen, v o n denen es hier wimmelt... Ha, ha, ha....! ANGEL Gerissenes Luder! So sind sie halt, die U n s c h u l d s l ä m m c h e n , von denen es hier wimmelt.. EVA Genau... ANGEL Genau. EVA Ich hab ein Echo... ANGEL Ich hab ein Echo. EVA W a r u m gehst d u nicht z u m Teufel? ANGEL W a r u m gehst d u nicht z u m Teufel? Er ahmt sie nach und nimmt ihr eine Halskette, einen Ohrring weg, die er sich mit der gleichen Sinnlichkeit wie sie anlegt, auch sein Lächeln ins Publikum ist das gleiche. Er versucht, Eva zu sein, ihr Spiegelbild. EVA Gott sei mir gnädig... ANGEL Gott sei mir gnädig... Eva stellt sich vor Angel und gibt ihm ein Zeichen. Angel öffnet den Reißverschluß ihres Kostüms und küßt ihren Hals. Eva weicht aus. EVA Vater unser, der d u bist im Himmel... ANGEL Vater unser, der d u bist im Himmel... D u glaubst das alles. Angel reißt ihr das Kleid herunter. Die Musik hat aufgehört, sie haben es nicht bemerkt. EVA Nicht alles, bemerkt das Fehlen der Musik und spricht singend weiter, während Angel versucht, ihren Büstenhalter aufzuhaken. Sie versucht sich zu entfernen. Neinnein... So nicht, neinneinnein... ANGEL singt ebenfalls Neinnein... Neinnein... neirinein... EVA O h n e Musik. Neinnein... ANGEL O h n e Musik. Neinnein... EVA O h n e Musik w i r d nicht gespielt... Neinnein..!. Ha, ha, ha...!

Der

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ANGEL Ohne Musik wird nicht gespielt...! Ha, ha, ha...! EVA Wenn du Musik auflegst, spielen wir. La, la, la...! ANGEL Wenn du Musik auflegst, spielen wir. La, la ,1a....! EVA Wenn du Musik auflegst, spielen wir... Wenn du das nicht tust, gibt's keine Musik... Und wenn es keine Musik gibt, dann kann man überhaupt nichts machen. Angel hört auf zu singen. Langsam ist Eva zur Sofitte gegangen. Dann leg eine schöne Musik auf, für mich. Ha, ha, ha...! ANGEL Eine schöne Musik für mich. Ha, ha, ha...! EVA Und dann paß auf die Musik auf, sonst läuft sie weg... Sie stößt ihn von der Bühne. Ihm fallen verschiedene Gegenstände aus der Hand und bleiben verstreut auf dem Boden liegen. Eva gibt ihm Zeichen, sie wieder aufzusammeln. Er steht mit dem Rücken zur Sofitte und bemerkt es nicht. Er geht mechanisch auf den Kassettenrekorder zu, während Eva schnell die Gegenstände aufsammelt. Einem jungen Mädchen, das die „Schöne blaue Donau" tanzt, kann niemand trauen... Ha, ha, ha...! Eva geht in ihre Wohnhöhle, trinkt einen Schluck aus der Flasche. ANGEL Das ist ein Gerät, und wenn es ein Gerät ist, ist es ein Gerät, es ist ein Gerät und es funktioniert nicht... Und wenn es nicht funktioniert, dann funktioniert die Musik nicht... Und wenn die Musik nicht funktioniert, dann ist es aus. Nach einigen Quietschtönen erklingt ein Bolero. Eva reißt ihm die Boa weg, läuft auf die Bühne und spielt weiter. Angel schaut zur Bühne. Das Gerät funktioniert! EVA Ha, ha, ha.. Bleib bei der schönen Musik... Mal sehen, ob sie wieder aufhört... Geh weg! Eva entfernt sich, steigt auf den Laufsteg oder von der Bühne herunter und mimt mit den Lippen den Text des Liedes. Angel geht zum Kassettenrekorder, neben dem Evas Kleid liegt. Er riecht an ihm, zieht Tutu und Trikot aus und zieht sich Evas Kleid und einige andere Wäscheteile an. Eva bringt ihre Darbietung zu Ende, in die sie einige Spielchen mit dem Publikum eingeschoben hat. Sie geht auf die Bühne zurück und verneigt sich, dann läuft sie hinter die Sofitte, wo sie Angel in ihrem Kleid sieht, der den Rekorder zurückspult. Was machst du da? Pause Was hast du an? ANGEL

Ich auch.

ANGEL

Ich auch.

EVA Was „ich auch"? EVA Zieh das sofort aus. ANGEL Geht nicht. EVA Klebt es an dir?

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Roma

ANGEL

Mahieu

Ja.

EVA Von wegen ja? Du mußt dich umziehen für die nächste Nummer! ANGEL Ich muß mich umziehen für die nächste Nummer... Wenn ich mich umziehen muß für die nächste Nummer, ziehe ich mich für die nächste Nummer um. Ich bin umgezogen für die nächste Nummer. Eva versucht,

ihm das Kleid auszuziehen.

Er stößt sie weg.

EVA Aber das ist mein Kleid. ANGEL Meines! Ich! EVA DU? Wie bitte? Also, das ist ein Kleid zum Spielen, auf der Bühne, verstehst du? Damit spiele ich, ich, Eva. ANGEL Ich verstehe. Ich. Eva. EVA Du kannst nicht... ANGEL

Ich. Eva.

EVA Da ist kein Spiel... ANGEL Nein. EVA Zieh das Kostüm aus! ANGEL Nein. EVA Sofort! ANGEL Nein. Eva stürzt sich auf Angel,

um es ihm auszuziehen.

Du bist böse... sehr böse... sehr böse...! Böse! Angel

beginnt

Gegenstände

nach ihr zu werfen,

Angel

stellt den Kassettenrecorder

Er wirft sie zu während

er

Boden.

schreit.

EVA Lieber Gott, hilf mir! ANGEL Gott ist verrückt... Er hört auf niemanden... Ich helfe dir. EVA Dann hilf mir... Du bist nicht verrückt... Hör auf mit dem Werfen... Ja so.... Ruhig... ruhig... Bitte... mache es mir nicht so schwer, ich werde sonst noch krank... ANGEL Ich will nicht, daß du krank wirst. an, man hört erneut

den

Bolero.

EVA Wenn du nicht willst, daß ich krank werde, zieh sofort das Kostüm aus und stell den Recorder ab. ANGEL Nein. Angel liebt Eva viel zu sehr. Wenn Angel Eva so liebt, dann ist Angel Eva, und Eva ist Angel. Wenn Angel nicht Angel wäre, wäre Eva nicht Eva... Und Angel wäre nicht Angel und alles wäre nichts. So daß... sieh mich an, sieh mich genau an. Ich bin... ich bin... Angel läuft auf die Bühne und ahmt die Gesten wird mit Rufen, Pfiffen und Lachen empfangen. zu hören. Eva beginnt unaufhörlich den Anfang len, als wäre es ein Mantra.

seiner Schwester nach. Er Er scheint das alles nicht eines Gebets zu wiederho-

EVA Vater unser, der du bist im Himmel, vergib uns heute, vergib uns unsere Schuld... Vater unser, der du bist im Himmel, vergib uns

Der

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heute... Sie murmelt unaufhörlich, weint, lacht, schaut in den Spiegel und wirft wütend alle möglichen Kleidungsstücke in den Koffer, während sie sich für die nächste Nummer umzieht. Wenn das Lied zu Ende geht, schließt sie hastig den Koffer und schiebt ihn wieder unter das Bett. Angel ist mit dem Striptease fertig und wirft die Füllung seines Büstenhalters ins Publikum. Der Bolero ist zu Ende. Eva späht aus den Vorhängen und wiederholt unaufhörlich ihr Gebet. Angel erwacht und bemerkt, wo er ist. ANGEL Ich auch... Ich bin auch eine Hure... Ich bin eine Hure und bin keine Hure... Ich hab Titten, und ich hab keine Titten... Ich hab einen Arsch, und einen Bauchnabel hab ich auch. Eva hat ihr Kostüm für den „Tanz der sieben Schleier" zugeknöpft. Sie hört ihrem Bruder gerührt zu. Eine Salsa erklingt. Angel, der sich ungeschickt verbeugt hat, geht auf die Sofitte zu, dabei wiegt er sich im Rhythmus der Musik. Er stellt sich hinter die Sofitte. Eva, die immer noch ihr Gebet wiederholt, schaut ihn an. Ich auch... Wenn ich will, bin ich auch eine Hure. Hast du gesehen? Eine Hure ist nur eine einzige. Zwei Huren sind zwei Huren. Zwei Huren sind mehr als eine Hure. Besser mehr als weniger. EVA Geh und hol die Sachen, die du auf der Bühne verstreut hast. Wenn sie liegenbleiben, stolpere ich und werde fallen... ANGEL DU hörst mir nicht zu. E V A Ich hör dir zu. ANGEL Du hörst mir nicht zu... Wenn du mir nicht zuhörst, kannst du mich auch nicht sehen. Und du kannst mich auch nicht mit meinen Augen sehen. EVA Ich sehe dich. ANGEL Nein, weil du nichts verstehst. Wenn du müde bist, so müde, daß du umfällst, dann ziehe ich, Angel, mir die Titten an und geh als Hure raus. Wenn Angel als Hure rausgeht, schläft Eva. Und ich, Angel, werde immer zurückkommen. EVA Geh raus, verdammt noch mal, und hol die Sachen! ANGEL Denn w e n n ich rausgehe, komme ich immer wieder zurück. Denn, wenn ich nicht zurückkomme, bin ich nicht hier, und wenn ich nicht hier bin, sehe ich dich nicht, und wenn ich dich nicht sehe... Es klopft an der Tür. Angel fährt zusammen und hält sich die Ohren zu. STIMME Warum siehst du nicht mal auf die Uhr? Hältst du mich für blöde? Und halte den Mongo, deinen Bruder, ein bißchen zurück. Sperr ihn ein. Der verschreckt mir die Kundschaft. Kannst du mir sagen, was ich machen soll, ohne Kundschaft? Verflucht noch mal... Jetzt mach schon, oder ich zieh dich an den Haaren raus, du Aas! Über mich macht sich niemand lustig!

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schreit Aaaah...! EVA Ruhig, ruhig...! Hör nicht auf ihn... Ja, so... Hör auf niemanden... ANGEL Wenn ich weit weg bin und dich nicht sehe, sehe ich dich nicht. Und wenn ich dich nicht sehe, bist du nicht da. Und wenn du nicht da bist... EVA Hol die Sachen... Geh! Angel geht hinaus, ohne sich etwas anzuziehen. Zieh dir was an... Sie empfangen ihn mit Pfiffen und Applaus. Er nickt verlegen und beginnt die Sachen einzusammeln. Aber dann reagiert er auf die Musik, fängt an zu tanzen und läßt die Sachen wieder fallen. Komm zurück! Laß alles liegen. Komm zurück. Angel! Angel! Er hört nicht auf sie. Eva läuft auf die Bühne und versucht, ihn herauszuführen, aber er bemerkt kaum ihre Gegenwart. Der Zwischenfall verwandelt sich in ein Spiel, das ihn erregt, schließlich sammelt er die Sachen auf, zieht sie hinter sich her, tanzt jedoch immer weiter. Sieh mich an! Sieh her! Ich bin Eva... Eva stellt sich vor ihn. Sieh mich an! Sieh Eva an! Ha, ha... Fein... Ha, ha, ha...! ANGEL Sieh Eva an! Ha, ha... Fein... Angel sieht Eva an. Ha, ha, ha...! Er entfernt sich. EVA TU mir das nicht an... Angel... um Gottes willen. ANGEL Um Gottes willen, von wegen... Das mit den Göttern, davon verstehe ich was... Es war einmal ein Gott, ein Supergott, der konnte Tote auferwecken... Da Angel sie nicht wahrnimmt, beginnt sie um ihn herum zu tanzen; sie tanzt den Tanz der sieben Schleier und zieht jedesmal einen Schleier weg, der an ihrem Kostüm befestigt ist. Da kam der andere Gott. Der Jupiter, der war sehr schlau und sagte: „Jeden Tag Leute auferwecken, das ist für mich kein Geschäft. Was mach' ich mit den Särgen?" Da sandte Jupiter einen Haufen Blitze, die machten den anderen Gott zu Staub. Deshalb sagt man: „Der Blitz soll mich treffen." Ha, ha, ha...! EVA Ha, ha, ha...! Das ist witzig! ANGEL E S ist witzig, aber nicht spaßig. EVA Hier nimm... reicht ihm einen Schleier, er versucht, ihn zu ergreifen, sie weicht aus Ha, du kannst ja nicht! ANGEL Ich kann, folgt ihr und entreißt ihr einen der Schleier Ich kann! EVA Aiii! Angelito... ein Bonbon... ich bin ein Karamelbonbon. ANGEL sagt Gelerntes auf Das Karamelbonbon ist keines, wenn du nicht das Papier abmachst, es in den Mund steckst und lutschst... Darin weißt du, welchen Geschmack es hat. Ha, ha, ha...! Geht es so? ANGEL

Der

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EVA Sehr gut... Aber ich bin kein Karamelbonbon... Was bin ich? ANGEL Nein... Ich möchte ein Bonbon. Bonbon... Ich möchte ein Karamelbonbon! EVA Komm... ich gebe dir eines... Komm... hole es dir! geht rückwärts bis zur Sofitte, lockt ihn mit einem Schleier und hebt dabei Sachen vom Boden auf. ANGEL Bonbons! Ich möchte Bonbons! Bonbons! EVA Hier sind welche... Da, nimm sie... Nimm sie, wenn du kannst... So ein Bonbon ist süß und macht nicht sauer... Ha, ha, ha...! Komm... Ich gebe dir zwei... zwei Bonbons. Es gelingt ihr, ihn in den Bereich der Garderobe zu locken. Sie gibt ihm zwei Ohrfeigen. Zwei Ohrfeigen! Die gebe ich dir, du Knallkopf! Vollidiot! Willst du mich ruinieren? Was hab ich bloß getan, daß ich dich aushalten muß, ein Leben lang? Jetzt ist Schluß damit! Es langt... Rühre dich nicht mehr vom Fleck! ANGEL D U hast mich gehauen... Du hast mich zweimal gehauen, einmal und dann nochmal... Du bist böse, sehr böse... Zweimal ist mehr... Evas nimmt ihm den Schleier ab und versucht, ihn wieder an ihr Kostüm zu heften. EVA DU bist böse. Angel ist böse. Du hast mir die Nummer geschmissen, jetzt lachen sie alle... Zu Recht. Warum tust du das? Ich hab dir doch tausendmal gesagt, du sollst nur dann raus gehen, wenn ich es dir sage, du sollst nur das tun, was ich... ANGEL D U hast mich gehauen. EVA Was soll ich denn machen, wenn du nicht auf mich hörst? Willst du, daß ich verrückt werde? ANGEL Verrückt, nein! Verrückt, nein... Wenn du mich haust und nicht verrückt wirst, dann darfst du mich mehr als zweimal hauen... Wenn du mich haust und nicht verrückt wirst, tut es mir nicht weh... Und wenn es mir nicht weh tut, hau mich, aber werde nicht verrückt. Denn wenn du verrückt wirst, weiß ich nicht, wo du bist... Dann weiß ich es nicht... Denn manchmal bin ich mir nicht sicher, ob ich weiß, wo ich bin, aber ich weiß, daß du nicht verrückt bist und alles weißt... Eva versucht, auf die Bühne zu gehen. Angel versperrt ihr den Weg. EVA Ich muß raus! ANGEL D U weißt alles... Wo bin ich raus gekommen, ich, Angel? Wenn ich weiß, woher ich komme, kann ich vielleicht zurück und es in Ordnung bringen... EVA Und das soll ich dir jetzt sagen?

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Ja. Weil alle von irgendwo kommen müssen, um da zu sein... Manchmal kommt mir ein Gedanke... Und der Gedanke sagt mir, daß ich von nirgendwo komme. Es klopft an der Tür. Eva schiebt Angel zur Tür hin, aber er stößt sie weg. EVA ES ist meine Schuld... nur meine... Ich bin wirklich blöde. Sie geht zum Kassettenrekorder und spult ihn zurück. ANGEL Du hast keine Schuld, aber ich hab einen Gedanken... EVA Dann denke nicht mehr! Sie trinkt. Es klopft stärker. Sie geht in den hinteren Teil. Fick doch die Hühner! Hör auf mit den Dummheiten! ANGEL Ich bin dumm, aber das hier ist überhaupt keine Dummheit. Manchmal denke ich, daß ich aus einem Stein gekommen bin. EVA AUS einem Stein... Wie kommst du denn darauf? ANGEL Weil bei mir manchmal alles hart wird... Hart und leer... Und dann kommen mir Wörter, einfach so... Und mein Körper macht Dinge, die ich ihm nicht befehle... Sage mir, war ich immer der gleiche oder war ich auch anders? EVA Wie anders? Du bist ganz gut so, wie du bist. ANGEL Ich bin nicht gut so... Ich bin sehr schlecht... sehr schlecht... EVA Sag'das nicht...! ANGEL Warum? Wenn ich sage, ich bin schlecht, dann bin ich schlecht. Und wenn ich nicht sage, daß ich schlecht bin, dann bin ich auch nicht schlecht... ich bin wie ein Wurm, der sich nur unter der Erde verkriechen will, damit ihn niemand sehen kann... manchmal sind die Hühner klein wie Würmer, dann werden sie groß, kriegen Federn und fressen jeden Wurm, der ihnen über den Weg kriecht. War ich auch mal so klein? EVA Ja, bestimmt. Du warst ein süßes Baby... Mama sagte immer: „Angel war das süßeste Baby, das es je gab." ANGEL Und was geschah dann? EVA Dann bist du gewachsen. ANGEL Warum merkt man das nicht? Und wo kam das süße Baby raus, das ich war? EVA Na wo schon...? Da wo alle Babys raus kommen. ANGEL Alle Babys kommen nicht am gleichen Ort raus... Ein Baby kommt aus einem großen Haus... Ein andres kommt raus zum Spazierengehen, in einem Wägelchen... Ein anderes kommt im Fernsehen raus... EVA Na ja... Und dein Kater? Kannst du dich noch an den kleinen Kater erinnern, den du hattest...? ANGEL Den in dem Karton mit dem vielen Abfall. EVA Ja... Aber er war nicht allein, da waren noch mehr Kätzchen... Und sogar eine Katze... ANGEL

Der

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Aber ich bin nicht wie meine Mama, ich sehe ihr nur ein bißchen ähnlich wegen deiner Perücke. Sie hätte mich nicht raus lassen dürfen. Meine Mama war eine Person. EVA DU bist auch eine Person! Erinnere dich, eine Person! ANGEL Ich versuche, mich zu erinnern, aber die andern erinnern sich überhaupt nicht. EVA Ist dir das nicht egal? ANGEL E S ist mir nicht egal. Und dir ist es auch nicht egal... Es ist dir schnurzepiepeegal. Meine Mutter hätte sich überall zustopfen sollen, um mich nicht rauszulassen. Sie hätte mich nicht raus lassen sollen, hier drinnen, faßt an Evas Bauch Hier drinnen geht es einem gut... Da ist es nicht heiß und nicht kalt... du kriegst überhaupt nichts mit... Sie hätte mich nicht raus lassen sollen. EVA Jedem Baby, daß in einem Bauch ist, bleibt nichts anderes übrig, als rauszukommen. ANGEL Das ist blöde... Wie soll es denn raus kommen? Es ist doch alles zu... Wenn es raus kommt, dann holt man es raus... Wo holt man es denn raus? Da ist gibt es doch nur den Bauchnabel. EVA ES kommt am Bauchnabel raus. ANGEL Der ist aber zu. EVA Wenn ein Baby raus muß, dann öffnet sich der Bauchnabel wie eine Blume... Wie eine wunderschöne Blume, so eine gibt es nirgendwo sonst. Sie öffnet sich nur, damit das Baby raus kann. Bei mir wird sich nie was öffnen... ANGEL Dann bin ich, Angel, aus dem Bauchnabel meiner Mama rausgekommen. E V A Ja. ANGEL Dann ist Eva auch aus dem Bauchnabel meiner Mama rausgekommen. E V A Ja. ANGEL Warum bin ich dann ein Stein? EVA Warum sagst du das? ANGEL Weil es wahr ist. Ich sage immer die Wahrheit, weil ich nicht lüge, und wenn ich nicht lüge, dann ist es die Wahrheit. EVA DU bist der beste Mensch auf der Welt, niemand ist so wie du... ANGEL Das ist wahr, aber die Welt ist für mich sehr klein. Deshalb weiß ich, daß ich allein bin. EVA DU bist nicht allein. ANGEL Doch. Was ist die Welt? Ich merke, ich weiß es nicht... Aber ich weiß, daß ich allein bin. ANGEL

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EVA Und ich? Sieh mich an, ich bin hier. Ich bin bei dir. Habe ich dich schon mal allein gelassen? Die Welt ist ein verdammtes Bahngleis, und überall steht ein Puff... ANGEL Doch. Du hast mich allein gelassen. EVA Wie kannst du so was sagen? Das ist ungerecht. Du weißt, daß das ungerecht ist... Ich hab dich nie allein gelassen... Ich... Ich gehe aus... und wenn ich ausgehe, verflucht noch mal, dann deshalb, weil mir nichts andres übrig bleibt.... Glaubst du, mir gefällt das? Wenn ich ausgehe, tue ich es für uns beide... Für uns beide! Verstehst du? Immer wenn ich ausgehe, komme ich wieder. Ich komme wieder... Ich bin immer wiedergekommen... Wenn ich nicht ausgehen würde, hätten wir nichts zu essen... dann kriegtest du auch nicht die verdammten Bonbons, die du frißt.... Alles kostet Geld... Moneten! Verstehst du? Ich gehe aus und rackere mich ab, damit ich Moneten kriege und Eis kaufe und Brot und Milch und das scheußliche Kostüm, damit ich mich weiter abrackere... Ich gehe aus, aber ich laß dich nicht allein. Ich bin da... Willst du mich jetzt in Ruhe lassen? Sie schiebt ihn beiseite. ANGEL D U bist traurig. Wenn du mich mit Tränen in den Augen ansiehst, dann bist du traurig. Mache ich dich traurig? EVA Traurig? Na ja, du machst mich nicht gerade froh. ANGEL Wenn du nicht froh bist, dann bist du traurig, denn man kann nicht traurig und froh sein. Wenn man traurig ist, ist es, als wäre man woanders... Du bist oft traurig... Ich weiß, daß du auch oft deine Wäsche in den Koffer packst, aber nicht meine, die von Angel. Dann fange ich an, den Koffer anzuschauen, vielleicht verschwindet der auch. Weil ich weiß, daß du mich anschaust und mich nicht siehst. Nicht deshalb, weil du mich nicht sehen willst, sondern weil ich verschwunden bin. Ich bin nicht da... als wäre ich ein Nichts. Deshalb sage ich, als sich der Nabel meiner Mama öffnete, kam ein Stein raus, das bin ich... Ein verirrter Stein... Und deshalb bin ich allein, mir bleibt nichts andres übrig. EVA Sage nicht solche Sachen... ANGEL Ich sage nicht die Sachen. Die Sachen sind da. Sie sind da, auch wenn ich sie nicht sage. EVA Ja ... ich weiß nicht, was geschehen ist... Das erste Mal, als ich so eine Scheißarbeit annahm, sollte es nur das eine Mal sein... ich weiß nicht, wie ich es anstelle, daß ich vom Regen in die Traufe komme... Ich klebe fest, wie die Fliege auf dem Leim... Ich sage das nicht, um einen guten Eindruck zu hinterlassen... Ich spiele die feine Dame... Weißt du? ANGEL Ich weiß viele Sachen, sie gefallen mir nicht.

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EVA Ich sitze in der Tinte, für die ganze Tournee... D a r u m gehe ich aus. Es klopft an der Tür. STIMME Prinzessin, willst du mich ruinieren! EVA G e h zum Teufel! STIMME Das passiert mir, weil ich zu dämlich bin. EVA Das passiert dir, weil du alles fast umsonst haben willst, du Wichser... M a n kennt dich! STIMME D u kannst deinen Koffer packen, Prinzessin! A u c h den von deinem Bruderherz... EVA W o r a u f du dich verlassen kannst...! Dabei steht der fast noch als guter Mensch da, unter all den Drecksäuen... A b e r ich kenne mich aus mit den guten Menschen, die sind gut, weil sie keine Gelegenheit hatten, schlecht zu sein. Ich hasse sie... Ich ekle mich vor ihnen... Ich könnte sie ankotzen, von Kopf bis Fuß... Stell dir mal vor, wie ihm die klebrige Kotze übers Gesicht läuft, d e m Kerl... ANGEL Ich kann ihn anspucken... Ich s p u c k e g a n z gut, schau mal... spuckt Schau mal spuckt wieder. EVA TU das bloß nicht... So was denkt man nur. ANGEL Ich werde fest daran denken. EVA Würdest du das für mich tun? Wirklich? ANGEL Angel würde alles für Eva tun. Eva holt ein Paket mit Karamelbonbons unter der Matratze hervor und gibt sie ihm. EVA Aber du brauchst nichts zu tun, bleib hier nur still sitzen und lutsche die Karamelbonbons, die hat dir Eva aufgehoben, zur Überraschung. Magst du? ANGEL

Ich mag.

EVA Schön... Dann zieh dir was über, erst schwitzt du und dann zitterst du wie Espenlaub... streichelt ihn Du zitterst. ANGEL Das ist der Schweiß, wenn ich schwitze, zittere ich. EVA Ja... Klar... ANGEL U n d dann zittert man auch, um den Körper zu schütteln, damit er nicht auseinanderplatzt. EVA N i m m dir w a s um die Schultern und bleib schön hier. Während ich spiele, gehst du nicht raus in den Salon, die Cola kaufe ich dir... später, u n d d a n n m a c h s t du die T ü r nicht auf, n i e m a n d e m . D u darfst mit keinem Fremden sprechen. Hast du verstanden? ANGEL Die Fremden sind Fremde, w e n n du nicht mit ihnen sprichst... Aber w e n n du mit ihnen sprichst, sind sie keine F r e m d e mehr. Die Fremden sprechen nicht, sie schauen dich bloß an und machen den M u n d nicht auf, d e n n w e n n sie den M u n d a u f m a c h e n w ü r d e n , dann wären sie nicht mehr...

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EVA Sag was du willst, aber geh nicht raus. Sie betrachtet sich im Spiegel. Mein Gott, was habe ich eine Fresse. Sie legt etwas Puder auf und spult den Kassettenrekorder zurück. ANGEL Wenn du mit den Fremden sprichst, dann sprechen die Fremden auch mit dir, und du kannst ihre Stimme hören. EVA Leg 'ne andere Platte auf... Angel hört sie nicht und fährt mit seinem Selbstgespräch fort. ANGEL Die Stimme kommt tief aus dem Bauch, wenn du sie hörst, weißt du einen Haufen Dinge, obwohl die Worte sehr verschiedene Dinge sagen... Manchmal klingt die Stimme wie ein dicker Stock, der dich schlägt und schlägt, doch der Mund lächelt.... Dann wieder ist ein scharfes Messer mitten in der Stimme. Und manchmal klingt sie wie weiches Wasser. Oder wie ein Vogel, der singt... Darin kriegt deine Hand ganz große Lust, ihn zu streicheln, den Vogel... ihn... EVA TU das bloß nicht... Der letzte, der mir die Fresse poliert und den Zahn zerbrochen hat, den da, siehst du, hatte eine Stimme wie ein Heiliger... ANGEL Ist vielleicht ein Heiliger, der sich geirrt hat. EVA Ja sehr... Vor allem hab ich mich geirrt. Wenn du dein Karamelbonbon fertig gelutscht hast, tu die Tüte weg und zieh dich an. Weißt du noch, was du anziehen mußt. ANGEL

Ja.

ANGEL

Ja.

ANGEL

Ja, ich.

EVA Willst du wieder auf die Bühne. ANGEL Ja, ich will. EVA Ha ha ha...! Das sagen die im Film, wenn sie heiraten. Weißt du, wo das Seil ist? ANGEL Das Seil ist hier. Das Seil ist immer hier, und wenn es nicht hier ist, suche ich es. EVA Erinnerst du dich an alles? ANGEL Ich erinnere mich immer an alles. EVA Sicher. Aber ich weiß es nicht... Sagst du es mir? ANGEL Ja, sicher. EVA Dann sage es. ANGEL Was soll ich sagen? Wenn du willst, daß ich etwas sage, dann... EVA Du sollst sagen, daß du das Seil an die Nummer drei binden mußt. EVA Das gilt bei mir nicht. Wiederhole, was ich sage: „Du bindest es an die Nummer drei." ANGEL Du bindest es an die Nummer drei. EVA Sieh mich an! Nicht ich, Eva, du... du, Angel, bindest das Seil an die Nummer drei

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EVA Dann sage es. ANGEL Ich, Angel, binde es an die Nummer drei. Du hast eine Stimme wie ein Stock, aber ich weiß... EVA Jetzt hör endlich auf damit. ANGEL

Gut. Ich hör auf.

EVA Jetzt wiederhole: „Dann an die Nummer zwei." Sag es! ANGEL Dann an die Nummer zwei. Das sage ich. EVA Sehr gut, aber vergiß nicht, bevor du es an der Zwei anbindest, mußt du es an der Drei losbinden. ANGEL Erst binde ich es los, denn wenn es angebunden ist, ist es angebunden. Und wenn es angebunden ist, kann ich es nicht noch mal anbinden. Eva stellt den Kassettenrecorder an. Man hört eine arabische Musik für den Tanz der sieben Schleier. Die Salsamusik im Lokal hört nicht auf. Eva steckt den Kopf auf die Bühne. EVA DU vom Orchester, jetzt bin ich dran. Die Salsamusik hört auf Sie hat aufgehört, beim ersten Mal, ich kann's nicht glauben... Und du, sei schön brav. Sie geht hüftenwackelnd auf die Bühne. ANGEL Ich bin immer brav. Wenn ich brav bin, bin ich nicht ungezogen. Wenn ich ungezogen bin, kann ich nicht brav sein. Wenn ich ruhig bin, so ruhig wie ein Tisch oder wie die Steine, die in dem blöden Zement eingemauert sind, dann werde ich brav sein. Aber wenn ich sehr brav bin, kann ich mich nicht bewegen, dann kann ich mir nicht das Kostüm anziehen, das Seil holen, dann kann ich auch keine Karamelbonbons essen... wickelt ein neues Karamelbonbon aus Aber wenn ich die Hände langsam bewege, dann merkt man es fast nicht. Wie man auch kaum meinen Körper merkt, wenn er sich in meinem eigenen Schatten versteckt. Er steckt sich das Karamelbonbon in den Mund und kaut es. Er tut es sehr langsam. Eva tanzt unter den Zuschauern, mimt stumm den arabischen Gesang und provoziert mit ihren Schleiern, die sie nacheinander abnimmt. Angel beginnt sich im Rhythmus der Musik zu wiegen. Er ist aufgestanden und wiegt sich heftig. Plötzlich hält er inne. Wenn ich mich bewege, bin ich nicht ruhig. Er zieht den Stecker des Kassettenrecorders heraus, lauscht in die Stille Jetzt läßt er mich ruhig. Er setzt sich wieder hin, konzentriert sich aufsein Karamelbonbon und kaut. Eva bemerkt, daß sie ein Lied mimt, daß man gar nicht hört. Die Zuschauer lachen. EVA Was wollt ihr denn mehr für die paar elenden Kröten. Die Titten laß ich mir betatschen von euren Dreckspfoten und dann soll ich mir auch noch die Lunge aus dem Hals schreien, ihr Saftheinis? Ersauft in eurem Whisky, der nach Pisse schmeckt...! läuft hastig hinter die

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Sofitte Was jetzt? Wegen dir kriege ich noch einen Infarkt! Stell' dich nicht so blöde an. Angel bleibt gleichgültig. Eva, sieht daß der Stecker des Kassettenrecorders herausgezogen ist. Wenn du das noch mal machst, vergesse ich mich... Das darf sich nicht wiederholen... Das darf nicht sein. Worauf wartest du? Zieh dich um! ANGEL Angel ist brav. EVA Von wegen...! Fummel bloß nicht noch mal an dem Recorder. ANGEL Der Recorder ist böse. EVA Dann faß ihn nicht an, sonst beißt er! bringt den Recorder wieder zum Laufen Wenn du den Recorder anfaßt, schau mir nicht mehr ins Gesicht. Sie geht auf die Bühnen, man hört Lacher Wem es nicht gefällt, da ist die Tür! Sie beginnt wieder zu spielen, sie mimt das Liedchen. Angel richtet sich auf und versucht die zuckenden Bewegungen zu unterdrücken, die die Musik bei ihm auslöst. Schließlich entscheidet er sich, zu singen. Während er sein Clownskostüm anlegt, geht der Gesang in eine Art Klage über. Eva, ist gerührt und versucht sich an ihre Nummer zu klammern... Wenn sie vorbei ist, geht Eva zurück zur Garderobe. Angel ist umgezogen. Du bist sehr schön. ANGEL betrachtet sich im Spiegel Wirklich? EVA Ja, sehr. ANGEL D U kannst jetzt die Musik anmachen. Ich bin fertig. EVA Ich mache sie jetzt an. Du bist sehr ernst. ANGEL Hab' ich nicht gemerkt. EVA ES geht los... Man hört eine Zirkusmusik wie die von Nino Rotta. Angel geht auf die Bühne, er bewegt sich, als wäre er Eva. Sie bemerkt, daß das Seil und der Regenschirm noch auf dem Bett liegen und trägt sie bis zur Soffitte. Angel... Angel.. Sieh mich an! ANGEL sieht sie an Wenn du sagst, ich soll dich ansehen, dann seh' ich dich an. EVA Gut so. Jetzt komm und nimm den Schirm und das Seil. ANGEL Das Seil... Ohne das Seil geht es nicht... Das Seil liegt dort, es ist aufgerollt und weit weg von den Augen und wenn es weit weg ist von den Augen... EVA Hör auf jetzt, komm, nimm die Sachen! ANGEL Ich komme schon... geht zur Sofitte. Eva weicht zurück, er geht hinter ihr in die Garderobe. EVA Hier draußen machst du nicht den Clown. Es langt!

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ANGEL Wenn du nicht willst, daß ich den Clown mache, dann mach' ich nicht den Clown. Eva drückt ihm das Seil und den Regenschirm in die Hände. EVA Jetzt geh raus! ANGEL Ja, ich gehe raus, ich gehe raus... Aber ich weiß nicht, ob ich rausgehen will... EVA Womit kommst du mir jetzt, verdammtnochmal? Du mußt raus... ANGEL Ja. Aber ich will nicht raus. Wenn ich raus gehe, dann fängt mich das Licht... Und wenn das Licht mich fängt, dann kann man nichts machen... Das Licht macht, was es will. Erst geht es an meine Brust, dann steigt es hoch bis zum Hals, und zum Schluß macht es mir den Kopf voll mit einer Farbe, die ich nicht kenne... Und dann ärgerst du dich und schreist... EVA Ich schreie nicht... ANGEL DU schreist leise... und alle schreien... Und zum Schluß mag ich das nicht. Ich mag das überhaupt nicht... Deshalb will ich nicht raus. Ich will nicht. Während er dies sagt, geht er auf die Bühne. EVA Mit Anmut... Und lächeln... Angel lächelt. Man hört Lachen und Pfiffe. Er schaut ins Publikum. Ruhe, ihr Schweine, Ruhe! Das Lachen hört auf. ANGEL Ich werde jetzt die Nummer machen, dann werde ich mich verbeugen und freundlich sein, verbeugt sich Ist es gut so? sieht zu Eva hinüber, sie nickt. Ja, ich mache es gut. Eva ist zufrieden. Jetzt werde ich das Seil anbinden, denn wenn ich es nicht anbinde, fällt es auf den Boden. Er bindet das Seil an zwei Pfosten fest, die sich auf beiden Seiten der Bühne befinden. Auf den Pfosten sind Markierungen, die höchste hat die Nummer drei, die nächst tiefere die Nummer zwei, ganz unten am Boden befindet sich die Nummer eins. Er beginnt das Seil an der Nummer drei festzubinden. Zuerst kommt die N u m m e r drei. Er sieht zu Eva hinüber, um Bestätigung zu suchen. Eva gibt ihm zu verstehen, daß er beim Festbinden tanzen soll. Er beginnt zu tanzen. W e n n ich tanze, macht es mehr Spaß. Das ist die N u m m e r drei. Ich bin nicht so d u m m , denn wenn das die Nummer drei ist, dann ist es nicht die N u m m e r zwei. Denn wenn es die N u m m e r zwei wäre, wäre es nicht die Nummer drei... Er hat das Seil festgebunden und sieht zu Eva hinüber. So, fertig. EVA holt die Flasche und trinkt einen großen Schluck Ein Tag ist ein Tag... ANGEL Jetzt die Leiter. Ich hole die Leiter und stelle sie hier hin. stellt eine Leiter neben dem Pfosten auf und tanzt dabei So... so ist es gut. Jetzt suche ich den Schirm, denn ohne Schirm geht es nicht. Jetzt muß ich

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ihn aufmachen, denn w e n n er zu ist, sieht das nicht schön aus und wenn er auf ist, auch nicht, weil es nicht regnet. Eva beginnt sich auszuziehen; sie hört nicht auf zu trinken und sich im Spiegel zu betrachten, als wolle sie ihre Existenz feststellen. M a n c h m a l will er nicht aufgehen, aber er ist jetzt auf. Jetzt m u ß ich zu der Leiter gehen. Hier ist die Leiter. Jetzt m u ß ich hochsteigen, mit g e h o b e n e r H a n d , so, u n d mit d e m Schirm, so. D e n n m e i n e Schwester sagt, w e n n der Schirm oben ist, dann läßt er es nicht zu, daß du auf den Arsch fällst. Jetzt steige ich die Leiter hoch, so. Jetzt bin ich oben und kann sehr weit sehen... Aber nicht ganz so weit, weil da die M a u e r ist. Aber wenn die M a u e r nicht wäre, dann wäre es sehr weit... Aber nein... Jetzt m u ß ich ganz stillhalten, nach vorn schauen und über das Seil gehen. Aber um über das Seil zu gehen, m u ß ich zuerst den einen Fuß hinstellen und dann den andern, und dann gehe ich los. Aber wenn ich beide Füße auf so ein d ü n n e s Seil stelle, dann falle ich auf den Boden. Das kann jeder sehen... W e n n ich auf den Boden falle, geht mir das Gesicht kaputt. W e n n ich ein kaputtes Gesicht habe, dann mag ich es nicht. Ich mag es nicht, weil es w e h tut u n d ich kein anderes Gesicht habe. A u c h w e n n ich m a n c h m a l mein Gesicht nicht mag... Ich m a g es ü b e r h a u p t nicht... Aber m a n c h m a l mag ich es. Vielleicht hab ich mich dran gewöhnt. Man g e w ö h n t sich an vieles, auch an das Gesicht... Ich m u ß dabei tanzen, das vergess' ich immer... W e n n ich mit dem Schirm runterfalle, dann fliege ich... steigt von der Leiter und beginnt das Seil an der Nummer zwei festzubinden W e n n ich das Seil an der N u m m e r zwei festbinde, ist es besser. Es ist besser, weil es tiefer ist... Ich bin ganz schön schlau, wenn ich will. Jetzt n e h m e ich wieder den Schirm und steige auf die Leiter, so, elegant und lächelnd, denn ich bin ich und a u ß e r d e m ein Künstler. Jetzt hab ich A n g s t und bin ein Balancekünstler. Er hat das Seil festgebunden und steigt auf die Leiter. Nicht jeder ist ein Balancekünstler, denn der Balancekünstler m u ß viel Balance haben, u n d das ist schwer für jeden, auch wenn er kein Balancekünstler ist. M a n m u ß wissen, wie man nicht hinfällt, nicht auf die eine Seite u n d nicht auf die andere. W e n n einer nur auf die eine Seite fallen könnte, wäre es einfacher. Er steht oben auf der Leiter und sieht zur Sofitte hinüber, aber er erblickt Eva nicht, die aufgehört hat, sich im Spiegel zu betrachten, zum Koffer geht, ihn öffnet und zu weinen anfangt. A b e r so ist es nicht. K a u m trittst du auf das Seil, fällst du schon runter. U n d so w e r d e ich nicht aufs Seil gehen, weil ich mich nicht getraue... Aber ich kann mich nicht nicht trauen... Denn w e n n ich mich nicht traue, sagt meine Schwester, daß sie verrückt wird. U n d Herr Fernández, der nicht böse ist, dem aber alle W ä n d e hier

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gehören, sagt zu ihr: „Warum sperrst du den Mongo nicht ein und hörst auf, den andern auf den Wecker zu fallen." Der Mongo bin ich. Ich mag nicht, wenn man mich einsperrt, und ich weiß, daß meine Schwester sich von den anderen schurigeln läßt, weil sie gut ist. Das ist für niemanden ein gutes Geschäft, denn sie schmeißen dich schließlich auf die verfickte Straße, die voll ist von Halbverrückten, die sie irgendwo rausgeschmissen haben. Also, ich traue mich nicht. Er steigt von der Leiter, macht das Seil los und bindet es an Nummer eins fest, ganz unten am Boden, dabei spricht er weiter und versucht im Rhythmus der Musik zu tanzen. Obwohl, wenn man auf die Straße guckt, dann ist die gar nicht verfickt. Da stehen nur viele Häuser. Das Problem mit den Häusern ist, daß die Türen zu sind, und wenn die Türen zu sind, kann man nicht rein, und wenn du nicht rein kannst, bleibst du auf der verfickten Straße... Denn wenn eine Tür gerade mal offensteht und du kommst näher, wummsss... schlagen sie dir die Tür vor der Nase zu. Es ist ein Problem, wenn man nicht sehr schnell ist. Du kommst als erster rein und schlägst die Tür vor jedem Kerl zu, der in dein Haus will. Aber es ist sehr schwer. Deshalb traue ich mich nicht und binde das Seil an Nummer eins fest. Ich weiß einen Haufen Nummern, die ziemlich durcheinander gehen, aber ich weiß auch, daß die Eins die kleinste ist. Deshalb hab ich vielleicht Glück und traue mich. Er hat des Seil angebunden. Eva hat sich ein Paillettenkleid angezogen, mit Ausschnitten, die viel von ihrem Körper sehen lassen. Sie probt vor ihrem Spiegel und bessert ihre Maske aus, die durch die Tränen zerlaufen ist. Angel der auf die erste Leitersprosse gestiegen ist, traut sich nicht auf das Seil. Ich glaube heute ist ein schlechter Tag für mich. W e n n der Tag schlecht ist, dann ist er nicht gut. Es ist wahr, es gibt viele schlechte Tage, auch wenn es welche gibt, die weniger schlecht sind. Wenn es keine schlechten Tage gäbe, gäbe es keine weniger schlechten Tage, und manchmal passiert was Gutes. Darum, weil heute ein ziemlich schlechter Tag ist, ein wirklich ziemlich schlechter... das weiß ich... deshalb ist es besser, daß mein Körper ruhig bleibt und ich etwas mache, während die Musik weiter spielt, da drinnen. Deshalb, weil ich meinen Mund bewegen kann, und wenn ich nur den Mund bewege, falle ich nicht runter. Ich werde eine Geschichte erzählen, so sind alle zufrieden und niemand wird wütend. Ich werde die Geschichte vom Rotkäppchen erzählen, die kenne ich gut. Denn mit Geschichten komme ich zurecht, aber nicht mit dem Seil, mit dem k o m m e ich gar nicht zurecht. Es war einmal ein Mädchen, die nannten sie Rotkäppchen. Alle nannten sie so, weil es ein Mädchen

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war, das war so rot wie Feuer. Kaum tauchte das Rotkäppchen auf, da wußten schon alle, daß sie kommt, weil das rote Feuer überall Flammen warf. Und deshalb schrie der Wolf, als er sie sah: „Sie schürt ihr Feuer! Das Mädchen wird noch alles anzünden. Es wird mir den Wald verbrennen, und wenn es den Wald verbrennt, dann kann ich keine Lämmchen mehr fressen." Weil der Wolf, der gar nicht dumm ist, gebratenes Lämmchen mag, das schmeckt gut. Da sagte er zu dem Rotkäppchen: „Kind, Kind, lauf schnell zu deiner Großmutter, die ist taub und braucht Hilfe." Rotkäppchen hatte einen Haufen Feuer, aber sie war saublöde. Sie glaubte, was der Wolf sagte. Jeder kennt ja die Lügen, die der Wolf dem Rotkäppchen sagt... Und da ist das blöde Rotkäppchen schnell wie eine Flamme zum Haus der Großmutter gelaufen, die überhaupt nicht taub war. Und klar, als sie in das Häuschen kam, da erschien der Wolf, machte den Wasserhahn auf, löschte die Flammen und da war das arme Rotkäppchen ganz ohne Feuer, im Nichts. Ganz weiß und verkohlt... Noch nicht mal das Käppchen blieb ihr zum Andenken... Und keiner guckte sie mehr an, weil es nichts zum Angucken gab... Und alle vergaßen sie... Sie vergaßen sie so sehr, daß das Rotkäppchen sogar vergaß, was sie war. Diese Geschichte mag ich nicht! Deshalb binde ich jetzt das Seil von der Nummer eins los, von der hier... Jetzt tanze ich ein bißchen, ich hab die Lust verloren, mit dieser ganzen Geschichte... Jetzt bin ich fertig mit dem Losbinden, so, und lege das Seil auf den Boden, was Tieferes gibt es nicht. Er legt das Seil auf den Boden zwischen beide Pfosten. Wenn ich falle, dann falle ich nicht sehr tief. Und weil ich es schon kann, traue ich mich. Ich hab keine Angst, aber ich mag mich nicht trauen... auch wenn ich manchmal falle, ohne mich zu trauen. Jetzt hebe ich den Schirm über den Kopf und gleite wie eine Wolke in dieser Lücke zwischen der Erde und dem Himmel... Ein Fuß... dann der andere Fuß... und wieder derselbe... Ich traue mich! Ich traue mich. Eva! Eva! Er ist über das Seil gegangen. Man hört Pfiffe, Klatschen und Lachen. Er beachtet es nicht. Er läuft über die Bühne und geht hinter die Sofitte. Ich hab mich getraut! Eva, ich hab mich getraut! Ich hab mich getraut, und du hast es nicht gemerkt... Eva trinkt. Soviel tut deinem Kopf nicht gut. EVA Es tut ihm gut... Du hast dich getraut. Schön, wunderbar! ANGEL Ist doch gut, nicht? Aber das sagst du nur so... EVA Hör auf mit der Leier. ANGEL

Ich h ö r auf.

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EVA Jetzt zieh das alles aus, wische das Gesicht mit dem Handtuch ab, zieh dir was anderes an und lege dich ins Bett, wie ein Prinz. ANGEL Gehst du weg? EVA Das fragst du mich jede Nacht, es ist nicht zum Aushalten. ANGEL Ich, Angel, kann es auch nicht aushalten. EVA Schau mich nicht so an, das hab ich mir nicht ausgedacht. Bevor ich gehe, bringe ich das Eis und die Pommes. Willst du noch was anderes? ANGEL Ich kriege nichts runter. EVA Das sagst du jetzt... Das hast du gut gemacht, wirklich sehr gut... ANGEL Du warst nicht dabei... EVA Na ja... das weißt du nicht... Jetzt zieh das aus und was andres an, du nimmst die Pillen und gehst ins Bett, wie ein braves Kind. Hörst du? ANGEL Ich hör immer auf dich. EVA Ja... natürlich. Jetzt sag mir: wie sehe ich aus? Bin ich hübsch? ANGEL Sehr hübsch... EVA öffnet und schließt einen Reißverschluß Was meinst du? Wenn man an komischen Orten ist, hat man komische Liebschaften... Das letzte Mal hab ich mit einem Zwerg geschlafen... Aber wenn ich ihn von unten angeschaut hab, sah er aus wie ein Riese... Er war sehr höflich... ja... Ich hatte ihn fast vergessen, den Sinn dieses Wortes... Ich hatte das Wort vergessen... versucht ihre Trunkenheit zu verbergen. ANGEL Bringe ich dir viel Unglück? EVA Ich kann nicht sagen, daß du mich glücklich machst... Du machst meinem Leben noch ein Ende... ANGEL Das Leben endet nie! EVA Gott bewahre... Wenn es ihn irgendwo gibt... Angel versucht sie zu umarmen, sie entzieht sich ihm. Faß mich nicht an! Angel trennt sich von ihr mit offenen Armen, als würde er sich ergeben. ANGEL Ich faß dich nicht an! EVA Achte nicht auf das, was ich sage, in meinem Zustand... Du weißt ja... Außerdem brennt mir die Haut... Ich weiß nicht warum, ich muß die Kassette wechseln... Hier in dem Glas ist bestimmt noch ein bißchen Kompott... Mit Kompott rutschen die Pillen besser... nimm sie bloß. Sie wechselt die Kassette aus. Eine unendliche Geschichte... Wenn du Hunger hast, warte ein bißchen... ich bringe dir... ANGEL Ich weiß nicht warum, aber ich hab keinen Hunger... Ich hab immer Hunger... Aber ich weiß nicht...

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EVA Dann schluck die Pillen und ab ins Bett! Sie geht auf die Bühne, mimt das Lied, öffnet und schließt Reißverschlüsse oder läßt es vom Publikum besorgen. Angel schaut auf die leeren Kleiderbügel. Er sieht in den Koffer, bringt ihn wieder an seinen Platz und zieht langsam seinen Clownsanzug aus. Er nimmt die Pillen, ißt einen Löffel Kompott und steckt die Pillen unter die Matratze. Er räumt einige Sachen vom Bett, legt sich hin und deckt sich mit einer Decke zu. Evas Auftritt ist zu Ende. Sie kommt herein. Man hört Applaus und Pfiffe. Eva geht zu Angel und deckt ihn zu. Sie klatschen... Hörst du? ANGEL

Ja.

EVA Ist dir kalt? ANGEL Nein... mir ist nicht heiß und nicht kalt... Manchmal ist mir kalt und manchmal heiß... Aber wenn mir kalt ist, ist mir nicht heiß, und wenn mir heiß ist, ist mir nicht kalt... Aber manchmal ist mir nicht kalt und nicht heiß. Eva trinkt. Sie legt ihr Kostüm ab und zieht sich Straßenkleider an. Dann trinkt sie wieder. EVA Du hast vielleicht Glück! Ich muß erstmal heiß werden... noch einen Schluck, damit ich heiß werde... Hast du das Kompott geschluckt, mit den Pillen. ANGEL

Ja.

EVA Bist du müde? ANGEL Nein. EVA Nein? ... Gut... Soll ich dir was erzählen? ANGEL Wenn Eva will, daß Angel müde ist. Angel ist müde. EVA Ich hab es nicht eilig... nicht so eilig... Hör zu... ANGEL Ich höre zu... ich höre dir immer zu... EVA Manchmal ist man nicht so, wie es scheint... Ich will sagen... Was wollte ich sagen? Ach ja... ich will sagen, während ich weg bin... ja... Du weißt ja, manchmal geht man weg und es dauert lange, länger als man dachte... Ja... Genau... Man kann nie wissen. Deshalb, wenn du irgendwann aufwachst und ich bin nicht da, dann brauchst du nicht zu erschrecken. Verstehst du? ANGEL Ja... Ich brauche nicht zu erschrecken. Wenn ich nicht zu erschrecken brauche, erschrecke ich nicht... Aber du brauchst dich auch nicht zu erschrecken... Wo wirst du denn sein, wenn es länger dauert als die Nacht? EVA Das hab ich nur so gesagt... Um irgendwas zu sagen... Aber ich weiß nicht... Wenn es passiert... vielleicht... dann stehst du auf, wäschst dir das Gesicht und gehst zu Herrn Fernández. ANGEL Zu Herrn Fernández, nein!

Der

Feuerdrache

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EVA ZU Herrn Fernández. Nichts anderes... Bleib bloß nicht im Bett! Du stehst auf und... ANGEL Herr Fernández ist böse. EVA Ja, ja, das weiß ich, du Idiot. Das brauchst du mir nicht zu erzählen... Aber er ist hier. Also, du Angelito, du bist ein braves Kind, hör auf deine Schwester, geh zu ihm hin und sage es ihm. Mach es mir nicht noch schwerer. Mir dreht sich alles im Kopf, ich falle noch hin... Schau mich an... schau mich an, bitte.. ANGEL Ich schau dich an. EVA Ja? ANGEL Was soll ich ihm sagen? EVA Wem? ANGEL Herrn Fernández. EVA Ach ja... sage ihm das... ANGEL Was sage ich ihm? EVA Warum fragst du mich das? ANGEL Wen soll ich denn fragen? EVA Ihn... sag es ihm... ANGEL Was sage ich ihm? EVA Er weiß schon. ANGEL Was weiß er? EVA Er wird dich begleiten. ANGEL Wohin wird er mich begleiten? EVA Wohin? Was weiß ich... Ich sage das nur, damit du nicht allein bist... ANGEL Ich mag nicht, daß er mich irgendwohin begleitet, ich mag es nicht... EVA Dann mußt du durchhalten... Man muß sehr viel durchhalten, verstehst du? ANGEL Ich bin nicht so dumm, aber mit Herrn Fernández bin ich noch alleiner als allein. EVA Ja, ja, ich weiß! Du bringst mich aus dem Häuschen, und ich drükke mich undeutlich aus ANGEL Ich verstehe dich, auch wenn du dich undeutlich ausdrückst... EVA Ja, ja, ich weiß... Deshalb weiß ich, daß du mich verstehen wirst... Du wirst verstehen, daß man einmal... daß man oft Dinge tun muß, die Scheiße sind, aber es bleibt nichts anderes übrig, als sie zu tun... Es bleibt nichts anderes übrig... Daran mußt du dich erinnern. ANGEL Ich kann mich an viele Dinge erinnern. EVA Ja, ja, ich weiß... Deshalb weiß ich, du wirst dich immer daran erinnern, daß ich dich sehr lieb hab. ANGEL Ja, ja, ich weiß.

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Roma Mahieu

EVA Also, wenn irgendwann mal... irgendwann mal, verstehst du, wenn irgendwann mal Dinge geschehen, die dir nicht so gefallen, dann schließe die Augen und denke... denke ganz fest, Eva hat mich sehr lieb, Eva hat mich sehr lieb... Verstehst du? ANGEL Ich verstehe. EVA Du mußt auch denken, daß die Dinge, die dir nicht gefallen, auch mir nicht gefallen... überhaupt nicht... Aber manchmal... manchmal bleibt nichts andres übrig... Denn manchmal hab ich das Gefühl, daß ich mir eine Krankheit hole, dann wird alles schlimmer.. ANGEL

Ja...

ANGEL

Ja

EVA Warte... Ich muß tief durchatmen... Ja, so... A a a h . J Sonst ersticke ich... Siehst du? EVA Versuche zu schlafen... Bitte... ANGEL Ja... Ich versuche es, wenn ich es gut versuche, schlafe ich ein. EVA Schließ die Augen. ANGEL Ich mache sie zu... Wenn ich die Augen zu habe, schlafe ich ein. Wenn ich einschlafe, sehe ich nichts. EVA Sprich jetzt nicht. Wenn du sprichst, schläfst du nicht ein. Komm, ich singe dir was... Sie beginnt ein Wiegenlied zu summen, setzt sich neben ihn, und wiegt ihn sacht. Angel hat die Augen geschlossen. Sie hört auf zu singen. Angel bleibt ruhig liegen. Sie steht auf, deckt ihn zu und beginnt den Koffer unter dem Bett hervorzuziehen. Plötzlich hält sie inne und setzt sich auf den Bettrand. Sie zieht wieder am Koffer, aber sie ist außerstande, diese Handlung zu Ende zu bringen. Sie setzt sich wieder auf den Bettrand und weint. ANGEL öffnet die Augen Du sollst nicht weinen. EVA Ich weine nicht, die verfluchte Schminke läuft mir in die Augen. Und der Fusel, das Rattengift mit Farbstoff, wo ist er? Sie sucht nach der Flasche. ANGEL D U sollst nicht weinen... Wenn du viel weinst, fallen dir die Augen raus. EVA Das ist nicht so leicht... Ich laß dich nicht schlafen, ich weiß wirklich nicht mehr, was ich tue. Sei jetzt still und mach die Augen zu. ANGEL Ich kann nicht still sein.. Wenn ich nicht still sein kann, dann weil ich sprechen muß und wenn ich spreche, kann ich dir eine wunderschöne Geschichte erzählen, die ich noch nie jemandem erzählt hab... auch dir nicht... Und wenn ich sie nie jemandem erzählt hab, dann hat sie nie jemand gehört... Wenn du willst, erzähle ich sie dir... EVA Ja. Gut. Erzähl mir die Geschichte, wenn du willst.

