Fremde in zwei Heimatländern: Lateinamerikanisches Theater des Exils 9783964567079

Dieser Band begleitet die Anthologie 'Theaterstücke des lateinamerikanischen Exils'. Das Interesse gilt hierbe

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German Pages 236 [230] Year 2002

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Lateinamerikanisches Theater im französischen Exil
Lateinamerikanisches Theater im Exil in Spanien
Roma Mahieu und die Entwurzelung im Exil
Argentinier im Exil
Trauma und Diskurs: drei Stücke zum Thema Exil
Auseinandersetzungen mit einer Tradition: Das Exil-Motiv im kubanischen Theater nach der Revolution
Theater und Ethnizität: das Beispiel der Cuban Americans
Pedro R. Monge Rafuls: Ein Komma zwischen den Kulturen
José Triana: Das Theater als Heimat
Exil an der Grenze
Spiegel mit Sprüngen: Figurationen als Grenzgänge kulturellen Dialogs
Fremde Stimmen im Äther? Hörspiele chilenischer Autoren in der DDR
Vom Exil in die 14. Provinz: Alexander Stillmark spricht mit Carlos Medina
Bibliographie
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Fremde in zwei Heimatländern: Lateinamerikanisches Theater des Exils
 9783964567079

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Fremde in zwei Heimatländern Heidrun Adler, Adrián Herr (Hrsg.)

THEATER IN LATEINAMERIKA Herausgegeben von der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika Band 11

Fremde in zwei Heimatländern: Lateinamerikanisches Theater des Exils Herausgegeben von Heidrun Adler und Adrián Herr unter Mitarbeit von Almuth Fricke

Vervuert • Frankfurt am Main 2002

B i b l i o g r a f i s c h e I n f o r m a t i o n Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2002 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Abbildung: Lorenzo Jaramillo: cabezas ISBN 3-89354-660-X Gedruckt auf Papier g e m ä ß ISO-Norm 9706 Printed in G e r m a n y

Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Für Pedro R. Monge Rafuls

Inhaltsverzeichnis Vorwort Osvaldo Obregón LATEINAMERIKANISCHES THEATER IM FRANZÖSISCHEN EXIL

Guillermo Heras LATEINAMERIKANISCHES THEATER IM EXIL IN SPANIEN

Nora Eidelberg ROMA MAHIEU UND DIE ENTWURZELUNG

Osvaldo Pellettieri

IM EXIL

ARGENTINIER IM EXIL

George Woodyard TRAUMA UND DISKURS: DREI STÜCKE ZUM THEMA EXIL

Jorge Febles AUSEINANDERSETZUNGEN

MIT EINER TRADITION: D A S EXIL-MOTIV IM KUBANISCHEN THEATER NACH DER REVOLUTION

Frauke Gewecke THEATER UND ETHNIZITÄT: DAS BEISPIEL DER CUBAN

AMERICANS

Heidrun Adler PEDRO R . M O N G E RAFULS: EIN KOMMA ZWISCHEN DEN KULTUREN

Christilla Vasserot JOSÉ TRIANA: D A S THEATER ALS HEIMAT

Iani Moreno EXIL AN DER GRENZE

Uta Atzpodien SPIEGEL MIT SPRÜNGEN: FIGURATIONEN ALS GRENZGÄNGE KULTURELLEN DIALOGS

Jens Häseler FREMDE STIMMEN IM ÄTHER? HÖRSPIELE CHILENISCHER AUTOREN IN DER D D R

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VOM EXIL IN DIE 1 4 . PROVINZ: ALEXANDER STILLMARK SPRICHT MIT CARLOS MEDINA

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BIBLIOGRAPHIE

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Vorwort Das altspanische Heldenlied El Cantar De Mio Cid ist das Werk, auf das sich die literarische Sprache Spaniens gründet. Es ist das Lied vom Exil und von der Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat. Es beginnt mit den Versen: De los sos ojos tan fuertementre llorando, tornava la cabeça i estávalos catando.1

Er blickt zurück auf die Heimat, die er verlassen muß. Im 20. Jahrhundert haben in immer neuen Schüben lateinamerikanische Bürger ihre Heimat verlassen müssen, weil ihre Überzeugungen den Gegebenheiten in ihrem Land grundsätzlich widersprachen - oft genug, um das nackte Leben zu retten. Sie hatten meist keine Möglichkeit, lange zurückzuschauen, um Abschied zu nehmen. Schnell, oft ohne Gepäck, mußten sie verschwinden, wenn sie nicht regelrecht deportiert wurden. Der Chilene Fernando Alegría beschreibt seinen Weg ins Exil: Ich, ein einfacher Mann, begann das Exil - diese Existenz, die nicht mehr mit einem bestimmten Land, einer Zeit oder einem Ort verbunden ist - als Heimatloser unter Heimatlosen. (1981: 22)

Wenngleich Theaterleute vielleicht besser befähigt sind, sich anderen Umgebungen anzupassen - sie bezeichnen häufig die Bühne als ihre Heimat -, sind sie wie alle anderen Exilanten den Bedingungen des Exils ausgesetzt. Was ihre Arbeit angeht, mußten viele mit ,jobs', für die sie überqualifiziert waren, ihren Lebensunterhalt verdienen, an zweitrangigen Universitäten Sprachunterricht geben etc. Einigen gelang es, als Theaterautoren, Regisseure, Schauspieler zu überleben. Eine systematische Exilforschung, in die auch das Theater einbezogen ist, wie sie in der Germanistik und für die jüdische Emigration betrieben wird, gibt es im Bereich der Lateinamerikanistik bisher nicht. Wir können auf die sehr sorgfältige Pionierarbeit hinweisen, die Osvaldo Obregón mit Théâtre latino-américain en France, 1958-1987 (Rennes 2000), und mit zahlreichen Aufsätzen bisher geleistet hat; auf Exils latinoaméricains: la malédiction d'Ulysse hrsg. von Ana Vázquez und Ana Maria Araujo, Paris 1988, wo auch einige wenige Theaterleute aufgeführt werden; auf die von Jorge Díaz und Eduardo Guerrero in den 80er 1

Heftig rannen ihm die Tränen aus den Augen. Er wandte den Kopf und schaute sie an. Übers. Hans-Jörg Neuschäfer, in Klassische Texte des Mittelalters. Band 4. München 1964.

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Heidrun

Adler

Jahren publizierten Blätter Documentación teatral über die Aktivitäten lateinamerikanischer Theaterkünstler im Exil; ferner auf die Publikationen über die Theaterarbeit von Augusto Boal in Europa. In den USA bemühen sich das A R T HERITAGE CENTER und die Zeitschrift OLLANTAY in New York, die Publikationen zum Exil-Thema zu bündeln. El vestuario se apolilló. Una historia del teatro El Galpón (Montevideo 1999) von César Campodónico dokumentiert das mexikanische Exil der Gruppe EL GALPÓN aus Montevideo. 2

Der vorliegende Band Fremde in zwei Heimatländern: Lateinamerikanisches Theater des Exils begleitet die Anthologie Theaterstücke des lateinamerikanischen Exils, das siebte Projekt der Reihe Moderne Dramatik Lateinamerikas3. Er versammelt Aufsätze zu verschiedenen Aspekten des lateinamerikanischen Exiltheaters. Die Diskussion zum Thema „Exil oder Emigration" wird als bekannt vorausgesetzt. 4 Hier nur zusammenfassend: die Begriffe „Verbannung" (der für El Cid galt) und „Ostrazismus", welche die hier zu betrachtende Situation beschreiben, sind von dem moderneren Begriff „Exil" abgelöst worden; „Emigration", das freiwillige Verlassen des eigenen Landes, wird unter repressiven politischen Umständen mehr oder weniger erzwungen. Eine scharfe Abgrenzung zwischen Exil und Emigration ist darüber hinaus angesichts der Massenmigrationen des 20. Jahrhunderts nicht mehr möglich. Unser Interesse gilt aber ausschließlich dem politisch motivierten Exil.

2

EL GALPÓN lebte v o n 1976-1984 im Exil in Mexiko, w o der größte Teil der Truppe z u s a m m e n blieb. Sie hatten ein eigenes Haus, das sie z u m Kulturzentrum machten. Die mexikanischen Kulturbehörden ermöglichten ihnen Aufführungen überall im Land. Roger Mirza berichtet von über 1500 Vorstellungen, davon 250 außerhalb Mexikos. EL GALPÓN erlebte einen regen Austausch mit anderen Theaterformen, die die Arbeit der Gruppe nach der Rückkehr nach Montevideo außerordentlich bereicherten.

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Bisher erschienen sind: 1. Theaterstücke aus Argentinien, hrsg. v o n Hedda Kage; Halima Tahán. St. Gallen, Berlin, Säo Paulo 1993. 2. Theaterstücke aus Mexiko, hrsg. v o n Heidrun Adler; Víctor Rascón Banda. Ebd. 1993 mit Begleitband: Materialien zum mexikanischen Theater, hrsg. von Heidrun Adler; Kirsten Nigro. Berlin 1994. 3. Theaterstücke aus Brasilien, hrsg. von Henry Thorau; Sábato Magaldi. Berlin 1996. 4. Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen, hrsg. v o n Heidrun Adler; Kati Röttger. F r a n k f u r t / M a i n 1998 mit Begleitband: Geschlechter - Performance, Pathos, Politik, (Adler, Röttger 1998). 5. Kubanische Theaterstücke, hrsg. v o n Heidrun Adler; Adrián Herr. F r a n k f u r t / M a i n 1999 mit Begleitband: Zu beiden Ufern: Kubanisches Theater (Adler, Herr 1999); 6. Theaterstücke aus Chile, hrsg. v o n Heidrun Adler; María d e la Luz Hurtado. F r a n k f u r t / M a i n 2000, mit Begleitband Widerstand und Macht: Theater in Chile, hrsg. v o n Heidrun Adler; George W o o d y a r d . F r a n k f u r t / Main 2000.

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Vgl. u.a. Said 1984, Kaplan 1996, Israel 2000.

Vorwort

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Als Einführung in das Thema gibt Osvaldo Obregön einen allgemeinen Einblick in die lateinamerikanische Diaspora 5 . Er spricht auch die Folgen eines längeren Aufenthalts in der Fremde an und die Schwierigkeiten der Heimkehr, die er mit dem von Mario Benedetti geschaffenen Neologismus „des-exilio" umschreibt. Im Detail berichtet er über die Arbeit lateinamerikanischer Theaterleute - Autoren und Theatertruppen - in Frankreich. Als ein Hindernis für den einzelnen Künstler, im Exil seiner Arbeit nachzugehen, wird die Sprache genannt. Die Sprache ist ein wesentliches Medium des Theaters. Viele Lateinamerikaner haben daher in Spanien Zuflucht gesucht, wo sie keine Sprachbarrieren befürchteten. Aber die Sprache ist das Haus des Seins, sagt Heidegger. Das linguistische Phänomen ist Teil eines größeren, das wir Kultur nennen. Jeder Kulturkreis kennt seine besonderen Normen, die sich in der Sprache widerspiegeln. Und diese reiche semantische Pluralität geht in der fremden linguistischen Gemeinde verloren. Das im Exil geschriebene Drama wird nur in den glücklichsten Fällen zum Spieltext für Exilbühnen. Anhand eigener Erfahrungen als spanischer Theaterkünstler beschreibt Guillermo Heras, wie schwer es die Lateinamerikaner gerade in Spanien haben, in der Theaterszene Fuß zu fassen. Am Beispiel der argentinischen Autorin Roma Mahieu zeigt Nora Eidelberg im Detail, wie ein argentinisches Theaterstück für ein spanisches Publikum umgeschrieben werden muß, weil die Erfahrungen, die an Worten und Syntax hängen, nicht beliebig übertragbar sind. Denn die Sprache charakterisiert die einzelne Figur, legt ihre soziale Position fest. Im fremden Land funktioniert die Identifikation über die Sprache aber nicht. Mahieu wird in Spanien kaum gespielt. Nach 20 Jahren ist sie als Autorin eine Fremde geblieben. Der Chilene Jorge Diaz hat dieselben Erfahrungen gemacht. (Woodyard 2000: 79-94) Freilich wird diese Fremdheit nicht gleich thematisiert. Während das Thema Exil bei Diaz diskutiert wird, macht Mahieu die kulturelle Isolation in ihren Figuren sichtbar. Sie zeigt gesellschaftliche Außenseiter, Kranke. Durch Mahieus in Spanien geschriebenes Werk zieht sich das Thema dieser Fremdheit, des Ausgegrenztseins. In drei Stücken zum Thema Exil stellt George Woodyard mit zwei argentinischen und einem chilenischen Autor die vorwiegend negativen Konnotationen des Exils vor: Roberto Cossa, dessen Texte meist im Milieu der italienischen Immigranten in Argentinien angesiedelt sind, zeigt in Gris de ausencia diese als Rückkehrer und Exilanten in Europa. Aristides Vargas bringt die Entwurzelung als Schwebezustand zum Ausdruck, 5

Der Begriff wird in der Definition von Kaplan als Gruppe „des Landes verwiesener Flüchtlinge" verwendet.

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Heidrun Adler

und bei Jorge Diaz geht es konkret um die Existenz und um die Bewältigung des Traumas. Argentinien ist ein Land mit einer langen Exilerfahrung in beiden Richtungen. Zum einen ist es ein klassisches Einwandererland - eine einzigartige Theaterform, der grotesco criollo, hat sich aus der Situation der vorwiegend italienischen Immigranten in Argentinien entwickelt -, zum anderen haben die sich regelmäßig wiederholenden Diktaturen immer wieder argentinische Bürger ins Exil vertrieben. Osvaldo Pellettieri gibt einen Überblick über argentinische Theaterleute im Exil. Das Exil-Motiv untersucht Jorge Febles im kubanischen Theater nach der Revolution an Stücken von Autoren zu beiden Ufern. Es steht in einer Tradition, die bis auf den Beginn der kubanischen Nationalliteratur zurückreicht. Heimweh, Protest und der Topos der geteilten Familie sind Konstanten im kubanischen Theater, die den immer wieder auszutragenden Konflikt zwischen Gehen und Bleiben manifestieren. 6 Febles weist nach, wie im Lauf der Zeit die Verwendung des Exil-Motivs in Kuba wie im Exil nach der Revolution anfänglich auf beiden Seiten die gegenseitige Ablehnung, in den letzten Jahren aber deutlich eine Annäherung erkennen läßt. Eine Begriffsklärung zwischen Exilliteratur und ethnischer Literatur macht der Identitätskonflikt der „Kinder des Exils" notwendig. Frauke Gewecke analysiert in Theater und Ethnizität: das Beispiel der ,Cuban Americans' Theaterstücke kubanischer Autoren, die in den USA leben; sie liefert eine saubere Terminologie für die Darstellung des Prozesses vom traditionsbewußten zum traditionsbetonten und schließlich assimilationsbereiten Selbstverständnis des Exilanten in zweiter und dritter Generation. Wie das Exil kompensatorische Funktionen für das übernimmt, was in der Heimat nicht tradiert werden darf, läßt sich an zwei herausragenden kubanischen Exil-Autoren zeigen: Pedro R. Monge Rafuls und José Triana.7 Sie akzeptieren das Exil als einen Teil ihrer sozialen und personalen Identität. Triana lebt in Frankreich, Monge Rafuls in den USA. Beide nutzen ihre Situation als Fremde, um Horizonte zu erweitert, Perspektiven zu verschieben, Potentiale zu entfalten. Monge Rafuls versteht sich explizit als Exilautor, vertritt aber eine positive Haltung gegenüber beiden Kulturen, der eigenen kubanischen wie der seines Gastlandes. Er 6 7

Vgl. Matías Montes Huidobro 1973. Wir verweisen auch auf die Publikationen über das Werk von Matías Montes Huidobro von Jorge Febles und José Escarpanter und auf A r m a n d o González Pérez, Jorge Febles: Matías Montes Huidobro: Acercamiento a su obra literaria. Levingston 1997.

Vorwort

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nutzt beide als streitbares und als versöhnliches Potential für die eigene Kreativität. It is necessary to level a correct focus on the creative problematic without the author feeling he is loosing contact with the historicity of the culture at the same time that his role as emigrant intellectual finds himself suspended outside of history placed in a position alternating between judging history or annuling it, breaking with a past which weighs him down or, on the contrary, trying to sustain an arbitrary identification with the inheritance of the past, which can be transformed into a guardianshipism checking the creative search in the new and foreign world where he finds himself living. (Monge Rafuls 1994: 37)

Monge Rafuls hat die Tatsache, daß er sein Land verlassen mußte, als Herausforderung angenommen. Er entwickelte nicht nur mit der G r ü n d u n g d e s A R T HERITAGE CENTERS u n d d e r Z e i t s c h r i f t

OLLANTAY,

sondern auch in seinem Werk positive, auf Verständigung ausgerichtete Energien. Salman Rushdie bezeichnet sich mit Blick auf seinen Roman Osten, Westen als das Komma zwischen beiden, das Zeichen, das zugleich trennt und verbindet. Ein solches Komma zwischen den Kulturen - Süden, Norden - ist Monge Rafuls. Aus diesem Grund widmen wir ihm diesen Band. Das Werk von José Triana spielt, wie Christilla Vasserot in José Triana: Das Theater als Heimat zeigt, mit der Verwirrung von Zeit und Raum, was ihm ermöglicht, seine Umwelt von innen wie von außen zu sehen wie „aus einem permanenten Exil". Für ihn gilt wie für kaum einen anderen lateinamerikanischen Theaterautor, daß nahezu zwangsläufig alles, was sie in der Heimatlosigkeit schaffen, Kunst der Entfremdung sein muß. Wobei Trianas Heimatlosigkeit in erster Linie aus einer inneren Emigration resultiert. Eine besondere Situation stellt die mexikanisch-nordamerikanische Grenze dar. Die Gebiete auf beiden Seiten des Grenzstreifens haben mehr miteinander gemein als mit den Kulturkreisen, zu denen sie politisch gehören. Iani Moreno beschreibt in Exil an der Grenze diesen besonderen Raum zwischen zwei Kulturen, der als Nepantla bezeichnet wird. Seine Bewohner überschreiten täglich in beiden Richtungen nicht nur die politische, sondern auch die kulturelle Grenze. Zwangsläufig ist ihre Wahrnehmung kontrapunktisch, da sie sich stets zweier Kulturen gegenwärtig sind. Welche ungewöhnliche Kreativität die Grenzsituation hervorbringen kann, zeigt Uta Atzpodien in Spiegel mit Sprüngen: Figurationen als Grenzgänge kulturellen Dialogs am Beispiel des mexikanisch-nordamerikanischen Performance-Künstlers Guillermo Gómez-Peña. Er selbst nennt sich „border-artist". Er läßt seine Figuren in den verschiedenen

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Heidrun

Adler

Idiomen des Grenzstreifens sprechen und bedient sich der Stereotypen beider Länder, u m Denkschemata zu durchbrechen. Er erfindet Grenzwörter und veranstaltet seine Performances unter Mitwirkung des Publikums. An den Begriffen „Figuration" und „Hybridität" stellt Atzpodien den Künstler als paradigmatisch für grenzüberschreitendes Denken vor. Auch nach Deutschland sind viele lateinamerikanische Flüchtlinge gekommen. In der Theaterszene hatten sie keine Chance, aber sie fanden ein für sie vollkommen neues Medium, das Hörspiel. Was Jens Häseler am Beispiel der Chilenen Carlos Cerda und Omar Saavedra Satis in Ostdeutschland beschreibt, gilt in gleichem Maße für Antonio Skármeta, Luis Sepúlveda u n d andere lateinamerikanische Autoren in Westdeutschland. Über seine Erfahrungen als chilenischer Regisseur in Deutschland berichtet Carlos Medina in einem Gespräch mit Alexander Stillmark. Medina ist es gelungen, dem Exil eine positive Seite abzugewinnen. Er konzentrierte sich auf das, was ihm das Gastland bieten konnte - das Theater von Bertolt Brecht. Wir haben in diesen Band keinen Aufsatz zum Thema Frauen im Exil aufgenommen. Zum einen, weil es eine ausgezeichnete Untersuchung von Olympia B. González, Kubanische Theaterautorinnen im ExiP gibt, die die „weiblichen" Themenkomplexe behandelt: das Aufbrechen der traditionellen Familienstrukturen und Rollenstereotype, Emanzipation etc. Zum anderen kommt die grundlegende Haltung, was eine Aufarbeitung der traumatischen Erfahrungen des Exils angeht, in bestimmten menschlichen - nicht unbedingt geschlechtsspezifischen - Verhaltensweisen zum Ausdruck/auf die Bühne. Z u m Titel dieses Bandes: „Heimat", bzw. Heimatland wird hier nicht als gefühlsbeladener „ewiger Wert" verstanden, sondern als Ort, an dem der Einzelne verwurzelt ist. Muß er ins Exil gehen, werden seine Wurzeln gekappt. In seinem Aufsatz Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit (1994:15-30) unterscheidet der tschechische Philosoph Vilém Flusser zwischen Heimat und Wohnung. Die hier versammelten Aufsätze zeigen, daß die Mehrzahl der Exilierten in den Gastländern nicht nur Wohnung bezogen, sondern in einem Prozess subtiler Transkulturation Wurzeln schlugen, sich „beheimateten"; dennoch sind sie Fremde geblieben. Die Erfahrung des Exil entfremdete sie aber auch von der verlassenen Heimat. Sie sind Fremde in zwei Heimatländern. Heidrun Adler 8

In Zu beiden Ufern: Kubanisches Theater (Adler, Herr 1999:157-165)

Vorwort

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Literatur Alegría, Fernando: „One true Sentence", in REVIEW, Latin American Literature and Arts 30, 7 (September, Dezember 1981), S. 21-23. Flusser, Vilém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Berlin 1994. Gómez-Peña, Guillermo: Warrior for Gringostroika. Minnesota 1993. Israel, Nico: Outlandish: Writing between Exile and Diaspora. Stanford 2000. Kaplan, Caren: Questions of Travel. Postmodern Discourses of Displacement. Durham, London 1996. Monge Rafuls, Pedro R.: „On Cuban Theater", in Lo que no se ha dicho. New York 1994, S. 31-42. Montes Huidobro, Matías: Persona, vida y máscara en el teatro cubano. Miami 1973. Said, Edward W.: „The Mind of Winter: Reflections on Life in Exile", in HARPER'S (September 1984), S. 49-50. Woodyard, George: „Chilenisches Theater aus dem Exil", in Widerstand und Macht: Theater in Chile, hrsg. von Heidrun Adler, George Woodyard. Frankfurt/Main 2000, S. 79-94.

Osvaldo Obregón

Lateinamerikanisches Theater im französischen Exil Die politischen Krisen mehrerer lateinamerikanischer Länder (Brasilien, Uruguay, Chile und Argentinien) in den 60er bis 80er Jahren, die auf internationaler Ebene durch den Kalten Krieg geprägt waren, verursachten den wahrscheinlich größten, bis dahin erfolgten Massenexodus von Theaterkünstlern. Das in Lateinamerika bedauerlicherweise häufig auftretende Phänomen der Diktatur betraf auch Länder mit einer als stabil geltenden Demokratie wie Chile und Uruguay. Die Repressalien, denen sich politisch Aktive und Sympathisanten der Linken und der äussersten Linken ausgesetzt sahen, waren in manchen Fällen brutal und betrafen oft auch Familienmitglieder, die keinerlei politischen Aktivitäten nachgingen. Zu den gezielten Unterdrückungsmechanismen gehörte das Überwachen von Wohnungen, Gefängnis, Verbannung, Konzentrationslager, Hinrichtung ohne Prozeß, das organisierte Verschwinden sowie körperliche und moralische Folter, die zu unvorstellbaren Extremen führte, wie die Jahresberichte von Amnesty International belegen. In der vorliegenden Arbeit beabsichtige ich zunächst einen allgemeinen, sehr gerafften Überblick der Diaspora zu vermitteln und die Etappen des langjährigen Exils samt seinen Konsequenzen aufzuzeigen, und werde mich dann im einzelnen mit den Aktivitäten der nach Frankreich emigrierten Theaterleute beschäftigen. 1 Die lateinamerikanische Theaterdiaspora Auch Künstler und Intellektuelle wurden Opfer der Diktaturen. Der tragische Tod des Chilenen Victor Jara - populärer Liedermacher und Theaterregisseur - erschütterte die internationale Öffentlichkeit; er ist jedoch nur ein Fall von vielen mehr oder weniger bekannten Künstlern. Der Theaterautor Mauricio Rosencof saß jahrelang im Gefängnis und

1

In früheren Arbeiten, zunächst mit meiner Dissertation und später in mehreren Artikeln, die in der Bibliografie am Ende zu finden sind, habe ich das Thema der Verbreitung und Aufnahme des lateinamerikanischen Theaters in Frankreich behandelt. Im vorliegenden Aufsatz gehe ich eingehender auf das Thema „Lateinamerikanische Theaterleute in Frankreich: Die Probleme im Exil" ein, wobei ich ausschließlich die Aktivitäten der politisch Exilierten ausführlicher darlege.

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Osvaldo Obregón

ging später ins Exil nach Schweden. Den Brasilianer Augusto Boal Theaterautor, Regisseur und Theoretiker - ereilte ein ähnliches Schicksal; nach seiner Gefangenschaft emigrierte er zunächst nach Argentinien, dann nach Portugal und Frankreich. In den 70er und 80er Jahren gingen zahlreiche argentinische Autoren ins Asyl: Alberto Adellach, Roma Mahieu, Eduardo Pavlovsky und Susana Torres Molina nach Spanien; Andrés Lizárraga und Juan Carlos Gené nach Venezuela; Osvaldo Dragún nach Kuba; Griselda Gambaro nach Frankreich und in andere Länder; der Guatemalteke Manuel José Arce und die Chilenin María Asunción Requena nach Frankreich; die Chilenen Alejandro Sieveking nach Costa Rica und Jaime Silva nach Spanien und Kanada; der Uruguayer Mario Benedetti nach Kuba und Spanien. 2 Es gibt Einzelfälle unter den Autoren, die freiwillig im Ausland lebten und sich durch ihren radikalen Bruch mit den diktatorischen Regimes ihrer Länder in echte Exilanten verwandelten, so geschehen dem Chilenen Jorge Díaz in Spanien und dem Argentinier Arnaldo Calveyra in Frankreich. In diese unvollständige Liste gehören auch die emigrierten kubanischen Dissidenten Eduardo Manet und José Triana, die in Frankreich beziehungsweise Spanien lebten und zu Beginn der Revolution nach Kuba zurückkehrten, um sich am gesellschaftlichen Wiederaufbau des Landes zu beteiligen. Enttäuscht von der Entwicklung kehrten beide jedoch einige Jahre später nach Frankreich zurück, Manet 1968 und Triana 1980. Matías Montes Huidobro und Pedro Monge Rafuls emigrierten in die Vereinigten Staaten, Héctor Santiago ging nach Spanien. (Vasserot 1995) Es ist noch immer schwierig, die Größe der lateinamerikanischen Diaspora von Theaterkünstlern in der erwähnten Zeitspanne auszumachen. Überraschend bleibt die Tatsache, daß ganze Theatergruppen in andere amerikanische oder europäische Länder - in denen nicht immer spanisch gesprochen wurde - auswandern mußten. In vielen Fällen gründeten Regisseure und Schauspieler Theatergruppen in den Aufnahmeländern, in die sie Landsleute, andere lateinamerikanische Theaterleute und Einheimische der Gastländer aufnahmen. Einige herausragende Beispiele sind: EL GALPÓN DE MONTEVIDEO in Mexiko, EL TEATRO DE LOS BUENOS AYRES in S p a n i e n , EL TÚNEL DE CHILE in A r g e n t i n i e n .

2

Hauptquelle dieser Auflistung ist die Mitte der 80er Jahre von Jorge Díaz und Eduardo Guerrero veröffentlichte Publikation: „Documentación teatral" (Madrid), die ausführliche Informationen über die Aktivitäten von lateinamerikanischen Theaterleuten in der weiten Exillandschaft enthalten.

Im französischen

Exil

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Zwei Theaterensembles, die zum Zeitpunkt des chilenischen Militärputsches auf Tournee waren, zogen es vor, im venezolanischen Exil zu bleiben: L A C O M P A Ñ Í A D E L O S C U A T R O (Héctor und Humberto Duvauchelle, Orietta Escámez) und die M I M O S D E N O I S V A N D E R . T E A T R O A L E P H hingegen, ein ebenfalls chilenisches Ensemble, das 1973 am Festival von Nancy teilgenommen hatte und dann nach Kuba weitergereist war, kehrte wenige Tage vor dem Militärputsch ins Land zurück, wo seine Mitglieder Opfer brutaler Repressalien wurden; die Schauspieler wanderten ins Gefängnis, einer von ihnen ist verschwunden. Oscar Castro, der mehrere Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern zubrachte, konnte mit Hilfe internationaler Theaterverbände nach Frankreich emigrieren und mit Chilenen und anderen Lateinamerikanern eine neue Aleph-Gruppe gründen. Die Mehrzahl der Theaterensembles im Exil3 bestanden in ihrem Kern aus lateinamerikanischen Schauspielern und Regisseuren. Mehrere Ensembles wurden in Schweden gegründet: T E A T R O P O P U L A R L A T I N O A M E R I C A N O , 1979 von dem Argentinier Hugo Álvarez (vormals F R A Y M O C H O ) und dem Chilenen Igor Cantillana gegründet; T E A T R O S A N D I N O , kurze Zeit später von Cantillana gegründet; G R U P O A R G E N T I N O E L TÁBANO, GRUPO LA GUIROLA, THEATERGRUPPEN EL GRILLO u n d

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TALLER

Vom 16. - 23. Oktober 1983 fand in Stockholm das Treffen Teatro Latinoamericano en el Exilio statt, organisiert v o m schwedischen I.T.I. und d e m Comité del N u e v o Teatro unter Mitarbeit von CELCIT. Es war zugleich Festival und Kongress. Folgende Gruppen nahmen daran teil: TEATRO SANDINO (Schweden) mit Romeo y Julieta von Shakespeare; EL GALPÓN ( U r u g u a y / M e x i k o ) mit Pedro y el capitán von Mario Benedetti; GRUPO ARGENTINO EL TÁBANO (Schweden) mit Oficial primero; T E A T R O vivo DE G U A T E M A L A (Mexiko) mit El mundo de los burros; T E A T R O CHILENO DE MIMOS ( E n g l a n d ) m i t Being

here;

T E A T R O LATINOAMERICANO - K ö l n

(Bundesrepublik Deutschland) mit Elmo; TEATRO ALEPH (Chile/Frankreich) mit La increíble y triste historia del General Peñalosa y del exiliado Mateluna von Oscar Castro; SOL DEL RÍO 32 (El S a l v a d o r / M e x i k o ) mit La mano segura de Dios; COMPAÑÍA LA QUEBRADA (Chile/ Schweden) mit Vamos a contar un cuento; LA PALOMITA mit Los cuentos del Mago Tiróle; TALLER EXPERIMENTAL DE DANZA SUR (Schweden) mit Fragmentos de imágenes; und TEATRO POPULAR LATINOAMERICANO (Argentinie n / S c h w e d e n ) mit Los casos de Juan el Zorro von Bernardo Canal Feijóo. Z u m T h e m a „Teatro y exilio" sprachen: A t a h u a l p a del Cioppo, César C a m p o dónico und Rubén Yáftez ( U r u g u a y / M e x i k o ) , Roberto Genta ( U r u g u a y / H o l l a n d ) ; Nelson Mezquida ( U r u g u a y / S c h w e d e n ) ; Christian T r a m p e ( C h i l e / N o r w e g e n ) ; Francisco Morales ( C h i l e / E n g l a n d ) ; H u g o Álvarez (Argentinien/Schweden); Orlando Rodríguez ( C h i l e / V e n e z u e l a ) ; Oscar C a s t r o y O s v a l d o Obregón (Chile/ Frankreich). Die Vorträge w u r d e n publiziert.

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Osvaldo Obregón

SUR (Luján Leiva, 1996). In der Bundesrepublik Deutschland entstand GRUPO RAÍCES von Leonardo Martínez und Hernán Poblete sowie TEATRO LATINOAMERICANO DE COLONIA von César Aguilera. In der Deutschen Demokratischen Republik TEATRO LAUTARO von Carlos Medina; in Spanien COMPAÑÍA CHILENA DE TEATRO u m Jorge Díaz, GRUPO LOS

ERRANTES von Carlos Lamas und TEATRO DE HOY mit Gabriela Hernández und anderen; in Norwegen GRUPO CATAPLUM von Ernesto Malbrán; in Kanada LA BARRACA von Jaime Silva; in England TEATRO CHILENO DE MIMOS von Francisco Morales und Gloria Romo; in Belgien TEATRO DE AMÉRICA MORENA von Omar López Galarce; Ramón Griffero arbeitete mit dem Universitätstheater in Leuven; in Venezuela GRUPO ACTORAL 80 von Juan Carlos Gené und Verónica Oddó; und in Frankreich wie bereits erwähnt TEATRO ALEPH sowie TEATRO DE LA RESISTENCIA von Gu-

stavo Gac-Artigas und Perla Valencia.

Viele lateinamerikanische Schauspieler, die sich in ihrem Land bereits etabliert hatten, machten sich auf den Weg ins Exil: Nelson Villagra (Kuba), Marés González (Frankreich), Carla Cristi (Spanien), Patricio Contreras (Argentinien), Sara Astica und Marcelo Gaete (Costa Rica) und Julio Yung und Maria Elena Duvauchelle (Venezuela) unter anderen. Es würde zu weit führen, alle Schauspieler aufzuzählen, die zu den im Exil gegründeten Theaterensembles gehörten. Dieser in Lateinamerika zuvor beispiellose Massenexodus von Theaterkünstlern hatte unvermeidliche Konsequenzen, sowohl für die Entwicklung des Theaters der betroffenen Länder als auch für das individuelle berufliche Schicksal der einzelnen Theaterleute. Das Exil (der Begriff „Verbannung" scheint hier eher zuzutreffen) ist eine tiefgehende Erfahrung, aus der niemand unbeschadet hervorgeht. Ganz anders ist hingegen die Erfahrung des freiwilligen Exils, wie es bei zahlreichen lateinamerikanischen Theaterleuten früherer Generationen der Fall war, die in amerikanischen und europäischen Ländern (vorzugsweise Spanien, Frankreich und England) ihre Ausbildung vertiefen wollten. Paris hatte für die lateinamerikanischen Theaterleute eine besondere Anziehungskraft. Sie hielten sich dort für kurze Zeit oder auch länger auf, manche hatten (haben) dort einen festen Wohnsitz. Einige Namen: die Autoren Sebastián Salazar Bondy, Xavier Villaurrutia, Enrique Buenaventura, Eduardo Manet, Arnaldo Calveyra und Federico Undiano; die Regisseure Alejandro Jodorowski, Rafael Rodríguez Vigouroux, Alberto Rody, Jorge Lavelli, Eduardo Lameda, Victor Garcia, Antonio Díaz Florián und Alfredo Rodríguez.

Im französischen

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Exil

Ein zu langer Aufenthalt in einem anderen Land birgt das Risiko einer endgültigen Abnabelung vom Heimatland, was ich in einer früheren Arbeit als „Effekt des langen Aufenthaltes" bezeichnet habe. (Obregön 1988) Dieses Risiko droht ausnahmslos allen Emigrierten: denjenigen, die freiwillig gingen, und denjenigen, die keine andere Wahl hatten, als ihr Land zu verlassen oder gewaltsam hinausgeworfen zu werden. Das Exil und seine Folgen Das Exil, ein Phänomen so alt wie die Welt, taucht immer wieder in der Geschichte auf und ist präsent in Mythologie, Kunst und Literatur und natürlich auch im Theater. Ana Vâsquez und Ana Maria Araujo sind Autorinnen einer Studie über Exilanten aus Argentinien, Uruguay und Chile (in der Mehrzahl keine Theaterleute) mit dem Titel: Exils latino-américains. La malédiction d'Ulisse (Vâsquez, Araujo 1988), in der sie drei aufeinanderfolgende Etappen des langen, politischen Exils unterscheiden: 1. „Traumatisierung und Trauer"; 2. „Kulturübernahme (Transkulturation)"; und 3. „Zerfall der Mythen und Infragestellen des eigenen Selbst und des Gemeinschaftsprojekts". Es lohnt sich, diese Stufen zu betrachten, um die allgemeinen Bedingungen besser zu verstehen, unter denen die emigrierten Theaterleute der lateinamerikanischen Diaspora und speziell in Frankreich gelebt haben oder noch leben. Die Phase der Traumatisierung und der Trauer entspricht zeitlich den ersten Monaten und Jahren nach der Ankunft der Exilierten im Aufnahmeland. In Argentinien, Chile und Uruguay waren die Militärputsche in den 70er Jahren außerordentlich gewalttätig und markierten in den beiden Ländern, die als „Modelle" der demokratischen Tradition des amerikanischen Kontinents galten, in Chile und Uruguay, auf brutale Weise das Ende einer Lebensform. In zahlreichen Fällen führte die Verbannung zu einer tiefgehenden Traumatisierung, die fast unauslöschliche Spuren hinterließ. Der Exilant empfand diese Erfahrung als individuelle und kollektive Trauer. Er wurde von Schuldgefühlen geplagt und fühlte sich für das Geschehene mitverantwortlich. Familienmitglieder oder Kollegen und Freunde waren umgebracht worden oder eingesperrt. Die quälende Frage lautete: Warum habe ich meine Freiheit wiedergewonnen und die anderen nicht? Oft mußte er sich von Frau und Kindern trennen. Er hatte alles verloren. Sein Verhalten in einer Zeit, die von Selbstverboten gekennzeichnet ist - Vergnügungen konnten von der Gemeinschaft

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der Exilanten als Ausdruck von Frivolität angesehen werden wird von Schuldgefühlen beherrscht. Es gilt, seine ganze Energie in den Dienst des Kampfes gegen die Diktatur zu stellen und vom Ausland aus in die Rolle des politisch Aktiven zu steigen. In dieser ersten Etappe entwickelt die Mehrzahl der politischen Exilierten eine nahezu typisch zu nennende Art a) zum Schutz der Identität flüchten sie sich in den Schoß der Exilgemeinde; b) das Aufnahmeland und seine Symbole und Ausdrucksformen werden abgelehnt: Behördenwege, Sprachunterricht, Höflichkeitsformen, Gewohnheiten des Alltagslebens; c) dagegen wird das eigene Land mit erstaunlicher Vergeßlichkeit, was Gefahren, Folter, Erniedrigungen angeht, idealisiert; d) man wird exzessiv, bis an den Rand der Erschöpfung politisch aktiv; e) in einigen Fällen entsteht eine Paranoia: Mißtrauen gegenüber anderen Exilanten oder Menschen des Aufnahmelandes, das Gefühl des Überwachtwerdens; f) man leidet an Überreizung und anhaltender Schlaflosigkeit; g) man verfällt in einen Zustand von Willenlosigkeit und Depression, der bis zum Selbstmord führen kann. Die Autorinnen der Studie betonen auch den Umstand, daß Reizbarkeit, Verwirrung und Wahnsinn von der Exilgemeinde weniger toleriert werden als von anderen. Unter solchen Bedingungen gestaltet sich die Anpassung an das Aufnahmeland sehr schwierig. Der Exilant zeigt völlige Orientierungslosigkeit gegenüber den Institutionen des Aufnahmelandes: Schule, Krankenversicherung, Polizei, Finanzamt usw. Erst in der nächsten Etappe entwickelt er normalere Beziehungen zu diesen Einrichtungen. Der Statuswechsel, der Schritt vom Staatsbürger aus dem Land X zum politischen Flüchtling bedeutet einen totalen Bruch, der als sehr schmerzhaft erlebt wird, eine Art erzwungener Taufe, um sich den neuen Bedingungen anzupassen und dabei die früheren, tief in der Ursprungskultur verwurzelten aufzugeben. Die Phase der Transkulturation wird definiert als: „Prozesse, die entstehen, wenn eine Gruppe von Menschen in eine andere Kultur als der ihrer Sozialisation verlagert wird, wobei sie sich erniedrigt fühlt". (Väsquez, Araujo 1988: 56) Oft handelt es sich um die Konfrontation einer dominierenden Kultur mit einer dominierten Kultur, in der sich der Mensch einem doppelten System von Referenzen und den daraus resultierenden Schwierigkeiten ausgesetzt sieht. Im Lauf der Zeit kann ein letzter Verteidigungsmechanismus auftreten, der sich im Leugnen des Exils und der Entwurzelung ausdrückt, um eine vollständige Eingliede-

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rung in das Aufnahmeland zu begünstigen, was in einigen Fällen bis zum Abschwören der eigenen kulturellen und nationalen Ursprünge führt. Der Wechsel des kulturellen Kontexts stellt gezwungenermaßen eine Veränderung und Anpassung an die neuen Werte dar, was sich auch auf Aspekte auswirkt, die sich unserem Einfluß entziehen: Aussehen des eigenen Körpers, Raum, Zeit, Leben in einer anderen Sprache, Ernährung und soziale Gewohnheiten. Die dritte Phase: Zerfall der Mythen. Die Mythen, die den Exilanten nähren, beginnen sich unaufhaltsam abzunutzen. Diese Mythen betreffen die Ideologie, Grundlage der politischen Aktivität, sowie die bis dahin nicht angezweifelte Legitimation der Organisation, der er angehört, der Partei, dem entscheidenden Instrument der „Revolution". Die Fortdauer der Diktaturen in Argentinien, Chile und Uruguay bewirkte langfristig den Zerfall der Widerstandsbewegungen im Ausland. Ein Teil der Exilanten konnte in die Heimat zurückkehren, ein anderer zog es vor, im Exil zu bleiben. Viele Künstler und Intellektuelle haben sich den neuen Lebensbedingungen angepaßt und feststellen können, daß es möglich ist, sich einzugliedern und gleichzeitig enge Beziehungen zum Heimatland aufrecht zu erhalten. Die zu Beginn fest zusammenhaltende Exilgemeinde übernimmt die Rolle, die Identität zu schützen, obwohl sie gleichzeitig auch ein Ort der Kontrolle und der Anklage sein kann. Aus Überdruß am Ghettocharakter der Gemeinde läßt der Zusammenhalt mit der Zeit nach. In dem Maße, in dem ihre Mitglieder zu Bewohnern des Aufnahmelandes Kontakte knüpfen und den unvermeidlichen Prozeß der Transkulturation durchlaufen, entziehen sie sich dem Druck der Gemeinde und integrieren sich mehr und mehr in die Gesellschaft des Gastlandes, ohne deshalb ihre ursprünglichen kulturellen Werte zu leugnen. Der chilenische Arzt A. González-Dagnino führt vier Phasen an, die sich im wesentlichen kaum von den drei vorigen unterscheiden: 1. Phase des Mißtrauens; 2. Phase der Teilnahmslosigkeit; 3. Phase der Mutlosigkeit und Depression; 4. Phase der Integration. Dennoch differenziert er klar zwischen der „kritischen Integration" des Exilanten, „dem es gelungen ist, sein Aufnahmeland zu lieben, ohne sein Heimatland zu verlieren" und der „Assimilation", in der jemand am Ende seine nationale und kulturelle Identität leugnet, um sich besser mit dem Aufnahmeland identifizieren zu können. (González-Dagnino 1979) Unter vielen anderen haben sich Julio Cortázar und Antonio Skármeta über die Situation des Schriftstellers im Exil geäußert und einge-

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räumt, daß es eine schmerzliche und radikale Erfahrung ist, aber beide stimmen mit González-Dagnino darin überein, daß das Exil auch positive Seiten haben kann, wie das Infragestellen der eigenen Person und die persönliche Entwicklung durch das Leben in einer anderen Kultur. (Cortázar 1980, Skármeta 1982) Tzvetan Todorov, bulgarischer Abstammung, der lange in Frankreich lebte, bekräftigt diese These in seinem Buch L'Homme dépaysé, in dem er eine glänzende Analyse liefert und zugleich Zeugnis ablegt. Ce qu'il faut craindre et déplorer, c'est la déculturation elle-même, dégradation de la culture d'origine, mais elle peut être compensée par l'acculturation, acquisition progressive d'une nouvelle culture, dont tous les êtres sont capables. (Todorov 1996)

Er fügt noch einen dritten Begriff hinzu, den der „Transkulturation" mit anderen Worten: „l'acquisition d'un nouveau code sans que l'ancien soit perdu pour autant", was genau mit der „kritischen Integration" von González-Dagnino übereinstimmt. Im französischen Exil Angezogen vom Ruf des THÉÂTRE NATIONAL POPULAIRE von Jean Vilar mit seiner emblematischen Persönlichkeit, dem Schauspieler Gérard Philipe, und dem Erfolg des Festivals von Avignon (seit 1947), kamen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Theaterleute nach Frankreich. Die Gründung von THEATER DER NATIONEN 1957 verstärkte das Interesse, vor allem, weil vom Folgejahr an (1958-1967) lateinamerikanische Ensembles aus Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Chile, Uruguay, Mexiko und Kuba zur Teilnahme an diesem ersten internationalen Festival eingeladen wurden. (Obregón 1987a) Attraktiv war für die lateinamerikanischen Theaterleute - wie ich in mehreren Interviews bestätigt fand - die Gründung der „Universität" des THEATER DER NATIONEN, unter der Leitung von Albert Botbol, für junge Theaterleute aus aller Welt. Die Argentinier Jorge Lavelli und Victor Garcia wurden in dieser echten „Brutstätte des Theaters" bekannt. Die große Welle der ausschließlich politisch Exilierten setzt in den frühen 70er Jahren ein, und ihr Einfluß hält bis Ende der 80er Jahre an, wenn in den Ursprungsländern wieder die Demokratie einkehrt. Chile ist das letzte Land, in dem sich 1989 mit Ende der Pinochet-Diktatur die Situation normalisiert. Das gilt natürlich nicht für die kubanischen Exi-

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lierten, da es auf der Insel keine wesentlichen Veränderungen gegeben hat. Manuel José Arce (1935-1984) Sein Name erinnert an den Vorkämpfer der mittelamerikanischen Unabhängigkeit von Spanien. Der Dichter, Erzähler und Theaterautor wurde in Guatemala-Stadt geboren. Er arbeitete als Journalist für die guatemaltekische Tageszeitung EL GRÁFICO. Arce war Leiter von PRENSAS UNIVERSITARIAS der Universität San Carlos in Guatemala und künstlerischer Leiter des dazugehörigen CENTRO CULTURAL UNIVERSITARIO. Durch Volksabstimmung wurde er Stadtrat von GuatemalaStadt. Seine Theaterarbeit hatte auf seinem unruhigen Lebensweg jedoch immer Vorrang. Arce war ein facettenreicher Theatermann: Autor, Regisseur, Schauspiellehrer und Förderer von Theatergruppen. Nach dem Sturz von Jacobo Arbenz 1954 mußte er unermüdlich gegen die Zensur und den Druck der unterschiedlichsten autoritären Regime ankämpfen. Zu seinen bekanntesten Werken zählen: El gato murió de histeria, Diálogo del Gordo y del Falco con una rockola, Compermiso, Sebastián sale de compras und Delito, condena y ejecución de una gallina (1971). Um seine Theatererfahrung zu erweitern, reiste Arce 1967 zum ersten Mal nach Frankreich, angesichts seiner Schwierigkeiten mit der damaligen Regierung in Guatemala war seine Reise eher ein „heimliches Exil", wie er es selbst ausdrückte. Er beschreibt seine Frankreicherfahrung so: All das half mir, Barrieren niederzureißen, meine Vorstellungen zu verändern, die Fähigkeit zu erlangen, die Arme auszubreiten, zu tanzen, zu springen, zu schreien, mich innerhalb des Theaters frei zu fühlen, sogar Dinge von anderen übernehmen zu können, ohne dem Einfallsreichtum oder der Fähigkeit zur Selbstfindung Grenzen setzen zu müssen. Tatsächlich hatten wir uns die Grenzen selbst gesetzt. Ich mußte erst nach Frankreich kommen, um trotz meiner Erfahrung mit dem indigenen Theater, das seine eigenen Gesetze hat, mit dem Kolonialismus brechen zu können. Deshalb habe ich während meines Frankreichaufenthaltes von 1967-1968 definitiv meinen Sinn für Freiheit entwickelt. (Obregón 1985)

In Paris erarbeitete Arce zusammen mit Miguel Ángel Asturias die Theaterfassung von Torotumbo - Premiere am 15. Dezember 1969 im THÉÂTRE

LA RESSERRE DE LA CITÉ UNIVERSITAIRE unter der R e g i e v o n C l é m e n t

Harari - und nahm Kontakt zu einem Theaterensemble unter der Leitung

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von Isabel Garma (Argentinien) auf, in dem zwei seiner Landsleute mitwirkten: Mario Gonzáles und Rafael Gozalbo; Gonzáles hatte seine Karriere als Schauspieler und Regisseur in Frankreich gemacht. Nach zwei ausgesprochen fruchtbaren Jahren kehrte er in sein Heimatland zurück, wo er wieder als Journalist arbeitete und seine Theaterarbeit fortsetzte. Seine oppositionelle Haltung zum Regime führte 1979 schließlich zur endgültigen Verbannung nach Frankreich, von wo aus er der Befreiungsbewegung Guatemalas und Mittelamerikas eng verbunden blieb. In Marseille mußte er sich durchschlagen, doch nach seinem Umzug nach Albi gelang es ihm, seine kreative Arbeit fortzusetzen. Die COMPAÑÍA DEL ARCHÉOPTERIX brachte sein bekanntestes Werk auf die Bühne: Delito, condena y ejecución de una gallina, das 1984 in Albi uraufgeführt wurde; dort schrieb er auch sein letztes Stück: Arbenz, el Coronel de la primavera, das am 15. März 1985 Premiere hatte. Als ich ihn am 30. September 1984 interviewte, hatte Manuel José Arce noch viele Projekte im Kopf. Ich war von seinem scharfen Verstand, seinem klaren Denken, seiner Großzügigkeit, seiner Feinfühligkeit und seiner Treue zu Guatemala und Lateinamerika beeindruckt. Er starb nur ein Jahr später, im September 1985 in Albi, weit weg von seinem Heimatland. Zehn Jahre nach seinem Tod erschien sein bis dahin unveröffentlichter Roman D'une cité et autres affaires (1995) in französischer Sprache. Eduardo Manet (1927) Eduardo Manet und José Triana sind zwei wichtige, in Frankreich lebende, kubanische Autoren. Außer ihrer ästhetischen Mittel unterscheidet sie in erster Linie die Tatsache, daß Manet sich entschloß, französisch zu schreiben, während Triana nach seiner Emigration 1980 bei seiner Muttersprache blieb. Durch Christilla Vasserots Aufsatz über José Triana in diesem Band erübrigt es sich für mich, ihn in diesem allgemeinen Überblick vorzustellen.4 Eduardo Manet wurde als Sohn spanischer Eltern in Santiago de Cuba geboren. Sein erstes Theaterstück, Scherzo (ein Einakter), mit deutlichen Einflüssen von Valle Inclán und García Lorca, wurde in Kuba ur4

Im Teil III meiner Dissertation habe ich La noche de los asesinos mit anderen lateinamerikanischen, auf französisch publizierten Theaterstücken verglichen. In der Publikation der Vorträge des IV. Internationalen Kongresses „Teatro y Poder", Université de Perpignan, 8.-10. Oktober 1998 wird mein Vortrag Presentaciones del poder en el teatro de José Triana erscheinen.

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aufgeführt und ging durchs ganze Land auf Tournee. 1950 ging Manet nach Frankreich, um Theater- und Filmwissenschaft zu studieren. Auf der von Jean-Louis Barrault gegründeten É C O L E P É D A G O G I Q U E PAR LE JEU DRAMATIQUE und in der Schule von Jacques Lecoq erlernte er die Schauspielkunst. In dieser Zeit veröffentlichte er zwei Prosawerke: die Erzählung Spirale (1956) und den autobiographischen Roman Étrangers dans la ville (1961). Um aktiv den Revolutionsprozess mitzugestalten, kehrte er 1960 nach Kuba zurück, wo ihm die Leitung des CONJUNTO DRAMÁTICO NACIONAL ü b e r t r a g e n w u r d e u n d er für d a s INSTITUTO DE CINE CUBANO

als Drehbuchautor und Regisseur arbeitete. Als er sich mit dem Regime seines Landes nicht mehr identifizieren konnte, ging er 1968 nach Frankreich zurück und nahm ein auf Kuba geschriebenes Theaterstück mit: Las Monjas (1969), das ihm dank seiner vielfältigen Übertragungen in andere Sprachen internationalen Ruhm einbrachte. 5 Die Aufführung dieses Stücks realisierte kein geringerer als Roger Blin, der wegen seiner Bühnenbearbeitungen von Beckett und Genet bekannt war. Die Uraufführung fand am 5. Mai 1969 im THÉÂTRE DE POCHE-MONTPARNASSE in Paris statt; das Stück war ein großer Erfolg bei Publikum und Kritik und erhielt im selben Jahr den Lugné-Poe-Preis. Les Nonnes (so der französische Titel) wurde danach an zahlreichen französischen Theatern aufgeführt. Nach dieser Premiere wurden Manets Werke regelmäßig veröffentlicht und aufgeführt: Eux ou La Prise du pouvoir unter der Regie von Tony Willems mit der COMÉDIE FRANÇAISE im PETIT O D É O N (1971); Sur la piste (1972, Andréas Voutsinas), uraufgeführt im MAISON DE LA C U L T U R E DE CRETEIL; Holocaustum ou le Borgne (1972, Patrick Pezin) uraufgeführt von LES BOUFFONS DU MIDI i m MAISON DE J E U N E S ET DE L A C U L T U R E v o n

Carcassone; Madras, la nuit où... (1974, Hortense Guillemard), uraufgeführt in Avignon im Rahmen des T H É Â T R E O U V E R T in der C H A P E L L E DES PENITENTS B L A N C S ; L'autre Don Juan (1975, Georges-Robert D'Eshougues) vom THÉÂTRE DE LA R A M P E im S A L L E GERBE in Montpellier; Lady Strass (1977, Roger Blin), uraufgeführt im T H É Â T R E D E P O C H E MONTPARNASSE; Les Menines de la Mer Morte (1977, Eduardo Manet), uraufgeführt von der GROUPE D'EXPERIENCES LIBRES (G.E.L.) im T H É Â T R E DE C A R O U G E von Genf; Le jour où Mary Shelley rencontra Charlotte Brontë (1979, Yves Gase), uraufgeführt im PETIT O D É O N von Paris in Koproduk5

„Die Nonnen", deutsch von Kati Röttger, in Kubanische Theaterstücke. (Adler, Herr 1999), S. 31-78.

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tion mit der COMÉDIE FRANÇAISE; Un balcon sur les Andes (1979, JeanLouis Thamin) uraufgeführt vom NOUVEAU THÉÂTRE in Nizza und vom 25. Januar bis 2. März 1980 vom THÉÂTRE DE L'ODÉON wiederaufgeführt; Les Gozzi (1981, Eduardo Manet), uraufgeführt vom NOUVEAU THÉÂTRE in Nizza; Sacrilèges (1981, Eduardo Manet), uraufgeführt im THÉÂTRE MARIE STUART in Paris; Mendoza... en Argentine (1984, Fabrice Pierre), ura u f g e f ü h r t v o m THÉÂTRE POPULAIRE DE CHAMPAGNE; u n d Ma'Déa,

in

Zusammenarbeit mit Michèle Armand Barthélémy und Fatima Soualhia, u r a u f g e f ü h r t 1 9 8 6 i m THÉÂTRE DE POCHE-MONTPARNASSE.

In den letzten Jahren wurden uraufgeführt: Histoire de Mahieu, le boucher (1986); Juan y Teresa en busca de Dios (1987); Les Chiennes (1989); Monsieur Lovestar et son voisin de palier (1995) und Mare Nostrum (1997). Zudem hat Manet nach seinen ersten erzählerischen Versuchen, die zu Beginn seiner Karriere veröffentlicht wurden, sein Prosawerk erweitert: La Mauresque (1983), das den Prix Jouvenel der Académie Française und den zweiten Prix de Goncourt erhielt; Zone interdite (1985); L'Ile du lézard vert (1992), Prix Goncourt des lycéens; Habanera (1994); Rapsodie cubaine (1996); D'amour et d'exil (1999). Eduardo Manet erwarb sein kulturelles Wissen auf Kuba oder, wie er zu sagen pflegt „in der Karibik", aber seine Entwicklung als Schriftsteller (Theaterautor und Romancier) hat im wesentlichen in Frankreich stattgefunden. Mehr noch, alles, was er in seinem Aufnahmeland geschaffen hat, ist auf französisch geschrieben. 6 Was ist Manet heute für uns: ein kubanischer oder ein französischen Autor? Es erscheint angebracht, ihn als kubanisch-französischen Autor zu sehen, der in beiden Kulturen zu Hause ist. In Frankreich sah er aufgrund seiner Herkunft und Ausbildung in sich selbst lange Zeit den kubanischen und lateinamerikanischen Autor, der eine andere Sensibilität einbrachte. Obwohl viele seiner in Frankreich veröffentlichten und aufgeführten Theaterstücke unleugbar in der europäischen Ästhetik verwurzelt sind, was in Lateinamerika nicht selten vorkommt, bilden die drei Werke Un balcon sur les Andes, Mendoza... en Argentine und Ma'Déa, die Gallimard 1985 zusammen in einem Band herausbrachte, in ihrer Thematik und Ansiedlung eine lateinamerikanische Trilogie, während sie gleichzeitig eine wichtige Veränderung in den formalen Aspekten 6

Auf Spanisch ist Las monjas erschienen in der Anthologie Teatro: 5 autores cubanos (New York 1995) herausgegeben von Rine Leal mit fünf Werken der Exilautoren Eduardo Manet, Pedro Monge Rafuls, Héctor Santiago, José Triana und Maria Irene Fornés.

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aufweisen. Daß Manets Theater in Lateinamerika unbekannt ist, liegt daran, daß es seine Stücke kaum auf Spanisch gibt. Ich habe ihn vor einigen Jahren sagen hören, daß er sich selbst die Aufgabe gestellt habe, seine Werke in seiner Muttersprache neu zu schreiben. Âugusto Boal (1931) Nach drei Monaten Gefängnis 1971 des Landes verwiesen, führte ihn seine Verbannung erst nach Argentinien, Peru und Portugal, bis er sich 1978 in Paris niederließ. In Brasilien war er maßgeblich an der Entwicklung des dortigen Theaters beteiligt und hatte besonders im Rahmen des TEATRO ARENA eine Vielzahl von Funktionen inne: Schauspieler, Autor und bis 1967, als die Diktatur von Joäo Goulart stürzte, Lehrer an der Schauspielschule. 1952 reiste er dem Titel eines Diplomingenieurs der Chemie nach New York, um an der Columbia University (1953-1955) sein Studium fortzusetzen, zeigte aber damals schon größeres Interesse für die Theaterwissenschaften als für die Chemie und schrieb sein erstes Stück El caballo y el santo, das bei einem von der Universität ausgeschriebenen Wettbewerb prämiert wurde. Wieder in Brasilien schloß er sich dem TEATRO ARENA an und übernahm 1956 dessen künstlerische Leitung. Es ist verlockend, den Beginn seiner fruchtbaren Karriere als Autor und Regisseur in Brasilien zu beschreiben, aber ich konzentriere mich hier auf seine Zeit im Exil. Selbst außerhalb seines Landes hat Boal unermüdlich geschrieben, setzte dabei aber den Akzent auf Theorie und Praxis des Theaters. In Buenos Aires schrieb er Teatro del oprimido (1974), das ihm internationales Prestige einbrachte. Es ist zum Teil von Paulo Freires Ideen zur Alphabetisierung inspiriert. Im CENTRO DE CULTURA POPULÄR DE RECIFE hatte er Gelegenheit, eng mit Freire zusammenzuarbeiten. Seine Grundthese ist, das Theater unter Anwendung verschiedener Techniken als Mittel der Reflexion und Bewußtmachung in den Dienst der Unterdrückten zu stellen. Die französische Ausgabe dieses Buches erschien 1977/ Da Augusto Boal zwei Jahre nach der Veröffentlichung nach Frankreich zog, haben viele Gruppen und Institutionen dort seine Methode umgesetzt. Diese Aktivitäten wurden von der künstlerischen Arbeit des CENTRE

D'ÉTUDE

ET

DE

DIFFUSION

DES

TECHNIQUE

ACTIVES

D'EXPRESSION (CEDITADE) unterstützt, das die Erforschung und Verbrei-

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Theater der Unterdrückten, Main 1979.

deutsch von Marina Spinu, Henry Thorau. Frankfurt/

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tung des Teatro del oprimido zu seinem Hauptziel erklärt hatte. CEDITADE gründete auch eine Zeitung mit dem Namen „Théâtre de l'opprimé", die bis 1979 regelmäßig erschien. Als Fortsetzung seines ersten Buches veröffentlichte Boal während seines Aufenthaltes in Frankreich: Jeux pour acteurs et nonacteurs. Pratique du théâtre de l'opprimé; Stop, c'est magique! und La méthode Boal de théâtre de thérapie, die ebenfalls in mehreren Sprachen erschienen. Die Konzeption des Teatro del oprimido wurde aus der lateinamerikanischen Erfahrung geboren, erhebt jedoch den Anspruch, gleichermaßen für Europa und andere Breiten Gültigkeit zu haben. In Frankreich und anderen europäischen Ländern haben Theorie und Praxis dieser Konzeption ein beachtliches Echo hervorgerufen. Neben seiner Arbeit mit CEDITADE führte Boal Regie bei der Theaterfassung einer Erzählung von García Márquez: L'incroyable et triste histoire de la Candide Erendira et de sa grand-mère diabolique, die mit großer B e s e t z u n g v o m 8. April bis 4. J u n i i m THÉÂTRE DE L'EST PARISIEN aufge-

führt wurde und in der Marina Vlady die Rolle der Großmutter spielte. Das Theater war gut besucht, es gab viele positive Kritiken, aber auch mehrere Verrisse der Inszenierung. Augusto Boals Aufenthalt in Frankreich und die Verbreitung seiner Theorie des Teatro del oprimido hinterließen tiefe Spuren in bestimmten Kreisen der französischen Gesellschaft (Studenten, Professoren, Sozialarbeiter, junge Schauspieler). Der Übergang zur Demokratie in Brasilien erlaubte Boal 1990 mit einem Pariser Ensemble und dem Teatro del oprimido eine Tournee durch sein Land zu machen. Seine Rückkehr kurz darauf ist endgültig. Er wurde zum Stadtrat von Rio de Janeiro gewählt, was ihm ermöglichte, Subventionen für die Neugründung von Theatergruppen in den Armenvierteln zu erhalten und das 7. Internationale FESTIVAL DE TEATRO DEL OPRIMIDO ZU organisieren, d a s mit seiner bis-

her größten ausländischen Beteiligung Ensembles aus Brasilien, Afrika, Asien und Europa zusammenführte. (Obregón 1994) Der Fall Boal ist aus verschiedenen Gründen von großem Interesse. Der wichtigste Grund ist, daß er auf dem Gebiet der Theatertheorie die ersten lateinamerikanischen Beiträge geliefert hat. Lateinamerika hat jahrhundertelang die in Europa entwickelten literarischen und künstlerischen Theorien konsumiert. Das Teatro del oprimido ist eines der wenigen Beispiele mit theoretischem corpus, das den Atlantik in die entgegengesetzte Richtung überquert hat.

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Gustavo Gac-Artigas, Perla Valencia und TEATRO DE LA RESISTENCIA

Der Chilene Gustavo Gac-Artigas und die Kolumbianerin Perla Valencia kamen 1974 als politische Flüchtlinge nach Frankreich. Auf der Basis ihrer, in mehreren lateinamerikanischen Ländern, vor allem in Kolumbien, Ecuador und Bolivien, gesammelten Theatererfahrungen hatten sie in der chilenischen Bergarbeiterstadt El Teniente das TEATRO EXPERIMENTAL DEL COBRE g e g r ü n d e t .

Noch im Jahr ihrer Ankunft in Frankreich gründeten sie TEATRO DE LA RESISTENCIA-CHILE, das sich anfangs als politisches Theater definierte. Unterstützt wurden sie dabei von französischen Theaterleuten wie Jean Mercure von THÉÂTRE DE LA VILLE, und José Valverde vom THÉÂTRE GÉRARD PHILIPE in S a i n t - D e n i s .

Die erste Inszenierung unter der Regie von Gustavo Gac-Artigas und Perla Valencia hieß El pais de las lágrimas de sangre o Nosotros te llamamos Chile-Libertad und basierte auf den politischen Ereignissen von 1973. Die Rolle des Zeitzeugen wurde von einem französischen Schauspieler in seiner Muttersprache gespielt, während die anderen Schauspieler spanisch sprachen. Es wurde 1975 in der SALLE JEAN VILAR in Champigny-sur-Marne uraufgeführt. Einige Tage später wurde das Stück auf dem Festival von Nancy (außerhalb des offiziellen Programms) gezeigt und gastierte vom 2. bis 9. August in der BOURSE DE TRAVAIL in Avignon. Das Ensemble ging durch zahlreiche französische Städte auf Tournee und gastierte vom 7. bis 31. Oktober 1975 im THÉÂTRE GÉRARD PHILIPE in S a i n t - D e n i s .