Der

Feuerdrache

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ANGEL rückt weg, um ihr Platz zu machen D a n n leg dich hin... Geschichten m u ß m a n hören, w e n n m a n liegt, eine Geschichte im Stehen oder Sitzen ist nicht dasselbe wie eine Geschichte... EVA Schon gut... legt sich auf das Bett Mein Gott, bin ich müde...! ANGEL Geschichten sind für jemanden, der m ü d e ist und sich hinlegt... EVA W i e gut... wie gut ich mich fühle... ah, eine Wohltat... als w ü r d e sich mein Körper auflösen... wie gut... Das kannst du dir gar nicht vorstellen. ANGEL Ich kann... Ich kann mir viel vorstellen. Jetzt m a c h die A u g e n auf... nur einen Moment. Mach die Augen auf und sieh mich an. EVA ES fällt mir so schwer... ANGEL Nur einen ganz kurzen Moment... EVA öffnet die Augen und sieht ihn an So? ANGEL Plötzlich hab ich gemerkt, daß ich mich nicht erinnere, wie deine Augen sind... EVA DU bist mir einer... Wie sind sie denn? ANGEL Wie ein Schacht... wie ein tiefes Loch... EVA Ach so? Immer... na ja, m a n c h m a l hat m a n mir gesagt, ich hätte sehr schöne Augen... Ja... ich hatte immer schöne Augen... ANGEL DU hast immer noch schöne Augen... EVA Wirklich? ANGEL Ich lüge nie... Jetzt gibt mir die H a n d . Ich erzähle dir die Geschichte. EVA Aber nur fünf Minuten. ANGEL Nur fünf Minuten. M a n c h m a l sind fünf M i n u t e n ein Haufen Zeit. Der Zeiger an der Uhr bleibt stehen, u n d die Zeit b e w e g t sich nicht... EVA Sie b e w e g t sich... leider... Und jetzt erzähle mir die wunderschöne Geschichte... die wird mir sehr gut tun... Angel umarmt seine Schwester und wiegt sie, als wäre sie ein Baby. ANGEL Ja, ich weiß... Jetzt erzähle ich dir die Geschichte: Es war einmal ein Drache, ein w u n d e r b a r e r Drache... naja, ziemlich w u n d e r b a r , weil er ein Problem hatte. Er w a r ein guter Drache, ziemlich gut, aber n i e m a n d glaubte es ihm, weil er Feuer u n d Geifer spuckte... Der arme Drache machte sein Maul fest zu, mit der g a n z e n Kraft, die ein Drache hat... Mit dieser Kraft machte er sein Maul zu, damit das Feuer nicht rauskonnte... Aber jedesmal Pffff! k a m eine Riesenflamme raus, die alle verbrannte, die in der N ä h e u n d die in der Ferne. Klar... er verbrannte mehr die in der Nähe. Weil das Feuer eben so ist. Je näher du dran bist, um so m e h r verbrennt es dich. U n d deshalb stellten sich die Leute, die Vögel... nein, die Vögel nicht, die sind ziemlich blöde u n d flattern n u r oben zwischen den

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Roma Mahieu

Zweigen rum und merken nichts... Und die Hunde auch nicht, vielleicht weil sie wie die Drachen sind. Deshalb bindet man sie an Ketten... also alle, außer den Hunden und den Vögeln, stellten sich ganz weit weg von dem Drachen, der immer mehr Feuer spuckte, soviel Wasser sie auch auf ihn schütteten, soviel Feuerwehrleute auch kamen, das Feuer kam raus und raus... Das war deswegen, weil der Drache voll mit Feuer war... Und alle waren weit weg, ganz weit weg, so weit wie Pünktchen, nur die Schwester, immer feste, die schüttete und schüttete, umsonst. Der Drache, der die Augen immer ganz weit auf hatte, sah wie die Schwester überall verbrutzelte... Und die Traurigkeit zu sehen, wie seine Schwester verbrannte, die brachte ihn auf eine Idee, denn außer Feuer hatte er auch Ideen. Da kam die Idee: Er setzte sich ganz gerade hin, und schaute ganz fest nach vorn, denn wenn du ganz fest nach vorn schaust, dann siehst du fast gar nichts. Und dann. Hammm, h a m m m . J begann er das ganze Feuer, das aus ihm raus kam, zu schlucken... Er schluckte und schluckte... Er schluckte soviel Feuer, daß es ihm den Magen verbrannte, den Darm, das Blut, das Herz... das ganze Fleisch... Und da vertrocknete der Drache... Er vertrocknete... Und während er vertrocknete, wurde er immer kleiner und kleiner... kleiner als eine Fliege... So klein, daß er nicht mehr sehen konnte mit seinen Augen und nichts mehr hören mit seinen Ohren, er konnte nicht mehr sprechen, weil die Wörter nicht mehr rein paßten in so einen kleinen Mund... Und dann... und dann wurde er wie Luft und verschwand in einem schwarzen Licht... Aaaaah! Bei seinen letzten Worten kuschelt sich Angel neben seiner Schwester zusammen zu einer fötalen Position. Er bleibt vollkommen still und reglos liegen. Die Musik im Lokal wird lauter. Eva, die eingeschlafen ist, zuckt zusammen, als Fernández an die Tür hämmert. Sie windet sich aus Angels Umarmung, ohne zu bemerken, daß er sich nicht mehr bewegt. Sie begreift nicht gleich, wo sie ist, wundert sich darüber, daß sie angezogen ist, usw. STIMME Jetzt ist Schluß, du Dreckshure! Glaubst du, ich bin dein Schuhputzer?! EVA Halts Maul, du Schwuchtel, ich komme schon! Wie soviel Zeit vergehen konnte? Die zweite Vorstellung... Also die betatschen mich nicht noch mal, ich hau ab... Ich hau ab, so wahr ich Eva heiße. STIMME Drecksau! EVA Was hab ich bloß gemacht? Mein Gott... Ich hab nichts mehr im Kopf... Verfluchte Scheiße! zu Angel Hör nicht, was ich sage in diesem Zustand... Ich weiß ja nicht, was ich sage... Wirst schon sehen... Karamelbonbons... wirst schon sehen.. Ruhig... schlaf schön... ja so... laß' bloß die Augen zu... ruhig, ruhig... Nur ein bißchen weiter weg,

Der

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aber ich verlasse dich nicht... Dieses Arschloch schmeißt mich nicht mehr raus... Wirst schon sehen... Geschenke... Sie zieht an ihrem Koffer, öffnet ihn, holt ein paar Sachen heraus, die sie in alle möglichen Richtungen wirft, um ihn wieder schließen zu können. Sie sieht ein Galakostüm am Haken hängen, legt es über den Arm und geht hastig zur Ausgangstür, dabei spricht sie fast ohne Unterbrechung. Daß einer dem andern zu Seite steht, das ist nicht alles... Man ist Familie, auch wenn man nicht Seite an Seite lebt... An meiner Seite stirbst du... mein Kind... Wenn sie an der Tür ist, schaut sie zurück und bemerkt Angels Reglosigkeit, sein Arm hängt aus dem Bett heraus. Er liegt fast völlig aufgedeckt da. Weißt du nicht, daß du dich erkältest? Sie läßt den Koffer stehen und geht zum Bett. Das mußt du schon selbst übernehmen... Du wirst doch schon groß... Sie will den Arm anfassen, tut es aber nicht und fängt an, ihn zuzudecken. Sie geht weg, kommt wieder zurück und legt den Arm unter die Bettdecke. Der Arm fällt wieder aus dem Bett heraus. Eva beginnt zu reden und versucht ihre Furcht zu verbergen. Ich weiß nicht, wie du nur so blöde sein kannst, die dümmsten Sachen kannst du dir nicht merken. Man redet und redet, wie gegen eine Wand... Sie legt den Arm wieder unter die Bettdecke, er fällt erneut heraus. Wenn du ihn so raushängen läßt, zirkuliert das Blut nicht, und es fängt an zu kribbeln... Und dann muß man dich auch noch massieren... Sie legt den Arm unter die Bettdecke, er fällt wieder heraus. Das Spiel gefällt mir nicht! Na mach schon! Mir bleibt doch nichts anderes übrig... Du verstehst das doch... Ich hab doch keine Schuld, mein Liebling... mein Kleiner... mein Kindchen... Los, zeige Eva, wie lieb du sie hast... Angel, spiele nicht den Idioten, das macht überhaupt keinen Spaß! Komm, umarme mich... bitte! Es hämmert an der Tür. Hör nicht hin! S T I M M E Glaubt ihr vielleicht, ich bin von den Barmherzigen Schwestern. EVA zu Angel Hör nicht hin. S T I M M E Das ist das letzte Mal, du Nutte! Oder glaubst du, ich bin dein bekloppter Bruder... Das ist der Gipfel... Wenn du in fünf Minuten nicht raus kommst, schlage ich die Tür ein und zieh dich an den Haaren raus... Eva legt Angels Hand wieder zurecht, sie deckt ihn zu. EVA leise Nicht die Tür. S T I M M E Fünf Minuten! Die letzten fünf Minuten, die ich dir gebe! EVA Soviel Krach für fünf Minuten! Die Affen, die du da draußen hältst, sehen schon lange nichts mehr! Die da draußen sehen nichts mehr, schon lange. S T I M M E Fünf! Das ist das letzte...

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EVA Dreckiger Lude! STIMME D U wirst schon sehen! Man hört einen harten Schlag gegen die Tür, dann spielt nur noch die Musik. EVA ZU Angel Hör nicht auf ihn! Tu so, als hättest du ihn nicht gehört... Gib ihm keine Antwort, er ist ein böses Tier... und beißt... er beißt Sie zieht rasch ihr Straßenkleid aus und läßt die Kleidungsstücke verstreut auf dem Boden liegen. Sie zieht das Galakostüm an, das sie in der Hand hielt, und redet ununterbrochen weiter, um keine Lücke für ihre Gedanken entstehen zu lassen. Der wird schon sehen... Der wird schon sehen... wenn Künstler mit Mumm auf der Bühne stehen... Obwohl in diesem... diesem Drecksloch... Ich seh doch gut aus, nicht? Es ist ein bißchen zu eng, ich muß abnehmen. Und du, paß auf, daß dein Trikot richtig sitzt... Weißt du, daß du schöne Beine hast? Ich hätte auch gern solche Beine, obwohl man mir immer gesagt hat... Sitzt die Perücke gerade? Wir werden mal sehen, ob wir nicht eine Perücke mit längeren Haar kaufen, so wie man sie jetzt trägt, mit Farbsträhnen... Jetzt fehlt mir nur noch ein bißchen Rouge, das Tutu steht dir erstklassig... Hab ich nicht zuviel Lidschatten drauf? Gut... Es geht los... Sie legt eine Kassette ein. Die Musik beginnt wieder. Sie mischt sich mit der Musik im Lokal, ohne daß sie es merkt, man hört einen Pasodoble. Sie beginnt in die Hände zu klatschen. Auf in die Arena! geht hüftenwackelnd auf die Bühne, tanzt und tut zugleich so, als sei Angel mit ihr auf der Bühne. Sie reicht ihm ein Kleidungsstück hin und spielt mit ihm. Warum faßt du mich nicht an...? Ein Spitzbub ist er! Los... komm... komm zu Mama... Komm, umarme Mama... fest... sehr fest... sehr sehr fest...

Matías Montes Huidobro Exil Exilio

Honolulu 1988 Deutsch von Herbert Araúz

Exil

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Matías Montes Huidobro (1931), ging 1961 ins Exil, war bis 1997 Professor für lateinamerikanische Literatur an der Universität von Hawaii in Honolulu und lebt heute in Miami. 1973 erschien seine Monographie zum kubanischen Theater Persona, vida y máscara en el teatro cubano, 1986 Persona: vida y máscara en el teatro puertorriqueño. Zusammen mit seiner Frau Yara González gründete er 1995 die Zeitschrift Anales Literarios. Sein erstes Theaterstück, Las cuatro brujas, wurde 1950 ausgezeichnet und 1951 auch das zweite, Sobre las mismas rocas.1 Mit Los acosados (1959) rückt Montes Huidobro dann in die erste Reihe der kubanischen Theaterautoren. Gas en los poros (1960) beschäftigt sich mit dem Horror der Batista-Diktatur, und die folgenden Stücke, La botiga (1960) und El tiro por la culata (1961) bringen den Enthusiasmus und die Hoffnungen zum Ausdruck, die die Kubaner mit der Revolution verbanden. La madre de la guillotina entsteht noch in Kuba, wird aber erst 1973 in englischer Übersetzung publiziert 2 und 1976 in New York uraufgeführt. Montes Huidobro benutzt hier zum ersten Mal metatheatrale Elemente, die für viele seiner späteren Stücke charakteristisch sind: 3 Während der Theaterproben von vier Schauspielerinnen wird der repressive Apparat einer Revolution in Gang gesetzt. La sal de los muertos (1971), ein Stück über Habgier und Neid innerhalb einer Familie, führt die Eigenheit des Autors ein, sich symbolischer Anspielungen, Namen und körperlicher Zeichen zu bedienen. Ojos para no ver (1979) erinnert an Tirano Banderas von ValleInclán. Die Handlung wird in ein Alptraum-Ambiente verlegt, in dem allegorische Figuren und Landschaften Lateinamerikas vereint sind. Einige Figuren sind nicht festgelegt, sie sind fließend und voller Symbolgehalt. 1981 erscheint La navaja de Olofé, ein Stück, das die afrikanischen Mythen, mit denen die Kubaner wie mit dem Alten Testament umgehen, auf die Bühne bringt. In der Verwicklung von Fiktion, Mythos und Realität formuliert Montes Huidobro 4 eine Konstante des kubanischen Theaters: die aggressive Sexualität, die sich im Inzestthema äußert, das sowohl in europäischen wie afrikanischen und amerikanischen Mythen 1

2

Las cuatro brujas erhielt 1 9 5 0 d e n z w e i t e n Preis d e r Zeitschrift PROMETEO; Sobre las mismas rocas 1951 d e n ersten. „ T h e G u i l l o t i n e " , in Selected

Latin American

One-Act

Plays, h r s g . v o n F r a n c e s c a

Colecchia, Julio Matas. London 1973, S. 93-123. 3

u.a. Exilio

( 1 9 8 8 ) , Funeral

en Teruel

( 1 9 9 0 ) , Su cara mitad ( 1 9 9 2 ) spielen m i t d e m

Theater im Theater. Montes Huidobro dazu: „Wir Kubaner dramatisieren gern, wir haben einen natürlichen Instinkt dafür, wie man sich in Szene setzt." 4

Siehe M o n t e s H u i d o b r o : Persona, vida y máscara en el teatro cubano. M i a m i 1973.

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Matías Montes

Huidobro

auftaucht, im spanischen machismo und der (in afrikanischen Mythen) besonderen Hervorhebung der männlichen Genitalien. 5 Exil, eine „Hommage an das kubanische Theater" 6 , wurde 1988 in Miami aufgeführt. Die Protagonisten sind Theaterleute, das konstituierende Element der Handlung ist daher der Theatertext - das Textschreiben und das Textinszenieren. Die Schauspieler erleben und inszenieren gleichzeitig ihre eigene Tragödie. Die Handlung beginnt in New York 1958. Fünf Kubaner warten darauf, daß Fidel Castro das Batista-Regime stürzt, und sie nach Kuba zurückkehren können. Sie proben einen Text die Verherrlichung der kubanischen Revolution 7 -, den sie in Kuba aufführen wollen. Dabei verwechseln sie einige Seiten mit denen einer noch unfertigen philosophischen Farce über ihr eigenes Leben. Verschiedene metatheatrale Handlungsebenen - Farce, Pantomime, Groteske - vermischen sich ungewollt; es entsteht ein Delirium, das sich sowohl auf die nationale Idiosynkrasie bezieht wie auf das ungeklärte Schicksal Kubas. Der zweite Akt spielt in Havanna 1 9 6 3 auf der Bühne des T E A T R O N A C I O N A L . Er spiegelt die Enttäuschung aller Erwartungen wider, die die die Protagonisten in die Revolution gesetzt hatten. Der außerordentlich kreative Prozess, der nach dem Sieg Castros in Kuba einsetzte, wird von der Parteibürokratie abgewürgt. Das heißt im Stück: Beba, die nichts vom Theater versteht, aber Parteimitglied ist, übernimmt die Leitung des Nationaltheaters. 8 Hier wird das Thema Exil erstmals aus gegensätzlichen Positionen diskutiert. Beba vertritt dabei eine Idee, die sie unmenschlich und vor allem gesprächsunfähig macht. Der dritte Akt spielt wieder in New York. Die fünf Personen treffen sich zwanzig Jahre später: Der alte noch immer nicht fertiggestellte Text soll jetzt in einer improvisierten „Inszenierung" das Ende ihrer Geschichte bringen. Heidrun Adler 5

Weitere Stücke: Las caretas, La puerta perdida, Sucederá mañana, El verano está cerca, Las vacas (alie 1961); Hablando chino (1976); Las paraguayas (1988); Fetos (1988); La garganta del Diablo (1989); La soga (1990); Lección de historia (1990); El hombre del agua (1999, deutsch: Der Mann aus dem Wasser, in Kubanische Theaterstücke, hrsg. von H e i d r u n Adler, Adrián Herr. F r a n k f u r t / M a i n 1999); Oscuro total (2000).

6

Montes H u i d o b r o im Theaterheft zur Aufführung 1999 in Miami.

7

Cantata de la Sierra Maestra ist eine Metapher für die Literatur der Revolution: Sie ist durchsetzt mit Texten a u s Reden v o n Fidel Castro v o r Arbeitern; ein gleichnam i g e s Stück w u r d e 1958 in N e w York uraufgeführt.

8

1961 w u r d e d a s TEATRO NACIONAL „ ü b e r n o m m e n " . Fermín Borges, der es bis dahin leitete, starb im Exil. Er dient als Vorlage für die Figur des R o m á n .

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Exil

Exil Personen: Miguel Angel - Victoria - Rubén - Román - Beba, die Dicke. Zu Beginn sind alle Personen um die 30 Jahre alt. Erster Akt Ein Appartement in New York, Anfang November 1958. Ein Sofa und zwei Sessel, dazwischen ein Tisch; an jeder Seite des Sofas ein Tischchen mit Lampe. In einer Ecke ein Tisch mit einer Schreibmaschine, ein Stuhl und ein Bücherbord. Wenige schmückende Gegenstände, alle recht kitschig. Im Hintergrund ein Kamin und ein Heizofen. Über dem Kaminsims die Spur eines Spiegels. Zu beiden Seiten des Kamins ein Fenster zur Straße. Durch das eine ist eine Feuerleiter zu sehen. Zwei Türen, eine zur Straße, die andere zu den Zimmern. Eine große Schranktür. Miguel Angel hat auf dem Tisch eine Landkarte ausgebreitet. Er fährt mit dem Finger eine Route entlang, hält an, nimmt einen Bleistift und macht einen Kreis. Es klingelt an der Tür. Er achtet nicht darauf. Es klingelt wieder. Er steht auf, sieht dabei weiter auf die Karte, geht zur Tür. Victoria tritt ein. Sie hat einen Text in der Hand. Der Dialog zwischen beiden oszilliert ständig zwischen natürlichem Gespräch und Theaterspiel. M I G U E L Ach, du bist es. Ich dachte, es wäre Beba, die mal wieder ihren Schlüssel vergessen hat. VICTORIA legt Tasche und Text auf einen der Sessel Ist sie noch nicht da? M I G U E L Nein, sie hätte längst hier sein sollen. VICTORIA Hoffentlich macht sie nicht wieder Überstunden. M I G U E L Weiß sie, daß du kommst? VICTORIA Sie hat uns eingeladen. Ich habe einen Bärenhunger. M I G U E L Kommt Román auch? VICTORIA Wahrscheinlich etwas später. Er hat ein paar Karten unter den Kellnern im Hotel verkauft und will der Dicken das Geld bringen. Weißt du, ob sie alle verkauft hat? M I G U E L Sie hat noch welche, will sie aber heute alle flüssig machen. Die Arbeiterklasse muß sich schließlich zu ihrer Rolle bekennen. Dazu macht man Revolutionen. VICTORIA hängt ihren Mantel in den Schrank Aber keine Kantaten. M I G U E L Wie kannst du so etwas sagen? falsch Der Dichter ist die Stimme der Revolution, Victoria.

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Huidobro

VICTORIA legt die Tasche in den Schrank Und wieviele Bons hast du heute verkauft? MIGUEL Keine. Der Dichter ist ein Arbeiter der Avantgarde, der sich die Finger nicht am Kapital beschmutzt. VICTORIA nimmt den Text Ein echter Revolutionär, M i g u e l Angel! will den Text aufs Sims legen W a s ist mit dem Spiegel passiert? MIGUEL Wir haben ihn verkauft. VICTORIA Jetzt kann man sich nirgendwo m e h r ansehen. MIGUEL sarkastisch Jetzt sehen wir uns gegenseitig an. Es ist schrecklich. Aber m a n m u ß sich daran gewöhnen. Pause Mein M a g e n klebt mir an der Wirbelsäule. VICTORIA dreht sich um Sieh mich nicht so an. Ich w e r d e nicht die Rolle deiner Frau übernehmen. MIGUEL DU bist in letzter Zeit ziemlich merkwürdig. VICTORIA Ich gehöre nicht zu denen, die man in die K ü c h e stellt. Nicht einmal im Theater. MIGUEL Aber du hast „Die Z o f e n " gespielt. VICTORIA theatralisch Das war ein ritueller Akt. MIGUEL Erzähl das nicht der Dicken. VICTORIA Gibt es hier denn gar nichts zu beißen? MIGUEL Sieh mal im Kühlschrank nach. Irgend etwas m u ß da sein. Victoria geht hinaus. Miguel Angel sieht auf die Landkarte, markiert Orte. VICTORIA aus dem off Mein Gott, ist hier ein Hurrikan durchgezogen? W a n n habt ihr die Eßzimmermöbel verkauft? MIGUEL Als wir den Spiegel verkauft haben. VICTORIA Kein Spiegel, um sich anzusehen, keine Möbel, um zu essen. W e d e r Eitelkeit noch Genußsucht. Hier ist die Revolution schon ang e k o m m e n . Habt ihr wenigsten gut verkaufen können? MIGUEL Sicher. D u weißt doch, wie gut die Dicke mit Geld umgehen kann. Sie hat die beiden Gesichter Evas: Proletarierin und Wucherin. W e n n sie hierbliebe, w ü r d e sie Rockefeller das Fürchten lehren. Er nimmt einen Stuhl, stellt ihn vor den Kamin, steigt mit der Karte hinauf und befestigt sie mit Heftzwecken dort, wo der Spiegel gehangen hat. VICTORIA U n d wie werden wir nun essen? MIGUEL Wie am Büfett. Ist auch eleganter. VICTORIA kommt mit einem Tablett: Coca-Cola Flaschen, Rum, andere Flaschen, ein Eiskübel, Kekse, Käse, Servietten, Besteck W i e ungemütlich! Ich esse nicht gern mit einem Teller auf den Knien, bleibt überrascht bei Miguel Angel stehen U n d w a s ist das? MIGUEL theatralisch Du erkennst es nicht? So wenig Patriotismus, Victoria? Das ist Havanna.

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Exil

Eine Karte von Havanna? Voller Kreuze? Ich dachte, es wäre ein Friedhof. M I G U E L E S hat etwas davon. VICTORIA Und was bedeuten die roten Flecken? M I G U E L Blutlachen. Der Weg des Terrorismus. Ein Toter mehr und ein Kubaner weniger. VICTORIA reicht ihm ein Glas Ich habe dir einen Cubalibre gemacht, setzt sich aufs Sofa und ißt ein Käseplätzchen. M I G U E L sehnsuchtsvoll Für mich gibt es nichts Schöneres als ein gut gedeckter Tisch... Seit die Dicke das Eßzimmer verkauft hat, bin ich krank. Ich denke an nichts anderes mehr. Stell dir vor, in welchem Zustand ich sein werde, wenn sie das Bett verkauft! Der Körper gewöhnt sich an das Schöne. VICTORIA Besonders der bestimmter Leute. M I G U E L Was hast du? VICTORIA Ich weiß nicht. M I G U E L Wenn du darüber sprechen willst? Victoria schüttelt den Kopf. Er legt ihr zögernd die Hand um die Taille. Warum können wir uns nicht verstehen... so wie früher...? Du und ich... Victoria. VICTORIA entfernt sich Das war einmal. M I G U E L etwas irritiert Nun ja, vielleicht hältst du mich nicht gerade für einen großen Dichter. VICTORIA

VICTORIA

Und

du?

Selbstverständlich. Victoria lacht spöttisch. Und du bist eine große Schauspielerin und wenn du willst, sage ich, Román ist ein großer Theaterautor! Wenn wir erst wieder in Kuba sind, wird man es sehen! VICTORIA Román weiß nicht, ob er zurückgehen soll. M I G U E L Ah, er hat sich noch nicht entschieden? Er spielt noch immer: geh ich oder geh ich nicht? Wenn Fidel Castro siegt, wird Román zurückgehen wie alle anderen. VICTORIA Ich weiß nicht... M I G U E L Ich verstehe dich nicht. Pause Du wirst „Die Kantate der Sierra" spielen. Scheint dir das zu wenig? VICTORIA Ich weiß nicht... M I G U E L Was? VICTORIA Alles... Wenn ich wäre wie deine Frau... M I G U E L Wenn du das sagst, um mit mir zusammen zu sein. VICTORIA Sie arbeitet wie ein Maulesel und beklagt sich nie. MIGUEL

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Montes

Huidobro

spöttisch, sarkastisch Sie ist es so gewöhnt, daß sie es vermissen und diese Zeit als die glücklichste ihres Lebens bezeichnen wird. VICTORIA Ich bin keine große Schauspielerin. M I G U E L Unsinn. Jeder hat seinen Platz. Die Dicke ist eine prima Köchin, eine großartige Hausfrau, eine erstklassige Arbeiterin und j e m a n d , der mit Geld u m g e h e n kann. Also ist sie es, die arbeitet und sich um alles kümmert. Er nimmt sie um die Taille. Du bist etwas ganz anderes. Du, du stehst auf der Bühne... VICTORIA Laß das, Miguel Angel. M I G U E L Auch nicht auf der Bühne? VICTORIA macht sich los Auch nicht auf der Bühne. Ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt. M I G U E L Das ist kein Scherz. Das ist bitterer Ernst. VICTORIA Zwischen uns läuft nichts. Es tut mir leid. M I G U E L verletzt Du weißt nicht, was dir entgeht. VICTORIA D U denkst, w e n n wir nach Kuba zurückkehren, spielen wir dieselben Spielchen weiter? M I G U E L W a s ich vorschlage, könnte das Ende des ersten Aktes sein. Bevor wir N e w York verlassen, eine kurze, etwas frivole Szene. Er nähert sich ihr wollüstig. Eine leichte kleine Szene, bevor die Dicke mit ihren Tüten vom Supermarkt kommt. VICTORIA entfernt sich theatralisch Aber, was machen wir, wenn sie vor dem Höhepunkt erscheint? M I G U E L schiebt den Riegel vor die Tiir Ich schiebe den Riegel vor. W e n n die Dicke k o m m t , fliehst du über die Feuerleiter und k o m m s t zurück, während ich sie in der Badewanne verführe. VICTORIA Das wäre viel zu schwierig zu inszenieren. M I G U E L bedrängt sie Im Gegenteil. Eine s t u m m e Szene. Das G e h e i m n i s liegt in Gesten, Position, Bewegung... In den besten Szenen dieser Art wird nichts gesagt... VICTORIA U n d z w i s c h e n d u r c h w e r d e ich eins deiner Gedichte aufsagen, um dein Ego aufzurichten. M I G U E L Ich schwöre dir, Victoria, es ist schon aufgerichtet. Er bedrängt sie. Sie wehrt sich theatralisch, gibt dann langsam nach. V I C T O R I A Ich m u ß den Text noch einmal durchgehen. MLGUEL Das glaube ich nicht. Du kannst diese Rolle auswendig. Du hast sie oft genug gespielt. VICTORIA DU meinst, sie gehört in mein dramatisches Repertoire? M I G U E L Ich erinnere mich an die kleinste deiner Gesten, deiner Bewegungen, an das Versagen deiner S t i m m e . Es ist mir egal, daß du es hundert, tausendmal gespielt hast. Es ist mir egal! MIGUEL

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es gelingt ihr, sich freizumachen Es ist dir nicht egal! Und ich sage dir, als ich dich kennenlernte, hatte ich bereits mit besseren Schauspielern gearbeitet als du. M I G U E L hält mühsam seine Gewalttätigkeit zurück Das stimmt. Du warst bereits eine verbrauchte Schauspielerin. Du hast diese Szene immer und immer wieder gespielt. VICTORIA Warum willst du dann, daß ich sie spiele? Jede andere Schauspielerin... selbst die Dicke... kennt die Rolle auswendig. M I G U E L sarkastisch Du wirst es nicht glauben, manchmal vergißt sie ganze Passagen. VICTORIA Aber du kannst ihr dann aushelfen. M I G U E L Das ist nicht dasselbe. Pause Wir müssen es noch einmal erleben, Victoria. Bevor der Vorhang fällt und es zu spät ist. VICTORIA E S ist bereits zu spät. M I G U E L aggressiv Ich gebe nicht auf! Und du selbst wirst schließlich wollen, daß du und ich die Szene spielen. VICTORIA versucht, sich zu befreien Laß mich...! Laß mich...! Es klingelt an der Tür. Laß mich...! M I G U E L Ich lasse dich nicht!!! Victoria kann sich losmachen. Es klingelt, mehrmals. Victoria steht auf, streicht sich das Haar zurecht und stellt sich in konventioneller Weise ans Fenster. Miguel Angel holt einen Kamm aus der Tasche und kämmt sich rasch. Dann steckt er sein Hemd in die Hose und geht zur Tür. Er sieht sich noch einmal um, ob alles in Ordnung ist. Dann schiebt er den Riegel fort und öffnet die Tür. Rubén erscheint, ein Textbuch in der Hand. Kurzes Schweigen. Rubén sieht den Riegel an. Dann Miguel Angel und Victoria. Miguel Angel und Victoria lachen kurz auf. VICTORIA So ein Reinfall! R U B É N Das sagst du doch nicht meinetwegen? VICTORIA Ich meine uns. R U B É N Ihr solltet die Proben nicht so ernst nehmen. M I G U E L Stell dir vor, wir dachten, es wäre Beba, die klingelt. Und dann warst du es. R U B É N Tut mir leid. Er legt den Text auf einen der Sessel, zieht den Mantel aus und hängt ihn in den Schrank. VICTORIA enttäuscht Einen Augenblick dachte ich, jetzt passiert etwas. R U B É N Und... ist nichts passiert? Ihr seid doch nicht wegen nichts so schlechter Laune. Was sollte deiner Meinung passieren? VICTORIA Irgend etwas. VICTORIA

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Keine Sorge. Fidel macht die Revolution. Inzwischen m a c h e n wir Theater, zu Rubén Soll ich dir einen Cubalibre mixen? R U B É N Ja, Vicki, darling. Er setzt sich aufs Sofa, Victoria mixt den Drink. Überrascht sieht er die Landkarte. Und was ist das? M I G U E L Der Spiegel, in dem wir uns alle betrachten wollen. Havanna. R U B É N Was ist mit d e m Spiegel? VICTORIA Den hat die Dicke verkauft. Sie reicht Rubén das Glas. Alle trinken. Victoria macht Drinks, sie betrinken sich langsam. R U B É N ZU Miguel Angel Diese Kreuze sind ein schlechtes Vorzeichen. M I G U E L Im Gegenteil. Ein Vetter von Beba ist Gepäckträger a m Flughafen von Miami. Ein Sklave des Kapitals. Er hält sie auf d e m Laufenden mit einer s c h w a r z e n Liste der Batista-Anhänger, die die Insel verlassen, so hat sie die besten Adressen leerstehender H ä u s e r in Miramar. Die Dicke dachte zuerst an Vedado, weil es zentraler liegt und m e h r Busse hinfahren. Aber w e n n die R e v o l u t i o n siegt, wer wird dann noch Bus fahren? Victoria und Rubén lachen. M I G U E L Ich habe ein A u g e auf den Palast der G ó m e z Vargas geworfen, der hat drei Etagen und sechs Schlafzimmer. RUBÉN deutet auf einen Punkt Und das Kreuz hier, zwischen 12. und 23.? VICTORIA Das wird der Friedhof sein. R U B É N Erinnert ihr euch an den Busfahrer der Linie 30, der i m m e r , wenn er da vorbeifuhr, sagte, das sei der Eingang zum Stadion? VICTORIA Ach Rubén, werde nicht sentimental. M I G U E L Die Dicke hat darüber nachgedacht. VICTORIA Über den Friedhof? R U B É N ZU Miguel Angel Sag bloß du liebäugelst auch mit der Grabstelle der G ó m e z Vargas? M I G U E L Nein, die Dicke meint, es sei besser, ein Chalet z w i s c h e n 1 2 . und 23. zu suchen. Aber Miramar hat doch viel m e h r Klasse. R U B É N Nun, ich finde, ein Chalet zwischen 1 2 . und 2 3 . ist nicht schlecht. Gute Gegend. U n d da ich nicht Auto fahre... zu Miguel Angel W ü r d e es dir was a u s m a c h e n , w e n n ich es n ä h m e ? zu Victoria Es sei denn, du... VICTORIA Nein, nein, nein, ich will keine Schwierigkeiten. Ich bin mit e i n e m A p p a r t e m e n t an La R a m p a zufrieden. D e n k t an den Ä r g e r mit den Dienstboten. Ich habe ein G e n e t - T r a u m a , b l o ß nicht die Herrin sein! R U B É N Ah, es wird noch Dienstboten geben? RUBÉN

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Was denkst du! Daß die Dicke weiter den Besen schwingen soll, nachdem sie sich so aufgeopfert hat? Pause Sie denkt daran, kulturelle Soirees zu geben, vor allem für ausländische Schriftsteller. So eine Art Kulturhaus... Und ich mache schon die Liste... Octavio Paz... Carlos Fuentes... Celestino Gorostiza... VICTORIA Willst du nur Mexikaner einladen? R U B É N Das Haus des Charro. Oder der Chingada. Wer weiß. M I G U E L Ich finde, das ist eine sehr revolutionäre Idee. VICTORIA Wie alle deine Ideen. M I G U E L Hundert Prozent revolutionär. Vor allem für die Dicke, die es verdient, nicht nur weil sie meine Frau ist. Ihr muß Gerechtigkeit geschehen. Schließlich hat sie, wie Marti sagt, in den Eingeweiden des Molochs gelebt. R U B É N Und was dann? M I G U E L Wann? RUBÉN Wenn Fidel gesiegt hat. M I G U E L Na, was wohl? logisch Wenn Fidel gesiegt hat, gehen wir zurück. Ich ziehe nach Miramar, du nach Vedado, und Victoria wird ein Appartment an La Rampa haben. R U B É N Das meine ich nicht. M I G U E L Was dann? Die Rückkehr der Emigranten, verstehst du? Die Dichter werden zurückkommen, die Romanciers, die Theaterautoren, voller neuer Ideen, bereit zu einer kulturellen Revolution... Und was ich für das Wichtigste halte, ich kehre zurück! Selbst Typen wie du kehren zurück. Oder willst du hierbleiben? RUBÉN Nein, nein, ich will auch zurück. Aber ich frage dich, was passiert dann? Revolutionen macht man zu einem gewissen Zweck... M I G U E L Revolutionen macht man, um die Dinge zurechtzurücken. R U B É N Vielleicht bin ich ein Ignorant, aber ich glaube, Revolutionen wollen genau das Gegenteil, zu Victoria Meinst du nicht? VICTORIA Höre nicht auf Miguel Angel, der hat von Revolutionen nicht die blasseste Ahnung. M I G U E L heftig Mehr als du! Mehr als alle anderen! Mehr als dein verdammter Mann! VICTORIA heftig Laß meinen Mann aus dem Spiel! M I G U E L dreht ihr den Rücken zu und geht zum Ofen Rege dich nicht auf. VICTORIA theatralisch Revolutionen werden gemacht, damit Scheißkerle wie du nach Hause eilen. Revolutionen werden gemacht, um einigen Schweinen den Kopf abzuschlagen. Sie wirft ihr Glas an die Karte MIGUEL

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an der Wand, haarscharf an Miguel Angel vorbei. Revolutionen werden gemacht, um uns umzubringen! Erschöpft läßt sie sich ins Sofa fallen. M I G U E L applaudiert Großartig! Wundervoll! Die Schauspielerin übertrifft sich selbst! Das muß gefeiert werden, trinkt, sieht den erschrockenen Rubén an Und, was zum Teufel, ist mit dir, Rubén, warmer Bruder? lacht Wir proben eine Szene aus „Das kurze Leben", diesem Melodram, das Román noch nicht fertiggeschrieben hat. Hörst du? Wir proben, wir proben nur. VICTORIA ängstlich Was wird mit uns geschehen? M I G U E L beruhigend Nichts. In jeder Revolution gibt es Verrückte. Du wirst sehen, auch du wirst etwas davon haben. R U B É N zuckt die Schultern In dem Fall... M I G U E L Komm schon, Victoria. So schlimm war es doch gar nicht, reicht ihr ein neues G/as.Trinken wir auf das Freie Kuba! VICTORIA leise Trinken wir. R U B É N Aber mit Cubalibre! M I G U E L Rum mit Coca-Cola! Auf ein Freies Kuba mit Cubalibre! Sie trinken, setzen sich. Pause. In neutralem Ton weiter. R U B É N Schade, daß die Dicke nicht dabei ist. M I G U E L Ja. Ich habe einen Bärenhunger. R U B É N Wenn sie hier wäre, könnten wir bereits Braten, gebackene Bananen und Salat verspeisen. M I G U E L Die Diät des Heimatlosen! R U B É N Die Dicke hat mir versichert, das würde es heute geben. Ich habe sie gefragt, als sie mich zum Essen einlud, weil ich Huhn auf Reis nicht mag. M I G U E L Aber heute ist doch nicht Sonntag. R U B É N Sonntags kann man keinen Kubaner besuchen, weil alle Huhn auf Reis kochen. M I G U E L Huhn auf Reis ist ein Teil unserer ethnischen Wurzeln. R U B É N Und freitags gibt es niemanden, der dem übelriechenden Kabeljau entkommen kann. ... Für mich gibt es nichts Schöneres als ein gutes Texas-Steak. M I G U E L D U bist doch nie in Texas gewesen. R U B É N Jeden Sonntag gehe ich ins Texas Steak House. M I G U E L Und was wirst du tun, wenn die Revolution siegt und wir nach Kuba zurückgehen? R U B É N Ich werde mich mit einem panierten Schnitzel zufriedengeben müssen. VICTORIA Die Revolution wird unsere typischen Gerichte zur Pflicht machen.

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RUBÉN Der Lohn für unsere Kämpfe... Wenn wir in Kuba wären, würden wir wirklich kämpfen. In der Sierra, in der Guerrilla, und in Havanna würden wir Bomben werfen... M I G U E L Wahrscheinlich wären wir tot. VICTORIA Aber das hätte noch einen Sinn. Wir hätten das Leben für etwas hingegeben. Wir wären nicht verbannt. M I G U E L Rede keinen Blödsinn, Victoria. Du bist einfach zu romantisch. Der Tod ist die brutalste aller Verbannungen. Wenn du tot bist, gibt es dich nicht mehr. Wichtig ist, nicht zu sterben. VICTORIA Aber für irgendetwas muß man doch überleben. W a r u m wollen wir überleben? M I G U E L Um zurückzugehen. VICTORIA Román glaubt, wenn es eine richtige Revolution ist... M I G U E L Was denkt sich dein Mann? Daß es eine falsche Revolution ist? VICTORIA ...daß es eine Revolution des Proletariats sein wird. M I G U E L unpersönlich Aber es handelt sich nicht um eine Revolution des Proletariats. Es hat nicht einmal einen Streik gegeben. Die Gewerkschaften haben überhaupt keine Rolle gespielt, weil sie von Batista gekauft sind. Es ist auch keine Revolution der Bauern. Einige sind darin verwickelt aus rein geographischen Gründen, weil Fidel in der Sierra operiert. Die Universität macht die Revolution, Victoria. VICTORIA Sag bloß noch, daß du sie machst. M I G U E L Nein, nein, ich nicht. Aber Leute wie ich, wie wir... Wir tun, was wir können... Wir sammeln Geld, verkaufen Bons... VICTORIA ironisch Ich dachte, die verkauft deine Frau. MIG JEL überhört die Anspielung Und mit dem gesammelten Geld werden Waffen für Kuba gekauft. VICTORIA A M Ende sagst du noch, es sei eine Revolution des Kapitals. MIG JEL Das habe ich nicht gesagt, aber man muß zugeben, daß es eine Revolution der Mittelklasse ist. R U B É N Ich weiß, daß ich von Politik nichts verstehe, Miguel Angel, aber seit wann gibt es eine Revolution der Mittelklasse? M I G U E L erregt Und was ist die Französische Revolution? Von den Revolutionen des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika ganz zu schweigen. Wer hat denn die gemacht? Die Großgrundbesitzer... die gebildeten Liberalen... Anwälte, Politiker... Und Marti war dazu noch Dichter. in anderem Ton Dasselbe gilt auch hier. Oder war George Washington Schreiner? Mit diesem background willst du im revolutionären Kuba Theater machen? Dich werden sie erschießen müssen.

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RUBÉN Hör auf zu nerven, Miguel. MIGUEL steht auf Du hast recht. Nerven ist eine kubanische Nationaleigenschaft. Oder genervt werden. Das gesamte philosophische Denken Kubas beruht auf diesen beiden Prämissen. Das ist unser to be or not to be, nerven is the question. Das ist so etwas wie Gewaltenteilung. VICTORIA Oder Klassenkampf. RUBÉN Aber es gibt Leute, die nerven nur, um zu nerven. MIGUEL Das n e n n t m a n L'art pour l'art. Reine Ästhetik. Die großen Schriftsteller waren jeweils die großen Nerver ihrer Zeit. Jede Revolution hat ihren Anfang poetischer Gerechtigkeit, wenn nämlich aus den Genervten die Nerver werden. Also, Rubén: Nerven wir! RUBÉN hebt sein Glas Nerven wir! MIGUEL stößt mit ihm an Nerven wir! Die Personen suchen ihre Texte, die überall herumliegen. RUBÉN Proben wir? VICTORIA theatralisch Geschehe, was geschehen muß! RUBÉN Der Vorhang geht auf... Legt an! ... Feuer! VICTORIA melodramatisch Ist das ein Alptraum? RUBÉN liest Realistische Komposition über die Zukunft der Nation, die sich aus der Entfremdung der Verbannten entwickelt. Das Rätsel des Schicksals wird von gequälten Exilierten aufgeworfen, die nicht wissen wohin, noch auf welche Seite sie sich schlagen sollen. Eine unsichere Pantomime beginnt. Wer bin ich? Wohin gehe ich? Woher komme ich? Diese drei Fragen der chinesischen Scharade beunruhigen die Personen, die durch die Leere der Unwissenheit wandeln. Sie bewegen sich vorsichtig, weil ein falscher Schritt tödlich sein kann. Was mag das Schicksal für uns bereit halten? Die Personen bewegen sich den Sätzen entsprechend übertrieben. Das Schicksal schweigt und hält sich verborgen. Er beteiligt sich an der Suche. MIGUEL unterbricht Proben wir die Kantate? Ich kann mich nicht erinnern, das geschrieben zu haben, nimmt Rubén den Text aus der Hand und liest Am Anfang war die Kantate. VICTORIA nimmt Miguel Angel den Text aus der Hand Nein! Nein! Am Anfang war die Revolution! RUBÉN In der Bibel heißt es: Am Anfang war das Wort. MIGUEL nimmt Victoria den Text aus der Hand, sehr überzeugend Das Wort ist die Kantate! Das heißt, die Kantate ist die Revolution!

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geht im Kreis, gefolgt von den anderen Jene absurde Logik ist wie ein kaukasischer Kreidekreis, gezogen von Brechtscher Verfremdung, damit die Personen sich in einem circulus viciosus bewegen. M I G U E L verläßt den Kreis Idiotisch! Wir lesen einen Text und glauben, wir müßten damit ein Schicksal erfüllen... Ich spiele nicht mit! VICTORIA während sie im Kreis geht Aber du hast das geschrieben. Du bist es, der uns nicht heraustreten läßt. R U B É N Du bist derjenige, der nervt, nur um zu nerven, indem er uns auf der Bühne im Kreis herumlaufen läßt. M I G U E L Wenn wir uns darauf beschränken könnten, die Kantate zu proben... R U B É N bleibt abrupt stehen Ja ist sie das nicht? VICTORIA bleibt stehen Ich dachte, das hier ist die Kantate... R U B É N sucht nach einem anderen Text Hier ist es. liest „Die Kantate der Sierra Maestra" von Miguel Angel Fernández. Hommage an die Helden der Sierra Maestra. Erster Akt. Wohnzimmer in New York. Die Figuren suchen nach ihrem Schicksal. Victoria und Miguel Angel sitzen sich gegenüber. Beide setzen sich einander gegenüber. Sie sprechen über die Zukuft der Überstunden. M I G U E L wirft den Text weg und sucht nach einem anderen Das ist doch nicht die Kantate, verdammt. Warum proben wir nicht die Kantate statt diesen Mist hier? R U B É N Aber das steht hier so. liest: Wenn der Vorhang aufgeht, sieht man die Gipfel der Sierra Maestra. Man hört Akkorde der Nationalhymne, die in die Hymne des 26. Juli übergehen. Der Chor tritt auf und eröffnet das Stück mit Llanto de Cuba und fragt nach dem ungewissen Schicksal der Heimat. VICTORIA erschrocken Schicksal? M I G U E L aggressiv Schicksal? Wer, zum Teufel hat das geschrieben? Ich habe diesen Mist nicht verzapft! stürzt sich auf Rubén und schüttelt ihn Das ist nicht die Kantate! Die Kantate, das bin ich! Ich bin das Schicksal, du Schwuchtel. R U B É N Victoria, Hilfe! Der bringt mich um! Um Gottes Willen, er ist verrückt geworden! VICTORIA trennt die beiden Das Schicksal entgleitet uns... M I G U E L Hör auf mit diesem verdammten Schwachsinn! VICTORIA Verstehst du nicht? Das Schicksal ist wie die Sphinx... R U B É N Hör zu, was es uns zu sagen hat. liest: Schicksal: ein ideologischer Grundsatz, eine intellektuelle Auseinandersetzung über das Schicksal Kubas, wohin wir gehören. Darüber besteht nicht der geRUBÉN

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ringste Zweifel. Und wenn wir dieses Dokument mit Blut unterzeichnen müssen... VICTORIA erschrocken Mit Blut! M I G U E L Bist du sicher, daß es da Blut heißt? R U B É N Ja, ja doch... liest weiter Und wenn wir dieses Dokument mit Blut unterzeichnen müssen, damit sich das Schicksal Kubas erfüllt. Darum weichen wir auch keinen Schritt zurück. Victoria verbirgt sich hinter Miguel Angel. Ihr habt der kubanischen Sache in dem Maße gedient, wie es euch möglich war. Ihr seid durch die Unterwelt von New York geirrt, verfremdet durch das Kapital, immer auf den Sturz von Batista hoffend, um in die Heimat zurückkehren zu können. Und jetzt erwartet euch Kuba, emphatisch in die Runde blickend Dichter, Schriftsteller, Theaterautoren, Filmemacher, Musiker, Kritiker, Publizisten, Maler, Bildhauer, Schauspieler, Regisseure, alle vereint unterzeichnen wir diese Deklaration der Intellektuellen mit der roten Tinte... Victoria und Miguel Angel sehen sich verwirrt an. Rubén sucht einen Federhalter, reicht ihn Miguel Angel, und dieser unterzeichnet als Erster den Vertrag. Zögernd, unsicher unterschreibt auch Victoria. Dann Rubén. Nun ist es vollbracht! M I G U E L Wenn man an nichts mehr glaubt, muß man einen Pakt mit dem Teufel schließen. Viktoria und Miguel Angel gehen zur Schreibmaschine, Miguel Angel beginnt, die letzten Akkorde der Kantate der Sierra Maestra zu komponieren. Er setzt sich vor die Maschine wie ein Komponist ans Klavier; Viktoria stellt sich neben ihn wie eine Sängerin und Rubén mimt den Dirigenten. M I G U E L schreibt Die Schlinge, die mich erwürgt, ist die Kraft, die mich umbringt... VICTORIA singt Die Schlinge, die mich erwürgt, ist die Kraft, die mich umbringt... M I G U E L schreibt Der Strick, der mich umschlingt, ist die Schlinge, die mich umbringt... V I C T O R I A und R U B É N singen Der Strick, der mich umschlingt, ist die Kraft, die mich erwürgt... M I G U E L singt und schreibt Ah, welch ein Schmerz, Mama, ah, welch ein Schmerz, welch ein Weh! Welch ein Schmerz, welch ein Schmerz, welch ein Weh! Alle zusammen singen. Die Schlinge, die mich erwürgt ist die Kraft, die mich umbringt... Die Schlinge, die mich erwürgt,

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ist die Kraft, die mich umbringt... Der Strick, der mich umschlingt, ist die Schlinge, die mich umbringt... Der Strick, der mich umschlingt, ist die Kraft, die mich erwürgt... Ah, welch ein Schmerz, Mama, ah, welch ein Schmerz, welch ein Weh! Welch ein Schmerz, welch ein Schmerz, welch ein Weh! Sie tanzen. Es klingelt an der Tür. Sie scheinen es nicht zu hören. Plötzlich halten sie inne und horchen. VICTORIA übertrieben Mein Gott, es klingelt an der Tür? M I G U E L Ja, es klingelt an der Tür. RUBÉN Sollten wir nicht aufmachen, um zu sehen, wer es ist? VICTORIA melodramatisch Nein! Das ist Es! Das ist Es! Ganz bestimmt! RUBÉN Augenblick, hier muß es heißen... greift nach seinem Text, der auf dem Boden liegt, liest. Es klingelt. Es klingelt noch einmal. Die Personen bleiben wie angewurzelt stehen. Sie fürchten das Schicksal. Hartnäckig klingelt das Schicksal dreimal... wie der Postmann. Wieder klingelt es. M I G U E L Zweimal... RUBÉN Zweimal? M I G U E L Der Postmann klingelt zweimal. Wieder klingelt es. VICTORIA übertrieben Dieses Klingeln sprengt mir die Schläfen. M I G U E L Verdammt, Rubén, hör auf mit dem Mist und mach die Tür auf. Rubén öffnet die Tür. Román kommt mit einem Text in der Hand herein. ROMÁN Warum braucht ihr so lange, um die Tür aufzumachen? Pause, sieht sich um Probt ihr gerade? zu Victoria Was ist? RUBÉN Als es klingelte, dachte sie, es wäre das Schicksal. M I G U E L ironisch Und dann kamst du herein. R O M Á N Das tut mir leid. RUBÉN ZU Román Victoria hat ihren Pakt mit dem Teufel offenbar ernst genommen. ROMÁN nimmt Victorias Text Aber wieso probt ihr „Das kurze Leben"? RUBÉN Wir proben „Die Kantate", wir wollen sie aufführen, bevor wir nach Kuba gehen, wenn Batista gegangen ist und Fidel Castro gesiegt hat. Als unsere Feuerprobe. R O M Á N unerwartet zornig Eure Feuerprobe werdet ihr vor dem Erschiessungskommando erleben! RUBÉN zu Victoria Was hat der denn plötzlich?

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Er hat Hunger.

MIGUEL Ja, wo bleibt die Dicke eigentlich? VICTORIA ZU Miguel Angel Hat sie gesagt, wann sie die Fahne fertig hat? RUBÉN Wenn sie noch lange braucht, muß Victoria nackt auf die Bühne. MIGUEL Das würde ein off-Broadway Erfolg. VICTORIA Ich würde bestenfalls an einer Lungenentzündung sterben. ROMÁN Also, gegen Ende des ersten Aktes öffnet Beba die Tür. Beba kommt herein. Sie ist bepackt mit Einkaufstüten und Paketen. BEBA Mein Gott, ist das ein Wetter! Eine Kälte, die geht durch Mark und Bein. Ich hoffe nur, daß Fidel bald siegt, damit ich nach Kuba zurück kann. Steht nicht so rum, helft mir lieber. Román nimmt ihr die Tüten ab und bringt sie in die Küche, die anderen tun nichts. Beba läßt sich ins Sofa fallen. Wie das hier aussieht! Was habt ihr gemacht? MIGUEL W i r h a b e n g e p r o b t .

BEBA Wenn das hier die Probe ist, wie wird es dann erst auf der Bühne... Aber ihr habt sicher Hunger... Also, eigentlich wollte ich nicht so spät kommen, aber ich wollte noch ein paar Karten für „Die Kantate" verkaufen, und dann habe ich noch Überstunden gemacht, um Victorias Kleid fertig zu kriegen... Sie öffnet ein Paket, holt ein Kleid heraus, steht auf und hält es sich an. Es ist eine Tunika, auf der einen Seite die kubanische Fahne, auf der anderen die rot-schwarze Fahne des 26. Juli. Wie findet ihr das? Weil keiner etwas sagt, reicht sie es Victoria. Na ja, dir steht es besser. RUBÉN Endlich können wir eine Kostümprobe machen. Victoria zieht die Tunika über. Beba räumt mit raschen Bewegungen das Zimmer auf. Román reicht Victoria einen Text. ROMÁN Hast du das Schicksal gesehen? VICTORIA liest ab Ich weiß nicht... Mein Schicksal war stets ungewiß... Und dennoch regt sich mein Herz jetzt voller Hoffnung... Das Schicksal Kubas! Vielleicht jetzt... Vielleicht jetzt... Vorhang. MIGUEL wütend Aber das ist nicht „Die Kantate"! ROMÁN Nein, Miguel Angel, das ist „Das kurze Leben".

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Zweiter Akt 1963 auf der Bühne des Teatro Nacional in Havanna. In der Pause nach dem ersten Akt beginnen vor dem Publikum die Umbauten auf der Bühne: Die Wände des New Yorker Zimmers werden abgebaut bis auf einige stützende Holzteile, das Fenster und die Tür. Ein Sofa, einige Korbstühle, einer steht dort, wo der Kamin war. Im Hintergrund eine Darstellung der Sierra Maestra; links ein Kleiderständer, an dem auf einem Bügel Viktorias Flaggenkleid hängt; die 26. Juli Seite zum Publikum. Rechts eine Guillotine, die zu einem anderen Stück zu gehören scheint. Eine Schreibmaschine außerhalb des für das Wohnzimmer vorgesehenen Raums. In allen drei Akten sollte eine ähnliche Anordnung der Dinge herrschen. Am Ende der Pause kommt Victoria durch die Tür und schließt sie hinter sich. Sie ist schlicht gekleidet, kaum geschminkt und ohne Schmuck. Sie hat einen Text in der Hand, setzt sich auf das Sofa. Jetzt geht das Licht im Saal langsam aus; Licht auf die Bühne. Victoria steht auf, streicht über den Stuhl, der an der Stelle des Kamins steht, läßt den Text auf den Stuhl fallen, geht ans Fenster und sieht hinaus. Von der gegenüberliegenden Seite kommt Román mit einem Text in der Hand. Er ist in Hemdsärmeln. Da, wo im ersten Akt eine Wand war, hält er inne, geht zurück, will durch die Tür herein. Da sie geschlossen ist, klingelt er mehrmals, Victoria rührt sich nicht. Schließlich öffnet er die Tür und tritt ein. ROMÁN Warum machst du nicht auf? VICTORIA ohne sich zu rühren Der Riegel war nicht vorgeschoben. ROMÁN Wenn ich mich recht erinnere, war er immer vorgeschoben... VICTORIA Ja, Beba hatte immer Angst, man könnte sie vergewaltigen. ROMÁN klingelt Ich glaube, die klingt anders. VICTORIA

Was?

ROMÁN Die Klingel, klingelt Findest du nicht? VICTORIA Wir haben uns alle verändert. Warum nicht auch die Klingel? Wir sind nicht in New York. Es hat eine Revolution gegeben, und jetzt sind wir in Kuba. Vielleicht haben wir uns zu sehr verändert. ROMÁN DU ganz besonders. Als wir zurückkamen, warst du so begeistert wie sonst keiner von uns. Stundenlang hast du Fidels Reden gelauscht... VICTORIA Ja... Wie an dem Abend, an dem wir mit Fidel Spaghetti essen wollten, und dann gab es nur Milchkaffee... Wenn ich daran denke, daß ich gesagt habe, er sei wie ein Gott, der vom Olymp her-

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abgestiegen ist! bitter und sarkastisch Wie konnte ich so etwas Kitschiges sagen! ROMÁN Ich habe nie mit Fidel Milchkaffee getrunken. VICTORIA geht wieder ans Fenster Erinnerungen sind trügerisch. Als du kamst, versuchte ich mir gerade den Laden vorzustellen, die Wäscherei, den Obststand... Nie hätte ich gedacht, daß New York mir so vertraut ist. Manche Dinge kann ich mir ganz genau in Erinnerung rufen, aber dann verwischt sich alles... trocken Ja, und dann wird mir klar, daß man von hier aus nur die Sierra Maestra sehen kann... ROMÁN Was ist los mit dir? VICTORIA Dasselbe wie mit dir. ROMÁN Mit mir ist gar nichts.

VICTORIA Mit uns allen ist etwas los. ROMÁN Und deine Begeisterung? Du warst eine der Ersten, die sich die Milizuniform anzogen. VICTORIA Das war die Begeisterung der ersten Schauspielerin, der vom Volk und der Revolution applaudiert wurde, sarkastisch Victoria des Volkes! Wer hat das noch gesagt? ROMÁN Warum beschwerst du dich dann? Alle Welt kennt dich. Das hast du doch immer gewollt. Jetzt hast du es erreicht. VICTORIA Wahrscheinlich hast du recht. Wir alle haben bekommen, was wir uns gewünscht haben. ROMÁN fast euphorisch Nicht wahr? Hast du bemerkt, daß dies die Kulisse für „Das kurze Leben" ist? Wer hätte gedacht, daß ich einmal im Teatro Nacional aufgeführt werde! Rubén ist von dem Stück begeistert. Ich wollte immer ein Stück schreiben, das sich der Realität stellt. VICTORIA lacht sarkastisch Sich der Realität stellt! ROMÁN Ich verstehe nicht. VICTORIA DU wirst es verstehen, wenn es zu spät ist. ROMÁN unangenehm berührt Warum sprichst du in Rätseln? VICTORIA Das ist die einzige Möglichkeit. ROMÁN Ich glaube nicht, daß du jetzt bissig sein solltest. Selbst Beba... VICTORIA ärgerlich Beba will alles ganz genau wissen. Alles aus einem herausholen, bis nichts mehr drin ist. Uns aussaugen, um uns dann fertigzumachen! ROMÁN Warum sprichst du so von Beba? VICTORIA Die Dicke mischt sich überall ein.

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ROMÁN DU bist ungerecht. Nun ja, wir haben sie immer ungerecht behandelt. Obwohl sie, glaube ich, manche Dinge weit aus besser versteht als wir. VICTORIA Darauf kannst du Gift nehmen. ROMÁN geht zur Guillotine Ich denke, man muß sich der ganzen Wahrheit stellen: Was wir waren, was wir sind, was wir sein sollten. Ich möchte die Revolution begreifen, Victoria. VICTORIA DU hast doch von Anfang an nichts begriffen. Miguel Angel hat wenigstens... ROMÁN Ich bin nicht Miguel Angel. VICTORIA geht zum Kleiderständer Genau das will ich sagen. Hier gibt es viele, die so sind wie er. Und es werden immer mehr. Es wäre besser, sich Miguel Angel zu stellen, um zu begreifen, wer wir sind. nimmt das Kleid Ich sollte es jedenfalls wissen. Schließlich bin ich es, die spielt, die immer und immer wieder „Die Kantate der Sierra" mimt. Die die Verkleidung nimmt, agiert ihren Worten entsprechend den Reißverschluß öffnet, das Kleid überzieht und immer und immer wieder die Verwandlungsszene spielt. Die Farben des 26. Juli auf derVorderseite beginnt sie einen grotesken Vortrag: Wenige gegen alle Feinde: das Gewehr geschultert greifen wir zur Feder mit dem Schwert und zerreißen alle Ketten. Und wenn mir Zweifel kommen sagt Miguel Angel: „Du bist doch Schauspielerin, du brauchst nur deine Stimme einzubringen." Und Rubén: „Vicki, darling, man muß doch nicht alles glauben, was man sagt, dear. Das würde uns fertig machen! Verrückt würde man werden!" Pause Ja, ich bin Schauspielerin und m u ß so tun als ob... Wie Miguel Angel, der dasselbe als Dichter macht. Hast du bemerkt, daß er ganz einfach die Sermone von Fidel in Verse setzt. Er kennt sich genau aus. Pause Wenn ich „Die Kantate" spiele, deklamiere ich dieses poetische Flickwerk, das Miguel Angel aus Fidels Reden an die Metallarbeiter, die Zigarrendreher, die Zuckerrohrschneider, die Busfahrer zusammenklaubt... Diese Verse gegen den Yankee-Imperialismus, die er aus Zeitungen kopiert... reißt sich das Kleid vom Leib, während sie rezitiert: Im Kampf gegen den Yankee-Imperialismus erhebet die stählernen Arme: „Vaterland oder Tod! Wir werden siegen!"

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Sie hält das Kleid in der Hand. Wie konnte er sich so erniedrigen? Sie wirft das Kleid weg. Um das zu begreifen, bedarf es keiner Analyse von dem, was wir waren und nicht mehr sind, zornig Es bedarf einer Gehirnwäsche, Román. ROMÁN Ich kann nicht akzeptieren, daß alles, was in den letzten Jahren hier geschehen ist, nur eine Farce sein soll. VICTORIA läßt das Fallbeil der Guillotine nach oben fahren Theater. Nichts als Theater. National Theater. Ein Theater um Vaterland oder Tod, das uns das Leben kosten kann. Wir sollten gehen, Román. ROMÁN Soll das heißen, es war ohne jeden Sinn, daß wir zurückgekommen sind? VICTORIA Vielleicht... Gehen... Ins Exil gehen... Gehen, bevor es zu spät ist. deutet auf die Reste der Kulissen aus dem ersten Akt Das hier bedeutet gar nichts... geht zum Fenster ein Appartement in New York... mit Blick auf die Sierra Maestra. ROMÁN Genau das haben wir damals gesehen. Wenn wir ans Fenster traten, haben wir immer nach vorn geblickt und uns dort gesehen, wo wir jetzt sind. VICTORIA Nein, ich habe die Wäscherei gesehen, den Zeitungskiosk, die zerlumpte Alte, die im Winter Kastanien verkaufte... ROMÁN Das siehst du jetzt... weil du nicht dort bist. VICTORIA Möglich. Ich bin mit Fidel in der Sierra Maestra gewesen, mit Rubén, mit dem ganzen Zentralkomitee, mit Beba, die sich im Stillen über die „Die Kantate" lustig macht. Das ist keine imaginäre Vergangenheit. Das ist Gegenwart, das ist Realität... zeigt und Requisite. Pause Die Vergangenheit muß geköpft werden, mit einem scharfen Schnitt, läßt das Fallbeil hinuntersausen Wir können nur in der Gegenwart leben. Um das Wohnzimmer herum wird es dunkel, nur eine bläuliche Linie führt zur Tür. Dasselbe Licht gibt dem Zimmer ein irreales Ambiente. ROMÁN öffnet nachdenklich die Tür, geht hinaus, kommt zurück Also... das ist alles so widersprüchlich... das Leben... die Revolution... wir selbst... ganz besonders wir selbst... VICTORIA führt die Hand zum Mund Bis sie dir eines Tages einen Knebel anlegen... Dann können wir uns nicht mehr widersprechen. ROMÁN Vielleicht hast du recht. Vielleicht sollte man schweigen. Jedenfalls wäre es gesünder. VICTORIA Schschsch... Die Wände haben Ohren. ROMÁN Hier gibt es keine Wände, Victoria. VICTORIA sieht aus dem Fenster Aber die Kastanienverkäuferin... Sie ist da, Tag und Nacht... Kommt dir das nicht verdächtig vor? ... Sie er-

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innert mich an jemanden... Das ist die Dicke! umarmt ihn verzweifelt Sie beobachtet uns auf Schritt und Tritt, Román! R O M Á N beruhigend Komm... Es gibt keinen Grund, sich aufzuregen... VICTORIA Doch... Und Rubén? Ob ihm etwas passiert ist? R O M Á N Was soll ihm passiert sein? VICTORIA Wenn er etwas gesagt hat, was man besser nicht ausspricht... Wenn die Dicke... R O M Á N Das war in New York doch genauso. Beba liebt den Tratsch. Denk an die Geschichten, die sie aus der Fabrik mitbrachte. VICTORIA Sicher, aber da war sie anders. Jetzt steckt sie überall mit drin, seit sie im Zentralkomité ist, stellt sie andere Fragen... du weißt, was ich meine? R O M Á N langsam Ich fürchte ja... Er läßt sich auf den Stuhl vor der Schreibmaschinefallen. Langsam hebt er die Hände zur Tastatur. Im Hintergrund erscheint Miguel Angel in Uniform, verschwitzt, müde, leicht betrunken. Er tritt ins Zimmer, stößt gegen einen Stuhl, taumelt. Das Licht wird langsam wieder hell. Er geht ans Fenster, streicht sich über das Gesicht, greift sich an die Gurgel. Wenn er sich 'umdreht, tritt er auf Victorias Kleid. Er hebt es auf, sieht es an. Dann legt er sich aufs Sofa, deckt sich mit dem Kleid zu und schläft sofort ein. Pause M I G U E L ohne sich zu erheben, mit schlaftrunkener Stimme Miguel Angel Fernández hat ein für alle Mal beschlossen, folgenden Text zu schreiben, damit Victoria des Volkes sich nicht so übernimmt, steht auf und wiederholt seinen Auftritt „Miguel Angel, total betrunken, erscheint auf der Bühne, die der dämliche Beleuchter nach Anweisungen des Autors fast völlig in Dunkelheit belassen hat. Opfer eines internationalen Komplotts zwischen Marxismus-Leninismus und Yankee-Imperialismus steht die Dicke des Volkes schwitzend und stinkend auf der sonnendurchglühten Plaza Cívica, wo sie schließlich von einem von Klerus, Konterrevolution und Yankee-Imperialismus angeordneten gewaltigen Wolkenbruch erlöst wird. Sie sucht Schutz in Thalias Tempel und tritt klitschnaß ins Teatro Nacional. Dem Sigismund Komplex entsprechend hereinstolpernd findet sie sich im Netz von „Das Leben ein Traum" gefangen und sucht den rettenden Anker im Monolog, deklamiert mit dem Kleid in der Hand Hilf mir Himmel, was erblicke ich? Himmel, was muß ich entdecken? sieht das Kleid an. Ich erschau es ohne Schrecken, Hält ein Zweifel gleich zurück mich.

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Fiel ein Traumgesicht mich an? Doch ich wache, tu ich's doch! Miguel Angel heiß ich noch? wendet sich an Román. Sagt mir, welche fremde Kraft Hält die Sinne mir umwunden, Daß man mich, vom Schlaf gebunden, Hier an diesen Ort entrafft? deklamiert in der Mitte der Bühne. Aber sei es, was es sei Soll ich mich damit befassen? Ich will dienen, dienen lassen: Komme, was da mag, herbei!" Pause, denkt nach Seht ihr, daß Calderón Kommunist war? Paßt auf. Ja. „Die Revolution ist wie eine Melone, außen grün und innen rot" erster Vers, „aber sei es, was es sei", paßt wie die Faust aufs Auge. Und wenn es richtig ist, daß „mit der Revolution alles und ohne Revolution nichts" geht, wer wird sich dann noch „damit befassen"? Das heißt so viel wie sich die Zunge in den Arsch stecken... „Ich will dienen, dienen lassen..." Wache schieben, freiwilliger Arbeitsdienst, Miliz... und „Komme, was da mag, herbei" begeistert abschließend „Vaterland oder Tod! Wir werden siegen!" in anderem Ton Wenn die Dicke das hört, wird sie mich für den Lenin-Preis vorschlagen. ROMÁN Ich dachte, du bist einverstanden mit allem? MIGUEL Natürlich. Selbstverständlich! In einer unerwarteten Anwandlung von Zärtlichkeit steht er auf und will Román umarmen. Auch wenn du es nicht glaubst, Román, im Grunde liebe ich dich wie einen Bruder, und ich kann nicht glauben, daß du die ganze Scheiße frißt! ROMÁN macht sich los Laß das, Miguel Angel. Du bist betrunken. MIGUEL Warum, glaubst du, habe ich mich betrinken müssen? ... Ich habe den ganzen Tag „Vaterland oder Tod! Wir werden siegen!" gebrüllt. VICTORIA Du hast aufs Ganze gesetzt. Du hast deine Seele vom ersten Moment an dem Teufel verkauft. MIGUEL Und mit welchem Recht verurteilst du mich? Wer bist du, den ersten Stein zu werfen? VICTORIA DU mußt nicht zum Neuen Testament greifen! MIGUEL DU hast angefangen, vom Teufel zu sprechen. Und hast du nicht mit Fidel Spaghetti gegessen? VICTORIA Eine Tasse Michkaffee... MIGUEL Ich bin der Dichter der Revolution, und du bist Victoria des Volkes. Wir können uns gegenseitig nichts vormachen. Ich setze die Lyrik der Metallarbeiter und Busfahrer um, die Fidel schreibt, und

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du wiederholst sie A b e n d für A b e n d . W e n n du darunter leidest, was glaubst du, wie ich mich fühle? V e r d a m m t e Scheiße! ... Ach...! Ich hasse es, so offen zu reden... R O M Á N W a r u m ? W a r u m können wir nicht ehrlich miteinander reden? M I G U E L Das ist nicht möglich! Man kann vernünftig miteinander reden, ja... mit dem Bauch... den M u n d voller Scheiße... A b e r m a n kann nicht ehrlich miteinander reden... unmöglich! ... Erinnerst du dich, wie uns Fidel in der Nationalbibliothek sagte, jeder könnte sagen, was er denkt? ... Weißt du, w o die Leute sind, die sagten, w a s sie dachten? ... In einen geschlossenen M u n d k o m m e n keine Fliegen. Und besser hältst du den Mund, solange du lebst. VICTORIA Weißt du, wo Rubén bleibt? M I G U E L Der scheißt sich vor Angst in die Hosen. ROMÁN Angst, wovor? M I G U E L Vor allem und j e d e m . Alle haben Angst. Das ist eine Sicherheitsvorkehrung... Überlebensinstinkt... Aber Rubén hat Grund, sich zu fürchten. VICTORIA Was meinst damit? M I G U E L Er ist schwul. VICTORIA Ja und? Große Neuigkeit. M I G U E L E S braut sich w a s z u s a m m e n für die T u n t e n . Revolution und Homosexualität lassen sich offenbar nicht miteinander vereinbaren. Man kann kein guter Revolutionär sein und eine gute Tunte... R O M Á N Das gibt doch überhaupt keinen Sinn. M I G U E L Für dich vielleicht nicht, aber für das Zentralkomité... VICTORIA Ja, und was ist mit Raúl Castro? M I G U E L Der spielt in beiden Teams. R O M Á N Armer Rubén! M I G U E L Für ihn ist das eine Frage von Leben oder Tod. VICTORIA Und Beba? M I G U E L Neulich hat sie ihm einen Vortrag über M a r x i s m u s gehalten und hat ihm von der Verfolgung der H o m o s e x u e l l e n unter Stalin erzählt. Dann hat sie ihm mit Majakowskis Leben und Leidenschaft Angst gemacht. Sie sagte, der hätte S e l b s t m o r d b e g a n g e n , weil er schwul war. VICTORIA Aber woher weiß die denn das? M I G U E L Die Dicke weiß mehr als wir alle z u s a m m e n . Wißt ihr noch, wie wir uns in N e w York über sie lustig gemacht haben? R O M Á N Ich habe mich nie über Beba lustig gemacht. M I G U E L Wie sie immer mit Tüten bepackt aus d e m Supermarkt kam?

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ROMÁN Wer wird das vergessen? Ich sehe sie noch vor mir. Und dann hat sie sofort aufgeräumt. Alles an seinen Platz. VICTORIA Und ab in die Küche und für uns alle gekocht. MIGUEL bewegt sich rasch hin und her wie in der Küche Der Braten! Huhn auf Reis! Die schmutzige Wäsche...! VICTORIA

ROMÁN MIGUEL ROMÁN Tag MIGUEL VICTORIA

lacht

W i e sie g e k o c h t hat!

lacht Wie wir gegessen haben! Hackfleisch, gebratene Fleischklößchen, gedünsteten Kabeljau! Sie hat sich nie beschwert, obgleich sie immer einen schweren hinter sich hatte; die Arbeit in der Fabrik, Überstunden... steigert sich zur Begeisterung Schwarze Bohnen, Erbsensuppe...! Alles freiwillig.

MIGUEL Schlagsahne! Milchreis! Karamelpudding! Törtchen! VICTORIA nachdenklich Manchmal habe ich gedacht, das sei wie Theater, wenn eine Szene immer und immer wieder gespielt wird... als spielte sie eine Rolle. MIGUEL trocken Wie kommst du darauf? VICTORIA

Hast du das nie gedacht?

MIGUEL Damals nicht. Aber später. ROMÁN Aber das war kein Theater, das war viel zu natürlich. MIGUEL Kann Theater nicht auch ganz natürlich wirken? ROMÁN Doch, du hast recht, das kann es. VICTORIA Jetzt ist sie ganz anders. MIGUEL Seit sie hier ist, hat sie keinen Fuß mehr in die Küche gesetzt. ROMÁN Wir haben uns alle verändert. VICTORIA Bei ihr ist es, als wäre sie eine vollkommen andere Person. ROMÁN nachdenklich Wenn ich darüber nachdenke, war damals alles zu perfekt, zu natürlich. Als wollte sie, in dem Augenblick, in dem sie hereinkam, etwas verbergen. MIGUEL Vielleicht hat sie mir Hörner aufgesetzt. ROMÁN Sogar ihr Humor ist anders. MIGUEL Ich wußte gar nicht, daß die Dicke Humor hat. ROMÁN Weil du sie nie beachtet hast, Miguel Angel. VICTORIA Wir haben uns alle verändert, sicher, aber irgendwie sind wir noch wiederzuerkennen. MIGUEL Die Dicke in der Küche, die Dicke beim Saubermachen, und wenn du willst, die Dicke im Bett. Ich habe sie gesehen und habe sie nicht gesehen... Als wir dann zurück waren, ich weiß nicht, da habe ich plötzlich bemerkt, daß es sie gibt. Sie war anders. Pause Und dann kam die Reise nach Peking. Als sie mir sagte, sie würde nach Peking fahren, war ich total überrascht. Wieso sie? Ich war der Dich-

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ter der Revolution, und wer, z u m Teufel, w a r sie? Pause Und dann b e k a m ich Angst vor ihr. Sie kannte m i c h zu gut. M e i n e Schwächen... Auf der Reise nach Peking kannten alle sie. M a n behandelte sie mit einer Art Hochachtung, vielleicht sogar mit etwas Furcht... Sie duzte sich mit Fidel. Sie sprach mit den Leuten vom Zentralkomité der Kommunistischen Partei, als kenne sie sie ihr Leben lang. wütend Sogar die Chinesen kannten die Dicke! Ich hätte sie aus diesem Fenster werfen sollen, als es noch Zeit war! Jetzt steckt die Dikke im Bund Kubanischer Frauen, im Kulturrat, im Verband Revolutionärer Arbeiter, in der Journalistenschule... U n d mich hat sie im Schraubstock, genau wie den armen Rubén. VICTORIA Dann ist sie... M I G U E L W ä h r e n d wir arglos dahergeredet haben, hat sie nur zugehört und uns beobachtet... Und mich, mich kennt sie wie ihre eigene Westentasche. Ich selbst habe ihr alles in die H a n d gegeben. Ich habe mich über Fidels Tiraden lustig gemacht... lange Pause Ich sitze fest in der Falle. VICTORIA

W i r sollten g e h e n .

verwirrt Gehen? VICTORIA Nach New York. Irgendwohin. M I G U E L geht zur Tür, als wollte er Victoria den Weg verstellen. Nein, Victoria. Das kannst du mir nicht antun, zu Román Sag ihr, sie kann nicht weggehen. Du willst das doch gar nicht, Román! R O M Á N Du kannst doch auch gehen. M I G U E L Was?! Tu mir das nicht an, Román! ROMÁN Du hast die Wahl, Miguel Angel. M I G U E L Das alles verlassen? Die v e r d a m m t e n fünf Jahre einfach vergessen, als hätte ich sie nie gelebt? Begreifst du denn nicht? Ich bin der Dichter der Revolution! R O M Á N A b e r du selbst sagst doch, die Dicke hätte dich im Schraubstock. M I G U E L N i m m das nicht so ernst. Ich bin bloß etwas nervös geworden. Wolltest du denn nicht alles v e r s t e h e n ? Die Revolution und den ganzen Quatsch? R O M Á N Wahrscheinlich hast du mir gerade alles erklärt. M I G U E L Hör zu, Román. W e n n du bleibst, bleibt auch Victoria. Wir bleiben z u s a m m e n , wir drei, wir vier mit Rubén. Z u s a m m e n ist alles leichter... Wenn ihr geht, bin ich allein mit der Dicken... ROMÁN Du kannst gehen. Wir alle können gehen. MIGUEL

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MIGUEL Nein, ich kann nicht. Ich würde alles verlieren. Alles. Sogar meinen Namen. „Die Kantate" wird inzwischen in ganz Lateinamerika rezitiert. Du wirst dasselbe erleben, Román. Du wirst überall aufgeführt werden. Im Teatro Nacional. Sie werden dir Preise verleihen. Das ist ganz einfach. Du mußt nur deinen Spruch aufsagen. Dies und das übersehen. Sagen, was die Leute hören wollen. Genau wie auf dem Theater. Du bist doch Dramatiker... Du wirst sehen, das ist nicht schwer. Ein bißchen Disziplin... Die Dicke... manchmal denke ich, sie ist sogar ein bißchen stolz auf mich... „Die Kantate" sitzt wie ein Maßanzug. Du kannst das auch erreichen. Du wirst überall aufgeführt werden. Man wird dich ins Englische übersetzen, ins Russische, Tschechische... Egal, was du schreibst... Weil es von hier kommt, wo eine Revolution gesiegt hat, die den Yankee-Imperialismus zum Teufel gejagt hat. Überlege es dir, Román. Laß dich nicht erschrecken von meiner Metapher mit dem Schraubstock. Sie werden dir Puderzucker in den Hintern blasen, Román. Ein kubanischer Hintern! Ein marxistisch-leninistisch-kubanischer Arsch. Egal welche Scheiße du schreibst, es ist immer kollektive, castristisch-leninistische Epik... Geh nicht, Román, was wird aus dir im Exil? Das Licht wird langsam schwächer. Die beiden Männer stehen schließlich im Dunkeln. Beba tritt auf, bleibt einen Augenblick im Türrahmen stehen. Sie trägt einen olivgrünen Rock, gleichfarbige Bluse, Schnürschuhe, beigefarbene Strümpfe. Sie wirkt korpulent und hart. Das Haar hat sie zu einem strengen Knoten frisiert. Sie lächelt nachsichtig, wenn sie sich umsieht, bleibt bei dem Stuhl stehen, wo früher der Kamin war, streicht über die Lehne, als wollte sie sehen, ob Staub gewischt wurde. Sie nimmt den Text, der auf dem Stuhl liegt, blickt dann aus dem Fenster. Dann geht sie zum Sofa. Wenn sie das Kleid von Victoria sieht, hebt sie es auf, geht zur Schreibmaschine. Sie nimmt das eingelegte Blatt heraus, liest, zerknüllt es und wirft es in den Papierkorb. Sie legt das Kleid sorgfältig über die Schreibmaschine, die 26. Juli Seite nach oben. Sie setzt sich auf das Sofa und liest in dem Text. Sie lächelt obenhin. Victoria kommt herein, läßt die Tür offen. VICTORIA

W i e findest d u es?

BEBA hebt den Kopf Dummheiten. Du denkst sicher dasselbe. VICTORIA setzt sich ihr gegenüber Ja, Zeitverschwendung. BEBA

Schlimmer.

VICTORIA Ja. Aber sicher denke ich das aus anderen Gründen als du. BEBA Das glaube ich auch, aber das ist deine Sache. VICTORIA

DU hast recht.

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BEBA Man kann nicht mehr in bürgerlichen Strukturen leben. Hast du das Román nicht gesagt? VICTORIA Wahrscheinlich nicht auf diese Weise. BEBA Dann werde ich es ihm sagen. VICTORIA

Das w ä r e gut.

BEBA Román hat gute Chancen, wenn er nicht den Kopf verliert. Román tritt in den beleuchteten Raum, aber Beba sieht ihn nicht gleich. VICTORIA Wir haben alle gute Chancen, wenn wir nicht den Kopf verlieren. Hast du auch einen guten Rat für mich? BEBA Für dich nicht. Du brauchst keine Ratschläge. Du weißt, was du zu tun hast, sieht in den Text Zu schade, daß Román das Stück nicht beenden kann. Ich hätte gern gewußt, wie mein Auftritt ist. VICTORIA Durch die Tür, wie du eben gekommen bist. BEBA Aber nicht in Uniform. ROMÁN Warum nicht? BEBA überrascht über sein plötzliches Auftauchen und leicht verunsichert Warst du die ganze Zeit da? Ich habe dich gar nicht gesehen. ROMÁN DU wirst genauso auftreten wie jetzt. BEBA Bist du sicher? Erinnere dich, ich war immer mit tausend Tüten bepackt. ROMÁN Das war damals. Jetzt bist du immer wie in diesem Augenblick. BEBA wieder selbstsicher Schade, daß du das nicht beenden kannst. ROMÁN Warum nicht? BEBA Ich sagte schon zu Victoria, es nicht mehr möglich in bürgerlichen Strukturen zu leben. VICTORIA Rubén ist begeistert von dem Stück und will es inszenieren. BEBA rasch Ist Rubén hier gewesen? VICTORIA Nein. Hast du ihn gesehen? BEBA

Nein.

ROMÁN Er müßte lange hier sein. VICTORIA Weißt du etwas über die Gerüchte, die umgehen... Zwangsmaßnahmen gegen Homosexuelle... ROMÁN zu Beba Stimmt das, was man so sagt? BEBA kühl Richtig ist, daß die Homosexuellen ein gesellschaftliches Problem darstellen, das die Revolution zu lösen hat. ROMÁN Das kann man so abstrakt doch nicht beantworten. BEBA Meinst du nicht, die Interessen der Revolution seien vorrangig? ROMÁN nach kurzem Zögern Ja. Fidel sagt „mit der Revolution alles." BEBA

Also...?

ROMÁN Aber was hat das eine mit dem anderen zu tun?

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BEBA Wir haben eine Reihe von Problemen geerbt, die aus den bürgerlichen Strukturen stammen. VICTORIA leicht verärgert Du willst mir doch nicht sagen, in der Sowjetunion gäbe es keine Tunten. BEBA Auf dieser Ebene ist jedes Gespräch sinnlos. ROMÁN Rubén hat die Revolution immer unterstützt. BEBA Dann wird er auch diese Maßnahmen unterstützen. Es geht nicht gegen die Homosexuellen, die Maßnahmen sind vielmehr zu ihrem Besten. Es geht um ihre Umerziehung. VICTORIA

W a s meinst du mit Umerziehung?

ROMÁN Wieso muß Rubén umerzogen werden? Was hat das mit der Revolution zu tun? Das verstehe ich nicht. BEBA Du verstehst nicht, weil du keine solide ideologische Schulung hast. VICTORIA

Aber du.

BEBA Jawohl. Ich bin mein ganzes Leben lang Marxistin-Leninistin gewesen. VICTORIA Das sagst du doch nicht nur, um Fidel zu gefallen? BEBA Nein. Schon bevor ich geheiratet habe, schon bevor ich in New York war, habe ich für die Partei gearbeitet. VICTORIA Das hast du aber gut geheim gehalten. Weiß Miguel Angel das? BEBA ES hat ihn Mühe gekostet, es zu begreifen... Er hat immer gedacht, ich hätte keine Ahnung. Ein Arbeitstier, das Überstunden in der Küche macht. VICTORIA Armer Miguel Angel, hat nicht bemerkt, wie du ihn betrogen hast. BEBA Er hat mich auf seine Weise betrogen... Aber das war einmal. VICTORIA Für dich, aber auch für ihn? BEBA Um Miguel Angels Umerziehung kümmere ich mich selbst, bestimmt Ihr zieht alles auf die persönliche Ebene. Es geht aber nicht um Rubén, es geht um die Interessen der Revolution. Ein Homosexueller kann die Revolution nicht so vertreten, wie er es muß. Das ist kein individuelles Problem. VICTORIA Aber Rubén ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. ROMÁN Man kann doch nicht über ihn reden, als hätte man ihn nie gekannt! BEBA Ihr fallt immer wieder in eure bürgerliche Denkweise zurück. VICTORIA DU wirst uns umerziehen müssen.

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BEBA Wenn ihr immer in persönlichen Termini redet und euch auf Rubén und nicht auf das Problem bezieht, gewinnt ihr keinen Abstand und könnt keine objektive Position einnehmen. VICTORIA Heißt das, Román und ich werden auch umerzogen. BEBA leicht verärgert Das habe ich nicht gesagt. Wenn ein Individuum innerhalb der revolutionären Parameter nicht funktioniert, muß dieses Individuum umerzogen werden. Heiße es nun Rubén oder sonst wie. Ganz zu schweigen davon, daß es ungerecht ist, wenn die einen Revolution machen und die anderen Liebe... oder so was... ROMÁN Dann mußt du halb Kuba umerziehen, den Schraubstock da ansetzen, wo es am meisten schmerzt... da, wo die Schuld sitzt... am Gehirn... am Herzen... am Geschlecht... Wer könnte das besser als du, Beba. BEBA ZU schade, daß du dich auf diese Ebene begibst, Román. Ich habe immer gedacht, du würdest es verstehen. ROMÁN Nein, Beba. Ich will nicht, daß du mich umerziehst. BEBA Ich fürchte, Rubén versteht noch weniger unter diesen Umständen. ROMÁN Was heißt „unter diesen Umständen"? BEBA ES tut mir sehr leid, aber heute hat Fidel mit mir gesprochen und gesagt, daß Rubén das Teatro Nacional nicht leiten kann, daß er jemanden braucht, der eine solidere revolutionäre Schulung und eine stärkere Persönlichkeit hat, auch wenn er nicht so viel vom Theater versteht. ROMÁN Wer das Teatro Nacional leiten soll, muß logischerweise auch etwas vom Theater verstehen. BEBA Das habe ich ihm auch gesagt, aber er bestand darauf, daß der Sieg der Revolution eine völlig neue Vorstellung von der Funktion des Künstlers in der Gesellschaft fordert, und daß... und daß Rubén nicht unbedingt die Persönlichkeit ist, die diese neue Vorstellung rüberbringen könnte... Das hat er gesagt... Also, wenn ihr mir nicht glaubt, wenn ihr weitere Erklärungen braucht, wendet euch an ihn. VICTORIA Und wen wird man mit der Aufgabe betrauen? BEBA Fidel hat mich gebeten, die Leitung des Teatro Nacional zu übernehmen. Wie vorher Román, erscheint Miguel Angel aus der Dunkelheit und tritt in das Wohnzimmer. Beba wird unsicher in Situationen, die ihr zu „theatralisch" erscheinen. Die anderen beginnen zu „spielen". MIGUEL küßt Beba auf die Wange Gratuliere! Jetzt haben wir es geschafft! BEBA überrascht Was machst du denn hier?

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ROMÁN Miguel Angel erscheint genau im richtigen Moment, Beba, zu Victoria Das müssen wir feiern. VICTORIA steht auf Natürlich. Ich mache uns ein paar Drinks. BEBA Wenn du willst, gehe ich... VICTORIA Nein Beba, kommt gar nicht in Frage. Heute bin ich dran. Ich kenne den Weg. am Fenster wendet sie sich um Siehst du? Du bist so hereingekommen, wie du jetzt angezogen bist. Román entgeht kein Detail, zu Román, lachend Die Klingel klingt vielleicht ein bißchen anders, aber man tut, was man kann. ab. BEBA unbehaglich Ich hoffe, Rubén nimmt es nicht zu persönlich. MIGUEL Wieso denn? Fidel selbst hat dich doch darum gebeten. BEBA Richtig. Während des Aufmarsches hat mich Fidel auf der Präsidenten Tribüne damit überrascht. Ich war wie versteinert. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, aber ich konnte ja nicht nein sagen. Es ist für alle das Beste. MIGUEL Wir alle verstehen, daß du dich opfern mußt, Beba. ROMÁN DU hast den Moloch am eigenen Leibe erlebt, Beba. Es ist nur gerecht, daß du jetzt entschädigt wirst. BEBA Das ist keine Entschädigung. Der Revolution zu dienen ist ein Privileg. MIGUEL Schreib das auf. Das ist ein klares Wort. Victoria kommt mit einem Tablett und fünf Gläsern. Sie setzt es auf dem Tisch ab, reicht Beba ein Glas. Die anderen nehmen sich selbst. Um das Zimmer ivird es dunkler. VICTORIA Rubén muß jeden Augenblick kommen, hebt ihr Glas Prosit! MIGUEL Auf die Leiterin des Teatro Nacional! BEBA A u f die Revolution! ROMÁN A u f d a s T h e a t e r !

Ein bläuliches Licht führt zur Tür des Zimmers, es greift auf das Zimmer über und gibt ihm ein irreales Ambiente. VICTORIA Warum ist Rubén noch nicht hier? Ob ihm etwas zugestoßen ist, Beba? BEBA ES wird schon nichts Ernstes sein. VICTORIA Was meinst du, Román? ROMÁN Ich weiß nicht. Miguel Angel geht in die Dunkelheit hinein. VICTORIA geht ans Fenster und sieht hinaus Ich habe die Kastanienverkäuferin wiedergesehen. Pause Einen Augenblick lang dachte ich, ich sei in New York. BEBA Wir sind in Kuba.

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Ich finde die Rekonstruktion ist ziemlich genau, zu Román, lachend Bis auf die kleinen Unterschiede. ROMÁN auf das Spiel eingehend Meinst du nicht, Beba sollte wieder mit Tüten beladen hereinkommen? VICTORIA In Uniform? lacht Das FBI würde sie sofort als Staatsfeind Nr. 1 verhaften. ROMÁN Ist sie das nicht? BEBA steht auf Ich finde das nicht komisch. VICTORIA K o m m schon, Beba. Das war doch nur ein Scherz. BEBA Ich bin nicht mehr die Dicke, die für alle eure Scherze herhält. VICTORIA falsch Wie k o m m s t du denn darauf? Du bist die Leiterin des Teatro Nacional. Nicht wahr, Román? ROMÁN Fidel persönlich hat sie darum gebeten. BEBA unsicher, weil sie Miguel Angel nicht sehen kann Es ist Zeit zu gehen, Miguel Angel. VICTORIA Aber du kannst doch jetzt nicht gehen, Beba. ROMÁN Nein, nein, Beba wird nie gehen. Beba ist die, die bleibt. VICTORIA Und Román möchte, daß du noch einmal hereinkommst. ROMÁN Richtig. Mit Tüten bepackt, aber in Uniform. Ich möchte sehen, wie das aussieht. BEBA wendet sich in die Dunkelheit Gehen wir, Miguel Angel. ROMÁN Dies ist das Appartement von Beba und Miguel Angel. Wir sind es, die gehen müssen. BEBA drohend Wir sind in Kuba. Vergeßt das nicht. VICTORIA lachend zu Román 1 9 6 3 . . . ROMÁN lachend zu Victoria ...auf der Bühne des Teatro Nacional. VICTORIA stellt sich Beba in den Weg Dann macht es noch weniger Sinn. W e n n Fidel dich zur Leiterin des T e a t r o N a c i o n a l ernannt hat, kannst du nicht gehen. Wir müssen gehen. ROMÁN deklamiert Dies ist dein Haus, Fidel. BEBA wieder gefaßt Schön. Ich bin die Leiterin des Teatro Nacional, drohend Also habt ihr zu verschwinden. VICTORIA sieht in irgendeinen Text Aber R o m á n hat hier keinen A b g a n g notiert. BEBA Den Abgang bestimme ich. VICTORIA Nein, nein, das macht Román. Er ist der Autor. BEBA verächtlich Du tust mir leid, Victoria, bestimmt Der Autor ist die Revolution. ROMÁN Außerdem ist Rubén noch nicht da. VICTORIA Román, wohin hast du Miguel Angel gestellt? VICTORIA

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ROMÁN Das war Beba. Die hat ihn in den Kulissen fest im Schraubstock. VICTORIA Armer Miguel Angel! Wer hätte das gedacht! BEBA tritt in die Mitte des Raums Das wird euch den Kopf kosten, alle beide. ROMÁN tritt Beba wütend in den Weg Richtig. Darum habe ich die Guillotine auf die Bühne bringen lassen. Wenn du mir den Schraubstock am Gehirn ansetzen willst, dann wirst nicht du diejenige sein, die ihn zudreht, Beba, keiner von euch. Ich werde es sein, ich allein, in meiner eigenen Welt, zu der du keinen Zugang hast. Ich werde mich nicht verkaufen, Beba, wie so viele andere. Mit mir wirst du nicht spielen. Mir wirst du nicht den Schraubstock ansetzen wie so vielen Autoren, allen voran Miguel Angel. Nein, zähle nicht auf mich. Er geht zur Schreibmaschine, reißt das Kleid herunter und wirft es vor die Guillotine. Das ist mein Stück, und wenn ich der einzige sein soll, der es lebt und aufführt. BEBA wieder sehr selbstbewußt Wie naiv du bist, Román! Der einzige, der hier Theater schreibt, ist Fidel Castro... Er ist der einzige Dichter, der einzige Romancier, der einzige Dramatiker... Hier wird man nichts anderes schreiben, als das, was er sagt. Miguel Angel weiß das genau... Was hast du dir eingebildet? Daß ein Schreiberling sich der Geschichte bemächtigen kann? Wie dumm du bist! Hier hat sich jeder anzustellen. Und wer das nicht tut, der muß in der Tat gehen, auswandern, für immer verschwinden. Hau doch ab! ... Dachtest du wirklich, du würdest das Stück für Rubén schreiben? Weißt du, was mit ihm passiert ist? Ich werde es dir jetzt sagen, damit du später nicht sagst, du hättest es geschrieben... Rubén ist verhaftet worden: Er ist im Gefängnis. Zusammen mit seinen schwulen Brüdern, mit Prostituierten und Drogensüchtigen. Wie ein ganz gewöhnlicher Krimineller. Das Zimmer wird rasch dunkel. Rubén erscheint in einem bläulichem Licht. Er hat Spuren von brutalen Schlägen im Gesicht. Er taumelt. An der Tür bleibt er stehen, lehnt sich an. Ein heller Lichtstrahl fällt auf die Guillotine. Rubén breitet die Arme aus und sieht sich lange um. RUBÉN Das Theater ist die einzig mögliche Wahrheit. Wir sollten fliehen. Fliehen in die Bilder, die unsere Phantasie erdacht hat. Dunkelheit

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Dritter Akt Ein Sommerabend ungefähr 20 Jahre später in einem eleganten Penthouse in New York. Eine breite Glastür führt im Hintergrund auf eine Terrasse, dahinter die Wolkenkratzer von Manhattan. Ein Sofa steht so, daß man auf die Stadt blicken kann. Auf der einen Seite ein geschlossener Barschrank, gegenüber ein Tisch mit einer Schreibmaschine und einigen Büchern, alles sehr ordentlich. Die Eingangstür ist an derselben Stelle wie im ersten Akt. Wenn der Vorhang aufgeht, ist es fast Nacht, letztes Abendrot hinter den Wolkenkratzern. Später wird der Himmel ganz dunkel, und in den Häusern gehen die Lichter an. Das Telephon klingelt. Victoria kommt in einem sehr eleganten blauseidenen Etuikleid herein. Sie trägt keinen Schmuck, ist geschmackvoll dezent geschminkt und frisiert. Sie ist gealtert aber sehr gepflegt. VICTORIA geht ans Telephon Hello! ... Ja, Beba, ich bin's... Nein, mach dir keine Gedanken deswegen... Das verstehe ich gut... Sicher, es ist so viel... Ja, ja, natürlich... Nein, Rubén ist noch nicht da... Natürlich wird er kommen... Sicher, es war doch sein Vorschlag... Román kommt herein. Er trägt einen eleganten Anzug, sieht sehr gut aus, ist gelassen und souverän. Er geht an den Barschrank, öffnet ihn, mixt zwei Drinks. Aber wir freuen uns... Wir erwarten euch... Bis dann, Beba. R O M Á N reicht ihr ein Glas Was gibt es? VICTORIA Sie kommen etwas später... Ein Cocktail mit der rumänischen Delegation... Ein Empfang in der sowjetischen Botschaft... Irgend so etwas... R O M Á N Prosit! VICTORIA Prosit! geht zur Glastür und sieht hinaus Ein herrlicher Blick! Und eine wunderschöne Nacht. Roman lächelt amüsiert, trinkt. Sie spielt sich auf... R O M Á N Wer? VICTORIA Beba. Hat sich tausendmal entschuldigt, die russische Botschaft, die rumänische Delegation, die vielen diplomatischen Verpflichtungen... R O M Á N Kommt es dir nicht komisch vor, daß sie uns nach so vielen Jahren plötzlich besuchen wollen? VICTORIA Das war Rubéns Idee.

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ROMÁN Wir haben uns überhaupt nichts zu sagen... Alles ist gesagt worden, als wir vor zwanzig Jahren Kuba verließen. Er setzt sich, trinkt. VICTORIA Vielleicht will Beba sehen, ob ich sehr alt geworden bin. ROMÁN Ob wir am Hungertuch nagen, wie sie es uns vorausgesagt hat. Pause VICTORIA Ich hätte absagen sollen. ROMÁN Nimm es nicht so wichtig. VICTORIA Was Rubén vorhaben mag? ROMÁN Er wird eine Show abziehen. VICTORIA nach langer Pause Die Vergangenheit ist tot und begraben. Wie das Theater. ROMÁN Was beunruhigt dich dann? VICTORIA Daß Rubén uns mit dieser Idee in eine alberne Situation gebracht hat. ROMÁN steht auf, sieht sich im Zimmer um, grinst Wenn dieser Besuch dich so stört, warum versetzen wir sie nicht einfach? VICTORIA

Wie denn?

ROMÁN SO. Er macht das Licht aus und setzt sich dann wieder zu Victoria auf das Sofa. Wir machen einfach nicht auf. Sie sehen hinaus in die Nacht. Nach einer Weile klingelt es an der Tür. Keine Reaktion im Zimmer. Das Klingeln wiederholt sich. Schließlich steht Victoria auf und öffnet die Tür. Rubén kommt herein. Er ist stark gealtert, unruhig, nahezu erregt. Er trägt einen hellen Sommeranzug ä la Miami Vice mit einem rosafarbenen Hemd und einer gelockerten, lavendelfarbenen Kravatte. Das Jackett ist ihm etwas zu weit. Er macht den Eindruck eines unglücklichen, zerstörten Menschen. Sein Auftreten und seine Erscheinung kontrastieren scharf mit der vorangegangenen stillen Szene. Das Licht im Zimmer wird hell. RUBÉN Warum habt ihr solange gebraucht, um aufzumachen? Erzählt mir nicht, ihr hättet geprobt! VICTORIA DU weißt genau, daß ich nicht mehr Theater spiele. RUBÉN DU spielst immer ein bißchen, Victoria, sieht sie an Du siehst fabelhaft aus, Vicki, darling! Bereit für ein come-back! Die Dicke wird grün werden vor Neid, wenn sie dich sieht. Wie aus einem Film! VICTORIA RUBÉN

So siehst du aus. zufrieden

Findest du?

VICTORIA Ja. Soll ich dir einen Drink machen? RUBÉN Wie immer, einen Cubalibre. VICTORIA DU siehst schlecht aus, Rubén. Ich mache mir Sorgen um dich. Was ist los mit dir?

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Nichts, Vicki, darling. Ich schlafe schlecht, habe Alpträume... Havanna... Ich kann nicht vergessen... Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie kommen... Monster... VICTORIA umarmt ihn Rubén, beruhige dich. Laß Beba dich nicht in diesem Zustand sehen. RUBÉN läßt sich ins Sofa fallen Ich bin wirklich am Ende! R O M Á N Wir haben schon gedacht, sie gar nicht zu empfangen. RUBÉN entsetzt Was? Sie nicht empfangen? RUBÉN

ROMÁN

Ja. Die Tür nicht a u f z u m a c h e n .

springt erregt auf Seid ihr verrückt geworden? Er verhält sich, als wäre er völlig ausgerastet. Das ist alles sorgfältig vorbereitet! VICTORIA Was soll das heißen? Wir haben nichts vorbereitet. RUBÉN Das dürft ihr nicht! Er rennt erregt im Zimmer auf und ab. R O M Á N Aber du bist in keinem guten Zustand, um ihnen zu begegnen. RUBÉN Das könnt ihr mir nicht antun! Er versucht, sich zu beruhigen, glättet seine Haare, seinen Anzug, zieht die Krawatte zurecht. Hört zu, ich beruhige mich ja schon... ROMÁN Sie werden denken, du seist in dieser kapitalistischen Welt verrückt geworden, genau wie sie es dir vorausgesagt haben. Du gibst ihnen das Gefühl von Genugtuung, wenn du dich so aufführst. Auf die Idee, sie hätten Dir das angetan, werden sie ganz bestimmt nicht kommen. RUBÉN Und wir sollen sie so davonkommen lassen? Die Dicke bepackt mit Paketen von Bloomingdales und Sacks? Das kann ich einfach nicht zulassen! geht erregt auf und ab, bleibt stehen Wo hast du diesen Text, „Das kurze Leben", den du nie zu Ende geschrieben hast? R O M Á N Was für ein kurzes Leben? RUBÉN Das Stück, das ich im Teatro Nacional aufführen wollte, als... R O M Á N Keine Ahnung. Mein Gott, ich habe seit 2 0 Jahre nicht mehr daran gedacht, Rubén. Seit 20 Jahren lebe ich ein langes Leben. RUBÉN Das sind deine 2 0 Jahre, nicht meine. Außerdem fehlen dir seit 20 Jahren zwei Figuren. Heute Abend haben sie ihr come-back. R O M Á N Kein Interesse. RUBÉN Das glaube ich dir nicht. Du hast sie immer im Kopf gehabt. So wie ich meine Alptraum-Monster. R O M Á N Ich behaupte nicht, ich trüge keine Monster mit mir herum... RUBÉN Das ist eine einmalige Gelegenheit! Das ist ein Thriller! VICTORIA Einer, bei dem einem die Haare zu Berge stehe? RUBÉN Ja, ein echter Thriller. Von dem Augenblick an, als ich erfuhr, daß die Dicke und Miguel Angel nach New York kommen, denke RUBÉN

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Matías Montes

Huidobro

ich an nichts anderes mehr... wie ein Revolverheld agierend Ich habe den Finger am Abzug und ziele auf den Kopf der Dicken. Das Hirn spritzt nach allen Seiten weg... Alle sind tot. Platt, wie Kakerlaken! ... Der Verbrecher kehrt immer an den Ort seines Verbrechens zurück: Die Dicke klingelt an der Tür... Und, plaff! ... Vicki, darling, ich denke an nichts anderes mehr... Wie ich sie ersticke... erwürge... aus dem Fenster werfe... Jetzt führe ich wieder die Regie: die Guten gegen die Bösen. Das wird ein Thriller, Román! Er öffnet das zu weite Jacket. Ein Revolverhalfter kommt zum Vorschein. Er zieht die Waffe. Victoria weicht erschrocken zurück. Román hat sich nach kurzer Überraschung gefaßt. ROMÁN Du meinst es also ernst? RUBÉN

D a s ist k e i n W i t z .

VICTORIA Eine völlig verrückte Idee! Wie kommst du nur darauf? RUBÉN zu Román Gefällt sie dir? ROMÁN Nicht übel. Aber ich denke, du solltest mir die Waffe geben. Sie müssen gleich kommen. VICTORIA Sie könnten etwas merken. ROMÁN Außerdem bin ich der Autor des Stücks. RUBÉN DU willst es also zu Ende bringen? ROMÁN Ja. Aber den Schluß schreibe ich. Gib mir die Waffe, Rubén. RUBÉN Aber ich führe Regie. Ich kann die Details bestimmen. ROMÁN Nein, das lasse ich nicht zu. Du wirst mir das Stück nicht mit einem verrückten Ende versauen. Ich setze den letzten Punkt. Gib mir die Waffe, Rubén. RUBÉN Nein, nein. Ich muß sie hinrichten. VICTORIA Hast du vollkommen den Verstand verloren? RUBÉN Im Gegenteil. Heute Abend werde ich ihn wiederfinden. ROMÁN Du wirst Beba den Gefallen tun, dich in einem so bejammernswerten Zustand zu zeigen? RUBÉN

Ich w e r d e sie u m b r i n g e n .

ROMÁN Niemanden wirst du umbringen. RUBÉN Nach allem, was sie mir angetan hat? ROMÁN So geht das nicht, Rubén. Benimm dich wie ein Mann. RUBÉN hysterisch Ein Mann! Was glaubst du denn, was sie von mir erwarten?! ... Ich werde nie wieder sein können, was ich früher war. Sie werden auf ewig meine Henker bleiben! Román umarmt Rubén voller Mitgefühl. Dann versucht er ihm die Waffe abzunehmen. Aus der Umarmung wird ein Kampf. Rubén kann sich befreien. Er springt zum Lichtschalter, löscht das Licht. Es klingelt an der Tür. Konfusion in dem nur von den Lichtern der Stadt erhellten Zimmer.

Exil

299

Es klingelt noch einmal. Victoria macht das Licht an. Die Waffe ist nicht zu sehen. Es klingelt zum dritten Mal. Alle sehen sich an. Rubén öffnet. Beba und Miguel Angel erscheinen. Miguel Angel trägt einen dunklen Anzug, er sieht gut aus, wirkt aber etwas steif. Beba trägt ein dunkles Kleid mit einer dicken Brosche. Ihre Schulterpolster unterstreichen ihre kräftige Statur. Hinter der mißlungenen Eleganz ist die militante Funktionärin präsent. Rubén begrüßt beide übertrieben herzlich, umarmt und küßt sie. Es entsteht eine peinliche Sitution, die die anderen mit „Natürlichkeit" zu überbrücken suchen. Rubén zieht sich zurück und beobachtet. VICTORIA Beba! M I G U E L Román! R O M Á N Miguel Angel! BEBA Victoria! M I G U E L Victoria! BEBA Román! VICTORIA Miguel Angel! ROMÁN Beba! V I C T O R I A und R O M Á N Kommt doch herein! Allgemeine Verlegenheit. Román schließt die Tür und lehnt sich dagegen. So eine Überraschung! R O M Á N Wie schön, daß ihr gekommen seid. VICTORIA D U hast dich überhaupt nicht verändert, Beba! BEBA Sag das nicht. Die Jahre gehen an niemandem spurlos vorbei. Aber du hast dich nicht verändert. R O M Á N D U siehst gut aus, Miguel Angel. M I G U E L D U auch. VICTORIA Aber setzt euch doch, bitte. Beba und Miguel Angel setzen sich auf das Sofa. Victoria wählt einen Sessel ihnen gegenüber. Román bleibt stehen. R O M Á N Wieviele Jahre haben wir uns nicht gesehen? M I G U E L Zwanzig Jahre, oder? VICTORIA Wie die Zeit vergeht! BEBA Ein ganzes Leben. RUBÉN Oder ein ganzer Tod. VICTORIA D U nun wieder, Rubén. BEBA Rubén ist noch ganz derselbe. Er hat sich überhaupt nicht verändert! Nicht wahr, Miguel Angel? M I G U E L sieht ihn fest an Du hast recht. Er hat sich nicht verändert. BEBA Ganz derselbe! Nicht wahr, Victoria? R O M Á N sehr höflich Was möchtet ihr trinken?

300

MIGUEL RUBÉN ROMÁN MIGUEL BEBA

Matías Montes

Huidobro

Was du hast, Román. mit Nachdruck Dasselbe wie immer! zu Miguel Angel Dasselbe? ein wenig verwirrt Dasselbe. Für mich auch.

ROMÁN

W i ß t ihr n o c h ?

MIGUEL

Natürlich.

RUBÉN Für mich auch einen Cubalibre. BEBA Románs Spezialität! Ich werde nie vergessen, wie gut er den macht! Nicht wahr, Miguel Angel? MIGUEL etwas verwirrt Aber sicher, sicher. RUBÉN Wenn ihr jetzt aber lieber Wodka trinkt... BEBA Nein, Rubén! Wodka kann ich nicht ausstehen! Er ist viel zu stark. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schwierig in Moskau das für mich ist, wo man mit nichts anderem anstößt, zu Victoria Magst du ihn? VICTORIA Hier trinkt man ihn mit Orangensaft, aber ich mag ihn nicht. zu Román Machst du mir bitte einen Gin-Tonic? Während er sich an der Bar zu schaffen macht, sucht Román nach der Waffe. Miguel Angel beobachtet ihn mißtrauisch. RÜBEN Wißt ihr, was ich gerade denken mußte? BEBA mit starkem kubanischen Akzent A penny for your thoughts. RÜBEN Daß ihr nicht Beba und Miguel Angel seid. Unechtes Gelächter. VICTORIA DU schon wieder, Rubén. BEBA Und wer sind wir, bitte? Sie schlägt Miguel Angel auf den Schenkel. RUBÉN Das passiert doch jeden Tag, Beba. Das weißt du besser als ich. In Rußland machen sie das ständig. Eine andere Person, die genauso aussieht wie du, ja identisch ist mit dir, nimmt deinen Platz ein. Man schickt den anderen. Ich lebe in ständiger Angst, man könnte das mit mir machen. Ohne, daß ich es merke. Wenn ich schlafe. Und daß ich, wenn ich aufwache, nicht mehr ich bin und nicht weiß, wo ich bin... Er geht ans Fenster und schaut hinaus. Peinliches Schweigen. BEBA lacht Das finde ich praktisch, zu Miguel Angel Du nicht auch, wer immer du bist? ROMÁN Das ist Unsinn, Rubén. Warum sollten sie Beba und Miguel Angel nicht gehen lassen? RUBÉN

BEBA RUBÉN

U m sie z u s c h ü t z e n .

Um uns zu schützen? Vor wem? Wir sind doch unter Freunden? Vor einem Attentat.

Exil

301

plötzlich beunruhigt Obendrein noch ein Attentat! steht auf Dann sollten wir besser gehen, Miguel Angel! R O M Á N reicht ihr ein Glas Komm, nimm ihn nicht ernst. Sonst glaube auch ich noch, ihr seid nicht Beba und Miguel Angel, grinst. BEBA setzt sich wieder Ich habe noch zu Miguel Angel gesagt... Wir hätten nicht kommen sollen. VICTORIA Das haben wir auch gedacht. Aber nun sollten wir das Beste daraus machen. BEBA legt die Hand an den Mund, lächelt dann Wenn wir Doubles hätten, wären wir pünktlich gewesen. Sie wären in der Botschaft geblieben... Gekünsteltes Gelächter. VICTORIA Ich seid sehr beschäftigt, nicht wahr? BEBA Das kannst du wohl sagen! Miguel Angel ist eingeladen worden, mehrere Vorträge in der Universität zu halten, und ich leite die kubanische Delegation bei den Vereinten Nationen. Du kannst dir die Arbeit vorstellen! Ich bin total erschöpft! RUBÉN Und dann die stundenlange Suche nach ein Paar Strümpfen. BEBA entrüstet Was für Strümpfe? RUBÉN Strümpfe. In der 14. Straße. Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich dich sah. BEBA Seit hundert Jahren bin ich nicht mehr in der 14. Straße gewesen! RUBÉN Ich hab dich gesehen, Beba. Du hast ein Paar Strümpfe gekauft und einen Koffer. Du konntest dich nicht entscheiden. Und Lippenstifte. Es sah aus, als wolltest du sie alle mitnehmen. Sie waren im Angebot... Und da habe ich zum ersten Mal gedacht, daß du ein Double hast... BEBA E S scheint mir das Beste, daß wir jetzt gehen. R O M Á N reicht ihr einen Drink Ihr seid gerade erst gekommen und wollt schon wieder gehen. BEBA Rubén bringt uns in eine unangenehme Situation. Eigentlich wollten wir gar nicht kommen. VICTORIA lächelt freundlich Komisch, und wir wollten euch die Tür nicht aufmachen. BEBA Wirklich? Wenn du mir das am Telephon gesagt hättest... VICTORIA Du weißt doch, Beba, so etwas tut man nicht. BEBA Aber wir sind doch wie eine Familie! Das hätte man doch sagen können... Nun, man sollte die Tür zum Gespräch offen halten. M I G U E L Also, wenn wir nicht wir sind und ihr nicht ihr seid, welchen Sinn hat dann ein Gespräch? BEBA

302

Matías Monies

Huidobro

VICTORIA steht nachdenklich auf Wir sind nicht wir? ROMÁN Das hat Rubén doch gar nicht gesagt. MIGUEL Ist doch logisch, oder? BEBA unbehaglich, weil sie nicht versteht Ich verstehe nur noch Bahnhof. Diese Spitzfindigkeiten finde ich ziemlich krank. ROMÁN Bedenke doch, es sind so viele Jahre vergangen. So etwas kann dann passieren. Daran ist nichts seltsam. Die Zeit läßt dieses Gefühl von... von Entfremdung entstehen. Pause Weißt du, Miguel Angel, ich hätte dich nicht wiedererkannt. MIGUEL SO sehr habe ich mich doch nicht verändert. Du übrigens auch nicht, mustert Román Aber du hast recht. Ich hätte dich auch nicht wiedererkannt. ROMÁN Wie wenn man sich Kinderphotos ansieht und denkt, das könnte auch ein anderer sein. BEBA Alles Unsinn. Ein Double...? Ich bin nicht unersetzbar. VICTORIA abwesend Das bist du sicherlich... BEBA Niemand ist unersetzbar, Victoria. Jede zuverlässige Genossin könnte meine Arbeit machen. Sie ist plötzlich überrascht über ihre eigenen Worte. Nun ja, wir haben eine anstrengende Woche hinter uns... die vielen sozialen Verpflichtungen... VICTORIA Schließlich seid ihr Sozialisten. Gequältes Gelächter. ROMÁN will das Thema wechseln Rubén hat den letzten Akt von „Das kurze Leben" fertig geschrieben. BEBA Das kurze Leben? Was ist das? VICTORIA Erinnerst du dich nicht an das Stück, das Rubén im Teatro Nacional inszeniert hat, bevor... BEBA versucht sich zu erinnern Ja, ja, irgendwie klingt es mir bekannt. Erinnerst du dich, Miguel Angel? MIGUEL Hattest du es nicht zu Ende geschrieben? ROMÁN Nein. Tatsächlich hatte ich gar nicht mehr daran gedacht. MIGUEL Der letzte Akt endete doch vor zwanzig Jahren... Ich dachte, wir hätten ihn damals... ROMÁN Das ist richtig. Vor zwanzig Jahren haben wir alles gesagt, was zu sagen war. VICTORIA Rubén glaubt, Román hätte es nicht beendet, weil ihr nicht hier ward. Darum ist Beba... RUBÉN

...unersetzbar.

ROMÁN Das D u m m e ist nur, daß ich nicht mehr weiß, wo ich es habe. MIGUEL Ach, war es das, was du die ganze Zeit gesucht hast? ROMÁN sieht Rubén an Ja, genau das habe ich gesucht.

Exil

303

Hast du in der Schublade unter der Schreibmaschine nachgesehen? ROMÁN nutzt den Vorwand, um gründlicher nach der Waffe zu suchen Vielleicht hat Rubén das Manuskript. RUBÉN öffnet seine Jacke Nein, ich habe es nicht. VICTORIA Rubén hat sich in den Kopf gesetzt, d a ß es wie ein Thriller enden soll. M I G U E L Ein Thriller? BEBA Und was ist das? RUBÉN Ein Stück, bei dem dir die Haare zu Berge stehen. BEBA Unsinn! ROMÁN Ich finde es verrückt. Eine Art suspens im Vergessen sollte es sein. Wer erinnert sich denn, w a s vor zwanzig Jahren geschah? RUBÉN Ich erinnere mich genau. MIGUEL Aber niemand will sich daran erinnern, Rubén. VICTORIA W a s Rubén will, ist Theater. U n d ich h a b e mir geschworen, nie wieder eine Bühne zu betreten. BEBA Ach, du spielst nicht mehr? VICTORIA Nein. BEBA Und Román? VICTORIA Román schreibt und hat viel publiziert. Pause. Román reicht Victoria einen Drink. BEBA D U trinkst jetzt Gin-Tonic? VICTORIA Ja. Er hilft mir zu vergessen. Alle trinken schweigend. Román schließt den Barschrank. Rubén schaut aus dem Fenster. Die beiden Frauen plaudern auf natürliche Weise. BEBA Aber du warst doch verrückt nach d e m Theater, Victoria! VICTORIA Das ist lange her... U n s ist es nicht schlecht gegangen in diesen Jahren... BEBA Uns auch nicht. Wir können nicht klagen. VICTORIA Lebt ihr noch in der Villa der Gómez in Miramar... BEBA Ja. Aber wir sind viel im Ausland. ... Ich w a r gerade drei Monate in Paris... VICTORIA Ah, ihr reist also viel... BEBA Ja. J e d e r für sich. So ist die Arbeit. A b e r j e d e s Jahr fahren wir einmal gemeinsam in die Sowjetunion. U n d ihr? VICTORIA In M o s k a u waren wir noch nie. BEBA Ich habe i m m e r H e i m w e h , w e n n ich nicht in K u b a bin... Nirgendwo ist es so schön wie im eigenen Heim. VICTORIA Aber das Haus gehört euch doch nicht? VICTORIA

304

BEBA

Matías Montes

Huidobro

Natürlich nicht. Es gehört dem Staat... Und dieses Appartement?

VICTORIA

Gehört uns.

BEBA ES ist hübsch. Dieser Blick ist phantastisch. Und sehr schön eingerichtet. VICTORIA Ihr wohnt doch auch sehr schön. BEBA Sicher. Ich hätte es lieber etwas moderner... diese antiken Möbel... und zentraler. Aber, wir haben einen Chauffeur, da ist es egal. VICTORIA Ha, das hat Miguel Angel gleich gesagt. BEBA

W a s hat er gesagt?

VICTORIA BEBA

Daß er nicht mit dem Bus zu fahren gedenkt.

W a n n hat er das gesagt?

VICTORIA Vor 20 Jahren. Ich habe es nicht vergessen... Haben jetzt alle bei euch einen Chauffeur? BEBA Natürlich nicht! Miguel Angel und ich, wir sind hohe Funktionäre der Regierung! Weißt du, daß Miguel Angel in den letzten Jahren wundervolle Gedichte geschrieben hat? herrisch Miguel Angel, sag etwas auf! Miguel Angel steht langsam auf, geht zum Schreibmaschinentisch, stellt sich in Positur, legt eine Hand auf die Maschine, fühlt unter der Hülle die Pistole. Er sieht Rubén an. Nun sprich schon, Miguel Angel! Das von dem Mädchen aus Vijin. MIGUEL zögert, befühlt die Waffe, sieht Beba an Das Gewehr geschultert, sieht es auf zu ihm. Es hat keine Angst, das Mädchen von Vijin. Die Napalm-Bombe fällt, und es winkt nur ihm, dem Kommandanten Ho Chi Mihn. Román und Victoria wenden sich ab. Zum Teufel, Rubén! Warum schießt du nicht? Worauf wartest du noch? Das war ein gemeiner Mord an der Poesie! Wütend reißt er den Überzug von der Schreibmaschine und nimmt die Pistole. Willst du, daß ich es selbst tue? Bist du zu feige dazu? Oder willst du noch mehr von dieser Scheiße hören? BEBA Aber, Miguel Angel! MIGUEL

Halte den Mund!

BEBA springt auf Das ist unerhört! Hast du vergessen, wer ich bin? Was bildest du dir ein? MIGUEL Verdammt, Rubén, bringst du sie um, oder soll ich es tun? Das Stück ist zu Ende! Das ist kein Thriller mehr. BEBA drohend Das kann dich teuer zu stehen kommen! geht entschlossen zur Tür Ich gehe jetzt!