Ihr zweites Stück, La escuela, von dem Chilenen Ricardo Iturra, basiert auf einer wahren Begebenheit, der Gründung einer Schule in einem Konzentrationslager in Chacabuco. Darin wurde zwischen französischen (in der Übersetzung von Danielle und Gérard Augustin) und spanischen Fragmenten gewechselt. Die Uraufführung unter der Regie von Gac und Valencia fand am 23. Oktober 1976 in der MAISON DES JEUNES ET DE LA CULTURE (M.J.C.) in Blanc Mesnil statt. Es wurde wie das erste Stück in mehreren Theatern gespielt. Als drittes Werk wurde Chronique du jour combattant aufgeführt, geschrieben und inszeniert von dem Chilenen Marcos Portnoy, dem ehemaligen Leiter der ESCUELA DE TEATRO DE VALPARAÍSO. Dies war die erste ausschließlich französische Inszenierung in der Version von Jaime Prat Corona, der auch die folgenden Stücke übersetzte, in denen sich

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Osvaldo Obregón in verschiedenen Bildern, die Szenen aus dem Alltagsleben wiedergeben, das Phänomen des chilenischen Faschismus, seine inneren Widersprüche und gleichzeitig die Entstehung und Entwicklung des Widerstands zeigen. (Cruz 1983)

Laut Gac ist dieses Stück im Stil von Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches geschrieben. Es wurde am 22. April 1977 im Rathaus von Fontenay-sous-Bois aufgeführt. Mit Oedipe rouge ou la traversée von Juan Almendros, das auf einer Erzählung von Perla Valencia basiert, beginnt eine neue Etappe, die sich nicht nur an der chilenischen Problematik orientiert. Es ist die Geschichte einer Schauspielerin und eines Theatermannes, wobei es sich letztlich um eine Reise durch dreißig Jahre lateinamerikanischer Geschichte aus der Perspektive des Paars und einer Theatergruppe handelt. (Trayectoria del Teatro de la Resistencia 1983)

Diese neue Inszenierung kam im September 1978 in der SALLE GÉRARD PHILIPE in Champigny zur Aufführung. Das fünfte Stück war Los papeles del infierno des Kolumbianers Enrique Buenaventura, das im Dezember 1979 zum ersten Mal auf Spanisch im TEATRO ROMEA DE BARCELONA a u f E i n l a d u n g d e s INSTITUTO NACIONAL DE TEATRO ESPANOL

aufgeführt wurde. Die Tournee ging durch mehrere katalanische Städte. Im Jahr darauf wurde eine neue französische Version erarbeitet: Les livrets de l'enfer. Unter diesem Titel wurden drei kurze Stücke zu einem Einakter zusammengefügt: La maîtresse d'école, L'autopsie und L'orgie, die das Problem der Gewalt in Lateinamerika thematisieren. Diese Stücke wurden am 19. April 1980 in der SALLE GÉRARD PHILIPE in Champigny uraufgeführt und standen jahrelang auf dem Programm. Nach dieser Inszenierung wurde dem Ensemble der Status eines „Kulturvereins" zuerkannt. So erhielt es staatliche Subventionen, eine große finanzielle Erleichterung, da die Einnahmen bis dahin nur knapp die Produktionskosten gedeckt hatten. Das nächste Stück hieß L'oeuf de Colon ou Coca-Cola vous offre un voyage de rêve en Amérique Latine, geschrieben und inszeniert von Gustav o G a c . E s w u r d e a m 2 0 . N o v e m b e r 1 9 8 2 i m CENTRE GÉRARD PHILIPE i n

Champigny-sur-Marne uraufgeführt. Zu diesem Werk erklärte der Autor: Wir zeigen das Bild eines Lateinamerika, das in Europa entstanden und oftmals eher mittelmäßig ist, woran wir zu einem großen Teil selbst schuld sind. Das

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Stück soll mit seinem scharfen Humor und seiner entfesselten Phantasie eine Reihe von Mythen über unseren Kontinent zerstören. (Cruz 1983) TEATRO DE LA RESISTENCIA machte mit seiner offen politischen Haltung eine vielschichtige Entwicklung durch: den Schritt von der spanischen zur französischen Sprache; die Öffnung von seiner anfänglich ausschließlich chilenischen zur lateinamerikanischen Problematik; die Aufnahme nicht nur chilenischer Schauspieler, sondern auch solcher aus anderen lateinamerikanischen Ländern. L'oeuf de Colón war das letzte in Frankreich gespielte Stück. 1985 kündigte TEATRO DE LA RESISTENCIA seine Rückkehr nach Lateinamerika an und initiierte eine Kampagne zur Finanzierung und Realisierung dieses Vorhabens. Das Ensemble löste sich auf, und nur Perla Valencia und Gustavo Gac kehrten zurück. So erfüllte sich Gacs Wunsch: Hier [in Frankreich] ist man versucht, sich in etwas anderes zu verwandeln: in ein Ensemble mit lateinamerikanischem Ausdruck, das fest in Frankreich etabliert ist, das mit der Exotik spielt, aber dessen Wurzeln auf dem Kontinent schon vor langer Zeit gekappt wurden. Oder sich in die Arbeit der französischen Kultur zu integrieren, wie manche es getan haben. Es ist ein Problem des Gewissens und der Interessen eines jeden Einzelnen. Wir persönlich haben uns an all dem Positiven genährt, was die Kultur im allgemeinen und die französische Theaterkultur im besonderen uns anbieten kann, um es nach Lateinamerika mitzunehmen und dort in unsere Realität einzubringen. (Cruz 1983)

Wenn TEATRO DE LA RESISTENCIA wirklich seiner Ambition getreu ein lateinamerikanisches Volkstheater bleiben wollte, wie Gustavo Gac es selbst genannt hatte, mußte seine Zeit in Frankreich zu Ende gehen. Länger in Europa zu bleiben, hätte das Projekt ernsthaft in Frage gestellt. Mit dem Namen NUEVO TEATRO LOS COMEDIANTES nahm das neue Ensemble 1986 am Festival von Manizales teil, aber das Vorhaben, mit den aus Frankreich bezogenen Geldern ein Wandertheater zu installieren, ließ sich nicht verwirklichen. Außer Pinochets Diktatur verweigerten ihm noch andere Regimes in Südamerika die Einreise. Das Wandertheater löste sich auf amerikanischem Boden endgültig auf, und Gustavo Gacs Reise endete aus familiären Gründen in den Vereinigten Staaten. Oscar Castro (1947) und TEATRO ALEPH TEATRO A L E P H wurde von Oscar Castro und einer Gruppe Studenten 1968 in Santiago de Chile gegründet. Die erste Uraufführung des En-

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sembles war ¡Hip, Hip, Hurra! Ein Stück des Argentiniers Dalmiro Sáenz. Es wurde 1968 auf dem Primer Festival Universitario-Obrero in der SALA POLIVALENTE DE LA UNIVERSIDAD CATÓLICA in S a n t i a g o g e z e i g t . D a -

nach führte TEATRO ALEPH zwei Stücke auf, die in kollektiver Arbeit ents t a n d e n : i m TEATRO DE LA REFORMA d e r UNIVERSIDAD DE CHILE ¿Se

sir-

ve Ud. un cocktail Molotov? (1969) und Viva in Mundo de Fanta Cía (1969), d a s , w i e a u c h d i e f o l g e n d e n S t ü c k e , i m TEATRO DE BOLSILLO DEL ALEPH

in der Calle Lastarria in Santiago gespielt wurde. Diese Inszenierung erhielt den Kritikerpreis, der damals als höchste Auszeichnung galt. Obwohl beide Inszenierungen als Kollektivarbeiten entstanden, war Oscar Castro wesentlich für die Texte verantwortlich. In seinem Lebenslauf taucht er als Autor folgender Werke auf: ¿Cuantas ruedas tiene un trineo? (1971), ¡Aaah... Oooh... Aaah! (1972), Vida, pasión y muerte de Casimiro Peñafleta (1972) und Érase una vez un rey (1972). Die beiden letzten Stücke wurden auf dem Festival du Printemps de Lyon, dem Festival du Jeune Théâtre (Thonon) und beim Festival Théâtre Européen (Genf) aufgeführt. Sie gingen auch auf Tournee durch Kuba. TEATRO ALEPH kehrte am 11. September 1973, nur wenige Tage nach dem Militärputsch, der Salvador Allendes konstitutionelle Regierung zu Fall brachte, nach Chile zurück. Das Ensemble identifizierte sich vollständig mit der Regierung der Unidad Popular und hatte sich in wenigen Jahren sowohl die Anerkennung des Publikums als auch der Kritik erworben. Deshalb ist es nicht überraschend, daß es seine Arbeit gern im Rahmen der kulturellen Widerstandsbewegung weitergeführt hätte. Ein Jahr nach dem Putsch hatte das Aleph-Stück Al principio existía la vida im TEATRO CENTRAL DE SANTIAGO Premiere, eine Parabel, die das diktatorische Pinochet-Regime zur Zielscheibe hatte. Am 24. November wurden alle Schauspieler verhaftet, angeklagt, einen „gefährlichen Extremisten" zu schützen und in Konzentrationslager geschickt. Oscar Castro schrieb während seiner Haft einige Stücke, die an den sogenannten „Kulturfreitagen", die von den Häftlingen selbst organisiert wurden, den Mitgefangenen vorgeführt werden sollten8: Casimiro Peñafleta, prisionero político (ein Monolog), aufgeführt am 25. Juli 1975 im Lager von Ritoque; ¡Sálvese quien pueda!, geschrieben 1976 im Lager von Puchuncavi; El amigo Pablo basierte auf Bibelgeschichten und Auszügen von Albert Camus' Caligula, es wurde Ostern 1976 aufgeführt; Flor de un día, 1976 im 8

Vgl. auch Oscar Lepeley: „Das chilenische Protesttheater in den ersten Jahren der Militärdiktatur", in Widerstand und Macht: Theater in Chile. (Adler, Woodyard 2000), S. 119-130.

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Lager von Melinka geschrieben, und La guerra, dessen Premiere am 1. Mai desselben Jahres im Lager von Puchuncavi stattfand. (Dorfman 1978) Oscar Castro wurde im November 1976 auf internationalen Druck hin freigelassen. Zahlreiche Persönlichkeiten der französischen Theaterszene waren aktiv geworden, um seine Ausweisung nach Frankreich durchzusetzen. Den Fängen der Diktatur entkommen, begann Castro das TEATRO ALEPH mit drei früheren und mehreren neuen Mitgliedern in Frankreich zu reorganisieren. 1977 wurde die Gruppe wieder zum Festival von Nancy eingeladen, wo sie zwei Stücke vorstellte: Casimiro Peñafleta, prisionero político und La trinchera del Supertricio, das ebenfalls aus Oscar Castros Feder stammt. Beide wurden in mehreren französischen Städten und in anderen Ländern aufgeführt. 1978 und 1979 ging Casimiro Peñafleta, vom Autor selbst gespielt, im großen internationalen Kreis des chilenischen Exils auf Tournee. In Chile war TEATRO ALEPH inzwischen von einigen Mitgliedern, die im Land geblieben waren, wieder ins Leben gerufen worden. Sie probten ein neues Stück, das von der Militärregierung kurz nach seiner Aufführung verboten wurde. In Frankreich bildete sich aus Intellektuellen und Künstlern ein Komitee mit dem Namen A.I.D.A (Association Internationale pour la Défense des Artistes), das sich für das chilenische TEATRO ALEPH einsetzte. Angesehene Persönlichkeiten aus der Theaterund Kinowelt wie Ariane Mnouchkine und Claude Lelouch reisten nach Chile, um bei den Behörden zu intervenieren. Das nach Frankreich exilierte TEATRO ALEPH konnte die Inszenierung von Stücken in französischer Sprache nicht länger aufschieben, wenn es als Ensemble überleben wollte. Die nächste Aufführung, L'incroyable et triste histoire du General Peñaloza y de l'exilé Mateluna von Oscar Castro, fand im Mai 1980 im Saal des THÉÂTRE DU SOLEIL in der Cartoucherie de Vincennes statt. Ariane Mnouchkine hatte ihnen den Saal überlassen und diese Inszenierung intensiv gefördert. Wie in späteren Inszenierungen setzt TEATRO ALEPH in diesem Stück mit lateinamerikanischen Rhythmen Elemente der musikalischen Komödie ein, um auf satirische Weise die Figur des Diktators darzustellen, und behandelt gleichzeitig humorvoll und ohne Gemeinplätze die Wechselfälle im Leben der politischen Exilchilenen in Paris, die zwischen widersprüchlichen Gefühlen hin- und hergerissen waren: der Sehnsucht nach der verlorenen Welt und der Notwendigkeit, sich einem Umfeld anzupassen, das ihnen wegen seiner Sprache und Lebensform fremd war. Dieses Stück brachte es auf mehr als hundert Vorstellungen in Paris und wurde

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danach in mehreren französischen Städten und in anderen europäischen und amerikanischen Ländern gespielt. Es folgte im Dezember 1984 die Premiere von La nuit sus-pendue (Castro 1984) im THÉÂTRE DE LA PLAINE in Paris. Das Stück fand jedoch nicht dieselbe Resonanz wie das vorige, obwohl es beim Theatertreffen C HARLES DULLIN in Villejuif mit dem Prix Jeune Théâtre Professionnel für den besten Text und die beste Inszenierung ausgezeichnet wurde. 1983 stellte TEATRO ALEPH die französische Version zweier Stücke vor, die in Chile entstanden waren: Vie, passion et mort de Casimiro Peñafleta und II était une fois un roi (1974). Im selben Jahr nahm TEATRO ALEPH am Internationalen Treffen der im Exil lebenden lateinamerikanischen Theaterleute teil (16. - 23. Oktober in Stockholm unter der Schirmherrschaft des I.T.I.), wo es die Inszenierung von L'exilé Mateluna vorstellte, eine gekürzte Fassung des bereits erwähnten Stücks mit längerem Titel. Die späteren Inszenierungen von TEATRO ALEPH haben ihre Ausrichtung zum satirischen Musical beibehalten und basieren größtenteils auf lateinamerikanischer Musik: Talca, Paris y Broadway, Ende 1984 im THÉÂTRE DE LA PORTE Gentilly (Paris) aufgeführt; Sauve qui peut, l'amour latin arrive, beide von Oscar Castro geschrieben, und Le Kabaret de la dernière chance, ebenfalls von ihm geschrieben und in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Pierre Barouh inszeniert, wurde im September 1986 in einem kleinen städtischen Saal uraufgeführt und vom 9. Dezember 1986 bis 20. Februar 1987 im renovierten THÉÂTRE BATACLAN gespielt. Eine der letzten Premieren vor Pinochets Niedergang war La maison accepte l'échec (1987), die im THÉÂTRE LE BERRY in Paris unter der musikalischen Mitarbeit von Pierre Barouh und Anita Vallejo stattfand. Nach dem Zusammenbruch der Pinochet-Diktatur ging TEATRO ALEPH mit den Hauptwerken seines Repertoires mehrfach durch Chile auf Tournee, wo es von der Kritik gut aufgenommen wurde. Auf diese Weise hat es das Ensemble geschafft, das chilenische Publikum zurückzugewinnen und sein Stammpublikum in Paris zu halten. 9 Oscar Castro hat als Schauspieler in mehreren in Chile und Europa gedrehten Filmen mitgewirkt. Beim Festival de Cine Iberoamericano in

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Eine vollständige Studie über den Werdegang von TEATRO ALEPH in Chile und in Frankreich verdanken wir Luis Pradenas Chuecas, Exilchilene und Autor der Dissertation Théâtre au Chili, der sich im zweiten Band ausführlich mit dem Ensemble beschäftigt. (Pradenas Chuecas 1995)

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Biarritz erhielt er 1983 für seine Rolle in dem Film Ardiente Facienda des Chilenen Antonio Skärmeta den Preis für die beste Darstellung. Die beiden chilenischen Ensembles im französischen Exil hatten die gleichen Probleme, welche die Verpflanzung in eine fremde Kultur mit sich bringt: Schwierigkeiten mit der französischen Sprache, Definition neuer Ziele in einem fremden Kontext und Eroberung eines neuen Publikuns sind nur einige der wichtigsten. Beide Ensembles setzten sich anfangs grundlegende politische Ziele, wobei sie sich in der ersten Phase an diejenigen der französischen Gesellschaft wandten, die besonders feinfihlig auf die politischen Probleme in Lateinamerika reagierten. Besonders wichtig waren in dieser Periode die Solidaritätsgruppen, die regelmäßig an politischen Demonstrationen teilnahmen, in denen Theater, Diskussionen, Musik und andere Aktivitäten ein zusätzliches ideologisches Instrument darstellten. Die subventionierten kulturellen Zirkel wie die Kulturhäuser, Nachbarschaftshäuser, und Jugendhäuser ermöglichten ebenfalls einen Zugang zur französischen Gesellschaft. De Kritik in Tageszeitungen und Zeitschriften beeinflußte die Arbeit dieser Ensembles, da sie häufig eher ideologische denn ästhetische Kriterien ansetzte. Schematisierend ließe sich sagen, das die linke Presse in der ersten Jahren eher großzügig und stimulierend reagierte, während sch die rechte Presse gleichgültig oder offen feindselig zeigte: die Beurteilung entsprach jeweils der Sympathie oder Antipathie. Im Allgemeinen entstand ein kritisches Vakuum, das die chilenischen Theaterleute mit der Zeit verbitterte. Damals vertraute mir Gustavo Gac seinen Wunsch an, die Theaterkritiker mögen sein Ensemble, TEATRO DE LA RESISTINCIA, wie jede andere professionelle Theatergruppe nach künstlerischen Kriterien und nicht nur aus einer parteilichen Optik heraus besprechen. Er vermißte eine objektive Kritik, die ihre wirkliche Funktion erfüllt«. Abschließend läßt sich sagen, daß die Sprache das größte Problem für dielateinamerikanischen Theaterleute im französischen Exil war, um ihre ptrsönlichen und beruflichen Schwierigkeiten, die ihnen aus der Entwu'zelung enstanden, zu überwinden. Je länger die Diktaturen dauerten, besonders die chilenische, die sich viel länger hielt, als vorauszusehen ind zu erwarten gewesen war, desto stärker waren die Theaterleute cen Auswirkungen eines dauerhaften Aufenthaltes und der unvermedlichen Anpassung, in vielen Fällen auch der Assimilation oder kritisclen Integration ausgesetzt. Einige wollten und wünschten zurückzukehi?n, andere blieben in Frankreich, wo sie sich eine berufliche Existenz geschaffen hatten; beim TEATRO ALEPH ist die Anpassung offen-

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sichtlich: Wechsel des Publikums, Wechsel der Sprache, Wechsel des Repertoires. In diesem Fall drängen sich folgende Fragen auf: Wieviel Gewicht hat die Ursprungskultur noch? Kann man im Fall von TEATRO ALEPH noch von einer lateinamerikanischen Theatergruppe sprechen? Und wenn ja, wie lange wird sie es noch bleiben? Es gilt auch zu berücksichtigen, daß eine zweite Generation von Theaterkünstlern herangewachsen ist, die durch ihre Ausbildung viel stärkere Wurzeln in Frankreich hat. TEATRO ALEPH hat schon seine Nachfolger in Oscar Castros Kindern, Andrea und Sebastián, die von Jugend an der Truppe angehörten. Ganz ähnlich ist es bei der Chilenin Marcela Obregón und der Argentinierin Mariana Araoz, Gründerinnen der COMPAÑÍA LES TURPIALS, die vom 1. bis 11. März 1989 im THÉÂTRE CITHÉA in Paris El Juego von Mariela Romero (Jeu de Dames, Übersetzung von Marcela Obregón) in der französischen Fassung und unter der Regie von François Kergourlay und unter Mitwirkung der aus Venezuela angereisten Autorin aufführten. Diese Inszenierung ging später auf eine kurze Tournee nach Caracas. Dieselbe COMPAÑÍA führte am 4. November 1992 in Sevran das Stück Acto Cultural von Jorge Ignacio Cabrujas (Soirée culturelle, Übersetzung von Claude Demarigny) auf, in dem Armando Gotta (spanischvenezolanischer Herkunft) Regie führte und das Bühnenbild von Asdrúbal Menéndez stammte, die beide aus Venezuela angereist kamen. Anläßlich des II. Festival de IBERAL im März 1993 wurde es in der SALLE HÉRAULT in Paris wiederaufgeführt. Das sind nur einige Beispiele der zweiten Generation, der Kinder der Exilierten. Ich habe hier ein Panorama der Aktivitäten von lateinamerikanischen Theaterkünstlern in Frankreich aufgezeigt und im speziellen auf die schwierigen Bedingungen hingewiesen, die diese in ihrer künstlerischen Arbeit zu bewältigen hatten, verursacht von dem komplexen Phänomen Exil und allen Konsequenzen eines längeren Aufenthaltes in einem fremden Land. Jene Theaterleute, die aus unterschiedlichen Gründen nicht zurückgekehrt sind, stellen für die Heimatländer in gewisser Weise einen Verlust dar und sind in vielen Fällen ein Gewinn für die Aufnahmeländer. Die Rückkehrer nahmen ihre in anderen Kulturen erworbenen Erfahrungen mit, aber sie mußten die harte Probe des „EntExilierens" („des-exilio", treffender, von Mario Benedetti geschaffener Neologismus) bestehen, die ebenso schmerzliche Etappe der sozialen und beruflichen Wiedereingliederung. Deutsch von Sybille Martin

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Osvaldo Obregón: Professor an der Universität Franche-Comté, Besançon. Promotion an der Universität Paris III, Sorbonne-Nouvelle. Hat Universitätstheater in Frankreich und in Chile geleitet. Publicationen: Théâtre et Histoire, Spezialausgabe der Zeitschrift Théâtre/Public (1992). Herausgeber der Anthologie Théâtre latino-américain contemporain, 1940-1990 (1998); Teatro latinoamericano. Un caleidoscopio cultural, 1930-1990. Perpignan 2000; Bibliographie: Théâtre latino-américain en France, 1958-1987. Rennes 2000; zahlreiche Aufsätze zum Theater. Im Druck ist: La diffusion et reception du théâtre latino-américain en France, 1958-1987.

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Lateinamerikanisches Theater im Exil in Spanien Wenn ich genau bestimmen wollte, wann die ersten Einwanderungswellen lateinamerikanischer Theaterleute auf die iberische Halbinsel einsetzten, muß ich Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre ansetzen, (als die Mehrzahl der Theaterprofis in unser Land kam), was zeitlich mit den blutigen Diktaturen in Chile und Argentinien sowie den nicht weniger harten in Uruguay oder Brasilien zusammenfällt. Spanien war ein Land, in dem nach Ende der grausamen Bürgerkriegserfahrung eine der wichtigsten kulturellen Exilbewegungen - neben der deutschen in der Nazizeit - der Geschichte des 20. Jahrhunderts stattfand. Viele der Auswanderer entschieden sich für das Exil in Lateinamerika. So wurden Länder wie Mexiko, Venezuela, Dominikanische Republik, Kuba, Argentinien, Uruguay und Chile zur zweiten Heimat für viele herausragende Intellektuelle, die erleben mußten, wie die Freiheit im eigenen Land immer stärker beschnitten wurde. Auf Grund dieser schrecklichen, traumatischen Erfahrung, die sich zudem über mehrere Jahre hinzog, überquerten Theaterautoren, Schauspieler, Bühnenbildner und Theaterdirektoren den Atlantik, und dank der Großzügigkeit ihrer Kollegen arbeiteten sie dort bald zusammen. Deshalb würde ich gern mit der Frage - die eher eine schmerzhafte Selbstkritik ist - beginnen, ob die große Zahl der aus lateinamerikanischen Diktaturen emigrierten Theaterleute in Spanien mit derselben Großzügigkeit und Herzlichkeit aufgenommen wurden. Aus meiner Sicht war dem nicht so, teils wegen der Vorurteile des Berufsstandes, der in der Ankunft von Ausländern immer das Gespenst der Konkurrenz sieht, und teils auch wegen des fehlenden Verständnisses für die künstlerische Eigenarten und vor allem für die Ausbildung der lateinamerikanischen Theaterkünstler. Ich glaube, Europa versteht das lateinamerikanische Theater nicht. Es wurde in archetypische Schemata und Klischees verpackt, in denen als Grundlage einer kreativen Motivation von Theaterkünstlern immer nur das folkloristische Moment oder das politische Pamphlet gesehen wird. So geschehen in einer dies verdeutlichenden Phase, die viel mit der romantisierten europäischen Vorstellung von Revolutionen wie die in Kuba oder Nicaragua zu tun hat, doch es ist auch heute noch so, daß in weiten Teilen des amerikanischen Kontinents Theater gemacht wird, das nicht im Entferntesten mit diesen Gemeinplätzen zu tun hat.

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Als die ersten Emigranten nach Spanien kamen, steckte das Theater unseres Landes zwischen zwei radikal entgegengesetzten Auffassungen: der des Kampfes um ein Theater im Dienste der Öffentlichkeit und der eines Theaters als Ware. Ersterer hingen die Mitglieder der unabhängigen Theaterbewegungen sowie ein paar linke Theaterkünstler an, die sich weigerten, die ideologischen Kriterien und die des Marktes anzuerkennen, die der spanische Neofaschismus den staatlichen und privaten Theatern auferlegte. Gewiß, die Franco-Zeit war Ende der 60er, Anfang der 70er nicht mehr so schrecklich wie früher, und die sogenannte „Entwicklungspolitik" und das Einsetzen des Massentourismus hatten darüber hinaus eine breite Bresche in die offizielle Doktrin des Regimes geschlagen. Unter diesen besonderen Umständen war es logisch, daß lateinamerikanische Emigranten, die in ihrem Heimatland aktiv Theater gemacht hatten, in Spanien schneller zu den Verfechtern des „Unabhängigen Theaters" Beziehungen knüpften. Zum einen aus ethischen und politischen Gründen, zum anderen aber auch, weil bestimmte ästhetische Strömungen jener Zeit (Kollektivtheater, Straßentheater, neue Formen des Theatertextes) auf beiden Seiten des Atlantiks populär waren. Ich habe auf der Suche nach einem Artikel oder einer Studie über das Thema lateinamerikanische Theaterkünstler im spanischen Exil Fachzeitschriften durchforscht und muß zu meiner Enttäuschung einräumen, daß ich nur Berichte über einzelne Autoren oder Vorstellungen gefunden habe, aber keine einzige Analyse, die einen Beitrag zu unserer damaligen und natürlich auch heutigen Theaterlandschaft liefern könnte. Deshalb ist es wirklich heikel, auf der Grundlage der gefühlsbestimmten Erinnerung eines Einzelnen über dieses Thema zu schreiben, da dies bestimmt ein zu subjektives Panorama entwerfen würde. Aus diesem Grund werde ich in meinem Aufsatz versuchen, nicht so sehr Namen oder Gruppen aufzulisten - das scheint doch eher die Aufgabe der Historiker zu sein -, sondern vielmehr die Einflüsse und Beiträge anzuführen, die lateinamerikanische Theateremigranten uns allen, die wir von Berufs wegen mit dem Theater beschäftigt sind, hinterlassen haben. Wenn ich zuvor erwähnte, daß Spanien über lange Zeit Lieferant von sowohl politischen als auch wirtschaftlichen Auswanderern war, verwandelte es sich von einem bestimmten Zeitpunkt an in einen Zufluchtsort, und zwar aus genau diesen beiden furchtbaren Gründen, aus denen ein Mensch seine Heimat verlassen muß, um zu überleben. Mit Francos Tod 1975, der fortschreitenden Konsolidierung der Demokratie und der wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten drei Jahr-

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zehnten des 20. Jahrhunderts wurde unser Land zu einer Anlaufstelle für alle diejenigen, die aus politischen Gründen (lateinamerikanische Emigranten) oder schlicht aus Gründen des wirtschaftlichen Überlebens (Migranten aus dem Magreb oder anderen afrikanischen Regionen) ihr Heimatland verlassen müssen. Für die vorliegende Darstellung muß ich mich auf den ersten Fall konzentrieren, dennoch sollten wir den Zustrom von Menschen aus der Karibik (Dominikanische Republik) oder Ländern wie Ecuador, Peru und Bolivien, die in den 90er Jahren auf der Suche nach Arbeit nach Spanien kamen, nicht vergessen. Unter ihnen finden sich Schauspieler, Autoren, Regisseure, Choreographen, Tänzer und andere Professionelle aus dem Bereich des Theaters. Abgesehen von ein paar kubanischen Künstlern, die sich Ausbildungszentren oder Alternativtheatern angeschlossen haben, ist ihr Einfluß auf die spanische Theaterszene noch gering, mit ihrer zunehmenden Integration werden wir aber in Zukunft auch mit einer zunehmenden und interessanten Vielfalt rechnen können. Dazu muß ich noch präzisieren, daß die wesentlichsten ethischen und ästhetischen Einflüsse auf die Entwicklung des spanischen Theaters während des Niedergangs der Franco-Diktatur, der Transición und der Demokratie, d.h. von den frühen 70ern an bis zum Ende der Diktaturen in Chile, Argentinien und Uruguay stattfanden. Ich muß darauf hinweisen, daß selbst die fortschrittlichste spanische Theaterbewegung in den 60er und 70er Jahren den Namen „Unabhängiges Theater" trägt, in Anlehnung an Argentinien, genauer gesagt Buenos Aires, wo unter genau demselben Namen eine ähnliche Bewegung entstanden ist. Immerhin tauchen von den 50er Jahren an in den Besetzungen der konservativen spanischen Theater ein paar lateinamerikanische Schauspieler und Schauspielerinnen auf, aber ihr Einfluß ist höchst marginal, weit entfernt von den möglichen kommerziellen Erfolgen dieser stattlichen Liebhaber und atemberaubenden Frauen. Es sind die Regisseure, Autoren und anderen Theaterkünstler, die der Bedrohung durch die argentinische A.A.A. (Apostolisch-Antikommunistische-Allianz) oder der chilenischen Geheimpolizei entfliehen und zunächst in Madrid und Barcelona, später auch in anderen spanischen Städten ein soziales und professionelles Netz weben und mit ihren Neuerungen das spanische Theater beeinflussen. Da wäre einmal eine entschiedene Bemühung um eine verbesserte Ausbildung, zum Beispiel in sogenannten „Studios". Das ist in Lateinamerika durchaus üblich, in Spanien hingegen war es noch wenig verbreitet, weil hier Pädagogik hauptsächlich an Konservatorien oder offizi-

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eilen Schauspielschulen gelehrt wurde. Die „Studios" entstanden an Orten, die vorher anderen Zwecken dienten, beispielsweise in Garagen, Werkstätten, Kellerwohnungen oder sogar Zimmern in umgebauten Wohnungen. So führte das lateinamerikanische Modell, das nicht zuletzt durch das New Yorker Theater beeinflußt ist, zum Entstehen einer Reihe von Theatergruppen mit eigener Ausdruckskraft, die ohne jeden Zweifel die Saat dafür gelegt haben, was wir heute in Spanien unter „Alternativtheater" verstehen, seinerseits wiederum Erbe der „Unabhängigen Theater" aus den 70er Jahren. Wenn ich heute ihre Entstehung, Fortdauer und Entwicklung untersuche, finde ich in den Ensembles zahlreiche lateinamerikanische Theaterkünstler. Die Gründer dieser Gruppen waren meistens selbst Lateinamerikaner und arbeiteten immer häufiger mit einheimischen Theaterleuten zusammen, bis sich landesweit ein richtiges Netz von Alternativtheatern etabliert hatte. Starken Einfluß nahm das Stanislawski-System, das sich durch Strenge in der Schauspielausbildung auszeichnet, aber auch andere ästhetische Strömungen, wie zum Beispiel das Kollektivtheater, das wiederum vom kolumbianischen Theater und besonders durch die wiederholten Gastspiele von Enrique Buenaventura und dem TEC aus Cali oder von Santiago Garcia mit LA CANDELARIA aus Bogotá angeregt wurde. Einige der Schauspieler blieben in Spanien und entwickelten die Gruppenmethodik weiter, bis diese sich in den 90er Jahren schließlich überlebt hatte. Andere Theorien der lateinamerikanischen Exilanten, die auf die spanischen Ensembles Einfluß ausübten, stammten aus Augusto Boals TEATRO DEL OPRIMIDO und aus verschiedenen anderen Formen des sogenannten Zeitungs-Theaters. Auch bestimmte lateinamerikanische Festivals hatten hierzulande ihre Auswirkungen; manche ihrer Regisseure oder engste Mitarbeiter kamen nach Spanien. Die Festivals von Calí, Manizales, Caracas hatten eine nahezu mythische Aura. Es gelang ihnen, ein Modell zu entwickeln, in dem die Beteiligung der Zuschauer ebenso wichtig war wie die der Künstler. Dieses Modell wurde nach und nach vom „Festival-Boutique" abgelöst, das sich seit Mitte der Neunziger Jahre immer mehr durchsetzte, wodurch es sich immer schwieriger gestaltete, Integrationsmodelle zu finden. Die verschiedenen Einflüsse der amerikanischen Dramatik lassen sich in den Aufführungen von Werken lateinamerikanischer Autoren im spanischen Exil herauslesen, zum Beispiel Jorge Díaz, Eduardo Pavlovski, Roma Mahieu, Susana Torres Molina, Pacho O'Donnell, Mauricio Rosencof, Norman Briski, José Triana und Diana Raznovich oder die

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Schauspieler und Regisseure Martin Ardjemian, David Amitin, um nur einige zu nennen, die mit diesen Modellen in ihrem Land gearbeitet haben. In einigen Fällen war Spanien nur eine Zwischenstation auf dem Weg ins Exil. Die Zahl der hier entstandenen Werke ist daher relativ gering geblieben. Den Gruppen und Ensembles, die sich in Spanien um Theaterkünstler aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern bildeten (GIT), gelang es darüber hinaus, ein so symbolträchtiges wie seriöses Theater wie die SALA OLIMPIA in Madrid zu eröffnen. Dennoch entfaltete sich dieses Modell eher in Barcelona, denn dort entstand eine große Kolonie von Exilanten aus Argentinien, Chile und Uruguay, und etablierte sich, wie oben erwähnt, in kleinen Theatern und Studios. Lateinamerikanische Kritiker und Fachleute wiederum nahmen mit ihren Theorien, die sie in den Fachzeitschriften jener Zeit ( P R I M E R ACTO, YORICK, PlPIRIJAINÄ) veröffentlichten, Einfluß auf Schauspieler, Autoren und Regisseure im Exil, die ihre Arbeit an unterschiedlichen Orten Spaniens weiterführten. Meiner Meinung nach ist die Bilanz einer Einflußnahme des lateinamerikanischen Exils auf die spanische Theaterlandschaft generell recht ambivalent, vor allem weil ich finde, daß der öffentliche Raum der iberoamerikanischen Theaterproduktion sehr viel größer, vitaler und bedeutender sein müßte, als er es im letzten Drittel des Jahrhunderts war. Bedenkt man die vielfältigen Ströme von emigrierten Theaterkünstlern, die sich durch den großen iberoamerikanischen Raum bewegt haben, und den Einfluß, den sie hätten nehmen können, sehe ich kein Verhältnis von Quantität und Qualität, und auch wenn es mich bekümmert, muß ich sagen, daß hier in Spanien das Ergebnis recht enttäuschend ist. Noch heute herrscht bewußt große Zurückhaltung, was die Normalisierung eines auf Zusammenarbeit und Austausch basierenden Theatermarktes angeht. Spanien hat lange Zeit nur nach Europa und auf die Vereinigten Staaten geschielt und dabei die naheliegenden, von lateinamerikanischen Theaterkünstlern gemachten Erfahrungen all zu oft übersehen. Es besteht kein Zweifel daran, daß die Exilanten zu dem Zeitpunkt, als man versuchte, neue Grundlagen und Verständigungsformen in der Theaterkunst zu schaffen, eine wichtig Rolle spielten. Aber wir Spanier müssen uns sagen, daß wir noch viele offene Rechnungen haben, die nur in absoluter Gleichberechtigung der Partner beglichen werden können und mit Respekt gegenüber Tendenzen, die stark von einem Produktionssystem bedingt sind, das wiederum von der wirtschaftlichen Realität in vielen lateinamerikanischen Ländern abhängt, die unglücklicherweise

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weiterhin das Stigma des wirtschaftlichen oder politischen Exils als unerwünschte Flagge ihrer bedauerlichen sozialen Situation ertragen müssen. Deutsch von Sybille Martin Guillermo Heras: (Madrid 1952) absolvierte die Hochschule für Dramatische Kunst und Tanz in Madrid; er war dort von 1974-1983 Schauspieler und Regisseur der Theatergruppe TÁBANO; von 1984-1994 leitete er das CENTRO NACIONAL DE NUEVAS TENDENCIAS ESCÉNICAS DEL INAEM (Kultus- und Erziehungsministerium). Zur Zeit ist er Direktor der MUESTRA DE TEATRO ESPAÑOL DE AUTORES CONTEMPORÁNEOS, verantwortlich für das Theater in LA CASA DE AMÉRICA, Professor für Schauspielkunst an der UNIVERSIDAD COMPLUTENSE in Madrid und an der Kunsthochschule in Cuyo (Mendoza). Gründungsmitglied der COMPAÑÍA TEATRO DEL ASTILLERO. Nationaler Theaterpreis 1994 und 1997. Publikationen: Escritos dispersos; Inútil faro de ¡a noche, Ojos de nácar, Muerte en Directo, Estación Sur y La Oscuridad. Trilogía de Ausencias. Mehrere unveröffentlichte Stücke.

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Roma Mahieu und die Entwurzelung im Exil 1976 wurde in Buenos Aires Roma Mahieus erstes Theaterstück Juegos a la hora de la siesta uraufgeführt, das ihr eine Reihe von Auszeichnungen einbrachte, unter anderen den Premio de la Crítica Argentina für das beste Stück und die beste Inszenierung, den Premio de la Sociedad Argentina de Autores für das beste Erstlingswerk und den Premio Molière, den die französische Botschaft für das beste Theaterstück des Jahres verleiht. Auch in Brasilien und Uruguay wurde das Stück mit Preisen geehrt. In Buenos Aires stand es zwei Jahre lang auf dem Spielplan, und während dieser ganzen Zeit erhielten sowohl das Theater, in dem das Stück gezeigt wurde, als auch die Autorin anonyme Drohungen. Im Januar 1978 wurde das Stück mit einer Verordnimg der Regierung verboten, weil es „subversive Techniken" zeige. Maria Lamuerte, das gerade uraufgeführt worden war, wurde ebenfalls verboten, weil dem Text „eine Haltung zugrunde liegt, die die Moral, die Familie, den Menschen und die Gesellschaft bedroht". (EL LITORAL, 10. Januar 1978) In der Absicht, das Leben der Bürger zu steuern und zu kontrollieren, bemühte sich die Diktatur des Proceso de Organización Nacional, die Familie als „moralische und unauflösliche Einheit gemeinsamer Freude" darzustellen. Diese Auflage zum normierten Glücklichsein nutzten die Autoren, indem sie die Formel der „vereinten Familie" umdrehten und damit Zeugnis vom Zorn, vom Schmerz und von der Ohnmacht ablegten, die das Land durch die Exzesse der Diktatur erlitt, und um zu zeigen, daß die Leitsprüche, die die „christlich westlichen Werte der heiligen Institutionen des Vaterlands" betonten, nur dazu dienten, Korruption und Zerfall des Regimes und die Verfolgung derjenigen, die zu opponieren wagten, zu vertuschen. Zu den Theaterautoren, die auf diese Weise das politische System des Proceso angriffen, gehörten Griselda Gambaro, Ricardo Monti, Aída Bortnik, Roberto Cossa, Eduardo Pavlovsky und andere.1 Diese Autoren publizierten, bis sie zensiert und verboten wurden oder, wie Roma Mahieu, ins Exil gingen. Juegos a la hora de la siesta wurde in anderen lateinamerikanischen Ländern aufgeführt. In Rio de Janeiro wurde es zwei Jahre lang in den 1

Siehe dazu Francine Masiello: „La Argentina durante el Proceso: las multiples resistencias de la cultura", in Ficción y política: la dictadura argentina durante el proceso militar. Buenos Aires, Madrid 1987.

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Favelas im Freien gespielt, wobei die Müllhalden als Kulisse dienten. In Übersetzungen wurde es in Frankreich, Italien, Polen, Russland und in Kanada gezeigt. 2 1984, sieben Jahre nach Verbot des Stücks und nach Ende der Diktatur, wurde es in Buenos Aires wieder aufgeführt. Seit 1978 lebt Roma Mahieu mit ihrem Mann Augustin Mahieu, einem bekannten Filmkritiker, zwei ihrer vier Kinder, drei Hunden und etlichen Katzen in Madrid. Mit dem Exil veränderte sich ihr Leben entscheidend. Für sie war Europa der Kontinent der Verfolgung, wo sie als Kind mit ihrer Familie die Schrecken der Naziherrschaft in ihrem Heimatland Polen miterlebt hatte. So war die Rückkehr nach Europa, diesmal als Flüchtling vor der argentinischen Diktatur, nicht nur traumatisch, sondern auch eine Ironie des Schicksals, denn Argentinien hatte in den fünfziger Jahren, als sie dorthin auswanderte, das Ende der Verfolgung und die Möglichkeit, angstfrei zu leben, bedeutet. Darum, sagt Mahieu, fühle sie sich wie eine „ewige Ausländerin", unabhängig davon, wo sie lebe. Darüber hinaus bedeutete Spanien nicht nur einen Kultursondern auch einen sprachlichen Schock. Obwohl es sich um dieselbe Sprache handelt, sind die Unterschiede zwischen dem „Porteño" von Buenos Aires und dem kastillischen Spanisch Madrids so einschneidend, daß sie sich genötigt sah, den Originaltexten Ergänzungen hinzuzufügen, damit sie der Sprache und den Gebräuchen der Spanier verständlich wurden. Ganz zu schweigen vom unterschiedlichen kulturellen Verständnis. So mußte sie in der Bearbeitung von Juegos a la hora de la siesta für das spanische Publikum nicht nur argentinische Wendungen ändern, sie wurde auch gebeten, detailierter den Hintergrund des Stücks zu erläutern, der einem lateinamerikanischen Publikum präsent, einem spanischen jedoch nicht unbedingt verständlich war. So kommt es, daß das Stück in seiner spanischen Fassung fast doppelt so lang ist wie das Original. Griselda Gambaro, die ebenfalls einige Jahre im Exil leben mußte, merkt an, daß für den Autor im Exil das Problem der „Bedingtheit des Textes", ausschlaggebend ist die Möglichkeit, aufgeführt zu werden, was die Präsenz eines Publikums einschließt, das beim Schreiben von Theaterstücken als unsichtbarer Zuschauer 2

Die englische Version in der Übersetzung von Sylvia Ehrlich Lip wurde in der CANADIAN THEATRE REVIEW abgedruckt. Ich bezweifle, d a ß es in den Vereinigten

Staaten aufgeführt worden ist. Einen Hinweis auf das Stück habe ich nur in dem Aufsatz von Jacqueline Bixlers: „Games and Reality on the Latin American Stage", in LATIN AMERICAN LITERARY REVIEW 12 (1989), S. 2 2 - 3 5 g e f u n d e n .

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fungiert, der den Autor begleitet. Dieses Publikum entsteht aus dem Kreis von Beziehungen, die den Autor mit der Gesellschaft verbindet. Im Exil ist es schwierig zu erfassen, wo sein Publikum ist. Obwohl der Zuschauer beim Entstehen des Textes unsichtbar bleibt, ist er doch ein nicht zu unterschätzender Faktor. (1989:33)

Gambaro fügt hinzu, daß der Autor darum „einen imaginären Raum schafft, der zugleich neue Dimensionen des Realen offenlegt, erfindet oder vorwegnimmt", (ibid.) Der Autor im Exil steht an einem Scheideweg. Für wen soll er schreiben, für das Publikum im Ursprungsland oder das des Aufnahmelandes? Wer ist der unsichtbare Zuschauer, den laut Gambaro jeder Autor im Auge hat? Bei dem Theatertreffen „España-América Latina", das 1980 in Madrid und Mérida stattfand, berichtete Mahieu von den Schwierigkeiten, den Kontakt zum Heimatland aufrechtzuerhalten, wenn man weit von ihm entfernt lebt. Unsere derzeitige Aufgabe ist es, die fragmentierte Erinnerung wieder zu finden und eine neue Perspektive zu kreieren, die nicht von der bereits verlorenen Alltäglichkeit genährt wird, sondern von der inneren Reflexion, die dazu verhilft, die Gründe unserer Existenz zwischen zwei Welten zu erfassen. (PIPIRIJAINA,17,1981:35)

Für Mahieu heißt das, ihre Stücke werden in ihrem Heimatland nicht mehr aufgeführt, zuerst weil sie verboten waren und später, weil die Autorin nicht mehr zur lokalen Theaterszene gehört. Und das Aufnahmeland betrachtet sie als Ausländerin. Bei dieser Distanz zu Argentinien und der Fremdheit im Aufnahmeland wundert es nicht, daß in nahezu allen ihren Stücken geisteskranke und verstoßene Figuren auftauchen, die vom mainstream der Gesellschaft vertrieben werden. Juegos a ¡a hora de la siesta handelt von einer Gruppe von Kindern im Alter von fünf bis acht Jahren, dargestellt von Erwachsenen, die beim Spielen in einem Park naiv Sprache, Vorurteile und Verhalten ihrer Eltern imitieren. Der achtjährige Andrés ist der Anführer und das Schlitzohr der Gruppe, dem die anderen Kinder entweder aus Angst, sich mit ihm anzulegen, oder aus Gleichgültigkeit oder Passivität gehorchen. In ihren Spielen inszenieren sie eine Hochzeit, einen Prozeß und eine Beerdigung. Die Gewalt ist offen und brutal. Das Stück endet damit, daß Susana angegriffen wird; weil sie sich weigerte, an den gewalttätigen Spielen teilzunehmen, muß sie sterben. Mahieu schrieb dieses Stück gegen den Peronismus, doch die Metapher dieser Erwachsene spielenden Kinder reflektiert sowohl die Schrek-

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ken der Repressionen der Diktatur gegenüber dem Volk als auch die Deformation, die Kinder durch die Erziehung in der heutigen Gesellschaft erleiden.3 Die Umgangssprache der Erwachsenen im Mund von angeblichen Kindern enthüllt die Entfremdung und Verfolgung der Opfer in ihrer ganzen Intensität. Deshalb könnte dieses Werk in den unterschiedlichsten Kulturen angesiedelt sein, und der Zuschauer kann nicht umhin, sich in den Charakteren wiederzufinden. Eine pathetische Figur in Juegos a la hora de la siesta ist Julito, geistig zurückgeblieben und zwanzig Jahre alt, ein ironischer Kontrast zu den anderen Kindern, zeigt er jene Mentalität und die Interessen, die Kinder im Alter von acht Jahren haben sollten. Julito will mit den Kindern und seinem Spatz im Vogelkäfig spielen. Er wird abgewiesen und mißhandelt, und Andrés zwingt einen seiner Anhänger, Julitos Spatzen den Hals umzudrehen, was die Ereignisse entfesselt, die in Susanas gewaltsamem Tod kulminieren. Mahieu bringt auch in ihren späteren Stücken Geisteskranke auf die Bühne, sei es als Protagonisten oder als Nebenrollen. Einige sind es aus erblichen Gründen, andere sind aus sozialen oder Umwelt bedingten Umständen bis zu einem gewissen Grad reduziert, oder eine Kombination aus beidem, und werden auf die Stufe von Parias gestellt. Sich entfremdetere Menschen lassen sich kaum vorstellen. Die erlittene Ausgrenzung ist nicht nur physisch, sondern auch psychisch, mit dem unvermeidlichen Ergebnis, daß sie vom „normalen" Teil der Bevölkerung ausgestoßen werden. Die Thematik der Stücke bezieht sich meistens auf die Familie und die Schwierigkeiten des Zusammenlebens und impliziert politische Konnotationen. Die poetische Sprache ist bezwingend und die Eindringlichkeit in der Ausdrucksform kreiert ein totales Theater, wie es Ataud in Le théâtre de la cruauté fordert und dessen Sprache es möglich macht, „die gewöhnlichen Grenzen der Kunst und des Wortes durch den Einsatz der menschlichen Anziehungskraft zu überschreiten".4 Mahieu gibt detaillierteste szenische Anweisungen, die Kostüme, die Musik und - als integrale Komponenten der Inszenierung - die Interaktion der Figuren damit einschließen. 3

Roma hat mir erzählt, daß ein Bekannter von ihr nach dem Theaterbesuch gesagt habe: „Ich wußte gar nicht, daß du ein Stück über Hitler geschrieben hast." Und kürzlich bei einer Aufführung in Italien bat der Regisseur sie um ihren Rat für die Inszenierung. Sie schlug vor, den Jungs Braunhemden anzuziehen. Der Regisseur protestierte, das sei Italiens Vergangenheit, jetzt habe man eine Demokratie.

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Le théâtre et son double, S. 143.

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Drei Stücke mit geistig Behinderten als Protagonisten sind Ring Side, Ópera nuestra de cada día und El dragón de fuego.5 In allen dreien werden diese schwachen Menschen als Opfer von Vorurteilen, Betrügereien und familiärer sowie gesellschaftlicher Grausamkeiten dargestellt. Ring Side findet in einem Boxring statt. Der Gorilla ist ein ausgedienter und aufgrund der vielen eingesteckten Hiebe geistig wie körperlich verbrauchter Boxer. In dem Kampf, dem er sich zu stellen gezwungen sieht, um ein paar Pesos zu verdienen, und den zu verlieren man von ihm erwartet, lehnt sich der Gorilla gegen seinen Trainer auf und versucht zu gewinnen, aber er kann sich nicht konzentrieren. Parallel dazu wird gezeigt, was dem Boxer durch den Kopf geht. Der Zuschauer sieht seine Mutter und seine Frau darum streiten, ihn zu beherrschen, sie behandeln ihn wie ein Stück Besitz, an den sie unerhörte Forderungen stellen. Ein gnädiger k.o.-Schlag seines Gegners macht seinem traurigen Leben ein Ende. José María, der junge Protagonist in Ópera nuestra de cada día ist ein geistig Behinderter, der von der Mutter eingesperrt wird. Sein Zimmer ist ein staubiger Abstellraum voller kaputter alter Möbel, Bündel, Kartons und jeder Menge Plastiktüten mit Altkleidern, ausgestopften Tieren oder ihren Fellen, die José María effektiv dazu benutzt, seiner Verzweiflung Ausdruck zu verleihen. Seine Geistesverwirrung verdankt er der exzessiven Manipulation und religiösen Indoktrination, der er von Kind an von seiner Mutter ausgesetzt ist, die ihn noch immer wie ein Baby behandelt. MUTTER

Kannst du dich daran erinnern, als du klein warst?

JOSÉ MARÍA

Nein.

MUTTER Komisch... Nein? Ich erinnere mich gut daran... mein Junge war immer ein Schmuckstück... der Stolz seiner Mutter... blond... dick... rosig... Er hat nie ein schlechtes Wort gesagt... immer so lieb... so brav... Ich verstehe nicht, was passiert ist... Erinnerst du dich an dein Samtjäckchen? (13)6

Die Zärtlichkeiten der Mutter wecken José Marías Sexualität, und er bedrängt die Mutter. Sie gibt ihm häufig nach und beteiligt sich an den Spielchen, die sich José María ausdenkt, viele davon zeigen die Mutter in erotischen Szenen mit offener Anspielung auf eine Ödipussituation. In einem luziden Moment wird José María die Situation klar und er will die 5

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Der Feuerdrachen, deutsch von Dieter Welke in Theaterstücke des lateinamerikanischen Exils, hrsg. von Heidrun Adler, Adrián Herr. Frankfurt/Main 2002, S. 227-285. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Manuskripte.

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Mutter dafür strafen, daß sie ihn in seiner Entwicklung behindert hat, aber zugleich ist er unfähig, zu handeln und sich zu rächen. Dasselbe geschieht mit den Gegenständen seines Zimmers. José María bittet seine Mutter, sie zu verschenken, um sich davon zu befreien, aber in Wirklichkeit ist er es, der sich nicht von ihnen lösen kann, denn sie sind sein Leben, das einzige, was er kennt, und er benutzt sie, um seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Er empfindet sich als Gefangener, dem es unmöglich ist zu handeln. In einem seiner Spiele ist er ein Siouxhäuptling, der eine weiße Frau fesselt - die Mutter, die begeistert mitspielt, ihr Verhalten hinterher aber bereut. José María findet ein Schwert, das er als Krükke benutzt, um damit einen Bettler zu mimen. Dann bedroht er die Mutter mit dem Schwert, aber schließlich sticht er sich selbst ein Auge aus. Der Vater will endlich aus ihm einen Mann machen und bringt ihm trotz der Eifersucht der Mutter - ein vierzehnjähriges geistig behindertes Mädchen, das von seiner Tante ins Kloster gesteckt worden war, nachdem der Onkel sie geschwängert hatte. In einem lichten Moment tötet José María das Mädchen aus Mitleid, um ihr ein Leben zu ersparen, in dem es mißbraucht und von der Mutter mißhandelt würde, wenn es im Hause bliebe, oder von den Nonnen, wenn man es ins Kloster zurückschickte. In El dragón de fuego ist der Protagonist ein von Geburt an geistig behinderter Junge, der bei seiner Schwester, einer Varieté-Tanzerin und Prostituierten, in ärmsten Verhältnissen in einem Kabuff in dem Nachtlokal lebt, in dem sie auftritt. Der Junge klammert sich an die Schwester und versucht, ihr gefällig zu sein, denn sie ist das einzige, was er hat, und er hat Angst davor, wieder in ein Heim gesteckt zu werden. Er weiß, daß er eine Last für sie ist, daß er anders ist als die anderen, und er versucht zu begreifen, was um ihn herum geschieht, versucht, sich selbst zu verstehen. In dem Bemühen, sich von seiner Situation abzulenken, redet er in Syllogismen: „Ich sage immer die Wahrheit, weil ich nicht lüge, und wenn ich nicht lüge, ist das die Wahrheit." (243) Oder in philosophischen Abstraktionen: „Ich und mein Körper sind hier, ich liege hier ausgestreckt auf dem Bett. Aber ich, Ángel, bin nicht hier, verstehst du? Wenn ich nicht hier bin, passiert mir auch nichts." (218) Es entsteht eine Theaterszene innerhalb des Theaters, wo Eva und Angel dem Publikum ihre Nummern vorstellen. Eva kämpft mit ihrem zärtlichen Gefühl und ihrem Mitleid mit dem Bruder und mit der Notwendigkeit, irgendwie weiterzumachen. Der Junge denkt sich die Geschichte vom Feuerdrachen aus, der stirbt, weil er sich zwingt, sein eigenes Feuer zu schlucken.

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Mahieu kleidet ihre Figuren in pathetische Bilder mit großem Mitgefühl und Scharfblick, als wolle sie in ihre Gehirne eindringen und begreifen, wie der Mechanismus ihrer Gedanken funktioniert. Sie greift die repressive Macht von Diktaturen, egal, wo sie stattfinden, in ihren Stücken nur indirekt an. Das Ende ist immer offen oder dem Zufall überlassen. In Maria Lamuerte, das 1978 zusammen mit fuegos a la hora de la siesta verboten wurde, wird die Repression von der Großmutter repräsentiert, die ihre Enkelin tyrannisiert.7 Als Maria, angestiftet von ihrem Geliebten, versucht, die Großmutter zu töten, hat sie nicht den Mut dazu, aber die Großmutter - obwohl blind (die Macht ist blind) - merkt, daß sie umgebracht werden soll, und verfolgt Maria mit dem Stock. Die Geschichte wiederholt sich wie zufällig mit einer jüngeren Großmutter, die am Ende in einem Teufelskreis, dem niemand entrinnen kann, wieder auftaucht. Es gibt keine Lösung, die Tyrannei wiederholt sich. Das Stück El Benshi, das wahrscheinlich in Argentinien geschrieben wurde8, handelt von einem Erzähler bei Stummfilmen in Japan. Was er berichtet, hat nichts mit der Handlung zu tun, die sich auf der Bühne als Film abspielt, nämlich eine Dreiecksgeschichte zwischen Mutter, Tochter und Stiefvater. Letzterer bestürmt die Stieftochter mit kühnen Anträgen, das weckt den Argwohn und die unkontrollierte Eifersucht der Mutter, die die Tochter züchtigt. Der Benshi kommentiert die Ereignisse, als ginge es um eine vollkommen harmonische Familie. Gleichzeitig spielt sich im Saal des Theaters ein anderes Drama ab (Theater im Theater, aber nicht auf der Bühne). Zwei in Zivil gekleidete Männer stürmen mit Maschinengewehren herein und bedrohen die Zuschauer. Sie holen einzelne Unschuldige heraus und bringen sie nach Mißhandlung wieder in den Saal zurück. Der Benshi merkt nicht, was im Saal geschieht. Das Publikum protestiert nicht und zieht es wie der Benshi vor, der Wirklichkeit zu entfliehen und sich mit der fiktiven Handlung auf der Bühne abzulenken, denn außer den Betroffenen wagt es niemand aus dem Publikum, sich gegen die Angriffe zu wehren. Bis am Ende eine Dame protestiert und ebenso behandelt wird wie die anderen. Das Stück zielt auf die Angst des normalen Bürgers ab, der vor der Wirklichkeit die Augen ver7

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Bei der Aufführung in Buenos Aires tauschte der Regisseur die Figur der Großmutter gegen einen Onkel aus, was das Stück völlig veränderte. Er tat dies ohne Einverständnis der Autorin. Mahieu datiert ihre Stücke nicht, was eine chronologische Ordnung schwierig gestaltet. Auch scheint sie die in Argentinien geschriebenen Originale nicht aufbewahrt zu haben. Sie hat nur die Bearbeitungen für Spanien aufgehoben.

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schließen will und es vorzieht, nicht zu sehen, was um ihn herum geschieht. In den von Mahieu geschriebenen Monologen zerfällt der Diskurs in Fragmente und zerlegt sich in mimetische Elemente (die auf der Bühne vorgetragen werden) sowie diegetische Elemente (die vom Hauptdarsteller erzählt werden, aber auf der Bühne nicht zu sehen sind). Die Regieanweisungen sind sehr präzise und suggestiv und fügen sich mit solcher Genauigkeit in die dramatische Handlung ein, daß sich auch der Leser die Szenerie genau vorstellen kann. Sie flicht auch musikalische Elemente ein, die sich in die Aufführung einpassen lassen. Die Nutzung des Raumes und der szenischen Mittel - Dekoration, Musik, Gestik usw. - machen die Szenen für uns sichtbar. In Rinàscerà beispielsweise erinnert sich Carmen, die verängstigte Mutter eines Verschwundenen, in unzusammenhängender Form und poetischer Sprache, an die Schicksalsschläge ihres Lebens und an den Schmerz über ihren Verlust. Die Protagonistin benutzt mimetische Mittel und einen langen Stoffstreifen, um ihrem Gemütszustand Ausdruck zu verleihen. In.der Diegesis redet Carmen mit der toten Mutter und erzählt ihr von ihrer Verzweiflung. Sie berichtet von ihren Abenteuern auf der Suche nach dem Sohn.9 CARMEN Ich werde nicht schweigen! Wenn sie mich zum Schweigen zwingen, wird das Schweigen für mich sprechen, für meinen Sohn, für alle, die nicht reden dürfen. Obwohl ich die Kehle aufgerissen habe und meine Augenhöhlen leer sind vor lauter Weinen, werden sie mich nicht um meine Würde oder meinen Stolz bringen. Den Stolz, Recht zu haben... obwohl ich weiß, daß es nicht reicht, Recht zu haben. Also, Mama, bitte deinen Gott, mir beizustehen, denn ich werde in die Welt der Geister gehen und die Dinge regeln... (10) [...] Morgen, wenn es hell wird [...], werde ich mich in der Luft abzeichnen, bis ich durchsichtig bin wie ein Sonnenstrahl, den man nicht sieht, aber dessen Wärme zu spüren ist, und nur ein Kind, ein Neugeborenes, wird ihn in seine Hände nehmen können. (36)

Carmen steigt in die Puppe, die sie aufgeblasen hat, und nimmt eine fötale Haltung ein, Metapher für ihre Wiedergeburt.

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Patrice Pavis schreibt in seinem Dictionaire du théâtre, daß sich „die Diegesis als etwas »Natürliches' darstellt, wenn alle Darstellungsweisen ausgeschöpft sind und die Bühne den Eindruck der totalen Illusion vermitteln will und nicht von verschiedenen Darstellungsweisen »produziert' wird." (1987:122)

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A fuego lento, geschrieben in Spanien, erhielt 1992 den zweiten Preis des jährlichen Wettbewerbs, den das T E A T R O O L I M P I A N U E V A S T E N DENCIAS DEL T E A T R O E S P A Ñ O L ausschreibt. Es ist das Gegenstück zu Rinascera. Der Einakter schildert die Selbstentfremdung eines Folterknechts und zeichnet mit diegetischen Mitteln und unter genialem Einsatz von Schaufensterpuppen die geistige Zerrüttung des Protagonisten Mario und seiner Karriere nach. Die Schaufensterpuppen stellen die Familie dar, die Mario nie hatte: Mutter, Frau und Tochter. Er wurde von der Mutter verlassen, die er nun auf den Straßen und in den Bordellen der Stadt sucht. Mario wechselt abrupt von Anfällen von Größenwahn zu exzessiver Erniedrigung und Selbstabscheu. Er betrachtet sich ständig im Spiegel, um sich kennenzulernen und sich zu vergewissern, daß er existiert, und zur Verdrängung der Feststellung, daß er von niemandem geliebt wird..., und es niemanden gibt, der diese schmerzliche Tatsache mildern könnte, daß er immer allein sein wird, daß er sich einfach zum Sterben auf eine Bank legen könnte, daß dies jedoch auch nichts ändern würde. (45)

Der außergewöhnlich intelligente Mario berichtet über das schäbige Leben, das er führte, und wie sich das Erlebte auf seinen geistigen Zustand auswirkt. Er konstatiert seine Macht über die, die er foltert, aber widersteht nicht dem mörderischen Impuls, sie umzubringen. Das Stück ist eine eindringliche Anklage der monströsen Bedingungen und ihrer Auswirkungen für die hoffnungslosen Fälle, Opfer der Gesellschaft, die sich nicht wehren können, auch nicht gegen die Täter, die wiederum durch ihre eigenen Taten zu Opfern werden.10 Percusión ist eines der wenigen Stücke, dessen Aufführung im Freien, nahe einer Müllhalde stattfinden muß. Eine heterogene Gruppe von Menschen lebt in großen Mülltonnen, die zu einer Pyramide aufgetürmt sind. Trotz der Unterschiede, was das Alter und die soziale Herkunft angeht, leben sie friedlich zusammen. Diese ausgegrenzten Menschen bilden einen gesellschaftlichen Mikrokosmos. Um zu überleben, bestechen sie die Polizei und üben Selbstjustiz an einem Dieb. Die Figuren sind „die Königin", eine ehemalige Opernsängerin, „der Opa", ein geistig behinderter Invalide, „der Einäugige", ein Exmilitär, der außer einäugig auch stumm ist und sich durch Schläge gegen die Mülltonnen mit10

Roma sagte mir, daß sie ausgiebig das Werk Bruno Bettelheims studiert habe, u m das Denken von Henkern zu begreifen.

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teilt. „El C h i m a n g o " ist der Anführer der Gruppe, und „Querubim" der effiziente Organisator. Jede Figur erfüllt die ihr zugeteilte Rolle. Das Stück ist perfekt inszeniert wie eine Symphonie. Mahieus letztes Stück heißt Sida bebé und handelt von einem Baby, das von seinen Eltern verlassen in einem Krankenhauszimmer an verschiedene Apparaturen angeschlossen ist und von einer despotischen Krankenschwester betreut wird, der seine Schmerzen gleichgültig sind. Eine Straßenkatze schleicht sich in das Zimmer, und zwischen den beiden entwickelt sich eine liebevolle Freundschaft. Die Katze stillt ihren Hunger mit d e m Babyfläschchen, und das Baby lernt durch die Katze die Außenwelt kennen. Die Ausgrenzung beider führt sie zur Entdeckung einer rührenden Welt. Die Ironie besteht darin, daß das Tier mehr Mitleid mit d e m kranken Baby empfindet als die Menschen, die es umgeben. Deutsch von Sybille Martin

Literatur Arancibia, Juana A.; Mirkin, Zulema (Hrsg.): Teatro argentino durante el Proceso. Ensayos Críticos, 1976-1983. Buenos Aires 1992. Artaud, Antonin: Le théâtre et son double. Paris 1964. Bixler, Jacqueline: „Games and Reality on the Latin American Stage", in LATIN AMERICAN LITERARY REVIEW 12 (Spring-Summer 1989), S. 22-35. Gambaro, Griselda: „Los rostros del exilio", in ALBA DE AMÉRICA 7, 12-13 (1989), S. 419-427. Leaming, Barbara: „The Filmmaker as Voyeur", zitiert von Lawrence Weschier in „Artists in Exile", in THE NEW YORKER, 5.12.1994. Mahieu, Roma: Juegos a la hora de la siesta. Buenos Aires 1976; La gallina ciega. Madrid 1980;El Benshi; El diario de Odalinda Correa. Buenos Aires 1984; El dragón de fuego. 1988; A fuego lento; María Lamuerte; Ópera nuestra de cada día; Percusión; Pilar 6, Casilla 49 Bis; Ring Side; Rinàscerà; Sida Bebe. Masiello, Francine: „La Argentina durante el Proceso: las múltiples resistencias de la cultura", in Ficción y política: la dictadura argentina durante el proceso militar. Buenos Aires, Madrid 1987. Pavis, Patrice: Diccionaire du théâtre. Paris 1987. Sarlo, Beatriz: „Política, ideología y figuración literaria", in Ficción y política: la dictadura argentina durante el proceso militar. Buenos Aires, Madrid 1987, S. 30-59. Nora Eidelberg: Professor emeritus. Publikationen: Voces en escena. Antología de dramaturgos latinoamericanas. Medellín 1991, hrsg. mit María Mercedes Jaramillo; zahlreiche Aufsätze zum lateinamerikanischen Theater, u. a. „Susana Torres Molina: destacada teatrista argentina", in ALBA DE AMÉRICA (1989).