Exil

305

schubst sie zurück aufs Sofa Du gehst nirgendwo hin, Beba. Wir sind hier zusammengekommen, um dich zu töten. Er stürzt sich auf sie, packt sie bei den Haaren. Sie ringen heftig miteinander, während der Raum um sie herum dunkler wird. Die anderen sind nur als Schatten gegen das Fenster zu sehen. BEBA Bist du verrückt geworden? Das ist doch eine Falle von Román und Victoria! Warte nur, wenn wir hier wieder rauskommen, dann wirst du es büßen, ihr alle werdet es büßen! M I G U E L Wenn du hier herauskommst! Jetzt zeige ich dir mal, was eine Harke ist! Das hier ist meine Rache für alle die Jahre! BEBA Das glaubst du! Nach zwanzig Jahren hast du nichts gelernt! Ich bin es, die dir sagt, wo es lang geht, mein Lieber. Ich! M I G U E L Das war einmal! BEBA Laß mich los, Miguel Angel! Das gefällt diesen entarteten Typen doch. Dieser Schwuchtel, Rubén, den wir damals hätten erschießen sollen! Und alle die anderen mit ihm! M I G U E L Diese Schwuchtel und ich, wir werden dich jetzt von der Terrasse schmeißen! Nur deshalb bist du hier. Rubén und ich haben alles vorbereitet. Und du hast wie immer nichts kapiert! „Das kurze Leben", der Thriller, die Pistole in der Schreibmaschine... BEBA Alles Lüge! Das denkst du dir aus, um mir Angst zu machen! M I G U E L Die Wahrheit wirst du leider nie erfahren. Denn jetzt wirst du von einem Wolkenkratzer fliegen! BEBA Scheißkerl! Ich hätte dich erschießen lassen sollen. Schon gleich zu Anfang! M I G U E L schlägt ihr ins Gesicht Du wirst hier nicht mehr rauskommen! Nie, nie, nie!!! BEBA weicht in Panik zurück Du bist nicht Miguel Angel! Rubén hat recht! Du hast mir etwas vorgemacht! M I G U E L Haben wir das nicht immer? Du und ich und die anderen? Unser ganzes Leben lang? Uns gegenseitig etwas vorgemacht? Aus Angst, man würde uns den Kopf abschlagen. BEBA zuill zur Tür, Miguel hindert sie daran Ich muß telephonieren! Ein Telephon! Ich muß ihnen alles erklären... RUBÉN Sorry, wrong number. Sorry, wrong number. BEBA entsetzt Ich bin nicht Beba, Miguel Angel. Ich bin nicht die, die du umbringen willst! M I G U E L D U bist die Richtige, darling. BEBA Das kann nicht sein! Wenn ich Beba wäre, würde ich mir das hier nicht gefallen lassen! MIGUEL

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Matías Montes

Huidobro

MIGUEL würgt sie mit beiden Händen Und wenn Rubén und ich unseren Plan ändern? Wenn wir dich gar nicht umbringen? ... Wenn wir dich langsam schmoren lassen? Fest am Haken, so wie du mich alle die Jahre hast zappeln lassen? BEBA hat wieder Oberwasser Das könnte dir so passen. MIGUEL Es paßt. Was du mit so vielen anderen gemacht hast. Tausendmal... Jetzt machen wir es mit dir. Wie viele sind im Gefängnis verschwunden auf ein einziges Wort von dir? ... Jetzt bist du in Ungnade gefallen. BEBA

Unmöglich!

MIGUEL Oh doch. Du hast es nur noch nicht gemerkt. Es ist nämlich völlig egal, ob ich dich umbringe, von der Terrasse schmeiße oder zum Verhör mitnehme nach Kuba. Mich haben sie schon befragt... Und als dein Mann muß ich ja wissen, was über dich zu sagen ist... BEBA

Aber...

Lange Pause, in der Miguel Angel seine Überlegenheit genießt. Ich habe dich immer verteidigt. Jedesmal, wenn sie dir mißtrauten! MIGUEL

Ich nicht.

BEBA Warte nur, wenn wir zurück sind, dann...! MIGUEL Mach dir keine Illusionen. Niemand wird dir glauben, was auch immer du berichtest. BEBA Wenn du mich umbringst, kann ich nichts berichten. MIGUEL richtet sich auf, nimmt die Pistole, die im Handgemenge hingefallen war, und reicht sie Rubén, während der Raum wieder hell wird Ich begnadige dich. Und jetzt gehen wir. Es ist spät geworden. BEBA

Ich g e h e nicht mit dir!

MIGUEL Dann wirst du um politisches Asyl bitten müssen. BEBA Erst wirst du mich töten müssen! MIGUEL Da mußt du Rubén bitten. Rubén zielt auf Beba. Dann sieht er die Waffe an, senkt sie und legt sie wieder unter die Schreibmaschinenhülle. Miguel Angel rückt sich die Krawatte zurecht, streicht Haare und Anzug glatt. Gehen wir. Beba steht auf, streicht sich Haare und Kleid glatt. Román öffnet die Tür. VICTORIA Auf Wiedersehen, Beba. Auf Wiedersehen, Miguel Angel. BEBA MIGUEL

Auf Wiedersehen. Ciao.

Sie gehen. Román will die Tür schließen. Rubén hält ihn zurück. RUBÉN Ich will auch gehen. VICTORIA Warum bleibst du nicht hier? RUBÉN Das ist nicht mehr nötig, Victoria.

Exil

30 7

Bist du sicher? Ganz sicher. ROMÁN Bleib noch, Rubén. Wir sehen uns zusammen die Sterne an. RUBÉN Ein anderes Mal. VICTORIA Versprochen? RUBÉN Versprochen. Sie stehen an der Tür, umarmen sich, die Köpfe gesenkt. Es wird dunkel. Rubén verschwindet und schließt die Tür. Die Lichter der Stadt und die Sterne leuchten intensiv. Román und Victoria wenden sich zum Fenster. R O M Á N Ist es nicht wunderschön? VICTORIA Wunderschön. R O M Á N E S ist gut, hier zu sein. VICTORIA Ist dies... das Exil, Román? R O M Á N Ja. Dies ist das Exil. Er legt den Arm um sie. Sie sehen aus dem Fenster. Dunkelheit. VICTORIA RUBÉN

José Triana Das Fest La Fiesta

Paris 1992 Deutsch von Herbert Araúz

Für María Antonia Rey und René Sánchez voller Bewunderung

Das Fest

311

José Triana: (1931) studierte vor der Revolution in Spanien. 1958 erschien sein erster Gedichtband De la madera de los sueños in Madrid. Wie Eduardo Manet war er mit der Revolution nach Kuba heimgekehrt. 1960 wurden in Havanna El Mayor General hablará de teogonia und Medea en el espejo uraufgeführt. 1962 erschienen die Einakter El parque de fraternidad, La casa ardiendo und La visita del ángel, 1963 La muerte del Ñeque. Triana war Gründungsmitglied der UNIÓN DE ESCRITORES Y ARTISTAS DE CUBA (UNEAC), beobachtete die zunehmende Institutionalisierung des revolutionären Prozesses jedoch mit Unbehagen. 1964 schrieb er La noche de los asesinos. Das Stück wurde 1965 mit dem Preis Casa de las Américas ausgezeichnet und machte Triana weltberühmt. Es ist in einundzwanzig Sprachen übersetzt und nahezu überall aufgeführt worden. 1 Triana zitiert in La noche de los asesinos das uralte Thema des Vatermords, durch den die Söhne ihre eigene Identität suchen. Drei Geschwister proben in einem sich immer wiederholenden Ritual den Tod ihrer Eltern. In einer Zeit, in der die Revolution den Neubeginn, den neuen Menschen verspricht, sagt Triana mit diesem Stück, daß die kubanische Revolution nur eine Wiederholung mit anderen Personen ist. Denn die Geschwister proben den Mord immer und immer wieder, führen ihn jedoch nie aus. Das Ritual endet stets in Frustration. Mit diesem Stück hat Triana neue Parameter für das kubanische Theater gesetzt. Die Zensurbehörde beurteilte es negativ; Triana wurde ausgegrenzt, mußte Zuckerrohr schneiden und wurde nicht mehr publiziert. Nach Castros Aussagen sollte die Revolution den Maximen von José MartP folgen, d.h. politische, wirtschaftliche und kulturelle Unabhängigkeit anstreben. Sie mündete aber im sowjetischen Kommunismus. Triana ging ins Exil. Seit 1980 lebt er in Paris. Trianas Stücke stellen stets die kubanische Gesellschaft auf die Bühne und zeigen in erster Linie, was sie verbirgt. Sie denunzieren die Schwierigkeiten des Einzelnen, der stets vom Kollektiv bespitzelt und verfolgt wird (in Medea ante el espejo, 1962, nimmt dieses Kollektiv die Dimension eines griechischen Chores an), den Machtmißbrauch und die damit einhergehende Korruption (El Mayor General hablará de teogonia, 1962; La muerte del Ñeque, 1964; El último dia del verano, 1994). In Ceremonial de la guerra, 1968-73, zeigt schon der Titel die für den Autor charakteristische Arbeitsweise an: Der Krieg wird zelebriert, d.h. die Personen

1

Die Nacht der Morder. Frankfurt/Main 1968.

2

José Marti (1853-1895), Dichter und Freiheitskämpfer, Nationalheld der Kubaner.

312

¡osé Triana

agieren nach festen Ritualen. Wieder entsteht wie in La noche de los asesinos durch das Ritual ein Spiel im Spiel. Die Brücke (1991) 3 ist der Monolog eines Mannes, der seine/die Vergangenheit mit sich herumschleppt, symbolisiert in einem Karren voller Gerümpel. Eingeschlossen in einem Kreidekreis, den er selbst um sich herum zieht, berichtet er bruchstückhaft von seinem Leben. Und das spielt sich auf zwei Ebenen ab: in der einen agiert er selbst, in der anderen ist er „außer sich". Sein Schicksal spiegelt die Zeit zwischen den 40er und den 80er Jahren in Kuba wieder; die allegorische Sprache Trianas von Inzest, Ausbeutung, Mord, Wahnsinn, Haß-Liebe etc. beschreibt das kubanische Volk, das aus der Misere der Batista-Diktatur in die Misere der Castro-Diktatur wechselte. Das Fest zeigt die kubanische Gesellschaft in Miami wie in einem Zerrspiegel, der die Frustrationen und Gespenster enthüllt, mit denen sie sich herumschlagen, während sie damit beschäftigt sind, den Schein zu wahren. Es ist eine Gesellschaft im Exil, der es „an nichts fehlt", die aber mit der Heimat ihren Bezug zur Realität verloren hat. Das Fest erlaubt ihnen, „von einer Seite des Spiegels zur anderen zu wechseln, die Grenze zu überschreiten zwischen dem, was gesellschaftlich erlaubt ist und dem, was unterdrückt wird." 4 Heidrun Adler

Literatur C a m p a , R o m á n d e la: José Triana: ritualización de la sociedad cubana. University of Minnesota Press 1979. L a r c o , Juan: „La noche de los asesinos de José Triana", Casa de las Américas 5, 32 (sept.oct. 1965), S. 97-100. Montes Huidobro, Matías: „ M á s c a r a familiar: Esquizofrenia m á g i c a " , Persona, vida y máscara en el teatro cubano. Miami 1973, S. 413-427. Taylor, Diana: „ T r i a n a ' s La noche de los asesinos and Ceremonial de la guerra", LATR 2 4 / 1 (Fall 1990), S. 81-92. Zalacaín, Daniel: „ C i r c u l a r i d a d y m e t a t e a t r o en la escena h i s p a n o a m e r i c a n a " , Hispanófila 86 (1986), S. 37-54 [La noche de los asesinos de José Triana, Dos viejos pánicos d e Virgilio Pinera].

3

Cruzando el puente publiziert in LATR 2 6 / 2 (Spring 1993), S. 5 9 - 8 3 . Deutsch: Die Brücke, erschienen in Adler, Herr (Hrsg.): Kubanische Theatersücke. F r a n k f u r t / M a i n 1999.

4

Christilla Vasserot: „Espejos y espejismos en el teatro de José T r i a n a " , in OLLANTAYV1,10 (1998), S. 48.

Das Fest

313 Tragisches in Komischem verwoben. Lope de Vega

Das Fest Allgemeine Bemerkungen: Ich sehe dieses Stück, wie alle meine Theaterstücke, wie ein Spiel der Erinnerung, wie einen lockeren Versuch, Personen und Situationen erstehen zu lassen, die in gewisser Weise mit der Realität zu tun haben, aber nicht die Realität sind. Eine Realität wie in einem Spiegel gesehen, der die Dinge verzerrt oder die Gesichter verkehrt, flüchtig macht, wie mit den blinden Augen der Träume gesehen. Eine Realität, die entsteht und wieder vergeht, die als Säule oder Mauer ersteht und dann verschwindet, sich auflöst, um den vagen Umriß einer Blume in einem Teppich anzunehmen. Eine Realität zerlaufender Schatten auf beschlagenen Scheiben. Das Bühnenbild zeigt ein gewöhnliches Haus. Es kann aber auch ein Garten sein. Es kann ein von einem Pappmond und Konfettisternen beschienener Strand sein. Es kann verschiedene Dinge zugleich sein. Es wird von unterschiedlichen und anachronistischen Dingen bestimmt. Licht und Halbdunkel sind grundlegende Elemente, die die jeweilige Situation darstellen. Musik spielt einen aktiven Part im Handlungsablauf. Sie liefert die Energie, die Text und Mimus unterstützt. Wie im Buffo-Theater wird der Text hin und wieder gesungen und getanzt. Das Stück ist ein Verkleidungsspiel. Personen: Gerardo (48) - Laura, seine Frau, (45) - Rosi, ihre Tochter, (18) Johnny, Rosis Freund, (20-22) - Perucho, vermeintlicher Onkel von Laura, wird auch Perico genannt (55) - Carmelina, Gerardos Tante, (60) - Amelita, vermeintliche Tochter von Perucho, (35) - Benito, Gerardos Vater, (80) - Doña Pepilla, Gerardos Mutter, (75 oder älter). Ort der Handlung: Ein Haus oder ein Park oder das Mezzanin eines Hotels in Miami.

José Triana

314

Erster Akt 1. Szene Carmelina, Johnny, Perucho. Wenn der Vorhang aufgeht, herrscht absolute Dunkelheit. Aus dem Hintergrund kommt Carmelina in einem Morgenmantel aus Tüll und Satin nach Art amerikanischer Filmstars der 30er Jahre. Sie geht wie eine Schlafwandlerin, trägt eine Lampe, setzt sich in einen Sessel und schläft mit der Lampe in den Händen ein. Aus dem off Stimmen und Gelächter, Geräusche eines Essens. Sinnliche Musik ganz im Hintergrund. Es kommen Johnny im Tennisdress und Perucho im Kostüm einer Figur des kubanischen Buffo-Theaters. JOHNNY Das ist wie ein Traum! ... Bin ich in den Wolken, in der Stratosphäre...? Zum Teufel mit dem...! Mit anderen Worten... PERUCHO Eine feine Verladung, verdammt! JOHNNY Was soll dieses Theater auf dem Fest? zieht die Tenniskleidung aus und etwas anderes an Das hat es noch nie gegeben! Ich verstehe das nicht. Und noch weniger, warum er das macht. Der will doch nur angeben... PERUCHO Natürlich! ... Zwei und zwei sind vier und nicht fünf! In meinem Alter am Daumen lutschen, verdammt, so weit kommt es noch! Und meine Tochter als Königin Etiope, das paßt mir gar nicht... Sie ist schwarz... Da liegt der Hase im Pfeffer! Aber sich deshalb über sie lustig machen? Nein und nochmals nein! JOHNNY Das meine ich auch! ... Ein schönes Fest... Wunderbar vorbereitet... Die Bühne, die Scheinwerfer, die Einladungen, das Programm, diese Verkleidungen... verdammt Wenn Frau soundso mit Herrn Dingsda kommt, Hinz mit Kunz... Verdammt noch mal! Ich dachte an Robin Hood... jetzt bin ich ein Eunuch. PERUCHO indigniert Ein Eunuch? ... Gestern hat er gesagt, ein Pirat. Und vorgestern ein Zauberer. Jeden Tag ist es was anderes. Also, ein Eunuch! JOHNNY Zieh dich um, sie warten nicht! Es muß weitergehen, hat er gesagt. In dem Bündel findest du alles...! PERUCHO Kann er sich nicht entscheiden... JOHNNY Keine Wenns und Abers! PERUCHO Der hat einen Vogel! sucht in einem Bündel und zieht einen Satinanzug heraus Und was mir richtig stinkt, Carmelina mischt sich überall ein... daß die Haarfarbe, daß die Schuhe, daß die Hemden, die Falten vom Rock, daß der Tüll... daß das Kleid von Marie An-

Das Fest

315

toinette, von Shirley Temple... das Programm, die Band... Wenn ich die erwische, wird sie was zu hören bekommen! Dann donnert es bis in den siebten Himmel. Tonwechsel Ah, und das mit der Alten, Doña Pepilla... das ist der Gipfel! JOHNNY Und ich Trottel habe zu allem Ja gesagt! Ich! ... imitiert Gerardo „Das Fest! Das Fest, mein Freund!" abrupter Wechsel Der kriegt es fertig und bringt seine eigene Mutter um, nur um seinen Willen durchzusetzen. Davon bin ich fest überzeugt, den bremst niemand... Hast du gehört, wie er gestern vor den beiden Alten gesagt hat: „Das ist das wichtigste Fest aller Zeiten." ist mit seiner Verkleidung fertig Wie sieht das aus? PERUCHO macht eine Grimasse Passabel, lacht Das Fest! JOHNNY Ja, das Fest! PERUCHO lachend Man muß leben! JOHNNY lachend Das Fest! Sie sehen sich an und zoiederholen „das Fest, das Fest". Sie lachen, drehen sich um, beruhigen sich. Wenn sie sich dem Publikum zuwenden, müssen sie wieder lachen. Carmelina erwacht, sieht sich überrascht um, bekreuzigt sich und beginnt zu weinen. CARMELINA Der arme Chicho! Der arme Chicho! Sie schläft wieder ein. Die Lampe verlöscht. Ein nebelhaftes Traumlicht breitet sich aus. Carmelina verschwindet. Im Hintergrund ein sternklarer Himmel. 2. Szene Perucho und ]ohnny. PERUCHO lachend Das größte Fest aller Zeiten! JOHNNY versucht, das Lachen zu unterdrücken Reiß dich zusammen, Alter! ... Sieh mich nicht so an, verdammt! ... Was hast du? Hör zu, Perico, du... Ich bitte dich, wenn du so weiter machst, verschwinde ich! PERUCHO wischt sich die Tränen mit einem Taschentuch Der Teufel mit seinem Geschwätz... muß wieder lachen Gerardo ist verrückt geworden, das schwöre ich dir... sieht ins Publikum wie in einen Spiegel Eine Vogelscheuche! Tonwechsel Aber was beklage ich mich, ich habe meinen Teil dazugetan. Die Idee mit den Vorführungen war von mir. Und er hat sie ernst genommen und angefangen zu schreiben... Sachen ohne Sinn und Verstand... Und wir müssen sie aufsagen... JOHNNY Ich habe eine Stinkwut! PERUCHO Versuche vernünftig zu bleiben, Junge... So zwischen Verwegenheit und Wahnsinn...

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José Triam

JOHNNY sichtlich verärgert Das hier ist eine Falle! ... Er hat kein Recht dazu, Perucho. Er nimmt sich heraus, was ich nicht einmal meinem Vater gestattet hätte. Und Rosi, die Ärmste... sie denkt, sie müßte ihm nachgeben. Sie und ihre Mutter laufen als Hexen herum... PERUCHO Kein Wort mehr davon! Oder mir kocht das Blut! Ich gehe hoch wie eine Rakete! Tonwechsel Bedenke immer, der Faden reißt an der empfindlichsten Stelle... meine Beziehung zu Gerardo war und ist auf Spitz und Knopf... Ja, ja, lach nur! JOHNNY Ich lache über seine Idee, das Flugzeug in das Mezzanin vom Coconut Grove zu setzen... Dona Pepilla steigt ein und winkt den Gästen... Du steckst hinter diesem ganzen Quatsch, du Schuft! PERUCHO amüsiert Strammer geht es nicht! Die einen steigen in eine gewaltige Torte, in ein Karussell, auf ein aerodynamisches Fahrrad... Was ist dabei? Die Alte kann... JOHNNY pathetisch Ich bin ein Bild des Schmerzes! PERUCHO D U bringst mich noch zum Weinen, holt ein Taschentuch aus der hinteren Hosentasche und beginnt zu weinen So ein Unglück! beobachtet Johnny durch die Finger Ich habe ein schwaches Herz, Johnny... weint theatralisch. JOHNNY sieht befremdet ins Publikum Was ist denn mit dem los? Der hält mich für einen Volltrottel... Oder will er mich einwickeln und mich dann um Herz und Verstand bringen? für sich Vorsicht! Das ist eine Kanaille! 3. Szene Johnny, Perucho und Carmelina. Wellenschlag gegen Klippen, näherkommendes Pferdegetrappel. Carmelina erscheint auf einem Steckenpferd. CARMELINA HÜ, mein Pferdchen, hü...! Ahhh, Chicho, mein armer Friseur, jetzt sitzt er in der Patsche!... Hü, mein Pferdchen, hü...! ab. 4. Szene Johnny und Perucho. PERUCHO sieht Johnny an, der starr dasteht, zum Publikum Er tut mir leid! Aber davon kann er sich auch nichts kaufen... Man muß einen kühlen Kopf bewahren. Johnny macht Perucho hinter seinem Rücken nach. Neben Gerardo und seinem zukünftigen Schwiegersohn stehe ich da wie eine Kanone... Geschäft ist Geschäft! ... Scheine gehören in den Safe! Die Gelegenheit laß ich mir nicht entgehen... Pinke-Pinke...

Das Fest

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Ich habe sie gesehen und mir mein Teil dabei gedacht... Was man da rausholen kann, das werde ich rausholen! schlägt Johnny auf die Schulter, der taumelt und fängt sich wieder Verdammte Gemeinheit! zum Publikum Gott gibt dem einen Bart, der kein Kinn hat. Wenn er nicht so ungerecht wäre... mit dieser Figur, mit diesem Gesicht... die Welt läge mir zu Füßen... JOHNNY theatralisch klagend Ahhh, die Welt ist grausam! Um mich herum sehe ich nur Schatten! ... Ist das mein Schicksal? ... Jungfrau Maria, ich sterbe! PERUCHO zum Publikum Was sagt er? Das ist ja schlimmer, als ich dachte! zu Johnny Stimmt das? JOHNNY amüsiert Herzensbrecher, Herzensbrecher... PERUCHO ubertrieben Du machst mich wahnsinnig... meine Nerven sind dünn wie ein Faden... was sag ich, ein Fädchen...! JOHNNY Beruhige dich! So schlimm ist es nun auch nicht... Aber, was will dieser Mann? ... Erkläre mir das... PERUCHO Was weiß ich? Ich weiß nur, was du mir erzählst und basta. JOHNNY außer sich Nur das? packt ihn beim Kragen Du Lump! PERUCHO theatralisch Schlag mich nicht! JOHNNY Betrüger! ... Du hast mich reingelegt... läßt ihn los. PERUCHO pathetisch Ich bin wie ein offenes Buch! JOHNNY Ich Idiot! Ich kann es einfach nicht glauben! Tonwechsel Er, macht einen Riesenaufstand, kommt nach New York und holt mich hierher. Und wozu das alles? ... Er läßt mich im Regen stehen... Und nicht nur das, seit ich hier bin, beschäftigt er mich mit lauter Blödsinn... und nein, und nein, das geht nicht, dies geht nicht... Er läßt mich Spießruten laufen, und ich gebe Pfötchen... 5. Szene Johnny, Perucho und Gerardo. Im Hintergrund Feuerwerk, Trommelwirbel, Maracas. Gerardo erscheint, gekleidet wie ein Zauberer in Filmen der 30er Jahre. Eine riesige Zigarre hängt ihm im linken Mundwinkel. GERARDO Na, heckt ihr was aus, Jungs? Johnny und Perucho erstarren. Gerardo grinst amüsiert, droht mit dem Stock. Musik: „El manisero" von Moisés Simmons, es singt Miguelito Valdés. Die Szene wird zum Night Club. Gerardo mimt Tanz und Gesang. Maní! Manisero se va! Johnny und Perucho bewegen sich wie Automaten, tanzen in entgegengesetzte Richtungen, singen „El botellero" und mimen dabei den Schwarzen

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des Buffo-Theaters: „Botellero, ya me voy, Cambio globos por botellas. Botellero, botellero..." Am Ende verneigen sie sich, verschwinden. He, du, Perucho... Johnny, wo seid ihr? ... Spielt ihr Verstecken? Das geht aber zu weit! ... Sie hecken also doch etwas aus. Unglaublich! im Singsang Johnny! Perucho! Kutschi-kutschi-kutschi! ernst Haben sie oder haben sie nicht...? Paß auf! Einer der beiden hat was vor, und ich muß ihn in flagranti erwischen... Ich werde aufpassen wie ein Schießhund, der Schnüffler von Baskerville... Mich schamlos zu bestehlen! Er geht auf Zehenspitzen zur Seite, hebt drohend den Stock, schleicht zur anderen Seite. Verschwinde, Kanaille! 6. Szene Gerardo, Laura und Rosi. Im Hintergrund erscheinen Laura und Rosi mit Masken, die an die Königin der Nacht und Aschenputtel erinnern. Gerardo stößt überrascht seinen Stock auf den Boden. G E R A R D O Wem gehören diese Masken? Was wollt ihr? Was sucht ihr? Verdammte Diebinnen! LAURA theatralisch Diebe? Verfolgungswahn! ... Der Herr hat gerufen? ROSI Ich komme, um Gnade zu erbitten, mächtiger Zauberer! wirft sich ihm zu Füßen. G E R A R D O Was, zum Teufel! LAURA Hüten sie ihre Zunge, mein Herr! ROSI Ich bin eine verleumdete, bedrohte, mißhandelte Tochter! Meine Liebe, meine einzige Liebe... LAURA Wie schamlos, Kind! theatralisch erzürnt zu Gerardo Diese störrische Rotznase glaubt, sie sei die Prinzessin auf der Erbse und verleumdet mich in alle vier Winde. ... Und außerdem bin ich es, nicht du, die sich der Heirat widersetzt. GERARDO zum Publikum Was ist denn hier los, mein Gott? Wovon reden die? Masken, Larven. Hecken die etwas gegen mich aus? LAURA Aushecken, was denn, du alberner Mensch? Du langweilst mich! ... Das Fest, dein Fest... GERARDO Was? ... Das Fest? Spinnst du? LAURA Der Mann ist verrückt geworden oder hat das Gedächtnis verloren, oder was ist los mit ihm? Wo bist du? ROSI mit viel Geheule Vater, mein Schmerz greift um sich wie das Sumpffieber... Der Mann meiner Träume soll in die Sümpfe der Everglades verbannt werden, und dort wird er vor Sehnsucht verfaulen zwischen Alligatoren und Baumenten und Papageien und

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Bluebirds, als wäre er Tarzan... von Ast zu Ast... oder Robin Hood... Schluchzer und laute Klagen. LAURA exaltiert Hör dir das an! Das ist der Gipfel! Sie tut, als würde sie umgebracht... Unglaublich! Unverschämt! Rosi Hilf mir, Vater, in meinem Elend! ... Ich sterbe! Ich sterbe! ... Ich werde mir das Herz herausreißen und den Hunden vorwerfen... in einer Kette aus Tränen... GERARDO Kind, das ist ein Melodrama, eine soap opera. Träume ich...!? LAURA Phantasie! Immer muß sie übertreiben! ROSI umklammert pathetisch Gerardos Knie Oh, my father, daddy, mein Robin ist kein Eunuch... ich spreche für ihn... sieh mich an, ich verzehre mich vor Sehnsucht... ich könnte... ich könnte mich dem Laster hingeben... Hab Mitleid. Sei nicht so gemein wie Onkel Perico zu meiner Cousine Amelita... LAURA Da hast du den Finger in die offene Wunde gelegt, meine Tochter! wütend zu Gerardo Amelita! ... Fährt sie mit uns im Oldsmobile oder hat sie ihre eigene Karosse wie die Kaiserin von China? GERARDO übertrieben Reiz mich nicht, Frau! ROSI Bin ich ein Jasmin, eine Rose oder eine kleine Nelke... GERARDO schlägt wütend mit dem Stock um sich Bin ich denn ein Blaubart?! Vade retro! ... Mir platzt der Kopf, und ich will nicht die Kontrolle verlieren! ... Verschwindet, beide! LAURA beleidigt Das muß ich mir nicht sagen lassen, Ungetreuer... Rosi, steh auf, mögen die Götter uns gnädig sein! hilft Rosi aufzustehen Dein Vater leidet unter chronischem Gedächtnisschwund! Beide ab. GERARDO Sie haben Recht! Das Fest! Ich hatte es ganz vergessen! Sieht ins Publikum wie in einen Spiegel. Schritte im Hintergrund. Er sieht sich um. Ah, der Traum meiner Träume! Er richtet sich die Krawatte, den angeklebten Schnurrbart, den Strohhut... Musik: „Almendras". Die Königin Etiope! ... Ah, mich packt die Leidenschaft... Er verbirgt sich hinter einem Paravent. Das Licht verwandelt die Szene zur frühen Morgenstunde,

leise Musik.

7. Szene Amelita, Gerardo (versteckt), Johnny und Perucho. Amelita kommt als Königin Etiope langsam herein, entblättert eine Rose. Johnny und Perucho als Eunuchen begleiten sie mit großen Fächern. A M E L I T A Schlafwandelnd wie ferne Gewässer Orions Gärten wiegt die Dämmerung. Strahlen und Flüstern im eigenen Leib,

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José Triana himmlische Klänge am Firmament. Lüfte erblühen und verschlingen Die flüchtigen Fesseln, die zarten Zeichen von heiligen Gnomen als Köder gesetzt. Schlafwandelnd zieht Orion weiter. Seine Strenge erschauert und deutet nichts. Wer weiß denn, ob sein leuchtendes Bild im Gedächtnis bleibt, kühner Begleiter, du heimlich leuchtender Stern. Sie kniet nieder, legt sich dann in ein großes Kissen. Laßt mich in Morpheus Armen allein. Johnny und Perucho verneigen sich vor ihr und gehen.

8. Szene Gerardo und Amelita. Gerardo kommt auf Zehenspitzen herein. Sehr leise Musik: „Tres lindas cubanas" von Guillermo Castillo, gespielt vom Sexteto Habanero. GERARDO Mein Gott, sie schläft! ... Das Morgenlicht wird sie wecken! Ihr lebendiger Traum kann sich mit stummen Spiegeln kleiden... nähert sich ihr Ihr Atem ist Balsam für meine Seele, betrachtet sie Oh, nubischer Engel, das perfekteste Wesen, das die Natur schuf. Tonwechsel In wie vielen schlaflosen Nächten habe ich an ihre herrlichen Formen gedacht... jetzt könnte ich sie berühren, jetzt habe ich sie in meiner Gewalt, und ich habe Angst! Als käme dieser Augenblick zu rasch, als wäre er zu wirklich... meine Hände und meine Augen können es weder leugnen noch bestätigen... ich muß es hinnehmen und das Unerklärliche glauben. AMELITA

verschlafen

W e r ist d a ?

GERARDO ES ist noch früh. AMELITA Das kann nicht sein! GERARDO Ich sage es dir! Das Morgenrot am Horizont... AMELITA Die ganze Nacht sah ich zu, wie die Sterne in den Sand stürzten... und ich hatte Angst. Tonwechsel Wer bist du? im Singsang Wer, wer, wer? GERARDO

AMELITA

GERARDO

Ich b i n es.

Du? Wer?

Hüte deinen Traum. Schlaf weiter.

AMELITA

Ich m u ß w i s s e n . . .

GERARDO

Niemand weiß.

Das Fest

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Bald ist es Tag! Es wird hell... die Musik der Luft schafft Säulen zwischen dir und mir... und eine Wand trennt uns... Ich will deinen Namen nicht wissen, denn er wird mit mir ins Grab gehen... GERARDO Sei still! ... Mach die Augen nicht auf. Träume deinen Traum weiter, er ist ein Abenteuer, richtet sich auf Ich könnte sie fressen! AMELITA Sag mir, daß dies niemals endet, daß die Nacht der Tag ist und der Tag ein dunkles Rätsel... daß es Nacht wird, wenn du es willst, und daß die Gestirne zerbrochen in deine Handfläche fallen... und das Moos deiner Finger... GERARDO leidenschaftlich Oh, Geliebte, Geliebte...! versucht, sie zu küssen. AMELITA Kanaille! Wie bist du in mein Zimmer gekommen? ... Du nutzt meine Schwäche aus! ... Ich bin eine hilflose Frau! GERARDO versöhnlich Sag nicht so etwas. AMELITA Oh doch! heftig Laß mich! Ich ertrage es nicht. Ich fühle mich verloren. GERARDO Du willst diesen Traum nicht? Du spielst nicht mehr mit? AMELITA Welcher Traum? Welches Spiel? ... Und deine Frau? Muß ich die etwa nicht respektieren? ... Willst du vor ihrer Nase... Ulrico, ich bin nicht interessiert... GERARDO Warum ziehst du sie hier hinein? Kannst du nicht verstehen, daß sie hier nichts zu suchen hat? Amelita ist plötzlich wie hypnotisiert. Beziehungen verändern sich mit der Zeit. Eines Tages wirst du das wissen. Wenn du willst... Sie hat keinen Grund, sich zu beklagen. entfernt sich Ich schwöre dir, daß ich ... AMELITA Du schwörst, Schamloser! ... Was ist das für eine Maske? GERARDO amüsiert Meine eigene! AMELITA aggressiv Daß ich nicht lache! GERARDO noch immer grinsend Gefällt sie dir nicht? AMELITA streng Du spielst den Oberboss. GERARDO D U tadelst mich also? AMELITA Geh mir aus den Augen!... Gerardo steht auf und entfernt sich erschrocken. Tonwechsel. Du gehst? ... Geliebter, Geliebter, zerbrochener Spiegel... GERARDO Wenn ich mich nähere, entfernst du dich, wenn ich mich entferne, näherst du dich... Du zwingst mir einen ständigen Kampf auf! ... Du willst mich für dich allein! ... Ohne es auszusprechen, willst du, daß ich meine Frau verlasse, mein Haus, meine Tochter... Willst du, daß ich heimatlos werde, ein Vagabund...? AMELITA

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AMELITA Lüge! ... Für dich bin ich eine Null auf der linken Seite. Morgen weißt du nicht mehr, was du mir gesagt hast, und du wirst mich links liegen lassen, weil ich schwarz bin... GERARDO sarkastisch Ideen hast du! Als wäre die Hautfarbe ein Grund... AMELITA lacht laut an/Immer schmutzige Gedanken... GERARDO Wenn es dir lieber ist... zeigst du dich nicht auf dem Fest. AMELITA Ulrico! Sie sehen sich kurz an, dann dreht er ihr den Rücken zu. Ah... steht auf Bleib... sei nicht böse. Begreife doch, daß eine Frau... Ich bitte dich... wendet sich von ihm ab. Kurze Pause. Gerardo verschwindet. Ulrico! Geh nicht, Liebster! Sie läuft ihm nach. 9. Szene Laura, Rosi, Don Benito und Doña Pepilla. Lichtwechsel. Laura ruft singend nach Gerardo. Laura, Rosi und Don Benito erscheinen, am Stock folgt ihnen stolpernd Doña Pepilla. Don Benito sieht sich um, berührt die Säulen und Holzwände, die wie ein Labyrinth aufgestellt sind. Rosi Oh, Mami, schrei nicht so! Du wirst noch ganz heiser... blickt sich um Wie häßlich das ist. Und hier will Papi das Fest ausrichten? zeigt ins Publikum Und die Leute hier? LAURA schlägt nach ihr Rosi! Man kann dich hören! ... Mein Gott, wie unvernünftig! ruft singend Gerar-dooo! ... Gerar-dooo! ROSI Scheußlich! ... Ist das das Mezzanin vom Coconut Grove? ... Ich träume wohl... DOÑA PEPILLA Ich habe dir doch gesagt, Benito, wenn du anfängst, über Politik zu reden, gehe ich! ... Politik, immer Politik! ... So ein Unsinn! zu Rosi Rosi, Rosi. Komm zu mir. Weißt du, was ich gestern erfahren habe? Die Cousine von einer Nichte von einer Verwandten von Benito konnte auf einem Haifisch von der Insel entkommen, wie es Gott gefällt... und Luisito, der Halbruder von der Schwarzen... ROSI Ich verstehe nicht, Großmutter. Von wem sprichst du? DOÑA PEPILLA

Der H a l b b r u d e r v o n der Schwarzen...

DOÑA PEPILLA

Ist mit d e m Fahrrad g e k o m m e n . . .

ROSI Die Schwarze? Welche Schwarze? DOÑA PEPILLA Na wer schon, Kind? Diese Dunkelhäutige, du weißt schon! tuschelt Amelita! ROSI Ah! ... Und ihr Halbbruder Luisito, was ist mit dem? ROSI

Großmutter, da haben sie dir aber was erzählt!

Das Fest

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Doch, Rosi, wie ich es dir sage! macht Bewegungen des Fahradfahrens Auf dem Fahrrad... ROSI ruft Mami, Mami... Hör dir das an, was Großmutter erzählt... LAURA ruft zurück Ich komme schon. Schrei nicht so! DON BENITO Das sieht nicht nach einem Fest aus. Rosi Das sage ich auch, Großvater! So düster! Mir stehen die Haare zu Berge. Das ist die Höhle von Drakula. Oder Frankenstein. DON BENITO Das gefällt mir nicht. LAURA ZU Gerardo, der vorn erscheint Da ist er ja endlich! DOÑA PEPILLA

10. Szene Gerardo und die anderen. GERARDO kommt hinzu Das gefällt euch, was? nimmt einen Stuhl und bietet ihn Doña Pepilla an Kommen Sie, Mama, setzen Sie sich. LAURA Gefallen, also, was man so gefallen nennt... Rosi vorwurfsvoll zu Laura Mami! zu Gerardo Ehrlich gesagt, Papi, es ist scheußlich...! Ist das hier wirklich das berühmte Mezzanin? DON BENITO Kind! Zu Hause wäre es besser... LAURA ZU Hause! Oh nein! Die Bedienung, die man für so ein Fest braucht... Sie würden mir die Möbel kaputt machen, und die Teppiche und das Geschirr... GERARDO Das ist kein Problem! Man könnte Pappteller und Plastikbesteck besorgen. LAURA Was sagst du da, Mann? ROSI heftig Waaas? Bist du verrückt? Plastikbesteck! Pappteller! Was. würden meine Freunde dazu sagen? LAURA energisch Nein! Schlag dir das aus dem Kopf! Das Kind hat recht. DOÑA PEPILLA sehr laut und dabei mit dem Stock aufstoßend Wenn ihr von Politik redet, gehe ich! Das bringt nichts Gutes! Und bei dem einzigen Familienstreit, erinnere dich, Sohn, da... Rosi heftig Sei still, Großmutter! DOÑA PEPILLA Jawohl, Politik, ich weiß es genau...! GERARDO brüllt Wir sprechen nicht von Politik, verdammt! DOÑA PEPILLA Das willst du mir weismachen, Sohn! Politik, immer... 11. Szene Carmelina und die anderen. Carmelina kommt in Morgenrock und Pantoffeln, Lockenwickler im Haar.

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Ah. Kinder, was für ein Lärm, ein Geschrei! Man kann nicht mal ausschlafen! setzt sich auf einen Stuhl, zieht ein Strickzeug hervor Und das bei meiner Neuralgie und dieser Schlaflosigkeit... Ah, das Fräulein... Amelita... sie hat gesagt, sie könnte nicht kommen, sie läßt sich entschuldigen, sie hat eine hundsmäßige Nacht gehabt... konnte keinen Schlaf finden... sie würde alles, was man beschließt, akzeptieren... als gute Entscheidung. Sie sieht Gerardo leicht provozierend an, der geht nicht darauf ein. Die anderen sehen sich an, zukken die Schultern. Laura und Gerardo verlieren sich diskutierend im Labyrinth. Don Benito blickt abwesend gen Himmel. Worüber habt ihr gesprochen? Über das Fest? D O Ñ A PEPILLA Was? Was sagst du? CARMELINA zum Publikum Die ist stocktaub! Tonwechsel Ah, Schwester, Schwesterchen! D O Ñ A PEPILLA Die Politik, Kind! CARMELINA Aber sicher. LAURA zu Carmelina Das hier muß alles gestrichen werden für das Fest! Was meinst du, zinnoberrot oder kanariengelb oder preussisch blau in Richtung violett? da Carmelina nicht zuhört, beleidigt Oh, entschuldige bitte... CARMELINA zerstreut Wer spricht da? D O Ñ A PEPILLA Präsident Menocal, das war noch ein Mann... hat Mama immer gesagt, mit allen seinen Fehlern und Dummheiten... Was danach kam... ist doch geschenkt... CARMELINA Genauso ist es, Schwester... LAURA Mein Gott, wie starrsinnig sie heute ist! ROSI Sie ist total weggetreten. G E R A R D O reagiert aufgebracht Für jeden von uns kommt einmal die Stunde! Wartet nur, wenn ihr soweit seid! LAURA Man kann nichts mehr sagen! ROSI in einer Art Singsang Großmutter, das sage ich Johnny... ich weiß, daß ihm das gar nicht gefallen wird... D O Ñ A PEPILLA erschrocken Was denn, Kind... was denn? ROSI spielt mit ihr Ich weiß, wenn Johnny erfährt, daß du auf die Politik schimpfst, wird er böse... Johnny... wird eines Tages Bürgermeister, Großmutter. Ist er nicht dein Bräutigam? Doña Pepilla hebt erschrocken eine Hand vor den Mund, lacht amüsiert und murmelt unverständliche Worte. Daddy, warum kommt Johnny nicht? CARMELINA

Das Fest

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innerhalb des Labyrinths Johnny, Johnny, Johnny... dieser Johnny steht mir bis hier! ROSI Du magst ihn nicht! Du behandelst ihn schlecht, du kränkst ihn bei jeder Gelegenheit, die sich dir bietet. GERARDO SO ist es nicht, Kind! ... Du bist wirklich zu albern: Johnny, Johnny, Johnny hier, Johnny da. Laß dem Jungen Zeit, sich zu entwickeln! übertrieben Johnny, Johnny, Johnny... Mein Gott, diese Abhängigkeit! Rosi setzt sich beleidigt etwas abseits. D O N A PEPILLA ZU Gerardo Laß den Johnny in Frieden, er ist ein guter Junge. CARMELINA spöttisch Ja. Er hält viel aus, Gerardo! Johnny ist ein vom Himmel gefallener Engel... D O N A PEPILLA Verteidigst du ihn, meine Liebe? Es klingt fast wie das Gegenteil. LAURA ärgerlich Habt ihr nichts anderes zu tun? Wenn ihr euch wegen Johnny streiten wollt, sagt mir Bescheid... zu Gerardo Ich bitte dich zum letzten Mal, dieses Fest... CARMELINA Ihr habt ja alle ziemlich schlechte Laune... G E R A R D O ZU Laura Du bist gegen alles, was ich sage, was ich tue... als wäre ich ein Scheuerlappen... LAURA Ich bitte dich, mach keine Szene... GERARDO Wenn du dagegen bist, ist das deine Sache! geht nach hinten. LAURA Das ist unmöglich! folgt ihm. D O N BENITO setzt sich, energisch Unmöglich! ... Das sage ich! Aber ich enthalte mich jeder Meinungsäußerung... Wenn es schiefgeht, wer hat dann die Schuld...? Ich kenne doch meine Pappenheimer! D O N A PEPILLA Also, ich bin für das Fest... Mit Lammbraten und richtig schön reifen Bananen... und kleinen Tamales von Berta, und Yuca mit scharfer Sauce, Kabeljau, Fleischklößchen mit Kartoffelbrei... Ahhh, und dicken Paprika mit Sauce, he, Gerardo, Junge... CARMELINA Erbarmen! bekreuzigt sich Das kannst du alles essen, Schwester? Das nennt man Völlerei, und alles andere ist gelogen! spricht gen Himmel Hör dir das an, wenn man sie allein läßt, holt sie sich noch einen Schlaganfall... mit Krankenwagen und Sirene und allem drum und dran! D O N A PEPILLA Wie gehässig, Mädchen! murmelt für sich Politik ist wie eine Krankheit. GERARDO ruft von hinten Das läßt sich leicht regeln, mit einem Federstrich und ganz demokratisch! Johnny, Perucho! GERARDO

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LAURA verzweifelt Bitte, rege dich nicht so auf! Du könntest einen Infarkt bekommen! GERARDO Erledigt das endlich! Rosi läuft zu ihrem Vater. Gelächter und Stimmen, Musik: „Son de la Loma" und wie in der achten Szene „Las tres lindas cubanas". CARMELINA geheimnisvoll zu einer unsichtbaren Person Letzte Nacht habe ich geträumt... DOÑA PEPILLA

K o m m , sag schon, von w e m ?

Carmelina schüttelt den Kopf. Pause CARMELINA Ahh, war das ein Traum... kurze Pause Die Hunde haben geknurrt, und ich stand im Dunkeln genau wie als Kind, mit Shirley Temple Löckchen... Hände kamen und streiften mich... Diese Angst! Korallen wuchsen und Schnecken und Tulpen und Schlangen, von einem Baum herunter... Und da war mein toter Mann... riß sich Arme und Beine aus... wegen Chicho, dem Friseur... Seltsam, nicht wahr? Während sie erzählt, schlafeti Doña Pepilla und Don Benito ein. 12. Szene Johnny, Perucho und die anderen. Johnny und Perucho erscheinen erfreut. Gerardo, Laura und Rosi sehen sie wortlos an. Etwa in der Mitte der Bühne bleiben sie stehen. JOHNNY

Sag du es ihnen!

JOHNNY

Zwanzigtausend.

PERUCHO Was soll ich ihnen sagen? JOHNNY reibt sich die Hände Die Sache ist gelaufen! Ein Schnäppchen! ... Ein echtes Schnäppchen! ... Gute Arbeit, zu Perucho Soll ich es ihm sagen? PERUCHO Sag es ihm. Unter Männern keine Umschweife. DON BENITO erwacht abrupt Waaas? Zwanzigtausend? LAURA schreit auf Zwanzigtausend...! DOÑA PEPILLA Zwanzigtausend? ... Du lieber Gott, so teuer! ... Können sie nicht einen kleinen Rabatt geben? ROSI Aber, Johnny, Liebster, glaubst du, Dollars fallen vom Himmel? CARMELINA Zwanzigtausend? ... zu Johnny Du scherzt? JOHNNY Das knistert! singend Zwanzigtausend Scheinchen. DON BENITO Das ist nicht möglich! JOHNNY grinst Oh, doch, das ist möglich!

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Hör zu, mit der Summe bitte ich um einen Kredit bei der Bank und kaufe mir ein Appartement am Strand, vermiete es und lebe von den Erträgen... Rosi Nein, Johnny, nein. Dieser Platz ist häßlich... scheußlich... grauenhaft. D O Ñ A PEPILLA Unbegreiflich! ... Ich bin sprachlos. Und du, Johnny, du hälst das für ein Schnäppchen... Zwanzigtausend Dollar! JOHNNY Ich habe hier nichts zu sagen... nein, das ist der da. G E R A R D O grinsend Ja, das bin ich! Und ich sage: Nicht kleckern, sondern klotzen! D O N BENITO Möge der Klotz nicht gar so schwer ausfallen! LAURA verärgert Mein Lieber, wenn du das Geld aus dem Fenster werfen willst, dann bin ich dagegen, zu Rosi Nicht wahr, Kind? ROSI wie ein unartiges Kind Nein, Daddy, nein! Allgemeines Gezänk: „Nein! Doch! Aber nein! Doch!" etc... PERUCHO verführerisch zu Carmelina Und was sagen Sie, Señora? CARMELINA Ich? ... Ich sehe, höre, schweige. PERUCHO Und darf man wissen, warum? CARMELINA Und was geht Sie das an, mein Herr? ... Ich meine, wer hat Sie eingeladen? PERUCHO Nun... ich könnte vielleicht helfen... diese Spinnweben der Einsamkeit zu zerreissen. Sie ein bißchen aufmuntern, Puppe! CARMELINA Und was glauben Sie, wen Sie vor sich haben? Tonwechsel Hör zu, Junge, laß die Vertraulichkeiten... Lästige Person! G E R A R D O ruft Schluß jetzt! Alle erstarren, er springt auf ein Podest. Ruhe, bitte...! Wir müssen uns einigen... Alle reden durcheinander... das führt zu nichts. Stimmen im Hintergrund, Pfiffe. Demokratisch gesprochen sind wir uns einig, daß wir ein Fest machen wollen. Stimmen durcheinander: „Ja, ja! Nein, nein! etc..." Einer nach dem anderen! absolute Stille Kommt schon, nur Mut! ... Sagt eure Meinung! Da drüben... zeigt auf Don Benito, der unverständliche Laute von sich gibt Ich habe Stimmen gehört, der Platz sei zu häßlich, scheußlich, ungesund, daß er nichts hermacht, daß... daß es kaum Faszilitäten gibt... Und diesen Stimmen antworte ich: Als wir vor ein paar Jahren hierher kamen, Rosi war noch nicht geboren, habe ich solche Worte wie häßlich, scheußlich, ungesund, gehört, und was ist passiert? Mit Hilfe von hunderten und aberhunderten DON BENITO

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von Männern haben wir hier einen Traum verwirklicht, nein, er ist nicht perfekt, weit entfernt, es ist noch viel zu tun... und wir werden weiter kämpfen und schaffen... schaffen und kämpfen. Wenden wir diese Erfahrung an diesem Ort an. Es gibt Leute die bauen, und es gibt Leute, die zerstören. Das wißt ihr alle. Seien wir die Ersten. Und wir werden ein Fest haben, unser Fest. Alle sehen sich unentschlossen an. Also, wer spricht zuerst? DONAPEPILLA Eine schöne Rede! wischt sich Tränen aus den Augen Ahh, ich bin sehr gerührt. CARMELINA Entschuldige, meine Liebe... dieses Geschrei... und dieses „ich bin sehr gerührt"... Heilige Jungfrau! Ihr Strickzeug fallt auf den Boden. Johnny hebt es auf. Kurze Pause. Danke, mein Junge. Lächelt Ich habe eine Frage. Warum soll das Fest stattfinden? Gibt es dafür einen Anlaß? Warum...? Applaus und Geschrei: „Ja, warum das Fest? etc." GERARDO Wie immer legst du mir einen Stein in den Weg! He-em, also... Warum das Fest? ... Warum? Kein Geburtstag, kein Namenstag. Auch kein patriotischer oder religiöser Feiertag. Also... sieht sich um Ich würde sagen... für meine Mutter, zum Beispiel. Ja, für meine Mutter... sieht Perucho an Und wir werden mitten im Ballsaal ein Flugzeug aufstellen... PERUCHO grinst zufrieden Genau! Ein Flugzeug! Alle sind erschrocken, murmeln durcheinander: Ein Flugzeug! Warum? GERARDO großsprecherisch Als Zeichen unseres Fortschritts! ALLE

Aaaaahhh!

ROSI Hast du Geburtstag, Großmutter? DONAPEPILLA Geburtstag? Gott bewahre! ... Ich habe keinen Geburtstag mehr, Kind. Ich bin älter als Methusalem... Wer erinnert sich daran? LAURA Dann willst du die Alte seligsprechen! DONAPEPILLA Seligsprechen, mich? Gott bewahre...! Mich nicht! ... Mich laßt in Frieden! ... mit brechender Stimme Mich nicht! PERUCHO Meine Damen, meine Herren, da kommt eine Maus, die Geschichte ist aus. JOHNNY Macht die Lichter an, wir gehen. GERARDO Was? ... Nichts da!... Das Fest!... Vorwärts! Dunkelheit

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Zweiter Akt 1. Szene Dasselbe Bühnenbild. Im Hintergrund Rosi und ]ohnny sehr verliebt. Vorn Laura und Gerardo. LAURA Hör endlich auf, die Dinge immer und immer wieder zu verdrehen und auszuweichen. Es sind zu viele Jahre, mein Lieber, als daß du mir noch mit „morgen, morgen" kommen kannst. Ich bin nicht mehr bereit wie ein gefangenes Huhn herumzuhocken, verstehst du? Gelächter im Hintergrund. GERARDO genervt Fängt das schon wieder an. Du hast dies... ich habe das... leg doch mal eine andere Platte auf, Schätzchen. Pause Wie oft soll ich dir noch sagen, daß mich das langweilt, mich... LAURA heftig Was? Was? ... Na, sag schon, was du sagen wolltest! GERARDO Laura, siehst du nicht, daß ich müde bin? LAURA Müde! ... Hör auf damit, Gerardo! Er will gehen. Setz dich, bitte! Er gehorcht komisch. Ich bin es, die müde ist, gelangweilt. GERARDO Hast du die Einladungen und das Programm gesehen? Laura reagiert mit einer gelangweilten Geste. Was ist das Problem, Schatz? LAURA fast überwältigt Du und deine Sachen! ... Ich zähle überhaupt nicht! GERARDO sarkastisch Wenn man dich hört, könnte man meinen, ich sei ein Monster! ... Eine hübsche Art, die Dinge darzustellen! Die Jahre, die wir zusammengelebt haben, werden reduziert auf „Du und deine Sachen! Ich zähle überhaupt nicht"!! LAURA ehrlich Ich kann einfach nicht glauben, daß du... GERARDO

D a ß ich w a s ? ... S a g es m i r !

LAURA Diese Rede, mein Gott! Ich kann es nicht glauben! Mein Lieber, das war Demagogie! Was ist in dich gefahren? Daß du so etwas mir nichts dir nichts sagen kannst? imitiert ihn „...he-em... demokratisch gesagt... das Fest!" ... Oder das andere. Das war der Gipfel. „Es gibt Leute die bauen. Und es gibt Leute die zerstören." Tonwechsel Du denkst, alles ist schwarz oder weiß? Oder schwarz auf weiß? ... Und dieser Ton, mein Gott! Ich will es einfach nicht glauben! Solange ich dich kenne, hast du dich geweigert, so aufzutreten... und nun, Plaff! ... als wäre es das Natürlichste von der Welt. Wie hat mir das wehgetan! Jungfrau Maria! ihr kommen die Tränen Das ist kein Spiel, auch keine alberne Art zu dramatisieren...

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José Triana

GERARDO Dummchen, mein kleines Dummchen! LAURA Und aufs Geratewohl, aus einer albernen Laune heraus! GERARDO Warum sagst du aufs Geratewohl? LAURA Seien wir doch ehrlich! ... Warum die Umschweife? ... Es hat sich etwas verändert... GERARDO zündet sich eine Zigarre an Das denkst du! Das denkst ganz einfach nur du! ...oder du willst es denken und willst es glauben! Und wenn ich dir sage, nichts hat sich verändert? Zweifelnde Geste von Laura. Die Phantasie ist manchmal unsere schlimmste Feindin... Gelächter im Hintergrund von Johnny und Ros;. Wenn du nicht akzeptieren willst, daß ich mir etwas wünsche, das Fest, zum Beispiel, einfach so, zum Spaß... weil ich Lust dazu habe... Meine Liebe, du bist gewöhnt, daß alles, was sich im Haus oder im Büro bewegt, alles, absolut alles von dir kontrolliert wird... von Laura Pérez y Villavicencio de Mensieta. energisch Streite es ab, los doch! ... Du kannst dir nicht vorstellen, daß ich mir... daß ich mir, zum Beispiel, den Mond vom Himmel herunterwünsche... Wenn du ungeduldig wirst, gehe ich...! LAURA Ich bin nicht ungeduldig... Ich höre dir zu. Das ist deine Sicht, Gerardo! ... Ich sehe das anders. Möglich, daß ich herrisch bin. In jeder Frau steckt der Wunsch nach Macht, ja... warum soll ich das abstreiten? ... Sie will, daß alle Dinge ihren Platz haben, sie will, daß alles schön und angenehm ist für die Menschen, mit denen sie zusammenlebt... Manchmal ist das lästig, ihre Hartnäckigkeit, ihr Perfektionismus. Gerardo mag dies. Gerardo haßt jenes... Aber bin ich nur so? Ich? ... Nein, mein Lieber. Es gibt eine andere Laura, die dich liebt und die sich sehr schlecht fühlen würde, wenn eine Geste von ihr dich unglücklich macht. Reden wir doch ehrlich miteinander. Dieses Fest ist eine haltlose Spinnerei... Laß mich ausreden! ... Für dich ist es heute eine Frage von Leben und Tod. Ja, ja, sprechen wir aus, was man nur einmal sagt! Geste von Gerardo Ich bin hier ganz allein... Für dich habe ich mein Zuhause, meine Familie verlassen! Ich mache dir keine Vorwürfe deswegen! ROSI Ma! Dad! ... Johnny wants to go to the beach... I'll go, too. LAURA Yeah! Come back soon! ROSI Okay, Laura! ... Bye-bye! GERARDO Vorsicht, Johnny! Paßt auf, wohin ihr geht! JOHNNY NO problem! ROSI Bye Dad! Bye Ma! Johnny und Rosigehen ab. Laura und Gerardo sehen sich lange an.

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2. Szene Laura und Gerardo.

GERARDO Weiter... LAURA Weiter!

GERARDO lustlos Im Grunde ist es sinnlos... LAURA Sinnlos? ... Warum? GERARDO Ich weiß nicht, sieht auf seine Uhr Weißt du, wie spät es ist? Schon llUhr! Er will um jeden Preis das Thema wechseln und stellt sich verärgert. Findest du es richtig, daß Rosi um diese Zeit mit Johnny unterwegs ist? ... Wohin? LAURA An den Strand, haben sie gesagt. Ich denke zu irgendeiner Bar... Es ist jetzt hübsch da, und sie sind jung... Oder willst du ihnen verbieten, sich zu amüsieren? GERARDO Nein! ... Ja! ... Wie soll ich das sagen... Ich sehe ihn zur Zeit... LAURA Findest du es nicht richtig? GERARDO Doch, es ist normal... LAURA Du machst ein Gesicht...! GERARDO Findest du es korrekt... LAURA

Ja sicher!

GERARDO Ich, ehrlich gesagt... LAURA Als hättest du das nicht auch gemacht! Gerardo... dahinten sehe ich eine gewaltige Maske! GERARDO versucht, seinen Schreck abzutauschen Maske? ... Wieso? ... Ich verstehe nicht...? LAURA grausam grinsend Denk einmal nach! GERADO Ehrlich, Mädchen, ich versichere... LAURA Du beschuldigst Johnny... GERARDO heftig Ahh, nerve doch nicht so! Gleich platzt mir der Kragen! Du, du...! Tonwechsel Wenn man nicht beizeiten Einhalt gebietet, muß man später zusehen... LAURA aggressiv Was auch immer, Johnny ist ein guter Junge und aus guter Familie... GERARDO Perfekt, Laura, perfekt! Tonwechsel Was gleichzeitig bedeutet, daß er tausend Probleme hat. Ich habe ihn hergebracht, weil ich dachte, er könnte arbeiten und studieren und das mit der Heirat könnten wir dann sehen. Aber dem Jungen gefällt das nicht. Mal ist es dies, mal ist es das, und ich versuche, ihn ins Geschäft einzuweisen, und was sagt er? Er sei dafür nicht geschaffen, wenn er dies macht, könnte er das andere nicht. Tu irgend was, Junge, sage ich, irgend was... und er antwortet, er sei das nicht gewöhnt, daß er, daß

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seine Familie... und die Sache ist die, verdammt, daß ich ihn schubsen muß, ihn auf etwas ansetzen, was mir gerade in den Weg kommt... und ich sage ja nicht, daß er kein guter Junge ist, und auch nicht, daß er nicht aus hervorragender Familie ist... Die Sache ist die... der Junge muß sich bücken... und das will er nicht, aber ich will das... und er schreibt an seine Mutter, und die Mutter schreibt mir, und ich schreibe an die Mutter, und der Vater sagt, ich soll ihn rannehmen, daß er nicht begreift, oder im Augenblick nicht begreifen will... heftig Und ich zerbreche mir den Kopf, was dieser Hanswurst will! Im offenen Oldsmobile von Bar zu Bar fahren, und die Rosi dabei wie eine Pute... Tonwechsel Das ärgert mich, das gebe ich offen zu. Wenigstens macht er das mit dem Fest gut... was ihn aber nicht daran hindert, heimlich lange Finger zu machen. Geste von Laura. Ich höre schon auf. Aber sag mir, was machen wir mit diesem dummen Kerl aus guter Familie, sag mir das? LAURA Reg dich nicht auf! GERARDO Ich soll mich nicht aufregen! Du machst es dir leicht! In seinem Alter habe ich meine Zeit nicht mit Bummeleien verplempert! LAURA Wenn du das nicht beizeiten tust, machst du es, wenn du alt wirst... Wie ein Fünfzehnjähriger erfüllst du dir jetzt deine Träume mit einem Fest! Einem Fest ohne Hand und Fuß, Cocktails, Tanz, ein Varieté, zu dem jedes Mitglied der Familie beitragen soll. Ein Befehl von dir! ... Und ich muß Worte hersagen, die ich niemals sagen würde, Szenen aufführen, die ich idiotisch finde... Und diese Szene, in der du Amelita deine Liebe erklärst... Tonwechsel Du würdest das gern in Wirklichkeit... GERARDO Das war nicht meine Idee, sondern Peruchos... LAURA Aber du hast es geschrieben... Ah, mein Gott, das Fest, das Fest! Wir kommen immer wieder auf denselben Punkt zurück! Ein Meer von Heimlichkeiten, und du verdrückst dich glatt wie ein Aal. GERARDO heftig Es quält dich, es... es nervt dich, es ärgert dich...! Ich weiß es genau! LAURA Der Junge hat mit den Diebstählen, die du entdeckt hast, nichts zu tun. Ich lege für ihn die Hand ins Feuer. GERARDO aggressiv Du wiederholst dich, das bringt mich auf die Palme! Wie Perucho... LAURA Ich verbitte mir diesen Vergleich... der und ich... Das ist das letzte, was ich brauche! schreit Das dulde ich nicht! Verflucht sei die Stunde, verflucht... Tonwechsel Einen solchen Verbrecher...! GERARDO Jetzt bin ich wieder der Böse!

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Das Fest

LAURA Ich habe dir nicht gesagt, du sollst ihn herbringen. Ich habe nicht den ganzen Aufstand um ihn gemacht, und ich habe ihn auch nicht abgeholt, als man uns sagte, er sei mit seiner Tochter in einem Boot bei Key West gelandet... wenn das seine Tochter ist, bin ich der Morgenstern... GERARDO tut erstaunt Meinst du? LAURA Was meine ich? Gerardo! Jetzt fällst du aus allen Wolken! ... Das erzähle einer anderen. GERARDO gespielt unschuldig Ich versichere dir, solange man mir nicht das Gegenteil beweist, glaube ich ihm aufs Wort. LAURA Wenn sie seine Tochter ist, ist das Inzest... Gott steh mir bei... GERARDO wütend Deine Phantasie ist überwältigend, meine Liebe. LAURA gekünstelt Ha, ha, ha! ... Wollen wir wetten? GERARDO überrascht Er ist dein Onkel! Sie sind deine Familie...! LAURA haßerfüllt Mein Onkel! Meine Familie! Feine Familie, ich schenke sie dir! GERARDO amüsiert Ich verleugne sie nicht, das bist du... läßt sich in einen Stuhl fallen. LAURA verletzt Ich verleugne meine Familie? Ich habe es dir so oft gesagt, und meine Mutter auch, am Telephon und in Briefen! Sie kann die Tränen nicht zurückhalten, schluchzt heftig. GERARDO verwirrt Ich wollte nicht... Wirklich, Liebes, ich schwöre dir... LAURA unter Schluchzern Er ist nicht mein Onkel! ... Laß mich! Faß mich nicht an! ... Er lebt von der Geschichte, wie so viele andere... Es gibt tausend Villavicencios, mein Lieber... Er ist weder mit Papa noch mit Mama verwandt. Schon als der erste Brief kam, habe ich es dir gesagt... Er ist nicht mein Onkel! erholt sich Gib doch zu, du hast ihn benutzen wollen, es war bequem für dich. Aber ich habe dich gewarnt... er ist ein verdammter Parasit! GERARDO komisch Komm, wir laufen zusammen weg! LAURA Ja, Gerardo, du benutzt ihn, wie du uns alle benutzt für diese Maskerade... Und woher kommt das Geld? Vielleicht aus der Luft? Von Freunden? Ein Bankkredit? Hast du eine Hypothek aufgenommen? Was hast du verkauft? Nachher stehst du nackt und bloß da...! Alle diese Tricks, mein Gott! ... Dieses Fest wird uns vor unseren Freunden und vor unseren Feinden lächerlich machen! ... Was sollen diese verrückten Kunststücke? Willst du den Dieb damit fangen? ... Der Dieb arbeitet bei dieser Farce mit dir zusammen! kreuzt die Finger Das schwöre ich dir! GERARDO

L a u r a , du...

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LAURA schluchzt heftig Laß mich! GERARDO Warte, Mädchen... LAURA wütend Laß mich los! sieht ihn böse an Ich sollte mich mit dem Schlachter oder mit einem Fußballspieler einlassen... reißt sich los und geht. Gerardo überrascht Laura! Trommelwirbel, Flöten, Kontrabaß. Lichtwechsel. Geschrei im Hintergrund: „Nieder mit dem Drama! Nieder mit der Tragödie! Wir wollen Musik! Musik! Das Fest!" Gerardo sieht sich überrascht um und lauft dann ab. 3. Szene Perucho allein. Er kommt wie eine Puppe, die man gestoßen hat, von der rechten Seite, erholt sich rasch, schaut ins Publikum, zwinkert jemandem zu. Im Hintergrund leise „Caballero, silencio" von G. Castillo. PERUCHO Haben Sie das gehört? Der Hühnerstall ist in Aufruhr! Ich bin ein toller Hecht! Ein toller Hecht! macht einige Tanzschritte wie der Schwarze im Buffo-Theater Ein kleiner Trick, und es läuft! Ich habe den lieben Gott am Bart gepackt! Feine Arbeit... Man soll sich nicht selbst loben, aber mit mir nimmt es so leicht keiner auf. Amelita muß sich für ihre Nummer fertigmachen... Uiiiiii, uiiiii! ... Meine erfundene Nichte geht die Wände hoch, und Gerardo hat nur noch Wasser im Kopf, aber ich sahne ab! Niemand hält mich auf! In einer Hand habe ich sie, in einer Hand! Alle werden mir zu Füßen liegen! 4. Szene Amelita und Perucho. Amelita kommt tanzend hinzu. AMELITA wie eine Figur aus dem Buffo-Theater He, Bimbo, mach mal halblang, tanzt Wir sind nichts! Staub und Asche! Und er hat Flausen im Kopf. Er glaubt, er weiß alles und ist unsterblich! wie eine Zauberin Zasss! verächtlich Geh mir aus dem Weg, jetzt komme ich. Singt einige Zeilen aus „La salida" von Cecilia Valdes. 5. Szene Johnny, Amelita und Perucho. Johnny kommt singend und tanzend hinzu. „Yo no tumbo cana", darüber schiebt sich der Refrain „Cabo de Guardia, siento un Uro", getanzt und ge-

Das

Fest

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sungen von allen dreien. Alle drei ab. Diese Szenen müssen fröhlich und komisch sein, ihre Dreistigkeit wird wie Verse eines Gedichts vorgetragen. 6. Szene Carmelina allein. CARMELINA Chicho, mein Junge! setzt sich in die Mitte der Bühne wie vor einen Spiegel und spielt mit einer Perücke Wie ist mir? Chicho, beeile dich! ... Pause Ich lebe den Roman einer unmöglichen Liebe, und niemand, niemand weiß davon. Es ist der Friseur an der Ecke! Tonwechsel Ah, Carmelina, wer hätte das gedacht! setzt die Perücke verkehrt herum auf Du benimmst dich total daneben! die Perücke rutscht zur Seite Ob er mich verhext hat? Zuzutrauen wäre es ihm! Ahhh... mit Trommeln und Pfeifen... ein Rhythmus, Blumen, Blumen regnen vom Himmel herab... Reiß dich zusammen! beschäftigt sich wieder mit der Perücke Wenn die Leute mich in diesem Zustand sehen, das gibt einen Skandal! ... Wenn er mich ansieht, durchbohrt er mich mit seinen Blicken... Zurückhaltung! ... Er ist umwerfend... Was sage ich da? ... Hast du den Kopf verloren? ... Ja, und wenn? sehr kokett zum Publikum wie in einen Spiegel Und wenn? 7. Szene Carmelina und Perucho. Perucho erscheint hinter einer Säule. Lichtwechsel. P E R U C H O Du b i s t g ö t t l i c h . Er verbirgt sich wieder. CARMELINA Wer? ... Ich höre Stimmen! ... Nein, du Dummchen! Ob es ihm gefällt? P E R U C H O mit Grabesstimme Señora, nehmen Sie die Mütze ab. CARMELINA Jesusmaria! Hilfe! Geister! Gespenster! Die Stimmen der Toten! läuft eilig ab. 8. Szene Perucho und Amelita. Das Licht läßt einen Garten oder einen verzauberten Berg entstehen. Im Hintergrund ein sternklarer Himmel. Grillen und Leuchtkäfer. PERUCHO kommt hinter der Säule hervor Endlich ist die Vogelscheuche weg! zieht eine Uhrkette aus der Tasche Ob sie kommt? A M E L I T A kommt hinter einer anderen Säule hervor, trägt einen Schläger über der Schulter Ich spiele dieses Hin-und-her nicht mehr mit. P E R U C H O ungeduldig Ich habe ihr gesagt, sie soll pünktlich sein!

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AMELITA zufrieden Ich mache ihn ein bißchen wild. Soll er leiden wie ein Stier! Er ist so... PERUCHO ungeduldig Die denkt, das sei ein einfaches Spiel! ... Ich gehe. Nein! ... Ich lasse sie stehen! Nein. Warte. Eine halbe Stunde... Schritte in trockenem Laub. Ha, da kommt sie! versteckt sich, lugt hervor, flüstert Wer ist da? verbirgt sich wieder. AMELITA Wer kann das sein? Jack the Ripper? versteckt sich, lugt hervor Schutzlos an einem solchen Ort! Und nur wegen dieses Kerls. Mich Mördern aussetzen! Oder Krokodilen! zu einer unsichtbaren Person Um diese Zeit machen sie Hackfleisch aus einem... fuchtelt mit dem Schläger Ich habe meine Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Schritte. Der Schläger fällt ihr aus der Hand. Sie versteckt sich. Hilfe! kommt wieder hervor, hebt den Schläger auf Oh, mein Herz! So rächt sich die Sünde... Ob er mich hört? 9. Szene Gerardo und die anderen. GERARDO Da sind sie! Ich habe sie erwischt! versteckt sich, lugt vorsichtig hervor Konspiration, eine Konspiration! PERUCHO kommt aus seinem Versteck und geht zur Säule, hinter der Amelita steht Du? AMELITA Nein! Ein Monster! Frankensteins Tochter! PERUCHO Laß den Quatsch, die Sache ist ernst. AMELITA Wirklich? ... Das wußte ich nicht. ... Und warum machst du so ein Gesicht? PERUCHO Wie müssen sofort etwas unternehmen! AMELITA Ich verstehe nur Bahnhof. PERUCHO scharf Hör zu, der Spaß ist zu Ende! AMELITA Wie energisch, Papi! PERUCHO Laß jetzt das Spiel. Schritte im Laub. AMELITA Vorsicht! Da kommt jemand! PERUCHO grinsend Auf einmal Angst? AMELITA Keine Angst, Vorsicht. PERUCHO verächtlich Eidechsen, Grillen, Leuchtkäfer... Du bist nervös. Amelita sieht sich vorsichtig um, hört ihm nicht zu. Das ist das Gespenst, meine Liebe! umarmt und küßt sie auf den Hals, die Schultern Der Mann schmilzt dahin... AMELITA versucht, sich loszumachen Hör auf mit dem Theater.

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PERUCHO Ich bin verrückt nach dir! Das s c h w ö r e ich! Sieh mich an, faß mich an! Ich verliere den Verstand. Jetzt haben wir es geschafft. AMELITA Wovon sprichst du, mein Lieber? PERUCHO Bist du schwerhörig? GERARDO zeigt sich kurz Unglaublich! verschwindet wieder. AMELITA Wie gemein du bist! ... Hast du das Geräusch gehört? PERUCHO Der Wind in den Zweigen. Hast du dich entschieden? AMELITA macht sich von ihm los Ich verstehe nicht. PERUCHO Ich erkläre es dir! Hier hast du Scheine, h ü b s c h e grüne Scheine! zieht ein Bündel Dollars hervor Uns erwartet das süße Leben. Wir machen uns noch heute davon. Amelita schlägt ihm das Geld aus der Hand. Heb das wieder auf! Hast du mich verstanden?! Sofort! AMELITA herausfordernd Vorsicht, mein Lieber! Ich glaube, du hast den falschen Wagen erwischt. PERUCHO will sie schlagen Paß auf, du Luder... AMELITA aggressiv Los doch! ... Trau dich...! Du hast gedacht, ich spiele mit, Kleiner! ... Geklautes Geld bringt kein Glück! ... Keinen Schritt mache ich mehr mit dir! PERUCHO verärgert Aber... Amelita... du... GERARDO zeigt sich Er war das! ... Der Hundesohn! verschwindet. PERUCHO heftig Du kannst dich nicht weigern! Du warst begeistert... AMELITA spöttisch Natürlich! Wer nicht? ... Ich konnte mein Talent als Schauspielerin zeigen... Begreifst du das, H o h l k o p f ? sehr kokett Ah, habe ich mir gesagt, so soll das gehen, nun, mit d e m Fahrrad über die Niagarafälle... W a s verlierst du schon... N u r keine H e m m u n gen... Der Kerl will dich benutzen, sagte ich mir... N e n n e n wir die Dinge doch bei ihrem Namen... Und nicht nur dich, auch die anderen, Carmelina, Gerardo, Johnny... N u r Laura hast du nicht einwikkeln können... sie nicht, mein Junge... ein harter Knochen... GERARDO theatralisch Das ist die Höhe, Gott im H i m m e l ! Soll ich sie überraschen? ... Nein, lassen wir den Dingen ihren Lauf! PERUCHO Nur weiter so... mich bringst du nicht aus der Fassung! GERARDO in seinem Versteck Ich sehe und glaube es nicht. Ich höre und sehe es nicht. AMELITA Mephisto! ... Aber es hat seine Logik, denn verrückt sind wir nicht... Du hast Kopf oder Zahl gesetzt. Du hast ihm die Idee mit d e m Fest als Floh ins O h r gesetzt, du hast ihn eingewickelt, bedrängt... die Masken w ü r d e n dir das große Spiel ermöglichen... hahaha... deine Ideen... Ich deine Tochter! Laura deine Nichte! ... S o

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wie in dem Film, den wir in Havanna gesehen haben, will er zeigen, daß die Wahrheit eine Lüge sein kann und die Lüge Wahrheit, daß man nie weiß, wann es Lüge und wann es Wahrheit ist... Schlaues Kerlchen! ... Aber, wie meine Großmutter sagte: Übermut tut selten gut! ... Du bist ständig auf der Jagd nach dem großen Coup... PERUCHO Es ist uns nicht schlecht gegangen... AMELITA Aber ich bin es leid... Ich dachte, wenn wir erst aus der Hölle heraus sind... wenn alles anders ist, neue Möglichkeiten... du würdest dich ändern, neu anfangen... Aber fünfzehn Jahre sind zu viel. Eine Ewigkeit... Mein Gott... Ich habe dich geliebt. Aber jetzt laß mich in Frieden. PERUCHO Das kannst du mir nicht antun! Nein, Amelita, nein! AMELITA Reg' dich nicht auf! Beruhige dich! PERUCHO packt sie heftig Du mußt mir zuhören! AMELITA Daß ich nicht lache... geht nach hinten ab. PERUCHO hinterher Lebendig kommst du mir nicht davon! ... Du kommst mit mir! ab. Aus dem off Geschrei, Lärm : „Sie bringt mich um! Hilfe! Sie bringt mich um!" 10. Szene Gerardo allein. Während er spricht verändert sich das Ambiente. Grillen, Vögel, Leuchtkäfer, Wellenrauschen, leichter Nebel wie in der Morgendämmerung. GERARDO Er hat es so gewollt! Geschieht ihm recht! ... Oh, ich Esel! ... Ja, ich! schlägt sich auf die Brust Es gibt keine Entschuldigung für so viel D u m m h e i t ! fällt auf die Knie Ich bringe mein eigenes Haus in Gefahr... Ein Streben nach Macht, nach Eroberung...? Eine Laune? Oh, Eitelkeit, du peinigst mich...! Oh, weichet doch, ihr Schatten! Oh, aus welch zerbrechlichem Stoff sind wir gemacht! Pause, holt tief Luft, in anderem Ton weiter Mein Großvater knurrte immer, ich höre ihn noch genau: „Wie der Herr, so's Gescherr". Laura hat Recht Pause Eitelkeit... Was soll ich tun? Er lehnt sich gegen einen Baumstamm, rutscht hinunter, schläft ein. Stimmen aus dem o f f .

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11. Szene Don Benito, Doña Papilla, Gerardo. Im Nebel wird es langsam Morgen die beiden Alten kommen auf die Bühne, Doña Pepilla am Stock. D O Ñ A P E P I L L A Warte, Beni, warte. Wir haben uns verlaufen. Und dieser Nebel, zum Zerschneiden. Mein Gott, wo sind wir? Die Politik! D O N B E N I T O Meckern, immer nur meckern, das hast du dein Leben lang gekonnt... D O Ñ A P E P I L L A Ich bin blind, Liebster. Ich sehe nur Umrisse... Der graue Star... bestimmt... irgend etwas ist mit mir passiert. Ich sehe nichts. Ich schwebe wie in einer Mondlandschaft. Letzte Nacht habe ich geträumt... eine Mondlandschaft... Warte doch, Benito... Vorsicht, Benito. Ich bin über einen Haufen gestolpert. Ich falle... Er bleibt stehe, dreht sich nach ihr um, schüttelt den Kopf. Benito, Benito... laß mich nicht allein! Und die Kinder? Wo sind sie? D O N BENITO Mach dir um die keine Sorgen. Die sind jung... Tonwechsel Langsam, na komm. D O Ñ A PEPILLA D U behandelst mich, als wäre ich... Tonwechsel Hübscher Ort hier... Nicht wahr, Benito? Ich bin noch nie... D O N BENITO Tausendmal... D O Ñ A PEPILLA Tausendmal? D O N BENITO Ja, tausendmal. D O Ñ A PEPILLA Niemals! D O N BENITO Sei nicht albern! D O N A PEPILLA Niemals! D O N BENITO Wie kannst du niemals sagen, in diesem Ton? D O Ñ A PEPILLA Ja, niemalsniemalsniemals! Und wenn es dir nicht paßt, bitte sehr. D O N BENITO Erinnerst du dich an diesen Amerikaner... Mr. Taylor... oder hieß er Mr. Rogers? Erinnerst du dich? D O Ñ A PEPILLA Ob ich mich erinnere? An was soll ich mich erinnern? Ich erinnere mich kaum daran, ob ich lebe und ob der Mond oben oder unten ist... Ich bitte dich, Benito! D O N BENITO Mr. Taylor oder Mr. Rogers, der in Sarasota lebt... D O Ñ A P E P I L L A Sarasota? Was ist das? Eine Stadt oder eine Insel? D O N BENITO Sarasota! S a r a s o t a . D O Ñ A PEPILLA Wer? ... Mr. Taylor oder Mr. Rogers? D O N BENITO Einer von beiden. D O Ñ A PEPILLA Wer ist wer? Auf einen müssen wir uns verständigen?

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DON BENITO Hör zu! Mr. Taylor oder Mr. Rogers, einer von den beiden brachte uns... hierher. Bei dem Picknick ist zum ersten Mal von dem Fest gesprochen worden. Doña Pepilla bückt sich, um Blumen zu pflücken. Wir haben mit Johnnies Radio Celia Cruz gehört und haben gebratene Hühnchen gegessen unter einer dieser Pflanzen, und Perucho hatte die Idee mit dem Fest... Sie sind bei dem schlafenden Gerardo angekommen. Perucho und Amelita waren gerade angekommen... die Schwarze schlug Funken, mit ihren Hüften, tin tan, tin tan, und Gerardo, du kennst ihn ja, du hast ihn schließlich zur Welt gebracht, der hat gleich angebissen... DOÑA PEPILLA Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. DON BENITO Ich? DOÑA PEPILLA Ja, du. Hinter den Schwarzen her bis z u m Geht-nichtmehr und dann den Heiligen spielen... richtet sich auf, die Blumen fallen auf Gerardo, den sie nicht bemerkt hat Und dein Sohn, mein Gott, Benito, ein Schürzenjäger, und schamlos... direkt vor Lauras Nase, die Augen sind ihm fast aus dem Kopf gefallen... bei den Proben zu der Komödie, weißt du noch? ... Sie hat ihm die kalte Schulter gezeigt... ha, und dieses Getue: „Das Fest ist für dich." Ja, ja... hahaha... Aber in ein Flugzeug steige ich nicht, oh nein! DON BENITO Zum Teufel, dich soll einer verstehen! DOÑA PEPILLA sehr laut Und Gerardo, der weiß, daß ein Kater fünf Beine hat und nicht vier! GERARDO wacht auf Was ist los? Wer hat mich gerufen? setzt sich auf. DON BENITO Junge? DOÑA PEPILLA Mein Junge, wir haben dich gesucht, überall haben wir dich gesucht, ich bin müde, zerschlagen... und Rosi und Johnny...! GERARDO ES wird schon hell... Was macht ihr hier, ihr Armen! DOÑA PEPILLA Was sagst du? Tonwechsel Benito, Politik... ist verboten! DON BENITO Wie freuen wir uns! DOÑ PEPILLA ruft Rosi, Johnny... zu Don Benito Die hatten wir ganz vergessen... ruft Rosi, Johnny! DON BENITO ruft Rosi, Johnny! DOÑA PEPILLA zu Gerardo Sie haben sich verlaufen! Diese Wege sind ein richtiges Labyrinth! Uns ist das auch passiert... ruft Rosi, Johnny! GERARDO ruft Rosi, Johnny! DOÑA PEPILLA Oh, Jugend, göttliche Gabe, du kehrst nie mehr zurück,

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ich weine, weil ich dich nicht habe, und doch weine ich vor Glück... 12. Szene Rosi, Johnny und die anderen. Es wird hell, die Szene sieht wie verzaubert aus. ROSI singend Hallo, hallo, hier sind wir! Bei Johnny eingehakt kommt sie von hinten auf die Bühne. Ihr Kleid ist völlig zerdrückt. Sie küßt ihn. JOHNNY Ich werde mit deinem Vater reden. DOÑA PEPILLA lächelnd Ich sage ja, die Jugend... GERARDO verärgert Prügel verdienten sie... beide... hebt eine Blume auf. DOÑA PEPILLA Seht euch das an! küßt Gerardo Mein Engel, mein Engel! Gerardo gibt ihr die Blume. ROSI Großmutter, Großvater, Papi! Seht nur, wie schön! betrachtet begeistert den Sonnenaufgang Als könnte man den Himmel mit den Fingern berühren, und den Regenbogen! JOHNNY Doña Pepilla, es sieht aus wie das Paradies... Goldene Blätter fallen auf ihn herab. ROSI Ein Wunder, Großmutter... JOHNNY Das Paradies... Es ist, als streiften wir die Wolken... kommt zu den anderen in den Vordergrund Das Paradies, Großmutter. Rosi läuft Gerardo in die Arme und küßt ihn. ROSI Ich hab dich sehr lieb, Daddy! Sehr. Großvater, komm her... Don Benito tritt zu ihnen, und sie umarmt und küßt ihn. Ich bin so glücklich, es ist heute so schön, so schön, alles um uns herum... Papi, Johnny will mit dir reden. GERARDO

Jetzt?

ROSI Nach dem Fest. DOÑA PEPILLA Ja, mein Junge, ja... Aber ich sage dir, in Kuba war der Himmel so blau, so blau, und die Blätter an den Bäumen und die Schmetterlinge und die Sterne fielen uns in die Hände... das war ein Fest... zieht einen Grashalm aus seinem Haar trotz Politik, mein Sohn. JOHNNY Ja, Großmutter, in Kuba... das war ein Fest... DOÑA PEPILLA Ich will ja nichts schlecht machen, aber da... JOHNNY singt Allá en la Siria había una mora, una mora encantadora, ay, mora, déjame te querer... GERARDO zu Rosi Warum seid ihr hier? Was ist passiert? ROSI Uff! ... Was ist passiert? ... Johnny, was ist passiert? ... Ah, ja, als Mama und du gestritten habt, sind wir gegangen, einen Bummel

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machen, und dann wollten wir zurückgehen, und wir haben Mama getroffen in einem Meer von Tränen, und sie hat gesagt, du hättest die Tür hinter dir zugeknallt, und Großmutter hat geheult, und Großvater hat gesagt, wir sollten dich suchen, und da sind wir los und wußten nicht wohin und haben uns verlaufen... GERARDO Aber, warum habt ihr mich gesucht? DONA PEPILLA

Das

Fest!

GERARDO Wirklich das Fest? JOHNNY Wir haben gerufen... Rosi Ja, wir haben gerufen, Großvater, Großmutter, Papi! DONA PEPILLA zw Rosi Benimm dich, Kind! Und das Kleid, du lieber Gott! Wo bist du gewesen? Und Johnny ist voller Gras! Was habt ihr auf der Wiese gesucht? Gibt es dafür keinen anderen Platz? Rosi Großmutter! DONA PEPILLA Was sage ich deiner Mutter? ROSI zwinkert ihr zu, singt, während sie ihr Kleid in Ordnung bringt, ein volkstümliches Tanzlied. Alle klatschen begeistert. Refrain. DONA PEPILLA klatscht begeistert Laßt uns singen! Laßt uns singen! Sie nimmt Gerardo und Don Benito bei der Hand. Mit Rosi und Johnny bilden sie einen Kreis und singen ein Kinderlied. Sie beivegen sich im Kreis in den Hintergrund. Die Blätter fallen von den Bäumen. Grillen.

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Das Fest

Dritter Akt 1. Szene Carmelina. Carmelina schläft in einem Sessel, die brennende Lampe in den Händen. Diffuses Licht umhüllt sie, rundherum ist es dunkel. Auf einer Kleiderpuppe hängt ein Kleid von Marie Antoinette. Aus dem off Stimmen, leises Lachen, Tafelgeräusche, Bestecke, Teller, Gläser. Leise Musik, in Abständen langsame Glockenschläge. Carmelia erwacht abrupt. CARMELINA Was ist? Kommt da jemand? Wer...? Schritte. 2. Szene Carmelina und Amelita. Amelita erscheint in elegantem CARMELINA

Abendkleid.

W e r ist d a ?

Endlich bist du wach. Tonwechsel Das ist ein Moloch! Hast du jemanden herumschleichen sehen? A M E L I T A Nein. Warum? ... Vor einer Weile habe ich nach dir gesehen. Aber du hast geschlafen. CARMELINA Ich habe gespürt, wie ein Schatten kam und mich anfaßte. Ich habe es so deutlich gespürt, so stark, daß ich aufschreckte... A M E L I T A Das passiert im Traum manchmal, setzt sich. CARMELINA Oh, das war schrecklich. Wie eine Vergewaltigung... Im Traum habe ich mich gewunden, bin hin und her gerannt, ich habe unglaubliche Dinge gesehen, ein Durcheinander von Gesichtern und Masken... ein Karneval... Die Dinge vertauschten sich, drehten sich, schlugen gegeneinander... Ich rannte nackt durch die Strassen... Das war ein ständiger Lärm, ein Fest, das aufhörte und immer wieder begann... A M E L I T A Nun, jetzt wird gefeiert. CARMELINA Haben sie das Flugzeug schon aufgestellt? A M E L I T A Schon lange, Carmelina! Eine Sensation! Sogar die Hotelangestellten bestaunen es, fassen es an, wie ein Stück vom Mars. CARMELINA Wie neugierig die Menschen sind! A M E L I T A Ja, jetzt kommen sie. Hörst du? Das Finale! Tonwechsel Mich beunruhigt, daß einer der Techniker gesagt hat, das Flugzeug sei nicht sehr stabil, das Gewicht der Alten könnte es beschädigen. CARMELINA Ich verstehe nicht, warum er sie zwingen will, da einzusteigen? Er ist unerträglich! AMELITA

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AMELITA Für ihn ist das eine Frage von Leben und Tod, meine Liebe, das Programm muß eingehalten werden. Besessenheit... CARMELINA Launen! ... Er wollte mich für die Sache gewinnen, imitiert ihn Einladungen, so viele. Programme, so viele. Tonwechsel Dem ist es zu Kopf gestiegen, habe ich mir gesagt. Bis zu einem gewissen Punkt helfe ich dir, und dann Fröhliche Ostern und Adieu! AMELITA Mit mir genauso, amüsiert Und jetzt rauft er sich die Haare, weil Laura weggegangen ist, und Rosi und Johnny sagen, sie würden nicht den Clown machen... CARMELINA Das ging so schnell, Amelita! Tonwechsel Zuerst habe ich gedacht, ich müßte ihm helfen... Er tat mir leid, weil Laura so widerspenstig war und so ein Fest sehr viel Arbeit macht... Armer Teufel, so ganz allein! AMELITA Nun ja, wird schon schiefgehen, steht auf, sieht sich um In dieser Dunkelheit kann man sich unmöglich bewegen... Wir sind wie herumgeisternde Seelen... Licht! Licht! komisch Ein wenig Licht für diese verzweifelten Seelen... geht ins Dunkle und kommt sofort mit einem Paket Kerzen zurück, öffnet es. Carmelita sieht ins Publikum wie in einen Spiegel, reibt sich Creme ins Gesicht, auf die Arme. Amelita zündet die Kerzen an, setzt sie auf Baumstümpfe, Säulen etc. leise Musik: „Sobre las olas". CARMELINA Wie ich sehe, gehst du nicht auf das Fest. AMELITA Ich? ... Meine Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. Erinnere dich, ich habe dir doch gesagt, daß... CARMELINA unaufmerksam Ah, du gehst mit mir! Das mit Gerardo mußt du vergessen. Nur keinen Streit, meine Liebe... Ein Fest ist ein Fest. Hörst du, „Sobre las olas"...tralala, tralala... Gerardo und Laurita werden jetzt tanzen... so war es vorgesehen... Ah, daß ich diesen wunderbaren Augenblick versäume! ...tralala, tralala... Beeile dich! AMELITA Das fehlte mir noch! CARMELINA Die Königin Etiope! AMELITA Carmelina, ich bitte dich...! CARMELINA Ist ja gut... Diese Nummer ist wundervoll, wenn du rezitierst: „Schlafwandelnd wie ferne Gewässer/Orions Gärten wiegt die D ä m m e r u n g " und danr. die Trommeln und die indische Musik... imitiert die Musik und dann kommen die Eunuchen, und du bewegst dich wie eine Schlange... tarn tarn tarn tarn tarn... und dann Gerardo, als Zauberer verkleidet... Oh du, unvergleichliche Etiope... Wir haben es tausend Mal geprobt, und es war unerhört gut... und die andere Stelle, wenn du singst... singt Ich bin Amelita Valdez...

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energisch Nein! Ich habe nein gesagt! Und was werden die Leute sagen? Gerardo kriegt einen Anfall! Ich kenne ihn. AMELITA Er weiß es nicht, und ich werde es ihm nicht sagen... Ich habe mit Laura gesprochen. Das Fest findet ohne mich statt! CARMELINA Wenn er es erfährt, stelle ich mich in die erste Reihe, um ihn ganz genau zu hören. Tonwechsel Und das mit Perucho? ... Laura hat sich köstlich amüsiert... A M E L I T A rasch Geh du und amüsiere dich! CARMELINA als spräche sie in den Spiegel, steigert sich bis zur Nervenkrise, während Amelia lächelnd ihre Arbeit fortsetzt Ich bin nicht fertig! Ich bin noch im Nachthemd...! Wie grausam, Heilige Jungfrau, Schmerzensreiche! Und mit Lockenwicklern, ungekämmt! Mir bleibt keine Zeit mehr! macht sich in aller Eile zurecht Wie konnte mir das nur passieren? ... Ein Alptraum, sage ich dir, ein Alptraum! Was werden die Leute denken! ... Oh, mein Gott, dieser Kampf, diese Qual! Ich habe alles verschlafen! wirft den Kamm weg, bürstet sich die Haare, wirft auch die Bürste weg. Die Stimmen aus dem off werden immer lauter. A M E L I T A geduldig und aufmerksam Du hast noch Zeit. CARMELINA Amelita... sieh dir diese Strähnen an... Wenn ich mir die Haare gewaschen habe, sind sie immer scheußlich! Es ist zum Auswachsen! ... Sieh dir diese Vogelscheuche an, von allen Seiten! In wieviel Zeit könnte ich mich total umstülpen? Ja, lache nicht! ... Wozu auf das Fest gehen? Wozu...? Ich würde doch nur stocksteif dasitzen! ... Aber, warum bin ich denn hier? sieht sich völlig verzweifelt um Was ist das hier? Wo bin ich? Wo...? W o ist mein Kleid? Und meine Schuhe? Und mein Unterrock? Und die Strümpfe? Wo sind meine Ohrringe? Und meine Armreifen und die Kette...? Wo...? beginnt zu weinen Oh, Amelita, was für ein Schicksal! Eine Tragödie...! A M E L I T A Beruhige dich, läßt die Kerzen liegen und geht zu Carmelina Alles braucht seine Zeit, hilft ihr Bürste nicht so heftig. CARMELINA Es hat keinen Zweck mit mir! Ich bin häßlich im feinsten Seidenkleid... A M E L I T A frisiert sie Das einzige, was wir besitzen, ist unser Körper, Carmelina. So schwierig und fremd es dir auch erscheinen mag, lerne ihn ein wenig kennen und akzeptiere ihn. Ich versichere dir, du wirst bald merken, er ist ein Wunderwerk. Sieh her, nimm das Haar zusammen! Carmelina weint und schlägt auf den Sessel. Beruhige dich. Was hast du dagegen? Das Kleid ist wunderschön. AMELITA

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José Triana

CARMELINA Du kannst das nicht verstehen! AMELITA Laß sehen... Genauso! ... Zu dieser Seite... Laß den Stift, nimm den crayon. schminkt sie Langsam! wischt die Creme ab Keine Grimassen, bitte. CARMELINA Ich bin alt... siehst du das nicht? ... Was für ein Gesicht soll ich nehmen? Ich kann mir einfach keine Maske vorstellen... Ich möchte sterben! AMELITA energisch Tu, was ich dir sage, wenn du nicht wie ein Clown aussehen willst. Nicht so! Wie störrisch du bist! CARMELINA muß lachen Wie Perucho! Wahnsinn! ... Ich hätte mich das nie getraut! Ihn schlagen! Du bist mir eine... AMELITA Komm, mach dich fertig. CARMELINA Und die Polizei, was hat sie gemacht... ins Krankenhaus...? AMELITA kümmert sich wieder um die Kerzen Perucho weiß genau, daß ein Skandal ihm gar nicht gut bekäme... Er hat gesagt, er sei überfallen worden, als er nach Hause ging, daß er in der Dunkelheit nichts erkennen konnte, daß ich ihn mit dem Schläger verteidigen wollte... Die Musik wird etwas lauter. CARMELINA Der Ärmste! kleidet sich hinter dem Paravent um ...reich mir bitte den Unterrock! AMELITA reicht ihn ihr, nimmt dann das Kleid von der Puppe Wie wunderschön, mein Gott. Tonwechsel Es ist eine Schande, und immer, wenn ich daran denke... hilft Carmelina beim Anziehen. CARMELINA Mach dich nicht verrückt, besieht sich im Spiegel Steht es mir? Es ist übertrieben! Ich als Marie Antoinette! Und diese Falten! Der Saum geht auf... reißt die Blumen vom Kleid und wirft sie weg Sie sind ganz verwelkt... Es ist ein bißchen eng. Gefällt dir die Farbe? AMELITA Wunderschön... Was er gegen euch ausgeheckt hat, gegen Laura und Gerardo, das ist unverzeihlich! CARMELINA Oh, die Träger vom BH gucken raus!... Amelita, du bist ein Schatz, gibt ihr einen Kuß. AMELITA Siehst du...

CARMELINA sehr zufrieden mit sich Gott vergelte es dir! Sie sammelt die herumgeworfenen Kleidungsstücke auf den Kamm, die Bürste. Die Musik wird lauter. Rufe: „Leiser, bitte! Vorsicht mit den Kabeln! Das Flugzeug! Was ist mit dem Programm? Das Programm muß eingehalten werden!" Amelita steht wie abwesend im Vordergrund. Hörst du? Das Fest läuft auf Hochtouren. AMELITA Und eines Tages...

Das Fest

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zieht die Schuhe an Sprichst du mit dir selbst? Ah, Amelita, komm raus aus dieser miesen Stimmung! Ich dachte, es würde dir nichts ausmachen. A M E L I T A Wie es da drinnen aussieht... CARMELINA Heute Abend ist das Fest! Mach nicht so ein Gesicht! komisch Heiliger Antonius, Heilige Margarethe, heilige Eulalia und der Geist der Auferstehung, kommt, kommt schnell, fliegt herbei... helft diesem armen Wesen, Licht, Licht... legt zärtlich den Arm um Amelita Gehen wir! ... Hasse ihn nicht... vergiß! Amelita lächelt schwach. Von draußen Festlärm, Tanzschritte. Wir Frauen, meine Liebe, ziehen immer den Kürzeren. Entweder ist der Mann ein Dummkopf oder eine Kanaille. Der meine, Gott hab ihn selig, gehörte zur ersten Gruppe... wie soll ich sagen... als... als Übergröße... Musik: „Allá en Jamaica un inglés" gespielt von Sierra Maestra, sehr laut. Die Kerzen verlöschen.

CARMELINA

3. Szene Johnny, Amelita und Carmelina. Johnny erscheint im Frack. Es ist hell. J O H N N Y He, was macht ihr? Die Leute fragen schon nach euch. Gerardo schickt mich, euch zu holen. Die Band ist schon da. macht einige Tanzschritte Hört ihr das? Super! Kommt, schnell... kommt schon... du auch! Er umfaßt Amelita, die keinen Widerstand leistet. Sie tanzen zusammen. Laura und Don Benito erscheinen. 4. Szene Laura, Benito und die anderen. Laura ist als Königin Mutter gekleidet mit einer Hexenmaske. Don Benito erscheint als Kardinal mit Vogelmaske. Beide klatschen. Die Musik hat aufgehört. Tafelgeräusche. CARMELINA exaltiert Ein absoluter Erfolg! zu Amelita Du warst einfach Spitze. D O N B E N I T O Hör mal, Schwägerin, das Kostüm deiner Schwester ist ja zum Weglaufen, wirklich! Shirley Temple, in ihrem Alter! A M E L I T A lächelt Don Benito hat Recht. CARMELINA Warum? Sie fand sich schön. Ich habe ihr nicht das Messer auf die Brust gesetzt... D O N B E N I T O Sieh sie dir an, dann reden wir weiter! LAURA Don Benito übertreibt. Ein Kostüm ist ein Kostüm.

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/osé Tnana

DON BENITO Nun, deine Tochter ist da anderer Meinung. CARMELINA Rosi hat es immer mit ihrer Großmutter... DON BENITO Eine Vogelscheuche! JOHNNY ZU Amelita D u e n t k o m m s t mir nicht! K o m m wir legen eine Rumba aufs Parkett! Carmelina, Amelita und Johnny tanzend und singend ab. 5. Szene Laura und Don Benito. LAURA Ich gehe keinen Schritt mehr! Nach dem Walzer und dem vielen C h a m p a g n e r . . . Ich kann k a u m m e h r aufrecht stehen. Mir ist schwindelig... Ist das ein Trubel! Aus dem o f f : „Das Programm! Das Programm muß eingehalten werden!" DON BENITO Das war zu erwarten... Hör dir das an! Ich freue mich. Wer hat ihm befohlen, diesen Mumpitz anzuzetteln! Lärm aus dem o f f , Gerardo ruft nach Laura. Das hört sich an wie das Ende der Welt! ... Deine bessere Hälfte ruft nach Dir... LAURA W a s mag er jetzt wollen? ruft Was willst du? 6. Szene Laura, Don Benito und Gerardo. DON BENITO Da kommt er schon angeschnaubt! GERARDO Laura, ich habe dich überall gesucht... Natalia und Ricardo sind gekommen... Sie wollen dich begrüßen, sie warten auf dich... Es sind so viele Leute da, w e n n wir uns nicht beeilen, verlieren wir sie... zu Don Benito Es ist unglaublich, Papa! Ich hätte nie gedacht, d a ß es solche F o r m e n a n n e h m e n könnte. Und diese Journalisten! Einer hat sich an eine L a m p e gehängt. A n d e r e habe ich erwischt, wie sie Schnittchen u n d einen Kasten Bier geklaut haben, zu Laura K o m m doch, bitte! LAURA Ich kann nicht, Gerardo. Bitte mich nicht darum, ich bin völlig fertig. GERARDO Ihr seid alle gegen mich! DON BENITO streng Das reicht, Gerardo! GERARDO Aber so ist es doch! V e r d a m m t ! Alle lassen mich im Stich! ... Das P r o g r a m m ist z u m Teufel! ... Und das blöde Flugzeug macht so viel Lärm... Die Angestellten streiken... Und die Leute kommen und kommen... Und dann der Zigarettenqualm... Ich kann nicht mehr... LAURA Ich mag solche Feste nicht. Bist du zufrieden?

Das Fest

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GERARDO hört nicht zu W a s ich auch sage, ihr seid dagegen und macht lange Gesichter! DON BENITO Mein Sohn, hör zu: Ist das hier Versaille, der Kreml vielleicht, oder ist das eine Familie? GERARDO Ich möchte dazu nichts sagen, Papa. DON BENITO heftig Was meinst du? GERARDO Ich versuche nur, festzuhalten... DON BENITO Festzuhalten, was...? Ist das hier ein M a c h t k a m p f oder ein Fest? GERARDO Ein Fest erfordert... DON BENITO DU forderst! Leg die Karten auf den Tisch! Tonwechsel Mein Sohn, sag es gerade heraus... W a s bedeutet diese Besessenheit, daß alle tun müssen, was du sagst? ... Du redest von Demokratie. Das ist verdächtig... Auf einem Fest wird mit den F r e u n d e n gegessen und getrunken und geplaudert... W a s willst du? ... Wir leben in einem freien Land, in einer Demokratie! Oder hast du dir eine andere Demokratie ausgedacht, wie dieser Bartträger? ... Wir haben dir geholfen, ich, Laura, Carmelina, der eine mehr, der andere weniger, aber, daß wir jetzt nach deiner Pfeife tanzen sollen, davon sind wir meilenweit entfernt, mein Junge... GERARDO Ihr sucht nur nach einem Vorwand... LAURA Ich glaube, jetzt gehst du zu weit, mein Lieber... Ich kann einfach nicht mehr. DON BENITO Du bist unverschämt...! GERARDO schlägt sich heftig auf die Brust Ich kann es in alle W i n d e hinausschreien! Wenn ich das erzähle, wird die Welt mir Recht geben! DON BENITO Natürlich! Es k o m m t darauf an, wie du es erzählst! Du erzählst nur, w a s dir paßt, nur zu... geh doch! R e d e mit deinen Freunden und Kollegen... zu Laura Der regt mich auf! zu Gerardo Wir machen lange Gesichter, wir suchen V o r w ä n d e , er ist ganz allein, zu Hause hast du die Hölle... Wir haben dich wie einen H u n d auf der Straße stehen lassen! Arme, unglückliche Seele! G e h schon! Sag es allen! Erzähl es überall! Ich bin ganz ruhig u n d in Frieden mit meinen Toten. Ja, Gerardo! Ich bin in Frieden! ... D u glaubst, weil du uns hilfst, hast du das Recht... Und wir helfen dir gar nicht, holen dir nicht hundert und tausend Mal die Kastanien aus dem Feuer...? Weil wir uns jetzt nicht von dir tyrannisieren lassen wollen, für ein mieses Machtspiel, für deine Eitelkeit, deinen Hochmut... deshalb! Geh z u m Teufel, Gerardo. Es tut mir in der Seele weh... Pause Ich geh mit der Musik woanders hin! Ab.

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José Triaría

GERARDO

ruft Papa, warte!

7. Szene

Gerardo und Laura GERARDO DU bist natürlich auch viel besser. Aber das macht ihr nicht mit mir! Wütend ab.

8. Szene

Laura allein. LAURA Jetzt hab ich wieder den schwarzen Peter! Oh, nein! Gewaltiger Lärm aus dem off. Großer Gott, Gerardo! ab. Geschrei und Gelächter aus dem off.

9. Szene

Rosi, Doña Pepilla und ]ohnny. Doña Pepilla kommt mit zerrissenem Kleid, verrutschter Shirley Temple Perücke. Rosi und Johnny hinter ihr her. DOÑA PEPILLA Daß er mir das antun mußte, mir, seiner Mutter! Oh, mein Gott! Daß mein Sohn mich so schubsen konnte, wie ein Zirkuspferd... Rosi will zur Großmutter. Johnny hält sie zurück. Doña Pepilla setzt sich, wischt sich die Tränen, sieht dann auf. Ich habe dir gesagt, daß der Herd nicht für Plätzchen geeignet ist. Schluß aus! JOHNNY

L a ß sie.

ROSI Mir bricht das Herz! ... Großmutter, liebe Großmutter... DOÑA PEPILLA Hör auf, Rosi. deutet erschrocken auf die Säulen Sieh mal! ßüsternd Dahin! Rosi sieht in die andere Richtung Wohin? DOÑA PEPILLA

Dahin!

ROSI sieht ins Publikum Ein Spiegel, Großmutter. Ein Spiegel. JOHNNY Dahinten, Großmutter? DOÑA PEPILLA Nein, mein Junge, da, da... JOHNNY geht zu den Säulen Hier ist nichts, Großmutter. ROSI Nichts. DOÑA PEPILLA Gar nichts? ... Mein Gott, wie seltsam! Ich hätte gewettet, daß da Leute sind... Ich fühle mich verfolgt, von tausend Augen, tausend Mündern, tausend Händen... ach, Rosi!

Das Fest

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Großmutter, du träumst nur. Im Traum passiert manchmal, was man sich nicht erklären kann... D O Ñ A PEPILLA herrisch Laß diesen romantischen Quatsch! ROSI Fühlst du dich besser? D O Ñ A PEPILLA wirft Perücke und Maske weg Ich habe dir gesagt, daß ich dieses Kleid nicht will, nicht diese Perücke und auch nicht diese Maske... ich möchte in Frieden sterben, so wie ich gewesen bin... Tonwechsel Mein Sohn ist verrückt geworden! Sie schluchzt verzweifelt, Rosi umarmt sie. Benito hat mir die Augen geöffnet, er wollte mich nach Hause bringen... „Du bist der Verrückte", hab ich zu ihm gesagt, und er hat den Schwanz eingezogen und ist gegangen. Tonwechsel Mein Sohn, mein eigener Sohn! ... Daß er so weit gehen könnte... Er hat mich geschubst! „Komm schon, Alte, steig ein, wir müssen das Flugzeug anlassen..." „Aber funktioniert es auch?" hab ich gefragt. „Wir werden sehen," sagt er. Ich dachte, er wird es wissen. Ich dachte, vielleicht hat er doch recht... Und kaum steige ich ein, fängt das Monster an zu tanzen... und ich zurück... Der will mich umbringen... und ich weg, so schnell ich kann, bevor das Ding explodiert... Eine gewaltige Explosion im off. Schreie von Rosi und Johnny: Großmutter! Doña Pepilla! Gefahr! Sie rennen und verstecken sich. Eine zweite Explosion. Durcheinander, Flugzeugteile ßiegen herein. Doña Pepilla steht auf, sieht sich um, geht langsam aber sicher nach vorn, reißt ihr Kleid vom Leib, kniet nieder, gräbt mit den Händen ein Loch. Asche werde ich sein, Asche des Todes, Asche des Lebens, begräbt mit rituellen Gesten die Maske, die Perücke und das Kleid Asche des Lebens, Asche des Todes, Asche werde ich sein, bekreuzigt sich, betet kaum hörbar ein Vater unser. Lange Pause.

ROSI

10. Szene Gerardo und Doña Pepilla. Gerardo kommt langsam zwischen den Trümmern des Flugzeugs heran. G E R A R D O Das Fest, mein Fest! sieht nach hinten Der Schuß ging nach hinten los! sieht ins Publikum Wie idiotisch! ... Ich hatte alles in der Hand... Ich absoluter Vollidiot!!! Im Hintergrund erscheint Perucho mit großem Kopfverband. Gerardo geht zu Doña Pepilla, hilft ihr aufzustehen, kniet selbst. Doña Pepilla legt ihm die Hand auf den Kopf geht dann langsam ab.

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¡osé Triana 11. Szene Rosi, Johnny, Gerardo (im Dunkeln) und die anderen. Rosi und Johnny kommen aus ihrem Versteck, gehen mit Doña Pepilla nach links ab.

12. Szene Perucho und Gerardo. Perucho erscheint in seinem Kostüm des ersten Akts. PERUCHO Tust du Buße vor den Heiligen? ... Nötig hätten wir das! Gerardo geht einige Schritte, setzt sich, legt den Kopf in die Hände. So ist es, Partner, jeder tut, was er kann, und wir haben verloren. GERARDO Sei still! Wir beide rechnen noch ab! PERUCHO Abrechnen? ... Was bildest du dir ein? Sirenengeheul, Schreie: „Schluß mit dem Drama! Das ist eine Komödie! Nieder mit Gerardo! Nieder mit Perucho! Nieder, nieder! Musik! Eine Nummer zum Schluß!" Die beiden sehen sich an, heben die Schultern und brechen in lautes, hemmungsloses Gelächter aus. 13. Szene Johnny und alle anderen. Verändertes Licht. Trommeln, Musik. Johnny und Rosi kommen, dann Amelita im traditionellen Kleid der Rumbera. JOHNNY Arriba, mi negra linda, que no sé si estoy soñando, o viviendo una comedia! Großes Rumbafinale. Laura, Don Benito, Doña Pepilla, Don Benito kommen hinter den Säulen hervor. Sie nehmen die Kerzen, die Amelita aufgestellt hat. Wenn die Rumba zu Ende ist, gehen sie langsam nach hinten ab. In einem Sessel wird, wie zu Beginn des Stückes, Carmelina sichtbar, mit dem Rücken zum Publikum. Der Sessel dreht sich um. 14. Szene Wellenschlag, im Hintergrund eine sternklare Nacht. Gitarrenklänge, jemand singt leise: „Noche de Cuba". Carmelina hat eine Kerze in den Händen. Glockenschläge. Carmelina steht auf. Es wird dunkel um sie herum, nur die Sterne sind zu sehen. Licht auf Carmelinas Gesicht, sie hebt die Hand, um sich davor zu schützen. CARMELINA amüsiert ins Publikum Und wo ist jetzt Chicho, der Friseur? Dunkelheit

Pedro R. Monge Rafuls Katzen haben sieben Leben Madre hay solo una

New York 1992, Chichiriviche, Venezuela 1997 Deutsch von Almuth Fricke

Für Rodolfo Santana, Theaterautor, für Alejandro und Haidee Vera, meine Freunde in Venezuela und für die chilenische Theaterautorin Gabriela Roepke, die an dieses Stück geglaubt hat.

Katzen haben sieben

Leben

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Pedro R. Monge Rafuls (1943) verließ Kuba 1961 und lebte in Honduras und Kolumbien, bevor er in die USA ging. 1977 gründete er in New York das OLLANTAY CENTER FOR ARTS und 1993 das OLLANTAY Theater Magazine. 1991 erhielt er als erster den Very Special Art Award (Artista de Nueva York) für Noche de Ronda, ein Stück, das ein provokatives Thema, die doppelte Marginalisierung homosexueller Latinos in den USA, aufgreift. Exilautoren, so Monge Rafuls, schreiben über die häßlichen Aspekte einer gesellschaftlichen Realität, die von ihrem politischen Schicksal bestimmt wird, mit Figuren, die in diese Welt ohne Zukunft hineingesetzt worden sind.1 Wer danach triste Sujets und traurige Figuren in Monge Rafuls' Theater erwartet, wird enttäuscht. Keine seiner wundervollen Gestalten trägt die Bürde des politischen Asyls und der Ausgrenzung vor sich her. Die Titel sprechen für sich: Cristöbal Colon y otros locos, (1986); En este apartamento hayfuego todos los dias (1987) 2 ; Limonada para el Virrey (1987); De la muerte y otras cositas (1988) 3 . Ein nahezu englischer Humor beschreibt selbst Schicksale wie das von Carmita in En este apartamento... mit sehr viel Komik: Carmita ist einsam und träumt von Liebe und Anerkennung. Ihre Träume sind von den Normen der sie umgebenden Welt diktiert, nach denen sie in allen Punkten schlecht abschneidet. Sie kompensiert die Frustrationen, indem sie ißt, fett wird und sich dadurch immer weiter ins Abseits begibt. Trash (1995) ist das einzige auf englisch geschriebene Stück des Autors. Es ist der Monolog eines jungen Farbigen, der im Gefängnis auf sein Urteil wartet: Er hat einen weißen Priester im Affekt getötet, der ihn als Strichjungen benutzt, sich dann aber nicht an die Vereinbarungen gehalten hat. Niemand geht ganz und gar4 wurde 1991 geschrieben, nachdem der Autor nach 29 Jahren zum ersten Mal wieder in Kuba war. Das Stück hat eine eigenwillige, schwierige Form: alle Szenen, unabhängig vom Ort der Handlung, spielen sich in einem Bühnenbild ab, dem Wohnzimmer der Familie in Kuba. Und die verschiedenen Handlungsabläufe, unabhängig von der Zeit der Handlung, überschneiden sich. Lula, die als jun1 2

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In einem privaten Gespräch Lawrence, Kansas 1997. Wurde 1990 in eine der wenigen Publikationen über Exilliteratur, eine Sondernummer des Linden Lane Magazine, aufgenommen. Weitere Titel sind u.a.: El instante fugitivo (1989); Recordando a Mamá (1990); Easy money, Solidarios (1990); Momentos (1993), sechs Vignetten von Kubanern zu Hause und im Exil, von denen vier 1991 aufgeführt wurden: Consejo a un muchacho que comienza a vivir, No hay mal que dure 100 años, Soldados somos y a la guerra vamos und Solución; Se ruega puntualidad (1997); Lágrimas del alma (2000 verfilmt von Ivonne López Arenal). Deutsch von Almuth Fricke, in Kubanische Theaterstücke, hrsg. von Heidrun Adler, Adrián Herr. Frankfurt/Main 1999, S. 247-295.

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Pedro R. Monge Rafuls

ge Frau mit ihrem Baby aus Kuba in die USA floh, will die Möglichkeit nutzen, die sich ihr seit der Lockerung der kubanischen Bestimmungen bietet, und nach 30 Jahren die Eltern ihres Mannes besuchen, der als Castro-Gegner erschossen worden war. Auch möchte sie ihrem Sohn das Grab des Vaters, die Heimat und die Großeltern zeigen. Wie Gedanken, Assoziationen, Erinnerungen, Träume, die bei den Reisevorbereitungen entstehen, verweben sich die oft nur sehr kurzen Szenen. Am Ende ist nicht klar, ob diese Reise wirklich stattgefunden hat. 5 Katzen haben sieben Leben spielt in derselben Atmosphäre, in demselben kleinen Ort in Kuba. Der älteste Sohn von Adalina und Marcos ist auf einem Boot von der Insel geflohen. Aus den Meldungen des nordamerikanischen „Feindsenders" ist zu schließen, daß er mit anderen Flüchtlingen vor Florida ertrunken ist. Um mit dieser ungeheuerlichen Tatsache umgehen zu können, spricht Adalina von der Katze, die ebenfalls verschwunden ist. Völlig unverständlich für Adalina ist, daß es der geliebte älteste Sohn ist, der sie verließ, ohne ihr etwas zu sagen. Wie gefährlich die Flucht eines Familienmitglieds für die Zurückbleibenden ist wird mit kleinen Zeichen demonstriert: „schließe die Tür, damit man das Radio nicht hört"; „öffne die Tür, damit niemand glaubt, wir hätten Heimlichkeiten". Doch wichtiger sind die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander. Adalina ist zutiefst unzufrieden. Sie schreibt ihr Unglück der Tatsache zu, daß sie nicht den Mann ihrer Träume geheiratet hat, sondern Marcos, den sie als Versager beschimpft. Er verteidigt sich, so gut er kann - bei Pedro Monge Rafuls sind die Frauenfiguren stets stärker als die Männer -, daß er wohl das Leben gemeistert hätte, wenn... Dieses Wenn wird von beiden stets als persönliche Schuld des anderen beschrieben, ist letztlich aber die Armut und die Vergeblichkeit allen Strebens im heutigen Kuba. So zerfetzen sie sich gegenseitig. Nur einen Augenblick finden sie wieder vertraut zueinander: wenn Adalina akzeptiert, daß ihr Sohn geflohen ist und sie für alle eine glücklichere Zukunft in den USA ausmalt. Das Glück verfliegt, wenn Cheo die tote Katze bringt. Heidrun Adler

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Der Autor bietet möglicherweise eine Metapher an „für die Existenz einer kollektiven Erinnerung, die die historische Kontinuität des kubanischen Volkes garantiert, allen Widerständen, Entwurzelungen, Exilen und Revolutionen zum Trotz." Juan Carlos Martínez: „El reencuentro, un tema dramático", in Lo que no se ha dicho, hrsg. von Pedro Monge Rafuls. New York 1994, S. 69.

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Katzen haben sieben Leben

Katzen haben sieben Leben Personen: Adalina - Marcos - Cheo - Stimme des Radiosprechers Stimme.

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Manuels

Die Handlung spielt in der Zuckerzentrale von Zaza im Inneren Kubas. Der Wohnraum eines einfachen Hauses. Eine Tür und Fenster gehen zur Straße. Alles ist sauber, wirkt jedoch heruntergekommen, denn es ist seit langem nicht angestrichen oder irgend etwas wesentlich verändert worden. An einer Stelle steht gut sichtbar ein Altar: Folos von verstorbenen Familienangehörigen stehen neben katholischen Heiligenbildern. Ein Bild vom Heiligen Judas Thaddäus sticht hervor. Auf dem Altar stehen Blumen. Erster Akt Mittags im Mai 1993. Marcos ist allein. Er trinkt aus einer Flasche, die er gleich wieder verschwinden läßt, verhält sich passiv; er scheint Angst vor Adalina zu haben, die zu Beginn der Handlung rein- und rausgeht: sie deckt den Tisch ab. Offensichtlich sind sie gerade mit dem Mittagessen fertig. Das Radio läuft. Man hört Musik. ADALINA kommt mit einem Schüsselchen Katzenfutter herein. Adalinas Art zu sprechen ist unregelmäßig. Manchmal spricht sie Wörter falsch aus, manchmal richtig. Ach, stell das aus... Ich hab jetzt wirklich keine Lust, Musik zu hören. MARCOS Es könnte eine Meldung kommen. ADALINA Was soll denn für eine Meldung kommen, wo hier doch alles perfekt ist! versöhnlicher Wo er wohl ist? Miez, miez, miez... Weiß Gott, wo der wieder steckt... Streun du nur rum, bei der Lebensmittelknappheit bleibt bald nix für dich über. Miez, miez, miez... Sie stellt das Katzenfutter auf den Boden. MARCOS führt seinen zuvor begonnenen Satz fort In Radio Reloj... ADALINA Mit dir kann ich nicht gescheit reden! MARCOS D U könntest sagen, daß ich mich nicht in das Leben meiner Kinder einmische. ADALINA Ab und zu ist das nötig... geht raus. MARCOS Klar... du wirst sehen, der taucht wieder hier auf. ADALINA aus dem off Und wenn nicht? MARCOS D U wirst sehen, daß er wieder auftaucht. ADALINA aus dem off Und wenn ihm draußen was passiert ist? Pause. Das macht mir am meisten Sorgen... MARCOS Mach bloß keine Tragödie draus, wenn er kommt.