Osvaldo Pellettieri

Argentinier im Exil Das Urteil der Verbannung, die Ausweisung aus einem Land, ist seit Beginn der Geschichte gegen Individuen ausgesprochen worden, die man in erster Linie aus politischen oder religiösen Gründen als Feinde ansah. Margarita Xirgü, die große spanische Schauspielerin, die während des Spanischen Bürgerkriegs nach Montevideo ins Exil ging, soll gesagt haben: „Die Griechen sind weise, sie foltern dich nicht, sperren dich nicht ein, töten dich nicht, sie werfen dich raus." Angefangen bei Aristoteles haben die Gelehrten in langer Reihe aufgezeigt, wie seit Anbeginn der dramatischen Literatur der Topos Exil von Autoren verschiedenster Herkunft und unterschiedlicher historischer Momente benutzt worden ist.1 Und das konnte auch gar nicht anders sein, denn der dramatische Text steht in einer sehr engen Beziehung zu den gesellschaftlichen Phänomenen, von denen er ein umfassendes und erhellendes Bild darzustellen versucht - was ihm auch manchmal gelingt. Setzen wir in diesen Zusammenhang Croces Behauptung, alle Geschichte sei zeitgenössisch und die Ereignisse der Vergangenheit, die uns nicht interessieren, würden zur „Nicht-Geschichte" und somit sehr schwer auf dem heutigen Theater darstellbar, begreifen wir die außerordentliche Bedeutung des Exil Themas. In Argentinien beschäftigte sich das Theater von Anbeginn mit historischen Themen. Das war unter anderem eine Form, die Nationalität zu konsolidieren. Sehr früh schon spalteten unausgleichbare Gegensätze die argentinische Gesellschaft, und immer wieder mußten Intellektuelle und Künstler aus den verschiedensten, in erster Linie aber politischen Gründen das Land verlassen.2 1

„Die Geschichte ist wie das Drama und wie der Roman eine Tochter der Mythologie. Das ist eine besondere Form des Verstehens, bei dem [...] die Linie, die das Reale vom Imaginären trennt, nicht gezogen wurde. Es heißt, z u m Beispiel, von der Ilias, daß der, der sie wie einen historischen Bericht liest, die Fiktion finden wird und daß der, der sie wie eine Legende liest, darin die Geschichte entdeckt." (Toynbee 1951: 253)

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Unser Nationalheld, José de San Martin, starb 1850 im Exil in Frankreich, nachdem er den Kampf gegen die spanische Kolonialmacht gewonnen hatte, der zur Befreiung Argentiniens, Chiles und Perus führte (und ihm den Beinamen „Beschützer" einbrachte).

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Osvaldo Pellettieri

Wohl der erste Theatertext, der sich mit diesem Thema befaßt, ist El gigante Amapolas von Juan Bautista Alberdi, geschrieben 1841 in Montevideo. Er beschäftigt sich mit dem Kampf zwischen Unitarios und Federales.3 Unter der Regierung von Juan Manuel de Rosas (1829-1852) mußten Domingo F. Sarmiento, Esteban Echeverría, José Marmol und viele andere ins Exil; Alberdi ging 1838 nach Montevideo. Spontan... aus persönlichen Gründen, weil ich die Tyrannei haßte [...] Weder über die Person noch über die Administration von Rosas können wir uns beschweren, persönliche Beschimpfungen hat es niemals gegeben. (Parcero, Helfgot, Dulce 1985:15)

Dennoch ist es schwer zu glauben, dieses Exil, das über vierzig Jahre dauerte, sei nicht von konkreten Maßnahmen des Regimes von Rosas und seinen Nachfolgern provoziert worden. In El gigante Amapolas präsentiert der Autor mit Mitteln der satirischen Parodie eine Allegorie, in der die Militärs gegen den die Waffen erheben, der die höchste öffentliche Macht anstrebte, nämlich Juan Manuel Rosas. Den Gedanken entsprechend, die Victor Hugo in seinem Vorwort zu Cromwell formuliert, sagt Alberdi, für das Theater sei die höchste Aufgabe politisch, wie die der Tagespresse [...] Das Theater ist der einzige Ort, wo die Kunst direkt unter uns lebt; die Literatur der ganzen Epoche neigt dazu, in die Form des Dialogs zurückzufallen, sich in Drama zu verwandeln. (Canal Feijóo 1955: 245)

In seiner Vorstellung ist das Theater das geeignete Werkzeug, um dem Publikum zu helfen, die Wahrheit der Ereignisse zu erkennen, „vielleicht lernt es, wenn man sie ihm zeigt, die unheimliche Macht der Unterdrükkung zu verachten." (ibid. 248) Bemerkenswert ist, daß der einzige herausragende Autor, der Rosas in seinen Diensten hatte, Pedro de Angelis war, ein Italiener, der aus politischen Gründen im Exil in Argentinien lebte.4 3

Politische Parteien, die sich nach der Unabhängigkeit Argentiniens etablierten: die Unitarios befürworteten eine Zentralregierung in Buenos Aires, die Argentinien als liberalen Einheitsstaat organisieren und das Land in das freie Weltwirschaftssystem eingliedern sollte. Die Federales vertraten die Interessen der argentinischen Provinzen. Juan Manuel de Rosa gehörte den Federales an. (Anm. d. U.)

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Rosas starb 1877 im Exil, nachdem er in der Schlacht von Caseros 1852 ?on den Truppen General Justo de Urquizas geschlagen worden war. Seine Überreste

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Während der ersten und zweiten Präsidentschaft von Juan Domingo Perón (1946-1955) wiederholte sich die Geschichte: viele Argentinier mußten den Weg in die Verbannung gehen, weil sie offen gegen das Regime waren. In dieser Zeit bestand die Repression vor allem darin, den Künstler seiner Arbeitsmöglichkeit zu berauben, indem man ihn auf die sogenannten „schwarzen Listen" setzte. Perón und auch viele seiner Anhänger mußten, nachdem er 1955 von den Militärs gestürzt worden war, ihrerseits ins Exil gehen; Perón für achtzehn Jahre. Mit dem sogenannten „Prozess der Nationalen Reorganisation", der sich von 1976 bis 1983 hinzog, trieb die Militärjunta diese Praxis auf die Spitze. Vom Militärputsch am 26. März 1976 an entstand auf intellektuellem und künstlerischem Gebiet eine Diaspora; vorangegangen waren die Verfolgungen durch die als „Triple A " (Apostolische-Antikommunistische-Allianz) bekannte Organisation unter dem Regime von Isabel Martínez. Von den vielen Theaterleuten, die das Land verlassen mußten, hier nur einige Namen: Norma Alejandro, Juan Carlos Gené, Eduardo Pavlovsky, Alberto Adellach, Luis Politti, Héctor Alterio, Susana Torres Molina, Luis Brandoni, Norman Briski, Roma Mahieu und Griselda Gambaro. Fast alle kamen zurück, als 1983 die Demokratie wieder hergestellt wurde und arbeiteten weiter; einige, wie Politti5, starben im Ausland und andere, wie Alterio, blieben in Europa. In einer Reportage, die man kürzlich über ihn machte, erklärte er, daß seine ersten Monate im Exil „sehr schwer waren, da alles so ungewiß war. Ich mußte ganz von Null wieder anfangen". (Barón, del Carril, Gómez 1995: 398) Im Allgemeinen versuchten die Künstler weiterzuarbeiten und entwickelten eine große kreative Aktivität, wenn sie geeignete Umstände dafür fanden. Alle (angefangen bei Alberdi bis in die Gegenwart) nutzten die Werkzeuge, die ihnen zur Verfügung standen, sei es die Literatur, die Musik oder das Theater, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Ein Beispiel ist Juan Carlos Gené: Nachdem er massiv unter Druck gesetzt worden war und schließlich das Verbot erhielt, ein Fernsehprogramm, an dem er arbeitete, weiterzuführen, ging er zunächst nach Kolumbien, später nach Venezuela, wo er als Schauspieler arbeitete und dann die Truppe GRUPO ACTORAL 80 gründete. Mit dieser Truppe aus Schauspielern verschiedenster lateinamerikanischer Nationen erarbeitete

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wurden erst unter Carlos Menem, d.h. über 100 Jahre später, in die Heimat überführt. „Auch Politti starb im Exil. Am Exil, an Traurigkeit. Er soll eine Embolie bekommen haben... alles Unsinn."(Briski in Parcero, Helfgot, Dulce 1985: 21)

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er über dreißig Inszenierungen (von einigen Texten ist er darüber hinaus der Autor), in denen er das Thema Exil unter den unterschiedlichen Aspekten behandelt. 1985 zeigte er in Buenos Aires Memorial del cordero asesinado „eine unmißverständliche Metapher des Exils und der Theaterarbeit außerhalb der Heimat" (Aisemberg, Rodríguez 2000: 3). Obwohl Gené 1993 nach Argentinien zurückkehrte, benutzte er weiter das ,tu' (anstelle des in unserem Land üblichen ,vos'), vielleicht als Tribut an das Land, das ihn nach seiner Verbannung aufnahm.6 In seiner Antrittsrede als I n t e n d a n t d e s TEATRO MUNICIPAL GENERAL SAN MARTÍN a m 7. D e -

zember 1994 sagte er:

...indem ich hier nun mehr als vierzig Jahre Bühnenerfahrung einbringe, von denen ich achtzehn Jahre im Ausland verbracht habe, zuerst in einem mir aufgezwungenen Exil und später wegen der ausgedehnten Folgen dieser Umstände. Das Leben im Exil macht aus einem einen anderen als den, der einst die erzwungene Reise antrat. Ich habe, unter vielen Dingen, die jetzt nicht hierher gehören, eines erfaßt, das ist die lateinamerikanische Neigung zur Integration.7

Von Eduardo Pavlovsky, der 1978 ins Exil gehen mußte, über Montevideo und Brasilien schließlich nach Spanien (wohin viele lateinamerikanische Theaterleute gegangen waren), nennen wir das Stück Camaralenta, das er in Buenos Aires zu schreiben begonnen hatte und im Exil fertigstellte. Der Autors selbst sagt, das Stück sei eine „Metapher des zerstörten, geschlagenen Volkes, manifestiert im physischen Verfall von Dagomar". (Pavlovsky 1994: 90) Es ist seine Art, eine vernichtende Erfahrung ästhetisch umzusetzen. Für Norman Briski geht der Weg der Verbannung über Peru, Venezuela, Mexiko, England, Spanien und schließlich, 1980, in die Vereinigten Staaten. Auf die Frage, warum er so viel herumgereist ist, antwortete er: Ich konnte nirgendwo bleiben. Ein Exilierter ist jemand, der immer hofft zurückzukehren, und wenn man sich in einem Land niederläßt, ist es so, als schicke man sich drein, nicht wieder zurück zu können. Ich habe immer gearbeitet, aber eigentlich habe ich nur die Zeit herum gebracht, bis ich nach Hause konnte... Wer wartet, der verzweifelt, und ich verzweifelte. (AHORA 17.12.1984) 6

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Gene hat in Venezuela seine jetzige Frau, die Autorin, Regisseurin und Schauspielerin Verönica Oddö, kennengelernt, die ihre Heimat, Chile, während des Regimes von Pinochet verlassen mußte. Gene: „Die Bühne ist unser gemeinsames Land, unsere Heimat." Eine Kopie dieser Rede von Gene ist in unserem Besitz.

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1985 kam er zurück und zeigte im folgenden Jahr El astronauta „eine deutliche Metapher des Exils und seiner U m k e h r , der Rückkehr" (Aisenberg, Rodríguez 2000: 2)» Es gibt andere Fälle, in denen wirtschaftliche Motive z u m Verlassen des Landes geführt haben, die Notwendigkeit aus einer erstickenden Situation z u fliehen, u m anderswo den Wohlstand zu suchen, den das eigene Land nicht gewährt. In dieser Variante präsentiert das argentinische Theater eine lange Reihe von Namen, vor allem mit Texten aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts; das Volkstheater, v o r allem das saínete, ist reich an Beispielen. Allerdings handelt es sich hier nicht u m Argentinier, sondern u m Spanier, Italiener, Araber etc., die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen nach Argentinien gekommen waren. Ein herausragender argentinischer Regisseur, der aus politischen Motiven ins Ausland ging, ist Jorge Lavelli, der aber immer wieder kam, u m an Theater und Oper Regie zu führen. Lavelli ging 1961 mit einem Stipendium des FONDO NACIONAL DE LAS ARTES nach Paris. Die Tatsache, daß er aus eigener Entscheidung und nicht durch die Umstände erzwungen fortging, ließ ihn seine Erfahrungen grundsätzlich anders bewerten; das Exil wird von ihm nicht als Alptraum erlebt: Ich vollzog eine sehr interessante kulturelle Eingliederung in Frankreich. Das war der einzige Weg, um nicht nur die Möglichkeiten, die sich mir boten, zu nutzen, sondern auch kulturell in einem anderen Land zu leben. Dennoch behielt ich immer eine gewisse Dualität, da ich eine sehr starke emotionale Bindung zu Argentinien habe... (Barón, del Carril, Gómez 1995:177) 1972 verließ ein anderer Regisseur das Klima der Unterdrückung, das damals in Buenos Aires herrschte 9 , Alfredo Arias, und ging ebenfalls 8

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In einem Interview (Parcero, Helfgot, Dulce) berichtet Briski auf bewegende Weise von den Erfahrungen des Exils: „Da ist der Verlust. Den Verlust erleidet man. Verdammt, wie man leidet. Ich werde jetzt nicht losheulen, aber... Das einzige, was ich wirklich weiß, ist, daß ich etwas gewonnen habe. Sofort die andere Seite sehen, denn wenn du nicht stirbst und sagst, zehn Jahre meines Lebens habe ich verloren... [...] Ich war verzweifelt, einmal hat man mich vier Tage in die Klinik gesteckt... Noch etwas, das im Exil passiert, das ist die Trennung... Was die Familie angeht, wird alles vollkommen dunkel." (20-21) 1966 wurde die konstitutionelle Regierung von Dr. Humberto Illia abgesetzt, und die Macht gelangte durch einen Staatsstreich,,Argentinische Revolution' genannt, wieder in die Hände der Militärs. Unter der Präsidentschaft von General Juan Carlos Ongania war eine der ersten Maßnahmen am 28. Juni 1966 die Besetzung der Universität von Buenos Aires, eine Episode, die als „Nacht der langen Stöcke"

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nach Paris, wo er heute eine bedeutende Rolle auf dem Gebiet des Theaters spielt. Die französische Regierung verlieh ihm 1986 den Orden Chevalier des Arts et Lettres als Anerkennung für seine künstlerische Arbeit. 1 9 8 7 k a m e r als L e i t e r d e s CENTRE DRAMATIQUE NATIONAL v o n A u b e r -

villiers mit der Inszenierung von Das Spiel von Liebe und Zufall von Marivaux nach Argentinien; 1991 inszenierte er mit argentinischen Schauspielern Familia de artistas, das bei seiner Uraufführung in Paris ein grosser Erfolg gewesen war; 1994 zeigte er in Buenos Aires Mortadela das 1992 ebenfalls ein Erfolg in Paris war und ihm den Prix Molière einbrachte; 1995 zeigte er Nini und 1998 konnte das Publikum von Buenos Aires seine Version von La mujer sentada von Copi sehen.10 Und auch Copi, dessen richtiger Name Raül Damont Botana ist, ging nach Paris, er war damals 22 Jahre alt. Die Bildergeschichte La mujer sentada, die im NOUVEL OBSERVATEUR erschien, war Ausgangspunkt für

das Stück, das 1984 von Alfredo Arias inszeniert mit Marilù Marini uraufgeführt wurde. Copi formuliert seine Situation als Heimatloser mit den Worten: „Ich bin kein französischer Intellektueller, ich glaube, ich bin ein Außenseiter hier und in Buenos Aires." (nachgedruckt in CLARIN 15. 12. 1987 in der Meldung von seinem Tod.) Sein Werk wurde verspätet in Buenos Aires bekannt. Mehrere Jahre vergingen nach der Wiederherstellung der Demokratie, bis 1991 als erstes La noche de la rata aufgeführt w u r d e " , es folgten Una visita importuna, La piràmide, Las putas, Las

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generalas.

Als 1981 TEATRO ABIERTO als Protestakt gegen das Militärregime entstand, nahm Roberto Cossa das Exil Thema wieder auf und zeigte Gris de ausencia.12 Hier ist der Heimatlose nicht wie in anderen Stücken Cossas der Ausländer, der vor der Armut in seiner Heimat nach Argentinien geflohen war; die Geschichte hat sich vielmehr umgekehrt, es ist

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bekannt wurde und den Rücktritt mehrerer erstklassiger Professoren zur Folge hatte, was zu einem merklichen Absinken des Erziehungsniveaus führte. Damals traf es sich, daß die in Frankreich lebenden argentinischen Regisseure, Alfredo Arias und Jorge Lavelli, die beiden wichtigsten Säle des TEATRO MUNICIPAL SAN MARTiN belegten. Arias die Bühne von Casacuberta mit dem genannten Stück und Lavelli den Saal Martin Coronado mit seiner Inszenierung von Pirandellos Stück Sechs Figuren suchen einen Autor. Mit dem Titel La nuit de Madame Lucienne wurde das Stück 1985 in der Inszenierung von Jorge Lavelli auf dem Festival von Avignon uraufgeführt. „In grauer Ferne", deutsch von Almuth Fricke, in Theaterstücke des lateinanerikanischen Exils. (Adler, Herr 2002), S. 79-92.

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der Argentinier, der sein Land verlassen hat und nach Italien gegangen ist. Das Stück zeigt ein besonderes Problem des Exils: die fremde Sprache. Die Unfähigkeit korrekt zu kommunizieren, hat tiefgreifende Folgen, sie macht den Emigranten zum Entwurzelten, dessen Bindungen in bedrohlicher Weise verkümmern. Diese Stücke gehen von der Entfremdung des Individuums und der Familiengruppe aus, die durch den Verlust der eigenen Sprache unfähig sind, sich an das fremde Medium anzupassen. [...] Sie sind Wesen in einem,Niemandsland' und artikulieren sich in einem Kauderwelsch, das sie von einander und von ihrer Umgebung isoliert... (Giella 1992:127)

1993 führten Roberto Cossa und Mauricio Kartun Lejos de aqui auf. Anfangs hatte Cossa sich das Stück als Fortsetzung oder „Verlängerimg" von Gris de ausencia vorgestellt, aber im Verlauf der Arbeit und im Gedankenaustausch mit Kartun entstand dessen Mitautorschaft und das Stück nahm seinen eigenen Weg. Die Handlung spielt in Madrid, und eine der Figuren aus Buenos Aires träumt siebzehn Jahre voller Heimweh davon, nach Hause zurückzukehren. Luis Brandoni spielte diese Rolle.'3 ...es gibt andere Bedürfnisse, die nichts mit dem Lebensunterhalt zu tun haben, sondern mit einer Vorstellung, daß es woanders besser sein wird, anders. [...] Man weiß nicht, was man zurück lassen soll. Nelly Fernández Tiscornia sagt weise, es gibt Dinge, die man nicht in einen Koffer packen kann'. (CLARIN 6. 9. 1993)14

Vor kurzem hat Griselda Gambaro15 Es necesario entender un poco uraufgeführt. Der Protagonist des Stückes ist ein Chinese, der von einem Jesuiten 1722 nach Frankreich gebracht wurde, gedrängt von der Notwendigkeit, eine Kultur kennenzulernen, die er der seinen überlegen erachtet. Zu den Problemen, die ihm aus der Unkenntnis der Sprache er13

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Luis Brandoni und seine Frau, die Schauspielerin Martha Bianchi, die ebenfalls in dem Stück mitspielte, gehören zu denen, die das Land verlassen mußten, weil sie „de facto" unter dem letzten Militärregime mit dem Tode bedroht wurden. Beide lebten im Exil in Mexiko. Der Schauspieler zitiert hier einen Satz aus dem Stück Made in Lanus von Nelly Fernández Tiscornia, in dem er eine der Hauptrollen spielte. Griselda Gambaro lebte mit ihrem Mann, dem Bildhauer Juan Carlos Distéfano, und ihren Kindern im Exil in Barcelona.

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wachsen, was sich in der Unmöglichkeit manifestiert, irgend eine Kommunikation herzustellen, kommen das Leid, das aus der Marginalisierung erwächst, die physischen und moralischen Demütigungen hinzu, denen er als,anderer' ausgesetzt ist, wegen seiner Rasse und weil er aus einem Land kommt, das keiner kennt. Obwohl die Raum-Zeit Koordinaten das Stück an einen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich fernen Ort versetzt, wird deutlich, daß Gambaro uns von hier und heute erzählt.'« Einen anderen Aspekt des Exils zeigt Made in Lanus, das Nelly Fernández Tricornia 1986 uraufführte, mit erstaunlichem Publikumserfolg, der sicher zum Teil darauf zurückzuführen ist, daß sie eine Polemik auf die Bühne brachte, die mit der Rückkehr der Exilanten in der Gesellschaft entstanden war. Das Stück erzählt von zwei Ehepaaren, das eine war in die USA fortgegangen, das andere hatte die Zeit des Militärregimes in Buenos Aires durchlebt. Der Konflikt entsteht aus dem Gegensatz zwischen dem Wohlstand derer, die gegangen sind, und dem bescheidenen Leben der Daheimgebliebenen. Ich sehe noch einen anderen Irrtum, den so viele Fortgegangene wie Daheimgebliebene begehen, sie wollen sich den Platz des Richters anmaßen und die anderen beurteilen. Ich denke, es gab solche, die blieben und sich ihrer Unterwürfigkeit unter das abscheuliche Regime rühmen, und andere, die mit großer Würde geblieben sind und schwiegen. [...] Und unter denen, die gegangen sind, gibt es ebenfalls die einen wie die anderen. Für einige war das Exil sehr erfolgreich und niederschmetternd für die anderen... (Blas Matamoro in Parcero, Helfgot, Dulce 1985:101)

Wenn es nicht leicht war zu gehen, so war es auch nicht leicht zurückzukehren. Denn der, der zurückkommt, ist nicht mehr derselbe. Im besten Fall kommt er bereichert zurück, hat andere Formen zu denken, zu leben, sich zu binden kennen- und verstehen gelernt, ist mit anderen kulturellen Formen in Kontakt gekommen, die ihm Lebensweisen nahebrachten, die ihre Spuren bei ihm hinterlassen haben. Aber auch das Land ist nicht mehr dasselbe. Weder Individuen noch Gesellschaften können unbeschadet aus derart traumatischen Erfahrungen hervorgehen. Die Narben bleiben. Bei beiden. Mario Benedetti, der uruguayische Schriftsteller, der sich ebenfalls gezwungen sah, sein Land zu verlassen, 16

MUTTER Und die Steuern sind höher. Und die Menschen sind sehr seltsam geworden. Der Kaiser zerquetscht ihnen die Köpfe, und sie küssen den Boden, auf dem er geht.

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hat ein W o r t benutzt, u m jene Gefühle z u beschreiben, die die Rückkehr provoziert: ent-exiliert, sich e n t w u r z e l t u n d f r e m d fühlen im eigenen Land. Wir m ü s s e n aber d a r a u f hinweisen, d a ß unter d e n Theaterleuten keine so einschneidende Trennung entstanden ist, wie sie v o n anderen Intellektuellen beschrieben wird 1 7 - vielleicht w e g e n dieser zwanghaften Notwendigkeit, etwas z u tun, die d a s argentinische Theater charakterisiert. Generell haben alle sofort mit großer Energie die Arbeit wieder a u f g e n o m m e n , Schulen eröffnet, geprobt, ihre Texte, ihre Schauspielarbeit auf jene Bühnen zurückgebracht, die sie nicht hatten verlassen wollen. Deutsch von Herbert Araüz Literatur Aisemberg, Alicia; Rodríguez, Martín: „El teatro argentino en el exilio (1976-1983)", in Historia del Teatro Argentino en Buenos Aires, hrsg. von Osvaldo Pellettieri. Band 5, in Druck. Barón, Ana; Del Carril, Mario; Gómez, Albino: Por qué se fueron. Buenos Aires 1995. Canal Feijóo, Bernardo: Constitución y Revolución. Buenos Aires 1955. Gambaro, Griselda: „Es necesario entender un poco", in Teatro 6. Buenos Aires 1996. Giella, Miguel Angel: „Inmigración y exilio: el limbo del lenguaje", in Teatro y Teatristas, hrsg. von Osvaldo Pellettieri. Buenos Aires 1992, S. 119-128. Parcero, Daniel; Helfgot, Marcelo; Dulce, Diego: La Argentina exiliada. Buenos Aires 1985. Pavlovsky, Eduardo: La ética del cuerpo. Buenos Aires 1994. Pellettieri, Osvaldo: „Historia y Teatro", in Todo es Historia 212 (diciembre 1984), S. 32-44. Sarlo, Beatriz: „El campo intelectual: un espacio doblemente fracturado", in Represión y reconstrucción de una cultura: el caso argentino. (Sosnowski 1988), S. 96-107. Sosnowski, Saúl (Hrsg.): Represión y reconstrucción de una cultura: el caso argentino. Buenos Aires 1988. Toynbee, Arnold: Un estudio de la historia, Band I. Buenos Aires 1951. Trastoy, Beatriz: „Madres, marginados y otras víctimas: el teatro de Griselda Gambaro en el ocaso del siglo", in Teatro Argentino del 2000, hrsg. von Osvaldo Pellettieri. CUADERNO DEL GETEA 11 (2000), S. 37-46.

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„...die Diktatur hat mit der Zersplitterung der Intellektuellen einen Sieg errungen, indem sie zwei Lager von Intellektuellen schuf (die drinnen und die draußen) und darüber hinaus die Ressentiments zwischen beiden schürte und so den Kern der demokratischen Opposition zerbrach." (Sarlo 1988:101)

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Osvaldo Pellettieri: Promotion an der Universidad de Buenos Aires, Professor für Argentinische und Lateinamerikanische Theatergeschichte der Facultad de Filosofía y L e t r a s . L e i t e r d e s INSTITUTO DE HISTORIA DEL ARTE ARGENTINO Y LATINOAMERICANO u n d AREA DE INVESTIGACIÓN TEATRAL d e r F a c u l t a d d e Filosofía y Le-

tras. Mitglied von CONICET (Consejo Nacional de Investigaciones Científicas y Técnicas). Publikationen: Cien años de teatro argentino. Buenos Aires 1990; Teatro argentino contemporáneo. Buenos Aires 1993; Una historia interrumpida. Teatro argentino moderno (1949-1976). Buenos Aires 1997. Mit Eduardo Rovner (Hrsg.): La puesta en escena en Latinoamérica. Buenos Aires 1996. La dramaturgia en Iberoamérica. Buenos Aires 1998. Editionen argentinischer Theaterautoren und zahlreiche Aufsätze zum argentinischen Theater.

George Woodyard

Trauma und Diskurs: drei Stücke zum Thema Exil Die Militärdiktaturen, die in den 60er bis 80er Jahre in mehreren lateinamerikanischen Ländern herrschten, zwangen viele Bürger durch Androhung physischer Gewalt ihre Heimat zu verlassen. Manche gingen aus wirtschaftlichen Gründen oder weil sie unter dem psychischen Druck der Diktatur nicht leben konnten. Mehrere herausragende Autoren Lateinamerikas haben dieses Phänomen in Theatertexten dokumentiert, auch wenn sie selbst nicht unmittelbar Opfer der Unterdrückung waren. Dieser Aufsatz stellt drei Stücke vor, aus Argentinien, Chile und Ecuador, und untersucht den Diskurs, den die Autoren für dieses Thema verwenden. Das erste Stück, Gris de ausenciä1 (1981) des Argentiniers Roberto Cossa, zeigt eine Familie, deren Mitglieder in verschiedene Länder verstreut wurden. Das zweite Stück ist von dem chilenischen Autor Jorge Diaz, der während der Pinochet-Jahre vorwiegend in Madrid lebte. In Dicen que la distancia es el olvidö2 (1986) beschreibt er den Alptraum einer Frau, die im Exil in Madrid lebt. Das dritte Stück ist von Aristides Vargas, einem Argentinier, der in Ecuador lebt, es heißt Nuestra Sefiora de las Nubes3 (1998) und wurde von seiner Truppe MALAYERBA uraufgeführt. In den drei Stücke ist der psychologische Schaden, der dem Individuum zugefügt wird, wenn die Familie auseinanderbricht, die eigene Position und die Grundwerte verlorengehen, ein spürbares Element, das ein physisches und emotionales Trauma hervorruft. Die Themen Exil und Verbannung im Zusammenhang mit Begriffen wie Identität und Nationalität sind in der Literatur und in jüngsten theoretischen Aufsätzen untersucht worden. Paul Ilie beschreibt sie in dem Aufsatz Literature and Inner Exile in seinem Buch über das spanische Exil in seinen verschiedenen Etappen. Once we acknowledge that exile is a mental condition more than a material one, that it removes people from other people and their way of life, then the

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In grauer Ferne, deutsch von Almuth Fricke, in Theaterstücke des lateinamerikanischen Exils. (Adler, Herr 2002), S. 79-92. Aus den Augen, aus dem Sinn, deutsch von Heidrun Adler, in Theaterstücke aus Chile. (Adler, Hurtado 2000), S. 171-214. Unsere Liebe Frau der Wolken, deutsch von Sybille Martin, in Theaterstücke des lateinamerikanischen Exils. (Adler, Herr 2002), S. 419-451.

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nature of this separation remains to be defined not only as a unilateral severance, but as something more profound. (1980: 2)

Homi Bhabha stellt in The Location of Culture die These auf: this liminality of migrant experience is no less a transitional phenomenon than a translational one; there is no resolution to it because the two conditions are ambivalently enjoined in the 'survival' of migrant life. (1994: 224)

In beiden Fällen ist der Hinweis darauf, daß der Exilierte Entbehrungen erleidet, die weit über die rein physische Verbannung hinausgehen, der Schlüssel zum Verständnis des komplexen Zusammenspiels der Umstände. 1981, als Argentinien von den Schrecken des Militärregimes beherrscht wurde, organisierte der kürzlich verstorbene Osvaldo Dragün mit mehreren Autoren und Regisseuren eine dramatische Herausforderung (in beiden Bedeutungen des Wortes), die er TEATRO ABIERTO nannte. Ziel war Solidarität und Widerstand, um gegen den Wahnsinn des Regimes zu demonstrieren. Mit 21 Autoren und 21 Stücken, pro Abend wurden jeweils drei Stücke gezeigt, entstand ein Wochenzyklus, der sich in der folgenden Woche fortsetzte. Alle an dem Projekt Beteiligten demonstrierten nicht nur Vitalität und Scharfsinn beim Schreiben und Inszenieren von Stücken, die das Militärregime kritisierten, sondern auch ihre gewaltige Entschlossenheit durchzuhalten, nachdem in der dritten Woche das Theater auf geheimnisvolle Weise abbrannte. Innerhalb einer Woche konnte ein anderer Saal gefunden und das Projekt weitergeführt werden. Roberto Cossa zeigte bei TEATRO ABIERTO Gris de ausencia, das er seinem Freund Carlos Somigliano widmete, der die Idee zu dem Titel hatte, der aus dem berühmten Tango Canzoneta stammt. Es beschäftigt sich mit dem wachsenden Problem der argentinischen Diaspora, die erstaunliche und demoralisierende Ausmaße erreicht hatte. Die Situation ist gleichzeitig komisch und traurig: die Mitglieder einer Familie bemühen sich in verschiedenen Sprachen über nationale Grenzen hinweg zu kommunizieren, eine Situation, die des grotesken Humors bedarf, um seine politische Absicht zu unterstreichen. Gäbe es die Grausamkeiten des argentinischen Regimes nicht, müßten diese Familien die Nöte des Exils nicht erleiden. Das Stück steht in der langen Tradition des grotesco criollo und zeigt mit satirischem Blick einen schmerzlichen Aspekt des argentinischen Lebens.

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Roberto Cossa soll gesagt haben: „Ich würde gern als Autor in Erinnerung bleiben, dessen Texte dazu beigetragen haben, unsere Realität und Irrealität zu begreifen." (Poujol 1988: 51) Cossa gehört zu jener Generation argentinischer Autoren, die für das verantwortlich sind, was Osvaldo Pellettieri „reflexiven Realismus" nennt, er konnte sein Theater zwischen den Anforderungen von Ästhetik und Form und seinem Interesse an den sozio-politischen Dingen seines Landes im Gleichgewicht halten. Unter dem starken Einfluß nordamerikanischer und europäischer Autoren, in erster Linie Arthur Miller und Anton Tschechow, dem moralischen und sozialen Eindruck von Stücken wie Der Tod des Handlungsreisenden und Kirschgarten, begann Cossa zu schreiben. Die beiden Stükke beeinflußten nicht nur Cossa, sondern auch andere seiner Generation. Als Anfang des 20. Jahrhunderts italienische Familien zu Tausenden nach Argentinien auswanderten, träumten sie meistens davon, nach einer kurzen Zeit reich und glücklich nach Italien zurückzukehren. Für viele wurde daraus jedoch ein Immer, sie kehrten nie zurück. In diesem Stück zeigt Cossa ein italienisches Ehepaar, das vor 20 Jahren aus Argentinien nach Italien zurückkam. Es hat jetzt ein kleines Restaurant, Trattoria La Argentina, in der Gegend von Trastevere. Dies ist der Ort der Handlung von In grauer Ferne. Außer dem Ehepaar gibt es noch drei weitere Familienmitglieder, den Großvater, einen Onkel und eine Tochter. Die verschiedenen Ebenen des Diskurses spiegeln die Situation der fünf Personen. Es geht um ihre Fähigkeit oder Unfähigkeit zu kommunizieren und zu verstehen. Die Tochter lebt in Madrid und besucht die Eltern immer seltener. Das Verhältnis zu ihrer Mutter ist gespannt und schwierig wegen der Trennung und der sprachlichen Unterschiede zwischen dem Spanischen und Italienischen. Die Tochter spricht ein sauberes Spanisch, die Mutter eine kuriose Mischung aus beiden Sprachen. Der Onkel enthüllt seine Intoleranz, wenn er zugibt, daß er nach 20 Jahren noch nicht Italienisch spricht und sich in der Stadt nicht zurechtfindet. Die Feindseligkeit der „Tanos" (Italiener) beleidigt ihn, ohne daß ihm die eigene jämmerliche Haltung bewußt wird. Der Großvater lebt glücklich in der argentinischen Vergangenheit, die ihrerseits von der Sehnsucht nach der italienischen Heimat geprägt ist. Er kann sich aber in die Gegenwart nicht einfinden, zu lange hat er in Argentinien gelebt. Italien ist ihm fremd. Zugespitzt wird die Situation, wenn der Sohn aus London mit den Eltern telephoniert; man versteht ihn in keiner Sprache, was zu einem komischen Dialog führt. Durch die Rückkehr der einen und das Exil der anderen entsteht eine chaotische Situation, die zur Auflösung des Familienverbundes führt.

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Der argentinische Kritiker Miguel Angel Giella, selbst ein Exilierter, schreibt: Wir befinden uns vor einer Konnotation des Exils, jenes besonderen affektiven Ortes der Entwurzelung, der von einer De-naturalisierung - Emigration - und der entgegengesetzten Nicht-integration - Immigration - bestimmt wird, was psychologische und soziale Instabilität zur Folge hat. (Teatro Abierto 1983)

Unser zweiter Autor, Jorge Diaz, hat die Beziehung zum chilenischen Theater stets aufrechterhalten, selbst als er viele Jahre in Madrid lebte. Als Sohn spanischer Einwanderer, die in den 30er Jahren nach Chile kamen, fühlte er sich Spanien immer sehr verbunden. Obwohl er kein politischer Exilant war wie viele seiner Landsleute (er ist freiwillig gegangen), sah er sich verpflichtet, die Schmach der Pinochet-Diktatur in mehreren Stücken zu dramatisieren. Wie Cossa hat Diaz von Anfang an ein sozio-politisch engagiertes Theater geschrieben, aber anders als bei Cossa kommt sein Theater nicht aus dem Realismus, sondern aus der Avantgarde. Mit seiner Fähigkeit, mit der Sprache und sehr komplizierten Techniken zu spielen, gewann Diaz schon für sein berühmt gewordenes Stück El cepillo de dientes (1961, überarbeitete Version 1966) ein internationales Publikum. Vier seiner Stücke Ligeros de equipaje (1982), Dicen que la distancia es el olvido* (1985), La otra orillaß (1986) und Muero luego existo (1986) behandeln das Thema Exil. In einem Interview sagt Diaz: In diesen Stücken [...] entwickle ich eine dramatische Situation, die ich vorher nie versucht habe: das lateinamerikanische oder chilenische Problem in Spanien, das heißt, in einem einzigen Stück Lateinamerika und Spanien zu zeigen. (Epple 1986:146)

Die Anfangsszene von Aus den Augen, aus dem Sinn zeigt eine Frau mittleren Alters in Madrid, die sich nach einer sexuellen Begegnung mit einem zwanzigjährigen Strichjungen anzieht. Nach und nach werden Details ihrer politischen Vergangenheit und ihres psychischen und emotionalen Zustands enthüllt. Das Stück basiert, wie die Kritikerin Oksana 4

Aus den Augen, aus dem Sinn, deutsch von Heidrun Adler, in Theaterstücke aus Chile. Das andere Ufer, deutsch von Heidrun Adler, in Theaterstücke des lateinamerikanischen Exils. (Adler, Herr 2002), S. 165-204. (Adler, Hurtado 2000), S. 171-214.

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Das andere Ufer, deutsch von Heidrun Ader, in Theaterstücke aus Chile. (Adler, Hurtado 2000), S. 171-214.

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Bauer schreibt, auf einer tatsächlichen Begebenheit, die Diaz aus der Presse kannte, dem Fall einer jungen Argentinierin, die ein „Liebesverhältnis mit ihrem Folterer hatte, während sie in Gefangenschaft war". (Bauer 1999:159) Claudia, die Protagonistin, hat ihre Freunde unter der Folter verraten, ihr Mann wurde umgebracht. Im Gefängnis entwickelte sie ein Abhängigkeitssyndrom von Martin, ihrem Folterer, weil er die einzige Verbindung zur Außenwelt darstellte. Die Frau beschreibt einen Traum mit Begriffen der Raumfahrt, in dem sie über einen Schlauch mit einer Kapsel verbunden [...] und der Schlauch riß. Ich entfernte mich langsam aber unaufhaltsam von jeder Form des Lebens, von allen anderen. Dieser dünne Schlauch ist der Folterer. (203)

Nach ihrer Befreiung heiratete sie den Folterer, der sie später verließ und mit ihrer Tochter Ana floh. Die Folgen von Verrat und Folter haben sie zerstört. Ihr neuer Mann, ein Spanier, ist ironischerweise Mitglied der Menschenrechtskommission. Er ist mitfühlend und versucht, sie zu verstehen. Dennoch weist sie ihn zurück und zieht die erniedrigenden Begegnungen mit einem Strichjungen vor, der sie ausnutzt und vergewaltigt. Das Stück ist eine Rekonstruktion der Unterwerfung. Es erscheint schwierig, daß ein Opfer politischer und institutionalisierter Folter, die von einem aggressiven Staat ausgeübt wird, später das psychische Gleichgewicht wiedergewinnen kann. Folter hat traumatische Folgen, der Folterer selbst kann zu einer Art Lebensretter werden. Claudia befriedigen die brutalen außerehelichen Beziehungen, weil sie ihr Selbstgefühl von Nichtigkeit unterstreichen. Sie sagt: „Ich muß mich bestrafen, meine Einsamkeit bestrafen." (184) Ihr Mann irritiert sie: „Ich ertrage es nicht, mich als Opfer zu sehen, und er macht, daß ich mich so sehe!" (193) Sie braucht jemanden, „der mich verachtet, mich nicht liebt." (193) Ihr Mann begreift die Menschenrechte aus einer intellektuellen, abstrakten Perspektive. Er selbst hat niemals persönlich die Folter erfahren wie Claudia. Er sagt: Ich bin es leid, alle deine Macken mit Exil und Folterern zu entschuldigen, ohne daß dadurch irgend etwas erklärt würde. Ich glaube nicht, daß die Folter notwendigerweise Neurosen nach sich zieht, noch daß das Exil so entscheidend ist, daß es ein Paar auseinanderbringt.

Worauf sie antwortet:

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Du bist der Experte, was Exil und Folter angeht, der brillante Verteidiger der Menschenrechte [...] Weißt du, Andrés, was man bei solchen Aussagen sagt, ist nie real, obwohl man die Wahrheit sagen will. Aber die Wahrheit ist eine so scheußliche Wunde, die einen so wahnsinnig macht, daß man nicht darüber sprechen kann. Der Psychiater und du, ihr wißt davon nichts. Ihr werdet es nie verstehen. (202 f.)

Das Stück ist eine klassische Studie über Machtverhältnisse in zwischenmenschlichen Beziehungen. Claudia fühlt sich vollkommen verlassen, machtlos und verweigert sich allen, die ihr helfen wollen, nicht nur ihrem Mann, auch dem Ehepaar, das aus Chile kommt, um sie zur Rückkehr zu bewegen und ihre Tochter zurückzufordern. Selbst ihre Freundin, die ihr die Wohnung für ihre sexuellen Begegnungen zur Verfügung stellt, stößt sie vor den Kopf. Die Folter ist eine entmenschlichende Erfahrung, die das Individuum zerstört zurückläßt. Erst am Ende, wenn Claudia ihren Koffer nimmt, um nach Chile zu gehen, ist es möglich, die Ausmaße ihres Leids und die heroische Anstrengung zu ermessen, die sie unternimmt, um sich selbst wiederzufinden. Mit diesem Stück versetzt uns Díaz in eine für einen „normalen" Menschen schwer zu begreifende Welt. Obwohl Nina meint: „Normal. Nun, ich hasse das Wort ,normal'. Wir sind alle anormal." (187) Tausende von Menschen in Chile, Brasilien, Argentinien, Kuba und anderen Ländern haben während der Jahre ihrer „schmutzigen Kriege" als Opfer einer Politik, die danach ausgerichtet war, Nonkonformisten, sogenannte Staatsfeinde auszurotten, Entsetzliches erlebt. Das große psychologische Trauma, das in der Bevölkerung zurückblieb, schockiert. Das Stück hat seine politische Botschaft, aber in erster Linie ist es ein Theaterstück mit dem sprudelnden Dialog, der typisch für die Sprachspiele der chilenischen Autors ist. In den einführenden Bühnenanweisungen erklärt Díaz die Notwendigkeit, die verschiedenen Akzente, aus Chile, Peru und Madrid, hervorzuheben, um dem Stück ein internationales Flair zu geben. Er sagt: „Madrid ist immer die Kloake gewesen, die alle marginierten Akzente der Welt aufnimmt." (1987: 172) Eine Übertreibung, welche die Vielzahl der Exilierten unterschiedlicher Nationalität hervorheben soll. Der einzige echte Madrider in diesem Stück ist Paco. Seine Lebensphilosophie ist einfach: „Was zählt, ist Sex und Geld." (178) Und seine Sprache ist gewöhnlicher Slang. Als Gigolo lebt er von seiner sexuellen Tatkraft. Alle anderen Figuren erleiden irgendeine Form von Exil, die sich in ihrer Sprache ausdrückt. Ein Problem, mit dem sich Díaz seit seinen ersten Stücken häufig beschäftigt hat, ist, daß die Spra-

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che nicht ausreicht, um die Nöte der Menschen mitzuteilen. Im Streit sagt Claudia zu Andrés: Ungeduldig Mein Gott, die Worte taugen nicht! Sie bedeuten nicht dasselbe für dich wie für mich. Verlangen ist für mich ein Messerstich, ein Rausch und für dich eine Gemütsbewegung. Andrés, reden wir nicht mehr davon. Wir müßten eine neue Sprache erfinden. (201)

Das dritte Stück, Nuestra Señora de las Nubes in der Version, die 1998 in PRIMER ACTO 275 publiziert wurde, schrieb Arístides Vargas für seine Truppe M A L A YERBA in Quito. In Klammern heißt es, „eine zweite Etüde über das Exil". 6 Unsere liebe Frau der Wolken besteht aus 13 Szenen, die von zwei Personen gespielt werden. Die beiden Figuren Bruna und Oscar treten in vier getrennten Szenen auf. In den drei Sequenzen, die zwischen ihren Auftritten liegen, stellen sie andere Personen dar. So ist, was auf den ersten Blick chaotisch erscheint, in Wahrheit eine symmetrische, ausgewogene Struktur. Die Sequenzen erzählen Erinnerungen an den fiktiven Ort/Land Unsere liebe Frau der Wolken. In den verschiedenen Figuren können beide das Wesentliche eines breiten Panoramas aus Erinnerungen und Erfahrungen, gemeinsame oder getrennte Visionen einer anderen Zeit, eines anderen Ortes einfangen. Der Titel suggeriert eine gewisse romantisch katholische, idealisierte Sicht, aber von Anfang an ist die Verkettung des Guten und des Bösen erkennbar, des Wertvollen und des Trivialen, des Positiven und des Negativen, des Ästhetischen und des Brutalen. Von der ersten Szene an, in der Oscar und Bruna, zwei Exilanten, sich zufällig treffen und ihre gemeinsamen Wurzeln erkennen, bis zur Schlußszene, sprechen sie über ihre Zweifel und Ängste, was die Wichtigkeit und Bedeutung des Lebens angeht. Die Zwischenszenen zeigen nahezu photographische oder cinematographische Episoden verschiedener Art. Die erste Sequenz (von dreien) bezieht sich auf mythische oder archetypische Anfänge, zum Beispiel, der Vortrag des Stammbaums des Ortes in einer Szene, die an García Márquez erinnert. Die Szenen der zweiten Sequenz zeigen die Folgen der „Schmeicheleien", der „Piropos der Brüder Aguilera", die 6

Vargas und seine Frau sind Exilierte. Er ist 1954 in Córdoba, Argentinien geboren und mußte wegen der Gewalttaten des Militärregimes als 21jähriger Argentinien verlassen. Zuerst ging er nach Lima, dann nach Quito. Seine Frau ist in Spanien geboren, sie ging ebenfalls nach Quito. In der Aufführung, die ich in Miami zum Festival Internacional del TEATRO AVANTE im Sommer 2000 sah, spielten beide die einzigen Rollen des Stückes.

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entgegengesetzte Reaktionen bei den Angesprochenen hervorrufen. Die Szenen der dritten Sequenz handeln von den Jahren der Gewalt und ihren fatalen Folgen bei vielen Menschen. Das Stück ist eine wunderschöne Kombination von Menschlichkeit, Gefühl und einigen wohlgesetzten Tupfern Politik. Bruna hat stets die ausdrucksvolleren Texte (Aristides Vargas schreibt für seine Frau, die Schauspielerin). Was die politischen Elemente angeht, bemerkt sie zum Beispiel bei Gelegenheit, „daß in meinem Dorf die Korrupten die Korrupten denunzieren, und daß ist gut so, weil die genau wissen, wovon sie reden." (426) Wenn sie über die Gründe nachdenkt, die sie gezwungen haben, das Land zu verlassen, stellt sie einen komischen Vergleich an zwischen dem Land und einem Flugzeug. Zuerst haben sie gesagt, daß wir die Gurte enger schnallen sollen, das taten wir; dann sagten sie, es seien turbulente Zeiten, wir glaubten ihnen; später sagten sie, daß bei wirtschaftlicher Knappheit automatisch eine Maske herabfallen würde. Nichts davon hat etwas genützt, das Land stürzte ab, und wir haben die blackbox nie gefunden. (423)

Aber der menschliche, emotionale Ton gibt dem Stück sein bestimmtes Flair. Er vermittelt den psychologischen Schock den das Exil hervorruft, nicht in unmittelbaren und kurzen Anstößen, sondern in langen und anhaltenden Passagen. Zum Beispiel ist es wieder Bruna, die sagt: „Das Exil beginnt, wenn wir das, was wir lieben, töten, aber wir töten es nicht auf einmal, sondern über Jahre hinweg..." (446). Noch deutlicher wird sie, wenn sie Begriffe der Berührung benutzt, um den tiefen Schmerz zu beschreiben, den sie in verschiedenen Phasen ihres Lebens und über viele Jahre hinweg erlitten hat. Sie erklärt, das Exil sei ein Problem der Umarmungen. Nun ja, als Kind umarmte ich meinen Hund, dann schimpften meine Eltern und schickten mich in mein Zimmer ins Exil; in meiner Jugend umarmte ich einen Jungen, und er schickte mich ins Exil der Einsamkeit; ich umarmte Ideen, und sie schickten mich aus diesem Land ins Exil; wie oft ich bestraft wurde, weil ich versucht habe, die Religion zu umarmen, will ich gar nicht aufzählen. Jetzt umarme ich vorsichtshalber niemanden mehr. (436)

Auffallend ist die Beharrlichkeit, mit der immer wieder darauf hingewiesen wird, welchen psychologischen Schaden das Exil dem Individuum zufügt, und darauf, daß korrupte autoritäre Systeme den Menschen dieses Exil aufzwingen. Das alles wird auf indirekte, manchmal

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intuitive Weise präsentiert, die im Gegensatz steht zu den ideologischen und dogmatischen Systemen der vorangegangenen Jahre. Man braucht nur in bestimmten Augenblicken der Aufführung auf die Stimmen zu lauschen, um die starken Gemütsbewegungen aufzufangen, die die Vertreibung aus der Heimat und der Zwang, seine Identität in einer anderen Kultur zu suchen, hervorrufen. Oft wird der Schock mit sprachlichem Humor, Wortspielen oder poetischen Anflügen abgefälscht. Das Stück wird von hoher poetischer und ästhetischer Qualität mit einer reizvollen, ausgefeilten Sprache geprägt. Dennoch ist seine Aussage unüberhörbar: Verlust der Identität, Verwirrung, Verbannung, das Gefühl vertrieben worden zu sein. Am Ende haben wir selbst ein Gefühl von Eingeschlossensein und Tod. Dieses sprachlich einfallsreiche Stück mit poetischen Intervallen und harmonischen Übergängen vermittelt uns am Ende, ohne Exil und Politik zu nennen, eine schmerzhafte Sehnsucht, wie sie der, aus welchem Grund auch immer, Vertriebene empfinden mag. Diese drei Stücke zeigen auf verschiedene Art und Weise, wie das Thema Exil auf dem lateinamerikanischen Theater während und nach der Epoche äußerst gewalttätiger Unterdrückung erscheint. Sie lassen sich mühelos mit brasilianischen Texten ergänzen wie Torquemada oder Murro en ponta defaca von Augusto Boal, Till Sverige: Os nossos assassinos von Luiz Henrique Cardim oder mit kubanischen Stücken aus der Diaspora, die nach der Revolution von 1959 und der ihr folgenden politischen und ideologischen Unterdrückung entstanden. Homi Bhabha schließ sein Vorwort zu Home, Exile, Homeland, herausgegeben von Hamid Naficy wie folgt: What we can do, with all the modes of signification that lie at hand, is to wage our wars of „recognition" for lifeworlds that are threatened with extinction or eviction; and shape our words and images to frame those representations of home and exile through which we take possession of a world whose horizon is marked, all at once, by the spirit of arrival and the spectre of departure. (1999: xii)

Die Probleme des Exils werden auf dem Theater nicht nur im Diskurs dargestellt, indem man auf Isolation und Trennung hinweist, sonder auch in äußerst dramatischen physischen Abläufen wie Einsperrung und Folter (man denke an das bekannte Stück von Ariel Dorfman: Der Tod und das Mädchen). Die Folgen des Exils sind kompliziert und noch wenig erforscht. Roberto Cossa, Jorge Diaz und Aristides Vargas haben mit drei gut gebauten Stücken drei unterschiedliche Wege vorgestellt,

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anhand ästhetischer Erfahrungen erhellende Perspektiven zu diesem Thema zu finden. Deutsch von Herbert Araüz

Literatur Adler, Heidrun; Hurtado, María de la Luz: Theaterstücke aus Chile. Frankfurt/Main 2000. ; Herr, Adrián: Theaterstücke des lateinamerikanischen Exils. Frankfurt/Main 2002. Anaine, Susana: „El teatro de Roberto Cossa o la puesta in escena de una conciencia histórica", in ESPACIO DE CRÍTICA E INVESTIGACIÓN TEATRAL 4, 6-7 (April 1990).

Andrade, Elba; Fuentes, Walter: Teatro y dictadura in Chile: Antología crítica. Prólogo de Alfonso Sastre. Santiago 1994. Bauer, Oksana M.: Jorge Díaz: Evolución de un teatro ecléctico. Ann Arbor 1999. Bhabha, Homi: The Location of Culture. New York 1994. : „Preface: Arrivals and Departures", in Home, Exile, Homeland: Film, Media and the Politics of Place. New York, London 1999. Cossa, Roberto: Teatro. [Gris de ausencia, Band III] Buenos Aires 1990. Díaz, Jorge: „Dicen que la distancia es el olvido", in CESTOS 3 (April 1987), S. 170-206. Epple, Juan Armando: „Teatro y exilio. Una entrevista con Jorge Díaz", in GESTOS 2 (Nov. 1986), S. 146-154. Giella, Miguel Angel: „Inmigración y exilio: el limbo del lenguaje", in De dramaturgos: Teatro latinoamericano actual. Buenos Aires 1994. : „Roberto Cossa, Gris de ausencia," in Teatro Abierto 1981. Buenos Aires 1991, S. 76-83. Hicks, D. Emily: Border Writing: The Multidimensional Text. Minneapolis 1991. Ilie, Paul: Literature and Inner Exile. Baltimore 1980. Kaplan, Caren: Questions of Travel: Postmodern Discourses of Displacement. Durham 1996. Ladra, David: „El teatro de Arístides Vargas", in PRIMER ACTO 275 (1998), S. 56. Poujol, Susana: „ Yepeto: Una poética de la escritura", in ESPACIO DE CRÍTICA E INVESTIGACIÓN 1,4 (1988), S. 51-56. Trastoy, Beatriz: „La inmigración italiana en el teatro de Roberto Cossa: El revés de la trama", in Inmigración italiana y teatro argentino, hrsg. von Osvaldo Pellettieri. Buenos Aires 1999, S. 137-145. Tucker, Martin: Literary Exile in the Twentieth-Century: An Analysis and Biographical Dictionary. New York 1991. Vargas, Arístides: „Evolución formal en el teatro latinoamericano", in PRIMER ACTO 275 (1998), S. 51-55. : „Nuestra Señora de las Nubes", in PRIMER ACTO 275 (1998), S. 57-72.

Woodyard, George: „Jorge Díaz", in Latin American Writers III, hrsg. von Carlos A. Solé; Maria Isabel Abreu. New York 1989, S. 1393-7.

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—: „The Theatre of Roberto Cossa: A World of Bröken Dreams" in Perspectives on Contemporary Spanish American Theatre, hrsg. von Frank Dauster. BUCKNELL REVIEW 40,2 (Fall 1996). --: „The Two Worlds of Jorge Diaz", in ESTRENO XVIII, 1 (Spring 1992), S. 20-22. George Woodyard: Professor im Department of Spanish and Portuguese der Universität von Kansas in Lawrence seit mehr als 30 Jahren. Leiter der Zeitschrift LATIN AMERICAN

THEATRE REVIEW, d i e e r 1 9 6 7 g r ü n d e t e .

Publikationen: mit Leon F. Lyday: Dramatists in Revolt. Austin, London 1976; Mitherausgeber von 9 Dramaturgos Hispanoamericanos, 2. Auflage 1998; African And Caribbean Theatre. Cambridge 1994; mit Osvaldo Pellettieri: Eugene O'Neill Al Happening. Buenos Aires 1995; mit Heidrun Adler: Resistencia y poder: Teatro chileno. Frankfurt/Main 2000; mehrere Ausgaben des Cambridge Guide sobre teatro latinoamericano, und Aufsätze über Roberto Cossa, Jorge Díaz, Ricardo Halac, Eduardo Pavlovsky, Hebe Serebrisky, José Triana, Oscar Villegas und viele andere.

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Auseinandersetzungen mit einer Tradition: Das Exil-Motiv im kubanischen Theater nach der Revolution [...} Ist dies die Bleibe, gegen die ich die Felder des Lichts, den klaren Himmel, das immerwährende Grün, die ewige Blüte und die wohlriechenden Winde jenes Klimas eintauschen soll, wo die erste Sonne zwischen Süße und Frieden in meine Augen strahlte? ... Erschüttert halte ich inne und in meine Augen steigen Tränen des Zorns... Was tun? Emilia, mein Körper leidet, doch meine tapfere Seele spendet mit noblem Stolz und Verachtung ihrer Freiheit Beifall... José Maria Heredia: Für Emilia. Niemals das Brot des Emigranten essen, gedachte ich in Treue zu meinem geliebten Kuba. Sohn Kubas bin ich: mit ihm verbindet mich ein mächtiges Schicksal, unumstößlich: mit ihm gehe ich: stark ist jener, der ihm folgt auf schrecklichen und angenehmen Pfaden... José Jacinto Milanés: Epistola a don Ignacio Galvân. In der kubanischen Literatur treten M o t i v u n d Realität d e r erz w u n g e n e n bzw. selbst gewählten Emigration seit Anfang des 19. Jahrh u n d e r t s verstärkt in Erscheinung. Vielleicht s o g a r s c h o n früher, bedenkt m a n die nur zu bekannte spanische Kolonialpolitik, die jeden Versuch, W i d e r s t a n d z u leisten, d u r c h S t r a f m a ß n a h m e n , in erster Linie durch Verbannung erdrückte. Kubanische A u s w a n d e r e r u n d Exilanten 1 , 1

Laut Edward Said läßt sich zwischen Exilanten, Flüchtlingen, Auswanderern und Emigranten unterscheiden: „Exile originated in the age-old practice of banishment. Once banished, the exile lives an anomalous and miserable life, with the stigma of being an outsider... Refugees... are a creation of the twentieth-century state. The word „refugee" has become a political one, suggesting large herds of innocent and bewildered people requiring urgent international assistance... Expatriates voluntarily live in an alien country, usually for personal or social reasons... Emigrés enjoy an ambiguous status. Technically, an émigré is anyone who emigrates to a new country. Choice in the matter ist certainly a possibility..." (1984:52) Heute benutzen Israel, Kaplan u.a. lieber den Begriff „Diaspora", um damit die großen Gruppen von Emigranten bzw. des Landes Verwiesener zu bezeichnen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben. Ich folge der von Said dargestellten Termi-

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die sich in ihren Schriften mit diesem Thema beschäftigt haben, waren Cirilo Villaverde, José María Heredia, Pater Félix Varela, Miguel Teúrbe Tolón, Gertrudis Gómez de Avellaneda, Bonifacio Byrne, Juan Clemente Zenea und José Martí, um nur einige Namen aus einer langen und illustren Liste zu nennen. In diesem schwierigen 19. Jahrhundert wurde, mit dem Beginn einer nationalen Literatur, implizit und explizit formuliert, wie sehr der Schriftsteller für sein Schaffen seine Heimat braucht und daß es seine Pflicht sei, dort zu bleiben, in ihr auszuharren, sie in ihrem Werden zu begleiten und, falls nötig, die Veränderung von innen zu suchen. Ruft ein so unpolitischer Schriftsteller wie Julián de Casal in seinen Nostalgias aus: „Nie mehr gehe ich fort. Ginge ich fort/so wünschte ich im gleichen Augenblick/zurückzukehren", so orientiert er sich eigentlich an der dekadenten Neurasthenie eines Huysmans oder Baudelaire, um zum Ausdruck zu bringen, was in seinem speziellen Fall als antiemigratorischer Impuls gewertet werden könnte. Aus diesem Grunde erscheinen mir die Zitate bedeutsam, mit denen ich diese Auseinandersetzung mit dem Exil-Motiv im nachrevolutionären Theater innerhalb und außerhalb Kubas überschreibe. Die Gedanken von Heredia und Milanés, zweier fast zeitgenössischer Dichter der Romantik, verweisen auf Konstanten, die im Verlauf der letzten einundvierzig Jahre festgeschrieben wurden. Dadurch erklärt sich vielleicht, daß die Lebensgeschichte des wahnsinnigen Dichters Milanés aus Matanzas auf Kuba so bedeutende Theaterstücke hervorgebracht hat wie La dolorosa historia del amor secreto de don José Jacinto Milanés von Abelardo Estorino, das später unter dem Titel Vagos Rumores für die Inszenierung gekürzt wurde, und Delirios y visiones de José Jacinto Milanés von Tomás González. Außerhalb Kubas, wo man sich nicht so stark mit dem historischen Theater beschäftigt, hat meines Wissens niemand dem festen Ruder von Milanés die schmerzerfüllten Segel eines Heredia entgegen gehalten, die in ihrer Dynamik als Gegendiskurs so bedeutsam sind und so tragisch in ihrer Eigenschaft, sich blitzschnell abzutakeln. Aus politischer Leidenschaft, dem Trachten nach Ruhm und dem Wunsch, den eigenen Horizont zu erweitern, entstehen nebeneinander die Visionen derer, die nologie, jedoch nicht immer, da sie mir zuweilen etwas erzwungen erscheint. So unterscheide ich nicht zwischen Exilanten und Emigranten, da ich der Meinung bin, daß im modernen Staat die Ausweisung oft auf indirektem Wege erfolgt. Ich benutze den Terminus Auswanderer, um damit die Individuen zu bezeichnen, die sich freiwillig und zwar aus vorwiegend soziopolitischen Gründen dazu entscheiden, ein Land zu verlassen. Emigranten bzw. Immigranten sind für mich synonyme Begriffe, die beinhalten, daß das eigene Land aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen verlassen wird. Schließlich benutze ich das Wort Diaspora, um die Übersiedlung großer Bevölkerungsgruppen in ein anderes Land oder in Teile der Diaspora zu beschreiben und damit die Mitglieder dieser Gruppen zu bezeichnen.

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fortgehen, und derer, die bleiben, seit dem 19. Jahrhundert besteht unverändert diese konfliktbesetzte Dichotomie. Spätere Schriftsteller wie Alfonso Hernández Catá, Emilio Bobadilla, Alberto Insúa bishin zu Alejo Carpentier bekräftigen sie aus ihren eigenen Erfahrungen. In Bezug auf Hernández Catá schrieb Ambrosio Fornet beispielsweise: [Er] stand bei uns am Beginn einer Strömung von Künstlern, ,die fortgehen', und vertrat die obskure Uberzeugung, daß es nur so möglich sei, ein Oeuvre zu schaffen und internationale Anerkennung zu erlangen. (1967:33)

Fornet kritisiert damit den spanisch-kubanischen Schriftsteller und verdammt darüber hinaus alle jene, die damals auswanderten oder ins Exil gingen, weil sie ihrer Stimme als Dichter mehr Gewicht verleihen wollten oder sich auf der Insel verfolgt fühlten. Heute hat sich die Sichtweise Fornets gewandelt. In einem neueren Buch verweist er auf die Notwendigkeit, sich gegenseitig anzuerkennen, was die Paranoia zu beiden Ufern überflüssig werden ließe, d.h. auf Kuba jenen ständigen Drang, alles von drüben künstlich zu leugnen, indem man es unter den Tisch kehrt, während drüben die andere Seite genauso abgelehnt wird. Das Bild des Schriftstellers, der teils aus politischen, teils aus persönlichen Gründen das Land verläßt, ist eine kontroverse Tradition in unserer Nationalliteratur, erhält dort jedoch - wie Fornet in seinem Bemühen um Versöhnung zugibt - ungewöhnliche Bedeutung, seitdem 1959 die Regierung Fidel Castros an die Macht gekommen ist. Die Exil-Trope - um damit die unendliche Zahl an Metaphern zu beschreiben, die sowohl dem Lebensumstand als auch seiner literarischen Behandlung zugeordnet sind - wird zum Auslöser eines Dialogs über das Meer hinweg, der von den in gegenseitiger Ablehnung geübten Künstlern mal lautstark, mal mit langem Schweigen geführt wird. Innerhalb des kubanischen Theaters vor der Revolution spielt das Motiv der freiwilligen bzw. unfreiwilligen Auswanderung nur eine untergeordnete Rolle. Abgesehen von der Figur des Teófilo in dem antikolonialistischen Stück Tembladera von José Antonio Ramos oder der problematischen Identität des Jimmy, der im Meer verschwindet, in El travieso Jimmy von Carlos Felipe - laut Montes Huidobro „liegt das Exil jenseits des Meeres" und „alle Gefahren gehen vom Meer aus" (1973: 131) - gibt es nur wenig bedeutende Stücke, die sich auch nur ansatzweise damit beschäftigt hätten. Allerdings sind seit jeher zwei Elemente zu erkennen, die später die ideologische und formale Essenz vieler Texte über das Exil bilden sollten: die Schizophrenie und die Spaltung des familiären Kerns. Nachdem Montes Huidobro die pathologischen Eigenschaften dieses schizophrenen Zustandes und die damit einhergehende

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Ambiguität, Entfremdung und Vereinzelung beschrieben hat, erläutert er, daß die Schizophrenie, so wie sie sich in der Dramatik reflektiert, eine gemeinsame Erblast darstellt: Erinnern wir uns [...] daß das Theater das Spiegelbild des Nationalen ist, daß seine Figuren der Realität der Autoren entspringen und daß es im weitesten Sinne eine Interpretation des Kubanischen sein muß. (1973: 50)

Auf kubanischen Bühnen fehlt es demzufolge der Liebe in all ihren Erscheinungsformen oft an Normalität und sie gerät zur schizoiden Trilogie von „Betrug, Liebe, Zerstörung" (1973: 57). Montes Huidobro folgert, daß diese Abfolge dem kubanischen Theater eine faszinierende Kontinuität verleiht, wodurch es selbst wie auch die Geschichte seines Volkes zum Theaterstück gerät. Die Liebe hat pathologische Bahnen eingeschlagen: man kann nicht lieben, weil man sich fürchtet; man fürchtet, verschlungen zu werden; wir wollen uns gegenseitig verschlingen. (1973: 57)

Ich möchte hinzufügen: Die erzwungene Trennung oder eine als solche Erlebte, nämlich die Verbannung, bringt logischerweise solche kannibalischen und selbstzerstörerischen Beziehungen mit sich. Mit Beginn des revolutionären Prozesses stellt sich das kubanische Theater ganz und gar in die Exil-Tradition. Zunächst hat das Motiv des Exils nur ein schwaches Echo auf der Bühne, wo es direkt oder indirekt in Texten zum Vorschein kommt, die sich zumeist um das häusliche Ambiente drehen. Konflikte zwischen Eltern, Kinder und Geschwistern stehen dabei nicht für den Topos des Kampfes zwischen den Generationen, sondern zeigen für die politischen Umstände auf Kuba repräsentative Mikrokosmen. Rine Leal erkennt in dem Fortbestand des Motivs der Familie in der Krise einen Mechanismus, anhand dessen sich die Gesellschaft in dem auf Kuba und außerhalb Kubas geschriebenen Theater analysieren läßt. Am Anfang dieser Entwicklung steht laut Leal das Stück Tembladera (1918). Im weiteren Verlauf läßt sie sich an folgenden Meilensteinen messen: Von Tembladera zu La recurva (1939), ebenfalls von Ramos, von La recurva zu Aire frío (1959) von Virgilio Piñera, von Aire frío zu La noche de los asesinos (1965) von José Triana, von La noche de los asesinos zu La emboscada (1978) von Roberto Orihuela, von La emboscada zu Manteca (1994) von Alberto Pedro Torriente. (1995: XIV)

Weniger Gültigkeit besitzt dieses Schema für das in den USA geschriebene Theater, denn Leal macht es hier an drei aufgrund ihrer zeit-

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liehen Nähe sehr verwandten Stücken fest: El super (1979) von Ivan Acosta, Alguna cosita que alivie el sufrir (1979) von René Alomä und Union City Thanksgiving (1982) von Manuel Martin Jr. Wichtig ist vor allem Leals Schlußfolgerung: Interessant ist, daß die Eltern-Kind-Beziehung sich nie auf einen häuslichen und generationsbedingten Konflikt beschränkt, sondern stets tiefer liegende Spannungen verdeckt, die mit Macht und Unterdrückung in Zusammenhang stehen. Daher handelt es sich meistens um eine bedrohte Familie, in der immer Nachrichten, Tatsachen und Wirklichkeit, die von außen und verbunden mit großer Gefahr in das Heim eindringen, die familiäre Einheit zerstören. (XV)

Die Einheit, die teils an äußerem bzw. staatlichem Druck zu zerbrechen droht, teils an dem eigenen Kains-Verhalten, ist ein Pfeiler der ExilTradition. In dieser Betrachtungsweise der familiären Situation als Mikrokosmos, der auseinanderfällt und aus dem dabei freiwillig oder unfreiwillig einige Mitglieder ausgestoßen werden, bzw. aus dem Mitglieder aus eigennützigen Motiven oder auf der Suche nach Veränderung eher aus individuellen als aus kollektiven Gründen ausscheiden, wird die Vorläuferrolle jener vor 1959 entstandenen Dramatik deutlich, die dieses fruchtbare Motiv erstmals bearbeitet hat. Heute hat die Spaltung lediglich den Bereich des Figurativen verlassen und ist zum Bild einer konkreten Wirklichkeit geworden, egal auf welcher Seite man steht. Die Sichtweise des Exils innerhalb und außerhalb Kubas, die Art und Weise, wie der ausgewanderte oder im Exil lebende Theaterautor sich selbst wahrnimmt, wahrgenommen wird und seine Geschichten und Figuren anlegt, die Methode, mit der ähnliche Umstände und Gedanken aus unterschiedlichen, kulturell geprägten und sozial und politisch entgegengesetzten Blickwinkeln angegangen werden, sind zu unumgänglichen Aspekten in der Auseinandersetzung mit dem nach-revolutionären kubanischen Theater geworden. Der Stempel des Exils, der oftmals zu einer „trope of displacement" wird, wie es Caren Kaplan (1996: 9) nennt, um damit seine poetischen Eigenschaft hervorzuheben, erweist sich als ein ambivalentes Stilmittel, je nachdem von welchem der beiden Ufer er wahrgenommen bzw. angewandt wird. Meine Untersuchung des Exil-Motivs läßt sich von dreien seiner Haupterscheinungsformen leiten: das Heimweh in einer bestimmten Art des Illusions- und auch des Protesttheaters, das ausschließlich außerhalb Kubas vorkommt; die gegenseitige Ablehnung, d.h. das Gegeneinandersetzen von ideologischen Schemata, um sich in didaktischer bzw. symbolischer Absicht die jeweiligen Machtansprüche streitig zu machen; der Fortbestand der durch das Exil getrennten Familie oder die Auswanderung als Metapher für eine vielleicht unlösbare

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Problematik. Sie bilden die Substanz der „tropics of displacement" (Kaplan 1996: 4) bzw. der Metaphern des Ortsverlustes, die die textliche Darstellung des Exilphänomens prägen. Edward Said schrieb: Exile is the unhealable rift forced between a human being and a native place, between the seif and its true home. The essential sadness of the break can never be surmounted. (1984: 49)

Das Verlustgefühl verursacht nicht nur vielen Künstlern ein ständiges Heimweh, sondern auch dem durchschnittlichen Emigranten, diesem ganz normalen Menschen, der sich aus politischen oder pragmatischen Gründen zur Flucht entschlossen hat. In dem auf Kuba entstandenen Theater hat dieses Motiv naturgemäß eine geringere Bedeutung. Wer bleibt, verspürt weder Sehnsucht noch Sympathie für diejenigen, die sich von Ferne beklagen. Sie sind der Gegenpol: der Schmerz der Flüchtlinge und ihre Sehnsucht nach der Heimat ruft auf der Insel vielmehr die Angst hervor, die Exilanten könnten zurückkehren und das System, mit dem sich die Mehrheit identifiziert, zerstören. Diese Vorstellung findet sich in Kulttexten der 60er Jahre, wie beispielsweise in der Filmversion von Memorias del subdesarrollo von Tomás Gutiérrez Alea und noch viel provokanter in dem Stück Los siete contra Tebas (1968) von Antón Arrufat. Zuweilen hört man im kubanischen Theater auch einen Tonfall, der überhaupt nicht mitfühlend klingt und der darauf besteht, daß die Menschen, die in andere Länder geflohen sind, das Heimweh auch verdient hätten. Weil das Zurückgelassene trotz aller Fehler bei weitem besser ist als das Neuerworbene, leiden diejenigen, die fortgegangen sind, verdientermaßen unter „der Sehnsucht nach Heimkehr". In dem neueren Stück Te sigo esperando von Héctor Quintero, dessen Titel einem melancholischen Bolero von „Los Chavales de España" entlehnt ist, der schon an sich auf die nicht zu verwirklichenden Wünsche anspielt, kehrt der alte Alcides nach einem Besuch bei seinen Verwandten in Miami nach Kuba zurück, selbst wenn er weiß, daß er dort die Entbehrungen der Sonderperiode ertragen muß. Seiner Tochter Teté, einer Revolutionärin mit Haut und Haar, erklärt er, warum er zurückgekehrt ist: Und ich wollte nur meinen Sohn und meine Enkel wiedersehen. Aber dort bleiben? Da müßte man verrückt sein. Da wollen sie keine Alten. Und sterben möchte ich natürlich lieber hier, in meiner Heimat, so wie es die meisten wollen, die drüben sind, denn die leben mit einer Sehnsucht und Traurigkeit, die sie auffrißt. (1998: 29)

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Mit den Worten der Dichterin Gertrudis Gómez de Avellaneda bedeutet Fortgehen die unwiederbringliche Trennung von einer Vergangenheit und einem Ort, die Entfremdung bei vollstem Bewußtsein. Außerhalb Kubas bringt das Motiv des Heimwehs einen gewissen Typus von Unterhaltungstheater hervor, das seine Rezipienten in der Gemeinde der Exilanten findet. José Escarpanter hat belegt, daß die Sehnsucht in Miami auf der Ebene der Populärkultur zur Entstehung einer Art frechen Komödie geführt hat, die auf das kubanische teatro bufo zurückgeht. Unter ihren Autoren heben sich besonders Mario Martin und Alberto González hervor. Die Komödien beruhen auf politischer Satire, aber vor allem pflegen sie die Typen, die Musik, den Wortschatz und die Haltungen, die mit dem Kuba der 50er Jahre assoziiert werden, und wollen die Sehnsucht stillen, die sie auf paradoxe Weise nähren. Héctor Santiago hat eine stimmige Apologie auf diese Unterhaltungsstücke gemacht, in denen Tränen und Schmerz über die Heimatlosigkeit Hand in Hand mit dem Lachen gehen, das sicherstellt, daß sich alle gut amüsieren. Der Schritt zurück in der Zeit, den diese Aufführungen vollziehen, verhilft den Exilanten auf groteske Weise zu einer Art von angenehmen Exil innerhalb der Realität des Alltagslebens. Eine ganz andere Intention verfolgt hingegen das ernste Theater zum Thema Sehnsucht. Dort ist der Blick zurück im allgemeinen nicht die schöpferische Achse der Stücke, sondern ein zusätzliches Element. In diese Kategorie gehören Stücke, die aufgrund ihrer kritischen und inhaltlichen Komplexität ganz verschiedenfarbig sind. Ich denke dabei an manche Stücke von Raúl de Cárdenas, wie Las Carboneil de la calle Obispo oder Al ayer no se le dice adiós, an El súper von Iván Acosta oder auch an andere, dunklere Dramen wie La navaja de Olofé von Matías Montes Huidobro und Las noches de la chambelona von Héctor Santiago. Der Kosmopolitismus dieses Stückes, das an Puig oder an den Film La Cage aux Folies erinnert, kann wegen des Titels und der intertextuell gebrauchten musikalischen Vorläufer gewisse symbolische Anleihen an das exotische Havanna der 50er Jahre nicht ganz verbergen. Recordando a mamá (1990) von Pedro Monge Rafuls zeigt ziemlich präzise die polyvalenten Schattierungen dieser Tendenz zur Nostalgie, die sich sowohl in der Moderne als auch in der Postmoderne festmachen läßt. Wie gerade bei diesem Autor, der ein fester Bestandteil im New Yorker Hispano-Theater ist. Obwohl Recordando a mamá im Ambiente der nordamerikanischen Großstadt spielt, zeugt es von der Treue zu diesem Aspekt der kubanischen Theatertradition, hier in Form von individueller und kollektiver Entfremdung, sexueller Frustration und kannibalistischen Ritualen. Die beiden Geschwister, die in einem Beerdigungsinstitut in Queens am Leichnam ihrer Mutter Totenwache halten, erleben die

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vollkommene Einsamkeit der Entwurzelten. Sie befinden sich nicht nur fern der Heimat, weil sie gezwungen waren, die Insel zu verlassen, sondern verkörpern auch menschliche Anomalien, denn sie fühlen sich sowohl körperlich als auch seelisch verstümmelt, genau wie jene schwachen Wesen des absurden Theaters, die laut Tracy Palls „von Orientierungslosigkeit und Verwirrung" (1978: 27) aufgezehrt werden. Trotz des gemäßigten Tons des Dramas und der eher klaren Denkart des metatheatralischen Spiels, zeugen die fünfzigjährigen Geschwister in Recordando a mamá von einer vieldeutigen Verstörung, ähnlich der, die Geistesverwandte wie Lalo, Cuca und Beba, die Hauptfiguren aus La noche de los asesinos, auszeichnet. Ihrer biologischen Reife zum Trotz benehmen sie sich wie orientierungslose Heranwachsende, die nicht in der Lage sind, ihr Leben in die Hand zu nehmen oder einen Partner zu finden, denn sie sind Opfer jener von Montes Huidobro beschriebenen schizoiden Abhängigkeit. Wie sie jetzt um den Sarg der Mutter kreisen, haben sie sich vorher um ihre Mutter gedreht, ohne jemals selbst eine eigene Identität zu entwickeln. Daher verspüren sie, was Alberto als „den Frust, ein Nichts zu sein" (258) bezeichnet. Die Mutter wird zur Metapher des Verlorenen und zum Emblem des Exils. Ihr Tod, gleichzeitig gefürchtet und ersehnt, zementiert die Unvollständigkeit und führt zu einer Zuspitzung des individuellen Dramas, indem er diesem einen kollektiven historischen Ursprung verleiht. Die Geschwister streiten darüber, daß die Mutter gestorben sei, ohne daß ihr Wunsch „auf Kuba sterben zu dürfen" (259) in Erfüllung gegangen ist. Auch wenn sich Alberto anfangs über diesen Wunsch lustig macht und ihn ironisch der abgedroschenen und übertriebenen Sehnsucht nach der Heimaterde zuschreibt, gelangen er und Aurelia in ihrem Gespräch zu einer kurzen Erinnerung an Placetas, was die notorische Ambivalenz der Exilanten verdeutlicht. Doch das Stück geht in seiner metaphorischen Projektion darüber hinaus, denn es zeigt, daß draußen die Übel von innen weiter Bestand haben. Entfremdung und Isolation verschärfen sich in den USA durch die zerstörende Entwurzelung. AURELIA ALBERTO

AURELIA ALBERTO AURELIA Ausweg

Ich wäre jetzt gern in Kuba. WOZU?

ES wäre leichter. Ich fühlte mich beschützter. In Kuba haben wir niemanden. Hier auch nicht. Pause Mir kommt das in den Sinn, wenn ich keinen weiß. (264)

Das Heimweh ist somit verräterisch und verdammt alle, die es verspüren, zu jener traurigen Alltäglichkeit, über die Gustavo Pérez Firmat schreibt:

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Dreimal täglich die Augen öffnen/Vergessen, daß das Exil zugleich Begräbnis und Verbannung ist./Leben, dort w o es uns nichts bedeutet zu sterben./ Sterben an allem und jedem, außer an Liebe. (2000: 59)

Aus ihrer Kategorisierung der kubastämmigen Schriftsteller, die in den USA leben, folgert Isabel Alvarez Borland, daß man der Generation von Exilanten und Auswanderern, die noch in Kuba groß geworden sind, zwei Nachfolge-Generationen hinzufügen muß, die sie als die ,,'one-and-a-half' generation" und die „Cuban-American ethnic writers" bezeichnet. Sie folgt Pérez Firmat in der Definition der ersten Gruppierung, bestehend aus „writers who left Cuba during their early adolescence and thus had Cuban childhoods and U.S. adulthoods". (1998: 7) Nach Alvarez Borland erleben diese Autoren eine ausgeprägte Ambivalenz und fühlen sich gleichzeitig als Kubaner und U.S. Amerikaner. Sie schreiben mit relativer Leichtigkeit in beiden Sprachen, siedeln sich jedoch zumindest partiell in der nostalgiebehafteten Tendenz an. In ihren Texten finden sowohl die Entwurzelung als auch die politische Situation Kubas und das Phänomen, in den USA als hispano zu leben, ihren Niederschlag. Die „Cuban-American ethnic writers" sind hingegen „younger writers who came from Cuba as infants or who were born in the United States to parents of the first exile generation." (8) Diese schreiben ausschließlich auf Englisch und distanzieren sich stärker von den Themen, die mit der Diaspora in Zusammenhang stehen. Nur wenige der kubanisch-amerikanischen Autoren lassen sich eindeutig einer dieser Ausrichtungen zuordnen. Zweifellos war Maria Irene Fornés schon „Cuban-American ethnic writer", als noch niemand diesen Begriff formuliert hatte. Dies zeigen zum Beispiel Texte wie Sarita (1984) oder The Conduct of Life (1985). Fornés hat sogar selbst zugegeben, daß sie ihr bestes Werk Fefu and her Friends zum Rhythmus einer von Sehnsucht erfüllten Stimme geschrieben hat: I would put on the records of Cuban singer Olga Guillot. She is very passionate and sensuous. She is shameless in her passion. And I wrote the whole play listening to Olga Guillot. (Creese 1977: 30)

Ein ähnlicher Fall für das Französische ist Eduardo Manet, dessen Stück Les Nonnes (1969)2 sich laut Phyllis Zatlin metaphorisch auf die kubanische Revolution bezieht. Andererseits zählen Autoren wie Eduardo Machado (Revoltillo, Why to Refuse, Fabiola), Carmelita Tropicana (Memories of the Revolution), Iván Acosta (El super, No son todos los que 2

Die Nonnen, deutsch von Kati Röttger, in Kubanische Theaterstücke. (Adler, Herr 1999), S. 31-78.

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están), Gloria González (Café con leche), Miguel González-Pando (La familia Pilón, A las mil maravillas), Omar Torres (Cumbancha cubiche) und Luis Santeiro (Nuestra señora de la tortilla, La dama de La Habana) zu der Generation der „one-and-a-half", auf die sich Alvarez Borland bezieht. Obgleich fast alle ähnlich mit dem Motiv des Exils bzw. der Diaspora umgehen, sticht besonders Dolores Prida hervor, denn sie ist mit Stücken wie Beautiful Señoritas (1977), Savings (1985), Botánica (1990) und vor allem mit Coser y cantar (1981) charakteristisch für die postmodern geprägte Gegenbewegung zur Nostalgie des Exils. Vor allem Coser y cantar sichert dem kubanischen Theater vom anderen Ufer einen Platz im Hispano- bzw. Einwanderer-Theater der USA, denn das Stück verwandelt den Exilanten in ein Wesen der postmodernen Diaspora, in einen einfachen Touristen, nicht etwas aus freiem Willen, sondern aufgrund der Rolle, die er in einer ihm entfremdeten Umgebung spielen muß. Im Ergebnis entwickeln jene Individuen laut Judith Weiss „the sense of never quite belonging, of being uprooted". (1991:10) Die kanadische Wissenschaftlerin erläutert: Although most of Prida's characters are New Yorkers who consider Manhattan home, they are constantly confronted with the non-Hispanic assumption that they are foreigners. And most of those who are immigrants are never quite cured of that feeling of not being entirely here. (ibid)

In Coser y cantar wird somit das in der Moderne noch vorhandene Gefühl von Überlegenheit des Exils entmythologisiert. Die Auswanderin „Sie, eine kubanische Frau" verdoppelt sich und redet mit ihrem alter ego „She, the same woman", was das unabwendbare Verschwinden der ursprünglichen Einheit des eigenen Raumes und der Kultur widerspiegelt. Zugleich wird die zweitrangige Funktion der Frau innerhalb der machistischen kubanischen Gesellschaft in Frage gestellt. Die Problematik wird in einem zweisprachigen Kontext dargestellt, wodurch ein sehr wirksames kontrapunktisches Schema entsteht. Der Kampf zwischen den Sprachen ist Metapher für kulturelle Faktoren, die abgelehnt werden und unisono in den Prozeß einfließen, in dem eine neue Frau oder ein neues Hispano Wesen entsteht, eine ungewöhnliche Kreatur, die genauso gern „Avocado-Salat" wie „raw carrots", „schwarze Bohnen" wie „bean sprouts" ißt. (1991: 63) Doch dies erfordert ein Verwischen der „Landkarte", „the map", als transparentes Symbol für die bewußt oder unbewußt angenommenen Bereiche. Dem Bemühen von „Ella", die Muttersprache zu privilegieren und den Exilgedanken weiterzutragen, steht die Notwendigkeit entgegen, sich mit Hilfe der englischen Sprache zu assimilieren, wie es die Immigration erforderlich macht. Mariela Gutiérrez sagt:

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Ella/She erscheint vor unseren Augen als ein neues Individuum, zweisprachig und von zwei Kulturen geprägt; sie organisiert und konsolidiert ihr neues Leben, auch wenn sie... sich selbst und ihrer kubanischen kulturellen Vergangenheit treu zu bleiben scheint. (1999:162)

Diese Überschneidung erklärt den verzweifelten Kampf gegen das Heimweh und situiert Coser y cantar zugleich innerhalb jener schizophrenen Konstante, die für das kubanische Theater bestimmend ist. Dadurch wird die illusionäre Ausrichtung des zum Topos gewordenen Heimwehs in Frage gestellt, nämlich jener Aspekt der Exil-Trope, der den Menschen vereinzelt und isoliert. Vielleicht beruht das strittigste Element des in Frage stehenden Motivs gerade auf dem, was es am Leben hält und ihm Form und Gestalt verleiht: der Diskrepanz zwischen den politischen Einstellungen, die, obgleich sie Exil bzw. Repatriierung bedingen, auch die Entstehung einer ganzen Palette von Stücken zu beiden Ufern befördert haben. Diese sektiererischen bzw. Protest-Stücke zeugen von antagonistischen Haltungen, deren Aufhebung viele Kubaner des einen oder anderen Ufers vehement herbeisehnen. Beim Blättern in der Sondernummer der MICHIGAN QUARTERLY REVIEW mit dem Titel Bridges to Cuba/Puentes a Cuba stoße ich auf einen Artikel von Maria de los Angeles Torres, in dem sie sich für eine bessere Beziehung zur Insel ausspricht und ein Ende des USEmbargos fordert. Sie erläutert: The hardliners in Cuba have always been opposed to these changes. Their position of no negotiation is mirrored by hardliners in the United States. Yet what is certain is that any future resolution will have to include a constructive and respectful relationship between those who stayed and those who left and will continué to leave. (1994: 432)

In einem noch neueren Aufsatz von Ambrosio Fornet „La diáspora como tema" verspüre ich Kritik an jener ausschließlichen Haltimg, die der Protagonist von Memorias del subdesarrollo einnimmt, der sich - trotz seines kleinbürgerlichen Pharisäertums - darüber freut, daß alle Störenfriede außer Landes gegangen sind. Fornet erläutert dies: Etwas ähnliches hätte derjenige sagen können, der fortgegangen ist, denn auch er wollte seine Bestimmung frei wählen. Beide Seiten versuchen, ein Ziel zu erreichen, und das, was beide finden wollen, ist merkwürdigerweise dasselbe: Das Paradies. Allerdings sucht ein jeder es auf anderen und entgegengesetzten Wegen. Manche fliehen vor der roten Hölle und lassen sich im Garten Eden der Konsumgesellschaft nieder; die anderen bleiben und versuchen ihren eigenen Garten zu erschaffen, ihre eigene Utopie, die kommunistische Gesellschaft. (2000:131)

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Diese Haltung ist, so läßt sich ableiten, immer noch inakzeptabel. Ich lese auch erneut den hervorragenden Prolog von Carlos Espinosa Domínguez zu Teatro cubano contemporáneo und stoße darauf, daß er einerseits das teatro nuevo der Gruppe ESCAMBRAY und ihres Autors Albio Paz für die Fähigkeit lobt, „komplexe und widersprüchliche Wesen" zu zeigen, „die in der Lage sind, die Revolution mit der gleichen Vehemenz zu verteidigen, mit der sie sich an ein Stück Erde klammern würden" (1992: 46), während er andererseits das politische Theater des anderen Ufers mit dem Argument ablehnt der Revolutionsprozeß [...] ist wahrscheinlich das am stärksten von Ressentiment und Leidenschaft belastete Thema, was mehr als ein vielversprechendes Projekt zum Scheitern gebracht hat. (68)

All diese wohl begründeten Argumentationen zielen, wie viele andere ähnlichen Zuschnitts, in eine positive Richtung, das will ich einräumen, nämlich darauf, daß die Wiederherstellung der Einheit nicht nur des kubanischen Volkes, sondern auch seiner Literatur absehbar wird. Denn letztlich ist es das, woran alle interessiert sind, die hier zitiert wurden, in der Regel Autoren, die sich vom verbissenen ideologischen Engagement distanzieren. Andererseits wirft es eine schwierige Frage auf: Wie gehen wir mit dem politischen Theater um, das innerhalb und außerhalb Kubas in den 60er, 70er und 80er Jahre entstanden ist? Espinosa Domínguez nimmt in seine Anthologie das Stück Andoba o Mientras llegan los camiones von Abrahán Rodríguez auf, das schon in der Widmung („A Adianez, a Paloma, mis hijas; al CDR 3 17, Tirso Urdanivia"/„Für Adianez, für Paloma, meine Töchter, den CDR 17, Tirso Urdanivia") an „A mis hermanos muertos en la soledad de la Playa Larga/Meinen in der Einsamkeit von Playa Larga gestorbenen Brüdern" erinnert, das José Sánchez Boudy seinem Stück La soledad de la Playa Larga (Mañana, mariposa) voranstellt. Müssen wir mit Blick auf die Idylle einer Versöhnung jenes kubanische Theater außen vor lassen, das, um mit den Worten von Graziella Pogolotti zu sprechen, im Prozeß des „Aufbaus des Sozialismus" (1980: 20) entstanden ist, d.h. mehr oder weniger engagierte Stücke wie Girón: historia verdadera de la Brigada 2506 von Raúl Marias, das polemische Unos hombres y otros von Jesús Díaz über die Banditenjagd im Escambray, El juicio von Gilda Hernández oder La emboscada von Roberto Orihuela? Oder sollte man Stücke vom anderen Ufer wie Exilio von Matías Montes Huidobro oder Los hijos de Ochún von Raúl de Cárdenas unbeachtet lassen? Ich meine nein: kein ganzheitlicher Ansatz kann sich den Luxus erlauben, Texte auszuschließen, die sich mit 3

Comité de Defensa de la Revolución = Komitee zur Verteidigung der Revolution.

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der politischen Problematik der Insel beschäftigen und sich, wenn man so will, im Widerstreit befinden zwischen dem herrschenden Nationalismus und dem, was Said als den „discontinuous state of being (1984: 51) des Emigranten bezeichnet; jener Zustand also, der zur hartnäckigen Eifersucht auf jene führt, die ein Land haben, und der die Emigranten dazu treibt, heftig ihr Recht zu verteidigen, nicht dazuzugehören. Die politischen Faktoren sind wesentlicher Teil des Exil-Motivs und haben auf Seiten der Emigranten Stücke hervorgebracht, die Beachtung verdienen. Mit einzigartiger Klarheit zeigt sich das Protesttheater in La madre y la guillotina und Ojos para no ver von Montes Huidobro, in Las hetairas habaneras von José Corrales und Luis Pereiras, in Nuestra señora de Mazorra von Raúl de Cárdenas sowie in seinem Dokudrama Las sombras no se olvidan, dessen politische Leidenschaftlichkeit nicht seine vielfältigen dramatischen Vorzüge mindert. Sowohl Persecución, das von Reinaldos Arenas nicht sehr gut für die Bühne umgesetzt wurde, wie auch die überschwengliche Didaktik in Santa Camila de la Habana Vieja (1962) von José Brene und Calixta Comité (1982) von Eugenio Hernández Espinosa bergen substanzielle Werte des kubanischen Theaters und spielen auf konkrete Faktoren an, die - weil sie ursächlich für die Entstehung einer Diaspora waren - im guten oder im schlechten die dynamische Natur einer Trope angenommen haben. Nach dem Sieg der Revolution verbindet sich die Exil-Metapher mit dem Motiv der gespaltenen Familie zu einem emphatischen Ying und Yang. In dem auf Kuba geschriebenen Theater taucht das Exil als Alternative schon in einem so frühen Stück wie El hombre inmaculado von Ramón Ferreira auf. Es spielt zu Zeiten von Batista, in denen Miami zum Schutzort für Kinder wohlhabender Familien wurde. Es ist der sichere Ort, an den Ana Maria, Braut des Revolutionärs José Luis, fliehen will, weil sie sich gegen ihren Vater und all das, was er als Polizist des Geheimdienstes von Batista repräsentiert, auflehnt. „Miami", sagt die junge Frau, „[...] ist nah... aber dort muß ich mir nichts über Politik anhören, über Terroristen und auch nicht darüber, daß ich keinen Einkaufsbummel machen soll, weil ich umgebracht werden könnte." (1993:125) Bis zu einem gewissen Punkt wird diese metaphorische Version des fremden Raumes zur Achse der neuen Rhetorik, die in späteren Texten über die Familie und das Exil, das sie auseinanderreißt, zum Tragen kommt. Paradoxerweise führen die Wechselfälle der Geschichte später dazu, daß auf Kuba die nahegelegene nordamerikanische Stadt als Wiege allen Übels wahrgenommen wird, als feindliches und bedrohliches Terrain, von dem aus die Verräter (die „Maden", die „Vaterlandsverkäufer", der „Abschaum", die „Mafia", die „Gemeinde") erfolglos Pläne zur Rückeroberung der Insel schmieden. Andererseits wird in dem Theater des an-

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deren Ufers die Adoptivheimat Miami oder New York zwar manchmal kritisch gesehen, aber fast immer als Garant der lebensnotwendigen Freiheit. Es ist eine entfremdete Welt, in der sich der Emigrant niemals richtig wohl fühlt, in die er aber vor der Unterdrückung fliehen mußte, die mit dem politischen System Kubas gleichgesetzt wird. Es geht also um das paradigmatische Nebeneinander von jenen, die an die Unumgänglichkeit der Flucht geglaubt haben und jenen, die an ihrer Heimat aus Treue zum System oder aus Verbundenheit mit der Insel festgehalten haben: Heredias Vision trifft auf die von Milanés. Es wäre zu aufwendig, allen Nuancen nachzugehen, die die ExilTrope im Laufe der letzten 40 Jahren auf kubanischen Bühnen angenommen hat. Erwähnt werden sollte die symbolische Rolle, die dem Ehemann der Leonor in Santa Camila de la Habana vieja zugeschrieben wird, oder Los siete contra Tebas, ein Stück, das verunglimpft wurde und dazu geführt hat, daß sein Autor von der nationalen Szene verschwunden ist, wie Arrufat selbst in einem Interview gesagt hat (Barquet 1999: 94). Laut Barquet wird in diesem Stück „die Teilung der Familie, das erzwungene Exil, der Bruderkrieg [...] der hochmütige und irrationale Haß unter Brüdern" (1995: 81), der die Insel spaltet, in Frage gestellt. Auch Weekend en Bahía von Alberto Pedro sollte genannt sein, ein Stück über die Reisen vieler Exilanten zurück nach Kuba. Besonders interessieren mich drei Texte, die beinah wie Lehrstücke sind: La familia de Benjamín Garcia (1985) von Gerardo Fernández, Vereda tropical (1994) von Joaquín Miguel Cuartas Rodríguez und Te sigo esperando (1996) von Héctor Quintero. Trotz des zeitlichen Abstands zwischen den Stücken weisen sie Parallelen auf, wie sie das Auseinanderbrechen jener „Klassen-Familie" beleuchten, die für Riñe Leal „den Übergang zum Neuen" darstellt (1998: 24), besonders ab La emboscada (1978) von Roberto Orihuela. In den drei Stücken ist die Metapher der Diaspora Emblem für die Spaltung der Familie innerhalb Kubas. Fernando, der jüngste Sohn von Benjamín Garcia, entwickelt bürgerliche Attitüden, die im Gegensatz zur revolutionären Gesellschaft stehen. Sein Niedergang ist sowohl auf seine angeborenen Schwächen zurückzuführen als auch auf die Tatsache, daß er sich ideologisch und kulturell von sehr reichen Jugendlichen aus Miami hat verführen lassen, die zu Besuch auf Kuba wieder Kontakt zu Fernandos Mutter aufgenommen hatten. Zu Zeiten Batistas hatte seine Mutter die Jungen als Dienstmädchen groß gezogen. Wie viele andere entschließt sich Fernando dazu, illegal in die peruanische Botschaft 4 einzudringen, womit er so4

Im April 1980 besetzen über 10 000 Kubaner das Gelände der peruanischen Botschaft.

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fort zum typischen Konterrevolutionär wird. Tomás, Soldat und Freund des Protagonisten Benjamin, charakterisiert folgendermaßen die Flüchtlinge in der Botschaft: Wenn sie fortgehen, wenn sie das hier nicht begriffen haben, dann weil sie keine menschlichen Qualitäten besitzen. Und solche können wir in unserem Land nicht gebrauchen. Bei meiner Mutter, sieh doch, welch goldene Brücke. Außerdem muß man sich nur ihre Visagen anschauen. Abschaum, Benjamin. Ihr habt sie bloß im Fernsehen oder in der Zeitung gesehen. Aber ich war dort. Abschaum. Unkraut. Kaum haben wir seit ein paar Tagen das Problem in der Botschaft, schon ist die Zahl an Raubüberfällen unglaublich zurückgegangen. (1989: 261)

Innerhalb des auf Kuba herrschenden Gesellschaftssystems verliert Fernando, wenn er sich von der „Klassen-Familie" abwendet und sich zur Auswanderung entschließt, nicht nur das Recht auf seine cubania, sondern auch auf seine unmittelbare Umgebung, die von Benjamin Garcia, dem „Erzeuger des Abschaums", schlecht gelenkt wurde. Dies will der flammende tragische Held Benjamin vor seiner Einheit selbst bekennen, d.h. vor dem Kollektiv der Mitbürger, dem er Rechenschaft ablegen muß. Vereda tropical beruht auf einem ähnlichen Schema. Die „Genossin" Buenavista Rufino Ruiz (Bururú), Symbol der „Würde", „rara avis", der der Autor sein Stück widmet, muß mitansehen, wie ihre Familie während der Sonderperiode immer kleiner wird. Schuld daran trägt die Rückkehr nach Kuba ihrer alten Freundin Gladis la Jabá. Diese hatte sich zur Auswanderung entschieden und damit ihre Klasse und ihre Freundin Bururú verraten, mit der sie Wachdienste, freiwillige Arbeitseinsätze und interessante Gespräche geteilt hatte. In den USA hat sie es zu Reichtum und Glück gebracht. Wie die Alte Dame von Dürrenmatt in klein, kommt sie beladen mit den typischen Dingen der Konsumgesellschaft an und zieht nacheinander Caridad und Pititi, Bururús Tochter und Enkelin, auf ihre Seite. Als sie ihnen die Wohnung anbietet, die sie gerade in Vedado gekauft hat, vollzieht sich der Bruch der Familie. Bururú bleibt allein zurück mit ihrer Würde. Das optimistische Lied, das sie am Ende anstimmt und das vom Schicksal eines anderen Einsamen, dem verstorbenen Greis Romualdito handelt, läßt sie genau wie Benjamin Garcia zur tragischen Heldin werden, die dank ihres ideologischen Engagements für den Revolutionsprozeß trotz allem überleben wird. In seiner volkstümlichen Tragikomödie Te sigo esperando verwendet Héctor Quintero das Motiv der geteilten Familie als Auslöser für einen typischen Konflikt zwischen Guten und Bösen. Aldo, der in Miami lebende Bruder, ist eine der negativen Figuren, denn er steht für das mit

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dem kapitalistischen Konsum assoziierte Fehlverhalten. Er lebt für seine Arbeit und zu Lasten der Familie und nimmt eine extrem konterrevolutionäre Haltung ein. Vor allem legt er einen materialistischen Egoismus an den Tag, der ihn dazu bringt - wie der Zuschauer/Leser vermuten darf -, die Telefonanrufe seiner Schwester Teté zu kritisieren, selbst als der Vater im Sterben liegt. Die Schwester ist hingegen das Abbild von Tugenden, die sich zwischen spanischem Traditionsbewußtsein und revolutionärem Geist bewegen. Als gehorsame Tochter widmet sie sich der Pflege des Vaters mit der gleichen Hingabe wie ihren Aufgaben als Regierungsbeamtin. Sie ist stolz auf ihre politische Überzeugung und den Prozeß, an dem sie beteiligt ist. Unwissentlich wird sie zum Opfer von Ursula und deren Sohn Alain, Außenseiter und Sinnbild des in La familia de Benjamín Garcia kritisierten asozialen Abschaums. Um mit ihnen fertig zu werden, greift Teté zu einer herkömmlichen Strategie des teatro bufo, das für Quintero eine ergiebige Fundgrube darstellt. Alain nimmt sowohl durch seinen Vornamen als auch durch den Gebrauch von Anglizismen wie „what?", „okey" und „very happy" sein Schicksal am anderen Ufer und seine bevorstehende Auswanderung vorweg, denn ihm fehlen die Tugenden, um in der Revolution zu überleben. So ist in allen drei Stücken das andere Ufer ein Hort des Bösen, wohin sich nur die Verirrten und Verderbten aufmachen. Diese drei Stücke zeigen den didaktischen Einsatz der Exil-Trope in der dramatischen Verarbeitung des familiären Ambientes. Die Konzepte der Entwurzelung, Verwurzelung und möglichen bzw. unmöglichen Rückkehr werden andererseits auf weniger lehrhafte, dafür stärker postmoderne Weise behandelt. In den 60er Jahren führen die hoffnungslose Leere als Folge des Zwangs, das Chaos und die unkontrollierte Gewalt zu dem Wunsch fortzugehen oder es zumindest zu versuchen. Stücke wie La sal de los muertos, Los acosados und La madre y la guillotina von Matías Montes Huidobro, La noche de los asesios von José Triana und Los mangos de Caín von Abelardo Estorino, die alle auf der Insel geschrieben wurden, spielen auf unterschiedliche Weise mit dem Motiv. In den 70ern reflektieren in USA Stücke wie El súper von Iván Acosta die nostalgisch geprägte Variante der Trope. Darüber hinaus führen sie schon eine zweite Nuance ein, nämlich die aus sprachlichen und kulturellen Gründen schwierige Anpassung, die der Einwanderer im angelsächsischen städtischen Ambiente erlebt. Kurz nach den Ereignissen im Hafen von Mariel5 schreibt Acosta ein weiteres Stück, das teilweise mit der Problematik der geteilten Familie in Verbindung steht. Un cubiche en 5

1980 erhöht die schlechte Wirtschaftslage auf Kuba den Ausreisedruck. Castro ordnet schließlich die vollständige Öffnung des Seewegs nach Florida an. Rund 120 000 Menschen verlassen Kuba auf Schiffen aus dem Yachthafen Mariel.

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la luna spielt auf humorvolle Weise mit gegen den offiziellen kubanischen Diskurs gerichteten politischen Begriffen. Beredt richtet es sich gegen Texte wie La familia de Benjamin Garcia, Vereda tropical und Te sigo esperando. Während das Stück mit einer gewissen einstudierten Ernsthaftigheit die volkstümliche Dialektik der Insel nachäfft, womit Acosta dem theatralen Diskurs eine realistische Note verleiht, bewertet es auf ideologischer Ebene die Flucht Federicos in einem Heißluftballon positiv. Federico ist jener cubiche, also durch und durch Kubaner, der zum Mond fliegt, weil jeder Ort besser als der eigene ist. In diesem Fall sind diejenigen, die gehen, nicht der typische Abschaum, sondern einfache Menschen, die von einer besseren Zukunft träumen. Vor allem in den 80er und 90er Jahren bringt der wachsende Kontakt zur verlassenen Heimat eine ganze Reihe von Stücken hervor, in denen es um die Familie geht. Diese Stücke beschäftigen sich gleichermassen mit der Bedeutung Kubas für die Psyche des Exilanten wie mit der Möglichkeit der Aussöhnung. Drei davon, Sanguivin en Union City von Manuel Martin Jr., Alguna cosita que alivie el sufrir von René Alomä und Nadie se va del todo von Pedro Monge Rafuls6 stehen für eine scharfsinnige Verarbeitung des Exil-Motivs.7 Sanguivin en Union City (Union City Thanksgiving) und Alguna cosita que alivie el sufrir (A Little Something to Ease the Pain) sind beides Stücke, die zunächst auf Englisch geschrieben und später ins Spanische übersetzt wurden. Sie drehen sich um die drei Aspekte des Motivs: das Heimweh, die Komponente des politischen Protestes und das Exil, das den familiären Kern zerrüttet. In dem Stück von Martin wird die Spaltung, die auf veristische Weise dargestellt wird, durch Gespräche deutlich, die während einer Familienfeier stattfinden. Die Diskussionen, um die es in dem Stück geht, heben sich ab von Generationskonflikten und ideologischen Divergenzen. Daß ein nordamerikanisches Fest Gelegenheit ist, um politische Zwistigkeiten mit klassischer latino-Hitzigkeit auszutragen und auf fast krankhafte Weise über das Heimweh zu reden, verleiht dem mit der Treffsicherheit eines Scharfschützen geschriebenen selbstkritischen Stück ein ironische Note. Dagegen verlagert Alguna cosita que alivie el sufrir, das die Rückkehr eines Exilanten nach Kuba zum Thema hat, die Sehnsucht und die wi6

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„Niemand geht ganz und gar", deutsch von Almuth Fricke, in Kubanische Theaterstücke. (Adler, Herr 1999), S. 247-296. Alguna cosita que alivie el sufrir und Nadie se va del todo analysiert Febles eingehend in seinem Aufsatz „Vom Zorn der 70er Jahre zur Sehnsucht nach Versöhnung der 90er: Revolution und Konterrevolution in fünf kubanischen Exilstücken", in Zu beiden Ufern: Kubanisches Theater, hrsg. von Heidrun Adler, Adrián Herr. Frankfurt/Main 1999, S. 75-97.

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dersprüchlichen politischen Haltungen des Exils auf die Insel. Das Motiv der gespaltenen Familie, die vorübergehend wieder vereint nichts anderes zu tun hat, als die erneute und durch nicht persönlich bedingte Faktoren unvermeidliche Trennung zu beklagen, spiegelt die zermürbende Kreisbewegung, die Montes Huidobro schon früh in seinen Arbeiten zum kubanischen Theater hervorgehoben hat. Fast am Ende des Stücks erklärt die Großmutter Pacha dem Protagonisten Pay: „Du wirst zurückkehren, Pay. Ich weiß, du wirst zurückkehren. Vielleicht nicht sehr bald, aber du wirst zurückkehren. Alle werden zurückkehren." (1992: 1332) Diese Worte verdeutlichen, ohne dabei die Mißstände schön zu reden, daß - wie es die Hauptperson im Schlußmonolog bekräftigt - der Schmerz über die Teilung und Abwesenheit der Familie weiterbesteht. Beides wird dramatisch nicht gelöst. Ganz im Gegenteil droht die Situation noch schwieriger zu werden, da nun auch Tatin, der bisher systemtreue Bruder, mit dem Gedanken spielt, das Land zu verlassen. In Nadie se va del todo befaßt sich Pedro Monge Rafuls ebenfalls mit dem Thema der Rückkehr. Er nimmt eine kritische Haltung gegenüber dem kubanischen Revolutionsprozeß ein, dennoch gestaltet er seinen Text differenziert, indem er der bekannten Rhetorik ein komplexes technisches und symbolisches Gerüst verleiht. Dadurch gerät der Text zu einer schwindelerregend kafkaesken Projektion. In Nadie se va del todo bekommt die Familie, die durch die politische Krise von 1960-61 auf Kuba zerstört wurde, im Exil erneut Risse, genau wie in El super, Sanguivin en Union City und anderen verwandten Stücken. In diesem Fall lehnen die in den USA geborenen Enkel die Loyalität, die ihre Großmutter Lula zu ihrer Heimat empfindet, ab. Der Sohn Tony verkörpert dagegen den typischen „one-and-a-half", denn er bewegt sich zwischen den Kulturen oder, wenn man so will, gegen die Kulturen. Für ihn ist die Wiederbegegnung mit der Insel heilsam, denn sie verhilft ihm dazu, sich selbst zu finden und zu verändern, wie er am Grab seines Vaters beteuert. Tonys Ehefrau Lourdes ist andererseits das, was Pérez-Firmat als „Cuban-bred American" (1994: 5) bezeichnet. Als Nordamerikanerin kubanischer Herkunft betrachtet sie Kuba als zur Legende gewordene Abstraktion, die von der älteren Generation erfunden wurde. Bei ihrer Ankunft auf der Insel finden Lula und Tony dort familiäre Probleme vor, die genau wie ihre eigenen sind. Antonio und Coral, Lulas Schwiegereltern, sind gegen das Regime, das die Hinrichtung ihres einzigen Sohnes befohlen hat, auch wenn Coral eine gewisse Toleranz gegenüber den CastroGetreuen zeigt, was Lula anwidert. Auf der anderen Seite sind Asunción und Mime, das Paar der neuen Generation, für den Fortbestand der Trennung der Familien, die eine Metapher ist für das unabwendbare Schicksal ihres Vaterlandes. Während die Milizionärin Asunción voll

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hinter dem Regime steht, übt Mime Kritik daran, obwohl er sich - wie Milanes - auf immer mit seiner Heimat verbunden fühlt. Wie in dem Stück angedeutet wird, ließe sich dieser andauernde Krisenzustand nur durch Versöhnung oder Wiederbegegnung der ideologischen Widersacher lösen. Unter diesen Umständen hat die Exil-Trope eine didaktische Funktion, denn vom Inhalt des Stückes läßt sich nicht nur die Notwendigkeit ableiten, die voneinander getrennten Menschen wieder zusammenzuführen, sondern auch die Erkenntnis, daß, wie Fornet es postuliert, „die kubanische Kultur eins ist" (2000: 136), und darüber hinaus vielleicht auch die Gesellschaft. So gesehen ist der Topos der aus politischen Gründen geteilten Familie eine Konstante, die es zu tilgen gilt. Ich habe versucht, das Motiv des Exils mit drei seiner deutlichsten Facetten nachzuzeichnen: das Heimweh, das in allen Texten auftaucht, in einigen jedoch besonders thematisiert wird; die Ebene des politischen Protestes, die fast jedes Stück in unterschiedlichem Maße anschneidet und die häufige Metapher der gespaltenen Familie, ein Gemeinplatz des kubanischen Theaters, der auf die Gegenwart projiziert wird, wo er zum dynamischen Sinnbild der kubanischen Situation nach der Revolution wird. Indem ich das Motiv mit einer Vielzahl von Stücken und einer ganzen Tradition der Emigration, die fast auf den Beginn unserer Nationalliteratur und -geschichte zurückgeht, in Verbindung gebracht habe, wollte ich zeigen, daß die Trope vorwiegend auf schon bestehenden Prämissen beruht, auf den Begriffen des Gehens und Bleibens, auf der Sichtweise der persönlichen und nationalen Realität von hier aus und von dort aus, auf einem Dialog der Tauben, die dennoch versuchen, sich - so paradox es auch klingen mag - mit ihnen gemeinsamen Zeichen und Bildern zu verständigen oder voneinander abzusetzen. Schließlich setzt das Schreiben vom Exil aus hin zur (oder über die) Heimat oder von der Heimat aus hin zum (oder über das) Exil ein unumgängliches Engagement für ein und dieselbe poetische Substanz, für ein und denselben Referenten voraus, unabhängig davon, wie damit umgegangen wird. Natürlich ist die Exilmetapher vom anderen Ufer aus, jenem „perilous place of not belonging", auf den sich Edward Said (1984: 51) bezieht, viel eindringlicher. Wenn es stimmt, wie der palästinensische Wissenschaftler behauptet, daß „much of the exile's life is taken up with compensating for disorienting loss by creating a new world to rule" (52), so fiktionalisiert der exilierte oder ausgewanderte Schriftsteller - in unserem Fall der Theaterautor - aus egoistischen Beweggründen seine private Welt und die Welt derer, die ihn umgeben oder umgaben. Dabei hält er sich an Erinnerungen, politische Zwistigkeiten oder familiäre Meinungsverschiedenheiten, die ihn dazu gezwungen haben, sich mit großem Un-

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willen an fremden Orten zu bewegen, wo er sich meistens nicht unbedingt völlig eingliedern möchte. Obwohl er sich manchmal überlegen fühlt, weil er in einem so fremden Kulturraum heimisch werden konnte, empfindet er Sehnsucht nach dem Unwiederbringlichen. Dieser intensive Schmerz gibt den Metaphern, die er verwendet, um mit dem Verlorenen in einen Dialog zu treten, eine eigene Dynamik und macht sie problematisch. Meines Erachtens rührt daher die Vitalität der Trope: während am einen Ufer die Sehnsucht fortlebt, verspürt man am anderen, daß es in der Ferne Menschen gibt, die Sehnsucht haben; während man außen die Flucht rechtfertigt, indem man das System kritisiert, werden von innen diejenigen angegriffen, die das System durch ihre Flucht verraten haben; während man woanders davon träumt, die gespaltene Familie wieder zusammenzuführen, kommt auf Kuba - wo zuvor der Fenstersturz als unvermeidlich angesehen wurde - ein neuer versöhnlicherer Wind auf. Dieser lange und schwere Prozeß wird Schritt für Schritt verständlich, wenn man das Exil-Motiv im kubanischen Theater nach der Revolution vor dem Hintergrund der kubanischen Tradition nähert betrachtet. Deutsch von Almuth Fricke

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Jorge Febles

Jorge Febles lehrt an der Westem Michigan University. Publikationen: Aufsätze über Roberto G. Fernández, José Martí, Matías Montes Huidobro. Hrsg.: Cuentos olvidados de Alfonso Hernández Cata. Senda Nueva 1982; zusammen mit Armando González-Pérez: Matías Montes Huidobro: Acercamientos a su obra literaria. Mellen Press, Lewiston 1997 (Sammlung von Aufsätzen).

Frauke Gewecke

Theater und Gthnizität: das Beispiel der Cuban Americans Am 5. Oktober 1908 erlebte in Washington D. C. ein Theaterstück seine Uraufführung, das dem klassischen Einwanderungsland USA jenes Schlagwort liefern sollte, welches über Jahrzehnte auf anschauliche Weise nationales Selbstverständnis artikulierte: The Melting Pot, verfaßt von dem englischen Romancier und Dramatiker Israel Zangwill. Das Stück, das hinsichtlich der Fokussierung der dramatischen Handlung wie der Strukturierung der Figurenkonstellation bereits auf die Praxis jener Autoren verweist, die eine spezifisch kubanisch-amerikanische Theatertradition begründen werden, thematisiert die Orientierungs- oder Anpassungsprobleme einer jüdischen Immigrantenfamilie in New York, dies über einen Familienkonflikt, in den drei Generationen involviert sind. Während die Großmutter, Frau Quixano, sich den Kultureinflüssen einschließlich der Sprache der Aufnahmegesellschaft strikt verweigert - sie fühlt sich ausschließlich den Werten und Traditionen ihrer Herkunftskultur verpflichtet -, und der Sohn Mendel sich zwecks Sicherung des materiellen Überlebens zwar vordergründig und nur selektiv assimiliert, dabei aber mit sich und seiner Umwelt in Konflikt gerät - er versichert sich auch weiterhin über den Rückbezug auf die russische Heimat und die jüdische Religion seiner Identität als russischer Jude -, steht der Enkel David für eine bewußte und zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit der neuen Lebenswelt und das Aushandeln einer neuen, die Gegenwart mit der Vergangenheit versöhnenden Identität: eben jenes Konzept der Interaktion, das der Titel benennt. Auf der Handlungsebene konkretisiert sich dieses Konzept in der am Ende des Stückes gegen mancherlei Widerstände durchgesetzten Heirat des Juden David mit der Christin Vera; doch präsentiert der Autor mit seiner Vorstellung vom „Schmelztiegel" eine über die individuelle Geschichte der beiden Liebenden hinausweisende Vision, wenn er sie im Schlußbild vom Dach eines Wolkenkratzers im Glanz der untergehenden Sonne über New York schauen und David, die Freiheitsstatue fest im Blick, sagen läßt: There she lies, the great Melting Pot - listen! Can't you hear the roaring and the bubbling? There gapes her mouth - the harbour where a thousand mammoth feeders come from the ends of the world to pour in their human freight. Ah, what a stirring and a seething! [...] how the great Alchemist melts and fuses them with his purging flame! Here shall they all unite to build the Republic of Man and the Kingdom of God. (Zangwill 1925:184f.)

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Zangwills Stück erhielt breiten Zuspruch, unter anderem von Präsident Theodore Roosevelt, dem der Autor die endgültige, 1909 publizierte Fassung widmete, und es popularisierte einen Begriff, den Zangwill zwar nicht erfunden, wohl aber zu einem tragfähigen Symbol stilisiert hatte, mit dem fortan die - tatsächliche oder auch nur behauptete - assimilatorische Kraft der Vereinigten Staaten beschworen werden sollte. Doch es gab auch vehementen Widerspruch: von Seiten derer, die nicht bereit waren, als Immigranten ihre spezifische kulturelle Identität zu opfern, wie auch von seiten derer, die im Prinzip eine Homogenisierung befürworteten, jedoch uneins darüber waren, wie denn nun das Endprodukt des angestrebten „Schmelzprozesses" aussehen sollte. Der Vorstellung des jungen David in Zangwills Theaterstück entsprach ein Konzept, nach dem die Herkunftskulturen der in den melting pot eingehenden Immigranten zwar eingeschmolzen und sich somit in ihrer spezifischen Konfiguration auflösen würden; doch leisteten diese durchaus einen wertvollen Beitrag, indem sie, so David, „melting and re-forming" (33), das Material lieferten, aus dem sich das Endprodukt, „the real American" und „perhaps the Coming superman" (34), herausbilden würde. Somit stand Zangwills melting pot für ein Konzept, das kulturelle Differenz aufheben, aber mit den diversen Ingredienzien etwas gänzlich Neues schaffen wollte. Sehr bald aber sollte sich zeigen, daß die Idee vom melting pot, propagiert als gesellschaftspolitische Forderung, auf eine Homogenisierung abzielte, die „Amerikanisierung" nur mehr als Assimilation an die anglo-amerikanische mainstream-Gesellschait begriff, so wie sie von den WASP, den White Anglo-Saxon Protestants, verkörpert wurde.' Spätestens mit den Bürgerrechtsbewegungen der 60er Jahre geriet die Vorstellung von Amerika als melting pot in Mißkredit. Die einst beschworene assimilatorische Kraft der US-amerikanischen Gesellschaft erwies sich angesichts der andauernden Diskriminierung und Ausgrenzung von Minderheiten schlicht als Fiktion, und diese Minderheiten erklärten sich nunmehr, gewissermaßen in einem Akt der Selbstbehauptung und des Widerstands, als „unmeltable". Die Vereinigten Staaten, so wurde postuliert, seien eine „plurale" Gesellschaft; und mit der Parole 1

In einem auf Januar 1914 datierten „Afterword" präzisierte Zangwill das in seinem Theaterstück entworfene Konzept vom melting pot, indem er den Begriff der Assimilation im Sinne einer Anpassung an ein vorgegebenes Modell ausdrücklich zurückwies; so heißt es dort: „The process of American amalgamation is not assimilation or simple surrender to the dominant type, as is popularly supposed, but an all-round give-and-take by which the final type may be enriched or impoverished." (1925: 203). Zur Kontroverse um das Konzept des melting pot in den USA vgl. Gleason 1964 und 1979.

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„we are all ethnics" wurde ein neues Konzept propagiert, das sich wie jenes vom melting pot großer Popularität erfreuen sollte: das Konzept der ethnicity, das nun aber gleichermaßen nicht unwidersprochen blieb. „Ethnizität" - so sei hier in einer ersten Annäherung an das komplexe Phänomen postuliert - bezeichnet das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer distinktiven ethnischen Gruppe, die sich selbst über bestimmte, im wesentlichen kulturspezifische Kriterien eine wiederum distinktive Identität zuschreibt und sich damit bewußt - und selbstbewußt - von anderen ethnischen Gruppen unterscheidet. Anders als die „Nation", die sich gleichermaßen über die Projektion und Präsentation kultureller Identität definiert, aber an die Existenz oder Vorstellung eines eigenen, angestammten Territoriums gebunden ist, repräsentiert die „ethnische Gruppe" eine Teilidentität im Gesamtzusammenhang eines Staates, in dem sie sich gegen andere ethnische Gruppen, vor allem aber in Konkurrenz zur dominierenden Mehrheitsgesellschaft als ethnische Minderheit zu behaupten sucht. Ein solches (Selbst-)Bewußtsein kennzeichnete in den USA die Bewegung des „ethnic revival", die vor allem von den Afro-Americans, den Native Americans und dem Chicano Movement der Mexican Americans getragen wurde. Für die in den USA lebenden Kubaner hingegen war die Diskussion um eine Revitalisierung von „Ethnizität" (zunächst) schlicht bedeutungslos, denn diejenigen, die über die ersten Migrationsschübe ins Land gekommen waren, betrachteten sich nicht als Immigranten, sondern als Exilanten, die zwar bestimmte, dem sozialen Aufstieg förderliche Kulturelemente der US-amerikanischen mainstream-Gesellschait übernommen haben mochten, sich aber weiterhin über den territorialen Rückbezug auf die „Insel" als „Kubaner" einer „nationalen" Identität versicherten. Erst ab Mitte der 70er Jahre erfolgte ein Wandel im Selbstverständnis vor allem der Jüngeren, die als Kinder oder Heranwachsende in Begleitung der Eltern aus Kuba in die USA emigriert waren, hier nun die entscheidende Phase ihrer Sozialisation erlebt hatten und ihre Identität nicht mehr - oder nicht mehr ausschließlich - wie noch die Elterngeneration über den Rückbezug auf die (kaum noch erinnerte) Vergangenheit und (das für sie ferne) Kuba bestimmen konnten. Sie begannen, sich nun nicht mehr als Kubaner und Exilanten, sondern als Cuban Americans und ethnics zu begreifen.2 Und während die erste „Generation des Exils" in 2

Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich im Süden von Florida im Zusammenhang mit einer florierenden Tabakindustrie Enklaven kubanischer Einwanderer herausgebildet, die in West Tampa und Ybor City ein reges Theaterleben entfalteten. Dieses Theater, das im wesentlichen auf die Tradition des populären teatro bufo zurückgriff, weist bereits Charakteristika eines „ethnischen" Theaters auf. (Vgl. hierzu Dworkin y Méndez 1999).

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ihrer literarischen P r a x i s , g a n z in d e r Tradition v o n „Exilliteratur", d e n Blick z o r n i g u n d / o d e r n o s t a l g i s c h z u r ü c k auf die v e r l o r e n e L e b e n s w e l t u n d die v e r l o r e n e Zeit gerichtet hielt, kennzeichnet viele A u t o r e n u n t e r d e n „ K i n d e r n d e s E x i l s " n u n m e h r die P e r s p e k t i v e einer ethnic literature, mit d e r die aktuelle Situation d e s u m ein A u s t a r i e r e n d e r v e r s c h i e d e n e n K u l t u r t r a d i t i o n e n b e m ü h t e n I n d i v i d u u m s in d e n - n u n nicht m e h r z o r n i g e n u n d / o d e r n o s t a l g i s c h e n - Blick g e n o m m e n w i r d . 3 O d e r , w i e e s Dolores Prida, h e r a u s r a g e n d e Vertreterin dieser G e n e r a t i o n d e r „ K i n d e r d e s Exils", für ihre eigene T h e a t e r p r a x i s formulierte: [...] most of my plays have been about the experience of being a Hispanic in the United States, about people trying to reconcile two cultures and two languages and two visions of the world into a particular whole: plays that aim to be a reflection of a particular time and space, of a here and now. (Prida 1989:182) Ethnizität - hier g l e i c h g e s e t z t mit e t h n i s c h e r Identität 4 - speist sich a u s e i n e m R e s e r v o i r kulturell definierter M e r k m a l e 5 , die als kollektives W i s s e n innerhalb d e r G e m e i n s c h a f t o d e r e t h n i s c h e n G r u p p e t r a d i e r t w e r den, u n d manifestiert sich in Einstellungen u n d Verhaltensweisen, die in d e r sozialen P r a x i s d i e Z u g e h ö r i g k e i t d e s I n d i v i d u u m s z u r jeweiligen G r u p p e w i e a u c h die A b g r e n z u n g g e g e n ü b e r a n d e r e n G r u p p e n signalisieren. Die Stiftung ethnischer Identität beinhaltet - w i e jeder P r o z e ß d e r subjektiven Identifikation mit einer sozialen G r u p p e - p r i m ä r einen A k t 3

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Eine eindeutige Trennung von „Exilliteratur" und „ethnischer Literatur" ist nicht für jeden Autor festzustellen, haben doch manche in ihrem Gesamtwerk, bisweilen sogar in einem Einzelwerk die beiden Kategorien zugehörigen thematischen Schwerpunkte gesetzt; desgleichen bedeutet die Praxis als „ethnischer Autor" nicht in jedem Fall, wie noch zu zeigen sein wird, den Verzicht auf das Epitheton des „Exilanten". (Zu „Exilliteratur", „ethnische Literatur" und „Literatur der Diaspora" im kubanischen Kontext vgl. Gewecke 2001.) „Ethnizität" und „ethnische Identität" werden in der Forschungsliteratur bisweilen unterschieden, indem „Ethnizität" die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe und „ethnische Identität" die bewußte Annahme der (zugeschriebenen) Zugehörigkeit bezeichnet. Eine solche Differenzierung ist jedoch obsolet, wenn „Ethnizität", wie hier geschehen, nicht als objektiv gegebene und empirisch nachweisbare Kennzeichnung spezifischer Merkmale, sondern als Ergebnis eines (subjektiven) Identifikationsprozesses gesehen wird (s. a. unten). Häufig werden zur Bestimmung ethnischer Gruppen (wie auch Nationen) neben der gemeinsam erlebten Geschichte rassische Merkmale herangezogen, über die auf eine (geglaubte) Blutsverwandtschaft oder Abstammungsgemeinschaft verwiesen wird. Der Aspekt phänotypischer Merkmale tritt gegenüber den kulturell definierten Merkmalen in den hier zu analysierenden Texten zurück; hingegen wird gemeinsam erlebte Geschichte über die Erfahrung des Exils durchaus thematisiert, doch wird dieser Aspekt hier unter den Begriff der „politischen Identität" gefaßt.