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Pedro R. Monge Rafuls

ADALINA kommt wieder herein, sehr ironisch Na sicher! Er ist nicht mal zum Essen gekommen. Wo er bloß stecken mag? MARCOS Wie soll er denn rein kommen, wenn du die Tür zumachst? ADALINA Was ist denn besser? Daß er nicht rein kann oder daß alle da draußen mitkriegen, wie wir ausländisches Radio hören, und wir deshalb Ärger kriegen? MARCOS Alle hören Radio von drüben... ADALINA wiederholt spöttisch „Alle!" „Alle!" ... „Alle hören Radio aus Miami!" MARCOS Sie werden Verdacht schöpfen, weil du sonst nie die Tür zumachst... ADALINA DU und deine Bemerkungen! öffnet die Tür Stell es leiser. MARCOS versucht das Radio auf Kurzwelle einzustellen Der ist bestimmt irgendwo. Bei irgendwem im Haus. ADALINA ungeduldig Da soll mich doch der Blitz treffen! MARCOS Vorsicht... sonst geht dein Wunsch noch in Erfüllung. ADALINA Bei dem Leben, was du mir bietest! ... Ach, heiliger Judas! MARCOS

Er ist jung.

ADALINA Ich weiß, daß er jung ist, das ist doch das Schlimme. Lange Pause. MARCOS Erinnerst du dich, wie winzig er war, als José Luis ihn mitgebracht hat? ... Und keine Macht der Welt konnte den Kater hier wieder raus bewegen... Es ist das erste Mal, daß ich ihn nicht hinter dem Fressen herlaufen sehe... Pause, dann wie aus einer anderen Welt Hoffentlich ist er nicht tot... ADALINA Warum sagst du sowas? Ich hab die Nase gestrichen voll von deinem Mist. Pause, anderer Tonfall José Luis... der Kater... Du! ... Alle! Ihr bringt mich noch um den Verstand. MARCOS Und damals, als ich ihn in einen Sack gesteckt hab und im Bus bis Placetas brachte. Da war er früher zurück als ich... ADALINA geht hinaus Du hast ihn mitgenommen, aber José Luis wollte es nicht. MARCOS treuherzig Du hast mir doch gesagt, du wollest ihn nicht mehr im Haus und daß... ADALINA aus dem off Schieb mir nicht die Schuld in die Schuhe. Ich hab gesagt! Ich hab gesagt! Du entscheidest nie was. Außerdem, wieso sollte er nicht zurückfinden, wo Zaza nicht größer ist als ein Fingerhut und Placetas gleich um die Ecke... Lange Pause. MARCOS Sie sind ein Herz und eine Seele... ADALINA kommt wieder herein Pah!

Katzen haben sieben

Leben

MARCOS ADALINA

Nix, pah!, Katzen spüren, wenn was schief geht... Nur wenn du ihnen nichts zu fressen gibst.

MARCOS

Sie ahnen voraus...

ADALINA

Zufall.

ADALINA

ironisch

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ADALINA Herr Nichtsnutz hat die nächste großartige Bemerkung von sich gegeben! ... Meine Güte! Heiliger Judas! Lange Pause. MARCOS Ich erinnere mich, wie José Luis bei Monga vom AvocadoBaum gefallen ist und sich das Bein gebrochen hat... Und am selben Tag wurde der Kater von einem Fahrrad überfahren und brach sich die Pfote... MARCOS Und als José Luis die Kotzerei hatte und der Kater auch... Zufall? ADALINA geht in die Küche Ihm war der Fisch nicht bekommen, den Julia mitgebracht hatte. Die beiden waren doch die einzigen, die davon gegessen hatten... MARCOS Es ist, als wenn ihre Sinne gekoppelt wären... Sie spüren... Er ist wie José Luis' Seele, was dem einen passiert, passiert auch dem anderen. Wo er wohl steckt? anderer Tonfall, besorgt Verdammt, ich bin nie auf die Idee gekommen wegzugehen. ADALINA kommt wieder herein Du? Wann fällt dir schon mal was ein? MARCOS Das glaubst du. Pause Aber erst Mama... und dann du... ADALINA Schieb mir bloß nicht wieder die Schuld in die Schuh! Das sag ich dir nicht noch mal! MARCOS erinnert sich Meine Schwester war noch nicht verheiratet. Ich dachte schon, die würde keinen mehr abkriegen. Und Mama war hinter mir her, als wäre ich ihr Vater... Ich habe geschuftet, seit ich vierzehn bin... Alles, was ich verdiente, hab ich meiner Alten gegeben. Wenn nicht der Typ da irgendwann aufgetaucht wäre. Klar, der war's, der den Weg frei gemacht hat... Wie oft hat sie jetzt schon geheiratet? Geheiratet?

MARCOS Wie auch immer, ich hatte sie immerhin vom Hals. Klar, du kannst dir vorstellen, was gewesen wäre... Pause, traurig Ich bin mir sicher, daß sie nicht mehr Jungfrau war... ADALINA Und für wen spielt das eine Rolle, ob eine Frau vor der Ehe Jungfrau war oder nicht? Das ist das einzige, wofür sich Männer interessieren. Was für 'ne Rolle spielt das? MARCOS ES spielt eine Rolle. ADALINA Wo, glaubst du eigentlich, leben wir? MARCOS Die Lüge spielt eine Rolle.

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Pedro

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Rafuls

ADALINA Ihr denkt, jede Frau ist 'ne Hure, weil sie sich aus Liebe einem Mann hingibt, und der läßt sie dann liegen wie 'nen Haufen Scheisse... Entehrt!... Verdammt, alle Männer sind Scheißkerle! MARCOS Eine Frau, die vor der Ehe ein schmutziges Spiel treibt, ist nicht sehr vertrauenswürdig, denn du weißt genau... ADALINA unterbricht ihn Ach... hör zu, mir ist heute nicht nach dem Quatsch... verletzend Und außerdem... keine der Frauen aus deiner Familie ist eine Heilige geworden, kurze Pause, schaut durch das Fenster auf die Straße, schließt die Tür Stell den Sender von drüben ein. Da bringen sie wenigstens Nachrichten... MARCOS nimmt heimlich einen Schluck, während Adalina die Tür schließt, versteckt schnell die Flasche Jetzt soll ich es anstellen. ADALINA Mach's leise. MARCOS unvermittelt Wetten, du weißt nicht, wer die Katzen gezähmt hat? ADALINA

Was?!

MARCOS ADALINA

Früher waren Katzen nicht zahm. DU redest Blödsinn!

MARCOS

Die Ägypter...

ADALINA Bist du verrückt geworden oder was? sehr ironisch Nein! Wo du doch so klug bist! Salomon! ...besonders, wenn du besoffen bist. Wenn's darum geht, mir zu widersprechen, bist du Weltmeister. Lange Pause. MARCOS Wenn er hier wäre, würde er uns schon um die Beine streichen, mit erhobenem Schwanz... und miauen, fast schluchzend Es macht mich völlig fertig, daß er nicht da ist... Es muß ihm was passiert sein. ADALINA ängstlich, seine Bemerkung verbindet sie plötzlich Ach, Heiliger Judas! MARCOS DU wirst sehen, er kommt gleich. ADALINA breitet ein altes Tischtuch über den Tisch aus und beendet damit das Abräumen des Tisches Er war noch nie so lang weg. MARCOS Wär's dir lieber gewesen, er wäre andersrum geworden? ADALINA Meine Güte, mit was für 'ner Bemerkung du wieder ankommst! MARCOS Mir wär's egal gewesen, wenn einer meiner Söhne so oder so wäre... ADALINA Was hat das eine mit dem anderen zu tun? MARCOS Ich sehe dich nicht gern so... so besorgt... ADALINA Alles deine Schuld! Marcos lacht.

Katzen hìben sieben

Leben

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Und was stimmt jetzt wieder nicht? Ich hab grade daran gedacht, wie José Luis mit Bebo... Dein Bruder ist wütend geworden... ADALINA Er hat den wilden Mann gespielt, aber er wußte, daß das Kinderkram war. MARCOS Er ist wütend geworden! ADALINA Da müßte man mal deine Familie sehen! Und hör auf damit, ich hab keine Lust zu streiten. Pause, fatalistisch Er hat nie auswärts geschlafen, ohne daß ich Bescheid wußte. MARCOS Er hat das Recht auszugehen. Klar... ADALINA bedeutungsvoll Es heißt, Katzen hätten sieben Leben. MARCOS mit Angst Klar..., er muß irgendwo stecken, bei irgendeiner Frau... ADALINA Mach das Radio an... Leise. Marcos schaltet das Radio ein. RADIOSPRECHER mit Nebengeräuschen Trauriger Tod von vier Bootsflüchtlingen. in anderem Ton weiter Bei dem Versuch, die Küste Floridas zu erreichen, sind am Donnerstag vier junge Leute ums Leben gekommen... ADALINA angstvoll Ach, Heiliger Judas. Was hat er gesagt? Hast du gehört! Mach lauter! Nein! Ach! Mach leiser, man hört es sonst auf der Straße... RADIOSPRECHER mit Nebengeräuschen Die „Brüder zur Rettung" tun ihre Pflicht. Einzelheiten in Kürze. Geräusche ...die im Meer umgekommen sind... Der Sender verschwindet. Ein durchdringendes Geräusch. Marcos sucht den Sender. Adalina steht neben ihm. ADALINA Hau feste drauf... Marcos schlägt fest aufs Radio. Das kreischende Geräusch hält an. Er stellt das Radio aus. Warum hast du's ausgestellt? MARCOS Das passiert immer, wenn es zu warm wird. Wir müssen es abkühlen lassen. ADALINA Ach, Heiliger Judas, mein Gott... Ob er wohl nach drüben ist? langes Schweigen Nicht mal 'n gescheites Radio, um zu hören, was einen interessiert. Pause, in anderem Ton Ach, was meinst du...? Hat er gesagt, daß sie vor vier Tagen los sind? MARCOS Daß es vier sind. ADALINA Ja, aber daß die vor vier Tagen losgefahren sind. MARCOS Niemand hat das gesagt. ADALINA verschwindet Immer widersprichst du mir. MARCOS

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Pedro R. Monge Rafuls

Lange Pause. MARCOS hebt die Stimme, damit Adalina ihn hören kann Und w a r u m denkst du, daß er nach drüben ist? Pause, in anderem Ton, überzeugt So wie's mit den Verkehrsmitteln aussieht, hat er bestimmt nichts gefunden, um nach Hause zu kommen. Denk mal, was Ruperto erzählt hat, daß es unmöglich war, von Havanna hierher zu kommen... Er hat mehr als vier Tage gebraucht... Die Sache mit dem Transport ist nicht so einfach... Er ist bestimmt dort... es gibt kein Telefon... ADALINA kommt mit einem Hemd und Nähzeug, um Knöpfe anzunähen Dieser Kater bringt mich noch auf die Palme... Pause Der muß nirgendwo hin... Dort? Dorthin, wohin?... Dort gibt's kein Telefon?! Wo ist dort? MARCOS sucht nach einer Rechtfertigung Der treibt sich bestimmt rum und trinkt sich einen. ADALINA schaut ihn erst frustriert an, aber dann redet sie sich wie schon zuvor in Rage Du, mit deinem Gerede, daß er besoffen draußen rumläuft, damit willst du immer alles lösen. Mein Gott. Red's doch nicht schön, ich bin nicht blöd. Ich weiß genau, was er gesagt hat: er will noch 'ne Runde drehen... Miez, miez, miez... in anderem Ton, traurig und schicksalsergeben Und ich hab nicht mal eine Kerze, um sie dem Heiligen Judas Thaddäus anzuzünden. Ach, mein Gott, in anderem Ton Ich bin sicher, er ist weggegangen... Ich hab's schon lange kommen sehen. Ich hab's dir gesagt, sprich mit ihm... Was hat ein junger Mensch hier schon für'ne Zukunft? Keine... Ich hab's dir gesagt. Sag schon, hab ich's dir nicht gesagt? ... Bestimmt hab ich's dir gesagt. Tausend Mal. Ich hab's dir tausend Mal gesagt... kleine Pause Aber ich hätte genauso gegen die Wand reden können. Ich wäre gern ein Mann. Nicht wie du... Ich hab's dir gesagt, weil du der Vater bist. Es war deine Pflicht, geht zu Marcos Laß mal sehen, wo hast du die Flasche? MARCOS

Ich h a b nix.

ADALINA Er ist weg, es ist deine Schuld, daß er weg ist. Säufer! MARCOS Ich trinke nicht. ADALINA sucht auf dem Sitz unter Marcos Hintern. Sie ringen miteinander. Mir machst du nichts vor. MARCOS ringen weiter Ich hab nix. Ich hätte sie schon... Ich hatte doch gar kein Geld, was zu kaufen. Pause, in anderem Ton Er ist nicht weg. Und es ist auch nicht meine Schuld. ADALINA läßt ab Ach, nein? Und wem seine ist es dann? Bei dem Gestank nach Schnaps, den du mit dir rumschleppst.

Katzen haben sieben Leben

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MARCOS Ich hab mir schon lang keinen mehr genehmigt. ADALINA Ich glaub dir kein Wort. MARCOS Das ist dein Problem. ADALINA Mein Problem? Jau! Lange Pause. MARCOS Und du glaubst, ich hätte nicht mit ihm geredet? Ich hab ihm klipp und klar gesagt, er soll nicht übermütig werden, holt die Flasche raus, nimmt einen Schluck, ohne daß Adalina es sieht, nimmt noch einen, wenn er merkt, daß sie es nicht gesehen hat Ich ertrag das auch nicht... A b e r was willst du, daß ich tue? M a n kann nichts tun. Warten. Er weiß, daß es nicht einfach ist... die Lage ist nicht gerade... Pause, in anderem Ton Die Jungs werden übermütig und... Vielleicht ist er mit ein paar Freunden einen heben gegangen... ADALINA

W i e du!

MARCOS Verflucht, verflucht... schlägt gegen die Wand. ADALINA Vorsicht mit der Wand. Lange Pause. Die zwei scheinen in verschiedenen Welt zu sein. MARCOS unvermittelt Ich hatte meine Träume... ADALINA DU?! Du?! Daß ich nicht lache! W a s denn für T r ä u m e , um Himmelswillen, was für T r ä u m e ? Bei dem, w a s wir gerade durchmachen, und du erzählst solchen Blödsinn. Je älter du wirst, desto... desto... weiß du was, laß mich in Ruhe... Das einzige, was du kannst, ist saufen... Wärst du doch nur einen Tag mal... nur einen Tag bei klarem Verstand... Und ich? seufzt resigniert Ich, ich bin auf der Welt, um dich zu ertragen... W e g e n dir konnte ich nicht mal die Nachrichten hören. MARCOS Die werden noch mal wiederholt. ADALINA

Ja sicher!

MARCOS gibt nicht auf, will die Gelegenheit nutzen, um auszusprechen, was er mit sich herumträgt Jeder Mensch hat seine Träume! ... Aber keiner kann was für sein Schicksal. W e n n man geboren wird, ist man das Glück seiner Eltern, und es ist egal, ob die Alten arm sind... Sie haben Träume und glauben, mit dir wird der Kreislauf durchbrochen und dies und jenes geschehen... und daß du anders sein wirst als sie, a b e r das Leben denkt nicht so. D e s w e g e n heißt es doch: „Der Mensch denkt, und Gott lenkt"... Und es wird dir ein Schicksal zugedacht, daß du dir nicht ausgesucht hättest, w e n n du die Möglichkeit dazu gehabt hättest... Aber es ist, als könnte man von diesem W e g nicht abweichen. Mein Vater w a r ein Ehrenmann... deshalb ist er ohne einen Peso gestorben, und meine Mutter... die Ärmste! Die kämpfte immer, um vorwärts zu k o m m e n und um nicht... w e n n sie

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Pedro R. Monge Rafuls

mir das Leben schwer gemacht hat, dann war's nicht ihre Schuld, sondern der Wunsch, daß wir nicht wie sie würden: ein paar Habenichtse! ADALINA ironisch, verletzend Aber du, Herrje, du bist wohl sehr bedeutend geworden. MARCOS blickt sie beleidigt an, fährt fort, ohne sich einschüchtern zu lassen Ich bin aus eigenem Antrieb zur Schule gegangen, ich war fleißig und habe sogar den Abschluß gemacht... Ich hab gearbeitet und habe dir dieses Haus gebaut... Klar, erst hab ich das Grundstück gekauft und selbst das Haus entworfen und es gebaut... Meine Kinder mußten nie Hunger leiden... schaut ihr ins Gesicht, fast arrogant Falls er weg ist... aber er ist nicht weg, ich kenne ihn gut... aber falls er weg ist, ist es deine Schuld. ADALINA unbehaglich Schieb mir bloß nicht die Schuld in die Schuh! MARCOS selbstsicher, arrogant Na klar, du mit deiner ewigen Leier, daß ich mit ihm reden soll und ihm raten soll, nicht abzuhauen... Du hast ihm die Idee in den Kopf gesetzt. Ständig bist du darauf rumgeritten... Er hat gar nicht daran gedacht und du... ADALINA wütend, wird laut Hör gut zu, du Säufer! Wenn irgendeiner Schuld hat, dann bist du das, du warst nicht einmal fähig, ein Vater zu sein... Steig nicht auf den falschen Dampfer und bilde dir ein, du wärst zu was nutze gewesen... Ich weiß nicht mal, wieso ich dich geheiratet hab. Sei dankbar, daß ich dich ausgehalten hab, und halt verflucht noch mal den Mund! ... Wechsel Ach, Heiliger Judas... Miez, miez, miez... wo er wohl steckt? Dann kriegste eben nichts zu fressen, mir doch egal. MARCOS hängt der Vergangenheit nach Ich wollte ein Geschäft aufmachen. Dich damit überraschen... Ich und der schwarze Javier.... ADALINA Das war doch auch ein Suffkopp. MARCOS Wir wollten Klamotten verkaufen. ADALINA Was verstehst du denn von Klamotten? MARCOS Aber darüber wurde unser Robertchen krank... und starb. Durch dieses Unglück war das bißchen Geld weg, das ich gespart hatte. Klar. ADALINA Und du meinst, aus dir wäre was geworden? MARCOS Der Schwarze hat den Laden aufgemacht. ADALINA Das war doch ein Flegel... hing immer an der Flasche, wie du. MARCOS Hör mal, du wiederholst und wiederholst dich! triumphierend Er hat den Laden aufgemacht, neben dem Fotogeschäft Santana. ADALINA Vergiß die Vergangenheit. MARCOS Unser Leben wäre anders gewesen.

Katzen haben sieben

Leben

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ADALINA Denk an die Gegenwart. MARCOS Er wurde reich... ADALINA Und du bist arm wie 'ne Kirchenmaus. MARCOS Die Leute sagen, er war fast Millionär gewesen, als er nach Miami ist. ADALINA singt spöttisch „Soñar, soñar que te tengo en mis brazos, que te doy mis caricias..." MARCOS mit plötzlicher Wut, als wollte er auf sie los und sie schlagen, aber er tut es nicht Sei still, verdammt! ADALINA apodiktisch Kurzum, dir war nix davon geblieben. Die Regierung hat alle Geschäfte beschlagnahmt. MARCOS DU... du bist immer viel zu negativ. ADALINA Ja?! Ich habe dir immerhin fünf Kinder geboren! MARCOS Das ist nicht alles... ADALINA unerwarteter Übergang Ich bin total verzweifelt. Niemandem kann ich es erzählen. Nur dir, Jungfrau von Cobre... Heiliger Lazarus, Heiliger Judas schütze ihn. nachdenklich Man weiß nicht mehr, wer wer ist. Noch wem man vertrauen kann, aus lauter Angst, er könnte zu ihnen gehören... Ach, heiliger Judas, ach, mein Gott! ... Laß nicht zu, daß ihm was zugestoßen ist. Pause, verzweifelt, läuft herum Miez, miez, miez... Wo steckst du? MARCOS Schließlich ist er erwachsen. ADALINA Als hätte ich Zeit zu verlieren... Hör zu, ich werde eine Kerze besorgen, woher auch immer... Ich werde sie für dich aufstellen. Ich versprech's dir, aber mach, daß der Junge nicht mit einem Boot weg ist. Pause, flehentlich Ach, Heiliger Judas, Fürsprecher des Unmöglichen, und mach, falls er wirklich weg ist, daß ihm nichts zugestoßen ist. Ich werde mich ganz in Weiß kleiden, bis er heiratet... weinerlich Ach, Gott verflucht... MARCOS Er wird schon irgendwo auftauchen. ADALINA Ich bin allein! Nicht mal den Mann, den ich haben wollte, hast du mir gegeben! ... Pause, kommt wieder zu sich Ich sterbe! Hier war er wenigstens daheim, bei seiner Familie... Ich scheiß auf Gott, verdammt! MARCOS Sei still! Er zielt von oben, damit die Schweinerei auf uns drauf fällt... Willst du uns noch mehr Unglück bringen? ahmt sie ironisch nach „Ach, Heiliger Judas Thaddäus", „Heiliger Lazarus, verlaß ihn nicht"... und danach kommst du damit an, daß du auf Gott höchstpersönlich scheißt... Pause, leise, überzeugt Du weißt, ich mag keine Blasphemie.Lange Pause. Ich bin sicher...

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Pedro R. Monge

Rafuls

ADALINA brüllt ihn an Quäl mich nicht länger. Was weißt du schon, was es heißt, einen Sohn zu verlieren?! Pause, ganz mit sich beschäftigt Es ist ein Schmerz, berührt ihre Brust Hier... Ich werde ihn nicht mehr suchen, wenn er nicht kommt, soll er doch krepieren... Mach das Radio an. Marcos rührt sich nicht. Adalina stellt das Radio an. Man hört das schrille Geräusch, dahinter eine sehr undeutlichen Stimme. ADALINA Was hat er gesagt? beeilt sich, lauter zu drehen. MARCOS stellt leise Die vom Komitee werden's hören. ADALINA Das hat mir noch gefehlt. MARCOS Sieht so aus, daß sie überall sind. ADALINA Mach's leiser. MARCOS Hab ich schon, geht zur Tür, öffnet sie Sie werden sonst mißtrauisch. ADALINA Wenn er weg ist, kommen sie bestimmt. MARCOS

WOZU?

ADALINA

Wie wozu?

MARCOS Sie machen keine Durchsuchungen. ADALINA Immer widerspricht er mir. MARCOS Als ob sie alle Häuser durchsuchen würden, wo einer abhaut. ADALINA Ja, damit du still bist. MARCOS beharrt Sie machen keine Durchsuchungen mehr. ADALINA Der Herr Schlaumeier! MARCOS Das war früher so, aber jetzt ist es denen egal... Merkst du nicht... Cheo, der jüngere Sohn, kommt herein; sofort bemerkt er den Piratensender. Es wird Musik gespielt. ADALINA ironisch Sieh mal einer an! Unser Wirbelwind ist da! CHEO Wollt ihr, daß alle wissen, was ihr hört, geht zur Mutter, gibt ihr einen Kuß. ADALINA ohne aufzustehen, ironisch An dem Tag, an dem ich sterbe, werde ich dich nach dem Tod schicken lassen... CHEO zu Marcos Wie geht's, Papa? MARCOS froh, daß Cheo da ist Gut, mein Sohn! Und dir? Cheo geht zum Radio und stellt es aus. MARCOS Es läuft, weil ich Nachrichten hören will... CHEO Aber mach es leiser. Keiner braucht zu wissen, was ihr hört. Kurzes Schweigen. CHEO direkt Und José Luis? ADALINA Warum fragst du? CHEO

Ich m u ß m i t i h m r e d e n .

Katzen haben sieben Leben

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Wieso? Hör mal! Darf ich nicht fragen? MARCOS hat Cheo beobachtet Hast du was gehört? CHEO Man hat mir gesagt, er sei fort... ADALINA scharf Dir gesagt! Gesagt! CHEO Ihr hättet mir Bescheid geben sollen. ADALINA

CHEO

ADALINA

WOZU?

Wir sind nicht sicher... A D A LINA defensiv Wovon Bescheid geben? CHEO schaut die Mutter ungläubig an Die Leute reden darüber... ADALINA Wer sind die Leute? CHEO Keiner weiß was. ADALINA ironisch, macht sich über Cheo lustig Die Leute reden darüber, aber keiner weiß was! zu Marcos Schlauberger wie du! MARCOS Hast du die Nachrichten gehört? ADALINA ernst Also was reden sie denn...? CHEO Er hat es bestimmt jemandem erzählt. ADALINA Wem? CHEO Irgendeinem Freund und der hat's weitererzählt... ADALINA Weitererzählt? C H E O Jeder kennt jeden! ADALINA Kennst du seine Freunde? MARCOS zu Cheo Glaubst du, er ist fort? MARCOS

CHEO

W o ist e r ?

Er mußte nach Havanna. versteht nicht Nach Havanna? MARCOS Wir sind sehr besorgt. ADALINA D U mußt gar nicht drüber reden... CHEO Die Leute gucken aber... MARCOS läßt sich auf einen Stuhl fallen Warum?! CHEO Die sind doch nicht blöd... Langes Schweigen. ADALINA Warst du betrunken, als du mit ihm geredet hast? MARCOS Nein, nein. ADALINA Und warum hat er nicht auf dich gehört? MARCOS Auf mich hat nie jemand gehört... in anderem Ton Man redet mit ihnen, aber Gott weiß, was sie tun werden. Und du hast ihm... ADALINA Und ich, was hab ich? Ach! Komm mir nicht mit deinen Ausreden. Wenn du gearbeitet hättest, wie es sich gehört, hättest du dir ein Radio bei deiner Arbeitsstelle verdienen können. Aber nein, du gehst zur Arbeit und säufst weiter. Das ist das einzige, woran du ADALINA

CHEO

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Pedro

R. Monge

Rafuls

denkst... Nix wirst du kriegen, denn dafür muß man Überstunden machen und Aufgaben für die Einsatzstelle erfüllen. Aber Pustekuchen! Die einzige Aufgabe, die du erfüllst, ist die an der Flasche. kurze Pause Wenn du all das Geld gespart hättest, daß du auf dem Schwarzmarkt für Rum ausgibst... CHEO sehr nervös, aber ohne zu schreien Laß Papa in Ruhe... ADALINA gefällt das nicht Was denn?! Der brüllt rum und ist respektlos... MARCOS entschuldigend zu Cheo Sie ist nervös. ADALINA Ich bin schließlich deine Mutter, das werde ich dir einbleuen... schubst Marcos Ach! Trunkenbold! Das ist doch kein Leben. Der Alkohol ist das einzige, was du im Sinn hast... daran mangelt's dir wirklich nie. Schönes Beispiel hast du deinen Kindern gegeben. Sieh doch, was du jetzt davon hast. Er ist mit einem Boot weg und im Meer ertrunken, verzweifelt Ach, Heiliger Judas! MARCOS Genau das, genau... immer machst du mich vor den Kindern schlecht. Wie sollen sie auf mich hören, wenn sie von dir beigebracht bekommen, daß ich nichts tauge? ADALINA läßt ihn nicht ausreden Ich will ihm seine Kleider fertig machen, nachher hat er's bestimmt eilig, und ich hab die Knöpfe noch nicht angenäht. CHEO ärgerlich Und wenn er weg ist?! ADALINA Er kann nicht weg sein, ohne es mir gesagt zu haben. CHEO

Sei dir da nicht so sicher.

ADALINA sucht nach einem überzeugenderen Grund Er war doch total verknallt in das Mädchen, das er kennengelernt hatte. Pause Nein! Pause, kommt nicht zur Sache Diese gemeine Ziege vom Komitee. Die tut so linientreu. Glaubt ihr wirklich, sie hört nicht den Auslandsender? ... Die ist nicht mit dem Herzen dabei. Da bin ich mir sicher... MARCOS Sie wird dich hören. ADALINA

Soll sie doch.

CHEO Mach nicht noch mehr Ärger. MARCOS Vielleicht müssen wir sie um Hilfe bitten... falls sie ihn geschnappt haben. ADALINA jetzt mit Angst Ich sprech doch leise, aber ist doch wahr. Dieses unverschämte Weib. Jawohl. Die ist doch die erste, die auf dem Schwarzmarkt einkauft. Die ist unmoralisch... und dann tut sie so, als wäre sie dieser Scheiße linientreuer als der Máximo Lider höchstpersönlich. CHEO

D u solltest sie b e s u c h e n .

ADALINA

Wozu?

MARCOS

F ü r d e n Fall, daß....

Katzen haben sieben Leben

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Um rauszukriegen, ob sie was weiß. Dein Vater sollte lieber gehen und sich umhören... Aber der hängt den ganzen Tag hier drinnen rum. Marcos ist verzweifelt. Er macht das Radio wieder an. Versucht, Adalina zu beruhigen, sich selbst zu trösten, vor seinem Sohn nicht unterlegen zu wirken. RADIOSPRECHER mit viel Hintergrundgeräusch; es sollte nur das Notwendigste verständlich sein Wir wiederholen die Nachricht von dem traurigen Tod von vier Flüchtlingen, die bei dem Versuch, die Küste Floridas zu erreichen ...wie ein fünfter Mann berichtet, der ...gerettet worden ...dreizehn weitere Personen ...die von der Insel entkommen sind... Marcos versucht, den Empfang besser einzustellen und verliert den Sender. ADALINA Mensch... mach doch! in anderem Ton Aber wo...? Ich weiß, daß... Jetzt hast du schon wieder den Sender verloren, noch mal! Kannst du nicht einmal was richtig machen? Cheo ärgert sich über Adalina. Marcos sucht weiter den Sender. Man hört das Geräusch. Er stellt das Radio aus CHEO nimmt Marcos in Schutz Es ist ein altes Radio. MARCOS D U wirst schon sehen, wie er durch diese Tür auftaucht. Er treibt sich bei irgendeiner Frau rum. CHEO Man muß sich keine Sorgen machen... im Radio hätten sie es schon gesagt... ADALINA Nicht mal seiner Mutter hat er es gesagt. MARCOS Weiß es Julia? ADALINA Sie ist seine Schwester, oder nicht? CHEO D U weißt, ihr Mann ist... ADALINA philosophisch Hier sind wir alle... Ich muß lachen, wenn ich dran denke, was manche Leute glauben... in anderem Ton Wir stekken alle in der Scheiße... lange Pause Was willst du? Daß ich ihr nix sage? CHEO mit gewissem Vorwurf Mich hast du nicht angerufen. Bedrückendes Schweigen. Julias Mann könnte was wissen. MARCOS Klar. ADALINA Ich halt's nicht mehr aus. Ich geh zur Polizei, Anzeige erstatten... Pause Und wenn er einen Unfall hatte? Pause So wie die Dinge stehen, die Überfälle... in anderem Ton, kraftlos Soll mich doch der Blitz treffen! ... Heiliger Judas. Lange Pause. Cheo ist verärgert. CHEO plötzlich Ich gehe! CHEO

ADALINA

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Pedro

ADALINA CHEO

R. Monge

Rafuls

Das nächste Mal komm erst gar nicht!

Ich m u ß gehen!

ADALINA Ich kann mich nicht auf dich verlassen. CHEO Mama, ich bin kurz vorbeigekommen... um, um... ADALINA

Stippvisite!

CHEO Ich bin gekommen, weil ich bei euch sein wollte, aber, verdammt noch mal, jedes Mal, wenn man kommt... bekommt man zu hören.... ADALINA unterbricht ihn Er muß dir was gesagt haben... wenn er weg wäre, bin ich sicher, hätte er dir... Cheo geht raus, ohne seine Mutter ausreden zu lassen. Adalina fühlt sich unwohl. Marcos trinkt wieder. Adalina wird wütend. ADALINA Wußte ich doch, daß du 'ne Flasche versteckt hast. MARCOS

D i e ist s c h o n leer...

ADALINA

G i b sie her.

MARCOS Den ganzen Tag hab ich kein Schlückchen getrunken. ADALINA macht eine Grimasse, ungläubig Kannst du's nicht mal einen Tag sein lassen? Marcos trinkt schnell den Rest aus der Flasche. Stellt sie auf den Kopf, damit Adalina sieht, daß sie leer ist. MARCOS

triumphierend

S i e ist leer!

ADALINA Ungeheuerlich! resigniert, lange Pause Ach Gott, ich würde am liebsten verschwinden. Sorglos leben wie der Kater. Irgendwo treibt sich José Luis rum, glücklich. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll... Sollen doch alle zum Teufel gehen... Dieses ewige Hin und Her. Sag schon. Das sind doch Märchen. Wichtig sind die Menschen, nicht die Regierungen, in anderem Ton Glaub bloß nicht, ich würde es nicht verstehen... wenn er fort ist... wieder philosophisch Die Armen sind immer die Gelackmeierten... Vielleicht treibt er genau jetzt auf dem Meer und versucht, nicht unterzugehen. Dieser Gedanke versetzt beide in Schrecken. Adalina stößt einen Angstschrei aus, als würde ihr das Herz brechen. Sie umarmen sich mit einer ihnen sonst fremden Solidarität. Adalina schreit verzweifelt. Er stöhnt, und sie umarmen sich fester. Eine verzweifelte, aber kurze Szene. Sie macht sich aus der Umarmung los, vorwurfsvoll Du ziehst dir lustig was rein und vergißt alles... Pause, sich selbst rechtfertigend Ich hab Julia gesagt, sie soll es bloß nicht ihrem Mann erzählen, und... MARCOS überrascht Du hast es ihr gesagt? ... ADALINA setzt ihren Monolog fort, ohne ihn zu beachten ...und auch nicht Cheo, der macht gleich einen Aufstand, und am Ende löst das nix, macht alles nur viel komplizierter... Wie unterschiedlich sie sind... Sie wirken nicht wie Brüder. Auf mich kommt er nicht heraus, aber

Katzen

haben sieben

Leben

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José Luis sieht ganz genau wie sein... hält inne, ändert den Tonfall, damit ihr vorheriger Satz unbemerkt bleibt W e r von den dreien ist am unterschiedlichsten? MARCOS mißtrauisch Ganz genau wie wer? ADALINA ausweichend W e n n er nicht k o m m t , wird er nichts zu fressen kriegen, dann schmeiß ich sein Futter weg... MARCOS Ganz genau wie wer? ADALINA wiederholt lustlos Sie wird nix sagen, aber es ist nicht gut, daß... Miez, miez. MARCOS setzt sich durch Ganz genau wie wer, wolltest du sagen? ADALINA W o v o n redest du? Ich weiß nicht mehr, w a s ich gesagt hab! Er sieht bestimmt deiner Familie ähnlich, ich hab doch schon gesagt, daß er nicht auf mich rauskommt. MARCOS Sagst du nicht, du könntest dich nicht erinnern? ADALINA Bestimmt fängst du wieder mit der alten Leier an... MARCOS nimmt es mit ihr auf Mit mir mußt du offen spielen. ADALINA von oben herab Irgendwann werde ich dir mal ein paar Dinge erzählen, die dich wirklich alt aussehen lassen. MARCOS faßt Mut Sag doch! Sag schon! ADALINA sehr laut Hör lieber auf, mich in deiner Eifersucht zu beschuldigen... Marcos macht das Radio zuieder an. Der Empfang ist recht gut. MARCOS mit Blick auf das Radio Jetzt ist es bestimmt abgekühlt. RADIOSPRECHER S o n d e r s e n d u n g von Radio Marti! Das Exklusiv-Interview mit dem Überlebenden der... Geräusche. Man versteht nichts. Dann versteht man wieder etwas. W i l l k o m m e n , mein Freund. Radio Marti heißt dich w i l l k o m m e n in der Freiheit. K o m m näher... Ihr wart zu fünft, nicht wahr? ERSCHÖPFTE S T I M M E Ja, ich und vier andere. ADALINA Das ist nicht seine Stimme. MARCOS Pssst. RADIOSPRECHER Wie gut, auf amerikanischem B o d e n zu sein. Hier gibt es Freiheit im Überfluß... K o m m näher ans Mikrophon... Und wie hießen deine Kameraden? STIMME müde und traurig Ramiro, Mongo, Tico und den anderen nannten sie... ich weiß nicht mehr, sich entschuldigend Ich kannte ihn nicht... Er kam aus Villa Clara. Von einer Zuckerzentrale... Er w a r mit Tico befreundet. Der brachte ihn an d e m Tag mit, als... RADIOSPRECHER unterbricht ihn Es wird versucht, alle zu bergen... Geräusche ...werden u m g e h e n d darüber berichten, sobald die Nachricht

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Pedro R. Monge Rafuls

bestätigt ist. Ihr seid alle sehr jung... Kinder der Revolution. Und du, wie heißt du? STIMME Manuel... RADIOSPRECHER Und dein Nachname? MANUEL Ich hab noch Familie drüben... Ich möchte sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Ich bin... Geräusche ...besser, den Tod im Meer zu riskieren, als... Geräusche ...meine Mutter und meine Frau wissen, daß ich hierher gekommen bin... Geräusche ...nicht mehr ertragen konnte... Geräusche ...bevor ich eine Dummheit mache... Bald schreibe ich euch... Der Sender verschwindet wieder. ADALINA Mach den Kasten aus. Dieser Blödmann, äfft ihn nach „Bevor ich eine Dummheit mache..." Bestimmt hat er hier nie das Maul aufgekriegt... Wie Schallplatten... alle sagen dasselbe, mit demselben falschen Tonfall. Pause Er hat seine Mutter im Leid zurückgelassen. Nicht mal gesagt, wer er ist... Er kann das nicht mehr ertragen. Und seine Mutter, was ist mit der? Er ist abgehauen, ohne ihr Bescheid zu sagen. Pause, in anderem Ton Es ist, als würde ein Fluch über den Müttern liegen... forschend Tico? Tico? ...der Name kommt mir bekannt vor. Hieß so nicht der kleine Mulatte, dieser Kräftige, der ihn neulich abgeholt hat? MARCOS entfernt sich vom Radio Fang nicht an, mir den Kopf mit Zeug vollzureden. Du hörst nicht auf, bevor er tatsächlich Tico hieß... ADALINA Wohin willst du? MARCOS von der Tür aus, ironisch Darf ich pinkeln gehen? Ab. ADALINA Witzig! Einen trinken gehen, das willst du... Statt dich umzuhören oder zu sehen, wie du diesem Haushalt helfen kannst, aber du gehst ja nicht mal ihn suchen... Er muß sich doch irgendwo rumtreiben... Weiß Gott, wo er sich rumtreibt. Ich werde es ihm zweimal ordentlich mit dem Besen verpassen, wenn er auftaucht... Marcos kommt zurück und macht das Radio wieder an. RADIOSPRECHER ...wie wir berichtet haben. Der Überlebende, der um 10:40 Uhr morgens 60 Meilen südöstlich von Key West gerettet wurde, berichtet, daß zwei seiner Gefährten bei der Überfahrt ertrunken sind, während die anderen beiden sich auf Autoreifen von den Booten, die von der kubanischen Küste in See gestochen sind, abgesetzt haben. Das Radio macht Geräusche. Marcos trinkt einen Schluck, ohne sich vorzusehen. ADALINA Trinkst du wieder? MARCOS Pssst. Adalina geht erbost auf ihn zu, aber die Stimme aus dem Radio stoppt sie.

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Leben

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„Wir haben diese Personen nicht gefunden. Wir haben in den letzten Stunden die Suche auf dem Meer und aus der Luft ständig w e i t e r g e f ü h r t " , sagte ein S p r e c h e r der Küstenwache. „Wahrscheinlich sind sie ums Leben gekommen." Der Empfang läßt nach. ADALINA E S ist zum Verzweifeln... niemand kann man fragen, ob jemand ihn gesehen hat... MARCOS D U wirst schon sehen, er steckt bei irgendeiner Frau. ADALINA Hast du nichts anderes zu sagen, Suffkopp? ... Heiliger Judas Thaddäus, ich hab keine Ahnung, wo ich die weißen Sachen hernehmen soll, aber ich versprech dir, ich werde mich ganz in Weiß kleiden... Hoffentlich bringt Julia Kaffee mit. Ich hab ihr gesagt, sie soll das Hemd mitbringen, das er ihr dagelassen hat, damit sie's flickt. Julia denkt nur an diesen Mann. Als wäre der das große Los. Seit einem Monat hat sie das Hemd von José Luis, um einen kleinen Flicken drauf zu setzen... Die kommt auf dich raus. Nur saufen tut sie nicht wie du. Das wäre noch die Krönung... Ich weiß gar nicht, wie ich's geschafft habe, diese Kinder großzuziehen, denn du bist doch 'ne Null vorm Komma, eine Strafe... Als wir geheiratet haben, unglaublich, aber wahr, hast du keinen Tropfen getrunken. Und obendrein mochtest du keinen Schnaps... Du warst sogar ein belesener Mensch... und jetzt immer betrunken... Pause Ach! José Luis! ...das Größte in meinem Innersten... das einzige, das... MARCOS Verdammt!! Es reicht! Hör auf! Hör auf! Hör auf! Du machst mich noch wahnsinnig! ... Hör auf! Hör sofort auf, verdammt! ADALINA Aufhören?! Du solltest aufhören. Ich trau mich mit dir ja nicht mal mehr auf die Straße... Damit du mir wieder eine deiner Vorstellungen gibst, wie beim letzten Mal bei Nena... Es hat dich nicht mal abgehalten, daß sie Präsidentin des Komitees ist. Deine Akte möchte ich um alles in der Welt nicht lesen! ... Glaubst du wirklich, uns schadet das nicht? Hier in unserem Land muß man sehr eindeutig vorgehen, aber das hat dich ja einen Kehricht geschert. Du denkst nur an dich, an deine Flasche. Pause Mal sehen, ob du dich besäufst und dann losgehst und aller Welt sagst, daß José Luis verschwunden ist... Pause Und ich geh dabei nicht drauf, verdammt? Adalina geht in die Küche. Marcos versucht es wieder mit dem Radio. Er will trinken, hält jedoch inne, wenn er Adalina kommen hört. Sie kommt zurück, spricht in Vergangenheit und Gegenwart, ändert den Ton, je nachdem was sie sagt. Ich brauche Geld, mal sehen, ob ich ein Stück Huhn kaufe, eine Malanga, oder was auf der Straße zu kriegen ist... hier gibt's nichts

RADIOSPRECHER

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zu essen... Das w a r das Gute an José Luis. Der brachte immer was mit von der Straße. Es konnte später werden, aber immer... Das wird es sein, der k o m m t doch i m m e r zu spät... Ach, ich weiß wirklich nicht, ob er lebendig oder tot ist. setzt sich, langes Schweigen Du solltest nachsehen, ob Julia kommt. Vielleicht ist ihr M a n n noch nicht da, und sie kann nicht kommen. G e h bei ihr vorbei und frag sie, ob sie die Pferdesteaks gekriegt hat. Sie hat mir erzählt, daß ihr Mann die nicht mag... Nie hab ich einen von ihnen an meiner Seite... Keiner ist da, wenn ich ihn am meisten brauche! MARCOS Irgendwann geh ich, und du siehst mich nicht wieder. ADALINA Achja? Och, sag bloß? Und ganz sicher werde ich daran krepieren. Ja... es ist das beste, was du tun kannst. MARCOS Und wozu hast du mich geheiratet? ADALINA Ich dachte, ich hätte eine Zukunft. MARCOS U n d ich dachte, du würdest mir helfen... mich unterstützen... ich hätte nie gedacht, daß du den nicht vergessen kannst.... ADALINA Fang nicht wieder an... Es könnte dir leid tun. MARCOS Meinst du, ich weiß es nicht? Alle wissen es... ADALINA Ach, hätten sie mir es doch gesagt! MARCOS Gut, daß du zu mir g e k o m m e n bist.... ADALINA Ich habe mich geirrt. MARCOS Du hast mir gesagt, wir würden uns ein Leben lang lieben. ADALINA Das hat nicht lang angehalten. MARCOS Nein... weil du... ADALINA DU hast mir Kinder gemacht... MARCOS Natürlich, ich dachte ja, wir könnten eine Familie haben... ADALINA sucht die ganze Zeit nach etwas, dessen sie ihn beschuldigen könnte Aber jetzt ist das H a u s in e i n e m Z u s t a n d , z u m Kotzen. Wenn es regnet, tropft es rein. Die Küchentür ist kaputt... MARCOS U n d w o soll ich das Material h e r n e h m e n ? Du weißt genau, daß es nichts gibt... ADALINA Nicht mal als M a n n bist du zu gebrauchen. MARCOS verletzt Das ist es also. Natürlich, verdammt, ich wußte es. ADALINA

Was weißt du?

MARCOS Das ist das einzige, woran du denkst... Aber nachts schubst du mich weg. ADALINA W a r u m sollte ich dich nicht weg schubsen? MARCOS Ich bin dein M a n n , ich habe Lust... und dann muß ich's mir selbst machen...

Katzen haben sieben

Leben

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Ordinär, was du da von dir gibst. Als wäre ich eine von diesen Frauen, die du so scharf findest! ... Warum sollte ich dich nicht weg schubsen? MARCOS Ich habe außer dir nie eine andere Frau gehabt.... ADALINA ärgert sich Bei dem Alkoholgestank, den du immer mit dir rumschleppst. MARCOS verletzend Ich muß mir eben ein paar hinter die Binde kippen, bevor ich mich mit dir ins Bett legen kann. ADALINA Ekelpaket, Säufer. MARCOS Und du hast nie darüber nachgedacht, warum ich mit dem Trinken angefangen habe? ADALINA Weil's dir gefällt; niemand hat eine Entschuldigung dafür, daß er sich besäuft, und komm mir nicht mit irgendwelchen Märchen, ich bin doch nicht blöde. MARCOS Wohl weil ich mit dir zusammen lebe. ADALINA Jetzt soll mich aber der Blitz treffen. Ist denn... ach, Heiliger Judas, kann ich denn wirklich nichts tun? MARCOS Aha! Klar doch! Hab ich dir etwa was verboten? ADALINA Ach! Laß mich einfach in Ruhe. Du hast mir nichts verboten, noch kannst du mir was verbieten... MARCOS Und weiter? ADALINA Ach, bring mich lieber nicht zum Reden... MARCOS Natürlich. Rede, rede.... ADALINA Mir bleibt nicht mal der Trost, daß... MARCOS unterbricht sie Und ich? Klar, mir tut das nicht weh. Ich bin aus Beton, steht auf, ist wütend Ich habe ihn gemacht, das weißt du genau... Ich habe sie gemacht... Damit... berührt sein Geschlecht Warum redest du die ganze Zeit von deinem Sohn, von deinen Kindern? ... Verdammt noch mal, er ist mein Sohn, sie sind alle auch meine. Ich habe sie gemacht, vergiß das nicht. Sieh dir Julia an, sie ist genau wie ich. Du selbst sagst es ständig! Klar doch! Warum denn wohl? Weil ich sie gemacht habe. Ich hab sie gemacht, Cheo.... kurze Pause, zweifelt Und José Luis. José Luis! Ich hab sie alle gemacht. Und die zwei, die gestorben sind, auch. Richtig? Klar... sind es auch meine Kinder. Klar... Verdammt noch mal, ja. Ich leide sehr. Ich glaube, daß er weg ist und ertrunken. Verdammt! Daß er nicht auf mich gehört hat... ADALINA Was hab ich nur verbrochen? MARCOS Ich soll nicht trinken? Klar, ich soll nicht trinken! Aber du bist immer in Schutz genommen worden. Alle haben Mitleid mit dir. „Du hast deine Kinder verloren." „Du bist die Bedauernswerte."

ADALINA

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Pedro R. Monge

Rafuls

„Du bist mit einem Säufer verheiratet." „Du bist die Mutter deiner Kinder." ironisch Du, Ärmste! ADALINA

U n d d u , w a s bist d u ?

MARCOS sarkastisch „Nein, genug Alter, hör auf zu trinken." in anderem Ton Klar! Jetzt willst du nicht, daß ich dir das alles sage... Pause, traurig Und wenn er ertrunken ist, ist es auch meiner. Ich will verd a m m t noch mal nicht, daß du mit diesem Geschwafel weiter machst. Wir haben sie beide gemacht: du und ich. Klar? Sonnenklar! Ich mußte abwarten, bis meine Schwester geheiratet hat, bis meine Mutter starb, bis dein Vater mich dich heiraten ließ... der alte Hurensohn, war doch arm wie 'ne Kirchenmaus... ADALINA Sei still, Scheißkerl! MARCOS heftig Wie kannst du mir befehlen, den M u n d zu halten? Weißt du eigentlich, wie oft am Tag du mir sagst, ich soll den Mund halten? ... Ich hab dich bis obenhin satt! Ja, er war ein alter Analphabet; halbverhungert, aber in dem Glauben, er brauchte nur mit dem kleinen Finger zu schnippen, und ich mußte auf sein Einverständnis warten, um dich zu heiraten... Und der Gedanke, daß der Alte mein Leben beeinflussen konnte, tat mir in der Seele weh, schlimmer noch... ich mußte warten, bis du die Hoffnung auf diesen Schweinehund von Verlobten aufgegeben hattest, mit dem du liiert warst. sehr ironisch „Nein, es reicht, Alter, ach, hör auf zu trinken!" „Ach!" „Ach!" „Ach!" Deine ganzen Achs bin ich längst leid! wirft die Kleider auf den Boden, die Adalina geßickt hat Klar! Wenn es so klar ist, dann hör auf, mich zu nerven, ich bin nicht aus Holz. Gemeinsam essen wir, wenn wir können und gemeinsam hungern wir, es gibt keine andere Wahl. Es ist nicht wie früher... aber unser Los ist es, gemeinsam zu leben. Und gemeinsam erleiden wir seinen Tod. ADALINA Sag das nicht... das bringt Unglück. Er ist nicht tot. Sie sammelt die Kleider ein. MARCOS Warum hast du mich geheiratet? ADALINA Fang nicht schon wieder mit der alten Leier an. MARCOS

H a b ich d i r g e f a l l e n ?

ADALINA ES ist so lange her... nachdenklich, ohne Zärtlichkeit Beim Kochen habe ich mich erinnert, wie wir jung waren. MARCOS Lieber nicht... Sag nichts! ADALINA DU hast mir gefallen. MARCOS Aber du mußtest warten, bis Esteban gegangen war. ADALINA MARCOS

Nein. Lüge!

Katzen haben sieben

Leben

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ADALINA DU hast mir nette Dinge gesagt... warst gut gekleidet... trankst nicht. MARCOS nostalgisch Ich hatte Pläne für die Familie. ADALINA WOZU diese Unterhaltung fortführen? Seitdem ist viel passiert... herrisch, kalt Such den Kater, geht zum Altar Heiliger Judas Thaddäus. Heiliger Judas, hilf mir... Ich will ihn... hilf mir. Du bist der einzige, der das vermag... Fürsprecher des Unmöglichen, holt ein Töpfchen, in dem etwas Honig ist Heiliger Judas, nimm dieses bißchen Honig... schon fast zu Karamel geworden, aber was anderes hab ich nicht... du bist so wundertätig... bekreuzigt sich, berührt das Bild mit großer Ehrfurcht ...und jetzt brauche ich dich wie nie zuvor. MARCOS Frag ihn, warum wir dann so beschissen dran sind. ADALINA Weil du ein Säufer bist. Marcos wird wütend, geht zum Altar, zerbricht das Heiligenbild des ]udas Thaddäus. MARCOS Wieder kommst du damit an... Es hängt mir zum Hals raus, daß du mir sagst, ich soll nicht mehr trinken... Laß mich in Frieden, himmle du nur deine Heiligen an! Bitte sie, daß der Kater zurückkommt... und mein Sohn natürlich... Mein Sohn! Und für dich bitte drum, daß Esteban zurückkommt... Deine Heiligen gehen mir auf die Eier... Pause, sarkastisch Du glaubst an nichts... Hilf dir selbst, so hilft dir Gott! Du rufst die Heiligen an, wenn's dir paßt. Stellst dich immer als Vorbild hin. Reden wir in diesem Haus nicht über Vorbilder, denn wenn die Kinder draußen gehört haben, wie über jemanden schlecht geredet wurde, dann nicht über mich... allein. Du trägst mehr Schuld als ich... Du... Weißt du, warum José Luis weg ist? möchte sie beleidigen Weil er hier mit dir nicht leben wollte... Unerwartet versetzt Marcos Adalina einen Stoß, sie fällt beinah. Sie scheint Angst vor ihm zu haben. Sie geht zum Altar, beginnt die Scherben des Heiligenbildes vom Boden aufzusammeln. Plötzlich verkrampft sich Adalina wie zu einem Anfall, greift zu irgendeinem Gegenstand, um damit Marcos zu schlagen. ADALINA Hau endlich ab... brüllt Hau ab! Säufer! Hau ab, bevor ich die Polizei hole, damit sie dich verhaften, weil du ein Faulpelz bist. Hau ab, hau ab, hau ab oder ich schmeiß dich raus, du Nichtsnutz. Geh mit deinen Kumpels Rum saufen, das ist das einzige, was du kannst... Und komm nie wieder! Laß mich in Ruhe! MARCOS ruhig, aber bedrohlich, Adalina abschätzend K o m m näher... Komm! Näher! Schlag mich! Komm und schlag mich nur, ich werde dir eine scheuern, daß dir Hören und Sehen vergeht. Dunkelheit.

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Pedro R. Monge

Rafuls

Zweiter Akt Am gleichen Ort. Zwei Wochen später. Adalina ist allein auf der Bühne, sitzt in einem Sessel und blickt ins Leere. Cheo tritt ein. ADALINA ironisch, verletzt Sieh mal einer an! Unser Wirbelwind Cheo ist wieder da! CHEO Ich konnte nicht früher kommen. ADALINA Und warum nicht? CHEO Mit dem Alten daheim... ADALINA DU hättest mal daran denken sollen, was ich durchmache... Aber du, nix da... in anderem Ton Hast du dran gedacht? CHEO

Ja.

ADALINA Warum bist du dann nicht gekommen? CHEO Ich wollte ihn nicht allein lassen. ADALINA Ich hab dir tausend Nachrichten geschickt. CHEO Der Alte war total deprimiert.... ADALINA

Er?! D e r u n d d e p r i m i e r t ?

CHEO Ich dachte, er würde krank werden... Er wollt nicht mal essen... ADALINA Und bist du nicht auf den Gedanken gekommen, daß ich allein bin? CHEO Ich habe gewartet, daß dein Zorn über den Alten verfliegt. ADALINA DU bist ziemlich unverschämt. CHEO DU hättest zu Julia gekonnt. ADALINA resigniert Ja... Julia... Julia... Zweimal ist sie gekommen, auf einen Sprung. CHEO Ich hab mitbekommen, daß sie Nachforschungen anstellt... Pause. ADALINA forschend Stimmt es, daß er gesehen wurde? CHEO ausweichend Außerdem kann ich euch besser helfen, wenn ich mich nicht zu stark da reinhänge. ADALINA

Ja! N a sicher!

CHEO Ich hab mit Julias Mann gesprochen. ADALINA Hoffentlich bist du nicht ins Fettnäpfchen getreten. CHEO Er erfährt die Dinge als erster. Da kann er sich ausdenken, was ihm in den Kram paßt... Im Moment machen sie sich keine Sorgen, aber dann gibt es plötzlich einen Richtungswechsel, und es wird ein Problem draus... ADALINA Stimmt es, daß er gesehen wurde? CHEO

Ich g l a u b e ja.

ADALINA DU sagst es, als würde es dich nichts angehen... CHEO Doch! Ich weiß nicht!

Katzen haben sieben Leben

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Wie wenig dir das alles bedeutet! Wer hat das gesagt? ADALINA blickt ihn an Nena hat es mir gesagt, lange Pause Nena legt es drauf an, mich auszuhorchen. Ich bin verzweifelt! Sie hat es mir erzählt, aber eigentlich wollte sie rauskriegen... CHEO Du mußt vorsichtig sein mit dem, was du ihr sagst. ADALINA ohne zu verstehen Was? Pause Er ist gesehen worden? Ja oder nein? CHEO Wozu fragst du mich das, wenn Nena dir doch gesagt hat, daß man ihn gesehen hat? ADALINA Ich hab's ihr nicht geglaubt. Er wäre schon hergekommen. Ich lebe in schrecklicher Angst und du bist nicht gekommen und Julia auch nicht, um's mir zu sagen... Ich seh tausend Mal aus der Tür... kein Mensch! Pause Und ich sterbe nicht! CHEO Man muß sehr vorsichtig sein... beiläufig Man hat ihn bei Matilde gesehen. ADALINA Die von den Castellanos? ADALINA

CHEO

CHEO

Ja.

Er war hinter ihr her. Wollte mit ihr ins Bett... ADALINA A U S welchem Grund auch immer... Vielleicht versteckt er sich in ihrem Haus, jetzt wo der Mann auf den Feldern ist. CHEO Ich weiß nicht. ADALINA Ich würde gerne wissen, was du weißt... Warum ist er nicht hergekommen? Warum ist er nicht gekommen? ... Warum bist du nicht zu Matilde und hast mit ihr gesprochen? CHEO Ich will keinen Verdacht erregen... ADALINA E S muß ihm was passiert sein... Und jetzt du mit deinem Gehabe, willst von nichts wissen... Ich versteh wirklich nicht, was mit euch los ist... CHEO ertappt Ich weiß nicht, warum nichts bekannt ist... ADALINA Aber glaubst du, er wird zurückkommen? CHEO Ich weiß nicht! ADALINA Warum ist er nicht gekommen? CHEO Er wird schon auftauchen. ADALINA kühl, aber mit Hoffnung Glaubst du? CHEO Matilde sagt, sie hat ihn gesehen, daß er aber über den Zaun gesprungen ist und... ADALINA Wann war das? CHEO Vor ungefähr zwei Tagen. ADALINA Hast du mit ihr gesprochen? ADALINA

CHEO

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Pedro R. Monge Rafuls

CHEO S i e h a t e s m e i n e r F r a u erzählt... ADALINA W a s d e m e i n e n z u s t ö ß t , p a s s i e r t s i c h e r a u c h d e m a n d e r e n . . . M e r k s t d u n i c h t , d a ß sie s o g a r a m g l e i c h e n T a g v e r s c h w u n d e n sind... es w a r s c h o n i m m e r so! CHEO ... a b e r d u h a s t i h m d o c h i m m e r gesagt, d a ß w ä r e U n f u g . ADALINA es kommt ihr aus der Seele A c h , Heiliger J u d a s T h a d d ä u s ! CHEO M a m a , d u m u ß t e s m i t G e l a s s e n h e i t n e h m e n . ADALINA K a t z e n h a b e n s i e b e n L e b e n . CHEO B e b o h a t s c h o n z w e i v e r l o r e n . ADALINA

Ja, ja, ja!

CHEO Ich w o l l t e n i c h t s B ö s e s s a g e n . ADALINA Ich h a b ' n e n K o m i k e r z u m S o h n u n d ' n e n W e i s e n z u m M a n n ! CHEO W e n n d u s o w e i t e r m a c h s t , w i r s t d u k r a n k w e r d e n . ADALINA W o h a s t d u g e s t e c k t ? D u bist d o c h n i c h t d e s h a l b g e k o m m e n . . . B e s t i m m t w a r s t d u a u f S a u f t o u r , mit d e i n e m V a t e r . CHEO DU w e i ß t , d a ß ich nicht trinke... ADALINA

WO warst d u ?