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der Grenzziehung und der Benennung einer Differenz, wobei diese Differenz des „Eigenen" nun aber nicht in einem vorgegebenen festgefügten und konstanten Muster essentieller Eigenschaften begründet ist, sondern in der jeweiligen Situation der sozialen Interaktion in Opposition zum „Anderen" immer wieder neu definiert wird. Ethnizität wird somit verstanden als das Ergebnis eines Prozesses der Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung 6 , in dem das Individuum sich wohl tradierter Kulturmuster als Ressource der eigenen Identitätsbildung bedient, diese aber handhabt wie ein frei verfügbares Reservoir von Merkmalen, auf die es entsprechend den aktuell gegebenen Erfordernissen selektiv und mit möglicherweise je unterschiedlicher Akzentuierung zurückgreift. 7 Für die in die USA emigrierten Kubaner sollte sich ein solches Identitätsmanagement als ausgesprochen problematisch erweisen. Denn zum einen sahen sie sich in der objektiven Situation einer ethnischen Minderheit, die, wollte sie überleben, die eigene Ethnizität behaupten und begründen mußte; zum andern galt es, der subjektiven Befindlichkeit als Exilant - und damit der politischen Identität in Konkurrenz zur ethnischen Identität - Geltung zu verschaffen mit der Konsequenz, daß man sich lange Zeit beharrlich der Identifizierung als „ethnische Minderheit" verweigerte und ausschließlich auf eine „nationale" Identität berief. Wie nun in der literarischen Praxis der jüngeren Generation von Cuban Americans Ethnizität konstruiert wird, das heißt: welche spezifischen Merkmale für die Benennung von Differenz als signifikante und relevante Identitätsbausteine aus dem Reservoir der cubanidad oder cubanta ausgewählt und abgerufen, möglicherweise auch kritisch hinterfragt werden

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Auf den Aspekt von Fremdwahrnehmung und Fremdzuschreibung aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft wird noch zurückzukommen sein. Ich folge hier der klassischen Studie von Fredrik Barth (1969), der als definitionsrelevant für die „ethnische Gruppe" das Faktum der Etablierung und Aufrechterhaltung einer „ethnischen Grenze" benennt, nicht hingegen „the cultural stuff that it [the ethnic boundary] encloses" (15). Auf ihn berufen sich in der sozial- und kulturanthropologischen Forschung jene, die einen subjektivistischen oder konstruktivistischen Ansatz vertreten, entsprechend der Feststellung Barths, daß der Aspekt der „ascription" als „the critical feature of ethnic groups" (14) zu sehen ist. Der „cultural stuff" gilt hingegen denen als Definitionskriterium, die als Vertreter eines objektivistischen oder essentialistischen Ansatzes für ethnische Gruppen die Existenz objektiv faßbarer und konstanter Merkmale postulieren. Zur Diskussion um die verschiedenen Forschungsansätze vgl. unter den zahlreichen Überblicksdarstellungen Heinz 1993, Ganter 1995 und Pascht 1999; sowie den von Sollors (1996) herausgegebenen Reader.

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und wie ethnische Grenzen markiert oder neu definiert werden, sei nachfolgend am Beispiel ausgewählter Theaterstücke erörtert.8 Kulturelle Differenz wird zunächst markiert durch ein relativ einheitliches Repertoire an Merkmalen der Alltagskultur, die als Symbole, als diakritische Identitätszeichen und kulturelle „Grenzwächter" (Barth), über den rein handlungsorientierten, bisweilen eher banal anmutenden Zusammenhang hinausweisen und in rituelle Handlungen eingebunden sind. So wird im Familien- und Freundeskreis beständig Kaffee getrunken - „café cubano", wie bisweilen präzisiert -, wird ausführlich über Eßgewohnheiten diskutiert, wobei die Eltern eine eindeutige Präferenz für traditionelle kubanische Gerichte zeigen, während die Kinder, genauer: die Töchter, sich bereits am Schlankheitsgebot des US-amerikanischen mainstream orientieren und sich vorzugsweise von Yoghurt und Salat ernähren, was bei den Müttern Anlaß zur Besorgnis ob der Gesundheit ihrer „mageren" Töchter gibt und von den Vätern (und Ehemännern) etwa auf folgende Weise kommentiert wird: „Bei dir", so der männliche Protagonist in El súper von Iván Acosta zu seiner Frau, „gab es immer was zum Anfassen. [...] Ich will Fleisch, mein Schatz, mit Knochen darf man mir nicht kommen." (Acosta 1982: 42) 9 Und schließlich wird im Alltag Identität auch über Musik markiert und präsentiert, indem das Radio oder der Schallplattenspieler als selten fehlende Requisiten den Handlungspersonen die Möglichkeit bieten, ihrer Präferenz für traditionelle kubanische Musik oder aber USamerikanische Pop-Musik Ausdruck zu verleihen, wobei Musik und Tanz bisweilen zum entscheidenden Prüfstein von Identitätsgewißheit stilisiert werden; etwa wenn bei Omar Torres der Vater dem über Identitätsverlust klagenden Sohn entgegenhält: „You are Cuban all right. You're young, your life is ahead of you; our lives, your mother's and mine, are behind; we don't even dance the rumba any more. Do you want to know if you're Cuban, wait until you hear a good rumba; if you're Cuban you won't be able to stand still." 10

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Für einen (allerdings nicht ganz aktuellen) Überblick über die Theaterproduktion der in den USA lebenden Kubaner bzw. Cuban Americans vgl. Escarpanter 1986, zu ergänzen durch die Beiträge in A d l e r / H e r r 1999. Die Übersetzung der spanischen Zitate stammen von der Verf. Die bisweilen nicht schlüssige Interpunktion w u r d e korrigiert; dies gilt auch für die in einigen englischsprachigen Texten enthaltenen orthographischen Fehler, sofern diese nicht auf mangelnde Sprachkompetenz der handelnden Figuren verweisen. Das Zitat entstammt dem Fragment eines Theaterstücks, das O m a r Torres in seinen Roman Fallen Angels Sing integrierte ( 1 9 9 1 : 1 0 9 - 1 1 2 ; hier S. 111) und das Teile seines unveröffentlichten Stücks lfYou Dance the Rumba reproduziert, wie ein Ver-

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In der Ausgestaltung der Handlungsräume - der fiktive Schauplatz ist stets ein Ort in den USA - offenbart sich eine weitere Möglichkeit, Identitätszeichen zu setzen und zudem über die Konfrontation von Innen- und Außenräumen ethnische Grenzen zu ziehen oder zu überschreiten. Sehr häufig präsentiert das Bühnenbild einen privaten Aktionsraum - ein Wohnzimmer oder eine Küche -, der bereits auf die Familie als den zentralen Ort der Konflikte vieler Stücke verweist. Erste Informationsvergabe erfolgt über bestimmte Requisiten: ein Bild oder eine Statue der Heiligen Barbara oder der Virgen de la Caridad del Cobre, der Schutzpatronin Kubas, oder diverse Gegenstände, die den Handlungspersonen zugeordnet sind und denen ein Identität enthüllender Zeichencharakter zugewiesen wird. Um ein Beispiel zu nennen: In dem Einakter Coser y cantar von Dolores Prida, in dem Kulturmuster der traditionellen cubanidad und der US-amerikanischen mainstream-Gesellschaft gleichermaßen ironisch-kritisch in den Blick genommen werden, sind die beiden (vordergründig) in Opposition zueinander stehenden Handlungsfiguren durch eine Reihe von Artefakten charakterisiert: So umgibt „Ella" ein Szenario, in dem neben einer Figur der Virgen de la Caridad und einer Kerze Rumbarasseln, eine Muschel, eine Unmenge von Kosmetikartikeln und Zeitschriften wie COSMOPOLITAN und VANIDADES auf ihre „kubanische" Identität verweisen, während „She" in einem Handlungsraum agiert, in dem neben Zeitungen und Büchern ein Tennisschläger, ein Paar Schlittschuhe und mehrere Flaschen mit Vitaminpillen die ihr zugeschriebene mainstream-ldentität markieren. Innenräume suggerieren Wärme und Geborgenheit und stehen für die Sicherheit, die Identitätsgewißheit und der Schutz der Familie bieten können. Außenräume werden dagegen mit Kälte und Gefahr assoziiert, wobei über sprachliche Kommunikation ebenso wie über optische oder akustische Mittel die Außenwelt in den Innenraum projiziert wird; mal als unwirtlicher Naturraum - wenn durchgängig der graue Himmel und insbesondere die frostigen Außentemperaturen evoziert oder durch Mimik und Gestik visualisiert werden -, mal als feindliches soziales Milieu wenn wiederum durchgängig auf die in den Straßen US-amerikanischer Großstädte und insbesondere New Yorks herrschende Gewalt verwiesen wird, in Coser y cantar von Dolores Prida zudem wirkungsvoll über Schreie, Schüsse und Sirenen aus dem Off artikuliert. Der zentrale Aspekt ethnischer Identität, das Austarieren der verschiedenen Kultureinflüsse im Werte- und Verhaltensmuster und damit möglicherweise das Setzen neuer Grenzen in der Perspektivierung von gleich des Fragments mit einigen von Watson-Espener (1984) aus einem ihr vorliegenden Manuskript des Theaterstücks zitierten Passagen erkennen läßt.

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Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wird in einer Vielzahl von Theaterstücken - wie schon bei Israel Zangwill - über einen familiären Konflikt in Szene gesetzt, der das Personal primär über Differenzmerkmale der Generationszugehörigkeit und des Geschlechts11 strukturiert und Identitätsmanagement aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlichen Lösungen zuführt. Das Grundmuster, vielfach variiert12, entwarf Iván Acosta mit seinem 1977 im CENTRO CULTURAL CUBANO in New York uraufgeführten Stück El súper, das in der eng am Text gehaltenen filmischen Version (Regie: León Ichazo und Orlando Jiménez Leal) auch über den engeren Kreis der Hispanics rezipiert wurde. Für die Elterngeneration steht der Protagonist Roberto, der in der Aktualität der szenisch präsentierten Handlung bereits etwa zehn Jahre als Exilant in den USA lebt und dem es nicht gelang, für sich und seine Familie den American Dream zu verwirklichen. Als Hausverwalter eines Mietshauses in Manhattan wohnt er mit seiner Frau Aurelia und der gemeinsamen Tochter Aurelita in einer Kellerwohnung - „Es ist, wie wenn man die Welt von unten betrachtet" (Acosta 1982: 15), wie Aurelia ihre Wohnsituation und damit auch ihre gesellschaftliche Positionierung treffend umschreibt -, und er bemüht sich verzweifelt, der als fremd und feindlich erfahrenen Umwelt ebenso wie der als erniedrigend und frustrierend empfundenen Einsicht in das eigene Scheitern zu begegnen, indem er die Fiktion einer Rückkehr nach Kuba - „Wir sind vorübergehend hier. Sobald dieser Sch... Aurelia fixiert ihn mit ihrem Blick ...Mistkerl verschwindet, sind wir weg von hier." (14) - geradezu obsessiv aufrechterhält. Isoliert von der gesellschaftlichen Realität, aufgrund mangelnder Kenntnisse der englischen Sprache zudem unfähig, selbst alltägliche Konfliktsituationen ohne fremde Hilfe zu meistern, beschränken sich seine Außenkontakte auf einen kleinen Freundeskreis, in dem sich Kommunikation in einem ritualisierten, stets dieselben Topoi reproduzierenden Rollenspiel erschöpft: „[Wir reden] über das, worüber wir immer 11

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Männliche und weibliche Handlungsfiguren unterscheiden sich in der Regel hinsichtlich der Strategien des Identitätsmanagements. Aufgrund der traditionellen patriarchalischen Verhaltensmuster der Herkunftsgesellschaft und ihrer diese Verhaltensmuster reproduzierenden primären Sozialisation, geraten Frauen häufig in Konflikt mit der Familie, wenn sie - was allerdings nicht immer problemlos gelingt - die ihnen in der US-amerikanischen Gesellschaft gewährten Freiheiten zu nutzen suchen, um eine neue, selbstbestimmte (Geschlechts-)Identität zu erlangen. Neben den nachfolgend analysierten Stücken sei bereits hier auf eine Reihe weiterer Texte verwiesen, in denen die Konfrontation von nationaler und ethnischer Identität über familiäre bzw. Generationenkonflikte inszeniert wird und auf die aufgrund der gebotenen Kürze nicht näher eingegangen werden kann: etwa Mamá cumple ochenta años (1982) von Mario Martín und Holinight (1987) von Manuel Pereiras García.

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reden", so Roberto, „über Kuba, Fidel, die Invasion und wie beschissen es uns geht." (23)13 In Opposition zum Vater steht die knapp 18jährige Tochter Aurelita, die ein College besucht und über das code-switching ihre Dominanz des Spanischen wie des Englischen signalisiert, die dem Vater seine retrospektive Haltung als regressiven Akt der Realitätsverweigerung vorhält und die für sich eine Rückkehr nach Kuba entschieden ausschließt, ist sie doch nicht bereit, auf die ihr in der US-amerikanischen Gesellschaft gewährten (auch sexuellen) Freiheiten zu verzichten. Diese Freiheiten erweisen sich aber als Falle, denn Aurelita, nach Ansicht der Eltern ohnehin durch die allseits herrschende „Unmoral" gefährdet, verliert trotz der sanft ausgeübten und daher ineffektiven Kontrolle durch die Mutter - „Cuban mother, you know" (35), wie sie einer Freundin erklärt - ihre Jungfräulichkeit mit der Folge, daß sie (am Ende des ersten Akts) schwanger ist, ein für die Mutter schier unfaßbarer Vorgang, denn, so erklärt sie der Tochter: Ich hab in diesem Land nie ein Kind gekriegt, Gott bewahre! Und du, du bist doch in Kuba geboren, dein Vater und ich, wir sind Kubaner, wir haben dir unsere Religion und unsere Sitten beigebracht, das weißt du doch. Wie zum Teufel konnte das geschehen? (51)

Am Beginn des zweiten (und letzten) Akts erweist sich Aurelitas Schwangerschaft als Irrtum, und sie scheint aus dem erlebten Schrecken gelernt zu haben, denn sie entfaltet nun weniger außenorientierte als häusliche Aktivitäten; in ihrer grundlegenden Opposition gegen den Vater aber bleibt sie unbeirrt. Und so ist sie nur konsequent, wenn sie, bevor sie aus der elterlichen Wohnung auszieht, die Entscheidung des Vaters, nach Miami zu übersiedeln, für sich zurückweist mit dem Argument: Ich weiß nicht, was zum Teufel ihr in Miami wollt. Die Leute da haben sich nicht weiterentwickelt, sie leben noch im Jahr 1959, im „Kuba von gestern", Papa, das „Kuba von gestern" und nichts anderes. Ich weiß nicht, seit 18 Jahren höre ich nur, wie über dieses „Kuba von gestern" geredet wird. Zählen denn 13

Kritik an der kubanischen Revolution und insbesondere an Fidel Castro, der die Revolution „verriet", ist bei Acosta (wie bei anderen Autoren) nicht ausgespart; doch wird hier (wie auch andernorts) die „harte Linie" des kubanischen Exils gleichermaßen kritisch betrachtet, etwa über die Figur des Freundes Pancho: eine (überaus gelungene) lächerliche Figur, die, ohne daß dies jemand hören will, beständig den eigenen (vorgeblich) heldenhaften Einsatz anläßlich der „Schweinebuchtinvasion" evoziert, wichtigtuerisch über (angeblich) geplante und geheime bewaffnete Aktionen gegen Castro schwadroniert und sich überdies als präpotenter Macho geriert.

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diese 18 Jahre gar nichts? Nein, so als existierten sie nicht. I don't know about you people, men. Das erwartet euch in Miami, ihr macht eine Reise in die Vergangenheit, 18 Jahre zurück in die Vergangenheit. Macht ihr ruhig eure Reisen, und laßt mich meine machen. Here, here is where the action is. Sie setzt sich auf das Sofa und beginnt, einen Yoghurt zu essen. (61-62)

Für Roberto ist der Umzug nach Miami, „die Hauptstadt des kubanischen Exils" (62), trotz der Vorbehalte Aurelias, die das dort herrschende politische Klima ebenso ablehnt wie den mit der Cuban success story verknüpften sozialen Druck - „der cubaneo, dieses ,ich habe mehr als du' und ,mein Auto ist besser als deins'" (59) -, der einzige Ausweg aus einer Krise, die wohl eine existentielle, aber keine Identitätskrise war. Denn für Roberto bleibt Kuba, wie er es auch Aurelita, allerdings vergeblich, suggerieren möchte, die „wahre Heimat", und seine Identität bleibt eindeutig an die „kubanischen Sachen" (62) gebunden, die zu lehren, wie er seiner Frau vorwirft, diese bei Aurelita versäumt habe. Der Weg nach Miami, das „Kuba von gestern", steht somit für eine Fluchtbewegung und markiert im Kontext der US-amerikanischen Gesellschaft einen Akt der endgültigen Verweigerung: eine Ersatzhandlung, die Roberto zwar nicht nach Kuba, wohl aber Kuba ein Stück näher bringt. 14 Auch Manuel Martin Jr. inszeniert in seinem 1983 in New York uraufgeführten Stück Union City Thanksgiving, das drei Jahre später wiederum in New York in der spanischen Übersetzung unter dem Titel Sanguivin en Union City auf die Bühne gebracht wurde 15 , den Konflikt zwischen nationaler und ethnischer Identität über einen Familien- und Generationenkonflikt, der nun aber durch die Ausweitung des Personals eine stärkere Differenzierung des Konfliktpotentials und der möglichen Lösungen bietet, als dies bei Acosta möglich war. Die Handlung, präsentiert in zwei Akten, konzentriert sich auf einen Tag des Jahres 1981 Thanksgiving Day, wie bereits der Titel präzisiert - und erschöpft sich in 14

Die Entscheidung des Vaters, N e w York zu verlassen, bewirkt (zunächst) den Bruch mit der Tochter und damit den Zerfall der Familie. Doch im Schlußbild erscheint Aurelita - weder durch die Logik der Handlung noch durch die Psychologie der Handlungsfigur ausreichend motiviert - mit ihrem Koffer, u m sich wortlos den Eltern in die A r m e zu stürzen und die somit nur vorübergehend gestörte Harmonie der Familie wiederherzustellen.

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Manuel Martin Jr. war bereits 1956 im Alter von 22 Jahren in die USA gegangen; seine Biographie unterscheidet sich somit wesentlich von der Biographie derer, die als Kinder oder Heranwachsende Kuba nach 1959 verließen. Seine Theaterpraxis unterscheidet sich hingegen nicht von der jener Autoren, die hier als „Kinder des Exils" bezeichnet wurden. Das hier zur Diskussion stehende Theaterstück liegt publiziert, soweit mir bekannt, nur in der spanischen Übersetzung vor; diese wurde realisiert von Randy Barcelö unter Mitwirkung von (u. a.) Dolores Prida.

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ihrer szenischen Darbietung im wesentlichen in der Vorbereitung des anberaumten Festmahls und dem Verspeisen des in den USA obligaten Truthahns, wobei sich verschiedenen Mitgliedern der Familie bereits hier Gelegenheit bietet, über das Bestimmen der diversen Ingredienzen des Menüs Identitätszeichen zu setzen bzw. durch traditionelle kubanische Beilagen den „torqui" gewissermaßen zu „kubanisieren". Der szenisch präsentierte Aktionsraum ist die Küche des Hauses, in dem die Familie seit 18 Jahren lebt; Außenräume bilden, verbal evoziert, Union City, der Wohnort der Familie, sowie New York, je nach Perspektive als Ort der Fremde oder aber als Fluchtort der kubanischen Enklave von Union City entgegengestellt. Die Familie, die in Kuba zur oberen Mittelschicht gehörte, lebt in der Gegenwart in bescheidenen Verhältnissen, denn der mittlerweile verstorbene, in den - vielfach gebrochenen - Erinnerungen der Familie jedoch stets präsente Vater hatte es nicht verstanden, in den USA Fuß zu fassen, und unter den bereits erwachsenen Kindern leistet allein die älteste Tochter Nidia - sie ist 36 Jahre alt und als einziges der Kinder unverheiratet - einen Beitrag zum Unterhalt der Familie. Die Banalität der szenisch präsentierten Handlung - neben der Zubereitung des Essens die Überbrückung der Wartezeit, in der Bier oder Whisky getrunken, Domino oder Monopoly gespielt und (in einem Nebenraum) eine telenovela gesehen wird - kontrastiert mit der Brisanz der sprachlich-narrativ vermittelten Geschichte(n) und der verbalen Interaktion der Familienmitglieder, wodurch nicht nur die Figur der Erinnerung, sondern auch die Instanz der (bei Yvän Acosta noch intakten) Familie als Faktoren entlarvt werden, welche die Stiftung einer mit der Realität harmonisierenden Identität ebenso behindern wie die Durchsetzung einer angestrebten, das Ausleben von Identität ermöglichenden Selbstverwirklichung. Als dominante Figur tritt zunächst die trotz ihres Alters vitale Großmutter, Aleida, in Erscheinung, die das Element der Kontinuität einer cubanidad verkörpert, welche sie beständig über die Erinnerung an die Vergangenheit in Kuba reproduziert, während ihre Tochter Catalina sich hilflos und desorientiert in Krankheit flüchtet, da sie die Gegenwart, der sie sich durchaus stellen will, nicht erträgt und die Erinnerung an die Vergangenheit langsam verblaßt. Das Vergessen aber ist für Aleida Verrat, und diesen macht sie nicht nur Catalina zum Vorwurf: „Es ist, als würde die ganze Familie versuchen zu vergessen." (Martin 1992: 803) Dieser Vorwurf erscheint allerdings ungerechtfertigt, denn Vergangenes wird in den Gesprächen der Familienmitglieder beständig evoziert: „Hast du gemerkt", so die jüngste Tochter Catalinas, Nenita, zu ihrer Schwester Nidia, „wie oft in diesem Haus gesagt wird: ,Erinnerst du dich?'" (792) Aber Nenita, gerade einmal 20, verfügt kaum noch über

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Erinnerungen an Kuba - was sie nun keinesfalls vermißt: „Vergesse ich die Dinge allmählich? Und macht mir das was aus? Was zählt, ist, daß ich hier bin, in Union City, in New Jersey, in den United States..." Und für Nidia, die sich sehr wohl erinnert, sind diese Erinnerungen nicht wie die der Großmutter Produkt einer nostalgischen Verklärung, sondern Zeugnis einer gleichermaßen wenig vermißten Realität: Die meisten verbinde ich mit reichlich unangenehmen Dingen... Eine höllische Hitze, die Männer, die in der Kneipe an der Ecke trinken, die unanständigen Sachen, die sie den Frauen nachrufen... (792)

Nenita und Nidia sind die beiden zentralen Handlungsfiguren, über die der Kultur- und Identitätskonflikt der „Kinder des Exils" reflektiert und unterschiedlichen Lösungen zugeführt wird. Nenita präsentiert sich als fröhliche und unkomplizierte junge Frau, die gleich zu Beginn des Stückes, singend und tanzend, ein Identitätszeichen setzt, das sich nun nicht etwa über die Rumba, sondern über US-amerikanische DiscoMusik artikuliert. „Macht dich diese Musik nicht ganz wild?", fragt sie die Schwester, die auf die aus dem Radio erklingende Musik nicht reagiert; und Nenita fährt fort: Meine Füße bewegen sich von ganz allein, wenn ich sie höre. All right! ... In dieser Familie bin ich die einzige, der die amerikanische Musik gefällt. DiscoMusik hebt die Stimmung... Langweilen dich nicht all diese Lieder aus dem ,Kuba von gestern'? (792)

Die Vergangenheit besitzt für Nenita keine Aktualität, und über die Heirat mit einem nuyorican, einem in New York geborenen Puertoricaner, ist es ihr gelungen, in der Gemeinschaft der Hispanics und damit jenseits der sich von dieser abschottenden comunidad cubana Identitätsgewißheit und Sicherheit zu finden. Auch Nidia lebt wie ihre Schwester in der Gegenwart, die sie aber, gebunden an die Familie und an die kubanische Enklave von Union City, als erdrückend und steril empfindet. Als Ältere fühlt sie sich der Familie, die von ihrem Gehalt lebt, verpflichtet, und sie fürchtet überdies, deren Liebe und Respekt zu verlieren, denn Nidia liebt ihre langjährige Freundin Sara, und ihr Wunsch, nach New York zu gehen, beinhaltet auch, sich der Kontrolle durch die Familie zu entziehen, um sich dort die Freiheit zu erobern, welche Sara, die in New York ein eigenes Appartement bewohnt, ihr vorlebt. Ihre Freiheit hat Sara allerdings, was Nidia nicht verborgen bleibt, weder Sicherheit noch Geborgenheit eingebracht. Sie ist unzufrieden, unstet und instabil, ihre Pillendose mit Librium und Valium stets griffbereit, denn sie hat ihre ursprünglichen Bindungen

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aufgegeben, ohne für sich neue Bindungen schaffen zu können; wie sie Nidia erklärt: Als ich hierher kam, wollte ich zu diesem Land gehören, wollte ein Teil von ihm sein. Aber immer habe ich mich gefühlt wie der Gast, der zum Geburtstag kommt, wenn der Cake aufgegessen und das Fest schon fast vorbei ist... (832)

Einzig ihre sexuelle Identität, gelebt in der Beziehung zu Nidia, liefert ihr (eine allerdings prekäre) Identitätsgewißheit, und so drängt sie diese, sich ihrerseits gegenüber der Familie zu ihrer sexuellen Identität, „was du bist, was deine Person ausmacht", zu bekennen. Dem aber hält Nidia entgegen: „Sara, das, was meine Person ausmacht, sind so viele Dinge, die du nie verstehen könntest." (834) Am Ende des Stückes erweist sich der von der Großmutter beschworene Zusammenhalt der Familie nur mehr als Fiktion und die Familie selbst als ein Gefängnis, dem zu entfliehen Nidia nicht gelingt. Sie erkennt wohl, daß die Erinnerung eine Falle ist: „Die Familie hat sich verändert... Kuba hat sich verändert, und vermutlich ist es nie so wunderbar gewesen. Wir können nicht weiter von den Erinnerungen leben." (856) Doch die ersehnte Freiheit bleibt für sie unerreichbar, da sie nicht (mehr) die Kraft hat, die relative Sicherheit, die ihr die Familie und die comuttidad in Union City bieten, aufzugeben. Freiheit - und dies bedeutet: Freiheit von der Familie - hat hingegen der Bruder Tony erlangt, der geistig verwirrt ist: „Er ging den einzigen Weg, den man in dieser Familie gehen kann: den des Wahnsinns, und er gewann die Freiheit" (843). Eine ganz ähnliche Personenkonstellation, verbunden mit einer analogen Identitätszuschreibung, präsentiert Eduardo Machado in seinem Stück in zwei Akten Bröken Eggs, das ein Jahr nach Union City Thanksgiving gleichfalls in New York uraufgeführt wurde. Auch hier steht die Großmutter für das konfliktfreie Beharren auf einer stabilen kubanischen Identität, die sich aus der - selektiven und nostalgisch verklärenden - Erinnerung an die Vergangenheit beständig reproduziert, während die Elterngeneration, unfähig, sich in der neuen, nur als Chaos empfundenen Lebenswelt zurechtzufinden, dem durch das Exil erlittenen Verlust an Identität und Stabilität dadurch zu begegnen sucht, daß sie sich, wie die Tochter Sonia, an die Fiktion einer längst zerstörten Ehe und Familie klammert oder, wie deren Schwägerin Miriam, über den Konsum von Valium - „A valium - that's the only certain thing. It reassures you." - in eine als Trost erlebte Traumwelt flüchtet: „If you take three you get to Varadero, Cuba." (Machado 1991: 216) Und auch die Kinder scheitern, wie bei Acosta und Martin: Der Sohn Oscar ist emotional instabil, flüchtet sich in Krankheit und schnupft beständig Kokain;

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die Tochter Mimi stellt sich zwar der Realität und hat hinsichtlich ihrer Identität eine ebendieser Realität angemessene Vorstellung - so sieht sie sich nicht, wie ihr die Großmutter versichern möchte, als „Cuban girl", sondern als „first-generation white Hispanic American" (181) -, doch hat sie es nicht verstanden, die ihr in der US-amerikanischen Gesellschaft gewährten Freiheiten für die angestrebte Selbstverwirklichung zu nutzen, denn (auch) sie ist (gegen ihren Willen) schwanger. Über die zweite Tochter Lizette und die Ausgangssituation der szenisch präsentierten Handlung ergibt sich nun aber bei Machado ein Moment der Progression, das - gewissermaßen in Fortsetzung des von Acosta zu Martin bereits angedeuteten Prozesses der Auflösung familiärer Bindungen - zumindest die Chance offenbart, jenseits der Familie ethnische Grenzen neu zu definieren und diese über neue Formen der Kommunikation möglicherweise sogar durchlässig zu gestalten. Denn in Bröken Eggs präsentiert sich die Familie nicht mehr als klar umgrenzter, Identität und Geborgenheit versichernder (Acosta) oder auch nur vortäuschender (Martin) Mikrokosmos: Die Eltern sind seit langem geschieden, und die einzelnen Familienmitglieder treffen nur zusammen, um ein besonderes Ereignis, die Hochzeit von Lizette, zu feiern. Folgerichtig ist der szenische Aktionsraum kein familiär-privater, sondern ein öffentlicher Raum: ein Raum in einem Country Club (in Los Angeles), der an den Ballsaal, wo die Hochzeitsfeier stattfindet, angrenzt. Dieser Raum, der neutral ausgestattet und somit nicht, wie familiäre Räume, durch bestimmte Requisiten in der Funktion von diakritischen Identitätszeichen semantisiert ist, wird nun aber seines öffentlichen Charakters dadurch entkleidet, daß er von den Familienmitgliedern gleichsam besetzt und über den Ausschluß der übrigen Hochzeitsgesellschaft (vorübergehend) re-privatisiert wird. Der Opposition zwischen dem szenisch präsenten Schauplatz und dem Ballsaal offstage entspricht als Opposition zwischen Innen und Aussen der von der Familie aufrechterhaltene Antagonismus zwischen ingroup und outgroup. Zwar wird der Außenraum über akustische Signale wie Musik oder Gesprächsfetzen in den Innenraum projiziert, wird das dort zeitgleich ablaufende Geschehen über Kommentare der im Innenraum agierenden, durch eine imaginierte offene Tür in den Außenraum schauenden Figuren visualisiert; doch gibt es zwischen beiden Räumen keine Interaktion, bleibt die offene Tür eine Grenzlinie, die zwar von Familienmitgliedern gelegentlich überschritten wird, dies jedoch nur als kurze Exkursion in eine fremde und prinzipiell ausgegrenzte Welt. Diese Welt steht zunächst für die US-amerikanische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, befinden sich doch unter den Hochzeitsgästen Vertreter mehrerer ethnischer Gruppen. Als dominant erweist sich nun aber

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die Gruppe der Juden, die Familie des (zu keinem Zeitpunkt in Erscheinung tretenden) Bräutigams: von Lizettes Familie als „the Jews" oder „these Jewish people" apostrophiert und als „Americans" gleichgesetzt mit der mainstream-Gesellschaft, in die Lizette durch ihre Heirat Eingang findet und über die sie gemäß ihrer eigenen Aussage - „I have a Jewish name now" (209) - eine neue, allerdings vorgefertigte, Identität erlangt.16 In der „one-act bilingual fantasy" Coser y cantar von Dolores Prida, 1981 in New York uraufgeführt, präsentiert sich nun eine gänzlich andere Situation. Der szenische Aktionsraum ist wiederum ein privater Raum, doch ist er nicht Schauplatz familiärer Auseinandersetzungen. Inszeniert wird, gleich einem Psychodrama, die Konstruktion ethnischer, spezifisch weiblicher Identität über die Konfrontation von zwei Frauenfiguren, „Ella" und „She", die, liebevoll-ironisch skizziert, für die zwei miteinander konkurrierenden Kultur- und Identitätsmuster der traditionellen kubanischen und der US-amerikanischen mainstream-Gesellschaft stehen und jeweils das alter ego der anderen verkörpern.17 Ausgetragen wird der Konflikt jenseits familiärer Bindungen, auch wenn die Familie bzw. die Mutter als Bezugspunkt - in einer für die beiden Handlungsfiguren charakteristischen Weise - evoziert wird: So erinnert sich „She" beiläufig daran, daß sie ihre Mutter anrufen müßte - „She's always complaining" (Prida 1991: 57) -, während „Ella" den (ausbleibenden) Anruf der Mutter herbeisehnt, sich aber auch der Familie als repressive Instanz erinnert und die Rollenzuweisung durch die Mutter, „daß das Leben, vor allem das einer Frau, Nähen und Singen ist" (57), für sich zurückweist. Der verbale Schlagabtausch, bei dem die beiden Figuren, wie im Nebentext angegeben, zunächst unabhängig voneinander agieren, führt am Ende des Stückes zu einer direkten Konfrontation, bei der im Kampf um die Entscheidung, wer über wen triumphiert, die territorialen Grenzen überschritten und Positionen der jeweils anderen besetzt werden, was sich auf der sprachlichen Ebene dadurch manifestiert, daß „Ella" und „She", die bis dahin ausschließlich spanisch bzw. englisch sprechen, sich 16

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Die Juden stehen für diejenige in den USA lebende ethnische Gruppe, die der „weißen" mainstream-ldentität am nächsten kommt; eine Diskriminierung findet sich hier nicht - im Gegensatz zu anderen Stücken (wie etwa Acostas El super), in denen Schwarze wie auch Juden marginalisiert und diskriminiert erscheinen. Auf die identitätsspezifische Semantisierung der Aktionsräume wurde bereits hingewiesen; eine zusätzliche (stereotypisierende) Differenzierung erfolgt (wie bei anderen Autoren) über musikalische Vorlieben, Eß- und Trinkgewohnheiten oder auch die Gestaltung der Freizeit. Auf eine genauere Analyse kann hier verzichtet werden, da Coser y cantar vielfach kommentiert wurde; so sei hier insbesondere auf den vorzüglichen Aufsatz von Sandoval (1989) verwiesen.

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des code-switching bedienen. Die stärkeren Argumente scheint zunächst „Ella" zu besitzen: Ich habe meine Erinnerungen. Und meine Pflanzen auf der Fensterbank. Ich habe eine feste Basis. Ich habe Wurzeln, etwas, woran ich mich festhalten kann. Aber du? Woran hältst du dich fest? [...] I wonder if I need you. Ich frage mich, ob ich dich brauche... Doch dem hält „She" entgegen: [...] if it weren't for me you would not be the one you are now. Du wärst nicht die, die du bist. I gave yourself back to you. If I had not opened some doors and some windows for you, you would still be sitting in the dark, with your Erinnerungen, the idealized beaches of your childhood, and your rice and beans and the rest of your goddam obsolete memories! (66) Der Kampf bleibt unentschieden. Wenn aber a m Ende die bereits zuvor als Gefahr w a h r g e n o m m e n e Außenwelt in das nun gemeinsam bewohnte Territorium einzudringen droht, finden „Ella" und „She" zu gemeinschaftlichem Handeln, konkretisiert in der gemeinsamen Suche nach jener Landkarte, nach der zuvor jede für sich gesucht hatte und die „ E l l a " / „ S h e " auf einer gemeinsam unternommenen Reise auf ein neues Terrain führen wird: ein Terrain, das Grenzen neu definiert oder „Grenz e n " nicht mehr als Grenzlinien oder borders, sondern als Grenzgebiete oder borderlands konzipiert. 1 8 Ethnizität oder ethnische Identität - so wurde bereits festgestellt - ist ein komplexes Phänomen, das sich im Kontext multikultureller Gesellschaften zwar großer Popularität erfreut, jedoch nicht unwidersprochen blieb und das hier mit Blick auf die soziale und literarische Praxis der Cuban Americans einer weiteren Präzisierung und kritischen Überprüfung bedarf. Ethnizität w u r d e begriffen als ein Konstrukt 1 9 , die Stiftung ethnischer Identität als ein permanenter Prozeß, der Identität als „Akt kultu18

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Das Konzept der borderlands im Kontext der Hispanics wurde zuerst von der Chicana Gloria Anzaldúa in Borderlands/La Frontera. The New Mestiza (1987) entwikkelt. In der neueren Forschung wird das Phänomen interkultureller Interferenzen verstärkt über die Konzepte der „Kontaktzone" (Mary Louise Pratt) und der „Heterotopic" (Gilles Deleuze/Félix Guattari) gefaßt (vgl. hierzu etwa MartínRodríguez 1995; Riese 1999). Bereits Fredrik Barth hatte darauf verwiesen, daß ethnische Identität entsprechend den Erfordernissen der interaktiven Situation entworfen oder konstruiert wird: „The features that are taken into account are not the sum of,objective' differences, but only those which the actors themselves regard as significant." (1969: 14) Im Anschluß an Eric Hobsbawm/Terence Ranger (The Invention of Tradition, 1983)

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reiler Kreativität" (Kößler/Schiel 1995) stets neu definiert und in der sozialen Praxis als performativer Akt je nach der handlungsspezifischen Situation und den aktuellen Erfordernissen präsentiert und inszeniert. Der situative Charakter ethnischer Identität kann zu einer Aufspaltung in eine „private" und eine „öffentliche" Identität führen, und der Wechsel kann durchaus - analog zum (sprachlichen) code-switching - als identity-switching die angemessene Antwort auf unterschiedliche Handlungszusammenhänge sein. Wie nun aber der Einsatz von Ethnizität als interessengeleitete Strategie Identitätsverwirrung und Identitätsverlust bewirken kann, zeigt Manuel Martin Jr. in seinem 1988 uraufgeführten Einakter Rita and Bessie, in dem Rita Montaner und Bessie Smith, während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zwei herausragende Figuren der kubanischen bzw. US-amerikanischen Musikszene, in einer imaginären, dem situativen Kontext in Sartres Huis clos nachempfundenen Begegnung aufeinandertreffen. In der vordergründig präsentierten Geschichte, in der Rita und Bessie sich bei einem Theateragenten um ein Engagement bemühen, tritt Rita zunächst selbstbewußt auf und rühmt sich in der Erinnerung an ihren Erfolg - „I was the first Cuban woman to work on Broadway." (Martin 1999: 253) - ihrer künstlerischen Fähigkeiten, die allein sie für diesen Erfolg verantwortlich macht. Sie akzeptiert wohl, daß sie als Kubanerin außerhalb Kubas als „exotic" gelten mag, weist aber empört die Äußerung des Theateragenten zurück, der ihre performance als „too ethnic" und daher als „not marketable anymore" (269) disqualifiziert. Erst nachdem sie mit Hilfe der kritischen Bessie erkannt hat, daß sie die eigene Vergangenheit manipulativ verfälschte „When truth is painful, we have to rearrange the facts to make things easier to live with." (272), so Bessie -, vermag sie sich einzugestehen, daß sie sich als Künstlerin Geboten der Strategie unterwarf, sich instrumentalisieren ließ und sich damit von ihrer wahren Identität entfremdete: „I became an impersonator. A Latin woman impersonating the Latin image that was demanded and expected..." (270)

und Benedict Anderson (Imagined Communities, 1983) sowie im Kontext der Postmoderne-Diskussion, die jeder Gefahr eines möglichen Essentialismus entgegenzutreten sucht, ist das Konzept von „ethnischer Identität" als einer „imaginierten" oder „erfundenen" - „post-ethnischen" - Identität nun aber bei einigen Forschern in Mißkredit geraten (vgl. hierzu insbesondere Sollors 1986a; 1989). Dieser etischen, der Außenperspektive des Sozialwissenschaftlers entsprechenden, Sichtweise ist jedoch die - für den Anthropologen ebenso wie den Literatur- oder Kulturwissenschaftler entscheidende - emische, der kulturimmanenten Binnenperspektive entsprechende, Sichtweise der Akteure gegenüberzustellen; und diese Akteure werden kaum die eigene Identität als Fiktion begreifen.

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Das Problem eines adäquaten Identitätsmanagements stellt sich auch angesichts der Tatsache, daß im Rahmen der Multikulturalismusdebatte Ethnizität als kulturelle Identität in einer Weise akzentuiert wird, die andere Aspekte von Identität vernachlässigt. Denn das Individuum besitzt eine multiple Identität, die sich aus vielfältigen Teilidentitäten zusammensetzt; und diese mögen auf politischen Überzeugungen gründen oder auf Faktoren wie Geschlecht, Alter, Beruf und Klassenzugehörigkeit. Politische Identität wird in den meisten Theaterstücken primär von Männern artikuliert; und sie orientiert sich in der Regel an der Erfahrung des Exils und der fortbestehenden Opposition gegen Castro, nicht jedoch an der politischen (und sozialen) Wirklichkeit der USA. 2 0 Geschlechtsidentität oder auch sexuelle Identität wird hingegen vor dem Hintergrund aktueller Erfahrungen thematisiert: bei Dolores Prida und anderen Autorinnen spezifisch weibliche Identität, aber auch Probleme männlicher Geschlechtsidentität dort, wo die (homo-)sexuelle Identität und Praxis von den traditionalen Geschlechtsrollenerwartungen der Familie und der comunidad abweichen. 21 Die verschiedenen Teilidentitäten aufeinander zu beziehen und nach Art einer patchwork-ldentität zu einem kohärenten Muster zusammenzufügen, wird von den meisten Theaterautoren nicht geleistet und auch nicht intendiert; gelegentlich wird aber durch eine Handlungsfigur - wie etwa Nidia in Union City Thanksgiving die Festlegung von Identität auf nur einen Teilaspekt, hier konkret: die sexuelle Identität, mit dem Verweis auf die Komplexität dessen, was ihre Gesamtpersönlichkeit ausmacht, zurückgewiesen. Ethnizität benennt desweiteren primär Differenz und beinhaltet ein antagonistisches und exklusives Gruppenkonzept, das heißt: In der Interaktion mit anderen ethnischen Gruppen wird Identität als Alterität konzipiert, werden die Identität stiftenden Grenzen nach innen wie nach außen sorgsam bewacht. Dies gilt in besonderem Maße für die nach 1959 in die USA emigrierten Kubaner, die - anders als etwa die Chicanos und die nuyoricans - zumindest bis 1980 in ihrer Mehrheit der (weißen) Mittel- und Oberschicht entstammten, sich - nicht zuletzt dank der massiven finanziellen Unterstützung, die ihnen von Seiten der US-Behörden als 20

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Frauen reagieren in der Regel kritisch auf extreme männliche Positionen, ohne aber eine eigene politische Identität zu artikulieren. Eine Ausnahme bildet Dolores Prida mit ihren Stücken. So ist etwa in Coser y cantar „She" in Protestaktionen involviert, die sich aber nun - bezeichnenderweise - nicht gegen das Kuba Fidel Castros, sondern gegen Ausbeutung in der Dritten Welt oder gegen Umweltverschmutzung in den USA richten. Ein eindrückliches Beispiel für die Behandlung homosexueller Identität, verknüpft mit der Aids-Problematik, liefern etwa Pedro R. Monge Rafuls mit Noche de ronda (1991) und Otra historia (1993), Edwin Sánchez mit The Road (1991).

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„politischen Flüchtlingen" zuteil wurde - materiell weitaus besser gestellt sahen als der Rest der Hispanics und darauf bedacht waren, sich von diesen zu distanzieren. So leisteten sie einer (in den USA ohnehin existierenden) ethnischen Schichtung Vorschub, die ethnische Gruppen in Konkurrenz zueinander hierarchisch strukturiert und den Kubanern zumindest über ihren materiellen Erfolg, die vielbeschworene Cuban success story, eine größere Nähe zur mainstream-Gesellschait suggerierte. Diese Haltung, die auch rassische Diskriminierung nicht ausschließt, wurde vielfach kritisiert; so gingen einige Theaterautoren dazu über, die Erfahrung der Cuban Americans in den umfassenderen Zusammenhang aller in den USA lebenden Hispanics zu stellen und eine übergreifende Hispanic oder Latino identity zu formulieren.22 Das Aushandeln von Grenzen, verknüpft mit sozialer Schichtung und Hierarchisierung, ist nun ein noch virulenteres Problem im Verhältnis ethnischer Gruppen zur Mehrheitsgesellschaft. Mit dem Slogan „We are all ethnics" wurde für die Minderheiten in den USA die Anerkennung ihrer spezifischen kulturellen Identität eingefordert, doch verweist bereits das Attribut „ethnic" auf die dominante Perspektive der angloamerikanischen mainstream-Gesellschait, die sich keine (weiße) „Ethnizität" zuschreibt und die eine - nicht mehr zu behauptende oder gar auszuhandelnde - „Identität" besitzt.23 Ethnizität wird somit über Fremdwahrnehmung und Fremdzuschreibung begriffen als Abweichung von einem definierten Standard; und diese Abweichung, in der sozialen Praxis von sozio-ökonomischer Ausgrenzung und Marginalisierung begleitet, beinhaltet - trotz aller Beteuerungen der Akzeptanz von Multikulturalität - die Stigmatisierung ethnischer Gruppen als „non-American" oder „not fully American".24 Bliebe zu fragen, was es denn den Cuban Americans ebenso wie den anderen ethnischen Gruppen einbringt, sich auf ihre „Ethnizität" zu berufen in einer Gesellschaft, die, so Maria Cristina Garcia (1996: 83), „celebrate[s] ethnic pluralism and yet reward[s] anglo-conformity"? Mit dem Slogan „We are all ethnics" und der Behauptung einer „pluralen" Ge22

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Dies gilt für das Gesamtwerk von Dolores Prida, sowie - um nur einige Beispiele zu nennen - The barrio (1969) von Mario Peña, Spies, spices, gringos y gracejo (1976) von José Corrales sowie Noche de ronda (1991) von Pedro R. Monge Rafuls. Oder, wie es Milton M. Gordon in seiner klassischen Studie Assimilation in American Life pointiert formuliert: „Indeed, the white Protestant American is rarely conscious of the fact that he inhabits a group at all. He inhabits America. The others live in groups." (1964: 5) In diesem Zusammenhang sei auf die Begriffsgeschichte von „ethnisch" (gr. „ethnos", „ethnikós") verwiesen. So bezeichnete das Wort den „Anderen": den „Barbaren", den „Goyim", den „Heiden".

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sellschaft hatten die Minderheiten in den USA dem zu einem reinen Assimilationskonzept geratenen melting pot Israel Zangwills ein Alternativkonzept entgegengesetzt, das ihnen Selbstbewußtsein und Selbstbehauptung ermöglichte. Doch unter den Autoren - insbesondere jenen, die bestrebt sind, das mainstream-?ub\\k\im zu erreichen - mögen sich nun keinesfalls alle ihre Werke einer „ethnic literature" zuordnen lassen; dies gilt etwa für Richard Rodríguez, der aus Mexiko stammt, als Kind mit seinen Eltern in die USA emigrierte, mit einer Autobiographie (Hunger of Memory, 1982) bekannt wurde, die geradezu als Prototyp „ethnischer" Literatur gelten kann 25 , und der sich aber nun beharrlich als „American writer" bezeichnet. (Rodríguez 1989) Für die Cuban Americans ergibt sich ein zusätzliches Problem dann, wenn sie die faktische Positionierung als Immigrant mit der subjektiven Befindlichkeit als Exilant zu harmonisieren suchen; dies gilt etwa für den Lyriker und Essayist Gustavo Pérez Firmat, der Anfang der 60er Jahre gleichermaßen als Kind in Begleitung der Eltern von Kuba in die USA emigrierte, sich in seiner Autobiographie als Cuban American - „Nacido en Cuba, Made in the U. S. A." (Pérez Firmat 1995: iii) - identifiziert, auf das Epitheton des „Exilanten" als „Identitätszeichen" (178) aber nicht verzichten möchte und hinsichtlich seiner Identitätsbehauptungen mancherlei Widersprüche offenbart. Dolores Prida zeigt derlei Widersprüche nicht. Sie, die in ihren Theaterstücken hinsichtlich der Konstruktion von Ethnizität oder ethnischer Identität expliziter ist als die anderen hier vorgestellten Autoren, hebt den grundsätzlichen Antagonismus von traditioneller kubanischer und US-amerikanischer mainstream-ldentität keinesfalls auf; doch vertritt sie, die sich unter eindeutigem Verzicht auf das „Identitätszeichen" des „Exilanten" als „hyphenated American" (Feliciano 1995: 115) oder „Bindestrich-Amerikaner" 26 identifiziert, ein essentiell positiv konnotiertes Konzept einer bikulturellen Identität, bei dem das Aushandeln der ver25

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Zu den Topoi „ethnischer" Literatur vgl. den vorzüglichen Aufsatz von Boelhower (1989), der für die Praxis der kubanischen Autoren allerdings nur mit Einschränkungen gilt, da Boelhower die spezifische Situation des Exilanten nicht berücksichtigt. Zur Diskussion um das Konzept der „ethnischen" Literatur allgemein vgl. die kritischen Anmerkungen von Sollors. (1986a: 237ff; 1986b) Abramson (1980: 156) charakterisiert das Konzept des „hyphenated" oder „hyphenate American" wie folgt: „The hyphenate can be said to have accomodated somewhat to the Anglo-American culture in terms of language, clothes, manners, and other extrinsic values. [...] But this does not mean that they have become invisible or have assimilated structurally to other identities; their cultural and relational lives may still be traditionally ethnic to the extent that they retain their symbolic ties and their attachments to networks. The hyphenate synthesizes a larger loyalty to America with a historic loyalty to the ethnic past."

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s c h i e d e n e n I d e n t i t ä t s b a u s t e i n e u n d T r a d i t i o n s l i n i e n in e i n e m d y n a m i s c h e n u n d n i e m a l s a b g e s c h l o s s e n e n k r e a t i v e n P r o z e ß g e l i n g t . In e i n e m I n t e r v i e w k o m m e n t i e r t e sie d a s in Coser y cantar e n t w i c k e l t e K o n z e p t w i e folgt: „ O n c e S H E / E L L A a c c e p t t h e o t h e r , t h e W o m a n b e c o m e s a diff e r e n t p e r s o n [...] a n e w p e r s o n , a c o m p o s i t e t h a t a c c e p t s a n d reconciles d u a l i t i e s . " ( F e l i c i a n o 1 9 9 5 : 1 1 6 ) D a m i t g e l i n g t e s d e m I n d i v i d u u m nicht n u r , ( e t h n i s c h e ) G r e n z e n z u ü b e r s c h r e i t e n , s o n d e r n a u c h , s i c h ein n e u e s Territorium z u erobern u n d d a m i t die kulturelle L a n d k a r t e A m e r i k a s i m S i n n e eines „ r e ( b ) o r d e r i n g of t h e A m e r i c a s " ( M a r t í n - R o d r í g u e z 1 9 9 5 : 3 9 1 ) - n e u z u gestalten.

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Frauke Gewecke: Prof. für Romanische Philologie/Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg; ihre Forschungsschwerpunkte sind die lateinamerikanischen, insbesondere die karibischen Literaturen (spanischer und französischer Sprache). Publikationen: Die Karibik. Zur Geschichte, Politik und Kultur einer Region, 1988; Wie die neue Welt in die alte kam, 1992; Der Wille zur Nation. Nationsbildung und Entwürfe nationaler Identität in der Dominikanischen Republik, 1996; Puerto Rico zwischen beiden Amerika. Bd. I: Zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur einer Nation im territorialen Niemandsland (1898-1998). Bd. II (Hrsg.): Konfliktive Wirklichkeit im Spiegel der Puertorikanischen Literatur (1898-1998).

Diktaturen haben keine Schriftsteller, sie haben Schreiber. Laßt uns nicht die Schreiber von Bitterkeit, Ressentiments oder Melancholie werden. Julio Cortázar (1978)

Heidrun Adler

Pedro R. Monge Rafuls: Ein Komma zwischen den Kulturen Die Beziehung zwischen Theatertext und Publikum funktioniert nicht als Einbahnstraße, sondern in der Wechselwirkung innerhalb desselben Rahmens von Referenzen und in beständiger Kommunikation. Dem Theaterautor im Exil stellen sich dafür große Schwierigkeiten in den Weg. Drei potentielle Zuschauergruppen hat er im Exil: die Menschen des Landes, in dem er nun lebt; seine Landsleute in der Heimat, mit denen er über alle Hindernisse hinweg in Kontakt zu bleiben versucht; und seine Landsleute, die mit ihm in der Diaspora leben, in der er wie in einer Art kulturellem Ghetto wirkt. Die Schwierigkeiten entstehen ihm in erster Linie aus dem komplexen kulturellen, semantischen und linguistischen Kontext, in dem er arbeiten muß. In einem Land, in dem seine Muttersprache nicht gesprochen wird, hat er zwei Möglichkeiten: er kann seine Sprache loslassen und sich der neuen zuwenden oder sich fest an seinen kulturellen Ursprung halten. Das ist die häufigste Reaktion der Exilanten.1 Was sie zu sagen haben, kann ihr Publikum in der Heimat kaum erfahren, aber ihre Landsleute im Exil. Dieses Publikum lebt in denselben Umständen wie der Autor: Heimweh, Heimatlosigkeit, Hoffnung auf Rückkehr und die Sorge um die Kinder, die sich in der neuen Umgebung verwurzeln und die Bindungen zur Heimat langsam lösen, sind allen gemeinsam und daher die vorherrschenden Themen des Exiltheaters. Auch Pedro R. Monge Rafuls spricht diese Probleme in einer Reihe von Stücken an.2 Er selbst sagt im Vorwort zu Trash3: 1

2

3

Es läßt sich beobachten, daß die Entscheidung für die eigene Sprache eine defensive Entscheidung ist. Je „integrierender" sich die Kultur des Gastlandes darstellt, desto notwendiger erscheint es, die eigene zu bewahren. „Die Notwendigkeit, sich dem neuen Leben anzupassen, neue Gewohnheiten anzunehmen, ist so stark, daß sie unsere eigene Identität in Gefahr bringt." Raúl de Cárdenas. Interview 2001. Unter anderen in: De la muerte y otras cositas (1988); Solidarios (1989); Recordando a Mamá (1990); Easy money (1990); Noche de Ronda (1991); Consejo a un muchacho que comienza a vivir (1991); Las lágrimas del alma (1995). In Out of the Fringe, hrsg. von Caridad Svich und María Teresa Marrero. New York

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Heidrun Adler Ich schreibe über Unterdrückung. Nicht allein politische Unterdrückung, sondern über alles, was uns lateinamerikanische Immigranten in den USA unterdrückt. Als kubanischer Exilierter. Ich sehe mich selbst nicht als politischen Autor, aber meine Arbeit ist ein Ergebnis politischer Situationen. Meine Aufgabe ist es zu zeigen, wie der Mensch unter politischen Umständen leidet und wie er gezwungen ist, darauf zu reagieren. Diese Reaktionen mögen nicht immer wünschenswert sein, aber mich interessiert, wie wir diese Situationen erleben. (275)

Die Autoren reagieren unterschiedlich auf die Trennung von ihren vitalen Quellen. Einige erholen sich nie von diesem traumatischen Erlebnis und verstummen, andere beginnen eine nostalgische Suche nach der verlorenen Heimat. In den meisten Fällen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, sehen sie explizit oder verdeckt das Exil als Demütigung, als Verstümmelung und beschreiben die verhängnisvollen Konsequenzen dieses Prozesses. Wenige setzen bei einer kritischen Betrachtung der negativen Aspekte des Exils an, um einen positiven Weg aus dem Problem zu suchen. Im Folgenden soll an fünf Stücken von Pedro R. Monge Rafuls: Cristóbal Colón y otros locos (1983), Otra historia (1996), En este apartamento hay fuego todos los días (1987), Trash (1995) und Ñadie se va del todo (1991) dieser,positive Ansatz' gezeigt werden.4 Das erste Theaterstück von Pedro R. Monge Rafuls, Cristóbal Colón y otros locos, eine Komödie in zwei Akten erzählt davon, wie Kolumbus nach seiner Entdeckung Amerikas an den spanischen Hof zurückkehrt und dort zeigt, was er gefunden hat. Neben exotischen Früchten, Pflanzen und Tieren bringt er auch zwei Eingeborene mit. Der Hof hält sie für Tiere. KÖNIGIN BARONIN DOÑA G. KÖNIGIN

Oh, wie hübsch! Die sehen so echt aus. Beißen sie? Was sind das? Wahrscheinlich die Pferde der neuen Welt. Also... ich würde sagen, das sind Strauße. (2) 5

Hier treffen die ,Amerikaner' die Spanier in deren eigenem Land. Sie haben die Möglichkeit, die Realität der Eroberer zu verifizieren. Der Nimbus des fernen Unbekannten manipuliert hier nicht den Blick. Es ist eine Begegnung beider Kulturen aus der Sicht des Kubaners des 20. Jahrhun2 0 0 0 , S. 2 7 7 - 2 8 6 . 4

Pedro R. Monge Rafuls gründete in N e w York das OLLANTAY ART HERJTAGE C E N T E R u n d d i e Z e i t s c h r i f t OLLANTAY,

5

u m d e n L a t e i n a m e r i k a n e r n in d e n

USA,

und unter ihnen der großen Gruppe der Exilanten, eine Basis zu schaffen, ihre Kultur zu publizieren. Die Zitate stammen aus dem unveröffentlichten Manuskript.

Pedro R. Monge Rafuls

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derts, der im Exil in den USA lebt. Das selbstgefällige Gehabe der Europäer, deren Ignoranz die Gaben der Neuen Welt mißachtet, amüsiert die Amerikaner. Sie selbst halten sich für intelligenter als die Spanier: sie lernen deren Sprache, nicht umgekehrt. Sie erachten ihre Kultur als reicher; ihre Früchte, Mais, Kartoffel, Tomate etc. spielen heute eine wesentliche Rolle in der Ernährung der Alten Welt, während Kunst und Traditionen auf folkloristische Klischees reduziert wurden, die zudem noch aus der Zeit der spanischen Kolonie stammen. Kolumbus hat dem König, der Königin und dem Kardinal persönliche Geschenke mitgebracht, die sie am Ende des ersten Akts vorführen: Der König kommt als mexikanischer Charro gekleidet, schwarzer Anzug, Revolver etc. auf dem breiten Hut trägt er die Krone. Die Königin erscheint als kubanische Rumbera, der Kardinal als „clergyman". (28)

Monge Rafuls stellt keine furchtsamen Wilden auf die Bühne, vielmehr stolze Individuen. Dennoch sind sie Beutestücke, und vom ersten Auftritt an ist klar, daß die Europäer die Neue Welt als primitiv voraussetzen und keines Besseren belehrt werden wollen. Wenn Kolumbus von der anderen Kultur und ihren Werten spricht, schlafen sie ein und erwachen erst wieder, wenn von Schätzen die Rede ist. Man ist nur an der Ausweitung der Macht Spaniens und dem davon erwarteten Reichtum interessiert. BARONIN Da leben doch nur Menschenfresser. HETUEY Sie könnten viel von uns lernen. BARONIN ironisch, mit verächtlicher Geste Von euch? (49)

Um jedes didaktische Pathos zu vermeiden, setzt der Autor auf die Komik der Begegnung. Die ,Amerikaner' sind in ihrer Denkweise Projektionen des 20. Jahrhunderts, der spanische Hof ist eine Karikatur.6 Anachronismen und wiederholtes Aus-der-Rolle-fallen transportieren die Botschaft des Autors. KOLUMBUS In El Salvador erzählten uns die Leute von anderen schöneren, reicheren Ländern. KONIG Dollars! KARDINAL SO schlecht wie der Maravedi heute steht. KOLUMBUS Da entschloß ich mich zu einem demokratischen Akt. zum König 6

„Dieses Stück ist stark beeinflußt von der nordamerikanischen TV-Serie The Adams Familj, natürlich mit einem guten Schuß meiner kubanischen Idiosynkrasie, dem chotec." (Gespräch 2000)

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Heidrun

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Nicht so, wie es hier üblich ist... und berief einen Rat aus den wichtigsten Mitgliedern der Mannschaft. PINZÓN I Ich wollte nach Buenos Aires. DOÑA G. Argentinien habt ihr doch noch gar nicht entdeckt. KOLUMBUS Genau, deshalb wollte ich nach Kuba segeln. (21)

Und diese Botschaft ist kein verspätetes Aufbegehren gegen die historischen Entwicklungen, sondern das Bemühen um Verständigung, wodurch der Text für beliebige Rückschlüsse auf gegenwärtige Situationen geöffnet wird. In Otra historia (1996) 7 zeigt Monge Rafuls, wie mitten in der Neuen Welt die alten Götter Afrikas, Changó und Oshün, in kubanischem Gewand lebendig sind. Er erzählt von José Luis, einem,typischen' Latino in New York. Hinter der Fassade des Schürzenjägers verbirgt dieser jedoch seine homosexuelle Liebe zu Marquito. Die dramatische Struktur des Textes wird von afro-kubanischen Ritualen bestimmt, denn José Luis und seine Braut - die glaubt, er betrüge sie mit einer anderen Frau - suchen Rat und Hilfe in der santería. 8 Die Magie beginnt schon, wenn der Zuschauer das Theater betritt, er wird von Orishas 9 mit Ritualen der Geisteraustreibung empfangen. Unglücklicherweise wenden sich die Protagonisten an entgegengesetzte Gottheiten, und nun geht es nicht mehr um ein bißchen Magie und Aberglauben, jetzt wird der Konflikt von den Göttern selbst ausgetragen. Wie in der klassischen Tragödie sind die Menschen hilflos dem Spiel der Götter ausgeliefert. Juan Carlos Martínez schreibt zu diesem Stück 10 : Es ist nicht das erste Mal, daß sich das kubanische Theater mit ihr (Homosexualität) befaßt, aber niemals zuvor ist die Liebestragödie zwischen zwei Männern als ein von den Orishas bestimmtes Schicksal interpretiert worden. U m die explosive Irritation zu verstehen, die dieser Text beim Publikum provoziert, muß man dazu erwähnen, daß die afro-kubanische Religiosität einer der soziokulturellen Pfeiler des makellosen machismo der kubanischen Gesellschaft ist. Deshalb ist schon die Assoziation zwischen Homosexualität und santería innerhalb desselben Bedeutungszusammenhangs genug, u m Polemik und Unruhe hervorzurufen. (177)

José Luis steht nicht nur innerhalb der machistischen Latino-Gemeinde 7

8 9 10

Eine erste, verschwundene Version des Stückes hieß Otra historia de un amor. Das erklärt die unterschiedlichen Titel in verschiedenen Bibliographien. Wichtigster afro-kubanischer Zauberkult. Stellvertretende Figuren der Gottheiten. Juan Carlos Martinez: „Homophobie: Erinnerung, Paradoxon und andere Spiele", in Zu beiden Ufern: Kubanisches Theater. (Adler, Herr 1999), S. 167-178.

Pedro R. Monge Rafuls

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zwischen zwei Stühlen. Er hat auch im Kontext seiner neuen Heimat ein Bild von sich (sein image als latin lover) zu wahren. Indem er den Konflikt zwischen Schein und Sein, zwischen Wollen und Können, auf die Ebene der Götter hebt, zeigt Monge Rafuls, daß seinen Figuren jede freie Entscheidung verwehrt ist, solange sie sich fest im Rahmen der hergebrachten Tradition bewegen." In einer alltäglichen Konfliktsituation steht Carmen in dem Monolog En este apartamento hay fuego todos los días. Sie ist Kubanerin und lebt allein in New York. Ihr Weltbild ist eine willkürliche Mischung aus traditioneller kubanischer Mädchenerziehung und US-Medienklischees. Sie ist sehr dick, und ein großer Teil des Monologs zeigt ihre aussichtslose Position zwischen Diätplänen und unmäßigem Appetit. Da sie nicht dem offiziellen Schönheitsideal entspricht, kultiviert sie ihre Jungfräulichkeit als den besonderen Schatz, den sie für ihren Helden bewahrt, der hinter ihrer fetten Gestalt die wunderbare Frau zu sehen vermag. Unter anderen Menschen fühlt sie sich unsicher, und nur allein in ihrem Appartement entwickelt sie das große Feuer ihrer Leidenschaft (siehe Titel). Auch ihre sexuellen Phantasien folgen TV-Klischees, weil sie keine eigenen Erfahrungen hat. Doch sollen die Träume sie keineswegs in eine andere Welt transportieren. Die vorgefertigten Bilder sind vielmehr ein Mittel, sich in der fremden Welt zurechtzufinden. Ihre Frustration wächst aus ihrer Unfähigkeit, ihren Platz in der Welt, im Exil, zu finden, und aus Frustration muß sie essen, ihrem Körper geben, was ihre Seele vermißt, Zuwendung. 12 Héctor Luis Rivera interpretiert in seinem Vorwort zu diesem Stück sowohl ihr Fettsein als auch ihre Liebe zu José, einem Schwarzen, als eine unbewußte Ablehnung der Norm. 13 Aber, wenn Carmen begreift, daß José die schlanke Cousine Fina heiraten wird, sucht sie Schutz hinter kleinbürgerlichem Rassismus: „Ein Neger in der Familie ist überhaupt nicht erwünscht." (69) Die tragikomische Carmen ist eine Personifizierung der zwanghaftesten aller Normen, ein Symbol für das alles verschlingende „das schickt sich nicht", an dem sie immer fetter wird und lauter Gründe findet, noch mehr zu verschlingen. (1995: 69) Es gelingt 11

12

13

Zum Thema Homosexualität in der Latinogemeinde in den USA siehe die ausführliche Untersuchung von Monge Rafuls' Noche de Ronda von Bradley J. Nelson: „Pedro Monge Rafuls and the Mapping of the (Postmodern) Subject in Latino Theater", in GESTOS 12,24 (November 1997), S. 135-148. In Recordando a Mamá (1990) zeigt Monge Rafuls wie die Intoleranz der exilierten Generation keine Assimilation zuläßt und den Nachkommen Schuldgefühle aufzwingt, die sie geradezu kastrieren. Héctor Luis Rivera: „Las vertientes de Carmita", in OLLANTAY III, 1 (1995), S. 58-69.

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ihr nicht, ihren Traum von Liebe - und Freiheit - zu verwirklichen, darum verschließt sie sich noch enger in dem Widerstreit von Sehnsucht und Intoleranz, von Wünschen und Nicht-Können, der das Leben des Exilanten in aller Welt beherrschen kann. Das markanteste Stück zu diesem Thema ist Trash, der Monolog eines farbigen Kubaners in einem Gefängnis in den USA. José ist ein Marielito, ein Kubaner, der 1980 mit der großen Gruppe von Flüchtlingen aus dem Hafen von Mariel in die USA kam. Er hat einen weißen Amerikaner, einen Priester, getötet. Nun wartet er auf seinen Prozess. Wir hören seine Version der Ereignisse, sehen die Situation mit seinen Augen. Der Weiße hatte ihn zu sexuellen Diensten gedrängt und dann nicht nur nicht bezahlen, sondern noch mehr fordern wollen. José hatte sich gewehrt und dabei den Mann getötet. Monge Rafuls spricht hier ein heikles Thema an. José ist kein Strichjunge. Was ihm widerfuhr, kann nicht als „Berufsrisiko" abgetan werden. Er hat seinen Körper verkauft, weil das der Weiße von ihm verlangte. Wir sind schon im Camp 14 für Sex angeheuert worden. Leute von draußen [...] Sie wissen doch, wir Kubaner sind bekannt dafür, daß wir ordentlich was zu bieten haben... Sie wissen, was ich meine? (281)

Er betont, daß er sich nicht angeboten hat, vielmehr nur zögernd darauf einging, weil er das Geld gut gebrauchen konnte.15 Das Ereignis fand in jener Grauzone statt, die von der Gesellschaft mit Stillschweigen übergangen wird und erst Beachtung findet, wenn man hinsehen muß, weil ein Unglück geschah oder ein Skandal droht. Hier ist entscheidend, daß das verwerfliche Verhalten des Priesters nicht zur Debatte steht, weil José farbig ist und darüber hinaus Kubaner, schlimmer noch, ein Marielito. Marielitos sind in einer zweifach prekären Situation: sie sind Exilanten mit einem negativen Etikett, weil damals zusammen mit den Flüchtlingen auch kubanische Kriminelle abgeschoben wurden. Für Nordamerikaner sind Marielitos menschlicher Abschaum. José: „Jeder in diesem Land hat Angst vor den kubanischen boat-people. Man sagt, wir bringen jeden um, wir vergewaltigen Frauen." (279)

14 15

Auffanglager der Flüchtlinge. „The body becomes the site of a struggle for self-determination to serve white America's economic priorities." (Peggy Phelan: Unmarked: The Politics of Performance. London 1993)

Pedro R. Monge Rafuls

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Das Stück beginnt damit, daß José mit nacktem Oberkörper in seiner Zelle in die Luft boxt. In der Literatur steht dieses Bild für Zorn, Leidenschaft und auch für machismo. So wird dem Zuschauer der Blick des Anderen gezeigt. José ist außerordentlich attraktiv, jung, stark und schwarz. Der weiße Bürger projiziert seine sexuellen Wünsche auf den Schwarzen, den er als Objekt begehrt und „benutzen" will. Er schämt sich vor ihm nicht für seine Wünsche, weil der Schwarze ihm nicht ebenbürtig ist. Homi Bhabha beschreibt diese Ambivalenz von Stereotypen im Umgang ungleicher Partner als Abstoßung und sexuelle Anziehung, die die Erniedrigung des Anderen fordert, um die sexuelle Ausschreitung, die nicht in den eigenen Ehrenkodex paßt, gewaltsam auszulöschen.16 Das Verbotene wird durch die „Unterwerfung" transgrediert. Haß und Verachtung erhöhen die Lust und entbinden zugleich von jeder Verantwortung, denn die soziale Stellung des Weißen erlaubt die Ausbeutung des Schwarzen. Ihn, den Schwarzen, trifft die Schuld für die Sünde des Weißen. Er ist ja nur ein Stück Dreck. Trash. Trash ist bisher das einzige Stück von Monge Rafuls, das auf Englisch geschrieben wurde. Die Wahl der Sprache ist hier weniger ein Zeichen der Anpassung des Autors an sein Publikum als eine Entscheidung seiner Figur. José berichtet, wie er sofort nach seiner Ankunft in den USA Unterricht nahm, er wollte aufs College, etwas richtiges werden. In den ersten Wochen sagte er zu allem nur „Ja": „It was my ,yes-period' of time." (281) Er suchte Freiheit und Gleichberechtigung, akzeptierte alles, paßte sich an. Aber er fand Rassismus und Ausbeutung. Carmen spricht mit sich selbst, sie schließt sich in der eigenen Welt ein, weil sie sich der fremden Welt nicht gewachsen fühlt. José spricht zum Publikum. Er möchte frei sein und ist bereit, seinen Teil dazu zu tun. Die Gitterstäbe seiner Zelle sind eine Metapher für die vielen Vorurteile, die den Fremden ein/aussperren. Monge Rafuls begräbt trotz der aussichtslosen Lage seines Protagonisten die Hoffnung nicht, vielmehr betont er: wenn man sein Leben nicht kontrollieren kann, man kann es doch erzählen, seine eigene Wahrheit artikulieren.17 José glaubt an diese Macht, die ihm seine Würde wiedergeben kann. Das unterscheidet ihn vom Tier, dem er in seinem Käfig so sehr ähnelt.

16

17

Homi Bhabha: The Location of Culture. London, New York 1997. Siehe auch Peggy Phelan: Unmarked: The Politics of Performance. London 1993. Robert Vorlicky: „The Value of Trash: A Solo Vision", in OLLANTAY III, 1 (1995), S.

103-106.

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Heidrun Adler

Wie sieht der Autor aber die Rückkehr des Exilierten in die Heimat? In Nadie se va del todo (1991) 18 geschrieben, nachdem der Autor nach 29 Jahren zum ersten Mal wieder in Kuba war, besucht Lula nach dreißig Jahren Exil in den USA mit ihrem Sohn die Schwiegereltern in Kuba. Sie war mit ihrem Säugling geflohen, nachdem man ihren Mann hingerichtet hatte. Das Stück hat eine eigenwillige, schwierige Form: alle Szenen, unabhängig vom Ort der Handlung, spielen sich in einem Bühnenbild ab, dem Wohnzimmer der Familie in Kuba. Und die verschiedenen Handlungsabläufe, unabhängig von der Zeit der Handlung, überschneiden sich. Lula möchte ihrem Sohn das Grab des Vaters, die Heimat und die Großeltern zeigen. Wie Gedanken, Assoziationen, Erinnerungen, Träume, die bei den Reisevorbereitungen entstehen, verweben sich die oft nur sehr kurzen Szenen. Am Ende ist nicht klar, ob diese Reise wirklich stattgefunden hat. 19 Die Handlung weist Zeitsprünge auf und ruft damit das Gefühl hervor, daß beide Orte zugänglich bleiben. Die Erfahrung läßt sich zurückgewinnen, die Gegenwart nährt sich ständig aus der Vergangenheit und zeigt eine enge Verbindung zu den geschehenen Ereignissen, die immer noch ihre Gültigkeit besitzen. (Laureano Corces 1999: 61)

Wie in allen seinen Stücken bietet Monge Rafuls auch hier differenzierte Vorstellungen an. Die sechs Hauptfiguren repräsentieren paarweise die Generation, die Batista und die Revolution erlebt hat, die ExilKubaner und die Generation, die mit der Revolution aufgewachsen ist. Auf diese Weise treffen nicht apodiktische Meinungsäußerungen aufeinander, sondern innerhalb jeder Gruppe gibt es Gegensätze und Entwicklungen, wo es - nach Meinung des Autors - notwendig und möglich ist. Der alte Antonio leistet passiven Widerstand, er sammelt „Helden der Revolution" und verwahrt sie in einem Schuhkarton 20 ; seine Frau Coral dagegen plädiert für Toleranz: „Man wird alles vergessen, denn wir Kubaner vergeben immer." Lula ist voller Haß auf diejenigen, die ihren Mann hinrichteten und sie zwangen, ihre Heimat zu verlassen, aber auch voller Sehnsucht zurückzukehren; Tony ist offen für alle neu18

19

20

Niemand geht ganz und gar, deutsch von Almuth Fricke in Kubanische Theaterstücke. ( A d l e r / H e r r 1999), S. 247-195. Eine Metapher „für die Existenz einer kollektiven Erinnerung, die die historische Kontinuität des kubanischen Volkes garantiert, allen Widerständen, Entwurzelungen, Exilen und Revolutionen z u m Trotz." Juan Carlos Martínez: „El reencuentro, un tema dramático", in Lo que no se ha dicho. (Monge Rafuls 1994), S. 69. vgl. Virgilio Piñera: Una caja de zapatos vacía. Miami 1986. Der Schuhkarton ist auch hier eine Metapher für Verweigerung und Widerstand.

Pedro R. Monge Rafids

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en Eindrücke; Asunción plappert die offiziellen Phrasen nach; Mime hinterfragt sie. Wenn Antonio am Ende seine Helden auf die Straße schüttet, weist er ihnen ihre tatsächliche Bedeutung zu, die Coral formuliert: „Es ist nur Papier." (259) Das heißt, eine Versöhnung unter den Kubanern wird nur möglich sein, wenn die Ikonen, die eine freie Sicht der Dinge verstellen, „vom Winde verweht" werden. Die hier angesprochenen Stücke zeigen einen charakteristischen Umgang mit der Zeit. Wir finden keine linearen Entwicklungen, vielmehr zyklische Abläufe, ein ständiges Zurückkehren in die Vergangenheit. Die Figuren von Cristóbal Colón y otros locos kennen den Verlauf der Geschichte. Sie stehe im 15./16. Jahrhundert mit dem Wissen und dem Vokabular des 20. Jahrhunderts. Für Otra historia sind archaische Vergangenheit und Moderne nahezu identisch. Ort und Zeit sind für das Schicksal der Figuren gleichgültig. In Trash wechselt der Monolog immer wieder zurück in die Zeit, bevor José in die USA floh. Das Schlußbild zeigt ihn halbnackt in einem Käfig. Das Bild sagt uns, daß 500 Jahre nach Kolumbus die Vorstellung von dem „Wilden" noch nahezu identisch ist mit der des spanischen Hofes.- KÖNIGIN: Beißen die? - Dieser Wilde hat gebissen. In Nadie se va del todo wird die zyklische Denkweise in der formalen Gleichzeitigkeit präsentiert. Durch die Verwendung nur einer Spielebene, auf der gleichzeitig alle Handlungen ablaufen, die sich zu verschiedenen historischen Zeitpunkten ereignet haben, umgeht Monge Rafuls jede chronologische Abfolge und den Bezug auf konkrete Orte, die irgendwelche naturalistischen Vorspiegelungen der Realität hervorrufen könnten. Ein Ort steht für alle Orte und eine Zeitebene für alle anderen. (Jorge Febles 1999: 89)

Monge Rafuls lenkt den Blick auf die Situation des Lateinamerikaners im nordamerikanischen Exil und zeigt ihn als Gefangenen von Klischees der eigenen Tradition und der tradierten Vorurteile der nordamerikanischen Gesellschaft. Wenn Cristóbal Colón y otros locos auch bisher die einzige ausgewiesene Komödie ist, kann nicht übersehen werden, daß Humor ein wesentliches Element des Autors ist. Der Blick auf das Komische in jeder Situation verschafft ihm Zugang zu jenen inneren Ressourcen, die den Menschen vor völliger Vernichtung bewahren können. Bereits in Cristóbal Colón y otros locos, seinem ersten Theaterstück setzt er die klare Prämisse für sein gesamtes Werk: Es geht um Verständigung, alles andere ist lächerlich.

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Heidrun Adler

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Christiila Vasserot

José Triana: Das Theater als Heimat Anhand des Themas Exil das Werk eines Künstlers zu analysieren, mögliche Brüche auf seinem Weg aufzuzeigen und sich zu fragen, ob diese mit biographischen Einschnitten zusammenfallen, setzt voraus, den Begriff Exil selbst zu diskutieren. Aus räumlicher Sicht bedeutet er Entfernung zwischen einem Hier und einem Dort, wobei beide Orte durch Kilometer zu Land oder zu Wasser getrennt sind. Im Diskurs ist das Exil die Umkehrung: das Hier wird zum Dort und umgekehrt. Für den Schriftsteller, der die Realität in einen poetischen Gegenstand verwandelt, gestaltet sich das Erfassen besagter realer Distanz oder Umkehr im kommunikativen Diskurs problematisch. Ich werde im Rahmen dieser Untersuchung über den kubanischen Theaterautor José Triana die intimen, unvermeidlichen und schmerzhaften Komponenten des Exils Entwurzelung, Abwesenheit, Verlust von Identifikationsbezügen - beiseite lassen und mich statt dessen auf Trianas Konzept einer echten Exilpoetik konzentrieren. Das Theater scheint mehr als jede andere literarische Form das Eintauchen in die dargestellte Realität zu benötigen. Tatsächlich ist das Theaterwort aus dem Mund der Schauspieler kein distanzierter Diskurs (wie beispielsweise im Roman vom Erzähler gelenkt), sondern mimetische Äußerung.1 Deshalb stellt sich die Frage, ob sich im Falle einer Veränderung der Umstände während der Arbeit an einem Theaterstück auch dessen Form verändert, mit der der Autor besagte Umstände erfaßt. Wird das Schreiben von der Realität ringsherum bedingt, oder ersinnt das Schreiben die Realität? Ich beziehe mich nicht auf die banale These, daß künstlerische Arbeit die Gesellschaft beeinflußt, sondern auf das, was Literatur in ihren verschiedenen Ausdrucksformen und unterschiedlichen Strömungen wirklich ist: Eine Umgestaltung der Realität. Das Schreiben eines jeden Autors wird nicht durch die Realität, sondern durch seine charakteristische Art, sie umzugestalten, bestimmt: eine Konstante, empfänglich dafür, sich mit der persönlichen Entwicklung des Autors zu verändern, die vielleicht - das ja - von äußeren Umständen beeinflußt ist. Aber Kunst ist nicht den Umständen unterworfen, sondern sie selbst verwandelt diese in poetische Materie. Deshalb werde ich mich im ersten Teil dieses Aufsatzes mit der Analyse von José Trianas Werk in 1

Imitation oder Mimesis, wie sie Aristoteles in der Poetik definiert.

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Christina Vasserot

seinen geographischen, chronologischen und kulturellen Bezügen befassen. José Trianas Werk läßt sich in drei große Etappen einteilen, die chronologisch von zwei Stücken bestimmt werden: Meiner Meinung nach gibt es ein Vorher und ein Nachher von La noche de los asesinos, und ebenso ein Vorher und ein Nachher von Palabras comunes. Beide sind Werke des Bruchs und zugleich des Übergangs. In La noche de los asesinos (1965) wird Trianas Schritt vom Eingebundensein im kulturellen Leben Kubas ins innere Exil vollzogen. 2 Palabras comunes ist ein Werk der inneren Emigration und zugleich des äußeren Exils: Triana begann es 1979 auf Kuba - ein Jahr vor seiner Ausreise - zu schreiben und beendete es 1986 in Paris und Sitges. Der Kritiker José Escarpanter hat den zeitlichen Bezugswechsel dargestellt, der in La noche de los asesinos durchscheint 3 . Die früheren Stücke spielen vor dem Hintergrund des heutigen Kuba, wobei in El Mayor General hablará de teogonia das Jahr 1929 eines der am weitesten zurückliegenden Bezugsjahre ist. Die späteren Stücke zeigen hingegen eher Tendenz zum Eintauchen in die nationale Vergangenheit: Von gestern reden bedeutet natürlich, von heute zu reden, und man umgeht dadurch vielleicht die Eingriffe der Zensur. Das Bühnenbild in Ceremonial de guerra gibt demnach „einen Ort in Kuba, im Urwald" während des Unabhängigkeitskrieges 1895 vor. Die Handlung von Revolico en el Campo de Marte ist in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts angesiedelt. Und Palabras comunes umfaßt zwanzig Jahre kubanischer Geschichte von 1894 bis 1914. Betrachten wir nun die im Pariser Exil geschriebenen Stücke. An ihnen ist eine Vervielfältigung der an keinerlei geographischen Ort gebundenen Räume und gleichzeitig eine Versöhnung mit der Gegenwart festzustellen: Die Bühnenanweisungen von Cruzando el puente geben an, Ort: eine Bühne; Zeitpunkt: Ende der Achtziger Jahre. Ahí están los Tarahumaras bietet eine Traumfassung des Universums von La noche de los asesinos:

2

„Der internationale Erfolg von La noche de los asesinos fällt mit dem Ende einer Etappe relativer kultureller Öffnung in der Politik der Revolutionsregierung zusammen. Von 1967 an reißt der politische Gegenwind die kulturelle Entwicklung nieder, und der Sieger Triana sieht sich plötzlich einem dramatischen Scherbengericht gegenüber, bis es ihm 1980 gelingt, das Land zu verlassen." aus José Escarpanter: „El exilio en Matías Montes Huidobro y José Triana", in Linden Lane Magazine IX, 4 (Oktober/Dezember 1990), S. 63.

3 Ibid.

José Triana

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„Die Bühne ist ein Friedhof aus kaputten Möbeln, ausgedienten Gegenständen und kaputten oder unfertigen Hampelmännern" 4 , und erinnert an den Keller, in dem Lalo, Beba und Cuca „zwischen einem Tisch, drei Sesseln, gestreiften Teppichen, schmutzigen Gardinen mit großen blumigen Stofflicken, Blumenvasen, einer Glocke, einem Messer und ein paar nicht mehr benutzten Gegenständen in den Ecken sowie einem Besen und einem Staubwedel" ihre Spielchen spielen.5 Nach den Vorgaben des Autors soll das Bühnenbild metaphorisch, der Zeitpunkt „aktuell" sein. Das ist es auch in La Fiesta: „Ort: eine Bühne oder eine Wohnung oder ein Park oder die Mezzanine eines Hotels in Miami. Zeitpunkt: aktuell."6 Unbestimmtheit bezüglich der Art des dargestellten Raumes, aber keine geographische Ungenauigkeit. Von Frankreich aus auf Miami anzuspielen, bedeutet, das Musterbeispiel des kubanischen Exils, eines äußeren Kubas zu wählen. In El último día del verano verwischen sich die Bezüge: „Bühne: ein Strand, Zeitpunkt: zeitlos." Strände gibt es auf Kuba, in Miami, in Frankreich. Das Spiel der Entfernung und Verwirrung zieht sich durch Trianas Gesamtwerk, einmal in der Zeit, einmal im Raum, was dem Autor erlaubt, die Gesellschaft gleichzeitig von innen und von außen zu betrachten, mit anderen Worten, aus einem permanenten Exil. Um vom heutigen Kuba zu erzählen, setzt der Autor seine Figuren auf ein schlaffes Seil, in einen Grenzraum des Ein- und Ausschlusses. Nicht einmal seine Jugendstücke entbehren dieses Phänomens. Die Geschichten von Medea en el espejo und von El Parque de la Fraternidad ereignen sich „vor einigen Jahren"; es war einmal auf Kuba... Oder in Griechenland oder in einem Theater... Wenn ich jetzt die auf der Insel geschriebenen Werke analysiere, wird deutlich, daß in ihnen nicht nur räumliche oder zeitliche, sondern auch eine kulturelle Spannung steckt, auch wenn in ihnen noch explizit Kuba die bevorzugte Kulisse ist. Revolico en el Campo de Marte ist schon vom Titel her im alten Havanna angesiedelt. Zugleich ist diese in Versform geschriebene Verwicklungskomödie eine Hommage an die Komödien des Goldenen Zeitalters in Spanien. In Ceremonial de guerra sind die Mambís des hispano-kubanischen Krieges die Protagonisten, dennoch 4

José Triana: Ahí están los Tarahumaras, S. 22.

5

José Triana: La noche de los asesinos, S. 66. Die Nacht der Mörder, deutsch von Achim Gebaun. Frankfurt/ Main 1968.

6

José Triana: La Fiesta, S. 219. Deutsch von Heidrun Adler: „Das Fest", in Theaterstücke des lateinamerikanischen Exils. (Adler, Herr 2002), S. 333-374.

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fehlen in diesem Stück auch nicht die Parallelen zu Sophokles Philoktet.7 Die sehr kubanische Mulattin Maria in Medea en el espejo prahlt mit ihrer Doppelabstammung. Die Gemeinsamkeiten der Heldin mit der einheimischen kubanischen Theatertradition hat José Escarpanter bereits hervorgehoben.8 Was dem Stück jedoch seine tragische Dimension verleiht, ist Marias Ähnlichkeit mit der Medea von Euripides, die konstante Spannung zwischen beiden Bezügen, die der Kritiker Rine Leal „von den Hausschlappen zum Kothurn übergehen" 9 genannt hat. Schließlich bedeutet das Schreiben für José Triana, vom Eigenen zum Universellen oder vom Universellen zum Eigenen zu gelangen. Die Gesellschaft betrachtet sich weder von innen noch von außen, sondern wirft nur einen schrägen Seitenblick. Der Künstler übt seine Kunst nicht aus der Position irgendeines Mitbürgers aus; er stellt sich an den Rand der Gesellschaft, genau an den Platz, der ihm erlaubt, Teil des dargestellten Objekts zu sein, aber mit genügend Distanz, um einen kritischen und, wie im Falle José Trianas, unbarmherzigen Blick zu werfen. Zusammengefaßt betrachtet, stellt das Exil keinen simplen biographischen Umstand dar. Es ist eine kreative und verpflichtende Haltung, die der Schriftsteller schon vorher auf Kuba eingenommen hat. Andere Merkmale von Trianas Dramaturgie lassen sich daran studieren, wie das Motiv Exil als Beobachtungsprinzip der Gesellschaft und als Kunstwerk verstanden wird. Der paratopische Blick10 des Künstlers 7

Die intertextuelle Verbindung mit dem griechischen Original läßt sich vor allem in der Struktur des Stückes ausmachen. Triana selbst hebt diese Intertextualität in einem Interview mit José Escarpanter hervor: „Imagen de una imagen - entrevista con José Triana" in: Palabras más que comunes. Ensayos sobre el teatro de José Triana, hrsg. von Kirsten F. Nigro. Boulder 1994, S. 7.

„Das Stück zeigt sich als eine Erneuerung des Themas: die stürmische Beziehung einer Mulattin mit einem Weißen, der sie betrügt, sehr häufig im lyrischen Theater; siehe Cecilia Valdés von Cirilo Villaverde, vertont von Gonzalo Roig mit dem Text von Sánchez Arcilla und Agustín Rodríguez, und María la O von Sánchez Galarraga mit der Musik von Ernesto Lecuona." José Escarpanter: „Elementos de la cultura afrocubana en el teatro de José Triana", in Palabras más que comúnes, S. 39. 9 Rine Leal: En Primera Persona (1954-1966). Havanna 1967, S. 126. 10 Dominique Maingueneau: „Um solch ein Buch zu schreiben, muß man Teil von dieser Welt sein und nicht Teil von ihm. Teil von ihm zu sein, um es zu kennen, und nicht Teil von ihm zu sein, um es zu malen. Gut bekannte Paratopie des Ethnologen, Beobachters und Teilnehmers." Le contexte de l'œuvre littéraire. Énonciation, écrivain, société. Paris 1993, S. 58 (Der Satz wird ursprünglich dem französischen Schriftsteller Jean de la Bruyère gewidmet.) 8

José Triam

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übersetzt sich ins Bühnenbild durch eine eigenwillige Gestaltung des Raumes, der nicht mehr als Dekoration oder geographischer Bezug, sondern als ein geistiges Konstrukt, als metaphorisches Gerüst betrachtet wird, auf das sich die Poetik des Autors stützt. „Es erscheint mir unglaublich, daß du dich nicht an deinen Platz gestellt hast" n , wirft Hilario García Blanca Estela in La muerte del Ñeque an den Kopf. Die Dekoration vermittelt in räumlichen Begriffen, wie unerträglich dem einheimischen Kaziken, Repräsentant des Machtmißbrauchs, die Ortsveränderung ist: das Bühnenbild stellt die Treppe vor Hilarios Haus dar, an der Grenze zwischen dem Raum der Autorität (das Haus) und dem befreienden Außen. „Sich an seinen Platz begeben" bedeutet auf der familiären, nationalen Skala, im Haus oder im Land zu bleiben: ein von den rebellierenden Figuren abgelehnter Ort, an dem die unterwürfigen Figuren verharren. Auf dieselbe Weise ist in La noche de los asesinos der Keller im von der väterlichen Autorität beherrschten Haus ein Ort der Freiheit und des Spiels, was in Begriffen des Theaters innerhalb des Theaters ausgedrückt wird, eine Art undergroud innerhalb des offiziellen Raums, ein Raum am Rande, der Widerstand und Beziehung zwischen einem Innen und einem Außen symbolisiert: Lalo, Beba und Cuca befinden sich inner- und außerhalb der Familie, sie sind ein Teil von ihr, während sie sich gleichzeitig mit ihrem makabren Spiel, die Eltern umzubringen, ausgrenzen. Der Keller ist sowohl ein beengender als auch befreiender Raum. Befreiung durch das Spiel, dessen bevorzugter Stützpfeiler die Kinder sind, immer wiederkehrende Figuren in Trianas Werk: eingebunden in die Gesellschaft, aber auch am Rande, da ihr Leben noch nicht völlig von den Gesetzen, die in der Erwachsenenwelt vorherrschen, reglementiert wird. Sie sind daher gleichzeitig drinnen und draußen. In Palabras comunes stellt das Außen den Raum von Spiel und Traum dar. Adriana trifft sich mit ihren Freundinnen im Prado, oder Victoria, Alicia, Gracielita und Gastón spielen als Kinder im Garten und plaudern außerhalb der Reichweite ihrer Eltern. Die Anpassung des Außen an einen Raum der Befreiung findet ihren übersteigerten Ausdruck in Revolico en el Campo de Marte. Die Umgebimg ist Raum zum Feiern und für den Karneval. In ihm werden die gesellschaftlich vorgeschriebenen Gesetze ungültig. Das bedeutet nach der Formulierung von Bakhtine

11

José Triana: La Muerte del Ñeque, S. 117.

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eine vorübergehende Flucht aus der üblichen (soll heißen, offiziellen) Lebensweise. [...] Während des Festes kann man ausschließlich nach den eigenen Gesetzen leben, mit anderen Worten, den Gesetzen der Freiheit. 12

Solche Feststellungen über die Konzeption des Bühnenraumes in José Trianas Werk enthüllen eine Vorliebe für jene nicht alltäglichen Orte am Rande, in denen andere Gesetze herrschen und wo die Gesellschaft an ihre Grenzen stößt. Gärten, Parks, Mietshäuser in Havanna, Keller: Grenzorte innerhalb der Gesellschaft und an ihrem Rand, Räume des Exils innerhalb des eigenen Landes. Ich habe immer geglaubt, daß ich in meinen Stücken die Probleme der Menschen zum Ausdruck bringen muß, die in der Gesellschaft aus welchen Gründen auch immer eine Außenseiterposition einnehmen, oder diese Ausgrenzung so kraß beschreiben muß, daß sie alle gesellschaftlichen Bereiche berührt. 13

Diese 1991 von José Triana formulierte Erklärung ist mit einer aus dem Jahr 1999 zu vergleichen: „Ich war immer ein Exilierter und werde es bleiben." 14 Am Rande zu schreiben bedeutet, aus dem Exil zu schreiben, unabhängig vom geographischen Aufenthaltsort des Autors: eine Haltung, die er schon in Kuba einnahm und in seiner Verbannung in Paris beibehielt. Bei José Triana bedeutet Exil weder Fatalismus noch Aufgabe. Es ist eine von Kuba aus praktizierte und außerhalb der Insel geschärfte ars poetica. Es handelt sich nicht nur darum, sozial ausgegrenzte Menschen, Exilanten, auftreten zu lassen, sondern die Bereiche der Ausgrenzung oder des Exils, die jede Gesellschaftsschicht in sich birgt, heraufzubeschwören. Das Fest ist ein Beispiel dafür: ein Ereignis, bei dem sich die Grenzen zwischen dem gesellschaftlich Akzeptierten und Abgelehnten verwischen, bei dem jede Figur Gegenstand der Verzerrung, der Groteske ist, verfälscht und gleichzeitig entblößt. Das sich wiederholende Motiv des Festes ist eine Konstante in Trianas Werk, ungeachtet der anfangs erwähnten drei Etappen. In La Muerte del Ñeque ist es latent vorhanden: die auf der Bühne agierenden Figuren erinnern sich ständig daran, daß in der Nähe (außerhalb der Bühne) eine spirituelle Sitzung stattfindet. 12

13 14

Mikhaïl Bakhtine: L'œuvre de François Rabelais et la culture populaire au Moyen Âge et sous la Renaissance. Paris 1988, S. 15-16. José Triana: Interview mitCristilla Vasserot, in LATR 2 9 , 1 (1995), S. 199. José Triana:,,'Siempre fui y seré un exiliado.' Interview mit Christilla Vasserot", in ENCUENTRO DE LA CULTURA CUBANA, 4 , 5 (Frühjahr/Sommer 1997), S. 33-45.

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Der Zuschauer hört das Echo der Zeremonie, umgesetzt zu Beginn des Stücks in den Cantos del Orile und am Schluß durch „das Erklingen von Buschtrommeln, später von Kürbisrasseln und der Bongo in wildem Rhythmus."15 Wenn man nun in Betracht zieht, wie oft das Fest zum Gegenstand der szenischen Darstellung wird, fallen mir drei Werke ein: Revolico en el Campo de Marte, Palabras comunes und La Fiesta, das erste auf Kuba geschrieben, das letzte in Paris, das zweite im Übergang von einem Kontinent zum anderen. Das Fest ist sowohl in Palabras comunes als auch in Trianas Gesamtwerk eine Schlüsselszene: Es nimmt den gesamten dritten Akt ein, steht genau in der Mitte dieses Stückes. Demnach ist das Fest eine Thematik, die in der Theaterproduktion des Autors die Kontinuität darstellt. Der Ort ändert sich, die Obsessionen aber bleiben dieselben. Es ist nicht nur ein konzeptuelles Spiel, das Thema ,Fest' in José Trianas Werk als einen Ausdruck des Exils zu betrachten. Während des Aufenthaltes außerhalb des Landes ist es eine Variante des sich Außerhalbseiner-selbst-Aufhaltens. Die Worte, die den dritten Akt von Palabras comunes beschließen und die Victoria in den Mund gelegt werden, wenn sie den Entschluß faßt, aus der Gesangsgruppe auszusteigen, sind nicht harmlos: „kopflos, fremd Wo bin ich?"... 16 Der Alkohol dient als Verkleidung oder Maske, aber auch als Spiegel. Victoria läßt die anderen weiter im Chor singen und flüchtet sich ins innere Exil, in die TraumErinnerung, die das ganze Stück strukturiert. Ohne mit dem realistischen Anspruch zu brechen, zeigt uns José Trianas Dramatik, daß die Realität nicht so ist, wie sie sich dem Blick aller darstellt. Das Fest ist ein Maskenspiel, in das die Wahrheit einbricht. Die Grenze, die das Reale vom Eingebildeten, vom Traum oder von der Erinnerung trennt, verwischt. Die Figuren „überqueren" eine nach der anderen „die Brücke". Die Realität verschwindet hinter der Lüge, verschmilzt mit dem Traum, mit dem Wahnsinn oder mit den Karnevalskostümen in Revolico en el Campo de Marte oder in La Fiesta. Zu Beginn dieses Stücks, machen die „allgemeinen Anmerkungen" deutlich: Ich denke mir dieses Stück als den dreisten Versuch, Figuren und Situationen zu erschaffen, die in gewisser Weise seltsam verbunden sind mit einem Teil der Realität, die aber nicht die Realität ist, und wenn sie irgendeinen Kontakt mit

15 16

José Triana: La Muerte del Ñeque, S. 128. José Triana: Palabras comúnes, Bühnenanweisungen, S. 199.

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ihr hat, dann durch einen Spiegel oder durch die flüchtige Materie, die wir mit den blinden Augen der Träume sehen. 17

Mit dem Exil verwischen sich paradoxerweise die Grenzen. Das Theater ist das Gelände, auf dem die Vergangenheit präsent wird, auf dem das Abwesende präsent wird. Das Hier und das Dort sind in diesem von der Bewegung beherrschten Schreiben austauschbar. Ich versuche damit darzustellen, daß das Exil für José Triana kein dem Schreiben auferlegter Umstand ist, sondern ein vom Schreiben aus übernommenes Prinzip. Priscilla Meléndez untersucht in La noche de los asesinos jenen Diskurs, in dem die Gegensätze von Einschluß und Ausschluß, Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Vernunft und Wahnsinn [...] verschwinden, um eine Synthese der Kellerwelt mit dem bedrohlichen äußeren Raum herzustellen.'"

José Trianas Dramatik ist Ausdruck und Stütze dieser Kommunikation oder dieser „Hybridität", Austausch der Rollen, der Sprachen, Vermischung der Zeiten und Räume durch das „Theater-Spiel". Das ständige Ersetzen eines Gegenstandes oder einer Bedeutung durch eine andere besteht im Austausch von Eigenheiten durch etwas Ähnliches, was laut Paul de Man der klassischen Definition der Metapher in den aristotelischen Theorien über die Rhetorik bis hin zu Roman Jakobsons Theorien entspricht. (Meléndez 1989:156)

Im Stück verdeutlicht die Sprache der Gegenstände die Umkehrung der (sozialen oder linguistischen) Ordnung. Sie funktioniert in Wirklichkeit nach den beiden Prinzipien des Austausches und der Ortsveränderung: Bewegungen, die im ersten Fall durch die Metapher und im zweiten Fall durch die Metonymie hervorgerufen werden. Der Unterschied zwischen Metonymie und Metapher geht oft mit der Unterscheidung zwischen Roman und Lyrik einher, wobei die Metonymie als Beziehung zwischen Text und seinem Referenten, als Darstellung des Realen betrachtet wird. Dennoch ist es ratsam, sie nicht auf ihre Bezugsfunktion zu begrenzen: durch die ständige Ortsveränderung, die sie impliziert, 17 José Triana: Das Fest. (Adler, Herr 2002), S. 335. 18

Priscilla Meléndez: „A puerta cerrada: Triana y el teatro fuera del teatro", in En busca de una imagen. Ensayos críticos sobre Griselda Gambaro y José Triana, hrsg. von Diana Taylor. Ottawa 1989, S. 160.

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„erscheint die Metonymie nicht als organisatorischer Beginn der Prosa, sondern wirklich als zersetzender Anfang des Universums eines Diskurses." 19 José Trianas Dramatik ist von Metapher und Metonymie strukturiert. „Der Saal ist nicht der Saal. Der Saal ist die Küche. Das Zimmer ist nicht das Zimmer. Das Zimmer ist das Klo", singt Lalo und stellt dabei Möbel und Gegenstände um, was auch einen Bruch mit der traditionellen Beziehung des Zeichens zu seinem Bezug ausdrückt. Bei Triana ist die Metonymie die rhetorische Figur aus der Perspektive des schrägen Blicks, des Exils, wie ich es definiert habe. Diese verbale und räumliche Sprache hat ebenso wie das Kommen und Gehen der Figuren zwischen Traum und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, teil an der „Veränderung der Vision einer homogenen Welt, um das Konzept des Andersseins hervorzuheben". (Meléndez 1989: 161) Cruzando el puente20 kann man daher als Fortsetzung von La Noche de los asesinos ansehen. Heriberte, der Doppelgänger von Lalo, der jetzt von seinem familiären und nationalen Umfeld getrennt ist, muß sich mit einem Urteil, real oder imaginär, konfrontieren, dem er zu entfliehen versucht, indem er sich zusammenkrümmt, in „den andern" verwandelt, „die Brücke überquert". Der Raum, in dem das Stück spielt, stellt jetzt ein echtes Theaterszenario dar. Er ist im reinsten Wortsinne zu einem in Trianas Gesamtwerk gegenwärtigen Hilfsmittel geworden: Die Inszenierung des Theaters, als Theater innerhalb des Theaters bekannt. Lalo war ein Kind, das spielte, ein Schauspieler zu sein, Heriberto in Cruzando el puente ist Schauspieler. Die Umstände, die sie auf die Bühne brachten, haben sich verwischt, indem sie hartnäckig auf einer Dosis von Schizophrenie bestehen, die diese Situation nahelegt. Die Erwähnung der Bühne als einziger räumlicher Bezug schmälert das Kubanische an dem Stück keineswegs. Im Gegenteil, Matías Montes Huidobro betont den wiederholten Einsatz der Technik des Theaters innerhalb des Theaters bei den kubanischen Theaterautoren und betrachtet dieses Hilfsmittel als echtes nationales Merkmal: ...sein beharrlicher Einsatz bei den kubanischen Theaterautoren macht es zu einem fast konstanten Motiv, das vielleicht, zumindest teilweise, aus tieferen Wurzeln stammt. Vergessen wir nicht, daß der kubanische Geist voll der anhaltenden Sehnsucht zum Dramatisieren ist. [...] Wir treffen ständig auf einen Kubaner, der Theater spielt. (Montes Huidobro 1973:19) 19

Jacqueline Risset, in CRITIQUE 332 (März 1974), S. 232.

20

„Die Brücke", deutsch von Heidrun Adler, in Kubanische Theaterstücke. Herr 1999), S. 221-246.

(Adler,

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Über den Weg des Theaters trifft sich José Triana von Paris aus wieder mit Kuba, erschafft ein nicht nur mimetisches, sondern in seinen grundlegenden Merkmalen skizziertes Kuba. Etwas Ähnliches geschieht in La Fiesta. Die Handlung könnte in Miami stattfinden, erläutert der Autor. Aber die Figuren sind zweifellos Kubaner, in denen sich das Theatralische mit dem Kubanischen vereint: JOHNNY Das Fest war wunderbar vorbereitet... Die Bühne, die Scheinwerfer, die Einladungen, das Programm, die Verkleidungen... Wenn Frau Soundso mit Herrn Dingsda kommt, Hinz mit Kunz... Verdammt noch mal! Ich dachte an Robin Hood... jetzt bin ich ein Eunuch... (338)

Auf der Bühne wird nicht mehr eine Fabel (im aristotelischen Sinne des Wortes), sondern ein Theaterstück gezeigt. Die Figuren haben in der Theatralik ihre Kubanität gefunden. Der Raum Theater schlägt eine Brücke zwischen zwei Kontinenten, zwei Realitäten, oder Realität und Traum, Realität und Wahnsinn. Die Bühne ist Raum des Spiels: des Spiels der Kinder, des Spiels der Schauspieler, aber auch des Spiels als Ausdruck, Bewegung einer Türangel, wenn zuviel Raum da ist. Triana begibt sich in diesen Zwischenraum, um die kubanische Gesellschaft zu beobachten. Seine Figuren bewegen sich in einem Raum mit Undefinierten Grenzen, innerhalb eines ständigen Öffnens und Schließens von Türen. „Mach diese Tür zu!"(67), schreit Lalo zu Beginn von La noche de los asesinos. Heriberto schließ in Die Brücke: Hier ist eine Tür. Hier noch eine. Und noch eine dahinten. Auch hier. Und eine hier in der Mitte... Alle diese Türen führen in dasselbe Labyrinth. (246)

Das Labyrinth ist hier kein Ort der Verdammnis, sondern der Freiheit, der Beweglichkeit, mit anderen Worten, Spiel, Theater. Das erlaubt, von der Realität auferlegte Grenzen zu überschreiten: „Das ist wie ein Traum! [...] Mit anderen Worten..." (Das Fest, S. 338) Mit anderen Worten, den Weg ins Exil einzuschlagen bedeutet, mit dem Statischen zu brechen. Bei José Triana ist Exil mehr als ein Aufenthalt, es ist Poesie, eine Haltung, die ihn dazu brachte, seine wirkliche Heimat zu wählen: das Theater. Deutsch von Sybille Martin

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Literatur Bakhtine, Mikhaïl: L'œuvre de François Rabelais et la culture populaire au Moyen Âge et sous la Renaissance. Paris 1988. Escarpanter, José: „El exilio en Matías Montes Huidobro y José Triana", in Linden Lane Magazine IX, 4 (Oktober/Dezember 1990), S. 61ff. : „Imagen de una imagen: entrevista con José Triana", in Palabras más que comunes. Ensayos sobre el teatro de José Triana, hrsg. von Kirsten Nigro. Boulder 1994. Leal, Riñe: En Primera Persona (1954-1966). Havanna 1967. Meléndez, Priscilla: „A puerta cerrada: Triana y el teatro fuera del teatro", in En busca de una imagen. Ensayos críticos sobre Griselda Gambaro y José Triana, hrsg. von Diana Taylor. Ottawa 1984. Montes Huidobro, Matías: Persona, vida y máscara en el teatro cubano. Miami 1973. Jose Triana: El Parque de la Fraternidad. Havanna 1962. [Medea en el espejo; El Mayor General hablará de teogonia; El Parque de la Fraternidad] : La Muerte del Ñeque. Havanna 1964. : Ceremonial de guerra. Honolulu 1990. : Teatro. Madrid 1991. [La noche de los asesinos Medea en el espejo; Palabras comunes.] -.Cruzando el puente. Valencia 1992; in LATR 26,2 (Spring 1993), S. 59-83. : El último día del verano, unveröffentlicht. : „La Fiesta", in Teatro: 5 autores cubanos, hrsg. von Riñe Leal. New York 1995, S. 217-277. : „Ahí están los Tarahumaras", in ENCUENTRO DE LA CULTURA CUBANA 4 5 (1997), S. 21-31.

Christilla Vasserot: Dozentin an der Universität Paris III - Sorbonne Nouvelle. Promovierte mit der Arbeit Avatares de la tragedia en el teatro cubano contemporáneo (19411968). Übersetzerin spanischer und lateinamerikanischer Autoren (Rodrigo García, Joel Cano, Juan Radrigán, Francisco Portes). Publikationen: Théâtres cubains (Anthologie), Les Cahiers, n° 1. Maison Antoine VitezCentre International de la Traduction Théâtrale, Montpellier 1995. Zahlreiche Aufsätze über José Triana, Virgilio Piñera u.a.

Iani Moreno

Exil an der Grenze There is no stronger bond between Mexico and the United States today than the living and organic union of the two cultures which exist in the borderlands. The process by which this union has been affected can never be reversed jfor it is a product of the similarity, the oneness, ofthe environment. Carey McWilliams: North from Mexico 66.

Über 150 Jahre sind vergangen, seit der Vertrag von Guadalupe Hidalgo unterzeichnet wurde, der tiefgreifende Veränderungen für die Menschen zu beiden Seiten der Grenze zwischen Mexiko und den USA gebracht hat. Über Nacht waren die Bewohner dieses weiten Landes im Norden US-Bürger und im Süden Bürger von Mexiko geworden. Das Ereignis zwang sie in eine Art immerwährendes Exil, wo sie weder ein Teil der Kultur und Politik von Washington D.C. noch von México D.F. sind. Die Grenzgebiete im Norden Mexikos und im Südosten der Vereinigten Staaten haben geographisch, historisch, ökonomisch und kulturell mehr miteinander gemein als mit dem Land, zu dem sie politisch gehören. Wir haben die Theaterarbeit der letzten fünfzehn Jahre der bedeutendsten Autoren des Grenzgebietes danach untersucht, in welcher Weise sie dieses Exil in ihren Stücken zeigen. Diese Autoren (Mexikaner und mexikanische Nordamerikaner) zeigen in ihren Dramen einen neuen Raum, von dem aus sie ihr Land beschreiben. Das gibt ihnen die Möglichkeit, ihr großes Bedauern auszudrücken, nicht ganz und gar zu dem Land zu gehören, in dem sie jeweils geboren sind, und das Grenzgebiet als ihr gemeinsames Ursprungsland neu zu definieren. Die Grenze zwischen Mexiko und den USA ist ein Gebiet von 1.936 Meilen Länge und 20 Meilen Breite. Sie reicht vom Pazifischen Ozean, beginnend bei den Städten San Diego/Tijuana, bis zum Golf von Mexiko bei den Städten Brownsville/Matamoros. Für einige gibt es vier Grenzen innerhalb dieser Grenze: Tijuana - San Diego - Los Angeles, Sonora Arizona, Juárez - El Paso, das Tal des Rio Grande - Tamaulipas. (Vila 2000: 6-7) Die Verträge von Guadalupe Hidalgo (2. Februar 1848) und von Mesilla oder Compra de Gadsden (1853) beendeten den Krieg zwischen Mexiko und den USA; Mexiko trat dem siegreichen Nachbarland 55% seines Territoriums ab, das Gebiet, das heute die Staaten California, Arizona, Neu Mexiko, Texas, ein Teil von Colorado, Nevada und Utah sind. Die USA verpflichteten sich ihrerseits im Vertrag von Guadalupe Hidalgo, 15 Millionen Dollar an Mexiko zu zahlen und den Besitz aller mexikanischer Bürger zu schützen, die im Grenzgebiet blieben, die

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Grenze, die nun im Rio Grande verläuft zu bewachen und die Sprache und die Sitten der hispanischen Bevölkerung zu achten etc. Diese willkürliche Grenzlinie hat die Menschen, die in diesem Gebiet lebten, gegen ihren Willen von einander getrennt. Als Folge davon fühlen sie sich in ihrem eigenen Land fremd. Der Grenzstreifen symbolisiert ihren Verlust, denn in diesem Gebiet läßt sich schwer unterscheiden, ob die Menschen sich in ihrer Heimat fühlen oder im Exil. (Brady 2000:183) Die Realität der Grenze ist zweifach/hybrid, und die dort geborenen Menschen sprechen drei Sprachen: Spanisch, Englisch und Spanglisch1, um die Realität zu beschreiben. „Language is a constructor of what we think of as reality." (Kaminsky 1999: XII) Das Exil, das die Menschen im Grenzstreifen zwischen Mexiko und USA leben, befindet sich also jeweils im eigenen Land, in dem sie sich ausgegrenzt fühlen. Es ist ein Exil, wo die Menschen sich danach sehnen, Teil einer imaginären Gemeinde zu sein (die es seit 1848 nicht mehr gibt), wo der Südosten der USA und die nördlichen Staaten von Mexiko eine eigene kulturelle Einheit bilden, eine dritte Nation. In seiner Untersuchung Letters of Transit: Reflections oti Exile, Identity, Language, and Loss (1999) beschreibt André Acima wie exilierte Menschen, wenn sie einen Ort sehen, sofort einen anderen dahinter sehen oder suchen. Er schließt daraus, daß Exilierte einen zwanghaften Rückblick vollziehen: „With their memories perpetually on overload, exiles see double, feel double, are double." (1999: 13) Diese Beschreibung von Acima gleicht der von „Nepantla". Das Wort kommt aus dem Nahuatl2 und beschreibt den Zustand „zwischen zwei Kulturen", ein Zustand, in dem die Azteken sich während der spanischen Eroberung befanden. Nepantla ist jener Ort in der Mitte des Weges, es kann eine Geographie wie das Grenzgebiet bezeichnen (Mora 1993: 5) und zugleich jenen Geisteszustand, in dem man sich an zwei Kulturen gebunden fühlt. (Anzaldüa 1987: 78) Die Autoren, die uns hier interessieren, zeigen in ihren Stücken einerseits einen neuen Raum, die Grenze, in dem Menschen „zwischen Kulturen", in Nepantla3, leben. (Rosaldo 1987:197; Taylor 1994:15) Zum 1

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Manche bevorzugen den Begriff calö (Idiom der Straße, eine Mischung aus Spanisch und Englisch). Sprache der Azteken. „...Nepantla, finally, and as the history of emergence indicates, links the geohistorical with the epistemic with the subjective, knowledge with ethnicity, sexuality, gender, and nationality in power relations. The,in-between' inscribed in Nepantla is not a happy place in the middle, but refers to a general question of knowledge and power. The kind of power relations inscribed in Nepantla are the power relations sealing together modernity and what its inherent to it, namely, coloniality."

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anderen beschreiben sie, wie diese Grenzlandbewohner ständig Grenzen überschreiten müssen, und mit diesem Hin und Her neue kulturelle, politische und ökonomische Zentren schaffen, die die nationalen Zentren herausfordern, von denen bisher Identität und Kultur der Länder bestimmt wurden. Die Menschen bewegen sich innerhalb einer Zone gefährlicher Überschneidungen, die von den Autoren beider Seiten des Grenzstreifens als „neue Nation" beschrieben und definiert wird. Mit dem Ziel, den Bewohnern eine Stimme zu geben, entstand TEATRO DEL NORTE, ein Zusammenschluß mehrerer Künstler, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Kolloquien für dramatische Literatur zu organisieren und kritische dramatische Texte zu publizieren. Die ersten fanden 1997, 1998 und 1999 statt zum Thema South Border/Frontera Norte, und der erste Band der Sammlung Teatro del Norte: Antología erschien 1998. Darin werden zum ersten Mal fünf Stücke der bekanntesten Autoren des Grenzgebiets zusammen präsentiert: Manuel Talavera Trejo (Chihuahua), Enrique Mijares (Durango), Hernán Galindo (Nuevo León), Medardo Treviño (Tamaulipas) und Hugo Salcedo (Tijuana, B.C.).4 Sie repräsentieren fünf verschiedene Darstellungsweisen: 1. Mythen aus der Entstehung dieses geographischen Gebiets; 2. Helden der Volkskultur; 3. Einflüsse von Juan Rulfo und Luisa Josefina Hernández; 4. Tragödien des Grenzlandes und 5. das schizophrene Multimedia-Grenztheater. Mythen aus der Entstehungszeit der nördlichen Grenze finden wir in Stücken wie Barbara Gandiaga: Crimen y condena en la Misión de Santo Tomás (1995) von Salcedo und Ampárame Amparo (1998) von Treviro. Das erste Stück beruht auf einer realen Begebenheit, das zweite auf dem Mythos der „weinenden Frau aus dem Norden", die ihre Söhne sucht. Bárbara Gandiaga: Crimen y condena en la Misión de Santo Tomás ist ein historisches Stück, das die Welt des XVIII. und XIX. Jahrhunderts in Baja California auferstehen läßt, das damals von Mönchen der verschiedenen Missionen beherrscht wurde.5 1803 hat Bárbara Gandiaga den Dominikanermönch, Eulaldo Surroca, aus der Mission Santo Tomás, ermordet. Doña Bárbara wird von Salcedo als Heldin dargestellt, die sich gegen die Unterdrücker erhob. Sie ist hier ein Symbol für die heute unterdrückten Völker Mexikos. Im letzten Text des Stückes vergleicht eine alte Frau den Kampf von Bárbara mit dem, den in der Gegenwart der Subcomandante Marcos in Chiapas austrägt: Walter D. Mignolo: „Introduction: From Cross-Genealogies and Subaltem Knowledges to N e p a n t l a " , in NEPANTLA: VIEWS FROM THE SOUTH 1 , 1 (Spring 2000), S. 1-8.

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Salcedo stammt als einziger der Autoren nicht aus dem Norden Mexikos. Jesuiten, Franziskaner und Dominikaner, die Baja California nahezu vollständig der zivilen Kolonisierung verschlossen.

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latti Moreno ALTE [...] Und was bedeutet es schon, Barbara zu heißen oder einfach Marcos! Jene Frau war ich oder meine Schwester oder alle zusammen, aber immer jemand, der zur rechten Zeit handelt. (63-64)

Ampárame Amparo ist ein Stück voller primitiver Gefühle wie Rache, Gewalt, Leid, Blut und Wollust. Das Meer und die Wüste des Nordens formen die Figuren, angefangen bei der Protagonistin Amparo. Sie lebt ein Leben voller Tragödien und ist nicht in der Lage, eine einzige Träne um ihre Kinder zu weinen. Als sie stirbt, hofft sie, endlich über das ganze Leid der Menschen im Norden weinen zu können. Sie will nachts von Hof zu Hof wandern, und ihr Geheul soll von Vallehermosa bis Rio Bravo zu hören sein. La Bufadora (1995) von Salcedo und Los niños de sal (1994) von Galindo sind Beispiele für die Stücke, in denen die Grenze zwischen Leben und Tod schmal ist und kaum wahrzunehmen. In La Bufadora versetzt Salcedo seine Figuren an einen Ort von großer natürlicher Schönheit und Kraft am Meer in Ensenada. Eine Frau und ein Mann treffen sich nach ihrem Tod dort, wo sie, wie man sagt, einst ihr Kind umgebracht hat. Die Figuren befinden sich in einem Raum, wo Zeit und Handlung willkürlich demontiert sind, um das punktuelle Zusammentreffen eines Mannes und einer Frau in ein immerwährendes SichVerfehlen eines Geisterpaares zu verwandeln... (Mijares 1999: 89)

Diese beiden Figuren in La Bufadora können schließlich ihren Seelenfrieden erlangen und das große Geheimnis des Universums in sich selbst erkennen, wenn sie entdecken, daß nach ihrem Tod die Kraft der wahren Liebe sie weiterhin verbindet. Auch das Stück Niños de sal ist voller Melancholie. Es spielt an einem unbekannten Grenzort am Meer. Salcedo meint, Galindo habe mit den zwanzig Bildern des Stückes „ein Wandgemälde großartiger Ausmaße und Schattierungen geschaffen, vergleichbar dem Luvina von Juan Rulfo". (1999: 47) Hier lassen die Erinnerungen den Protagonisten Raúl nicht in Frieden leben und verwandeln ihn in eine Figur aus Salz, die sich mit der Zeit verformt. Im Verlauf des Stückes entfalten sich die Gespräche zwischen Raúl und seinem Freund Jonás, der eine lebendig, der andere tot, auf ganz natürliche Weise. Raúl will nach Mexiko zurückkehren, obwohl er weiß, daß das Leben dort sehr hart ist. Er sagt: „Es ist Zeit, daß ich nach Mexiko gehe; dieser Strand... ist voller Gespenster." (22) Er versucht die Fesseln zu zerreißen, die ihn an die Vergangenheit binden, aber die dicken Salzschichten lassen ihn nicht fort, und er bleibt als Salzsäule versteinert zurück. Der Zauber dieses Ortes hindert den Protagonisten daran, sein Leben wieder aufzunehmen, er zwingt ihn, in

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diesem Zustand von Nepantla, zwischen Leben und Tod, zu verharren. Wie hart und gewalttätig die Grenze ist, wird in El viaje de los cantores (1989) von Salcedo und in Los granos de oro y el resto del tesoro (1996) von Talavera Trejo gezeigt. In El viaje de los cantores6 ersticken 18 mexikanische Männer in einem hermetisch verschlossenen Eisenbahnwaggon, mit dem sie illegal in die USA einreisen wollten. In der Schlußszene des Stückes verkünden der Priester und der Chor der Frauen des Dorfes, ihr Tod habe eine höhere Bedeutung, sie seien die Helden, die Mexiko jeden Tag verliert. Für den Kritiker Peter Beardsell kann „überschreiten" und „auf die andere Seite reisen" als Metapher der psychologischen Notwendigkeit angesehen werden, sich selbst kennenzulernen, was zugleich fundamental wie universal verstanden werden kann. (1996: 81) Die poetische Sprache des Stückes, mit der die vielen Gründe vorgebracht werden, warum so viele jeden Tag diese Reise unternehmen, unterstreicht die Tragödie. Los granos de oro y el resto del tesoro berichtet von zwei Dieben (Fermín und Sapotoro), die einer alten Frau „Goldkörnchen" stehlen. Fermín bringt die Frau um, nachdem er sie gequält hat. Danach läßt ihn sein Gewissen nicht mehr in Ruhe. Die Gespenster seiner Opfer erscheinen ihm im Gefängnis, um ihn zu bedrohen. Das Stück ist eine heftige Kritik an der Misere, die in vielen Teilen des Landes herrscht. Helden der Volkskultur der Chícanos und des mexikanischen Nordens stellen die Stücke Selena: La reina del tex-mex (1999) von Salcedo und die Trilogie ¿Herraduras al centauro? (1997) von Mijares vor. Salcedo bedient sich zum ersten Mal in seinen Stücken einer chicano Figur als Protagonistin, der jungen Sängerin Selena Pérez Quintanilla.7 Selena, die ihren Erfolg mit spanisch gesungenen Texten ersang, gelingt es, den Traum vom „cross over" zu erfüllen, das heißt, mit englischen Texten anerkannt zu werden. Sie wird von ihren Leuten bejubelt - in Wahrheit geschah dies ironischerweise erst nach ihrem Tod. Genau wie die Figuren des Stückes sind die Hispanos in den USA und die, die im Grenzgebiet leben, gezwungen, ständig geographische, politische und kulturelle Grenzen zu überqueren. Salcedo entwirft in diesem Stück alternative Sichtweisen, die erlauben, diese Grenzwelt zu betrachten. Im Fall von Selena evoziert die Musik das Komplexe der mexiko-amerikanischen Identität. Die Rhythmen der Musik schaffen eine authentische Grenzrea6

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„Die Reise der Sänger", deutsch von Wilfried Böhringer, in Theaterstücke aus Mexiko. (Adler, Rascón Banda 1993), S. 221-266. Selena Pérez Quintanilla (1971-1995) wurde auf dem Höhepunkt ihrer Karriere als tex-mex Sängerin von der Präsidentin ihres Fan-Clubs (Yolanda Saldívar) ermordet. Sie bereitete gerade ein Album für ihren „cross over" in den anglo-amerikanischen Markt vor.

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lität und benutzen das, was José Saldívar als „a counterpoetics of aesthetics resistance and cultural critique" (1997: 58) definiert. Historisch sind diese verschiedenen Musikarten, mexikanisches Ensemble, Corridos 8 und texanisches Orchester, deutliche Symbole der verschiedenen Kulturen der Menschen mexikanischer Herkunft im Norden und zu beiden Seiten der Grenze. Der „cross over" bedeutete in Selenas Situation, daß sie den metaphorischen Raum zur herrschenden Welt überquert hat, aber ohne die eigenen Leute und die eigenen Wurzeln zu vergessen. Im Stück beschreibt der Vater von Selena, Abraham Quintanilla, in sehr religiösen Begriffen die Mission seiner Tochter: erscheint vorsichtig Aber als Abraham fürchte ich Gott und habe seinem Willen nichts entgegengesetzt und auch nicht dem meiner Tochter, die ich über alles liebe. Weil ich gehorche und Vater neuer Nationen sein will, Nationen, die ihre Sprache frei entwickeln lassen, um ihre Lieder mit unterschiedlichen Takten, in einem Rhythmus der Grenze zu singen. Der Allmächtige Gott sprach zu mir: ,Gehe fort aus deinem Land und von deinen Verwandten und dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde', und darauf zogen wir nach Norden, durchquerten die Wüste wie Vater Abraham es tat: von Kanaan nach Bethel. Von Bethel nach Ägypten. So auch wir: von Linares nach Lake Jackson und von dort nach Corpus Christi. (144)

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In diesem Zitat ist die Rede von der mythischen Funktion eines neuen Landes. 9 Chícanos und Norteños (Nordmexikaner) sind darin das auserwählte Volk. Die Stücke von Enrique Mijares stellen ebenfalls Charakteristika der Volkskultur heraus. In der Trilogie ¿Herraduras al centauro?, Perro del mal, vivo o muerto und Manos impunes, führt er einen Pancho Villa, alias Doroteo Arango, vor, der von sich ein Bild macht, das die Tugenden der klassischen mythischen Helden kopiert, angepaßt an die besondere Situation im Norden Mexikos und die Mexikanische Revolution. Die Eigenschaften des „Bildes" dieses Helden/Banditen sind ziemlich negativ und gewöhnlich. Alle typischen Details seines Lebens sind vollkommen

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Balladen der Mexikanischen Revolution. Salcedo scheint sich auf die mythische Region Aztlän zu beziehen. Stavans sagt von den Latinos, die mestizisches Blut haben und in den USA leben, daß sechs von zehn „glauben, ein ererbtes Recht auf den Besitz des Landes zu haben, das nördlich der Grenze liegt. Unsere Rückkehr ins verlorene Kanaan, das gelobte Land, wo Milch und Honig fließen, in aufeinanderfolgenden Einwanderungswellen als wet-backs und als Saisonarbeiter, muß so gesehen werden, als schließe sich ein historischer Kreis." (1999: 22)

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berechnet wie seine Art, sich zu kleiden, zu sprechen und zu handeln.10 In Szenen besonderer Gewalttätigkeit in Perro del mal wird Doroteo Arango von einem Regisseur „mit amerikanischem Akzent" unterbrochen, der „Anweisungen gibt": REGISSEUR Schnitt! Es fehlen die wilden Raubtierblicke! Das gesträubte Fell des Löwen! Blutunterlaufene Augen! [...] sich die Haare raufend Schnitt! Schnitt! brüllt in die Richtung, in die Doroteo abgegangen ist Langsam, Herr Arango, langsam, bitte! Die Kamera kann das Raubtier nicht so schnell erfassen! Bleiben Sie hier sitzen, bitte! (28-29)

Ironischerweise manipuliert in dieser Szene ein Hollywood-Regisseur die Geschichte von Arango, um den „mexikanischen Robin Hood" zu fabrizieren. Dieser Regisseur beschließt auch, die Szene zweimal und mit unterschiedlichem Ausgang zu drehen, um dann herauszufinden, welche den größten Eindruck macht. Das soll suggerieren, daß Pancho Villa und die Mexikanische Revolution dem Nachbarn im Norden allein als Unterhaltung dienen. Ciaire F. Fox meint, daß von den USA aus gesehen die Revolution einfach ein Drama und die kämpfenden Soldaten nur Schauspieler waren. (1999: 83-89) Neben den Autoren des TEATRO DEL NORTE schreiben andere Autoren über ihre Erfahrungen, in zwei Kulturen aufgewachsen zu sein. Zum Beispiel der Performance-Künstler, Dichter und Theaterautor Gerardo Navarro (Tijuana/San Diego), der mit Hotel de Cristal (1997) und Schizoethnic (1996) den verwirrenden Zustand von Nepantla präsentiert. Seine Figuren sind schizophren, sie lieben und hassen zugleich, in einer Grenzzone zu leben. Anders als die vorher besprochenen Autoren, die ihre Texte ganz auf Spanisch schreiben (mit einigen englischen Sätzen), schreibt Navarro auf Spanisch, Englisch und Spanglisch. Hotel de Cristalu ist in Spanglisch geschrieben und zeigt zwei Personen, Gringo (ein mexikanischer Amerikaner) und Morro (ein Mann aus Tijuana), an einem düsteren Ort, den Gewalt, Drogen, Hass und Zerfall beherrschen. In einem unerwarteten Augenblick beschließt Morro den Gringo in einer schrecklichen, kannibalischen Zeremonie zu opfern, weil er dessen hochnäsiges Gehabe satt hat. Das außerordentlich originelle 10

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Pancho Villa errang sowohl in Mexiko wie in USA einen heldenhaft/teuflischen Ruf. Es ist bekannt, daß viele seiner Kämpfe für die Kamera choreographiert wurden und durch einen Exklusivvertrag mit Mutual Film Corporation über 25.000 Dollar gefilmt wurden. Siehe Ciaire F. Fox: The Fence and the River: Culture and Politics at the U.S.-Mexican Border. Minneapolis 1999. Ein Einakter produziert im PRIMER TALLER DE DRAMATURGIA TEATRAL von Baja California, 1996 vom CAEN (Centro de Artes Escénicas del Noroeste) gefördert.

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Stück Schizoethic ist auf Englisch geschrieben, es zeigt große Theatererfahrung. Ein einziger Schauspieler muß sich die Rollen von Victor (Mexikaner) und William (Amerikaner) teilen. Sein Verstand, seine Kultur, seine Sprache und sogar seine Art sich zu kleiden und zu sprechen sind geteilt. Mijares folgert daraus, daß das Stück von Navarro die Gedanken derer wiedergibt, die sich wie er im Chaos zwischen Los Angeles und Ensenada, Mexicali und San Isidro, San Diego und Tijuana, San Francisco... bewegen. [...] Es ist vielleicht der Text, in dem sich die Sorge des Autors über die Chaossophie der Grenze am besten ausdrückt. (1999:103-104)

Navarro fordert in seinen Stücken die Menschen auf, die wie er in Nepantla leben müssen, in den beiden Welten, die ständig zusammenstossen, ihre eigene Stimme zu suchen. Ähnlich wie das TEATRO DEL NORTE sind die chicano Autoren inzwischen anerkannt, und ihre Stücke werden von Theatertruppen in den USA aufgeführt. Die chicano Autorinnen Cherrie Moraga, Josefina Lopez und Edit Villarreal haben sich einen Namen gemacht mit Themen über die Anpassung der Chicanos an das Leben der USA, die Rolle der Frau und des Mannes in ihren Gemeinden und die Erhaltung der ererbten Kultur. Schauplatz ihrer Stücke ist fast immer Los Angeles (neues Immigrationszentrum in den USA) 1 2 und die Sprache, in der sie sich ausdrükken ist Englisch mit spanischen Worten durchsetzt (viele dieser Stücke gebrauchen ein Glossar). Gruppen wie CULTURE CLASH, LATINS ANONYMOUS und Autoren wie Carlos Morton bearbeiten diese Themen als Komödien und politische Satire. Der chicano Kritiker Jorge Huerta betont, daß sich die Chicanos, obwohl sie ihre Wurzeln in Mexiko haben, in ihren Stücken mit der Diaspora beschäftigen und mit den in die USA emigrierten Mexikanern. Seiner Meinung nach ist dies weniger ein Exiltheater als ein Theater der Erhaltung und Vermittlung, ein Theater, das davon handelt, wie man in einer feindlichen Gesellschaft überlebt. (1994: 39) Ich meine, die Autoren bringen sowohl das Bewußtsein des Exils wie das der Diaspora in ihre Stücke ein. In den von Chicanas geschriebenen Stücken werden mexiko-amerikanische Frauen verschiedener Generationen in Räumen gezeigt, die als „feminin" gelten, Haus, Küche, Fabriken für weibliche Konfektion etc. Die Figuren sind beharrlich und kämpfen darum, sich vom Joch der ma12

Die Dritte Welt endet nicht in den Grenzstädten südlich des Rio Grande; Los Angeles, praktisch die zweite Hauptstadt Mexikos mit einer mexikanischen Bevölkerung, die die Städte Guadalajara und Monterrey zusammen übertrifft, ist ein Teil dieser Grenze. Siehe Ilán Stavans: La condición Hispánica: Reflexiones sobre cultura e identidad en los Estados Unidos. México 1999.