CHEO H a b ich d o c h g e s a g t ; ich h a b g e w a r t e t , d a ß d e i n Z o r n verfliegt. ADALINA O d e r d u h a s t d i c h r u m g e t r i e b e n , mit F r a u e n , d a s ist d a s s e l b e . Pause G o t t w e i ß , o b er lebt o d e r nicht... vorwurfsvoll W e n n ihr nicht b e t r u n k e n seid, treibt ihr e u c h mit F r a u e n rum... CHEO M e n s c h , M a m a . D u ä n d e r s t dich nie! ADALINA Dir ist d a s alles p i e p e g a l . Pause, in anderem Ton H e i l i g e r J u d a s , d u bist d e r e i n z i g e , d e r bei mir ist... A c h , m e i n G o t t ! CHEO P a p a steht d r a u ß e n . ADALINA W e i ß t d u , w a s im R a d i o g e s a g t w u r d e ? CHEO H ö r n i c h t a u f alles, w a s sie im R a d i o v o n d r ü b e n s a g e n . ADALINA Sie h a b e n g e s a g t , z w e i h ä t t e n sich v o n d e n B o o t e n abgesetzt... Vielleicht lebt er n o c h . CHEO ohne Überzeugung W i e v i e l w e t t e s t du, d a ß e r sich r u m t r e i b t . . . b e i irgendeiner Frau. ADALINA W e r h a t d i r d a s g e s a g t ? D e i n V a t e r ? W a s s a g e ich... Frauen... F r a u e n u n d S a u f e n . Pause A b e r z u m i r k o m m s t d u nicht... Nie... F ü r d i c h ist d e i n e M u t t e r , als g ä b e es sie gar nicht... CHEO W i e k a n n s t d u s o w a s s a g e n , M a m a ? ADALINA Seit T a g e n h ö r ich nix v o n e u c h . CHEO Ich h a b ' s dir s c h o n erklärt... M a m a ! ADALINA ironisch und beleidigt A c h , s t i m m t ja, d u willst k e i n e K o m p l i kationen. CHEO Ich w i l l k e i n e S c h w i e r i g k e i t e n w e g e n a n d e r e n . ADALINA

U n d ich?

Katzen haben sieben Leben

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spricht gleichzeitig mit Groll, Schmerz und Ironie Das ist was anderes... Das ist was ganz anderes und jeder weiß es... Ich mische mich nicht in Probleme ein... Ich seh's mir an und schweige, wenn ich die Dinge nicht lösen kann. Ich habe eine Familie und kümmere mich darum, aber José Luis war immer dein Liebling... Für dich war er das Engelchen, nun sieh ihn dir an... Hörner und ein langer Schwanz sind ihm gewachsen, und weg ist er, ohne dir ein Wort zu sagen, und bestimmt wird er drüben sein Glück machen und wird dich nicht mehr kennen... Begreife es doch, das war dein niedliches Söhnchen... Das Schätzchen ist weg, und die bösen Kinder sind da geblieben, um sich um die verlassene Mama zu kümmern... ADALINA scheint nicht gehört zu haben Ich bin hinter der Nachricht her. C H E O frustriert Papa ist draußen. ADALINA beachtet ihn nicht Alle sind gleich, alle... Wir Frauen spielen keine Rolle... Er hätte kommen und mir sagen können: „Mama, ich geh! ... Ich halt das nicht aus", und ich hätte es verstanden... Ich bin schließlich seine Mutter! Ich hätte geweint, sicher, ich hätte ihm gesagt, er soll es nicht tun, aber dann hätte ich ihm geholfen... Ich hätte es sogar vor dir verborgen und ihm geholfen... Dafür bin ich seine Mutter! ... Aber nein! Er ist weg! Er hat mir nichts gesagt! ... will weinen, faßt sich wieder Alle dieselben Scheißkerle, sogar wenn man sie auf die Welt gebracht hat... Alle Kerle sind gleich, alle... wechselt den Ton Ich hatte gehofft, du würdest mit mir ein Stück gehen... C H E O Willst du ihn nicht reinlassen? ADALINA Ich war immer eine gute Mutter... betrachtet ihn eingehend Stimmt doch, oder? C H E O Mensch, verdammt, Mama... fang nicht wieder davon an. ADALINA resigniert Ach, du willst mir nicht zuhören, lange Pause, bedeutungsvoll Wußtest du, daß José Luis nur sieben Monate nach meiner Hochzeit mit deinem Vater geboren wurde? C H E O besorgt Ich sag ihm, er soll reinkommen. ADALINA Also. Pause Das war, als dein Vater mit dem Trinken begann... C H E O In dieser Woche hat er nichts getrunken. ADALINA Am Anfang hab ich's gar nicht bemerkt... es war ein Schlückchen am Abend, wenn er von der Arbeit kam, aber allmählich verbrachte er mehr und mehr Zeit außer Haus, nach der Arbeit... und als du dann geboren wurdest, war er schon ein chronischer Trinker... Ich weiß nicht, wie ich's geschafft habe, Julchen anderthalb, José Luis fast drei und du ein Neugeborenes... und dein Vater, der mir Vorwürfe machte... mir die Schuld gab. C H E O aufmerksam Schuld an was? CHEO

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Pedro R. Monge

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ADALINA S c h u l d an... an allem... an... an... nichts... A n tausend U n g e heuerlichkeiten... U n d Julia k o m m t nicht? CHEO Ich sag ihm, er soll r e i n k o m m e n . ADALINA sie hört ihm nicht zu Kennst du Tico? CHEO Nein. ADALINA W i e s o kennst du ihn denn nicht, er ist doch mit José Luis befreundet!? CHEO A b e r nicht mit mir. ADALINA Ein kleiner Mulatte, so... kräftig. Sie deutet Muskeln an. CHEO Ich k e n n e ihn nicht. ADALINA Sie sind nie w i e d e r aufgetaucht. A c h , C h e o , mein Sohn...! um ihn zu rühren Dein Bruder! Heiliger Judas... W i e kannst du nur so ruhig sein? CHEO W e r sagt, daß wir ruhig sind? ADALINA Julia ist nicht g e k o m m e n . CHEO M a m a . . . M a m a , du m u ß t verstehen... W i r wollen kein Aufsehen erregen; w e n n m a n uns sieht, w i e wir dich öfters als sonst besuchen, m e r k e n alle, d a ß i r g e n d w a s nicht in O r d n u n g ist... ADALINA sehr ironisch S i e h m a l e i n e r an, d e s h a l b . . . aha! ... Du hast Recht, w o ihr sonst nie k o m m t und nun plötzlich doch, werden die Leute sich d e n k e n , d a ß irgendwas nicht in O r d n u n g ist... CHEO V e r d a m m t , M a m a . . . Julia hat einen s y s t e m t r e u e n M a n n , der abgesägt wird, w e n n hier... Er tut, w a s er kann, um w a s rauszukriegen u n d die S a c h e zu v e r t u s c h e n . Du v e r g r ä b s t dich in deiner Welt... gut, aber denk mal... w i r haben unsere Familien. ADALINA Willst du Kaffee? CHEO M a m a , Julias M a n n will nicht, daß irgendwer w a s erfährt. ADALINA N e n a hat mir Kaffee mitgebracht... Jetzt k o m m t sie jeden Tag. Sie fragt nach dir, nach Julia, ob der Kater aufgetaucht ist... CHEO Siehst du! ADALINA M a c h dir keine Sorgen, sie fragt nicht nach José Luis... Solche Leute t a u g e n nicht mal als Spitzel, lange Pause, gleichgültig Sie hat m i r gesagt, d a s ist Kaffee, d e n sie v o n e i n e m A u s l ä n d e r gekauft hat... L e u t e , die bei ihr n e b e n a n w o h n t e n u n d ins Exil g e g a n g e n sind... Jetzt sind sie z u r ü c k g e k o m m e n , u m die M u t t e r zu besuchen, die noch in d e m H a u s w o h n t , mit ihrer alleinstehenden Tochter... in anderem Ton D a s M ä r c h e n von den Alleinstehenden, das glaubt doch kein M e n s c h mehr... zu meiner Zeit schon, eine Alleinstehende starb als J u n g f r a u , a b e r heutzutage, h e u t e sind sie alleinstehend, weil ihr Kerl sie hat sitzen lassen... Ich w e r d e K a f f e e aufgießen, d a n n kann ich N e n a sagen, ob er gut war oder nicht.

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ungeduldig Man wird verrückt bei dem sinnlosen Gequatsche... Für dich hat doch alles, was ich sage, keinen Sinn. Oder du gibst mir Widerworte, genau wie dein Vater. CHEO Laß mich in Ruhe. Leg dich nicht mit mir an! ADALINA ironisch Und dürfte man wissen, was für euch Sinn macht? CHEO Ich hab immer den Schwarzen Peter, weil du nie das Schlechte bei den anderen siehst... ADALINA D U mußt ihn fast ohne Zucker trinken, denn der geht zu Ende... und weder du noch dein Vater macht euch die Mühe, was zu diesem Haushalt beizusteuern... Cheo zieht eine Grimasse, die deutlich macht, daß er die Vorwürfe seiner Mutter leid ist. Lange Pause. CHEO listig Ich rufe Papa, damit er reinkommt. ADALINA Und was gedenkst du mit José Luis zu tun? CHEO Was soll ich mit José Luis machen? Ich?! Ich weiß nicht! ... Warten, bis wir was erfahren. ADALINA Niemand weiß was. CHEO Man kann nicht mehr tun... ADALINA Ach, mein Sohn! José Luis! CHEO D U mußt nach vorne schauen... Vertrauen haben. ADALINA Das ist das einzige, was mich aufrecht hält. Cheo geht raus, kommt sofort mit Marcos zurück. MARCOS ZU Adalina Wie geht's dir? CHEO Er hat nicht mehr getrunken. Langes, peinliches Schweigen. Adalina ist gleichgültig. Es stimmt! Papa hat sich geändert! ADALINA Der kann das Trinken doch nicht lassen. MARCOS Hast du irgendeine Neuigkeit? CHEO überzeugend Ihr seid schon so viele Jahre zusammen. ADALINA Gerade deshalb weiß ich, daß er sich nicht ändern wird. Pause, zu Cheo Weißt du noch, als man ihm gesagt hat, man würde ihn für diesen Job haben wollen? CHEO stolz Er ist ein guter Arbeiter... ADALINA Er erzählte überall, er würde nicht mehr trinken... Nicht eine Woche hat er's ausgehalten! ... Und als du krank warst... Drei Tage! CHEO Er wird sterben, Mama! ADALINA Niemand stirbt so leicht. CHEO Ich hab Angst, daß er eine Embolie kriegt, oder was anderes... ADALINA Das ist doch wie aus 'nem Roman, dein Vater ist ja belesen und kennt sich damit aus, was in Romanen passiert, stimmt's? MARCOS Mir geht's gut... CHEO

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Pedro

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ADALINA Schau mich an; das Wichtigste in meinem Leben könnte tot sein, und ich bin noch am Leben... CHEO verletzt Und ich bin nicht wichtig in deinem Leben? ADALINA beachtet Cheo und seine verletzten Gefühle nicht Er stirbt nicht... Gleich kommt er wieder mit so 'ner schlauen Bemerkungen an... Lange und unangenehme Pause CHEO Mensch, Mama, hör schon auf... will seine Mutter verletzen José Luis, José Luis hat eine Dummheit begangen, die uns alle ins Unglück gebracht hat. MARCOS Keiner hat was getan, um irgendwen ins Unglück zu stürzen. CHEO Er wird es wohl nicht mit Absicht gemacht haben, aber es kommt auf dasselbe raus; er stürzt uns alle ins Unglück und drüben... bestimmt ist er drüben, darum mach ich mir keine Sorgen... in den Staaten, wird er sich nicht mal mehr an uns erinnern... Langes und bedrücktes Schweigen. Marcos sucht etwas. Er erinnert sich und geht zu einer Stelle des Zimmer, holt eine Flasche hervor. Er drückt sie gegen die Brust. Adalina und Cheo sehen ihn an. Adalina macht Cheo ein Zeichen, das bedeutet: „Ich hab's dir doch gesagt..." ADALINA ironisch wegen der Flasche, die Marcos festhält Sie können uns nichts tun. MARCOS

Klar.

ADALINA

W a s hast du getan?

CHEO Und warum, glaubt ihr, kommt Nena jeden Tag? Oder habt ihr vergessen, daß sie dafür zuständig ist, den gesamten Block zu überwachen... MARCOS E S ist nicht mehr wie am Anfang... CHEO Ich schade mir, indem ich hierher komme... nachdrücklich Damit ihr's wißt... Mama! MARCOS schlafwandlerisch Man konnte nicht mal über die reden, die fort gingen. Niemand erinnert sich mehr daran... Klar. ADALINA Aber jetzt ist es anders... CHEO Wozu das Gerede, wenn ihr die Dinge nicht sehen wollt!! traurig Papa?! Papa, was ist los?! Überraschend wirft Marcos die Flasche aus dem Haus. Man hört, wie sie zerbricht. MARCOS Sie kaputt gemacht! triumphierend Es war nicht meine! Es war nicht meine! ironisch Wem gehörte sie wohl? Meine war's nicht! ADALINA böse, falsch Die hab ich aufbewahrt, um sie gegen ein Huhn einzutauschen. MARCOS Was für ein Prachtstück! lacht. Cheo ist ziemlich verwirrt. ADALINA unterbricht Man hat ihn bei Matilde Castellanos gesehen.

Katzen haben sieben Leben

MARCOS

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Cheo hat's mir schon gesagt... Hast du nichts weiter gehört? Nein. CHEO Er ist viel zu bescheuert, um in einem Boot abzuhauen. ADALINA ironisch Ach ja, und du bist nicht... du bist der... der Superkerl. Der Sonnenschein der Familie. CHEO Hör mal, fang jetzt nicht wieder mit mir zu streiten an. ADALINA D U bist gefühllos. CHEO Das war einfach nur eine Bemerkung. MARCOS Klar, wir leiden alle sehr. Er wird sehr traurig. CHEO sehr liebevoll Beruhige dich, Papa. Pause Da siehst du's, Mama, das ist genau, was ich vermeiden will... daß Papa leidet. ADALINA beleidigt Und ich leide nicht? MARCOS Cheo hat mir gesagt, daß er gesehen wurde. ADALINA ZU Cheo Warum hast du mir nichts davon gesagt? CHEO ausweichend Hab ich dir doch gesagt. Pause, korrigiert sich Ich hab's vergessen. MARCOS möchte, daß Cheo das zurücknimmt Ich glaube, er hat es gesagt, um mich zu beruhigen. ADALINA forschend, energisch Sag mir... wo wurde er gesehen? CHEO Ich hab's schon Papa gesagt, ich erinnere mich nicht... Ich habe ihn nicht gesehen. Carlos hat es mir gesagt; er hat mir gesagt, er hätte ihn mit einer Frau gesehen, in... weiß nicht mehr, wo er ihn gesehen hat. Carlos glaubt, er wäre es gewesen. MARCOS Aber du hast mir doch gesagt, Carlos sei sich sicher. ADALINA prüfend Was hat er dir gesagt? CHEO Nichts, das eben. Was soll er mir schon sagen? ADALINA Bist du sicher, daß er ihn gesehen hat? Ja oder nein? CHEO Er glaubt, er wär's gewesen... ADALINA Aber wie hat er's dir gesagt? CHEO ungeduldig Mensch, das ist wirklich die Höhe. Was weiß ich, wie er's mir gesagt hat. wirft sich in Pose „Hör mal, Cheo, gestern hab ich deinen Bruder mit einem Mordsweib gesehen." Was weiß ich, wie er's gesagt hat... So wird's gewesen sein. Ich erinnere mich nicht! ADALINA Das ist gelogen. CHEO Und warum sollte ich dich anlügen? kurze Pause, vage Ich hab nie gesagt, daß er gesagt hat, er habe ihn gesehen... Er glaubt, er habe ihn gesehen! Er hat ihn von weitem gesehen... Das war vielleicht José Luis, vielleicht war er's auch nicht. Pause, in anderem Ton Hoffentlich ist er's gewesen, sonst hat er uns reingerissen... ADALINA nimmt José Luis in Schutz Nun laß mal hören, wieso hat er uns reingerissen? ADALINA

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Pedro

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CHEO kann es nicht fassen Wie wieso hat er uns reingerissen? Weißt du's denn nicht?! blickt zum Vater, bei dem er Unterstützung sucht. Marcos ist schweigsam, traurig. ADALINA Sein Leben ist sein Leben... Wir stecken nicht in ihm drin. CHEO mit Verachtung Er ist ein Schweinehund. ADALINA Seitdem du hier bist, geht dir das nicht aus dem Sinn. CHEO Na und? Stimmt es etwa nicht? Er ist ein Arschloch erster Klasse! Und Nena kommt hierher. Sie ist von der Sicherheit... Deshalb kommt sie. in anderem Ton Ab jetzt werden die von der Sicherheit über uns herfallen. Sie werden glauben, daß auch ich weg will. Sie werden mich bei der Arbeit rausschmeißen und mir das Leben zur Hölle machen... Julia tut das schon. Jeden Tag fragt sie mich, ob ich was wüßte, denn sie will nicht, daß ihr Mann Probleme kriegt... Aber die Nervensäge von Julia ist nichts gegen das, was mich erwartet. Nicht nur mich allein, uns alle. ADALINA Ihr drei habt Angst... CHEO Und du gibst mir nicht nur die Schuld, daß Papa trinkt, sondern willst mir jetzt noch vorwerfen, daß er wegen mir weg ist. MARCOS Nein! Nein! Nein! ADALINA Julia ist nicht ein einziges Mal gekommen. CHEO Sie hat Dünnpfiff vor lauter Angst, daß sie ohne ihren Mann da stehen wird... Und all das, weil Mamas Liebling die Idee hatte, mit einem Boot abzuhauen. Pause Ich hätte es wenigstens gesagt. MARCOS Man darf nicht so pessimistisch sein. CHEO

Mensch, Papa...

ADALINA Dein Vater hat Recht. CHEO ironisch Sag bloß! ... Jetzt gibst du Papa Recht. ADALINA Ich gebe dem Recht, der Recht hat. Cheo und Marcos blicken sich zufrieden an. In ihren Blicke ist Solidarität. CHEO Das ist ein Schritt nach vorn. ADALINA beachtet ihn nicht Julia kommt nicht, wenn ich sie am nötigsten brauche. Du bist seit mehr als einem Monat nicht mehr gekommen, nicht mal um zu sehen, ob wir noch leben und er... er... MARCOS

Er ist w e g .

ADALINA Heiliger Judas Thaddäus. CHEO Und ausgerechnet den Moment suchst du dir aus, um dich mit Papa zu zerstreiten... und ihn zu mir zu schicken. Verflucht, Mama, das ist doch der Gipfel! ADALINA schlägt ihn schnell, heftig auf den Mund Sei nicht respektlos! CHEO verduzt, aber gehorsam Mama, ich bin doch kein Kind mehr!

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Damit du nicht vergißt, daß ich deine Mutter bin und eine Frau, die du zu respektieren hast, verdammt. Lange Pause. C H E O D U bist alt... ADALINA Alt?! C H E O D U mußt ihm ein Chance geben... Pause Und wir? Was sollen wir den Leuten sagen? ADALINA Ich soll also diesen Säufer von deinem Vater ertragen, damit die Leute nicht reden... fordernd Aber du hast Angst zu kommen, weil dein Bruder weg ist... und deine Schwester hat deswegen Durchfall... ironisch Um nicht ihren Mann zu verlieren. Pause, betont Aber ich soll einen Säufer ertragen, damit die Leute nicht über euch reden... CHEO Ich gehe. ADALINA D U gehst? C H E O Ich komme wieder, wenn du die Dinge klarer siehst, von der Tür aus Ich... ich werde mich auf dem Laufenden halten... Sobald ich weiß, wo er steckt, komm ich's euch sagen. MARCOS Warte! CHEO Ihr dürft euch nicht sorgen und alles schlimmer machen... Ich komme sofort, wenn ich was weiß, geht ab. ADALINA äfft ihn nach „Ihr dürft es nicht schlimmer machen" „Macht die Dinge nicht schlimmer"... „Benehmt euch gut" „Sobald ich was weiß; sobald ich weiß, wo er steckt". Na sicher. Was meinst du? ... Müssen wir darauf warten, daß Cheo Neuigkeiten von seinem Bruder hat, damit er uns wieder besucht... lange Pause Zwei sind mir gestorben, zwei, gleich hier, aber als hätte's sie nicht geben, und der andere... der andere auf dem Meer... Ach, Heiliger Judas! Marcos geht zu ihr, um sie liebevoll zu umarmen und zu küssen. Geh weg... Geh mir vom Hals. MARCOS Ich liebe dich. ADALINA Ja und? Marcos setzt sich auf den gleichen Platz wie immer. Cheo hat dich wieder hergebracht, doch das ändert nix. MARCOS Ich hab nichts gegessen. Adalina reagiert nicht. Sie sagt, es reiche nicht mal für die zwei Kinder... Pause, traurig ...rieb's mir unter die Nase, damit ich merke, daß ich störe. Immer wenn Cheo wegging... ich ließ sie reden. Ich hab Cheo nichts davon gesagt, noch trauriger Als würde ich meinen Enkeln den letzten Bissen wegnehmen... Eher lege ich mir einen Strick um den Hals! ADALINA

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R. Monge

Rafuls

ADALINA Deshalb hat Cheo dich hergebracht... Um keinen Ärger mit seiner Frau zu kriegen... beschuldigt ihn wieder Daher bist du gekommen... Niemand erträgt dich, weil du ein Säufer bist. MARCOS Dich erträgt sie auch nicht, aber klar, mit mir legt sie sich an! Du weißt genau, daß ich nicht mehr trinke... Ich habe nicht mehr getrunken, kein eines Mal. ADALINA Ach ja! Wer's glaubt, wird selig! MARCOS

stolz

ADALINA

Haha!

Es stimmt!

ADALINA

Ich w a r ein gute Mutter...

MARCOS Klar, nur die Gefühle zählen. Deine Gefühle... klar, ist egal! ... Aber die stehen gegen deine Pflichten mir gegenüber. ADALINA DU bist vielleicht nicht betrunken, redest aber so. MARCOS Alles im Leben hat zwei Seiten, je nachdem von wo wir es betrachten. Du... klar, ich weiß, du bist frustriert. Hast nicht den Mann bekommen.... den du wolltest... Welche Chance gibst du mir... Ich möchte dir sagen... Ich glaube.... Es ist ein Vorschlag. Gib mir jetzt keine Antwort darauf... Denk darüber nach. ADALINA Was sagst du da? Ich versteh kein Wort, lange Pause Nachdenken über was? Und was für eine Antwort soll ich dir geben? MARCOS Aber manchmal kann ich nicht... ich kann nicht, seine Augen werden feucht, aber er weint nicht Du warst eine abwesende Frau... MARCOS Oft hab ich mir gewünscht zu wissen, was du dachtest... Ich habe immer davon geträumt, daß du denkst, ich... wünschte mir, daß... Pause Daß du nicht unglücklich wärest, weil du mich geheiratet hast. Pause, in anderem Ton Der Rum hat mir geholfen. Wenn ich jetzt was trinken würde, würde mir die Geschichte mit José Luis nicht so weh tun, aber ich habe nicht getrunken, energisch Ich wollte trinken, mußte trinken, als du mich rausgeschmissen hast... Ich tu das, was richtig ist... für mich. Pause Ich trank und vergaß die Probleme. Pause Aber klar, ich werde jetzt nicht mehr trinken, und auch kein Selbstmitleid haben... Du hättest mich nicht verfluchen sollen! ...aber ich kämpfe. ADALINA

Bist d u fertig?

MARCOS

Glaub mir.

Sehr lange Pause. ADALINA Immer wolltest du was über ihn wissen, ob ich ihn liebe... mit Nachdruck ob ich ihn noch liebe... Wie er im... das eben, wir beide. Immer wolltest du Einzelheiten wissen, stimmt's? ... Seine Hände auf mir... ob er mich anschaute, wenn wir es taten... Ich glaube, daß er nie... Nie hab ich's dir gesagt, auch er hat's dir nicht gesagt... Ich

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weiß, er hat nie darüber gesprochen... Und ich hab auch nicht drüber gesprochen, weil... nun ich bin mir sicher. Aber du willst sicher sein... Du hast es dir vorgestellt... er, auf mir... nackt... Willst du wissen, ob er mir hinterher Witze erzählte? Na und? lacht Wirst du mich verlassen, wenn es stimmt? Aber, wie willst du es wissen? Ich hab dir nie erzählt, was du wissen wolltest, und er auch nicht... Du weißt nix... Es ist mir jetzt auch egal, was du weißt... Ich könnte dir sagen... lange Pause Du stehst da mit all den Fragen, die du gern stellen würdest und traust dich nicht... Pause Willst wissen, ob es nur vorher war oder auch nachdem wir geheiratet haben und wo. MARCOS Ich will mich frei fühlen... ich sein... ADALINA

WOW!

Schweigen. MARCOS Es ist keine Lösung, daß ich gehe. ADALINA Und was ist die Lösung, Herr Besserwisser? MARCOS Und wenn er sich im Stacheldrahtzaun im Hof verfangen hat und sich nicht befreien konnte...? Pause Er ist an Hunger und Durst gestorben, verzweifelt! ... ADALINA mit großem Schmerz Meinst du, verdursten tut sehr weh? Langes Schweigen MARCOS Wir sind allein. Dir bleibt keine andere Wahl... ob du nun willst oder nicht. ADALINA Wir haben viel zusammen durchgemacht, aber ich will nicht weiter mit einem Säufer leben. MARCOS Gib mir Zeit, mich zu bessern. ADALINA

U n d w a s h a b ich d a v o n ?

MARCOS Ich hoffe, du hilfst mir, das wird es mir leichter machen. ADALINA Ich sterbe vor dir. Der Alkohol hat deine Eingeweide ausgeputzt... MARCOS Nein, so darf man nicht sein. ADALINA zum Heiligen judas Sieh mich mit deinen barmherzigen Augen an. beschwörend Ich bin nicht schlecht, Heiliger Judas. Nicht wahr? Heilige Barbara! zu Marcos Ich konnte mir nicht mal den Luxus erlauben, pessimistisch zu sein, betrachtet sich in einem kleinen Spiegel Schau mir ins Gesicht, ich hab mehr Falten als der Weg zwischen zwei Zuckerrohrfeldern... zu Marcos Mir tut es leid, dich so völlig am Ende zu sehen. Marcos schubst sie. Adalina läßt den Spiegel fallen, der in Stücke springt. Verärgert bückt sie sich, um schweigend die Teile einzusammeln. jetzt aber, sieben Jahre Pech!... Plötzlich beginnt sie zu lachen. Kannst du dir vorstellen, was mir in sieben Jahren Pech passieren wird? Mir

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wird der Bauchnabel auf die Stirn wandern... Beide lachen. In ihrer Albernheit berühren sie sich sogar. Sie fährt fort, in einem scherzhaften Ton zu reden. Marcos hört ihr lächelnd und einvernehmlich zu. Mir kann nichts mehr passieren... Sieben Jahre Pech? Wenn ich eins nie hatte, dann ist es Glück. Ob mir 'ne Warze auf der Pobacke wächst? MARCOS unvermittelt Was willst du? Daß ich sterbe? Adalina antwortet nicht. Lange Pause. Die Situation ist verändert. Ja... ja klar, ich soll sterben. Verschwinden, damit du dich weiter als Märtyrerin, als die Gute, die sich opfernde Mutter fühlen kannst... Warum sagst du deinen Kindern nicht, wer du in Wirklichkeit bist? Ich war besser als du, denn ich wußte alles und hab sie nie was davon wissen lassen... traurig Glaubst du, du hättest mich reingelegt mit dem Märchen von dem Siebenmonatskind? Daß er es nicht rumerzählt? ... Er ist herumgezogen und hat allen erzählt, daß er sein Sohn ist... Und ich schwieg. Einige Male dachte ich daran, mir einen Strick um den Hals zu legen und diesem üblen Scherz ein Ende zu bereiten... Aber ich tat es nicht, denn ich bin kein Feigling. Das bin ich nie gewesen! ironisch und gleichzeitig anklagend, selbstsicher Deine Geschichtchen von der Guten und Heiligen langweilen mich. Ich bin tausend Mal wertvoller als du! Hure! Hast du mich verstanden? Dich fragen, klar, wonach soll ich denn fragen? Es wußten doch sogar die Steine, was für eine Hure du gewesen bist. ADALINA wütend, aber mit Angst. Hilflos. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Geh weg, geh weg, ich hab dich nicht herholen lassen. MARCOS fremd, energisch, sehr ruhig Sag bloß... ADALINA überrascht über die Haltung ihres Mannes Ich... ich... hab dich nicht gebeten zurückzukommen. MARCOS DU wolltest, daß ich nicht zurückkomme. ADALINA DU bist gekommen, weil du Lust dazu hattest. MARCOS Hier sind zwei oder drei Dinge zu klären. Klar. ADALINA Ich muß mir das nicht anhören. MARCOS Erstens ist dies mein Haus... Ich hab das Grundstück gekauft und hab's gebaut, klar, weiterhin ironisch Der Säufer, aber ich trinke nicht mehr... ist Herr über alles... Du besitzt nichts... Ich soll aus meinem Haus gehen? auf dem Gipfel der Ironie Neiiin, wenn jemand aus meinem Haus zu gehen hat, dann bist du das... Was hältst du davon? ... Nein, klar, eigentlich ist es mir egal, was du davon hältst... holt eine Flasche hervor Siehst du sie? Siehst du sie gut? Nun, schreib dir das hinter die Ohren... Wenn ich Lust dazu habe, ziehe ich mir die ganze Flasche rein, ex und hopp... vor deinen Augen... na und? ADALINA spöttisch Wie kurz es doch angehalten hat...!

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schmeißt die Flasche gegen die Wand. Sie zerbricht. Noch ein Huhn, das du nicht essen kannst. Huhn?! Wen betrügst du? ...Ich hole aus mir Kräfte, von denen ich zuvor nichts geahnt habe, um mich aus meinem Unglück zu befreien... Klar, das ist schwierig... mit dir, klar! Manchmal habe ich es bereut, dich geheiratet zu haben, als José Luis geboren wurde. Aber doch, ich liebe dich... mehr als ich sollte, und jetzt will ich mich ändern... Ich habe mir das Versprechen gegeben... mir hab ich es gegeben... Ich will nicht mehr trinken... Ich bin mehr Mann als du Frau... Ich werde auch nichts verfluchen, wie du es immer tust... Nur das Pech, dich kennengelernt zu haben... und dich zu lieben. Der Blitz soll dich treffen! ADALINA versucht abzulenken, ist nervös und verblüfft, weiß nicht, wie sie reagieren soll Heiliger Judas, dieser arme Kater. MARCOS Laß den Heiligen doch mal in Frieden. Meinst du, der kümmert sich in einem Land wie diesem um einen räudigen Kater? Bei all den Problemen, die es auf der Welt gibt, bittest du ihn, seine Zeit mit einem Kater zu verschwenden... Denk doch mal ein bißchen nach und sieh ein, daß es nur eine deiner blödsinnigen Ideen ist... ADALINA nun ein wenig eingeschüchtert Sprich nur lauter, damit der Heilige Judas dich hören kann. MARCOS Soll er mich doch hören! ADALINA Und Nena. MARCOS hebt die Stimme, während er zur Tür geht Ich hab weder Angst vor Nena, noch vor sonst jemandem! ... Mir ist egal, ob mich alle hören, von mir aus die Parteimitglieder oder sonst wer... an der Tür, schreit auf die Straße Hört mir alle zu... alle, ich habe die Nachricht, daß ihr... ADALINA rennt zur Tür, schließt sie Pssst! Ach, bitte! Du wirst ihn ins Unglück reißen! ... Denk an deinen Sohn! Wir wissen nicht, ob er wirklich weg ist... Bitte! Ach, Alter! Ach, Heiliger Judas! MARCOS reuig Aber laß diesen Heiligen Judas Maddaus. ADALINA Thaddäus! versucht die Zügel wieder in die Hand zu nehmen Der Kater und José Luis waren... MARCOS Nein, sie waren nicht ein Herz und eine Seele. Sei still... Ich will nichts von diesem Aberglauben hören. Wie kannst du nur das Schicksal eines Sohnes mit dem eines räudigen und halbverhungerten Katers in Zusammenhang bringen? Den wird sich jemand geschnappt und gegessen haben. Bei dem Hunger, der hier herrscht! ADALINA verblüfft Du warst es doch, der gesagt hat... MARCOS

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Rafiils

MARCOS Ja, klar. Aber ich hab mich geändert. Mich geändert! Hast du gehört?! Denk dran: von jetzt an ist Schluß mit Trinken und mit Aberglauben! ADALINA denkt fieberhaft nach, um die Situation zu wenden Ich werde die Tür öffnen. Ich will nicht, daß die Leute sie verschlossen sehen und mißtrauisch werden. Sie öffnet die Tür. Langes Schweigen. Die Situation zwischen ihnen hat sich verändert. Beide sind verwirrt, wissen nicht, was sie tun sollen. Marcos schaltet das Radio ein. Man hört Musik. MARCOS Diese moderne Musik mag ich jeden Tag weniger. Schweigen. ADALINA Stell den Auslandsender ein. MARCOS

Nein.

ADALINA

Ein b i ß c h e n .

ADALINA

Meinst du?

ADALINA Vielleicht bringen sie eine Meldung. MARCOS Gerade deshalb stell ich ihn nicht ein. ADALINA ohne die dominante Haltung Du bist vielleicht nicht daran interessiert, es zu erfahren, ich aber schon... MARCOS bestimmt Ich werde ihn nicht eher einstellen, bis ich Lust dazu habe. Ich habe kein Interesse daran, mich zu quälen, kurze Pause Wenn du so stark auf den Heiligen vertraust, dann mußt du ruhig bleiben... abwarten... Der Glaube kennt keine Zweifel, er bedarf keiner Bestätigung, denn er weiß schon, was passieren wird... Du hast keinen Glauben! ... Laß den Heiligen Judas, er hört dich nicht... Die Heiligen erhören die, die glauben, sonst keinen! Schweigen Ist Kaffee da? MARCOS Gieß welchen auf... Ich möchte Kaffee. Adalina sieht ihn an, will etwas sagen, geht aber in die Kiiche.. Wo bloß der Kater steckt. Er hat eine Idee. Freut sich darüber. Na, klar! Adalina...! Adalina...! ADALINA kommt herein Was denn? MARCOS Der Kater! ... Klar, José Luis hat den Kater mit nach Miami genommen! ... Er hätte ihn doch nie zurückgelassen... Er hat ihn mitgenommen! in anderem Ton Sie sind am selben Tag verschwunden. Das wäre ein großer Zufall. Er hat ihn mitgenommen! MARCOS Klar. Warum hab ich nicht früher daran gedacht? Er hat ihn mitgenommen... ADALINA Aber Cheo sagt, daß Matilde Castellanos ihn gesehen hat.

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Daß sie glaubt, ihn gesehen zu haben... aber sie war sich doch nicht sicher. ADALINA Nein, Matilde schon... Cheos Freund war sich nicht sicher, ob er José Luis gesehen hat. MARCOS Komm! Fang nicht wieder an! Ich laß nicht zu, daß du wieder Verwirrung stiftest. Nein! ahmt sie nach Matilde Castellanos war sich nicht sicher! ... fang nicht wieder an, Zwietracht zu säen. ADALINA überzeugt, weil sie ihm gern glauben würde Deshalb ist er in all den Tagen nicht gekommen. Bestimmt haben sie sich gerettet, denn Katzen haben sieben Leben... MARCOS Schon wieder dieser Aberglaube. ADALINA Der Kaffee! Adalina geht in die Küche. Langes Schweigen. Sie kommt mit dem Kaffee zurück, reicht ihn Marcos. Ich hab nicht viel gekocht, um zu sparen... Ich hab immer gesagt, daß er den Kater um nichts auf der Welt verläßt... Ich denk sogar, er liebt ihn mehr als uns. in anderem Ton Ach ja, ich sorge mich gar nicht mehr um den Kater. José Luis wird ihn wohl in Miami wie einen König behandeln... Pause Der im Radio hat keinen Kater erwähnt... Ich wußte es! Irgendwas sagte mir, daß er's nicht war! Der Junge, der interviewt wurde, hat nichts von einem Kater gesagt... MARCOS zufrieden Stell dir vor, wie er den Kater mitgenommen hat. Sie lachen. Sind zufrieden. ADALINA Bestimmt schickt er uns bald ein Telegramm. Das kann jeden Moment kommen. Pause Heiliger Judas, mach, daß Nena mir keine Probleme macht. Wenn das Telegramm kommt, weiß sie gleich Bescheid, und du weißt ja... aber zum Glück können sie keine Repressalien gegen uns anwenden... Das war früher... am Anfang von all dem... plötzlich sieht sie klar Wir müssen uns darauf vorbereiten, daß die Nachricht kommt. Ich werde sagen, wenn man mich fragt, daß wir geglaubt haben, er arbeitet in Havanna. Pause, in anderem Ton Glaubst du, er wird uns nachholen? MARCOS Klar. Wir sollten rausfinden, wie man an den Paß kommt... ADALINA Alles, was nötig ist. Hier dauert alles eine Ewigkeit und die Bürokratie... denkt nach Ich muß einen Termin beim Friseur machen, damit... Auf so einen Termin kann man fast einen Monat warten... und länger! Ich werde nicht wie ein Wischmob nach drüben fahren. MARCOS Drüben können wir neu anfangen. ADALINA Wer hätte das gedacht? Julia wird nicht weg wollen... bei dem Mann. MARCOS Glaubst du, Cheo und die Kinder werden gehen?

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ADELINA M a c h mir nicht schon wieder das Leben schwer. MARCOS Ich glaub schon, daß sie gehen... Julias M a n n ist derjenige, der Schwierigkeiten m a c h e n kann. ADALINA Ist ihre S a c h e , ob sie g e h e n will o d e r nicht. A b e r ich gehe, weit w e g v o n hier. MARCOS Ihr M a n n sagt immer, daß er nie von hier fort g e h e n will... ADALINA Ach, das sagt er, weil er nie die Gelegenheit hatte. MARCOS Ich f ä n d e schön, w e n n w i r d r ü b e n alle g e m e i n s a m ein neues Leben anfangen w ü r d e n . Der S c h w a r z e ist drüben... Es heißt, er hat genau so einen Laden aufgemacht, wie er ihn hier hatte... Adalina hält in ihrer Arbeit inne, blickt ihn ernst und ungläubig an. Vielleicht erinnert er sich an mich und hilft mir... ADALINA W e n n du da so w e i t e r l e b e n willst, d a n n b l e i b lieber hier. E n t w e d e r k o m m s t du von der Flasche los oder du bleibst hier. MARCOS energisch Ich trinke nicht mehr! Ich sag es dir z u m letzten Mal! ADALINA S c h o n gut, schon gut. MARCOS N i c h t s da, s c h o n gut! Ich w e r d e m i r d e i n e A n s p i e l u n g e n nicht m e h r anhören! ADALINA Willst du mir wieder eine Falle stellen? MARCOS Falle?! ADALINA DU v e r s u c h s t , m i r h i n t e r r ü c k s zu k o m m e n , ironisch U n d w e n n du mich kriegst... dann tut's dir m e h r w e h als mir. MARCOS Die D i n g e sind nicht m e h r wie vorher. ADALINA ernsthaft G e n a u , in Miami lassen wir die V e r g a n g e n h e i t hinter uns. Alles, w a s m a n hätte tun k ö n n e n , w a s m a n getan hat, bleibt dann hinter uns. MARCOS M a n m a c h t e i n e n Fehltritt u n d viele J a h r e v e r g e h e n und plötzlich, ohne zu wissen w a r u m , wird einem klar, daß... ADALINA Sollte ich Fehler b e g a n g e n haben, dann laß sie hinter dir... Du läßt das Trinken hinter dir... MARCOS Und... und... w e r d e einfach alles vergessen... ADALINA unvermittelt U n d M a m a ? ! Sie wird nicht gehen wollen! .... MARCOS Klar, wir w e r d e n sehen... Pause. ADALINA schüchtern José Luis ist dein Kind... Cheo, Julia... Alle drei! Cheo taucht auf. Hat er sie gehört oder nicht? Adalina sieht ihn. ADALINA Cheo... W i r wissen es schon! MARCOS Der Kater u n d José Luis... ADALINA

Er hat ihn mitgenommen.

ADALINA und MARCOS N a c h drüben... MARCOS DU weißt, sie sind wie Pech und Schwefel und... er wird ernst.

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ADALINA geht zu Cheo, der ernst ist und sich nicht rührt. Sie packt ihn und dreht sich mit ihm im Kreis, als würden sie tanzen. Die ganze Szene, in der Adalina tanzt und trällert, ist grotesk; die drei Figuren wirken lächerlich. Lalalailailalai! Wir sind so doof, d a ß w i r ' s nicht kapiert h a b e n , aber... Lalalailailalai! ... singt weiter Bebo, der Kater, ist ab nach Miami. Miaow, sagt er auf Englisch, Miaow... beginnt ein Lied zu schmettern Laralalarala... Cheo, wir gehen fort... du auch... Schluß mit den Problemen... Larralalarlarala... T a n z mit deiner Mutter, du bist ja steifer als 'ne Königspalme... T a n z Marcos! Laralalarala... Wir werden uns verändern! ... Plötzlich bleibt sie stehen und sieht Cheo an, der ihr nicht in die Augen sieht. Sie stößt einen tiefen, heiseren Klageton aus: Aaaaaaaaaaach! langsam, ohne Haß, ohne lächerlich zu wirken Heiliger Judas! Du verdammter Hurensohn! Dunkelheit

Arístides Vargas Unsere Liebe Frau der Wolken Nuestra Señora de las Nubes

Quito 1998 Deutsch von Sybille Martin

Unsere Liebe Frau der Wolken

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Aristides Vargas: 1954 in Argentinien geboren, begann seine Theaterarbeit als Siebzehnjähriger in einem Gruppentheater. Nach dem Militärputsch ging er mit 21 Jahren ins Exil. Ein Jahr lebte er in Lima, dann ging er nach Quito, wo er seit 1977 seinen festen Wohnsitz hat. 1979 gründete er die in ganz Lateinamerika hochangesehene Theatergruppe M A L A Y E R B A . Alle seine Stücke sind für diese Truppe geschrieben. In Mexico City ist das Stück Pluma de tempestad entstanden, das Märchen eines Mannes, der sich beweisen muß, um in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Was in unseren Märchen der dunkle, gefährliche Wald, ist in dem Stück ein finsteres Stadtviertel, und der Held ist Pluma, ein stummer Mann, der sich allen großen Taten verweigert. Ich kam darauf, weil man mich ständig warnte: „Geh nicht dorthin, da ist es gefährlich!" „Sprich mit niemandem, es könnte dir etwas passieren." Ratschläge, wie wir sie aus den Märchen kennen, gelten heute für die moderne Großstadt, wo sich die Menschen in ihren Wohnvierteln verschanzen wie hinter mittelalterlichen Stadtmauern. Der Fremde ist heute wie gestern gefährlich. Mißtrauen und Intoleranz sind die natürlichen Folgen. 1 M A L A Y E R B A verwendet Elemente des klassischen Balletts, um den Szenenraum auf eine poetische Weise zu beherrschen. Menschen werden nahezu schwerelos, ziehen sich zurück in „luftige Höhen". Die Figuren erzählen ihre Geschichte und weichen aus, wenn sie mit einer anderen Figur in Berührung kommen. Diese erzählt dann ihre Geschichte und so fort. Der Text setzt sich auf diese Weise aus verschiedenen kleinen Geschichten zusammen, die wieder auseinanderfallen. Ein Gleichnis für das Denken in unserer Zeit. Man kann nichts nur in einem Zusammenhang sehen. Immer sind es verschiedene Sichtweisen. Das nimmt uns den festen Boden unter den Füßen fort, den wir erst wieder gewinnen, wenn wir uns ein neues Bild von der Welt gemacht haben. Seine Figur Pluma hängt auf der Bühne an einem Seil herab; Bruna in Unsere Liebe Frau der Wolken behauptet eine Luftblume zu sein, die auf Bäumen lebt. Vargas schreibt seine Stücke in einer Sprache, die sich dem linearen Denken entzieht. Sie beschäftigen sich immer mit Erinnerungen der Familie, des Individuums oder des Kollektivs. Aus der Erinnerung entstehen verwirrende Bilder einer Realität, die durch die Politik aus ihrer „normalen" Bahn geworfen wurde und ganz individuell interpretiert wird. „Ich schreibe diese Erinnerungen auf, damit die Geister, die in uns

1 Interview 1998.

Arístides

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Vargas

wohnen, die Möglichkeit erhalten herauszutreten, sich zu zeigen." Zeigen, benennen = bannen. Nuestra senora de las nubes ist dafür ein besonders gutes Beispiel. Zwei Personen erzählen sich Episoden aus ihrem Leben. Sie könnten tot sein, in einer Art Limbus stehen. Charakteristisch für Vargas ist das Zusammenspiel von symbolisch-poetischen Bildern und alltäglicher Sprache. Realität und Traum, außen und innen, brutal und sensibel, Gegenwart und Erinnerung werden zu vielfältigen Facetten der Lebenserfahrung des Zuschauers. Seine Figuren sind Produkte der Umstände, die aber nicht diskutiert werden, sondern als Hintergrund einer Realität gezeigt werden, in der ihre Menschlichkeit sie uns nahebringt, liebenswert macht in ihrer Häßlichkeit, Grausamkeit und Mittelmäßigkeit. Das strukturierende Element der Umstände ist Gewalt, sie ist der Kontext, aus dem die Figuren entstehen. Szenen, die wir v o r Jahren erlebten, sind nicht an sich dramatisch, sind nicht enthüllend o d e r außerordentlich jenseits unseres Blicks, und z w i s c h e n Beobachter und beobachtetem Objekt liegt d a s Leben mit seinen Illusionen und sein e m Unglück u n d d a s ist ausreichend verschieden und unbegreiflich, u m viele Theaterstücke z u füllen. In ihnen erscheint d a s Leben dramatisiert und sie wekken in uns d e n W u n s c h , es jenseits unserer Ä n g s t e u n d Mittelmäßigkeiten zu leben, i n d e m sie u n s e r e Dosis H e l d e n t u m einfordern, o b w o h l d a s D r a m a in d e m s p a r s a m e n Gebrauch wurzelt, den wir d a v o n machen. 2

Die Mitglieder der Truppe M A L A Y E R B A kommen aus den verschiedensten Ländern, und Vargas nutzt ihre „Verschiedenheit" für die Präsentation seiner Texte. 3 Dadurch wird die Differenzierung, die er mit den Facetten des Textes erzeugt, noch mehr hervorgehoben. Es wird sichtbar, wie das Exil, das alle seine Figuren zeichnet, die Menschen Lateinamerikas zusammenwürfelt.

Adrián H e r r

2

Arístides Vargas: „Evolución formal en el teatro latinoamericano", in PRIMER ACTO 275, IV (1998), S. 51.

3

MALAYERBA arbeitet a u c h nach d e m Muster des Kollektivtheaters. Szenen werden im Dialog mit d e m Publikum verändert etc. Vargas hat aber d a s letzte Wort. Der aufgeführte Text ist sein Text.

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Unsere Liebe Frau der Wolken Der Text ist der Entwurf für eine mögliche Inszenierung, die entsprechend der Arbeitsweise der Gruppe MALAYERBA und in Zusammenarbeit mit den Schauspielern nachgearbeitet und vertieft werden sollte. Es werden mehrere Zusammentreffen der beiden Exilierten Oscar und Bruna geschildert, die im Verlauf einer unbestimmten Zeit an verschiedenen Orten stattfinden, wo sie sich Anekdoten aus ihrem Leben in einem Dorf namens Unsere Liebe Frau der Wolken erzählen. 1. Szene Erstes Treffen von Bruna und Oscar. BRUNA Ich meine, Ihr Gesicht schon mal gesehen zu haben. OSCAR Unmöglich, mein Gesicht habe ich immer bei mir. BRUNA Was tun Sie? OSCAR Pause Ich sehe den Vögeln nach. BRUNA Vogelfrei. OSCAR Wie bitte? BRUNA Ach nichts, in meinem Land spielen die Vögel morgens um sechs verrückt, als würde ein neurotischer Gesangslehrer sie wegen der Stille an den Schwänzen ziehen. OSCAR Und in meinem Land schlagen die Ehemänner ihre Frauen. BRUNA Pause In meinem auch, und nach jedem vierzigsten Hieb sind sie so freundlich und gehen mit ihren Frauen ins Kino, um sich Stummfilme anzusehen. Lange Pause. OSCAR Verzeihung, woher kommen Sie? BRUNA Aus Unsere Liebe Frau der Wolken. OSCAR Ach, von da stamme ich auch. BRUNA Aus Unsere Liebe Frau der Wolken? OSCAR Ja. BRUNA Und warum habe ich Sie dann noch nie gesehen? OSCAR Ich gehe nicht viel aus. BRUNA Pause Aber Sie haben gar keinen Akzent. OSCAR Der Akzent verliert sich schnell. BRUNA Wie die Jungfräulichkeit. OSCAR Verzeihung, haben Sie Ihre Jungfräulichkeit verloren? BRUNA Nein, sie ist mir abhanden gekommen. OSCAR Und haben Sie eine Anzeige in die Zeitung gesetzt?

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BRUNA Das war nicht nötig, ein Literaturlehrer hat sie gefunden. OSCAR Was Sie nicht sagen! BRUNA Ja, er hieß... Wie hieß denn dieser Lehrer? Er wohnte am Platz... Na ja, das war vor vielen Jahren in der Schule; dieser Lehrer ist gern in die Rollen von Figuren aus der Weltliteratur geschlüpft. OSCAR Ein Klassiker. BRUNA Ein Klassiker im Befummeln. OSCAR Ein Klassiker im Tasten? BRUNA Ein Perverser, der das Braille-System anwandte, um die Anatomie seiner Schülerinnen kennenzulernen. OSCAR Und was ist passiert? BRUNA Eines Tages lasen wir den „Lazarillo de Tormes". Da beschloß er, wir sollten die Lazarillos spielen und er den Blinden, er hat uns so befingert, daß ich aufs Klo lief, auf meine Beine starrte und feststellte, daß ich rosa pinkelte. OSCAR Pause In meinem Land gab es einen Kerl, der konnte einen Regenbogen pinkeln. BRUNA Verzeihung, aus welchen Land sind Sie? OSCAR AUS Unsere Liebe Frau der Wolken. BRUNA Machen Sie sich keine Sorgen, es gibt Schlimmeres. OSCAR Ja, aus Unsere Liebe Frau der Wolken zu stammen, beispielsweise. BRUNA Ich lasse nicht zu, daß Sie mein Land beleidigen! OSCAR Oh, Verzeihung, ich dachte, Sie sind auch aus diesem Land. BRUNA Nein, ich stamme aus Unsere Liebe Frau der Wolken und ich bin stolz darauf! OSCAR Schreien Sie mich nicht an, sonst bin ich zu wer weiß was fähig! BRUNA Wissen Sie was? OSCAR Nein. BRUNA Ich habe es satt, zu schweigen. OSCAR Ich auch. BRUNA Wir Armen, weil wir Ausländer sind, machen wir den Mund nicht auf. OSCAR Pause Man muß ja auch nicht durch die Welt gehen und wie Tarzan brüllen. BRUNA Aber man sollte sich auch nicht in das Schweigen der Dummen hüllen. OSCAR Ich halte meinen Mund nicht, auch dann nicht, wenn die Gesetze eines Landes uns Ausländern politische Meinungsäußerungen verbieten, selbst wenn ich ins Fettnäpfchen trete, wenn ich die

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Wahrheit sage, oder wenn ich schweigen oder lügen soll, ich halte meinen Mund nicht. BRUNA Das machen Sie ganz richtig, denn Schweigen ist das Heim derjenigen, die kein Zuhause und nichts zu erzählen haben, weil sie nicht zählen. OSCAR Pause Apropos, haben Sie ein Zuhause? BRUNA Nein. OSCAR Ich auch nicht. BRUNA Und wo schlafen Sie? OSCAR In der Luft. BRUNA Wie die Blume. OSCAR Welche Blume? BRUNA Die Luftblume. OSCAR Die Luftblume...? BRUNA Die Luftblume lebt in der Luft und nicht von der Luft, von der wir alle leben. Die Luftblume lebt in den Zweigen von trockenen Bäumen. In den Kabeln des Lichts, in den Pfosten... immer an etwas geklammert, als wollte sie ihnen sagen, laß mich hier ein Weilchen bleiben, ein Weilchen nur... eine gebrechliche Blume. OSCAR Pause Es gab einmal einen Typ... Wie hieß er noch...? Er lebte... also, es war so, daß er sich am rechten Arm verletzt hatte, die Wunde entzündete sich, es gab weit und breit keinen Arzt und kein Krankenhaus, und er beschloß, sich selbst chirurgisch zu behandeln. Er nahm eine Axt, und da hatte er das Dilemma! Wie sollte er sich den rechten Arm mit dem linken abhacken? Lösung: Wir brauchen einen anderen, um uns zu verstümmeln, wir brauchen einen anderen, um uns zu behaupten, wir brauchen immer jemanden. BRUNA Um uns zu verletzen... OSCAR Um uns zu verstümmeln... BRUNA Um uns gegenseitig zu unterstützen... Ich spüre, daß mich mein Land verletzt hat. OSCAR Ein Land der Haudegen... Verzeihung, aber aus welchem Land stammen Sie? BRUNA Aus Unsere Liebe Frau der Wolken. OSCAR Aber Sie haben gar keinen Akzent. BRUNA Der Akzent ist ein Stöckchen und läßt sich leicht verlieren, umso mehr, wenn man in einem so kalten Land lebt. Sie schweigen, als wüßten sie nicht, worüber sie reden sollten. OSCAR Und warum hat man Sie aus Ihrem Land vertrieben?

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BRUNA Weil ich eines Tages gesagt habe, d a ß die Frauen in m e i n e m Dorf nicht Brüste, s o n d e r n chinesische Porzellantassen hätten, aus d e n e n die H e r r e n im Gehrock Cappuccino o h n e Milch trinken, u n d d a ß sie kein Geschlecht, sondern Fächer mit Krokodilzähnen hätten. OSCAR Das haben Sie gesagt? BRUNA Ja, u n d d a ß die Militärs meines Dorfes so zahlreich seien, d a ß sie sich an d e n Vaterlandstagen in d e n Straßen aufstellen, u n d die Straße aussieht, als w ä r e sie drei Tage lang nicht gefegt w o r d e n . OSCAR lacht Das haben Sie gesagt? BRUNA Ja. Ich habe auch gesagt, d a ß in m e i n e m Dorf die Korrupten die K o r r u p t e n d e n u n z i e r e n , u n d das sei gut so, weil die genau wissen, w o v o n sie reden. OSCAR Da hat m a n Sie zu Recht rausgeworfen, Sie haben die berufstätige Bevölkerung aufgehetzt. BRUNA Die h a b e n u n s zuerst angegriffen. OSCAR Wie das? BRUNA Sie haben das Land mit einem Flugzeug verwechselt. OSCAR Was Sie nicht sagen. BRUNA Zuerst haben sie gesagt, das wir die G u r t e enger schnallen sollen, das taten wir; d a n n sagten sie, es seien t u r b u l e n t e Zeiten, wir glaubten ihnen; später sagten sie, d a ß bei wirtschaftlicher Knappheit automatisch eine Maske herabfallen w ü r d e . Nichts d a v o n hat etwas genützt, das Land stürzte ab, u n d wir haben die Blackbox nie gefunden. OSCAR ES hat n i e m a n d überlebt. BRUNA N i e m a n d . OSCAR Dann haben sie die Gurte nicht fest g e n u g geschnallt. BRUNA Doch, wir haben sie so fest geschnallt, d a ß wir mit d e m Gesicht wenige Zentimeter über d e m Boden waren. OSCAR Aber m a n darf nicht d e n Mut verlieren, in m e i n e m Dorf lebt m a n auch in dieser Haltung. BRUNA Es ist ü b e r r a s c h e n d , wie leicht der soziale Körper d e n Respekt verliert. OSCAR Apropos: Zieht sich der soziale Körper aus? BRUNA Das glaube ich nicht, in dieser H a l t u n g ist das gefährlich. OSCAR So ist es. BRUNA W a r u m hat m a n Sie d e n n aus d e m Land geworfen? OSCAR Ich bin nicht hinausgeworfen w o r d e n . BRUNA Ach nein? OSCAR Nein, ich w u r d e umgebracht.

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BRUNA V o n der Polizei? OSCAR Nein, von den N a c h b a r n . BRUNA Mit e i n e m Messer? OSCAR N e i n , mit S c h w e i g e n . S e h e n Sie, m e i n e N a c h b a r n . . . h ö f l i c h e M e n s c h e n : Fehlte mir Öl, liehen sie mir es. Sie w u ß t e n nicht, daß sie M ö r d e r sind, deshalb verhielten sie sich w i e N a c h b a r n , sie m e r k t e n es, als ich verhaftet w u r d e , weil sie nichts sagten, sie versuchten zu vergessen, w a s sie g e s e h e n h a b e n , u n d ich fiel d e m V e r g e s s e n , der Fahrlässigkeit und der Angst a n h e i m , g e n a u in d e m Augenblick, als sie die Fenster schlössen. BRUNA In m e i n e m Land ist einem Freund das gleiche passiert. OSCAR V e r z e i h u n g , w o h e r k o m m e n Sie? BRUNA A u s d e m R e g e n l a n d . OSCAR Ich finde, Sie haben e t w a s S e h n s ü c h t i g e s an sich. BRUNA W i r Exilierten sind traurige M e n s c h e n u n d geneigt, u n s D i n g e a u s z u m a l e n , die nie g e s c h e h e n . Sie h a b e n u n s so p e r v e r s bestraft, d a ß w i r v e r g e s s e n h a b e n , d a ß die, die u n s b e s t r a f t e n , z u m selben Land w i e wir gehören, und das ist d a s beste L a n d der Welt. W e l c h e Ironie, nicht w a h r ? Einen so p e r v e r s e n O r t zu v e r m i s s e n und zu glauben, d a ß er der beste auf der Welt sei. OSCAR Pause Ich v e r m i s s e m e i n e Mutter. A b e r w a s hat m e i n e M u t t e r mit diesen M ö r d e r n zu tun? Nichts, sie teilen d e n s e l b e n R a u m , aber nicht dasselbe Land. BRUNA In m e i n e m L a n d sterben die M ü t t e r j u n g b e i m M i t t a g e s s e n , oder sie bringen sich beim e i n s a m e n A b e n d e s s e n selbst u m , und a m M o r g e n sterben sie n o c h ein w e n i g m e h r , u n d w e n n sie j e m a n d n a c h ihren Kindern fragt, a n t w o r t e n sie nicht, aus Angst, vor K u m m e r zu sterben... Sie verfallen wieder in Schweigen, als wüßten sie nicht, was reden. OSCAR V e r z e i h u n g , aus w e l c h e m L a n d s t a m m e n Sie? BRUNA A u s Unsere Liebe Frau der W o l k e n . OSCAR Ich bin auch von dort, habe Sie aber nie g e s e h e n . BRUNA Ich h a b e lange Zeit auf den B ä u m e n gelebt. OSCAR Sie waren Gärtnerin. BRUNA Nein, ein Vogel. OSCAR Vögel sind Tiere o h n e Erinnerung. BRUNA Mit Flügeln, mit denen sie über d a s V e r g e s s e n gleiten können. OSCAR Hören Sie, aber w a n n haben Sie d e n n Ihr L a n d verlassen? BRUNA V o r z w a n z i g Jahren.

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Vargas

OSCAR Ich auch... Hören Sie, das Dorf ist jetzt bestimmt ganz anders als früher. BRUNA Natürlich, deshalb erfinden wir es doch jedes Mal neu, wenn wir uns daran erinnern. 2. Szene Bruna erinnert sich, wie Don Tello seine Tochter Irma als Braut gekleidet spazierenführte und den Männern ihre Hände zeigte. DON TELLO DU wirst schon sehen, mein Kind, ich bin kein schlechter Mensch, es ist nur so, daß du im heiratsfähigen Alter bist, und wenn die Männer nicht um deine Hand bitten, dann deshalb, weil du sie ihnen nicht zeigst. IRMA Aber Vater... in diesem Dorf lebt doch keiner. DON TELLO Los, Töchterchen, zeig den Männern deine Hände. IRMA ES gibt keine Männer, Vater... Außerdem fühle ich mich lächerlich. DON TELLO Lächerlichkeit ist besser als Einsamkeit, und die Einsamkeit erkennt man an zwei Dingen: an den Händen und am Atem. Also, mein Kind, hauche die Männer an. IRMA Warum sind Sie so grausam? DON TELLO Heb deine Hände. Siehst du? Kein Ring an deinem Finger. Deine Hände sind ledig, es ist schrecklich für eine Frau, jungfräuliche Hände und einen Atem nach Nichts zu haben. IRMA Sie wollen mich nicht, Vater... DON TELLO Halunken, das sind alles Halunken! Und weißt du, warum? Weil sie deinen muffigen Atem gerochen haben, deinen nüchternen Atem. IRMA Vater, ich will nicht atmen. DON TELLO Wir alle in der Familie haben denselben Atem von getrockneten Blumen. IRMA Nein, Vater, mein Atem riecht nach nichts, auch mein Körper riecht nach nichts, eine Tür riecht intensiver als ich. DON TELLO Sei still, du hast doch keine Ahnung! Um diese Zeit heizt die Sonne die Straße auf und erhitzt den Verstand der Männer. IRMA Die Straßen sind leer, und ich bin kalt. DON TELLO Die Männeraugen werden dich zum Schmelzen bringen. IRMA Niemand schaut, weil hinter den Türen niemand ist, in uns wohnt nur die Kälte. DON TELLO Sei still, du hast doch keine Ahnung!

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IRMA Ich bin ein Eisberg. DONTELLO Sei still! IRMA Sie können mich besteigen, aber auf dem Gipfel meines Körpers liegt ewiger Schnee. DON TELLO Sei still, Irma...! Wenn du die Hände heben würdest, könntest du die Sonne berühren. IRMA Das lohnt sich nicht, Vater, ich habe mich schon an die Kälte gewöhnt. DON TELLO Deshalb bist du so blaß, von der vielen Dunkelheit und der vielen Kälte. Los, heb dein Gesicht, damit die Männer dich sehen und die Sonne dich etwas bräunt. IRMA Ich bin ein dunkler Berg. DON TELLO Solange ich lebe, werde ich nicht zulassen, daß du allein bleibst und weinst... IRMA Wir Eisberge weinen eisige Tränen. DONTELLO Sei still, du hast doch keine Ahnung! Los, zeig den Männern, wie der Schnee deiner Brüste schmilzt! IRMA Sehen Sie nicht, daß niemand da ist, daß der Wind hinter mir die Türen zuschlägt? DON TELLO Das ist egal, du wirst sie wieder öffnen, zeig ihnen, daß du es kannst, zeig ihnen, daß du meine Tochter bist, klopf an die Türen der Männer. DON TELLO Nur der Wind klopft an die Türen von Unsere Liebe Frau der Wolken, und ihm wird auch nicht geöffnet, weil drinnen niemand ist, hinter den Türen dieses Dorfes wohnt das Nichts. DON TELLO Dem Wind wird nicht geöffnet, weil er Unglück bringt. IRMA Mich hat bestimmt der Wind gebracht. DONTELLO Deshalb mögen sie dich nicht... Am Tag deiner Geburt wehte ein heißer Wind, ich erinnere mich: Er riß alte Zeitungen und verfaulte Orangen mit, deshalb mögen sie dich nicht. Los, sag ihnen, daß sie dich lieben sollen, sag ihnen, sie sollen dich lieben...! IRMA Sie lieben mich nicht, Vater. Ich bin eine Frau..., die... DONTELLO Sei still! Du hast doch keine Ahnung, du bist langweilig und voller Zweifel. IRMA Ich will nicht heiraten. DON TELLO Heute wirst du heiraten. IRMA Nein. DON TELLO Zeig ihnen deine Arme, hauche sie an, zeig ihnen deinen schneeweißen Busen, los Tochter, sprich zu den Männern.

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Arístides

Vargas

IRMA Ich werde nicht heiraten. DON TELLO Sag ihnen, sie sollen dich lieben. IRMA Vater, bitte... DON TELLO Sprich zu ihnen, sie werden dich verstehen! IRMA Ist ja gut, ich werde reden. DON TELLO Das ist meine Tochter! IRMA Meine Herrschaften... DON TELLO Herren... IRMA Meine Herren von Unsere Liebe Frau der Wolken! Ich bin eine alleinstehende Frau, allein und dumm, denn wir Alleinstehenden werden oft für dumm gehalten, dumm und allein. Für uns leuchtet die Sonne nicht, es ist eine trübe und dumme Sonne; für uns sind die Montage glückliche Tage, weil sie dumme Tage sind, an denen wir so viel zu tun haben, daß wir einen Augenblick lang vergessen, daß wir am Sonntag die Dummheit begangen haben, zutiefst unglücklich zu sein. Allein und dumm gehen wir durch die Welt, bis wir dumm sterben; an einem Herzinfarkt der Einsamkeit... Glauben Sie mir bitte...! DON TELLO DU bist wie deine verstorbene Mutter, wenig überzeugend und voller Zweifel. IRMA Wie ich Ihnen schon sagte: glauben Sie mir. Wenn nicht, müssen Sie mit dem Finger auf mich zeigen, den Finger in mein dummes, trübes Herz bohren und Spitznamen erfinden, die Frauen wie ich mit großer Bitterkeit ertragen: alte Jungfer, alte Schachtel, alte Fregatte, Heulsuse... Um all das zu vermeiden, werde ich den einzigen Mann heiraten, der sich für mich interessiert, meinen Vater. DON TELLO Bist du wahnsinnig! Was sagst du da? IRMA SO bleibt alles in der Familie, Vater. Wir werden Kinder haben, die unsere Geschwister und Enkel sind; meine verstorbene Mutter wird meine verstorbene Schwiegermutter; die Enkel werden Neffen und Nichten, Kindeskinder ihres Vaters, und so werden wir die leeren Häuser von Unsere liebe Frau der Wolken füllen... DON TELLO Laß mich los, Irma, du bist ja völlig übergeschnappt! IRMA Gehen wir zur Kirche, Vater... Gott wird uns verstehen. DON TELLO Irma, bitte! IRMA Gehen wir, man muß dieses Dorf mit Kindern füllen. DON TELLO DU bist wahnsinnig! Du bis völlig übergeschnappt! IRMA Ich bin einsam, man muß dieses Dorf mit Einsamkeit füllen.

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3. Szene Bruna erinnert sich, wie Großmutter Josefa dem Dorftrottel Memé seinen Stammbaum erklärte. Memé stößt unverständliche Laute aus, damit Großmutter Josefa weitererzählt. GROßMUTTER JOSEFA So geschah es Memé, daß Don Tello und Irma das Dorf mit Menschen füllten, sie erschufen Memé, und die Gründung eines Dorfes ist kein Kinderspiel... Reiß mir die grauen Haar aus, und ich gebe dir für jedes einzelne eine Silbermünze. Memé beginnt, der Großmutter die grauen Haar auszureißen. Hast du den gesehen, der an dem kleinen Platz wohnt? Wie heißt er noch... Sie nennen ihn Essig, wegen seiner Gemütsart. Wie heißt er noch... Also, das ist der Bruder von Matilde Herrera, der himmlischen Friseuse, die alle Heiligen und Jungfrauen von Unsere Liebe Frau der Wolken frisiert... ja, sie ist eine ausgezeichnete Friseuse; seit sie auch San Antonio frisiert hat. San Antonio ist was anderes.... aber wie ich schon sagte, sie sind Geschwister, wissen es aber nicht... Geräusche von Memé. Wie wer? Der Essig und die Matilde. Hab ich das nicht gesagt? Sie sind ihrerseits wieder verwandt mit den Vásconez, aber weil die Vásconez Indios sind, vertragen sie sich nicht; sie vertragen sich auch nicht mit den Molinas, das sind Onkel und Tante, und stammen von den Costas ab... Ich meine, sie sind Onkel und Tante von den Vásconez, weil der Essig und die Matilde blutsverwandt sind, wenn auch mit verschiedenen Familiennamen... Memé hat sich in ein graues Haar der Großmutter verwickelt. ...aber in deren aller Blut fließt das der Vacas 4 , aber von den Kühen haben sie gar nichts, denn diese Tiere sind für ihre Sanftmut bekannt, sie geben uns Milch und andere Milchprodukte, die Vacas hingegen... Uii, Kindchen! Wenn sie sich nach dem Wesen eines Tieres nennen würden, dann müßten sie sich Hahn nennen, besser Kampfhahn, denn die stiften nur Unruhe. Ganz anders die Familie Hahn, zu denen der Name gut paßt, weil sie im Hinterhaus der Molinas wie in einem Hühnerstall leben, ich kann dir sagen.... die sind Onkel und Tante vom Essig und von der Matilde, die heißen genauso. Anders auch die Wilds, die besser sind als Roggenbrots, die Roggenbrots wohnen gegenüber vom Rathaus... natürlich sind das wieder Geschwister von den Vacas und 4

Vaca, span. = Kuh.

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Arístides

Vargas

Cousins von d e n Väsconez, aber weil die Indios sind, vertragen die sich nicht, sie vertragen sich aber mit den Herzogs, die wie Herzöge auf Kosten d e r Väsconez leben, die w i e d e r u m Geschwister v o m H e r z o g Molina Vacas sind, die i m m e r die W a h l g e w i n n e n , weil hier, so o d e r so, i m m e r die Familie Robles g e w i n n t , die mütterlicherseits H e r z o g s u n d Robles väterlicherseits sind, o b w o h l böse Z u n g e n flüstern, d a ß die Plazas die leiblichen Eltern von all denen waren, die hier leben, außer mir, ich stamme von d e n Villahermosas ab, nach d e m Familiennamen, meine ich... Aber d e r Essig ist auch ein Villahermosa, Matilde aber nicht, die ist eine A r m e n d ä r i z Salin, die Salins sind T ü r k e n aus d e m Libanon, u n d f r a g mich nicht, wie ein Türke im Libanon geboren sein kann, d e n n d a s ist Angelegenheit der Türken; ich habe dir erzählt, daß die A r m e n d ä r i z Geschwister v o n d e n Väsconez sind, sich aber nicht vertragen, weil die Indios sind, aber d u , Meme, stammst direkt von d e n Väsconez ab, die sich beim Vermischen mit d e n N u n e z , die wiederum... von w o waren die noch? W e g e n ihrer Farbe müssen sie aus Angola stammen; aus dieser Blutsverbindung s t a m m s t d u ab, Meme, deshalb bist d u so g e w o r d e n , weil hier alle v e r w a n d t sind, u n d w e n n v e r w a n d t e s Blut sich vermischt, d a n n wird m a n tolpatschig u n d schwachsinnig. Meme ist vollständig in das graue Haar der Großmutter venvickelt. Angelita Väsconez hat mir erzählt, wie sie sie v e r l e u m d e t haben, weil sie Indianerin ist, u n d d a s macht mich w ü t e n d , weil wir hier alle alles haben, u n d das nie w a s genützt hat, w a s glauben die Herzogs eigentlich, haben sie ihren Reichtum doch auf Kosten der Väsconez gemacht, die Molinas tun wie die Herren, das sind ein paar N e u e r w e c k t e , die Robles h a b e n ihr Vermögen mit d e m Schwarzhandel von S u p p e n n u d e l n gemacht, u n d jetzt g r ü ß e n sie einen nicht mal m e h r auf der Straße, u n d wir schuften u n s zu Tode, damit die anderen wie Könige leben... Die Königs sind auch solche Trottel, die König n u r als F a m i l i e n n a m e n haben, die sollten sich statt König H a n s w ü r s t e nennen, n u r der Tod ist gerecht, d e n n er rafft alle gleic h e r m a ß e n h i n w e g , die Reichen, die A r m e n , die L e b e n d e n , die D u m m e n , wie d u einer bist, Meme... Geräusche von Meme. Meme? Meme ist vollständig in das graue Haar der Großmutter verwickelt. W a s m a c h s t d u d e n n auf d e m Boden, Meme? Dein S t a m m b a u m , Meme, ist ein S t a m m d s c h u n g e l , u n d es ist besser, d a ß d u r c h deine A d e r n die U n s c h u l d u n d die D u m m h e i t fließen, u n d nicht der Geiz u n d die Einsamkeit wie in den A d e r n deiner a n d e r e n Verwandten.

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4. Szene Bruna erinnert sich, wie der Gouverneur seiner Frau beim Walzertanzen v o n dem Gemetzel erzählt, das M e m e nach den Geschichten v o n Großmutter Josefa verursacht hat. GOUVERNEUR Das ist vielleicht eine Schande, so eine Schande! Dieser Trottel von M e m e ist in mein Büro g e k o m m e n . Und weißt du, waru m ? U m mir zu sagen, d a ß laut kürzlich entdeckten Familienbanden ich sein Vater sei... u n d ich habe i h m geantwortet: Ich bin der Vater des Vaterlandes, M e m e , deshalb will ich nicht sagen, daß ich dein Vater bin. E HEFRAU Was für ein Einfall...! GOUVERNEUR Daran ist diese Alte schuld, die sich solch verrückte Geschichten ausdenkt, wer weiß, warum. EHEFRAU W i r müssen gegen das Gesindel z u s a m m e n h a l t e n , wie du immer sagst. GOUVERNEUR Diese Indios, die V ä s c o n e z h a b e n einen Prozeß gegen die M o l i n a s angestrengt, und w e s w e g e n ? Weil der Trottel M e m e mit d e m Witz daherkam, daß ihnen das L a n d gehört. W o z u brauchen sie das Land? Sie haben schon genug Dreck in den Ohren. W a s wollen die Väsconez? Daß ihnen geschenkt wird, was die ehrenwerten Familien aus eigener Kraft und unter großen O p f e r n erworben haben? Also nein, das ist der Gipfel! EHEFRAU Das waren doch i m m e r Hungerleider, und jetzt wollen sie sich an unseren Tisch setzen. GOUVERNEUR Und das alles, weil diese Alte in alle vier Himmelsrichtungen ausposaunt, daß wir alle v e r w a n d t seien. Stell dir das mal vor! EHEFRAU Das kann ich mir nicht vorstellen. GOUVERNEUR Ich auch nicht. EHEFRAU Wer denkt sich denn sowas aus...? GOUVERNEUR M e m e , dieser Trottel, gibt sich aber mit d e m K u m m e r , den er den ehrbaren Familien bereitet hat, noch nicht zufrieden, nein, jetzt hetzt er das gemeine Volk auf, w i e die Familie Hahn, der er mit d e m Witz kam, daß das Haus, in d e m die Robles w o h n e n , ihnen gehört, weil es der Großvater H a h n erbaut hat; natürlich hat er es gebaut, er war doch Schreiner, ist doch klar. W a s wollen die denn, daß Magister Robles, der A n w a l t , sein H a u s selbst baut? Hier scheint sich was z u s a m m e n z u b r a u e n , dieses Dorf ist v e r d a m m t zu Chaos und Anarchie. U n d w o f ü r das alles? Weil

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Vargas

M e m e , der Trottel, sich in den Kopf gesetzt hat, daß wir alle hier Geschwister sind. Ich habe zu ihm gesagt: M e m e , das hier ist ein Franziskanerkloster, deshalb m ö g e n wir nicht sagen, daß wir Geschwister sind... das Schwarze unterm Nagel, wie es vulgär heißt... Nein, also wirklich, so tief fallen wir nicht! EHEFRAU Man hat ihnen alles gegeben, was wollen sie noch? GOUVERNEUR W a s sie wollen? Die Schande! EHEFRAU Undank ist der Welt Lohn. GOUVERNEUR Aber w e r ist denn M e m e , daß er in diesem Dorf solch einen Wirbel veranstaltet, ein Trottel, der keine Ahnung hat, wo er gelandet ist. EHEFRAU Ein absoluter Spinner, wie du zu sagen pflegst. GOUVERNEUR Stell dir vor, die Leute folgen diesem Trottel wie einem Messias. EHEFRAU Unvorstellbar. GOUVERNEUR Stell dir bloß mal vor, hat dieser Idiot doch behauptet, ich sei sein Vater. EHEFRAU Bist du sein Vater? GOUVERNEUR Sein Vater? Natürlich nicht! A u ß e r d e m hättest du das gewußt, du bist meine Frau, und ich hätte nie einen Sohn ohne das Einverständnis meiner Frau. EHEFRAU Aber ich habe keine Kinder... GOUVERNEUR Ich auch nicht. EHEFRAU Wessen Sohn ist denn Meme? GOUVERNEUR Ich weiß nicht; außerdem hat er gesagt, du seist meine Schwester. EHEFRAU So eine Gemeinheit. GOUVERNEUR Bist du meine Schwester? EHEFRAU Natürlich nicht! GOUVERNEUR Klar. EHEFRAU Dieser M e m e ist ein Idiot. Ich und deine Schwester! Wer denkt sich denn sowas aus? GOUVERNEUR Diese alte Hexe mit ihren bösen Gedanken. Und wenn wir Geschwister wären, was dann? EHEFRAU Wir sind keine Geschwister. GOUVERNEUR Und wenn es doch so wäre, was dann? EHEFRAU Ja, was. GOUVERNEUR Und was? EHEFRAU Und wenn wir Geschwister wären, was? GOUVERNEUR Was? Das wäre schrecklich! Aber, was?

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EHEFRAU Grauenhaft! ... Wie? GOUVERNEUR W a r u m siehst du mich so an? Ich bin nicht dein Bruder. EHEFRAU Ich schau dich an, wie ich dich i m m e r anschaue, aber w e n n du in m e i n e m Blick e t w a s F a m i l i ä r e s e n t d e c k s t , ist das d e i n e Schuld, wird schon seinen Grund haben. Verheimlichst du mir was? GOUVERNEUR Du denkst, ich verheimliche dir was, weil du bestimmt was verheimlichst. EHEFRAU Ich bin nicht deine Schwester, damit du mich wie eine behandeln kannst. GOUVERNEUR Ich habe nicht gesagt, daß du meine Schwester bist. EHEFRAU DU deutest es in deinem Verhalten an. GOUVERNEUR Weil du mich schlecht behandelst. EHEFRAU nach einer Pause Ich habe Angst. A u f alle Fälle sollten wir nicht m e h r z u s a m m e n schlafen, uns w e d e r auf den M u n d küssen noch sonst irgendwelche Zärtlichkeiten austauschen. GOUVERNEUR Dieser Idiot hat es geschafft, uns an uns selbst zweifeln zu lassen. V o n früh bis spät werden wir i m m e r im Grau des M o r gengrauens leben, sie haben es doch geschafft, uns so schwermütig wie dieser Trottel zu machen. Dieses Dorf wird im Trübsinn und im Zweifel versinken. 5. Szene Zweites Treffen von Bruna und Oscar. BRUNA Wir Exilierten sind traurige M e n s c h e n , die d a z u neigen, sich etwas auszudenken, was nie geschieht, die sich an Dinge erinnern, die nie geschehen sind, und eines Tages überrascht uns der Tod in einem fremden Land, von dem wir nur erinnern, d a ß es einen Mann gab, der Klavier spielte... OSCAR Verzeihung, habe ich Ihr Gesicht nicht schon mal gesehen? BRUNA Möglicherweise, ich vergesse es immer auf den Stühlen, auf denen ich versuche, meinen Kopf zurechtzurücken. OSCAR W a r e n das nicht Sie, die mir diese G e s c h i c h t e mit der Gründung von Unsere Liebe Frau der W o l k e n erzählt hat? G e w i ß eine verrückte Geschichte, das von d e m M e m e und der Irma und allen anderen... BRUNA Natürlich, Sie w a r e n doch... Ja, ich erinnere mich, setzen Sie sich. Haben Sie schon zu Abend gegessen? OSCAR Nein. BRUNA Ich auch nicht.

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Aristides

Vargas

OSCAR Ich esse immer u m acht, aber da ich jetzt keine Uhr habe... BRUNA Ich hatte einen roten Kater, der auf Uhren losging; jedes Mal, wenn sich der Sekundenzeiger bewegte, griff mein roter Kater an. OSCAR Konnte er das Vergehen der Zeit nicht ertragen? BRUNA Vielleicht, er hat mehrere Uhren kaputt gemacht, bis wir ihn einschläfern ließen, ich glaube, es war Viertel nach drei oder sechs Uhr nachmittags, ich weiß nur noch, daß wir ihn einschläfern ließen, weil er eine Uhrenphobie hatte. OSCAR In einem heiligen Buch heißt es: Liebe dein Haustier wie dich selbst. BRUNA Nur problematisch, wenn einer sich selbst haßt. OSCAR Ich verstehe Sie nicht. BRUNA Ich habe viele Menschen gesehen, die Tiere behandeln, wie sie selbst behandelt werden; sollten sich die Dinge eines Tages ändern, werden Mensch und Tier am selben Tisch essen. OSCAR Das klingt sehr religiös. BRUNA Das Gute am Exil in einem lateinamerikanischen Land ist, daß man die religiösen Wurzeln nicht verliert, man verliert seine Würde, aber nicht die religiösen Wurzeln. OSCAR Ich glaube, es gibt zwei Arten des Exils: das Urlaubsexil mit Blick aufs Meer, speziell für Direktoren, Minister und Expräsidenten, und das Exil derjenigen, die keine Uhr haben, oder anders ausgedrückt, unseres. Ich glaube auch, daß es zwei Arten der Würde gibt: die Würde der Würdigen und die Würde derjenigen, die der Würde nicht würdig sind, weil sie keine Uhr haben, mit anderen Worten, wir. BRUNA Für mich ist das Exil ein Problem der Umarmungen. OSCAR Wie das? BRUNA Nun ja, als Kind umarmte ich meinen Hund, dann schimpften meine Eltern und schickten mich in mein Zimmer ins Exil; in meiner Jugend umarmte ich einen Jungen, und er schickte mich ins Exil der Einsamkeit; ich umarmte Ideen und man schickte mich aus diesem Land ins Exil. Wie oft ich bestraft wurde, weil ich versucht habe, die Religion zu umarmen, will ich gar nicht aufzählen. Jetzt umarme ich vorsichtshalber niemanden mehr. OSCAR Und wie schlafen Sie dann mit jemandem? BRUNA Ohne Umarmungen. OSCAR Und die Zärtlichkeiten, die Zuwendung?

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BRUNA Ich habe beobachtet, daß Präsidenten sich jedesmal, wenn sie sich treffen, umarmen, einige küssen sich sogar; ich glaube nicht, daß man daraus schließen kann, daß sie zusammen ins Bett gehen. OSCAR Kurz und gut, Sie mögen keine Umarmungen. BRUNA Doch, ich mag sie, wenn es nicht Arme, sondern Flügel sind, die umarmen; die Arme für die Arbeit, und die Flügel für die Umarmung. OSCAR Ich kannte mal ein Mädchen, das Flügel hatte. BRUNA Ja? OSCAR Ja, und auch wenn es unglaublich klingt, sie hieß Democracia, Democracia Martinez, und auch wenn es unglaublich klingt, sie wurde geschändet. BRUNA Dieser Name lädt auch geradezu zur Schändung ein. OSCAR Eines Nachts... hat dem armen Mädchen... eine Bande aufgelauert... BRUNA Eine legislative Bande? OSCAR Ja, aber sie erlebten eine Enttäuschung, denn sie war schon von der exekutiven Bande geschändet worden, ihre Familie, schwerreiche Leute, haben sie versteckt, stellen Sie sich bloß vor... BRUNA Natürlich, man kann eine Geschändete nicht so herumzeigen, als handle es sich um eine Verfassung. OSCAR Selbstverständlich nicht, und das, obwohl sie eine gute Partei... äh Partie war, voller altruistischer sauberer Menschen. BRUNA Sie duschten sich. OSCAR Selbstverständlich, und kamen aus der Dusche gelaufen und riefen: Wir sind sauber und werden keine Verleumdungen gegen uns hinnehmen. BRUNA Ihre Vorfahren haben sich bestimmt auch geduscht. OSCAR Was wollen Sie damit sagen? BRUNA Daß ein Mann, der Politik macht, eine saubere, schneeweiße Vergangenheit haben muß, und wenn möglich, keine Vergangenheit. OSCAR Verzeihung, aber ich habe nicht von Politik gesprochen. BRUNA Ich auch nicht, obwohl ich mich manchmal frage, wo die Politiker herkommen. OSCAR Und wie lautet die Antwort? BRUNA Daß sie von nirgendwo her kommen, sie sind immer schon da. OSCAR Da, wo? BRUNA Da, in den Duschen, und reiben sich mit Bimsstein das Gewissen sauber. Aber wer wäscht ihnen die Tigerflecken ab?

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OSCAR D a s ist w o h l w a h r . W e r w ä s c h t ihnen die Tigerflecken ab? Ü b rigens h a t m i c h die M e n g e von Begriffen der H y g i e n e überrascht, die m a n auf die Politik a n w e n d e n k a n n ; z u m Beispiel e i n e s c h n e e w e i ß e V e r g a n g e n h e i t , ein s a u b e r e r L e b e n s l a u f , G e l d w ä s c h e , w a s m i c h zu d e r F r a g e veranlaßte, w e l c h e s W a s c h m i t t e l ein L a n d wohl v e r w e n d e t , u m sein Scheitern a b z u w a s c h e n , d a s uns w i e Fett auf der H a u t klebt? BRUNA Seien Sie nicht traurig, aus der M u s i k w e r d e n auch Begriffe in der Politik eingesetzt, z u m Beispiel ein K o n z e r t der Nationen... OSCAR A p r o p o s K o n z e r t , w e l c h e s I n s t r u m e n t w ü r d e n Sie u n s e r e m Land zuordnen? BRUNA Die Pauke. OSCAR W a r u m ? BRUNA Weil sie viel L ä r m macht, skandalös und leicht zu entbehren ist. OSCAR Sie h a b e n wirklich S c h w u n g . Er lacht. BRUNA Ich h a b e Flügel, deshalb fällt mir das U m a r m e n so schwer. OSCAR U n d w i e m a c h e n Sie mit j e m a n d e m Liebe? BRUNA Ich m a c h e keine Liebe, die Liebe m a c h t m i c h und zerstört mich, w a s n o c h i m m e r ein Q u a t s c h ist, es ist, als b r ä c h t e ein M o n d s t r a h l Butter z u m S c h m e l z e n . OSCAR Ich verstehe Sie nicht. BRUNA In der Liebe gibt es nichts zu verstehen. OSCAR Doch, die Liebe läßt sich erklären. BRUNA Ja, w e n n m a n Zeit und Lust hat, z u m Beispiel k ö n n t e n wir sagen, d a ß sich ein H e r z hinter e i n e m W a n d s c h i r m auszieht, und danach den H i m m e l mit der Z a h n b ü r s t e bemalt, und mit d e m Schwert des Cid K ä s e schneidet und d a n n aus E i n s a m k e i t stirbt, bis j e m a n d u n s w i e d e r e r w e c k t . . Ich bin zu d e m S c h l u ß g e k o m m e n , d a ß Liebe sich h i n g e b e n b e d e u t e t , aber sie soll u n s bitte a u c h z u r ü c k g e g e b e n werden. OSCAR Sie h a b e n keine guten Erfahrungen mit der Liebe gemacht. BRUNA Ich b e k l a g e m i c h nicht, ich sage nur, d a ß ich n o c h nicht gelernt habe, m i c h allein hinter d e m W a n d s c h i r m auszuziehen... G a b es eigentlich Liebe in U n s e r e Liebe Frau der W o l k e n ? OSCAR Natürlich, w u n d e r s c h ö n e Liebesgeschichten, b e s o n d e r s , als die Brüder Aguilera den Frauen K o m p l i m e n t e hinterherriefen. Erinnern Sie sich? BRUNA Nein. OSCAR H ö r e n Sie zu...

Unsere Liebe Frau der Wolken

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6. Szene Oscar erinnert sich an die Piropos 5 der Brüder Aguilera, alberne und kranke Sprüche, die in Unsere Liebe Frau der Wolken die Leidenschaft entfesselten. BRUDER 1 Wenn ich dich näherkommen sehe, wirkst du wie eine Statue, und wenn ich dich weggehen sehe, entweihe ich dich mit dem Blick. Wenn ich dich kommen sehe, wachsen mir Blumen in den Händen und ein Rohr aus dem Wasser. BRUDER 2 Ich möchte eine Schraube sein, und du bist mein Dübel... tadelnder Blick von Bruder 1. BRUDER 1 Ich möchte dein Intimstes entweihen, ich möchte deinen Lebensraum entweihen, ich möchte deine Korrespondenz entweihen, dein Schweigen entweihen, denn mit ihm hast du alle meine Wünsche entweiht... eine Geste, die besagen soll, wie gut er rezitieren kann. BRUDER 2 Ich möchte eine Fackel sein... tadelnder Blick von Bruder 1, um die Nächte zu erhellen. BRUDER 1 Ich möchte die Träne sein, die der Regen in deinem Haar hinterläßt. BRUDER 2 Ich möchte... ich möchte... Wie heißt noch dieses Gerät, mit dem man U-Boote findet? BRUDER 1 unterbricht ihn Am Abend sage ich dir Adios, und der Abend hustet und entzündet zwei Sonnenblumen unter deinem Ausschnitt. BRUDER 2 mit Schwung Adios Schätzchen, Schatzerl, Schatzi... Schatz? Adios Schatz! BRUDER 1 Ich möchte Matrose sein, und du bist meine Korvette. BRUDER 2 Ich möchte eine Korvette sein... Schweigen Ich möchte eine Korvette sein... weiß nicht weiter Ich möchte eine Korvette sein... BRUDER 1 Ich möchte dein Schlitten sein, und du bist mein Hund, der mich aus der Kälte zum Feuer zieht. BRUDER 2 Ich möchte eine Mohnblume sein, und du bist meine Vase oder ein Tintenfaß... um meinen Stengel in deine Tinte zu tauchen. BRUDER 1 Für andere hab ich keine Augen, denn du bist mein Augenstern. BRUDER 2 Für andere hab ich kein Händchen, denn du bist mein Püppchen. Er zeigt seinem Bruder das Handgelenk mit obszönen Gesten.

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Meist zweifelhafte Komplimente, die Frauen auf der Straße nachgerufen werden.

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Vargas

BRUDER 1 tadelt ihn Ich wollte, du wärst eine Tür, dann könnte ich sie heftig zuschlagen. BRUDER 2 antwortet Du bist die Raupe, die nie zum Schmetterling wird. BRUDER 1 verärgert Du hast meine Liebe genommen und nicht zurückgegeben. BRUDER 2 Mein Leben ist eine Wüste, und du bist nicht mal ein Kamel. BRUDER 1 Von unserer Liebe bleibt nur ein zerknittertes Hemd. BRUDER 2 Als eine Schlange in mein Bett kam, wuchsen mir Krallen. BRUDER 1 verändert vor einer Frau Ich möchte für immer ein blauer Fleck in deinem Mund sein. BRUDER 1 Ich möchte erschöpft sein... BRUDER 2 unterbricht ihn Ich möchte der Atem in deinem Mund sein. BRUDER 1 Ich möchte... BRUDER 2 unterbricht ihn Ich möchte der Schatten deiner Zunge in deinem Mund sein. BRUDER 1 Ich möchte... BRUDER 2 Ich möchte die seidige Haut deiner Lippen sein. BRUDER 1 explodiert Aus, das reicht! Ich will auch in deinen Mund, als deine Zahnbürste, dein Zahnarzt, eine Beleidigung... als gemeiner Mensch, der das Geld aus deinem Nachtkästchen gestohlen und in einer elenden Kaschemme versoffen hat, der dich betrog, der, verdammt noch mal, in deinem Mund ist, wie ein blauer Fleck, wie Spucke... Pause ...der deinen Mund mit bösen Worten füllt. BRUDER 2 Pause Wenn ich dich kommen sehe, wächst mir eine Rute aus dem Wasser... 7. Szene Oscar erinnert sich, wie Ángela Lucien, gerührt von den Worten der Brüder Aguilera, beschließt, ihren Mann, Meister Renán, zu besuchen, Leiter des Symphonieorchesters von Unsere Liebe Frau der Wolken, der mitten in der Probe von Angelas Besuch überrascht wird. Die anfangs sanfte Musik gerät am Szenenende aus den Fugen. ÁNGELA Renán, Liebling... Ich bin gerade über den Platz geschlendert, und diese kranken Brüder Aguilera haben Dinge zu mir gesagt, Renán, Worte... das sind keine normalen Komplimente, nein, sie ziehen dich mit ihren Worten aus... Renán, hörst du mir zu? RENÁN Ja, Ángela, aber du sollst doch nicht zur Probe kommen, die Musiker stöhnen, wenn sie dich sehen, mein Liebling.

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ÁNGELA Diese Worte haben mir Schauer über den Rücken gejagt, und ich bekam Lust, dich zu sehen, Renán. RENÁN Aber die Musiker... Liebling. Schau nur, wie uns der erste Geiger ansieht, er sieht uns böse an, Ángela. ÁNGELA Was soll ich tun, Renán, aber dirigiere du ruhig weiter, du siehst mit dem Stöckchen in der Hand so schön aus. RENÁN Ángela, die Musiker heulen auf, wenn sie dich kommen sehen. ÁNGELA Aus Neid, Renán, weil sie keine Frau haben, die zu ihren Proben kommt. RENÁN Sieh mal den Paukenschläger, mit welcher Wucht der auf die Pauke haut, er haut drauf und starrt uns an, er haut drauf und starrt uns an. ÁNGELA holt eine Tortilla aus der Tasche Liebling, ich hab dir eine Kartoffeltortilla mitgebracht, mit Paprika und Zwiebeln, wie du sie magst. RENÁN Ángela, bitte, ich dirigiere ein Orchester, ich kann nicht dirigieren und gleichzeitig Tortilla essen. ÁNGELA Du sagst doch immer, daß du so gern Tortilla ißt. RENÁN Ja, ich esse sie gern, Ángela, klar mag ich sie, aber nicht jetzt. ÁNGELA Ist ja schon gut, ich werde nicht länger stören, Renán. RENÁN Danke. Pause. ÁNGELA Renán... Pause Renán! RENÁN Was ist denn jetzt noch? ÁNGELA In deinem Orchester sind viele Russen. RENÁN Armenier. ÁNGELA Das ist doch dasselbe. RENÁN Nein, das ist nicht dasselbe. ÁNGELA Willst du bestimmt keine Tortilla? RENÁN Laß mich weiter proben, Ángela, laß mich weiterarbeiten. ÁNGELA Ist ja gut, Renán, so hast du mich noch nie behandelt... RENÁN Aber mein Liebling... ÁNGELA Ich bin immer freundlich und entgegenkommend gewesen, auch wenn ich manchmal etwas zu weit gehe, das gebe ich zu, aber ich tue es aus Liebe. RENÁN Ángela... ÁNGELA bekümmert Wenn ich doch... all meine Liebe von mir abschütteln könnte, wie man einen Teppich ausschüttelt, wenn ich... mich schütteln könne, Renán, dann hätte ich sie längst abgeschüttelt, das schwör ich dir bei meiner Mutter... Adios. RENÁN hält sie fest Aber Ángela, mein Liebling, versteh doch... ÁNGELA Wenn du wünscht, daß ich gehe, dann gehe ich eben.

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RENÁN Ist ja gut, bleib' hier, aber sei still. ÁNGELA Danke. Pause Du willst ganz sicher keine Tortilla? RENÁN Nein, Ángela, und sei bitte still. ÁNGELA Er ist eingeschlafen. RENÁN Was? ÁNGELA Der Oboespieler ist eingeschlafen. RENÁN Er ist konzentriert. ÁNGELA Ich sage dir, er schläft. RENÁN Es reicht jetzt, bitte! ÁNGELA Aber schau doch... ich an deiner Stelle würde den mit den Becken neben ihn stellen, damit er aufwacht. RENÁN Ángela, sei still! Ich weiß besser, was mit meinen Musikern los ist, ich weiß, wann sie einschlafen, wann sie spielen, wann sie traurig sind, ich weiß alles über meine Musiker, alles. ÁNGELA Und wenn du alles über deine Musiker weißt, warum bist du dann so verstimmt mit mir? RENÁN Ángela, bitte, werde nicht laut. ÁNGELA Mein Instrument spielst du nie, und wenn du es spielst, dann immer nur folkloristische Balladen. RENÁN Sprich leiser, Ángela, sprich leiser... ÁNGELA Ich werde nicht leiser sprechen, aber schau dich doch an mit dem Stöckchen in der Hand. RENÁN Taktstock, er heißt Taktstock. ÁNGELA Für mich ist es ein Stöckchen... Aber was wäre denn, wenn man es dir wegnimmt? Du fühlst dich mit dem Stöckchen in der Hand mächtig. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott... RENÁN Ángela, mein Liebling... ÁNGELA Spar dir dein Mitleid, Renán, ich weiß, daß du ein Künstler bist und ich eine Nervensäge, die nicht deine Sensibilität hat; ich ziehe deinen Haß deinem Mitleid vor... Die zweite Klarinette klingt falsch. Ich habe mich geopfert für dich, damit du Musik machen kannst... Verzeihung... Sie da mit der Trompete! Könnten Sie etwas leiser spielen, ich rede mit meinem Mann? Danke... RENÁN Ángela, was tust du? Ich explodiere gleich. ÁNGELA Sei nicht albern, du bist doch noch nie explodiert... der Klarinettist spielt falsch, das halte ich nicht aus, Renán, das halte ich nicht aus... schreit Señor! W o haben Sie denn Klarinette spielen gelernt? RENÁN Sei still, Ángela, ich weiß, daß er falsch spielt. ÁNGELA Und warum sagst du es ihm dann nicht?

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RENÁN Er ist Armenier, er versteht mich nicht. ÁNGELA Leih mir den Taktstock und du wirst sehen, wie er das Falschspielen sein läßt. RENÁN Nein, mein Schatz, der Taktstock gehört mir. ÁNGELA Er gibt dir Macht, nicht wahr? RENÁN Ich habe mir fünfzehn Jahre lang im Konservatorium den Arsch aufgerissen, um einen Taktstock halten zu können, und du wirst ihn mir jetzt nicht wegnehmen. ÁNGELA Das ist Machtmißbrauch, Renán. Gib mir den Taktstock. RENÁN Jetzt reicht's, Ángela, hör nur, wie die Musiker stöhnen, sieh nur, wie der Trompeter sabbert, sieh nur, wie der Geiger zittert, schau hin, Ángela, schau sie dir an... ÁNGELA Gib mir den Taktstock. RENÁN Hier wird gleich was passieren. ÁNGELA Dir wird hier gleich was passieren. Sie versucht, ihm den Taktstock zu entwinden. RENÁN Laß los, du Miststück. ÁNGELA Deine Mutter ist ein viel größeres Miststück. RENÁN Laß meine Mutter aus dem Spiel. Sie ringen miteinander, die Musik kommt aus dem Takt, der Taktstock zerbricht. ÁNGELA Das Stöckchen ist zerbrochen! RENÁN DU hast ihn zerbrochen! ÁNGELA Wir haben ihn zerbrochen! RENÁN Und jetzt? Was mach ich jetzt ohne Taktstock? ÁNGELA Nichts. Pause. RENÁN Komisch, jetzt fühle ich mich leichter als mit dem Taktstock in der Hand. ÁNGELA Jetzt hast du die Hände frei. RENÁN Und wozu, mein Liebling? ÁNGELA Um mein Instrument zu spielen und Tortilla zu essen. 8. Szene Oscar erinnert sich daran, wie Soledad ihren Mann Juan besucht, der in der Irrenanstalt sitzt, sie ist gerührt von den Worten der Brüder Aguilera. SOLEDAD Ich bin über den Platz gegangen und die Brüder Aguilera haben mir ein Kompliment nachgerufen; da bekam ich Lust, dich zu sehen.

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JUAN Mich? SOLEDAD Ja. JUAN Machen die Brüder Aguilera schöne Komplimente? SOLEDAD Ja, ein bißchen ungezügelt sind sie schon... JUAN DU kommst mich besuchen, weil du mich liebst. SOLEDAD Es gibt nichts Schöneres, als dich zu besuchen... JUAN Wie lange bin ich schon hier? SOLEDAD Ein Jahr. JUAN Was habe ich getan? SOLEDAD Du hast Schellen und Brotscheiben erfunden, dann hast du monatelang geschwiegen, und als du wieder geredet hast, sagtest du, du hättest die Windrose und die Möwen erfunden. JUAN Aber diese Dinge waren schon erfunden worden. SOLEDAD Deshalb wurdest du eingewiesen, weil du Dinge erfunden hast, die andere schon erfunden hatten. JUAN Das Gute hier drin ist, daß du Dinge erfinden kannst, ohne daß sie dich einweisen, weil du schon drin bist. SOLEDAD Es ist gut, Dinge zu erfinden, auch wenn sie schon erfunden sind; jedes Mal, wenn einer sie macht, erfindet er neu, stimmt's? JUAN So ist es. SOLEDAD Ich stelle mir manchmal vor, daß du nach Hause zurückkommst, dann würden wir im Hof eine Decke ausbreiten und bis zum Morgengrauen die Sterne zählen, und ich würde das natürlich niemandem erzählen. Vielleicht, weil ich nicht genug Mut hätte, mich so zu exponieren, damit sie mich für verrückt erklären können, dann verliere ich in aller Stille den Verstand, ohne daß es jemand merkt... Es ist traurig, auf diese Weise verrückt zu sein. JUAN nach einer Pause Ich habe ein Lied erfunden. SOLEDAD Ja? JUAN Ja. SOLEDAD Magst du es mir vorsingen? JUAN Ja... nein. SOLEDAD Sing es mir vor. JUAN

Ja?

SOLEDAD Ja. JUAN Na gut... Sie ist gut, und er war gut, und eine gütige Sonne wärmte sie. Er war sehr gut, denn er entdeckte in einem Spiegel, daß er sehr gut war Sie, er und der Kater spiegelten sich,

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ein gutes Gesicht hatten sie, und sie waren sehr überrascht denn sie war gut, und er war gut und der Kater w a r gut, und eine gütige Sonne wärmte sie, sie hatten einen Kater, der war sehr gut... Und so wiederholt es sich, bis einer nicht mehr singen mag und verstummt. SOLEDAD W a s für ein schönes Lied, wie die, die du i m m e r gesungen hast, als ich dich kennenlernte. JUAN Das ist lange her. SOLEDAD Ja, aber ich habe ein Fotoalbum, in d e m die Zeit nicht vergeht; manchmal hole ich es heraus und schnuppere unseren Geruch von damals. JUAN Haben wir schlecht gerochen? SOLEDAD lacht Nein. JUAN Ich rieche gar nichts mehr, nicht gut und nicht schlecht. SOLEDAD Ich auch nicht. JUAN W a r u m ? SOLEDAD Ich weiß es nicht, vielleicht weil uns mit Z w a n z i g noch ein g e m e i n s a m e r Geruch eingehüllt hat... Es heißt, die Liebe ist eine Blume mit zwei Aromen... und wenn diese Blume verwelkt... JUAN Könntest du mich töten? SOLEDAD W a r u m ? JUAN Weil ich hier... schon ein bißchen gestorben bin. SOLEDAD Aber du kannst doch nach Hause kommen... JUAN Habe ich dir von diesem Ort... in m e i n e m Kopf erzählt? Manchmal höre ich ein Geräusch, als w ü r d e in m e i n e m Kopf der W i n d wehen, als würde der Wind verfaulte O r a n g e n und alte Zeitungen mitreißen, als w ü r d e er A r m u t mitreißen, u n d dieser W i n d fegt vorüber, zerzaust mir aber nicht die Haare, denn er w e h t in mir... ganz tief drinnen. Ich wollte dich besser lieben, aber dieser Wind läßt mich dich nicht deutlich sehen, so d a ß m e i n Leben auf den Kopf gestellt ist und ich nicht... Ich bin ein Schatten von diesem Jungen, der dir einmal Lieder vorgesungen hat. SOLEDAD während sie ihn langsam umbringt Einmal gab es vor Jahren in einem Dorf einen Jungen, der spät in der N a c h t Liebeslieder sang; den Leuten gefiel das nicht, denn sie m u ß t e n arbeiten, und diese Lieder stahlen ihnen Stunden des Schlafes, aber der J u n g e sang imm e r weiter sein Lied, und eines N a c h t s w a r ein S c h u ß zu hören,

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man erfuhr nicht, wer geschossen hatte; der Junge sprang auf, die Kugel streifte seine Schulter und bohrte sich in die Erde. Der Junge lief davon, aber auf der Erde ist sein Schatten eingebrannt geblieben, und Schatten singen keine Liebeslieder. 9. Szene Drittes Treffen von Bruna und Oscar. BRUNA Das Exil beginnt, wenn wir das, was wir lieben, töten, aber wir töten es nicht auf einmal, sondern über Jahre hinweg... Es ist, als würde uns die Zeit ein Messer in die Hand geben, und damit töten wir die Momente, in denen wir einmal glücklich waren; wir tun das nicht wütend, denn ich glaube nicht, daß die Zeit wütend auf unsere armen Erinnerungen ist, wir tun es mit derselben Sanftheit, wie die Erinnerungen aufsteigen, und mit derselben Gewalt, die das Nachher, das Ich-erinnere-mich-nicht, das Wie-hieß-ernoch hervorruft. OSCAR Das kann nicht sein! Die Leute sehen mich an, als käme ich vom Mars. BRUNA Verzeihung, aber ich meine, Sie schon mal gesehen zu haben. OSCAR Unmöglich, ich habe ein Gesicht, aber ich trage es selten. BRUNA Natürlich! Sie waren es doch, der mir diese Liebesgeschichten erzählt hat, gewiß, sie waren ein wenig grausam. OSCAR Ach ja, Sie waren doch... Ja, natürlich! Und was machen Sie? BRUNA Rezitieren. OSCAR Sind Sie Dichterin? BRUNA Ja. OSCAR Rezitieren Sie etwas, zu dem man tanzen kann und das wir alle kennen. BRUNA Aber gern. Die armen Häuser von Unsere Liebe Frau der Wolken lassen sich an den heißen Augusttagen eine Dauerwelle machen, und an den Regentagen im April werden sie zerzaust. Die Polizeiwagen von Unsere Liebe Frau der Wolken lassen ihre Fenster gähnen, aus denen uns Zwergflinten anbellen. OSCAR Wurden Sie des Landes verwiesen, weil Sie tanzbare Gedichte geschrieben haben? BRUNA In meinem Land ist das Tanzen ein Verbrechen zweiten Grades. OSCAR Aber es sind harmlose Gedichte. BRUNA In meinem Land war nichts harmlos.

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OSCAR A b e r h e u t e w i r d m a n nicht m e h r verfolgt, weil m a n G e d i c h t e schreibt. BRUNA H e u t e geht n i e m a n d m e h r aus politischen G r ü n d e n ins Exil, es wird a u s g e w a n d e r t , weil m a n unterschlagen o d e r gestohlen hat. OSCAR Ich glaube, d a ß es ein Exil aus politischen G r ü n d e n gibt. BRUNA Welches? OSCAR Die E m i g r a t i o n a u s H u n g e r , H u n g e r ist die subtilste F o r m der politischen Verfolgung. BRUNA Ist dieser G e d a n k e v o n Ihnen? OSCAR Nein, ich h a b e ihn in e i n e m E c k l a d e n g e k a u f t , er w a r m i r ein bißchen zu groß, aber in der ersten W ä s c h e ist er eingelaufen... BRUNA W a r u m s c h a u e n die uns so an? OSCAR H a b e n Sie g e s e h e n ? Sie s c h a u e n u n s an, als w ä r e n w i r Marsmenschen. BRUNA Wahrscheinlich, weil wir anders reden. OSCAR Sie glauben, dieses L a n d gehört ihnen. BRUNA Und das nur, weil sie etwas früher da w a r e n als wir. OSCAR Unverschämtheit. BRUNA Das m a c h t mich w ü t e n d . Mit w e l c h e m Recht schauen die so? OSCAR Ich an Ihrer Stelle w ü r d e in deren S p r a c h e mit ihnen reden und sagen, d a ß wir keine weiteren Z u s a m m e n s t ö ß e m e h r dulden. BRUNA auf Englisch M e i n e Herrschaften, wir sind Exilierte, und wir geb e n Ihnen fünf M i n u t e n , u m uns einen Platz in ihren H ä u s e r n einz u r ä u m e n und uns z u m Essen einzuladen, w i r h a b e n w e d e r Papiere noch Reisepässe, und Ihre Gesetze interessieren uns nicht, die Welt ist für alle da, u n d w i r sind es leid, schlecht b e h a n d e l t zu w e r d e n , w i r haben es satt, d a ß an jeder Ecke der A u s w e i s v o n u n s verlangt wird, als wäre ein A u s w e i s wichtiger als ein Gefühl. OSCAR Pause W a s haben Sie zu denen gesagt? BRUNA Nichts... D a ß wir aus e i n e m fernen L a n d k o m m e n , d a s es nicht m e h r gibt, weil w i r in d i e s e m L a n d nicht m e h r existieren, ein Land, in d e m K a s t a n i e n u n d P a p p e l n s t a n d e n u n d M e n s c h e n , die u n s nicht so anstarrten. OSCAR Jetzt s e h e n sie u n s nicht m e h r w i e M a r s m e n s c h e n , s o n d e r n voller Mitleid an. BRUNA Es bleibt u n s nichts a n d e r e s übrig, als u n s i m m e r d a r a n zu erinnern, d a ß w i r e i n m a l an e i n e m O r t lebten, w o w i r nicht so a n g e schaut w u r d e n .

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10. Szene Bruna erinnert sich, wie Großmutter Josefa in den Jahren der Gewalt starb. GROßMUTTER JOSEFA Schau mal an, wen wir hier haben! Den kleinen Meme... Komm her, Meme, leiste deiner Großmutter bei einem Mondbad Gesellschaft. Ich weiß schon, daß es verboten ist, nach zehn das Haus zu verlassen, aber heute Nacht wirkt der Mond wie ein Schneeball; die Nacht ist so klar, daß ich sehen kann, wie die Häuser von Unsere Liebe Frau der Wolken zu vergammeln beginnen, wie die Straßenlaternen erloschene Lichter weinen... Schau mal, Meme, schau mal, wie es Mehl regnet. Nein, das ist kein Nebel, Meme, das ist Mehl oder vielleicht ist es ein schrecklicher Gott, der Pfeife raucht und seine Rauchwolken über uns bläst... Komm, hab keine Angst; es reicht schon die Angst der zitternden Häuser von Unsere Liebe Frau der Wolken... Schau nur, in ihren Dächern stecken Säbel, deshalb fliegen sie nicht... Nachbarn, öffnet die Fenster, breitet eure Flügel aus, heute Nacht ist Vollmond! Ich werde nicht schweigen, Meme, es reicht schon die Stille, die uns der Hunger und die Verzweiflung hinterlassen, ich werde nicht schweigen, weil ich trauriger bin als ein kastrierter Kater, als ein Gedanke auf dem Kleiderbügel, als eine Landschaft, die ein Mann mit nur einem Ohr gemalt hat... Nein, ich werde nicht schweigen, weil ich keine Lust zum Schweigen habe! Ich bin alt und habe immer Mondbäder genommen... Meine Mutter, meine Großmutter haben in Nächten wie diesen Mondbäder genommen. Ich kann ihre im Mondlicht glänzenden Körper sehen, wie es ihre Haut glättet, wie es sie in Silber taucht. Wir müssen stark genug sein für Nächte wie diese, unsere Nacktheit hinausführen, damit der Mond sie befeuchten kann, andernfalls werden wir nur die Kraft haben, die Fenster zu schließen und uns voller Angst in unseren zitternden Häusern zu vergraben... Pause, verändert Aber schau mal an, wen haben wir denn da, den kleinen Meme, komm Meme und sieh dir dieses rote Loch in meinem Herzen an, siehst du es? Komm näher... schau hinein, und vielleicht siehst du eine Menge Leute, die in Nächten wie diesen Mondbäder nehmen...

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11. Szene Bruna erinnert sich, wie zwei Politische in den Jahren der Gewalt starben. Alicia und Federico, bewegen sich mechanisch hin und her, ihre Gesichter sind verhüllt. ALICIA Nehmen wir an, sie kommen und schlagen die Türen ein... FEDERICO Nehmen wir an, uns bleibt eine Minute zur Flucht. ALICIA Nehmen wir an, daß die Tür klemmt und wir eine Minute dazu gewinnen. FEDERICO Nehmen wir an, daß wir schlafen. ALICIA Nehmen wir an, daß wir plötzlich aufwachen, und daß es dir gelingt, zu fliehen und auf die Straße zu gelangen, und ich sehe dein Bild, wie es sich entfernt, und das ist das Letzte, was ich von dieser Welt sehe... FEDERICO Nehmen wir an, daß es dir gelingt, zu fliehen und auf die Straße zu gelangen, und ich sehe dein Bild, wie es sich entfernt, und das ist das Letzte, was ich von dieser Welt sehe... ALICIA Nehmen wir an, uns beiden gelingt es zu fliehen... FEDERICO Nehmen wir an, daß es uns beiden gelingt zu fliehen, und sie bleiben allein in dem Zimmer zurück, zwischen unseren Büchern voller guter Absichten... ALICIA Nehmen wir an, daß sie wutentbrannt unsere Bücher und unsere guten Absichten verbrennen... FEDERICO Nehmen wir an, daß keiner von uns beiden entkommt. ALICIA Nehmen wir an, daß wir umarmt sterben, weil wir uns so liebten. FEDERICO Nehmen wir an, daß sie uns umarmt erschießen. ALICIA Nehmen wir an, daß sie uns verschwinden lassen. FEDERICO Nehmen wir an, daß wir für immer verschwinden. ALICIA Nehmen wir an, daß wir uns irren, weil wir glaubten, daß wir die Einzigen sind, die nicht sterben. FEDERICO Nehmen wir an, daß alles ein großer Irrtum war, denn wir konnten tatsächlich sterben, wie wir starben. ALICIA Nehmen wir an, daß wir noch einmal von vorn anfangen. FEDERICO Nehmen wir an, daß wir uns wieder irren. ALICIA Nehmen wir an, daß wir keine Zeit haben, weil sie uns wieder umbringen. FEDERICO Nehmen wir an, daß andere, die sich irrten, unsere Irrtümer einsammeln und irrtümlicherweise eine bessere Welt schaffen.

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ALICIA Nehmen wir an..., daß es nicht so ist und daß wir in unseren Irrtümern ersticken. FEDERICO Nehmen wir an..., daß sie uns vom Ufer aus wütend und schonungslos anstarren. ALICIA Nehmen wir an, daß sie uns vergessen. FEDERICO Nehmen wir an, daß sie uns nicht vergessen. ALICIA Nehmen wir an... FEDERICO Nehmen wir an... 12. Szene Bruna erinnert sich an das letzte Bild eines einsamen Mannes in einem Boot auf einem See. MANN Ein Junge hat mir das Fischen mit Pelikanen beigebracht. Ich bin zum Meer gegangen und habe einen geholt, es waren weder ein Käfig noch sonst ein Trick nötig; ich mußte nur mit ihm reden und ihn überzeugen... Ich sagte zu ihm: Ich will einen unmöglichen Beruf haben, mit Ihnen, dem Pelikan, zu fischen, um meiner einzigen Tochter beizubringen, daß man von etwas so Unmöglichem träumen kann, wie mit Pelikanen zu fischen... Ich hielt ihm die Stange hin, und der Vogel setzte sich vorsichtig drauf, so brachte ich ihn her; anfangs vermißte er die Steilküsten und die Fjorde, dann gewöhnte er sich daran, weit weg von seinem Strand zu leben. Und alles wofür? Weil ich ihn davon überzeugt hatte, daß man unmögliche Dinge tun kann. Ich begann meine Arbeit damit, ihm ein rotes Band um den Hals zu binden, dann tauchte er ins Wasser und kam mit dem Schnabel voller Fische zurück, das rote Band erlaubte ihm nicht, sie zu schlucken, er wußte, daß nur ich ihm das rote Band abnehmen konnte, deshalb kam er mit dem Schnabel voller Fische zu mir zurück, ich öffnete seinen Schnabel, nahm einen Fisch heraus und lockerte das Band, und er konnte die anderen Fische schlucken. Das klingt grausam, aber es handelt sich um eine kleine unmögliche Gesellschaft... So verbrachten der Pelikan und ich die Tage... manchmal waren wir traurig, manchmal fröhlich... Wie schade, meine liebe Tochter, daß sie dich in jenem Dorf umbringen werden, sodaß du nie einen unmöglichen Beruf erlernen kannst, wie mit Pelikanen zu fischen.

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13. Szene Brunas und Oscars letzte Unterhaltung. OSCAR Wie seltsam, ich meine, Ihr Gesicht schon einmal gesehen zu haben, aber ich erinnere mich nicht, wo, vielleicht in jener Straße... wie hieß sie noch? Sie endete wie eine Selbstmörderin in einem Fluß. BRUNA Ja, die Straße starb im Fluß, aus der Straße wurde ein Flußbett, aber ich kann mich nicht erinnern, wie diese Straße oder dieser Fluß hießen. OSCAR Und diese Frau... Wie hieß sie noch? Sie verkaufte Streichhölzer... BRUNA Diese Frau? Ach ja, auf den Schachteln waren Filmschauspieler abgebildet, ich habe die Schachteln gesammelt, um einen Film zu machen; ich war ein Kind und hatte Angst, daß diese Frau mit ihren Streichhölzern verschwinden würde, und ich den Film aus den Schachteln, die Feuer enthielten, nicht beenden könnte... verstehen Sie? Manchmal habe ich Angst, leer zu sein, ich meine, daß sich mein ganzes Feuer verbraucht und nichts weiter übrig bleibt als ein Haufen wirrer Bilder, mit denen ich nichts anfangen kann... ein Film, ein Leben, eine Krücke, leer und erstaunt, gewahr zu werden, daß mein Leben in eine Streichholzschachtel paßt, die eine Frau verkauft hat... Wie hieß sie noch? Ich sehe die Ecke und die Straße vor mir, aber ich kann mich nicht an ihren Namen erinnern. OSCAR Machen Sie sich keine Sorgen, das Vergessen wird uns in Besitz nehmen, weil wir eine Seele haben... Wie heißen die Bilder, die auftauchen, wenn man die Augen schließt? BRUNA Wie hieß das noch? OSCAR Ist nicht so wichtig, wir sind da. BRUNA Im Kopf eines Menschen, der die Augen geschlossen hat und schwerfällig atmet und verzweifelt zwei Kugeln unter seinen Pupillen bewegt, als würde er etwas sehen, das in der Zeit verschwindet, und er kann nichts tun, um es zu verhindern.