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chistischen Gesellschaft, in der sie leben, zu befreien. Es sind Studentinnen, Hausfrauen, Unternehmerinnen, Künstlerinnen und aktive Politikerinnen. Die männlichen Figuren dieser Stücke sind dagegen schwächlich und/oder negativ. Das beste Beispiel dafür ist vielleicht Shadow ofa Man (1992) von Moraga. Von den drei männlichen Figuren des Stückes hat nur einer, Manuel, eine wichtige Rolle, er endet aber tragisch, er begeht Selbstmord. Die Frauen befinden sich in verschiedenen Phasen der Anpassung an das Leben in den USA. Die einen sind seit mehreren Generationen US-Bürger wie Hortensia und ihre Familie in Shadow of a Man, Marta Feliz und ihre Großmutter in My Visit with MGM (My Grandmother Marta) (1992) von Villarreal. Andere sind illegale Arbeiterinnen oder gerade legal Eingewanderte wie die Figuren der beiden Stücke von Löpez13 Simply Maria or the American Dream (1991) und Real Women Have Curves (1998). Auch hier beobachtet man die täglichen Grenzüberquerungen. In Simply Maria or the American Dream gibt es eine Szene, die Ricardo, Marias Vater, beim illegalen Grenzübergang zeigt. In dieser Szene empfängt die Freiheitsstatue Immigranten aus Europa mit offenen Armen, während Mexikaner verhaftet werden. In My Visit with MGM denkt Juan, der Großvater von Marta Feliz, ein chicano Beamter des INS (Immigration and Naturalization Service) über die willkürliche Linie nach, die die Menschen eines Volkes trennt: Weißt du was? Es besteht kein Unterschied zwischen einem Apfel von dieser Seite der Grenze und einem Apfel von der anderen Seite der Grenze. Und jeder, der sich vor mexikanischem Ungeziefer fürchtet, kann das vergessen. Die verdammten Käfer sind schon rübergekommen, BEVOR es eine Grenze gab. (162)

Diese Szenen bestätigen die von Caray McWilliams geäußerten Gedanken über die Immigration, nämlich daß die Mehrheit der US-Bürger glaubt, die Immigration bedeute für die Europäer eine Trennung, ein Uberschreiten, einen abrupten Übergang. Die mexikanischen Immigranten dagegen würden sich selten aus dem hispanischen Einflußbereich der südöstlichen Grenze herauswagen. Die Grenze zwischen Mexiko und USA berge für sie das Gefühl von Kontinuität eines Ambientes, das sie kennen. Darum seien die Mexikaner nie in den Südosten der USA emigriert, sie seien dort so gut wie zu Hause. (1990: 62) In den von Chicanas geschriebenen Stücken versuchen die Menschen, ihre Sprache und ihre Kultur zu erhalten, den neuen Einflüssen der „Anglos" nicht so leicht nachzugeben. Sie kommen, um in den USA 13

López ist die meistgespielte latino Autorin, vielleicht, weil sie die Machtstrukturen in den USA nicht ständig attackiert.

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zu leben, fühlen sich aber im Exil. Tante Florinda in My Visit with MGM wird verrückt, nachdem sie die traumatische Erfahrung machte, die Grenze zu einer neuen Kultur zu überqueren. Die Arbeiterinnen der Schneiderei von Estela in Real Women have Curves beeilen sich, ihre Green Card zu bekommen und verstecken sich dennoch jedes Mal, wenn ein Wagen des INS in der Nähe ist. Sie zweifeln daran, daß dieses Dokument sie von denen, die es nicht haben, unterscheiden kann. Auf der anderen Seite proklamieren die seit mehreren Generationen in den USA geborenen Mexikaner, der Erhalt ihrer Kultur, ihrer Würde und Freiheit sei eine persönliche Angelegenheit, die jeder Chicano für sich klären muß. Darum verläßt die Protagonistin Maria aus Simply Maria, das Haus ihrer Eltern, um sich selbst zu verwirklichen; in ihrem Abschiedsbrief erklärt sie: MARÍA „Liebe Mama und Papa. Letzte Nacht habe ich alles gehört. Jetzt weiß ich, daß Eure Vorstellungen vom Leben nicht meine sind, also gehe ich. Ich möchte meine eigene Welt schaffen. Eine, die das Beste für mich zusammenbringt. Ich werde die Werte meiner Wurzeln nicht vergessen, aber ich möchte das Beste von diesem Land der unbegrenzten Möglichkeiten haben. Ich gehe ins College und werde kämpfen, um etwas aus meinem Leben zu machen. Ihr habt mich alles gelehrt, was ich wissen muß. Auf Wiedersehen." 1. MÄDCHEN Ich liebe Euch sehr. Ich werde Euch nie vergessen. 2. MÄDCHEN Mexico is in my blood... 3. MÄDCHEN And America is in my heart. MARÍA Adiós. Dunkelheit. (141)

Die Menschen brauchen die Freiheit, ihre mitgebrachte Welt zu verlassen und sich der herrschenden Gesellschaft zu stellen, um sich selbst zu erkennen. Erst dann und mit den neuen Perspektiven werden sie sich in ihre chicano Gemeinden eingliedern können. Das Burleske, Satirische und Karikatureske ist in Stücken der kollektiven Gruppen wie CULTURAL CLASH 1 4 und LATINS ANONVMOUS oder bei Autoren wie Carlos Morton15 vorherrschendes Stilmittel. Sie machen keinen Versuch, die verschiedenen Gruppen hispanischer Herkunft in den USA zu unterscheiden. Sie spielen mit Stereotypen, um die angloamerikanische Art zu demaskieren, die über lange Zeit benutzt wurde, um minoritäre Gruppen zu befrieden, ohne sie zu repräsentieren. Die Skala negativer Stereotypen von Latinos ist lang: der dumme, faule, ille1984 gegründet mit dem Ziel, Kulturen im Übergang, die sich im Gegensatz befinden zu zeigen. Man hofft, indem man Widerstand aufzeigt, eine Annäherung zu erreichen. Ihre satirischen Komödien wandeln das Vaudeville-Theater zur politischen Waffe. 15 Neben Luis Valdes einer der meist gespielten chicano Autoren in den USA. 14

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gale, gewalttätige, wilde, leidenschaftliche Mexikaner/Latino von minderwertiger Rasse mit seinem Sombreo und dem Kaktus; sinnliche Frauen und machistische Männer etc. In den Stücken The Mission (1990) und A Bowl of Beings (1992) von CULTURAL CLASH; in Latins anonymous (1996) und The La la Awards (1996) von LATINS ANONYMOUS; in Rancho Hollywood: Sueño de California (1999) und Johnny Tenorio von Morton finden wir die stereotypen Figuren „der gemeine Landarbeiter", „Frito Bandido", Zorro Porro", Cantínflas, „Bato Loco" und „Wetback". Mit der satirischen Komödie wird die scharfe Kritik transportiert. Allerdings ist diese Methode nicht unumstritten. Ihre Kritiker meinen, sie würde das negative Bild von Chícanos und Latinos in der öffentlichen Meinung des Landes verewigen. Ein weiteres Thema, das Carlos Morton und CULTURAL CLASH aufgreifen ist die Geschichte der Chícanos. In Rancho Hollywood, The Mission und Bowl of Beings zeigen die Autoren eine revisionistische Sicht der spanischen Eroberung und der darauf folgenden nordamerikanischen Kolonisierung der Gebiete, die zu Mexiko gehört haben. Die romantischen, bukolischen Mythen, die die neuen Kolonisten dieses Gebiets nach 1848 schufen (die Mönche und ihre Missionen, die spanischen Damen und Caballeros), um die Übernahme dieser Länder zu rechtfertigen, werden auseinander genommen. In diesen Stücken wird die Grenze zwischen Mexiko und den USA als ein Gebiet gezeigt, in dem täglich ein simultaner Kampf zwischen Assimilation an die vorherrschende Kultur der USA und dem Festhalten an den autochthonen Stimmen Mexikos geführt wird. Die Stücke aus dem Norden Mexikos etablieren die Helden und Mythen der Entstehungszeit der nördlichen Grenze und das Magische und Verzaubernde dieses Gebietes; und sie zeigen das Leiden am Leben. Andere Stücke zeigen die Grenzüberquerungen von verschiedenen Gesichtspunkten und die Teilung des Individuums in verschiedene Realitäten. Im Bewußtsein, daß es seine Aufgabe als Theaterautor ist, Stimmen der Minderheit zu Wort kommen zu lassen, die von Film, Radio oder Zeitungen und Zeitschriften der USA vergessen werden, zeigt der chicano Autor der Gegenwart ein Bild dieses wunderbaren Landes, das South Border genannt wird. Die Untersuchung des historischen, geographischen und gesellschaftlichen Exils im Gebiet des Grenzstreifens zwischen Mexiko und USA läßt erkennen, daß die Autoren der Nordgrenze/South Border ein unabhängiges und originelles diskursives Territorium geschaffen haben, das mit dem Namen Nepantla eine zutreffende Definition gefunden hat. Deutsch von Herbert Araúz

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Salcedo, Hugo: El viaje de los cantores. México 1990. : „La bufadora", in YUBAI 4,16 (oct.-dic. 1996), S. 18-27. : „Dramaturgia in el norte de México", in TIERRA ADENTRO 97 (April-Mai 1999), S. 45-48. : „Selina: La Reina del Tex-Mex", in Teatro de frontera 2. Durango 1999, S. 123-153. Saldívar, José David: Border Matters: Remapping American Cultural Studies. Berkeley 1997. Stavans, Ilán: La condición hispánica: Reflexiones sobre cultura e identidad en los Estados Unidos. México 1999. Taylor, Diana; Villegas, Juan (Hrsg.): Negotiating Performance. Durham 1994. Treviño, Medardo: Teatro. Durango 2000. Vila, Pablo: Crossing Borders, Reinforcing Borders: Social Categories, Metaphors, and Narrative Identities on the U.S.-Mexico Frontier. Austin 2000. Villarreal, Edit: „My Visits with MGM (My Grandmother Marta)", in Shattering the Myth: Plays by Hispanic Women, hrsg. von Linda Feyder. Houston 1992.

Iani Moreno: Promovierte an der University of Kansas, Dozentin für lateinamerikanisches Theater an der Universität Salve Regina in Newport. Publikationen: Aufsätze zum Theater in Lateinamerika, spez. Sabina Berman, Maruxa Vilalta.

Uta Atzpodien

Spiegel mit Sprüngen: Figurationen als Grenzgänge kulturellen Dialogs1 Versteht man Kultur als ein sich veränderndes Geflecht gesellschaftlicher Ausdrucksformen, so verweist dies darauf, daß sich ihre Vielschichtigkeit und die gegenseitige Beeinflussung allgemein gesellschaftlicher und ästhetischer Phänomene auch auf kollektive wie individuelle Prozesse der Identitätsgenese auswirken. Die Metapher des „zersprungenen Spiegels"2 sagt viel über dieses Kulturverständnis aus, spiegelt sie doch einerseits das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis und andererseits die Uneinheitlichkeit des zurückgeworfenen Blicks wider. Die Cultural Studies3 thematisieren diese Pluralität und Interdependenz von Kultur und Gesellschaft seit den 50er Jahren und wenden sich damit gegen traditionelle Kulturkonzepte, die nach innen hin eine Homogenisierung suchen, während sie sich nach außen hin abgrenzen. Ihrer Betrachtung von Kultur verlangen sie den Einbezug der komplexen, sie bestimmenden Machtstrukturen ab und fordern eine Kontextualisierung, die der Offenheit und dem Prozeßcharakter von Kultur gerecht wird. Ganz besonders scheint ein solcher Denkansatz für interkulturelle Konstellationen und den Dialog zwischen verschiedenen Kulturen wichtig zu sein. Erst durch die Migrationsbewegungen in der globalisierten Welt ist die Diskussion um das Aufeinandertreffen von Kulturen heute ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt, auch wenn diese Thematik schon mindestens seit dem Kolonialismus von Bedeutung ist.

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Dieser Aufsatz wurde auf dem Symposium „[FIGURATION]. Ästhetik und Struktur" des Graduiertenkollegs „Theater als Paradigma der Moderne" 26.-28. April 2000 in Mainz vorgetragen und publiziert in Bettina Brandl-Risi, Wolf-Dieter Ernst, Meike Wagner (Hrsg.): Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefiige. Reihe: Intervisionen. Texte zu Theater und den anderen Künsten, Bd. 2. Reihenhrsg.: Christopher Balme, Markus Moninger. München 2000. Der chilenische Soziologe José Joaquín Brunner verwendet diese Metapher für sein Kulturverständnis und verknüpft damit den Prozeß der Identitätsbildung, den er auf Lacan und Bacon zurückführt. Vgl. J osé Joaquín Brunner: Un espejo trizado. Ensayos sobre cultura y políticas culturales. Santiago 1988, S. 15 ff. Vgl. Karl H. Hörning; Rainer Winter (Hrsg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt/Main 1999.

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Die folgenden Überlegungen zum Begriff der ,Figuration' sollen dem Wahrnehmen von Kultur als ein sich stetig transformierendes Beziehungsgeflecht dienen. In dem Maße, in dem sie auf den Konstruktcharakter von Kultur verweisen, stellen sie auch die theatralen Aspekte des inner- und interkulturellen Dialogs aus. ,Figuration' scheint sich in diesem Kontext als dynamisches Denkmodell anzubieten, das sich zum einen durch seinen Prozeßcharakter, zum anderen durch seinen nicht loszulösenden Bezug zur Figur definiert. Versucht man beide Begriffe voneinander abzusetzen, so thematisiert die ,Figuration' die stetige Veränderung, während es sich bei der Figur mit ihren klaren Formen, ihren Grenzen um ein Produkt, eine Momentaufnahme und einen Sonderfall der ,Figuration' handelt. Die ,Figuration' stellt den Prozeß der Figurwerdung aus, den Transformationsoder Übersetzungsprozeß. Definiert sich die Figur durch ihre Grenzen, so tut es die ,Figuration' durch das permanente Überschreiten von Grenzen, die grenzüberschreitende Kombination. Indem die ,Figuration' - nach dieser Lesart - das ständige Verhandeln von Grenzen und Grenzgängen betont, setzt sie sich von dem in den Kulturtheorien immer wieder in die Diskussion gebrachten Phänomen der Hybridität 4 ab, das auf die Verknüpfung heterogener Elemente anspielt und dabei weniger die Grenzen als die Ko-Existenz und Kombination von Un-Gleichem ins Zentrum rückt. Dennoch weisen beide Begriffe eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Zudem lassen sich aus dem schon etablierteren Begriff der Hybridität Überlegungen zur ,kulturellen Figuration' ableiten. Beide, ,Figuration' wie Hybridität oder Hybridkultur, sind weniger als ein neues Paradigma der heutigen von Migration und Globalisierung geprägten Kultur zu deuten, sondern stehen vielmehr für die Betrachtung von Kultur allgemein. 5 Als ursprünglich biologischer Wortgebrauch bezeichnete der Hybride einen Bastard, ein aus der Kombination von Vorfahren mit unterschiedlichen erblichen Merkmalen hervorgegangenes Produkt. Hybri4

5

U m sich mit der Heterogenität kultureller Phänomene auseinanderzusetzen, bieten sich auch einige andere Begriffe an, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzen, wie z u m Beispiel Synkretismus, Fusion, Multikulturalismus, Mestizaje, Kreolisierung. Vgl. u.a. Christopher Balme: Theater im postkolonialen Zeitalter. Studien zum Theatersynkretismus im englischsprachigen Raum. Tübingen 1995, S. 16 ff. Vgl. Hans-Ulrich Reck: „Entgrenzung und Vermischung: Hybridkultur als Kunst der Philosophie", in Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, hrsg. von Irmela Schneider; Christian W. Thomsen. Köln 1997, S. 91-117.

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dität findet man aber auch als rassistisch geprägte Argumentationsfigur in der Debatte um Sklaverei, in der Typenlehre, wie auch in antisemitischen und nationalsozialistischen Texten. In den 80er Jahren jedoch wurde Hybridität zu einem kulturtheorethischen Schlüsselbegriff umgewertet, wobei vor allem auf Michail Bakhtins Romantheorie6 zurückgegriffen wurde, sein Konzept einer organischen und intentionalen, einer historischen und künstlerischen Hybridität sprachlicher Phänomene, der dynamischen Redevielfalt und Mehrstimmigkeit. In den Kulturtheorien haben insbesondere der indische (in England und den USA lebende) Homi Bhabha7 und der argentinische (in Mexiko lebende) Néstor García Canclini8 diesen Begriff und seine Aspekte der dialogischen Konfrontation für ihre Ansätze funktionalisiert. Ohne an dieser Stelle auf die Details und Unterschiede der Denker eingehen zu wollen, steht bei beiden Hybridität für den Umgang mit Pluralität, Heterogenität und Widersprüchen, mit Prozessen und Problemzusammenhängen, für ein „Sowohl-als-auch", das gegen essentialistische Denkmodelle der Moderne antritt. Lateinamerika scheint paradigmatisch für das sowohl mit der Hybridität als auch der ,Figuration' in Zusammenhang gebrachte Verständnis von Kultur zu stehen, ist es doch seit seiner sogenannten Entdeckung von den verschiedensten Kulturen, Traditionen und Zeiten geprägt worden. Dies kommt sowohl in der historischen als auch gegenwärtigen Vielgesichtigkeit seines sozio-kulturellen Beziehungsgeflecht zum Ausdruck. In seinem bekanntesten Werk Culturas Híbridas benennt Néstor García Canclini diese Eigenheit Lateinamerikas auch als „viel-zeitige Heterogenität" (1989: 15), die ein neues Bewußtsein für die von Sprüngen und Rissen geprägte Identität mit sich bringt. Diese wird auch in der schon erwähnten Metapher des „Zersprungenen Spiegels" deutlich, die der chilenische Soziologe José Joaquín Brunner (1988: 15) als Bild für die kulturelle Selbstfindung gewählt hat und insbesondere auf die Verortung Lateinamerikas jenseits des europäischen Wegs, seine periphere Modernität, bezieht. Die Pluralität und Heterogenität Lateinamerikas

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Vgl. Irmela Schneider: „Von der Vielsprachigkeit zur ,Kunst der Hybridation'. Diskurse des Hybriden", in Hybridkultur (Schneider, Thomsen 1997), S. 20 ff. Vgl. Homi Bhabha: The Location of Culture. London, New York 1994. Vgl. Néstor García Canclini: Culturas híbridas. México 1989.

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spiegelt sich in den hybriden Ausdrucksformen seiner Kultur wider und erscheint als idealer Kontext, um der ,Figuration' weiter nachzugehen.9 Ganz im Sinne der „Grenzgänge kulturellen Dialogs" wird im Folgenden die Grenze Lateinamerikas überschritten, auch wenn die lateinamerikanische Kultur weiterhin von Relevanz ist. Auch die Art der Betrachtung ist grenzüberschreitend ausgerichtet, ganz dem entsprechend, was Garcia Canclini als „nomadische Wissenschaften" (1989: 15) bezeichnet, da sie bei der Betrachtung von Performance interdisziplinär den ästhetischen mit einem soziologischen und einem kulturtheorethischen Blick verbindet. Der mexikanisch-nordamerikanische interdisziplinäre Künstler und Schriftsteller Guillermo Gómez-Peña ist in den Bereichen Performance, Journalismus, Video, Radio und Installationskunst aktiv. Er bezeichnet sich selbst als einen „border-artist"10, einen Grenzkünstler und Grenzgänger, und macht dabei nicht nur die mexikanisch-nordamerikanische Grenze, sondern im weiteren Sinn das Aufeinandertreffen und den Dialog von Kulturen zur Reibungsfläche seiner künstlerischen Arbeit. Seine Texte und Performances sind in der internationalen - vor allem der amerikanischen - Kunstszene bekannt und auch von der Forschung nicht unbeachtet.11 Im Jahr 1992 konzipierte er in Zusammenarbeit mit der Performerin und Schriftstellerin Coco Fusco die Performance Two undiscovered amerindians Visit Spain für die 500-Jahr Feierlichkeiten in Madrid anläßlich der Entdeckung Amerikas. Die vorwiegend nicht als Performance angekündigte „Ausstellung" der vermeintlich noch unentdeckten Ureinwohner wurde später an verschiedenen öffentlichen Orten, überwiegend in 9

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Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Moderne, die Neu-, Be- und Aufwertung der „Peripheren Moderne" findet durch die lateinamerikanischen Kulturtheorien seit den 80er Jahren statt. Erstmals bin ich durch die Berliner Literaturwissenschaftler Hermann Herlinghaus und Monika Walter auf diese lateinamerikanische Diskussion und Brunners Zersprungene Spiegel gestoßen. Vgl. u.a. Hermann Herlinghaus; Monika Walter: „Lateinamerikanische Peripherie - diesseits und jenseits der Moderne", in Ränder der Moderne. Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs, hrsg. von Robert Weimann. Frankfurt/Main 1997, S. 242300. Guillermo Gómez-Peña: „A Binational Performance Pilgrimage", in Warrior for Gringostroika. Minnesota 1993, S. 25. Vgl. u.a. Diana Taylor: „A Savage Performance. Guillermo Gómez-Peña and Coco Fusco's Couple in the Cage", in THE DRAMA REVIEW 42, 2 (T 158, Sommer 1998), S. 160-175. Hermann Herlinghaus (1999): „Epilog: Is „Border" Ordinary?", in Heterotopien der Identität. Literatur in interamerikanischen Kontaktzonen, hrsg. von ders.; Utz Riese. Heidelberg 1999, S. 277-282.

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Museen, in Washington, Minneapolis, New York, Chicago, Sydney, London und Buenos Aires gezeigt. Dokumentiert ist diese Reise durch den Videofilm A Couple in the Cage. A Gautinaui Odyssee von Coco Fusco und Paula Heredia. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die Käfigperformance die theatralen Aspekte des kolonialen Aufeinandertreffens ausstellt und die Stereotypen westlichen Denkens zu parodieren sucht.12 Inwieweit verweist sie, indem sie den Konstruktcharakter der Grenzziehungen im Umgang mit dem kulturell „Anderen" problematisiert, auf das Denkmodell der ,Figuration'? Bei dem anschließenden Einblick in die Biographie von Guillermo Gómez-Peña und in einige seiner Arbeiten und hybriden Kunstfiguren aus den 80er Jahren stehen die Grenzgänge seiner interkulturellen Kunst und ihre Relevanz für die Auseinandersetzung mit ,Figuration' im Zentrum der Betrachtung. Gefangen im eigenen Spiegelbild Das Zurschaustellen von fremden Kulturen weist weit über die 150jährige Geschichte der Weltausstellungen hinaus. Diese machten schon immer die Völkerausstellungen, die Andersartigkeit und Exotik anderer Kulturen zu einer ihrer Hauptattraktionen. Klare Grenzziehungen zwischen dem „Eigenen" und dem „Fremden" wurden so möglich. Aus heutiger Sicht offenbaren sich diese Darstellungspraktiken des „Fremden" immer auch als selbstgewisser Ausdruck einer vermeintlichen kulturellen Überlegenheit, in die sich Machtinteressen, Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus eingeschrieben haben. Ein Sieg der Zivilisation über weniger zivilisierte oder wilde Völker? Schon Kolumbus brachte von seiner Entdeckungsreise lebende indigene „Beweistücke" an das spanische Königshaus mit zurück. Als Protestaktion gegen die 500-Jahr-Feiern anläßlich der sogenannten Entdeckung Amerikas konzipierten Coco Fusco und Guillermo Gómez-Peña die Performance Two undiscovered amerindians Visit Spain. In

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Meine Überlegungen zu der Performance basieren v.a. auf dem Video von Fusco und Heredia, wie auf dem aufschlußreichen Text von Coco Fusco: „The Other History of Intercultural Performance", in THE DRAMA REVIEW 3 8 , 1 (T141, Frühling 1994), S. 143-167.

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ihrem Text The Other History of Intercultural Performance gibt Coco Fusco einen Einblick in das Konzept und die Hintergründe der Performance: Our plan was to live in a golden cage for three days, presenting ourselves as undiscovered Amerindians from an island in the Gulf of Mexico that had somehow been overlooked by Europeans for five centuries. We called our homeland Guatinau, and ourselves Guatinauis. W e performed our „traditionals tasks", which ranged from sewing voodoo dolls and lifting weights to watching television and working on a laptop computer. A donation box in front of the cage indicated that for a small fee, I would dance (to rap music), Guillermo would tell authentic Amerindian stories (in a nonsensical language) and we would pose for polaroids with visitors. Two „zoogards" would be on hand to speak to visitors (since we could not understand them), take us to the bathroom on leashes, and feed us sandwiches and fruit. At the Whitney Museum in New York, we added sex to our spectacle, offering a peek at authentic Guatinaui male genitals for $ 5. A chronology with highlights from the history of exhibiting non-Western peoples was on one didactic panel, and a simulated Encyclopedia Britannica entry with a fake map of the Gulf of Mexico showing our island was on another. 13

Wie Fusco sehr eindruckvoll beschreibt war die Ausstellung der Guatinauis bewußt durch das Nebeneinander von - Klischeevorstellungen des „Wilden" entsprechenden - Symbolen (wie Körperbemalung, Voodoo-Puppen) und Gegenständen der westlichen Zivilisation (Fernseher, Ghettoblaster, Laptop) geprägt. Die vermeintlich aus der Encyclopedia Britannica stammenden Erklärungstafeln über das Guatinaui-Volk, die Karte mit der im Golf von Mexiko liegenden (erfundenen) Insel Guatinau, die kommentierenden Museumsführer und nicht zuletzt der Aufführungsort sollten dem Publikum einen Authentizität suggerierenden Kontext bieten. Diese Ausstellungssituation wird auch in dem Film von Fusco und Heredia deutlich. Dieser kommentiert die Performancereise, da er Zuschauerkommentare an verschiedenen Orten und die vermutlich auf dem im Käfig aufgestellten Fernsehmonitor laufenden Filmausschnitte in die Dokumentation aufnimmt. Hierin unterscheidet sich der Film auch von der Performance, da er die Zuschauer mit ihren überwiegend sehr naiven Kommentaren zu den eigentlichen Protagonisten macht. Ein Mann beispielsweise zeigt sich beeindruckt von der Faszination, die der Fernseher bei dem männlichen Guatinaui auslöst und ist überzeugt, daß dieser nicht weiß, worum es sich bei dem Gerät handelt.

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Fusco (1994), S. 145.

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Die an die physische Präsenz gebundene Performance hingegen legt ihren Schwerpunkt auf den Vollzug der Handlung und die „Schaffung eines einmaligen, ephemeren Ereignisses"14, das die noch zu erfolgende Reaktion des Publikums provoziert. Mit ihrer auf Interaktion abzielende Performance blicken die Künstler gewissermaßen auf den Nullpunkt der interkulturellen Beziehungen zurück. Ein Nullpunkt, der jedoch bis Ende des letzten, Anfang diesen Jahrhunderts andauerte. In ihrem schon erwähnten Artikel hat Coco Fusco diese performative Ausstellung des Anderen aufgelistet. (1994: 146-147) Auch wenn die Performance sicher nicht als Kritik an der zeitgenössischen Ethnographie und Ethnologie gedeutet werden kann15, thematisiert sie doch deren historische Praktiken wie zum Beispiel das der Verfälschung ausgestellter Ethnizität. Erstaunlich ist jedoch, daß auf der Tournee der als Ausstellung getarnten Performance nach Einschätzung der Künstler und gegen ihre Erwartung über die Hälfte der Zuschauer die Authentizität der unentdeckten Ureinwohner nicht in Frage stellte. Dieser unerschütterliche Glaube des Publikums - und dies trotz der schon hervorgehobenen hybrid-absurden Kombination von Exotischem mit Alltagsgegenständen der westlichen Zivilisation - scheint Aufschluss darüber zu geben, wie sehr es koloniale Phantasien aufrecht erhält. Nach Fusco sollte die Aktion den Zuschauer zum Denken anregen. Dieser jedoch machte fast automatisch den Käfig zur Projektionsfläche des eigenen kolonialen Unterbewußten. Unter den zahlreichen Beispielen von Zuschauerreaktionen hebt Fusco auch die von Künstlern, Intellektuellen und Kulturbürokraten hervor, die es für unfair hielten, das Publikum nicht ausreichend über die wahren Umstände des Kunstaktes zu informieren. Sie warfen ihr eine „reverse ethnography" (1994: 143) vor. Einigen der wissenden Zuschauer schien dabei die Demütigung der zu Objekten gewordenen, ausgestellten Performer besondere Lust zu bereiten.16 Der Käfig steht symbolisch für die engen Grenzen des stereotypen westlichen Blicks auf den exotischen „Anderen". Er stellt die aus ihrem Kontext gerissenen, vermeintlichen Museumsobjekte aus, stellt sie bloß

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Vgl. Elisabeth Jappe: Performance - Ritual - Prozeß: Handbuch der Aktionskunst in Europa. München, New York 1993, S. 10. Vgl. Barbara Kirshenblatt-Gimblett: „The Ethnographie Burlesque", in THE DRAMA REVIEW 4 2 , 2 (T158, Sommer 1998), S. 175-180. Vgl. die von Fusco detailliert beschriebenen Zuschauerreaktionen, in Fusco (1994), S. 143-167.

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und entspricht damit der Strategie der westlichen Welt, die seit dem Kolonialismus Macht und Dominanz mit Grenzziehung koppelt. Der Mitbegründer der postkolonialen Theorie Edward Said hat dies in seinem Werk Orientalism treffend beschrieben, indem er den westlichen Orientdiskurs mit einer Bühne vergleicht und die Repräsentation des kulturell Anderen, seine Stereotypisierung, mit theatralen Figuren gleichsetzt. The idea of representation is a theatrical one: the Orient is the stage on which the whole East is confined. On this stage will appear figures whose role it is to represent the larger whole from which they emanate. The Orient then seems to be, not an unlimited extension beyond the familiar European world, but rather a closed field, a theatrical stage affixed to Europe. 17

Indem die Performance Two amerindians visit... historisch-kulturelle Grenzziehungen plakativ nachzeichnet, auch überzeichnet, stellt sie den Konstruktcharakter dieser Figuren des Anderen aus, die Künstlichkeit der westlichen Projektionen. Damit sucht sie das einzulösen, was Said Fremdbilder als „gigantic caricatural essentializations" 18 bezeichnend einfordert, wenn er sich für ein Verstehen des Konstruktcharakters von Geschichte, Welt und Identität ausspricht. (1993: 325) Im Umgang mit den von westlichen Machtdiskursen kreierten Figuren des Anderen praktiziert die Performance kulturelle figuration' und thematisiert die Grenzüberschreitung, da sie spielerisch mit der Erwartungshaltung des Publikums an authentische Beweisstücke aus einer anderen Kultur umgeht. Auch spielt sie mit dem - dem Theater und der Performance inhärenten - Widerspruch zwischen Realem und Bezeichnendem, Präsenz und Repräsentation wie auch dem vermeintlichen Gegensatz zwischen politischer Aktion und ästhetischer Schöpfung. Dem Publikum wirft sie ein verzerrtes oder brüchiges Spiegelbild zurück, dreht die Rollen um, was vor allem in dem Video deutlich wird, in dem das Publikum mehr als die Performer zum Objekt der Performance werden. Mit der Vergrößerung, Verzerrung und Fetischisierung zeigt die Performancereise der „Zwei unentdeckten Amerindianer" Grenzziehungen auf, parodiert sie und gibt dem Publikum die Möglichkeit zu erkennen, wie sehr es in den Spiegelbildern seiner eigenen Erwartungshaltungen, Phantasien und Begierden gefangen ist.

17 18

Vgl. Edward W. Said: Orientalism. New York 1978, S 63. Edward Said: „Figures, Configurations, Transfigurations", in New Historical Literary Study: Essays on Reproducing Texts, Representing History, hrsg. v o n Jeffrey N. Cox; Larry-J. Reynolds. Princeton 1993, S. 320.

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The other exists within us. 19 Der 1955 in Mexico City geborene und 1978 in die USA emigrierte Guillermo Gómez-Peña beschreibt seine Fixierung auf Grenzgänge einerseits als Resultat seiner Sozialisation in der lateinamerikanischen Metropole Mexico City und andererseits als Prägung durch die Erfahrungen eines in die USA emigrierten Lateinamerikaners. Wie anfangs schon aufgezeigt, ist die lateinamerikanische Realität - extrem vor allem in den Großstädten - von Heterogenität geprägt, einem Synkretismus amerindischer, europäischer und auch afrikanischer Kulturen, prä-industrieller Traditionen und neuster Technologie, einem Gefüge von Hoch-, Volks- und Massenkultur. Guillermo Gómez-Peña bezieht dieses lateinamerikanische Phänomen in seinem Artikel A binational performance pilgrimage spezifisch auf die Metropole Mexiko City und beschreibt es folgendermaßen: From Aztec to post-punk all styles, eras and cultural expressions are intertwined in this mega-pastiche called „el D.F."(Mexico City), and those of us who grew up in such a context developed a vernacular postmodern sensibility with cross-cultural fusion at its core. Through the prism of this sensibility, past and present, pop culture and high culture, politics and aesthetics, rural and urban realities, pre-columbian rite and catholicism are preceived as either logical dualities belonging to the same time and place, or as overlapping realities. (1993:18)

Diese nach Guillermo Gómez-Peña typisch lateinamerikanische Sensibilität für grenzüberschreitendes Denken macht der Künstler zum Impuls für die Auseinandersetzung mit seiner persönlichen Situation, der individuellen wie auch kollektiven Identität der „kulturell Anderen" im Vielvölkerstaat USA. Seine anfängliche „de-territorialization" (1993: 20) als heimatloser Einwanderer, der Nicht-mehr-Mexikaner, Noch-nichtChicano und Noch-lange-nicht-Amerikaner, wird zu einer „Re-territorialization" (1993: 24), einer Aneignung der USA als Vielvölker- und Vielsprachenstaat. Dem Anerkennen und Spiel mit seiner kaleidoskopartigen Identität: Mexikaner, Post-Mexikaner, Chicano, Chicalango (halb:

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Gómez-Peña (1993), S. 19.

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Chicano, halb: Chilango), Lateinamerikaner, Trans-Amerikaner, Amerikaner und Sudaca. 2 0 Seine Arbeit gilt der Sensibilisierung für grenzüberschreitendes Denken, d e m Zwischen-Raum oder „the space b e y o n d " wie es der von Guillermo Gómez-Peña's Arbeit beeinflußte postkoloniale Theoretiker Homi Bhabha in the location of culture ausdrückt: The intervening space ,beyond' becomes a space of intervention. [...] The borderline work of culture demands an encounter with ,newness' that is not part of the continuum of past and present. It creates a sense of the new as an insurgent act of cultural translation. (1994: 7)

Für Guillermo Gómez-Peña bietet sich die Performance implizit als Kunstform an, mit der er nicht nur die verschiedensten Ausdrucksformen, sondern auch Kunst mit Alltagsrealität und politischer Aktion verbinden und zu einer Strategie sozialer Kommunikation verwandeln kann. I crisscross from the past to the present, from the fictional to the biographical. I fuse prose and poetry, sound and text, art and literature, political activism and art experimentation. (1993:16)

Mit der Grenzüberschreitung 1978 von Mexiko in die USA verwandelt sich die Grenze für ihn zu einer „entzündeten W u n d e " . (1993: 23) I'm a child of border crisis A product of a cultural ceaserean I was born between epochs &cultures Born from an infected wound A howling wound A flaming wound For I am part of a new mankind The Fourth World, the migrant kind Los transterrados y descoyuntados Los que partimos y nunca llegamos 21

Für viele Jahre wird diese reale, binationale Grenze zwischen Mexiko und den USA, die reale Grenzüberschreitung z u m Mittelpunkt seiner

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21

Chícanos werden die in den USA lebenden Mexikaner genannt; Chilango die aus Mexico-City stammenden Mexikaner; Sudaca ist die pejorative, spanische Bezeichnung für Lateinamerikaner. Die Worte stammen von einer der zahlreichen Stimmen und Figuren aus der Performance Border Brujo. Vgl. Gómez-Peña (1993), S. 78.

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Performances und politischen Aktionen. Die Grenzregion als „megacontext of syncretism and cultural fusión" (1993: 24) nutzt er für zahlreiche binationale Projekte: journalistische Arbeiten und Versammlungen von Künstlern und Intellektuellen auf beiden Seiten der Grenze wie eine zweisprachige Radiosendung. Mit der offiziellen Gründung des BORDER A R T S W O R K S H O P / E L TALLER DE ARTE FRONTERIZO 1985 in San Diego/Tijuana versammelt Gómez-Peña Künstler und Intellektuelle von beiden Seiten der Grenze um sich und erklärt die Grenzregion programmatisch zum intellektuellen Laboratorium. Die Gruppe diskutiert Menschenrechtsverletzungen seitens der Grenzpolizei, rassistische Bilder von Mexikanern in den USMedien und die nach Süden gerichtete Außenpolitik der USA. Mit diversen Performances oder Aktionen, wie z.B. eine Pilgerfahrt mit Megaphon im Zickzack über die Grenze, sollen politisch sensitive Orte funktionalisiert werden. Paradigmatisch für die Arbeit von Guillermo Gómez-Peña stehen seine hybriden Figuren. In der Performance El Border Brujo aus dem Jahr 1988 tritt er in fünfzehn verschiedenen Rollen auf, die unterschiedliche Sprachen sprechen: Spanisch, Englisch, Spanglisch und Dialekte. GómezPeña staffiert seine hybriden Figuren mit Kostümen (wie Aztekenkettenhemden, Boxershorts, Leopardenjacken, Ringermasken, indianischem Federschmuck) und Requisiten (wie Knochenketten, Hühnchen, Punkacsessoires, Ghettoblaster, Peitschen, etc.) aus, wie das auch schon in der Beschreibung der Käfigperformance deutlich wurde. Ihr Auftreten läßt er von Musikzitaten (Gregorianischen Gesängen, Stierkampfmusik, Cumbia, Blues, etc.) begleiten. Dabei bedient er sich stereotyper Symbole, die er zu scheinbar unvereinbaren, hybriden Figuren kombiniert. Andere seiner aus Identitätspuzzles entstandenen Figuren sind der Warriorfor Gringostroika (Hybrid aus Mariachi, Low Rider, DJ), El Aztec High-Tech, der Mexterminator oder El Cyber Vato. Gegensätzliches verbindet Guillermo Gómez-Peña auch in seinen Sprachspielen und -Schöpfungen, wie zum Beispiel seinem Wörterverzeichnis der Borderismos.22 Aztec High-Tech, der: Geheimer Performancekünstler, apokalyptischer DiscJockey und interkultureller Verkäufer. Er führt auch den Namen Supermojado, The Warrior of Gringostroika und Gran Vato Charro-Ilero. 22

Im Deutschen: Grenzwörter. Vgl. Programmzettel der Performance Borderama aus dem Jahr 1995.

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Uta Atzpodien Gringostroika: Eine kontinentale volkstümliche Bewegung, die eine totale wirtschaftliche und kulturelle Umgestaltung des amerikanischen anarchischen Kapitalismus befürwortet. Hängenden Hühner, die: In den 30er Jahren war es üblich, daß texanische Grenzhüter (Texas Rangers) Wanderarbeiter aufhängten, die bis zum heutigen Tag als Hühner bezeichnet werden. Jede andere - sei es politische, metaphysische, erotische oder künstlerische Interpretation für die auf der Bühne hängenden Hühner.23

Mit d e n h u m o r v o l l e n , nicht für alle Z u s c h a u e r offensichtlichen Kunstfiguren, der ästhetischen Inszenierung seiner interkulturellen Erfahrungen will Guillermo Gómez-Peña gesellschaftlichen Klischees entgegentreten. Die Grenzkultur ist für ihn ein „process of negotiation tow a r d s utopia." 2 4 In der inner- und interkulturellen Auseinandersetzung erscheint der M o m e n t des Verhandeins, besser vielleicht des Dialogs wichtig, der sow o h l für die Hybridität als auch die f i g u r a t i o n ' eine Rolle spielt. H o m i Bhabha beschreibt ein solches inner- und interkulturelles Ver- oder Aushandeln wie folgt: What is at issue is the performative nature of differential identities: the regulation and negotiation of those spaces that are continually, contingently,,opening out', remaking the bounderies, exposing the limits of any claim to a singular or autonomous sign of social difference - be it class, gender or rass. Such assignations of social differences - where difference is neither One nor the Other but something else besides, in-between - find their agency in a form of the,future' where the past is not originary, where the present is not simply transitory. (1994: 219) Die G r e n z g ä n g e v o n Guillermo G ó m e z - P e ñ a , seine hybriden Figuren, v o r allem aber die bis jetzt wenig herausgestellte Interaktivität mit d e m Publikum sind solche F o r m e n des Dialogs oder Aushandelns. We must realize that all cultures and identities are open systems in constant process of transformation, redefinition and recontextualization. What we need is dialogue, not protection. In fact, the only way to regenerate identity and culture is through ongoing dialogue with the other. (1993:48)

23

24

Die Übersetzung stammt aus dem Programmzettel des Internationalen Sommertheaterfestivals Hamburg 1993 auf dem die Performance The New World (B)order von Fusco und Gómez-Peña aufgeführt wurde. Guillermo Gómez-Peña: „The multicultural paradigm. An open letter to the national arts community. 1989". (1994: 218-221)

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In einem der jüngsten Projekte von Gómez-Peña aus den 90er Jahren tauchen die Ethno-Cyborgs oder Mexterminators25 auf, von ihm und Performance-Kollegen dargestellte, sich ständig verwandelnde Kunstfiguren. In ihrer Gestaltung hängen sie von im Internet ausgestellten ethnographischen Fragebögen ab, die von den Performern ausgewertet und dann „umgesetzt" werden. Umsetzung heißt hier Verkleidung, die Musikauswahl, die Handhabung von Ausstattung und Objekten und vor allem die Art von ritualisierten Handlungen, die die Performer verkörpern, und wie diese mit dem Publikum interagieren. Die zuvor ausgewerteten Fragebögen zielten auf Fremdbilder der Amerikaner ab, die Wahrnehmung und Projektion des kulturellen Andersseins. Nach der Beschreibung des Künstlers wurde die „stilisierte Anthropomorphisierung der eigenen post-kolonialen Dämonen und rassistischen Halluzinationen zu einem interkulturellen Poltergeist", der sich durch eine „perverse Dialektik der interkulturellen Gewalttätigkeit und des interrassistischen Begehrens kennzeichnete". (2000:93) Die zusammengestellten personae, die wir erschafften, waren stilisierte Repräsentationen einer inexistenten, phantasmagorischen Mexikaner/Chicano-Identität, Projektionen von den Menschen eigenen psychologischen und kulturellen Monstern - eine Armee von mexikanischen Frankensteinen, die dabei waren, gegen ihre Anglo-Erschaffer zu rebellieren, (ebd.)

Bei der Beschreibung der Arbeiten von Guillermo Gómez-Peña und seiner hybriden Figuren erfolgt das ,Zurückgreifen' auf den Begriff der Figur ganz bewußt, da es sich eben doch um - wenn auch hybride oder heterogene - Figuren handelt, ohne die die ,Figuration' gar nicht auskommt. Die Performances selbst aber thematisieren und evozieren die ,Figuration', da sie den Konstruktcharakter der Figuren in ihrer Heterogenität ausstellt. Sie praktizieren ,Figuration' und fordern sie auch dem Zuschauer ab. ,Figuration' heißt damit auch Reflexion über den Produktionsvorgang, die Entstehung der individuellen und kollektiven Identitätspuzzle, das Spiel der Möglichkeiten. ,Figuration' scheint aber auch über das et25

Den Begriff Mexterminator bezieht Gómez-Peña auf den supermenschlichen Roboteikiller aus den Schwarzeneggerfilmen. Vgl. Guillermo Gómez-Peña: „EthnoKyborgs und genetisch geschaffene Mexikaner (Neue Experimente in der ,EthnoTechno' Kunst)", in FAMO (FRANKIJA & MASKA) 1,1 (Zagreb, Lubiljana 2000), S. 52.

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was auszusagen, was in dem künstlichen Konstrukt Figur verschwiegen wird. Als Prozeß der Auswahl macht sie die Auslassung deutlich und fordert die kulturellen Kontexte, wie auch eine Historisierung ein, das Jenseits der oft für die Wahrnehmung notwendigen Grenzen. Ohne die Begriffe gegeneinander ausspielen zu wollen, betont die Hybridität das Heterogene, die Verkettung von Ungleichem und Diskontinuierlichem und läßt vielleicht durch ihren biologischen Ursprung etwas „Organisches" mitschwingen, während das Denkmodell der ,Figuration' den prozessualen Konstruktcharakter und die permanente Grenzüberschreitung ausstellt. Die Überlegungen zu der - von der Figur nicht loszulösenden - ,Figuration' machen vor allem deutlich, wie wenig die Auseinandersetzung mit Theater und Performance von einer kulturtheorethischen Betrachtung, einer Kontextualisierung und Historisierimg zu trennen ist. Der identitätsstiftende Blick in den Spiegel ist auch mit Repräsentation, Aneignung und Übersetzung verknüpft, Begriffe, denen in diesem Kontext nachgegangen werden könnte. Alle sie kommen ohne Figuren oder Wahrnehmungsgrenzen nicht aus, verweisen aber - ebenso wie Theater/Performance und Kultur - auf einen kreativen und performativen Prozess, die ,Figuration'. Der Vorteil eines nicht zentrierten, eines peripheren Blicks in den Spiegel scheint jedoch der zu sein, die lange von Machtdiskursen verdeckten Sprünge und Risse deutlicher sichtbar zu machen. Literatur Balme, Christopher: Theater im postkolonialen Zeitalter. Studien zum Theatersynkretismus im englischsprachigen Raum. Tübingen 1995. Bhabha, Homi: The Location of Culture. L o n d o n / N e w York 1994. Brunner, José Joaquín: Un espejo trizado. Ensayos sobre cultura y políticas culturales. Santiago 1988. Fusco, Coco: „The Other History of Intercultural Performance", in THE DRAMA REVIEW 3 8 , 1 (T141, Frühling 1994), S. 143-167. García Canclini, Néstor: Culturas Híbridas. México 1989. Gómez-Peña, Guillermo: „A Binational Performance Pilgrimage", in ders.: Warrior for Gringostroika. Minnesota 1993. : „The multicultural paradigm. An open letter to the national arts community. 1989", in Negotiating Performance, hrsg. von Diana Taylor, Juan Villegas. Durham 1994, S. 17-29. : „Ethno-Kyborgs und genetisch geschaffene Mexikaner (Neue Experimente in der „Ethno-Techno" Kunst)", in FAMO (FRANKIJA &MASKA) 1, I, Zagreb, Lubiljana, 2000.

Spiegel mit Sprüngen

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Herlinghaus, Hermann (1999): „Epilog: Is „Border" Ordinary?", in Heterotopien der Identität. Literatur in interamerikanischen Kontaktzonen, hrsg. von ders., Utz Riese. Heidelberg (Winter 1999), S. 277-282. ; Walter, Monika: „Lateinamerikanische Peripherie - diesseits und jenseits der Moderne", in Ränder der Moderne. Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs., hrsg. von Robert Weimann. Frankfurt/Main 1997, S. 242-300. Horning, Karl H.; Winter, Rainer (Hrsg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt/Main 1999. Jappe, Elisabeth: Performance - Ritual - Prozeß: Handbuch der Aktionskunst in Europa. München, New York, 1993. Kirshenblatt-Gimblett, Barbara: „The Ethnographie Burlesque", in THE DRAMA REVIEW 42,2 (T158, Sommer 1998), S. 175-180. Reck, Hans-Ulrich: „Entgrenzung und Vermischung: Hybridkultur als Kunst der Philosophie", in Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, hrsg. von Irmela Schneider, Christian W. Thomsen. Köln 1997, S. 91-117. Said, Edward W.: Orientalism. New York 1978. : „Figures, Configurations, Transfigurations", in New Historical Literary Study: Essays on Reproducing Texts, Representing History, hrsg. von Jeffrey N. Cox, Larry-J. Reynolds. Princeton 1993. Schneider, Irmela: „Von der Vielsprachigkeit zur ,Kunst der Hybridation'. Diskurse des Hybriden", in Hybridkultur (Scjneider, Thomsen 1997). Taylor, Diana: „A Savage Performance. Guillermo Gómez-Peña and Coco Fusco's Couple in the Cage", in THE DRAMA REVIEW 42,2 (T158, Sommer 1998), S. 160-175. Uta Atzpodien: (1968) Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Politologie, Hispanistik und Theaterwissenschaft an der Johannes-Gutenberg Universität Mainz. Regieassistenz in Brasilien, Chile und Deutschland. Publikationen: zahlreiche Aufsätze zum Theater in Brasilien, über Brecht, Barba und Müller.

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Fremde Stimmen im Äther? Hörspiele chilenischer Autoren in der DDR Traumwelten aus Stimmen, Geräuschen und gelegentlich etwas Musik vermag das Hörspiel zu erzeugen, das sich auf die Vorzüge des eigenen Mediums besinnt und nicht ein u m die Guckkastendimension reduziertes Theater oder einfach gelesene Literatur sein will. Die Stimmen, ob in Monolog oder Dialog, und semantisch aufgeladene Geräusche sind seine handlungstragenden Elemente. Der körperlich sichtbaren Erscheinung entkleidet, gewinnen die Figuren als Stimmen größere Eindringlichkeit. Anders als ein Leser, kann sich der Hörer des Hörspiels dem Rhythmus der Handlung nicht durch selbstbestimmte Pausen entziehen, er hat den Eindruck für die Dauer des Hörspiels, die durchschnittlich bei einer Stunde liegt, neben oder hinter den Figuren zu stehen. Diese durch das Medium vorgegebene, intensive akustische Anteilnahme hat dramaturgische Folgen. Sie zwingt zur Konzentration und verlangt von den Autoren den Aufbau eines durchgehenden Spannungsbogens. Die fehlende visuelle Dimension des Geschehens kann von den Autoren spannungsverstärkend eingesetzt werden. Chilenische Autoren, die nach dem Militärputsch gegen die Allende-Regierung der Unidad Populär in der DDR Zuflucht gesucht hatten, nutzten sehr verschiedene literarische und künstlerische Genres, um sich mit den durch den Putsch eingetretenen politischen und sozialen Veränderungen auseinanderzusetzen, um zu protestieren, u m Stellung zu beziehen und um die mit diesen Ereignissen verbundenen existentiellen, traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten. Während in den ersten Jahren nach dem Putsch die politische Dimension des Schreibens im Vordergrund stand, die Anklage der von den Militärs begangenen Verbrechen, die Mobilisierung der öffentlichen Meinung und die Unterstützung des Kampfes gegen die Diktatur, so trat, nachdem die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr schwächer geworden war, die Beschäftigung mit den persönlichen Erfahrungen der Vergangenheit und mit den Erfahrungen im Aufnahmeland hinzu. Die Bindung an das Tagesgeschehen wurde schwächer, der literarische Anspruch stieg. Während in der ersten Zeit des Exils Berichte, Theaterstücke und Gedichte mit dokumentarischem, mit testimonio-Charakter häufig anzutreffen sind, erweitert sich das Spektrum der verwendeten Literaturgattungen in der Folgezeit. Neben Romane und Filme tritt auch eine Gattung wie die des Hörspiels mit den ihr eigenen Ausdrucksmöglichkeiten.

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Im Folgenden soll es um die Hörspieltexte1 von zwei in der DDR lebenden chilenischen Autoren gehen, Carlos Cerda und Omar Saavedra Santis, die seit dem Beginn der 80er Jahre mit dem Hörspiel eine neue dramatische Gattung für sich entdecken und somit eine literarische Tradition aufnehmen, die in gleicher Weise weder in Spanien noch in Lateinamerika ausgeprägt ist. Im Unterschied zu Radiofeatures, die auf tatsächliche Ereignisse und Begebenheiten zurückgehen, handelt es sich bei diesen Hörspielen um fiktionale Literatur sehr verschiedener Themen und vielfältiger „Erzählweisen". Zu Beginn schrieben Carlos Cerda (1944-2001) und Omar Saavedra Santis (geb. 1944) gemeinsam kurz nacheinander zwei Hörspiele, Eine Uhr im Regen (1981) und Eine Tulpe, ein Stein, ein Schwert (1982). Beide Autoren konnten an Schreiberfahrungen anknüpfen, die sie zuvor bereits mit Erzählungen und Theaterstücken gemacht hatten. Beide waren außerdem durch das Beispiel ihres Landsmannes Antonio Skärmeta, der in Westberlin im Exil lebte, auf die Möglichkeiten der Funkdramatik aufmerksam geworden. Seitdem sollte für Carlos Cerda und Omar Saavedra die Arbeit für den Rundfunk eine neben anderen, rege kultivierten literarischen Betätigungsfeldern bleiben. Im Unterschied zu ihren Prosaarbeiten2 fanden die Stücke für den Rundfunk allerdings bisher nicht die ihnen zukommende Beachtung durch die Kritik.3 Eine Uhr im Regen ist ein beziehungsreiches Kriminalhörspiel, dessen Fabel Blicke freigibt auf Willkürherrschaft und Unterdrückung in einer Militärdiktatur, die, wie in Chile, mit der Landreform und demokratischen Errungenschaften Schluß gemacht hat. Maria versucht mit Rattengift eine vermeintliche Nebenbuhlerin ihres Verlobten umzubringen, trifft aber drei unschuldige Schulkinder. Im Laufe der durch die Polizei und einen Radioreporter parallel betriebenen Untersuchungen führt eine mysteriöse Spur zu einem Landarbeiter, der die Uhr und den Ring des Verlobten, eines kürzlich „freigelassenen" politischen Gefangenen angeboten hatte. Um sich selbst von Mordverdacht und Komplizenschaft zu befreien, führt er den Reporter und den Kommissar schließlich zu einer abgelegenen Stelle des Rio Blanco, wo er zuvor die Leichen von „freigelassenen" politischen Gefangenen und jene Uhr - im Regen - gefunden hatte. Während Maria der Prozeß gemacht wird, bleibt völlig of1

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Grundlage sind die Texte und nicht die in der zweifellos interessanten rundfunkgeschichtlichen Perspektive zu analysierenden Produktionen. Martina Polster: Chilenische Exilliteratur in der DDR (Magisterarbeit, HumboldtUniversität, 1996, als Buch erschienen, Marburg 2001) gibt einen Überblick und faßt die bisher erschienenen Arbeiten zusammen. In der Arbeit von Martina Polster findet sich nur als Beleg für die Gattungsvielfalt ein knapper Hinweis auf diese Tätigkeit, a.a.O., S. 61-62.

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fen, ob es zu einer Untersuchung dieses großen Verbrechens jemals kommen wird. Für den Reporter und den Kommissar ist es ein Gewissenskonflikt, dessen Lösung offen bleibt. Die im Grunde gewöhnliche Kriminalgeschichte wird sozial polarisierend aufgeladen, wenn der Hörer erfährt, wie die vormals enteigneten Großgrundbesitzer nach ihrer Rückkehr das Dorf beherrschen, die Angehörigen der „Verschwundenen" unendlichen Schikanen ausgesetzt sind und schwer zu ermessen ist, wessen Uhr im Regen vielleicht schon längst oder in ferner Zukunft abgelaufen sein wird. Ein hintergründiges, scharf gezeichnetes, politisches Kriminalhörspiel ist damit das Debüt beider Autoren für den Hörfunk. In Eine Tulpe, ein Stein, ein Schwert sind wesentliche Merkmale erkennbar, die, bei aller Verschiedenheit, auch für die weiteren Hörspiele als Charakteristika gelten können. Figuren und Handlung sind in Chile angesiedelt. Sie verweisen auf die dramatische, menschliche Dimension der Konsequenzen des politischen Umsturzes von 1973. Das Thema des Stückes geht aber über diese konkret historische Verortung wesentlich hinaus. Die Hauptfiguren sind ein pensionierter Musiklehrer, Exequiel Soto, und einige seiner ehemaligen Schüler. Im Santiago des Jahres 1982 will Herr Soto die langersehnte Europareise zu den großen Kulturstätten antreten. Auf dem Flughafen trifft er seinen ehemaligen Schüler Farias, der versucht, nach Mexiko ins Exil zu gelangen, da er wegen seiner politischen Tätigkeit in Chile verfolgt wird. Farias wird vor den Augen des Lehrers auf dem Flughafen verhaftet und weggeschleppt. In letzter Minute verzichtet der Lehrer auf seine Reise, um die Familie von Farias benachrichtigen zu können. Bei der Suche nach den Angehörigen des Verschleppten trifft er auf drei weitere ehemalige Schüler. Der Rechtsanwalt Benzi, auf den er die größten Hoffnungen gesetzt hatte, erweist sich als eiskalter Karrierist, der mit Winkelzügen versucht, eine Anzeige zu verhindern. Anders Salcedo, der sich mit verschiedensten abenteuerlichen Geschäften durchs Leben schlägt und davon träumt, als Konzertagent Plácido Domingo nach Chile zu holen. Seit dem engagierten Unterricht Sotos hat ihn die Leidenschaft für die Musik gepackt. Sie gibt ihm die Kraft und eine gewisse Leichtigkeit, mit Glück und Witz die absurdesten Situationen zu meistern. Er nimmt Soto in seiner Pension auf und begleitet ihn auf der Suche. Auch führt er ihn zu Pérez, einem weiteren ehemaligen Schüler, der, ehemals talentierter Philosophiestudent, wie so viele andere junge Leute, nach dem Militärputsch seinen Berufsweg aufgeben mußte und sich seinen Lebensunterhalt als Betreiber eines Fischlokals verdient. Für den Lehrer ist dieser abgebrochene Urlaub eine Reise in die Vergangenheit, eine Begegnung mit dem Schicksal der Schüler, für deren Lebensweg er sich zweifellos mehr erwartet hatte. Sie ist auch

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eine Wiederbegegnung, im Spiegel der Erinnerungen der anderen, mit seiner eigenen Geschichte. Die Geschichte seiner Liebe zur Musik, seiner Begeisterung für Beethoven, die er über dreißig Schuljahre erhalten hat und die er seinen Schülern mitzugeben vermochte. Der Verzicht auf die touristische Reise - ein Pauschalangebot großer Reiseveranstalter zu den europäischen Kulturstätten, landestypische Souvenirs, eine Tulpe, ein Stein, ein Schwert inbegriffen - führte ihn statt dessen zurück in seine eigene Vergangenheit, läßt jene unverhüllte Begeisterung für Beethovens Violinkonzert lebendig werden, dessen virtuoser und wohl auch menschlicher Herausforderung er sich als junger Musiker nicht gewachsen gefühlt hatte. Stärker als die Verzweiflung über die Verschleppung von Farias, den Opportunismus solcher Leute wie des Rechtsanwalts Benzi und die frustrierten Lebensläufe vieler junger Leute ist diese ansteckende, tiefe Begeisterung für Beethoven, deren Echo an allen entscheidenden Punkten der Handlung widerhallt. Die tiefe Menschlichkeit der Musik als verbindendes Element der Lebensgeschichte des Lehrers und als Band zu seinen Schülern ist in diesem als spannende Suche nach der Familie des verschwundenen Farias angelegten funkdramatischen Stück die Voraussetzung für Widerstand gegen Gleichgültigkeit und Verfolgung. Der politische Hintergrund beider Stücke weckte bei den Hörern zweifellos die Assoziationen an viele dokumentarische Werke, die der Lage in Chile in den vorangehenden Jahren gewidmet waren. In der Reihe von Hörspielen des Rundfunks der DDR waren funkdramatische Bearbeitungen von Augenzeugenberichten gesendet worden, die sich zeitnah mit dem Geschehen auseinandersetzten.4 Mit einem Stück wie Eine Tulpe, ein Stein, ein Schwert und in anderer Weise mit dem vorangegangenen Kriminalhörspiel Eine Uhr im Regen traten fiktionale Beiträge von „betroffenen" Autoren hinzu, die sich durch ihre eindringliche künstlerische Art souverän von jener „aktuellen" Betroffenheit unterschieden. Zwei Jahre später sendete der DDR-Rundfunk ein Hörspiel von Carlos Cerda unter dem Titel Die Zwillinge von Calanda, oder Über einige Gesetzmäßigkeiten bei der Entwicklung politischer Phänomene. Die Handlung dieses Stücks ist in einem „imaginären Land Lateinamerikas" angesiedelt. Die Situierung des Geschehens und die Charakterisierung der Personen sind von vorn herein auf Typisierung angelegt. Niemand wird bestreiten wollen, daß für den Autor bestimmte Assoziationen an sein Heimatland eine Rolle gespielt haben, in der Fiktion allerdings ist alles 4

Eindringlich dargestellt von Waltraud Jähnichen, „Dem Furchtbaren mit Hoffnung begegnen. Chile im Hörspiel der DDR", in: DDR-Literatur "84 im Gespräch. Berlin 1985, S. 89-108.

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auf Verallgemeinerung und parabelhafte Verstärkung der Aussage angelegt. Der an Marx'sche Werke erinnernde Untertitel orientiert auf die Frage nach historischen Gesetzmäßigkeiten und bildet einen leicht absurden - ironischen - Kontrast zu der mit konkreten Figuren und situativen Dialogen arbeitenden Hörspielfiktion. Im Stück selbst entwickelt der Autor aus der scheinbar realistischen Ausgangssituation eine verfremdende Verdoppelung der Charaktere, die das Stück zu einer Parabel werden lassen. Das Handlungsschema ähnelt dem Erfahrungsbericht eines ausländischen Reporters, der die Menschenrechtsverletzungen einer Militärdiktatur untersucht. Die Hauptfigur Garces, ein für eine Londoner Zeitung schreibender Exiliant aus Calanda, kehrt mit Ausnahmegenehmigung in seine Heimat zurück, um die Umstände des Verschwindens seines Vaters, eines regimekritischen Journalisten aufzuklären. Er wird in dem einzigen für Ausländer reservierten Hotel untergebracht, das seit Jahren von Niemandem mehr besucht wurde. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein, und der Hörer fühlt sich in eine Umgebving versetzt, wie sie Gabriel García Márquez in Hundert Jahre Einsamkeit detailreich beschrieben hat. Das Leben in diesem verwahrlosten Hotel, ohne Speisen und Getränke für den Gast, mit einer despotisch agitatorische Lieder quietschenden Klimaanlage und dem Eingeschlossensein durch den „normalen" Ausnahmezustand wird zum Kurzporträt des Lebens in einer Diktatur. Betreuer und Ansprechpartner für den recherchierenden Journalisten ist ein Regierungsbeamter mit Namen Robles, der die „offiziellen" Dokumente über den Fall des Verschwundenen bzw. angeblich ins Nachbarland ausgereisten Vater dem Journalisten übergibt, im Gespräch mit Garces aber prinzipielle Distanz zu diesem Typ politischer Dokumentation erkennen läßt. Dieser Gesprächskontakt ist Ausgangspunkt für eine unerwartete Wendung der Handlung. Mit professioneller Neugierde verfolgt und verstärkt der Journalist die distanzierte Haltung seines „Betreuers", um mehr über das wahre Leben in Calanda zu erfahren. Robles legt zunehmend verwirrte Zurückhaltung an den Tag und verbirgt mühsam seine Zweifel sowie ein schnell wachsendes, bald eiförmiges Furunkel am Halse. Bei einem der nächsten Treffen wird seinem Gast offenbar, daß Robles ein „zweiter Kopf" gewachsen ist, den dieser insbesondere vor allen ihn bespitzelnden Landsleuten verbergen muß. „[...] Es ist kein Ei mehr. Es ist ein Kopf geworden. Ich habe zwei Köpfe, Garces. Ich bin ein Phänomen. [....]. (155) Er fühlt sich zu einer Erklärung genötigt und gibt Garces „offizielles" Material über diese eigentümliche, ansteckende Krankheit in Calanda. 5

Zitiert nach der Übersetzung von Eva Grünstein, in: Kein Wort von Hörspiele. Berlin, Henschel-Verlag, 1986 (dialog), S. 139-167.

Einsamkeit.

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Jens Häseler ROBLES [...] sehen Sie sich mal die Fotos an. Interessant nicht? Wir sind Phänomene mit einem höheren Sinn für Moral. Und vorübergehende Phänomene. In ein paar Tagen ist mein zweiter Kopf verschwunden, ohne eine Spur seiner kurzlebigen Existenz zu hinterlassen. [...] (155)

Bedrückt erklärt Robles weiter über das aus ihm herauswachsende Doppel: „Er versteht und denkt. Das ist das schlimmste." (155) Doch, während für den Hörer immer deutlicher wird, daß hier, wie in den Erzählungen von Julio Cortázar, irrationale Elemente die scheinbar normale Wirklichkeit grotesk verfremden, hat Garces den Grund und die Tragweite der Persönlichkeitsspaltung seines Gegenüber nicht verstanden. Robles stöhnt nur: „ ...es ist unsagbar ermüdend. Er denkt, was ich nicht denken will. Und ganz schlimm wird es erst, wenn er spricht." (155) Garces und Robles verharren über zwei weitere Sequenzen darin, das Problem auf medizinischer Ebene zu diskutieren. Wie ist der Verlauf dieser „Krankheit" und wie kann man sie heilen? Für Garces wird klar, daß er es mit einem journalistisch lohnenden Phänomen - einer bis dato unbekannten Epidemie - zu tun hat. Nach wenigen Tagen sieht sich Robles gezwungen, seinem Gesprächspartner gegenüber noch deutlicher zu werden, damit dieser ihn gegenüber dem Hotelpersonal nicht verrät. Der zweite Kopf bildet sich eben nicht zurück. Ganz im Gegenteil. Er entwickelt sich. Sie haben sein erstes Wort gehört: ,Bruder'. Noch in derselben Nacht hat er perfekt gesprochen. Er beschuldigte mich, er klagte mich an. (158)

Während eines schrecklichen Alptraumes trennt sich sein „Bruder" von Robles, d.h. er wurde „geboren". Auch jetzt noch versucht Robles seine kompromittierende Existenz zu verbergen. Gutes Zureden habe nicht geholfen, stellt er verzweifelt fest: In allen Tonarten habe ich es mit ihm versucht, aber ER ist unglaublich stur. Absolut unzugänglich, mit fixen Ideen. Ein Moralist! Solche Typen sind eine öffentliche Gefahr. - Wenn man den auf die Straße läßt, wird er Terrorist, das kann ich Ihnen versichern. (159)

Die Argumentationsebene der Gesprächspartner hat sich von der medizinischen zur praktisch-politischen Ebene verschoben, ohne die Spannung zu der dem Hörer bereits zugänglichen moralischen Beurteilung aufzuheben. Der Journalist erkennt in der Berichterstattung über diese Spaltung der Bevölkerung von Calanda, deren Anzeichen er nun auch bei den Hotelangestellten Maria und Nicomedes, sowie vielen anderen erkennt, sein eigentliches Thema. Währendessen „löst" Robles sein

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Problem, indem er den „Bruder" tötet, nachdem er ihn nicht überzeugen konnte, ins Exil zu gehen. Diese Tat zwingt ihn selbst in den Untergrund, er wird frei von „offiziellen" Verpflichtungen und nimmt nun den Charakter seines Bruders an. Das ist die erste überraschende Wendung der Handlung nach ihrer parabolischen Doppelung. Die körperlich durchgeführte Gewissensspaltung des Haupthelden schlägt um in einen mimetisch nachvollziehbaren Sinneswandel. Die zweite überraschende Wendung der Handlung führt zu einem selbstreflexiven Textkommentar, Figuren und Erzählerinstanz werden verschmolzen: Garces muß feststellen, daß seine Londoner Redaktion aus außenpolitischen Rücksichten keine kritischen Darstellungen von Calanda haben will und er den Beruf des Journalisten aufgeben muß. Es bleibt ihm nur, diese Geschichte der Zwillinge von Calanda in einem dramatischen Stück, einem Hörspiel zu verarbeiten. Die zuvor „angestrebte" journalistisch-dokumentarische Verarbeitung dieser Geschehnisse ist an ihre Grenzen gestoßen. Nur eine fiktionale, literarische Darstellung vermag ihr noch beizukommen, vermag, ihre höhere Wahrheit zu erfassen. Beide Figuren schließen sich am Ende den in der Stadt illegal demonstrierenden „Brüdern" und „Schwestern" an. Während die konkrete Verortung der Handlung in Eine Tulpe, ein Stein, ein Schwert im Chile des Jahres 1982 Ansatzpunkte für die Auseinandersetzung mit der aus dem Putsch von 1973 hervorgegangenen Militärdiktatur liefert, strebt der Autor von Die Zwillinge von Calanda eine stark verallgemeinerte Darstellung des Problems von Anpassung und wachem Gewissen in einer Diktatur an. Die Züge von Rückständigkeit und Isolierung Calandas - die Zeit ist stehengeblieben, das Land scheint von der zivilisierten Welt „vergessen" zu sein, das Problem der „Verschwundenen" und die vordergründige Situierung „in Lateinamerika" verweisen auf die Besonderheiten der Militärdiktaturen des Subkontinents in den 70er und 80 Jahren. Die typisierende, parabolische Darstellung mit Anklängen an Texte Orwells legt allerdings eine weitergehende Interpretationsmöglichkeit nahe, die auf Diktaturen überhaupt zielt. Für den Hörer des DDR-Rundfunks bot sich durchaus die Vergleichsmöglichkeit zu einer gewissen Abgeschiedenheit, zu ideologischem Dogmatismus und Doppelmoral, wie sie Ausgangspunkt der Kritik am Stalinismus war. Unter der Maske einer „exotischen" Kritik an den Militärdiktaturen Lateinamerikas wurde eine allgemeine Kritik an totalitären politischen Systemen und der außenpolitischen Komplizenschaft der westlichen Welt erkennbar. Das psychologisch wesentlich differenzierter ausgearbeitete Stück, Der Konsul und die Terroristin von Omar Saavedra Santis, das der Südwestfunk Baden-Baden 1988 produziert hat, greift in prägnanter und dramatisch verblüffender Weise eine ähnliche Thematik auf. Ein altern-

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der und erfolgloser schwedischer Berufsdiplomat verzweifelt an der Ödnis seines Konsularpostens in einem südamerikanischen Land, dessen Militärdiktatur seit zehn Jahren Angst und Schrecken verbreitet und für die Diplomaten nichts als quälende gesellschaftliche Isolation bedeutet. Diplomatisch korrekt versucht der Hauptheld Sven Jacobsonn, auch in Anbetracht brutaler politischer Verfolgung „neutral" zu bleiben. Immer schlechter gelingt es ihm, seine persönliche Verzweiflung und die Hilflosigkeit gegenüber der allgegenwärtigen Verfolgung mit dem landestypischen Branntwein zu bekämpfen. Nachdem er von seiner einheimischen Sekretärin Sonia vom Schicksal des Sohnes ihrer Freundin, dem „verschwundenen" Pablo Acevedo, erfahren hat, verfällt er im Traum, im Delirium, in Wirklichkeit - diese Möglichkeiten werden durch das Spiel mit den „nur" akustischen Möglichkeiten des Hörspiels bewußt offen gehalten - auf die Idee, gemeinsam mit der Mutter Pablos seine eigene Geiselnahme vorzutäuschen, um den „Verschwundenen" freizupressen. Die Szenen der Geiselnahme und der Verhandlungen mit dem Militär erhalten durch dialogreiche und detaillierte Darstellung eine hohe Suggestivkraft. Es scheint nachvollziehbar, daß in bestimmten Situationen „vorgetäuschte" Gewalt legitimes Mittel des Widerstandes gegen solche jedes menschliche Gesetz überschreitende Willkürherrschaft ist. Ob im Traum, im Delirium oder „real" im Stück diese Inszenierung stattgefunden hat, oder ob sich der Diplomat aus Verzweiflung mit seiner Dienstwaffe verletzt hat, sein Ausbruch aus der Lethargie, das Überschreiten der diplomatischen Konventionen und die offenbare (geistige) Solidarisierung mit den Opfern wird von Sonia stellvertretend für die Einheimischen sehr wohl verstanden. Beide Linien der künstlerischen Arbeit setzten sich in den 1980er Jahren fort. Die Verankerung des Geschehens in der Erfahrung der chilenischen Geschichte und Lateinamerikas und die Auseinandersetzung mit allgemeineren, moralischen Problemen, die als Reflex auf die Erfahrungen des Lebens im europäischen (und speziell DDR-) Exil erklärbar zu sein scheint. Spiel gegen die Zeit von Carlos Cerda, wurde, wie Die Zwillinge von Calanda, 1982 produziert, unterscheidet sich aber von den vorher erwähnten Hörspielen durch die ausdrückliche Verarbeitung von Erfahrungen des Lebens im Berliner Exil. Es ist eine autobiographisch gefärbte Verschachtelung von Szenen auf drei Ebenen. Alberto, ein Chilene im Exil in (Ost-) Berlin verfolgt im Fernsehen das Weltmeisterschaftsspiel im Fußball. Er kann sich seinem in Chile gebliebenen Vater verbunden fühlen, da er gewiß ist, das dieser zu gleicher Zeit das Spiel verfolgt. Die Fernsehübertragung und die Unterbrechungen durch Telefonate und den Besuch von Carmen, seiner geschiedenen Frau, die mit ihrem ge-

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meinsamen Sohn nach Santiago zurückgehen will, treten in eine erzählerische Spannung zu der gerade entstehenden Kurzerzählung des Chilenen, die von den früheren gemeinsamen Besuchen mit dem Vater in einem ärmlichen Fußballstadion Santiagos und ihrem späteren gemeinsamen politischen Engagement für die Unidad Populär, seiner Verhaftung im Nationalstadion und der Ausreise über die finnische Botschaft handelt. In der funkdramatischen Anordnung laufen die Stimmen des Fußballkommentators, die Gespräche des Chilenen in der Berliner Wohnung und die Stimmen der handelnden Personen jener im Entstehen begriffenen Erzählung ineinander. Dichter als eine Prosaerzählung es vermag, gelingt es dem Hörspiel, den Hörer Anteil nehmen zu lassen an den Handlungs- und Erirtnerungsebenen der Hauptperson, ihn seine Zweifel und Hoffnungen teilen zu lassen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, dem politischen Kampf in Chile und den Ereignissen, die viele ins Exil zwangen, verbindet sich in diesem Hörspiel aufs engste mit der Betrachtung über das Leben im deutschen Exil, über die neu geknüpften Beziehungen. Spiel gegen die Zeit ist ein doppeltes Spiel mit Lebenszeit in zwei Welten, die getrennt und untrennbar sind. Gewonnene Zeit und Möglichkeiten auf der einen Seite sind Zeitverlust auf der anderen. Alberto fragt sich und Carmen: Was ist ein fremdes Land? Und was ist eine Heimat? Ist eine Heimat nicht die eigene Erde, die wir menschlich bewohnbar machen? Ist sie es aber noch, wenn man uns daran hindert? 6

Fast zehn Jahre nach der Produktion des Hörspiels nimmt Carlos Cerda eine Prosafassung - die Erzählung unter dem Titel „Ferrobädminton"- in den kurz vor seinem Tod erschienenen Band Escrito con U auf. Die Hörspielfassung erscheint wie eine auf die spezifischen Möglichkeiten des Radios zugeschnittene Vorform dieses literarischen Textes. Kein Reisender ohne Gepäck von Carlos Cerda8 und Fall im Morgengrauen von Omar Saavedra Santis (beide 1988) bilden eine Art Schlußpunkt für das funkdramatische Schaffen beider Autoren im Exil in der DDR. Beide Stücke thematisieren, in künstlerisch sehr verschiedener Verallgemeinerung, das Problem des Erinnerns und der Verantwortung des Einzelnen seinem Nächsten gegenüber. Kein Reisender ohne Gepäck unterwirft den Haupthelden einem verführerischen Abstieg ins Jenseits im Verlaufe dessen er Gewissensfragen 6 7 8

Zitiert nach dem Sendemanuskript, S. 16. Santiago d e Chile 2001, S. 23-37. Carlos C e r d a w a r bereits Ende 1985 nach Chile zurückgekehrt, als es greifbare Anzeichen für die Rückkehr zur Demokratie gab.

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beantworten muß und die Chance erhält, seine gegenüber verschiedenen ihm nahestehenden Personen eingegangene Schuld abzutragen oder zu verleugnen. Die Handlung ist als phantastisch-absurdes Radioquiz angelegt, dessen Gewinn eine außergewöhnliche Reise ist, eine Reise, die sich als Abstieg in das Inferno des Vergessens - ein verkehrter „Orpheus in der Unterwelt" - darstellt. Die verzweifelten Rufe seiner zurückgelassenen Frau, seiner Geliebten und seines Sohnes, machen die Hörer mit den verdrängten, dunklen Stellen seiner angepaßten Biographie bekannt. Der letztlich feige Hauptheld hatte gedacht, diese Reise ohne das Gepäck, ohne die Opfer seiner Anpassung an die gesellschaftlichen Konventionen und die Zwänge des Lebens in einer an die chilenischen Verhältnisse gemahnenden Diktatur unternehmen zu können. Der Preis ist Vergessen und Verdammnis. Das vielfältig variierte Motiv des Abstiegs in die Hölle verhilft Carlos Cerda zu einer leicht und fesselnd geschriebenen Hörfunkgeschichte mit scharfem sozialkritischen Impetus. Wie bereits in Die Zwillinge von Calanda setzt er vorzugsweise phantastische Erzählelemente ein, um die Diskrepanz von Alltagsverhalten und Moral herauszuheben. Er beweist seine Nähe nicht nur zur Theatertradition eines Jean Cocteau oder Fernando Arrabal sondern auch zur phantastischen Literatur des „Cono Sur", für die Namen wie Jorge Luis Borges, Julio Cortázar und José Donoso stehen. Omar Saavedra Santis, der parallel eine beachtliche Zahl von Romanen vorgelegt hat und weiterhin regelmäßig für Film und Fernsehen arbeitet, hat mit Fall im Morgengrauen ein Zwei-Personen-Radiostück geschrieben, das aus einer phantastisch verfremdeten Grundkonstellation mit viel Witz und Humor einen Dialog entwickelt, der sehr ernsthaft auf die Fragen von Schuld, Verantwortung und Macht eingeht. Ein Fensterputzer, Polizist in Chile bis September '73 und dann Folteropfer, trifft an einem frühen Morgen vor dem 19. Stockwerk eines Hochhauses auf Don Angelo, einen zur Desertion entschlossenen Vertreter der Himmelsmacht. Der Engel fragt nach dem irdischen Respekt für die Mächtigen und sieht sich in seiner Skepsis den eigenen Vorgesetzten gegenüber bestätigt. Dem eingeschüchterten Fensterputzer erklärt er direkt: ANGELO Wir sind nicht mehr die von früher. Schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Unsere Tätigkeit ist bescheidener geworden. Eigentlich tun wir gar nichts mehr. Weder für noch gegen jemanden. Und selbst die Fachleute haben inzwischen Interpretationsprobleme mit uns. MORAGA Kaum zu glauben. ANGELO Wir beschränken uns darauf, euch mehr mittels eurer Einbildung als unserer Tatkraft zu beeinflussen. (6)

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Aus Unzufriedenheit über diese Untätigkeit seines höchsten Vorgesetzten will der Engel sich auf die Erde verabschieden, um so, ganz selbstlos, eine himmlische Revolution zu bewirken. Der Fensterputzer versucht, ihn kameradschaftlich aufzumuntern, verpflegt ihn mit seinem Frühstücksbrot und kann ihn über die Existenzberechtigung der Himmlischen „beruhigen": ANGELO ...Was würde geschehen, wenn ihr keine Angst mehr hättet? MORAGA Dann wären wir unsterblich, Don Angelo. Aber es ist eine zu ferne Utopie, als daß es sich lohnte, darüber nachzugrübeln. Dieser Kontinent und dieses Land bringen nicht nur Kupfer, Kakao, Zinn, Kaffee und Musik hervor, sondern vor allem Angst und Särge. Und solange das so ist, werden wir auch mit mehr oder weniger Zuversicht an euch glauben. Und weiter von einem gerechten Frieden im Himmel träumen. Ohne natürlich zu vergessen, daß der Krieg hier unten weitergeht und nur wir selbst ihn gewinnen oder verlieren können. (19)

Trotz ähnlichen Bedauerns über das Verschwinden der Liebe zwischen den Menschen, reden Don Angelo und der Fensterputzer bei diesem Thema aneinander vorbei: „Angelo: Ein irreparabler Schaden in der Ökologie der Gefühle, mein Lieber. Die Liebe zum Nächsten gehört beinahe schon der Vergangenheit an." (21) Moraga stimmt ihm zu, findet aber Liebe zu der Nächsten wesentlich interessanter und versucht den Engel von den Freuden des irdischen Daseins zu überzeugen. Mehrere handfeste Beispiele für couragierte Lebenseinstellungen von Erdenbewohnern tragen dazu bei, daß Don Angelo sich schließlich in seiner Mission bestärkt fühlt und - wohl aus veränderten Motiven, entschieden hat, zu den Menschen zu „fallen". Ein so humorvolles und gleichwohl ernstes Hörspiel über Politik, Moral und menschliches Hoffen ist in der deutschen Hörspiellandschaft schwerlich noch einmal zu finden. Der Dialog zwischen den zwei Verweigerern findet in luftiger Höhe statt, zwischen Himmel und Erde, und erinnert doch in seiner freizügigen Diskussion der Geheimnisse beider Sphären an die lange literarische Tradition der Totengespräche im Jenseits. Im Unterschied zu diesen eher philosophisch kontemplativ angelegten Dialogen bezieht dieses Hörspiel seine besondere Spannung aus der Rahmenhandlung, dem beabsichtigten, herausgezögerten und schließlich beschlossenen „Fall" des Engels. Dieser gibt dem Hörer ein breites Spektrum an Deutungsmöglichkeiten, die den Reichtum und die Tiefe der politischen, moralischen und philosophischen Diskussion zwischen den beiden so ähnlichen und doch so verschiedenen Figuren ausmachen. Unvermeidlich ist die Analogiebildung zur Menschwerdung Christi und zum christlichen Erlösungsversprechen. Selbstironisch ver-

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weist Don Angelo mehrmals auf die himmlische Mission und deren inzwischen vielfältige und widersprüchliche Deutung auf Erden. Eine zweite Deutungsmöglichkeit, die mehrmals ironisch im Räume steht, ist die von Erlösungsversprechen politischer Bewegungen, sofern sie beanspruchen, den Platz allen menschlichen Hoffens einnehmen zu können. In klassisch aufklärerischer Manier steht solchen Ansprüchen der praktische Sinn des Fensterputzers gegenüber, der vom Glück des einfachen Lebens, vom Preis der Bohnen und der Liebe zur Nächsten spricht. Don Angelo wird durch diesen „bon sens" soweit angesteckt, daß er auf die Frage des Fensterputzers, in was für einen Menschen er sich denn nach seinem „Fall" verwandeln wird, „in einen anständigen Menschen oder in einen Hurensohn?", antwortet: „Sie werden es erkennen - an meinen Werken." (28) Ein Schluß, der wohl nicht zufällig an Voltaires „Cultivons notre jardin" im Cartdide erinnert. Carlos Cerda und Omar Saavedra Santis begannen Anfang der 80er Jahre, das Hörspiel als künstlerische Ausdrucksform neben anderen literarischen Gattungen zu nutzen. Sie erkundeten seine Gestaltungmöglichkeiten und machten sie sich in vielfältiger Form zunutze. Vom Kriminalhörspiel bis zum „philosophischen" Dialog reicht die Palette der Formen. Im einzelnen kann man literarischen Einflüssen aus der modernen Theatertradition Europas und Lateinamerikas nachgehen. Bei Carlos Cerda ist gelegentlich die Inspiration durch die phantastische Literatur Südamerikas deutlich zu spüren. Die räumliche Verortung der Handlung verweist in der Mehrzahl der Texte auf Chile und thematisiert, meist indirekt und „unaufdringlich", die Situation des Heimatlandes nach dem Militärputsch vom 11. September 1973. Die eigentlichen Themen der Stücke lassen sich aber nicht auf den durch die Verortung gegebenen historisch-politischen Kontext reduzieren. Sie sind sehr verschieden und kreisen um die schwierigen Fragen nach der Verantwortung des Einzelnen, nach dem Stellenwert von Moral, Gewissen und Erinnerung in repressiven Gesellschaften. Sie erlangen durch souveräne künstlerische Gestaltung einen hohen Allgemeinheitsgrad und sind sehr wohl auch in europäischen Kontexten interpretierbar. Strukturelle Ähnlichkeiten im Widerspruch zwischen Macht und Individuum machen einige von ihnen auch „hörbar" als Kritik an stalinistischen Zügen sozialistischer Gesellschaften bzw. wie bei Fall im Morgengrauen als skeptische Antwort auf jegliche Art von Erlösungsideologien. Anfangs vielleicht wahrgenommen als fremde, exotische Stimmen aus dem fernen Chile, wurde den deutschen Hörern zweifellos schnell deutlich, daß in den Hörspielen der chilenischen Autoren auch ihre

Fremde Stimmen im Äther?

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Hoffnungen, Zweifel und Wünsche Ausdruck fanden.9 Etwas fremd und doch so nah, könnte eine kurze erste Bilanz zum Hörspiel chilenischer Autoren in der DDR lauten.

Literatur Sibylle Bolik: Das Hörspiel in der DDR. Frankfurt/Main 1994. Waltraud Jährlichen: „Dem Furchtbaren mit Hoffnung begegnen. Chile im Hörspiel der DDR", in DDR-Literatur S4 im Gespräch. Berlin 1985, S. 89-108. Martina Polster: Chilenische Exilliteratur in der DDR. (Magisterarbeit, HumboldtUniversität, 1996. Marburg 2001) Hörspieltexte 1981 Carlos Cerda/Omar Saavedra Santis: Eine Uhr im Regen. [Dramaturgie: Hans Bräunlich.] [Zitiert nach Deutsches Rundfunkarchiv Potsdam-Babelsberg (DRA), Schriftgut Hörfunk, Signatur: B 009-00-04/1256.] 1982 Carlos Cerda: Spiel gegen die Zeit. Aus dem Spanischen von Eva Grünstein. Ursendung 17.2.1983, Berliner Rundfunk, Länge: 45'40, Dramaturgie: Hans Bräunlich, Regie: Fritz Göhler, Ton: Peter Kainz. [Zitiert nach Deutsches Rundfunkarchiv Potsdam-Babelsberg (DRA), Schriftgut Hörfunk, Signatur: B 009-00-04/1319.] 1982 Carlos Cerda/Omar Saavedra Santis: Eine Tulpe, ein Stein, ein Schwert. Aus dem Spanischen von Leni López, in: Dame vor Spiegel: Hörspiele, Berlin, Henschel Verlag, 1984 (dialog), S. 165-199. [Ursendung 7.9.1982 Radio DDR I, Länge 54'09, Dramaturgie: Hans Bräunlich, Regie: Fritz Göhler, Ton: Getraude Paaschke.] 1984 Carlos Cerda: Die Zwillinge von Calanda, oder Über einige Gesetzmäßigkeiten bei der Entwicklung politischer Phänomene. Aus dem Spanischen von Eva Grünstein, in Kein

Wort von Einsamkeit. Hörspiele. Berlin, Henschel-Verlag, 1986 (dialog), S. 139-167. [Ursendung 30.6.1984, Stimme der DDR, Länge: 54'15, Dramaturgie: Hans Bräunlich, Ton: Jürgen Meinel, Regie: Fritz Göhler, Musik: Jürgen Ecke.] 1988 Carlos Cerda: Kein Reisender ohne Gepäck. Aus dem Spanischen von Leni López, in: Steig der Stadt aufs Dach. Hörspiele. Berlin, Henschel-Verlag, 1990 (dialog), S. 39-

68. [Ursendung 9.7.1988, Stimme der DDR, Länge: 54' 42, Dramaturgie: Hans Bräunlich, Ton: Günther Wärk, Regie: Fritz Göhler, Musik: Jürgen Ecke.]

9

Die Mehrzahl der hier genannten Hörspiele wurde auch in der BRD, insbesondere im Südwestfunk Baden-Baden produziert oder übernommen. Diese gegenseitigen Übernahmen waren allerdings auch für DDR-Autoren keine Seltenheit. Eine genauere Untersuchung des chilenischen Hörspiels in Deutschland müßte die Unterschiede der Produktionen aufgrund des akustischen Materials einbeziehen und vor allem die Rundfunkarbeiten von in der BRD lebenden Autoren wie Antonio Skärmeta und Luis Sepülveda berücksichtigen, was in diesem kurzen Überblick nicht möglich war.

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1988 Omar Saavedra Santis: Der Konsul und die Terroristin. [El consul y la terrorista] [Südwestfunk Baden-Baden, Dramaturgie: Dieter Hirschberg, Theaterbearbeitimg durch die Erzählbühne im Manufakturtheater, (West-) Berlin.] 1988 Omar Saavedra Santis: Fall im Morgengrauen. Übersetzt von Ramona Strazynska, [Ursendung: 24.6.1989, Stimme der DDR, Länge: 51'15. Dramaturgie: Hans Bräunlich, Regie: Fritz Göhler, Ton: Hans Blache.] [zitiert nach Deutsches Rundfunkarchiv Potsdam-Babelsberg (DRA), Schriftgut Hörfunk, Signatur: B 009-00-04/1660]

Jens Häseler (1958) Studium der Romanistik an der Humboldt-Universität Berlin. 1991 Promotion an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 1995 Lehraufträge für französische, spanische und lateinamerikanische Literatur an der Universität Potsdam. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum Europäische Aufklärung, Potsdam. Publikationen: „Carlos Fuentes Geschichtsbücher", in Lateinamerikanische Literaturen im 20. Jahrhundert. Autoren - Werke - Strömungen, hrsg. von Christoph Links. Frankfurt/Main 1992, S. 150-166; Ein Wanderer zwischen den Welten. Charles Etienne Jordan (1700-1745). Sigmaringen 1993; La correspondance passive de Formey: Briasson et Trublet (1739-1770), hrsg. von M. Fontius, R. Geißler und J. Häseler. Paris, Genf 1996; „Der Ort der Geheimliteratur in der Frühaufklärung", in Die Philosophie und die BellesLettres, hrsg. von M. Fontius, Werner Schneiders. Berlin 1997, S. 137-150; La vie intellectuelle aux Refuges protestants. Actes de la Table Ronde de Münster 1995, hrsg. von Antony McKenna und Jens Häseler, Paris 1999; „Das Ende der französischen Präsenz in Preußen. Rückblicke", in Französische Kultur - Aufklärung in Preußen. Akten der Internationalen Fachtagung vom 20./21. September 1996 in Potsdam, hrsg. von Martin Fontius, Jean Mondot. Berlin 2001, S. 219-226.

„Erkenne Dich selbst" ist unser ältestes philosophisches Gebot, nicht ungefährlich, wenn man es befolgt, und daher verdammt schwierig; deshalb flüchten wir uns auch so eilig in Unwissenheit darüber, wer und was wir sind, wenn wir unsere Liebes- und Machtspiele spielen. Für unsere Bündel an Ticks, Gewohnheiten, Regeln und Bestimmungen, Tugenden und Illusionen, die es uns ermöglichen, in diesem empfindlichen Alptraum, Zivilisation genannt, zu leben, ist Selbsterkenntnis ein Risiko. George Tabori

Vom Exil in die 14. Provinz: Alexander Stillmark spricht mit Carlos Medina1 Ab und zu werde ich noch gefragt: „Warum sind Sie damals in die DDR gegangen?" Dafür gab es zwei Gründe. Der eine war politischer Natur: Ich wollte mit eigenen Augen den real existierenden Sozialismus sehen. In der Zeit von Allende sprachen wir in Chile auch vom Sozialismus. Wir träumten davon eine Gesellschaft mit einer gerechteren, würdigeren und demokratischeren Lebensform aufzubauen. Bei dem anderen ging es um mein Interesse als Künstler. Ich wollte das Theater von Bertolt Brecht kennenlernen und gründlich studieren. Ich hatte zwar einige seiner Theaterstücke gelesen, kannte aber seine Vorstellungen, seine Theorien und Versuche, wie er sie nannte, nicht. Das waren die Gründe, für mich mächtige Gründe, die mir von Anfang an geholfen haben, Zweifel und Hindernisse zu überwinden, egal ob geographischer, klimatischer, sprachlicher, politischer oder künstlerischer Natur, die sich mir in den Weg stellten. Das Wichtigste war lernen. Es gibt ein Sprichwort: „Wenn du weißt, was du willst, geh dahin, wo du es bekommst." Darum damals die DDR. Das war nicht leicht, gleich nach dem Militärputsch in Chile, und schon gar nicht als Gruppe. STILLMARK Eine ganze Gruppe? MEDINA Einige Mitglieder unseres TEATRO NUEVO POPULAR, das wir in Chile gegründet hatten. STILLMARK Das TEATRO NUEVO POPULAR war so etwas wie der Theaterbruder von NUEVA CANCIÓN CHILENA, das Neue Lied Chiles ? MEDINA Ja, sicher, wir hatten dieselben politischen Ziele und was die

MEDINA

1

Berlin, Frühjahr 2001.

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Kunst angeht, suchten wir neue Formen und Inhalte. Das war damals ein gewaltiger Aufbruch, vor allem nach dem Sieg der UNIDAD POPULAR mit Salvador Allende an der Spitze. Wir wollten alles anders machen, die Realität verändern. Wir fühlten uns als Teil eines Veränderungsprozesses, und wir Künstler nahmen mit den Mitteln der Kunst an der Verwirklichung eines Traums Teil, den wir für gerecht und edel hielten. Jeder an seiner Front und so gut er es konnte. STILLMARK In welcher Schauspielschule warst du? MEDINA

I n d e r S c h a u s p i e l s c h u l e d e r UNIVERSIDAD DE CHILE i n S a n t i a g o ,

wo ich 1969 meinen Abschluß als Schauspieler machte. 1970 bekam ich ein Engagement am Universitätstheater (TUC) in Concepción.

STILLMARK

W i e w a r das?

MEDINA ES herrschte überall große politische Begeisterung. Das Leben spielte sich draußen ab, auf den Straßen, auf den Plätzen, während wir in unseren vier Wänden eingeschlossen blieben. Intendant des Theaters war damals Atahualpa del Chioppo, und der sagte: „Was machen wir hier drinnen im Theater? Die Realität spielt sich da draußen ab, auf der Straße." Und dann sind wir auf die Plätze gegangen, in Armenviertel, Fabriken und aufs Land, um zu spielen. STILLMARK Ich kenne Atahualpa del Chioppo nur als Legende, als großen Erneuerer des Theaters in Uruguay und Begründer der Grupp e E L GALPÓN.

MEDINA Er hat dem Theater in ganz Lateinamerika neue Impulse gegeben. Es war kein Zufall, daß er gerade in dieser Zeit des großen Umbruchs nach Chile kam. Er war damals schon 75 Jahre alt, aber geistig ein sehr starker, ein junger Mann von großer Weisheit und Großzügigkeit. Er war der erste, der mir die Möglichkeit gab, Regie zu führen. Wir wollten Los papeles del infierno, eine Trilogie des Kolumbianers Enrique Buenaventura, inszenieren. Bei der Verteilung der Aufgaben blieb ein ganz kleines Stück übrig, fast ein Gedicht. Niemand interessierte sich dafür. Ich dachte über dieses Stückchen nach und sagte ihm, wie ich es mir vorstellte. Dabei hatte ich nicht die Absicht, Regie zu führen. Aber er sagte: „Das finde ich gut, probiere es einmal." Das war meine erste Erfahrung als Regisseur. Dabei ist mir klar geworden, daß ich außer als Schauspieler, auch als Regisseur arbeiten wollte. Das verdanke ich Atahualpa del Chioppo. Er hatte die große Fähigkeit, die nicht alle Lehrer haben, er konnte andere machen lassen. Er hatte die Leitung über das Gesamtprojekt, und uns hat er machen lassen. Dasselbe habe ich auch von vielen, die mit ihm an der VOLKSBÜHNE gearbeitet haben, über Benno Besson gehört.

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Wie war das, als ihr so direkt Teil dieser Realität draußen wurdet? MEDINA Wenn wir in einen Ort kamen, wo wir spielen wollten, haben wir uns erst einmal sachkundig gemacht. Wir haben mit den Leuten geredet, welche Probleme, welche Schwierigkeiten sie haben, mit welchen Vorstellungen sie leben. Dann haben wir uns versammelt und aus diesem Material ein Thema gewählt und damit improvisiert, auf improvisierter Bühne. Danach gab es ein Gespräch mit den Zuschauern. Das war eine phantastische Erfahrung, nicht nur als Schauspieler, es war auch eine Schule des Lebens. So war das damals. Es war einfach... notwendig. STILLMARK Innerhalb der politischen Auseinandersetzung waren es vor allem soziale Fragen, mit denen ihr euch beschäftigtet? MEDINA Alles, was die neue Situation erforderlich machte... Wir nannten uns TEATRO NUEVO POPULAR. Wir suchten neue Inhalte, neue Formen und neue Mittel. Wir hatten begriffen, daß die Beziehung zwischen Bühne und Zuschauer nicht mehr wie früher funktionierte. Jetzt gab es einen Chor, eine aktive, kritische Menge STILLMARK Hattet ihr dafür feste Stücke? MEDINA Ja, auch, sie wurden den jeweiligen Umständen angepaßt, dabei haben wir eine eigene Methode entwickelt, die uns erlaubte, die Aufführungen beliebig zu verändern. Wir haben zum Beispiel ein Stück aufgeführt, das bei einem Wettbewerb neuer Autoren ausgezeichnet worden war. Es hieß La maldición de ia palabra, der Autor war Manuel Garrido. Es zeigte die Schwierigkeiten der Bauern, sich zu organisieren und ihre Unfähigkeit, sich zu artikulieren. STILLMARK Sie hatten keine eigene Sprache? MEDINA Sie waren unfähig ihre eigenen Vorstellungen zu artikulieren oder sie dem Patron gegenüber zu verteidigen. Vor der geschickten Eloquenz des Großgrundbesitzers verstummten sie. Dieses Schweigen zu brechen, war ein gewaltiger Befreiungsakt. Die Schlußszene zeigt die Bauern, wenn sie zum Patron gehen, um ihn darüber zu informieren, daß sie in die Gewerkschaft eingetreten sind. Das Gesetz schrieb vor, daß die Bauern einen solchen Beschluß dem Patron mitteilen und begründen mußten. Nach langem Schweigen der Bauern, in dem nur der Patron redet und redet, löst einer der Bauern den Blick vom Boden, hebt den Kopf und bricht das ewige Schweigen. Die Reaktion bei den Zuschauern, in der Mehrzahl Bauern, war derart, daß wir die Vorstellung kaum zu Ende bringen konnten. STILLMARK Du hast in der DDR auch eine solche Situation gesehen. Du STILLMARK

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hast die DDR-Kollegen in ihren Theatern gesehen, wie sie dem Intendanten gegenüber sprachlos waren. MEDINA Sie schwiegen, nicht etwa, weil sie keine Meinung hatten, sondern weil sie eine hatten. Das war eins der größten Probleme für mich. Ich kam aus einer sehr gespannten politischen Situation, in der die Meinungsfreiheit ein wichtiger Bestandteil des revolutionären Prozesses war. In ein sozialistisches Land zu kommen und festzustellen, daß es keine Meinungsfreiheit gibt, und daß die Menschen dies duldeten... Das Schmerzlichste war die Selbstzensur; sie knebelten sich selbst. Die Angst war zu groß. Angst vor dem totalitären System. Mir fällt ein Gedanke von Jean-Paul Sartre ein: „Freiheit ist, was du mit dem tust, was man dir getan hat." STILLMARK Eine vergleichbare Situation nach 1989, im TACHELES2, was das freie Arbeiten angeht? MEDINA

Ja.

STILLMARK

Könntest du sagen, daß es da eine Verbindung gibt? Die

e r s t e n J a h r e m i t d e r UNIDAD POPULÄR u n d d i e e r s t e Z e i t i m TACHELES?

MEDINA Ja, unbedingt. Ich habe meine Theatererfahrung, meine Ausbildung als Schauspieler an einem Stadttheater gemacht. Dann bin ich in so etwas wie ein Kollektiv gegangen, und diese dreijährige Erfahrung hat mich sehr stark geprägt. Und als ich nach Rostock kam, war da immer die Sehnsucht, so zu arbeiten. Jeder hat seine Funktion, und jeder kann nicht nur mitreden, sondern auch mitmachen. Und das war hier durch die Arbeitsteilung am Theater in der DDR nicht möglich. Ich bin für die Arbeitsteilung im Sozialismus, sie ist notwendig... STILLMARK Das war keine Erfindung des Sozialismus, das ist das deutsche Theatersystem. MEDINA Ja. Als ich dann später die Möglichkeit hatte, im Ausland zu arbeiten, habe ich bei Gruppen zugesagt, bei denen ich die Hoffnung hatte, das zu finden. Zum Beispiel das Kollektiv NEUE SZENE in Belgien war so eine Gruppe, sie ist in der 60er Jahren entstanden. Man arbeitete in einem Zelt, wo die Schauspieler auch andere Funktionen hatten, Requisite, Zelt aufbauen, abbauen, Transport, Beleuchtung... Da habe ich es wiedergefunden. STILLMARK DU hast deine Wurzeln wiedergefunden. MEDINA Genau. Und im TACHELES war es ähnlich. Eine wunderbare Zeit. Ich wußte jeden Tag, warum ich aufgestanden bin. 2

Kulturhaus in Ostberlin.

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D U warst in vielen Ländern im Exil, hast du dich isoliert gefühlt? MEDINA Nein, isoliert nicht. Es fängt schon mit dem Ort an. Jedes Theater hat ungefähr denselben Geruch. Und wenn du auf die Bühne kommst, fühlst du dich immer gleich, zu Hause. STILLMARK Ob Rostock oder Brüssel, Berlin oder Santiago, im Theater bist du zu Hause. Und die Fremde ist draußen. MEDINA Ja. Das war immer sehr schön. Man hatte einen Bezugspunkt. Da ist das Theater, da bin ich in Sicherheit. STILLMARK Du hast diese Art, wie beim N U E V O TEATRO POPULAR ZU arbeiten, nie aufgegeben. Ich meine, wenn du irgendwo hinkommst, siehst du dir an, was da ist, „vor Ort", sprichst erst einmal mit den Menschen, mal sehen, wie versteht man sich, welche Konflikte gibt es, worin besteht hier das Drama? Und dann fängst du an, dann geht deine Phantasie los. Du beginnst nie mit einem festen Konzept? MEDINA Ja und nein... STILLMARK Du bist vorbereitet, aber nicht mit einem festen Konzept. MEDINA Die reiche Erfahrung in Chile hat mich gelehrt, daß die Realität das Wichtigste ist, dann erst kommen Realismus und alle anderen „ismen". Bertolt Brecht forderte die genaue Kenntnis der Realität. Nicht die Kunst soll nachgeahmt werden, vielmehr das Leben. Mit den Mitteln der Kunst, versteht sich. Ein Entwurf wird während der Arbeit ständig verändert. Jemand hat einmal gesagt: „Was ich sehe, ist schön, was ich verstehe ist noch schöner, aber am schönsten ist das, was ich noch nicht verstehe." Mir fällt ein, was Gabriel Garcia Márquez gesagt hat, als er den Nobelpreis bekam: „Aber ich habe gar nichts erfunden, es war doch alles schon da." STILLMARK Mit Brecht zu arbeiten, hast du am REGIE-INSTITUT gelernt. Wann bist du ans BERLINER ENSEMBLE gekommen? MEDINA Ich hatte das Glück, bei der Inszenierung von Coriolan und später von Galileo Galilei zu assistieren. Meine Diplom-Inszenierung hatte ich schon am BERLINER ENSEMBLE gemacht. STILLMARK Das war Die Ausnahme und die Regel: MEDINA Ja. Die Inszenierung war für Schüler geplant, und ist sehr gut angekommen. Damals hatte Manfred Wekwerth für mich eine sehr schöne Idee. „Junge Leute wie du, wie Bunge, wie Brück und Axel Richter sollen mit Conny Zschiedrich auf der Probenbühne arbeiten. Ich möchte, daß ihr dort nicht nur ein bestimmtes Stück, sondern bestimmte Themen behandelt." Phantastisch. Das war das Theater, an dem ich immer arbeiten wollte. Mein Traum. STILLMARK

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Du hast dann den Kleinen Prinzen auf der großen Bühne gemacht. MEDINA Ja. Und danach Tage der Kommune. STILLMARK Und hast du genauso gearbeitet wie in Chile oder hat sich etwas verändert? MEDINA Nun, die kollektive Arbeit hat mich doch sehr geprägt. STILLMARK Wie würdest du einen guten Schauspieler beschreiben? MEDINA Laß mich die Frage so beantworten: Als ich im BERLINER ENSEMBLE und am DEUTSCHEN THEATER arbeitete, habe ich immer zu den Schauspielern gesagt. „Du mußt mir nicht zeigen, daß du gut bist, oder daß du Talent hast. Das weiß ich bereits. Mich interessiert, wozu du gut bist, Ich möchte, daß du dein Talent in den Dienst der Geschichte stellst, die wir erzählen wollen." Der Schauspieler muß seine Egozentrik überwinden und bereit sein, sich den Erfordernissen und Herausforderungen der Rolle unterzuordnen, die er spielen soll. Dazu gehört viel Mut, Einfühlungsvermögen, Entschlossenheit und Neugier, nicht nur auf die Rolle oder das Stück, sondern auch auf sich selbst. Nur so kann man an Grenzen gelangen und eine Wahrheit und Echtheit der Ausdrucksmittel erreichen, die jede Oberflächlichkeit und jeden Manierismus vermeidet, mit dem man nur die eigene Zeit vergeudet und die der anderen auch. Ich glaube, ein Schauspieler muß eine geistige Unruhe (Nonkonformismus) besitzen, - oft ist sie ihm nicht bewußt - etwas, das ihn treibt, diese Geschichte zu erzählen. Das ist eine Kraft, die ihn seine Angst überwinden läßt und ihn an die Grenzen bringt, auch die eigenen.

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Ich möchte mit einem Ausspruch von Jean Genet antworten: „Das Wesentliche des Theaters ist ein Zusammentreffen. Wer einen Akt des Opfers und der Erkenntnis begehen will, muß sich selbst begegnen. Das stellt eine tiefgreifende, disziplinierte, präzise und totale Konfrontation dar - nicht nur eine Konfrontation mit seinen Vorstellungen oder Ansichten, seinen Gefühlen, seinem Körper, sondern mit seinem ganzen Sein, seinen Instinkten und seinem Unterbewußtsein." Das heißt, eine totale Harmonie zwischen dem Körperlichen, dem Emotionalen und Geistigen, um zu erreichen, daß diese Kräfte ihn befähigen, sich ganz der Aktion und Reaktion im Spiel hinzugeben. STILLMARK Hast du feststellen können, was den Unterschied zwischen dem deutschen und dem lateinamerikanischen Blick auf die Realität ausmacht? MEDINA Nun, der Exiliant hat sowieso einen anderen Blick.

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Aber primär kommst du aus einem anderen Kulturkreis, der dich geprägt hat. MEDINA Ich hatte die unsichtbare Welt vergessen. Das habe ich in Chile bemerkt. Hier ist wichtig, was ich sehen, was ich anfassen kann, womit ich mich auseinandersetzen kann... Und dort ist das Unsichtbare sehr stark. Was Theater und Kunst betrifft, ist der Blick, der Eindruck entscheidend. Bei uns Chilenen kommt schnell ein Gefühl aus dem Bauch. Das hatte ich ganz vergessen. Mich hatte das andere fasziniert, der Gedanke, die Klarheit der Logik. Das wollte ich lernen. Und das wollte ich auch den Schauspielern zeigen. Ihr benutzt das Wort „schau-spielen" für das, was ihr tut. Aber tatsächlich arbeitet ihr. Bei uns „arbeitet" man am Theater. Aber eigentlich spielen wir. Das ist der Unterschied. Hier liest man gemeinsam mit dem Dramaturgen den Text. Bei uns nicht. Ich habe es versucht, sie sind eingeschlafen. Dann habe ich zwölf Kapitel auf drei Gruppen verteilt. Sie sollten lesen und sich mit der Technik vorbereiten. Das war sehr mühsam. Ich habe ihnen immer gesagt: „Wenn du einen klaren Gedanken hast, kannst du dich auch klar ausdrücken." Für mich ist das rationale Suchen ein wunderbarer Vorgang. Das ist meine Natur, aber auch das intuitive Handeln. Der Blick auf die Realität ist sehr emotional. Das ist weder gut noch schlecht. Eine Balance zwischen beiden wäre ideal. Unter Emotionen kannst du nicht klar sehen. Ich bewundere die rationale Arbeit bei euch. Das macht mir Spaß. STILLMARK Bei Brecht gab es diese Trennung nicht, glaube ich. Er hat sein Theater begründet mit sehr guten Schauspielern, die ein vitales Interesse an der Wirklichkeit hatten, sowohl rational wie emotional. Das schloß sich nicht aus. MEDINA Mich hat es immer sehr inspiriert, wenn ich mit jemandem arbeiten konnte, der Fragen stellt. Der sich dieselben Fragen stellt wie ich. Daraus erwächst der Spaß. Wahrheit, Suche nach Wahrheit. Theater macht Spaß. Aber es ist eine harte Arbeit. Und der Spaß wächst, wenn man die Schwierigkeiten überwindet. STILLMARK Wenn du Unzufriedenheit neben Intelligenz setzt, gehört der Begriff der Wahrheit dazu? MEDINA Es gibt immer verschiedene Standpunkte. Und wenn andere Standpunkte nicht zugelassen werden, entsteht Unzufriedenheit. Man fühlt sich eingeschränkt. Im Tun, im Denken, im Fühlen. Ein wichtiger Beweggrund, 1981 den Kleinen Prinzen zu machen, war, daß ich immer wieder Menschen begegnet bin, die nicht die Möglichkeit STILLMARK

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hatten, die Welt kennenzulernen. Und ich dachte, ich möchte mit dem Stück zeigen, daß der kleine Prinz, nachdem er um die Welt gelaufen ist, zurückkehrt auf seinen winzigen Planeten, weil er begriffen hat, daß dort seine Verantwortung liegt. Die Verantwortung für diese kleine Blume. STILLMARK Der Gedanke eines chilenischen Regisseurs, der nach Chile zurückkommt als Kleiner Prinz; aber gleichzeitig hast du damit eine der schlimmsten Verletzungen der DDR aufgegriffen, die Unmöglichkeit, die Welt kennenzulernen. Also zwei Dinge bewegten dich. MEDINA Ja, meine eigene Verantwortung. Jeder Emigrant hat mit dieser Gewissensfrage zu tun, daß er weggegangen ist. Das hat mich immer begleitet. Und oft wurde ich gefragt: „Was machen Sie hier? Warum sind Sie nicht in Chile?" Ich bin weggegangen. Das war ein schwieriger Schritt. Aber ich weiß nicht, was leichter ist, wegzugehen oder dazubleiben. Viele meiner Freunde sind dageblieben. Ich bin gegangen. Das war für mich selbstverständlich. Ich wollte mich von der anderen Seite, über die Emigration, artikulieren. Ich habe Leute getroffen, die in der eigenen Heimat in der Emigration lebten. Aber in dem Stück ging es hauptsächlich um Menschlichkeit. Ich wollte immer mit jungen Leuten arbeiten, wollte wissen, was sie denken, ihr Gefühl für die Zeit. Vor vier Jahren hatte ich in den Gymnasien eine Truppe von hundert Leuten für ein Chorprojekt zusammengestellt, die Vorlage war der Ein Sommernachtstraum. Das war ein riesiges Projekt im BÜRGERPARK. Danach hatte ich mir das Ziel gesetzt, nur noch Theater mit jungen Leuten zu machen, die einfach Lust am Spiel haben. Sie wollten Der gute Mensch von Sezuan machen, Der kleine Prinz und Der Herr der Fliegen. STILLMARK

Das kam von ihnen?

MEDINA Ja, und auch Vorschläge von mir. Fast ein Jahr ging so ein Projekt. Wir haben Vorträge organisiert zu Fachfragen. Das ging nur abends, nach der Schule. Am Anfang dreimal die Woche und für die Endphase fünfmal die Woche. Diese Arbeit ist Erinnerung. Was mich noch immer beschäftigt, ist der Begriff Heimat. Jemand hat gesagt, Heimat ist da, wo man sich nicht fragen muß. Stimmt schon. Als ich hier war, habe ich mit den Fragen angefangen: Woher kommst du? Was hast du gemacht? Das hat mich all die Jahre über bei meiner Arbeit beschäftigt. Und was ist nun Heimat? Jeder definiert sie anders. Gestern habe ich dir gesagt, daß sie für mich mit Theater verbunden ist. Heimat und wohnen sind zwei verschiedene Sachen.

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1983 gab es die Amnestie für uns, als Gruppe. Plötzlich standen unsere Namen auf der Liste. Und wir sind sehr schnell nach Chile zurückgefahren. Mit Teresa hatten wir das Projekt Antigene und Medea zu machen. Die Texte sind so aktuell. Antigone kämpft für das Recht, ihren Bruder zu begraben, der im Krieg gefallen ist. Jeder in Chile hätte das verstanden. Aber es war nicht möglich. Nach dem mißglückten Attentat auf Pinochet wurden die Repressionen noch stärker. Und außerdem hatten wir nicht an unsere Kinder gedacht. Wir kannten Chile, sie nicht. Ständig die Kontrollen, die Angst um sie. Oft verschwanden Leute... STILLMARK Das hat mir Juan, unser Techniker vom Goethe Institut, erzählt, alle hatten Angst, denn jeder Soldat konnte einen erschießen. MEDINA So sagte man immer, wenn man sich verabschiedete: „Paß gut auf dich auf!" Das war ein ständiger Satz: „Paß gut auf dich auf!" Die jungen Leute lebten stark in den Emotionen. Sie weinten, wenn ich sie befragte. Sie steigerten sich in alles hinein. Aber wenn man tiefer ging, waren sie plötzlich steril, ziemlich schnell sogar. STILLMARK Ich sprach einmal mit Studenten in Santiago, auch Remigranten, einer sagte, ohne seine Kindheitsfreunde hätte er kein Bein wieder auf den Boden bekommen können. Die Schauspieler, mit denen ich Müllers Auftrag erarbeitete, nannten sich „Kinder der Diktatur". Auf meine Frage, woran erkennt ihr einen Remigranten? sagten sie: „Die haben mehr gesehen als wir und sprechen schlechter Spanisch." Das reichte, um sie auszuschliessen. MEDINA Die Sprache verändert sich. Das Wort compañero, zum Beispiel, war für uns voller Emotionen. Es stand für eine gemeinsame Sache. Heute bist du einer von gestern, wenn du das Wort benutzt. Ich komme mir manchmal wie ein romantischer Onkel vor. In der neuen Sprache kenne ich mich nicht aus. Bei Witzen verstehe ich die Pointe nicht. STILLMARK

Wie damals in der DDR. Du bist immer der, der die Witze

nicht versteht. MEDINA Ja, wie in der DDR.

Reden wir jetzt über Deine Pläne. Du hast von der 14. Provinz gesprochen, was ist das? MEDINA Geographisch besteht Chile aus 13 Provinzen. Die neue Regierung hat nun die 14. Provinz ins Leben gerufen. Sie wird bewohnt von den Chilenen, die seit 1973 im Ausland leben, es sind fast eine Million Menschen. Im nächsten Jahren (2002) werden wir zum ersten Mal nach so langer Zeit wählen können.

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Die Idee ist zum einen, daß es ein vitales Recht dieser Chilenen ist zu wählen. Zum anderen soll ihnen ermöglicht werden, konkrete kulturelle Projekte für Chile zu entwickeln. STILLMARK Also ein Rückfluß von Kreativität, Erfahrung, materielle Unterstützung etc.. MEDINA Genau. Ich besitze sechsundzwanzig Jahre Theatererfahrung in Europa. Ich habe im Exil unendlich viel gelernt. Jetzt möchte ich dies dazu verwenden, eine Theaterbeziehung zwischen Santiago und Berlin aufzubauen. Eine Theaterbrücke. Das Ziel ist ein Austausch von Gedanken, Technik, Erfahrungen, wobei nicht nur die sprachlichen, kulturellen, künstlerischen Unterschiede von Bedeutung sein werden, sondern auch das Gemeinsame, Ähnlichkeiten in der geschichtlichen Entwicklung unserer Ländern, kulturelles Erbe etc. Die Kunst als Instrument der Verständigung, Diskussion und Annäherung zweier Kulturen, zweier unterschiedlicher Theatertraditionen. STILLMARK Das Projekt hat ja schon Gestalt angenommen. MEDINA Ja, in der Inszenierung des Textes von William Golding, Der Herr der Fliegen, mit der UNIVERSIDAD DE CHILE und dem IKARON THEATER, Berlin3. Wir haben die Inszenierung in Santiago de Chile gemacht, dort gespielt, und dann das ganze Ensemble hierher gebracht. Sechs Monate sind sie hier gewesen, in Berlin und in Bremen. In einer so langen Zeit bekommt man eine andere Sicht auf die Realität. Manch einer entdeckte, daß er das, was er gesucht hat, zu Hause besitzt. Man schätzt das Eigene besser, wenn man das andere kennt. STILLMARK Was ist Dein nächstes Projekt? MEDINA Exotopie oder Vivir la diferencia en la igualdad, Titel und Untertitel der nächsten Inszenierung. Eine Fortsetzung und Weiterentwicklung der Erfahrungen, die wir mit Der Herr der Fliegen gemacht haben. Dort wollen wir anknüpfen. Im Mittelpunkt steht jetzt das Problem der Gewalt. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Angst und Gewalt? Welche Gründe gibt es für das Entstehen von Gewalt und wie zeigt sie sich? Nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Diesen „inneren Kampf", der in jedem von uns stattfindet, wollen wir erforschen, das Ungleichgewicht zwischen innerer Welt und der Fähigkeit, die äußere Welt zu meistern. Das Bewußtsein für den Schutz des „Innenlebens" muß gestärkt werden. 3

Das IKARON-THEATER existiert seit 10 Jahren als unabhängiges Theater. Es verfügt über zwei Probenräume, einen Aufführungssaal, der 120 Zuschauer faßt.

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Wie sagt Leo Tolstoi: „Jeder will die Welt verändern, aber niemand denkt daran, sich selbst zu ändern." STILLMARK Exotopie. Was bedeutet das? MEDINA Exotopie vereint zwei Begriffe: Exodus und Utopie. In der großen Diaspora, die heute existiert, sind wir alle gleich als Menschen und doch verschieden, was Rasse, Religion, Geschlecht, Lebensweise etc. angeht. Die Utopie besteht darin, diese Verschiedenheit zu benutzen, um miteinander leben zu können. Chile und Deutschland: beide Länder haben in ihrer jüngsten Geschichte die Erfahrung diktatorischer Gewalt und staatlichen Terrors gemacht. In beiden Ländern ist der Prozeß der Aufarbeitung äußerst schmerzhaft und geht nur langsam voran, was zu Vertrauensverlust, Resignation, und fehlender Identifikation führt und kollektives Verdrängen, Vergessen und Ausgrenzen hervorruft. Das Schweigen ist nicht nur ein Schweigen der Täter, sondern Angst, Scham, Komplizenschaft, und Schuldgefühle großer Bevölkerungsteile verhindern den Dialog, die Aufklärung der Tatsachen und die Entwicklung eines Gewissens. Der Zusammenhang von Gewalt, Schweigen und Individualisierung wird von den Betroffenen oftmals nicht erkannt, ja sie tun unbewußt alles, um sich mit den erlittenen Schmerzen nicht erneut konfrontieren zu müssen. Ausgehend von der Erkenntnis, daß Schweigen Angst und Isolation zur Folge hat, ist zu befürchten, daß das Phänomen der Verdrängung eine Wiederholung der Gewalt provoziert. STILLMARK Wie arbeitet ihr? MEDINA Bei der Inszenierung von Exotopie ist die Teilnahme des Publikums an der Diskussion über das Thema ein wesentliches Element. Das Theater schafft einen Raum, in dem das Schweigens gebrochen wird. Opfer und Täter erhalten die Möglichkeit angehört zu werden. Konzept und Ziel ist ein vollkommenes Spektakel, bei dem Text, Bewegung, Tanz, Ritual und Musik gleichermaßen eingesetzt werden, um eine künstlerische Sprache zu kreieren, die jedem Zuschauer verständlich ist. STILLMARK D U nanntest eben den Begriff Gewissen. MEDINA Es ist keineswegs unsere Absicht, die Figuren als Opfer und Produkte ihrer Umwelt darzustellen, welcher Art sie auch sein mögen, sondern als für ihre Taten und ihre Situation verantwortliche Menschen, ohne jedoch die sozialen, politischen und historischen Konflikte außer Acht zu lassen. Es ist wichtig herauszufinden, wie sich die Menschen ihrer Situation, ihrem festgefahrenen Verhalten

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bewußt werden können, um etwas zu verändern. Denn es geht darum zu verhindern, daß ein verbissenes Festhalten an Verhaltensmustern im Kampf ums Überleben zur Selbstzerstörung führt. Daher ist es essentiell, Widersprüche aufzudecken und gleichzeitig Möglichkeiten der Veränderung zu erkennen. Das Leben im Exil, der Umgang mit Fremdem, darf nicht zur Verkrampfung führen, sondern zum Erkennen der eigenen Identität und zur Übernahme von persönlicher Verantwortung. Keine Probleme anzusprechen wäre lügen; ausschließlich Probleme darzustellen wäre Selbstbefriedigung. Bertolt Brecht verlangt eine präzise Kenntnis der Realität der Vergangenheit und der Gegenwart. Er nannte dies „historisieren". Man soll mit dem literarischen Material verschiedener Autoren arbeiten, die sich bereits in Essays, Erzählungen, Romanen und Theaterstücken mit einem Thema beschäftigt hatten. „Biographie hat mit Kunst zu tun." Hierfür griff er auf schriftliche und mündliche Überlieferungen von Betroffenen zurück. Dies ist nicht nur für die Herausarbeitung des Textes, sondern auch für das Begreifen und die Findung der Figuren und für das Verständnis der teilnehmenden Schauspieler notwendig. So werden persönliche Erfahrungen der Schauspieler eingebracht, von denen die einen wegen ihres jungen Alters noch keine Erfahrungen mit direkter, brutaler Gewalt gemacht haben, und die anderen, die Chilenen, unter einem Terrorregime geboren und aufgewachsen sind. Dieser Prozeß wird von Improvisationen geleitet, die dieses reichhaltige biographische Material freisetzen und in eine dramaturgisch strukturierte künstlerische Form kanalisieren. STILLMARK Wie wird die Inszenierung aussehen? MEDINA Benötigt werden zwei grundverschiedene Bühnen. Die erste ist ein hermetisch geschlossener Raum. Die zweite ist die offene Natur. Sie dienen zur Darstellung der Spannung zwischen einer inneren und einer äußeren Welt, zwischen einem Innen und Außen. Das eine öffnet sich schließlich dem anderen; es entsteht Migration. STILLMARK Die Truppe besteht aus zehn deutschen und zehn chilenischen Schauspielern, lese ich? MEDINA Beide Sprachen werden verwendet, Deutsch und Spanisch. Ihre Unterschiede und Schwierigkeiten werden bewußt als Ausdrucksform eingesetzt. Das ermöglicht eine Selbsterkenntnis durch das Gegenüber. In der experimentellen Arbeit integrieren sich die verschiedenen kulturellen Visionen. Es wird hauptsächlich mit dem Körper gearbeitet; Elemente der Choreographie und des Tanzes suchen nach Bildern, Metaphern. Die Sprache der Kunst soll das Er-

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zählte jenseits der sprachlicher Barrieren jedem Zuschauer verständlich machen. STILLMARK Welche Unterstützung erhaltet ihr für dieses Projekt? MEDINA Wir werden gefördert von der Kulturabteilung des chilenischen Außenministeriums und von unserer Botschaft in Berlin. Das ist nur ein Anfang. Eine Flamme entzündet die nächste...

Alexander Stillmark (1941) Schauspielstudium an der Hochschule für Schauspielkunst ERNST BUSCH Berlin. Regieassistent und Regisseur am BERLINER ENSEMBLE (1964 -70 ), Regisseur am DEUTSCHEN THEATER Berlin (1971-86), Dozent an der Hochschule für Schauspielkunst ERNST BUSCH Berlin und freie Regietätigkeit, Schauspieldirektor am MECKLENBURGISCHEN STAATSTHEATER Schwerin (1989-91). Seit 1992 freischaffender Regisseur (Schauspiel/Musiktheater, multikulturelle Schauspielworkshops). Inszenierungen in Deutschland und im Ausland u.a. in Hanoi, Dhaka, Helsinki, Nikosia, Santiago de Chile, Montevideo, La Paz. Arbeiten für TV und Radio. Zusammenarbeit im Musiktheater mit den Komponisten Paul Dessau, Georg Katzer, Mikis Theodorakis, Rainer Bredemeyer, Friedrich Schenker u.a. Verschiedene szenische multi-mediale Inszenierungen experimenteller und elektronischer Musikstücke. Carlos Medina Palacios: 1944 in Chile geboren, 1974 Emigration in die DDR. Mitbegründer des TEATRO LAUTARO am VOLKSTHEATER ROSTOCK. Studium am REGIE-INSTITUT in Berlin. Regisseur am BERLINER ENSEMBLE. 1986-1987 Rückkehr nach Chile und erneute Emigration nach Deutschland. Regisseur am DEUTSCHEN THEATER. 1991 Gründung und Leitung des IKARON THEATERS in Berlin. Inszenierungen im Exil: 1974 Margarita Naranjo, szenische Version aus dem Großen Gesang von Pablo Nerud a , V OLKSTHEATER ROSTOCK. 1975

Die Nacht der Soldaten von Carlos Cerda, Uraufführung am

ROSTOCK.

1976 1980 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986

VOLKSTHEATER

Der geflochtene Kreis von Victor Carvajal, Kinderstück, VOLKSTHEATER ROSTOCK. Die Ausnahme und die Regel von Bertolt Brecht, BERLINER ENSEMBLE Glanz und Tod des ]oaquin Murieta von Pablo Neruda, LANDESTHEATER TÜBINGEN. Der kleine Prinz von Antoine de Saint Exupéry, BERLINER ENSEMBLE Mutter Courage und ihre Kinder von Bertolt Brecht, Kollektiv NEUE SZENE, Antwerpen, Belgien. Die Tage der Commune von Bertolt Brecht, BERLINER ENSEMBLE Der kleine Prinz von Antoine de Saint Exupéry, DRAMATISCHES THEATER Belgrad, Jugoslawien. Überquerung des Niagara von Alonso Alegría, STADTTHEATER Jena. Die Ausnahme und die Regel von Bertolt Brecht, Kollektiv NEUE SZENE, Antwerpen, Belgien.

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Mit der Faust ins offene Messer von Augusto Boal, DEUTSCHES THEATER Berlin. Der kleine Prinz von Antoine de Saint Exupery, VEREINIGTE B Ü H N E N Graz, Österreich. 1988 Offene Zweierbeziehung von Dario Fo & Franca Rame, DEUTSCHES THEATER Berlin. (10 Jahre auf dem Spielplan) 1990 Der Auftrag von Heiner Müller, SCHILLERTHEATER Berlin. 1990 Der Wunderheiler von Brian Friel, DEUTSCHES THEATER Berlin. 1991 Quai West von Bernard-Marie Koltes. Produktion des IKARON THEATERS im Kunsthaus TACHELES, Berlin. 1992 Der Sturm von William Shakespeare, Koproduktion des KLEIST-THEATER Frankfurt/Oder und des IKARON THEATERS in der Ruine der Marienkirche Frankfurt/Oder. 1994 SommerNachtsTraum - Verliebte und Verrückte nach William Shakespeare. Produktion des IKARON THEATERS Berlin im Kunsthaus TACHELES, Berlin. 1995 La Tta, Text von Carlos Medina. Produktion des IKARON THEATERS Berlin im 1986

1987

H A U S DER KULTUREN DER W E L T , B e r l i n .

1996 1997

1998

1999 2000

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Liebe ist... Rausch und Absturz. Text von Carlos Medina & Teresa Polle. Produktion des IKARON THEATERS Berlin in "el Garten infernale", Berlin. Der Herr der Fliegen nach William Golding. Produktion des IKARON THEATERS Berlin in "el Garten infernale", Berlin. Eine Probe frei nach Motiven des Romans Der Herr der Fliegen von William Golding. Produktion des IKARON THEATERS Berlin in "el Garten infernale", Berlin. Viva La Vida. Text von Carlos Medina. Produktion des IKARON THEATERS Berlin in "el Garten infernale", Berlin. Der Herr der Fliegen nach William Golding, internationale Produktion der Schauspielschule ARCIS, Santiago de Chile und des IKARON THEATERS in Santiago und Berlin. Salto Mortale. Produktion des IKARON THEATERS Berlin, Straßenspektakel in Berlin. Exotopie - Den Unterschied in der Gleichheit leben. Theaterbrücke Berlin-Santiago, Santiago-Berlin, eine internationale Kooperationspartnerschaft.

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