Politische Aspekte des Exils [Reprint 2021 ed.] 9783112422663, 9783112422656


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German Pages 241 [256] Year 1991

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Politische Aspekte des Exils [Reprint 2021 ed.]
 9783112422663, 9783112422656

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Exilforschung • Ein internationales Jahrbuch • Band 8

EXILFORSCHUNG EIN INTERNATIONALES JAHRBUCH Band 8 1990 Politische Aspekte des Exils Herausgegeben im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung / Society for Exile Studies von Thomas Koebner, Wulf Köpke und Claus-Dieter Krohn in Verbindung mit Lieselotte Maas

edition text + kritik

Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Claus-Dieter Krohn Weidenstieg 9 2000 Hamburg 20

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Politische Aspekte des Exils / hrsg. im Auftr. der Gesellschaft für Exilforschung von Thomas Koebner ... in Verbindung mit Lieselotte Maas. - München : edition text + kritik, 1990 (Exilforschung ; Bd. 8) ISBN 3-88377-366-2 NE: Koebner, Thomas [Hrsg.]; GT

Copyright by edition text + kritik GmbH, München 1990 Satz: offizin p + p ebermannstadt Druck: Weber Offset GmbH, München Buchbinder: Buggermann & Wappes GmbH & Co KG, München Umschlagentwurf: Dieter Vollendorf, München ISBN 3-88377-366-2

Inhaltsverzeichnis

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Vorwort Gerhard Paul

Klaus Sator

Elisabeth Kohlhaas

Peter Steinbach

Werner Röder

Wolfgang Kießling

Arthur Brenner

Ursula Langkau-Alex

Hans Uwe Petersen

Lernprozeß mit tödlichem Ausgang. Willi Münzenbergs Abkehr vom Stalinismus

9

Das kommunistische Exil und der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt

29

»Die Flamme des Weltbrandes an ihrem Ursprung austreten...«. Der kommunistische Deutsche Freiheitssender 29,8

46

Nationalkomitee Freies Deutschland und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus

61

Sonderfahndungsliste UdSSR. Über Quellenprobleme bei der Erforschung des deutschen Exils in der Sowjetunion

92

Vom Grunewald nach Woodstock über Moskau. Alfons Goldschmidt im USA-Exil

106

»Hirngespinste« oder moralische Pflicht? Emil J. Gumbel im französischen Exil 1932 bis 1940

128

»Es gilt, die Menschen zu verändern...«. Zur Politik des Sozialdemokraten Paul Hertz im Exil

142

Dänemark und die antinazistischen Flüchtlinge 1940 bis 1941

157

Einhart Lorenz

Arnold Spitta

Dieter Schiller

Herbert Loebl

Kurzbiographien der Autoren

Möglichkeiten und Grenzen des politischen Exils in Norwegen am Beispiel von Willy Brandt, Heinz Epe, Max Strobl und Jacob Nicolaus Vogel

174

Beobachtungen aus der Distanz. Das Argentinische Tageblatt und der deutsche Faschismus

185

Die Deutsche Freiheitsbibliothek in Paris

203

Das Refugee Industries Committee. Eine wenig bekannte britische Hilfsorganisation 220 242

Vorwort

Der thematische Schwerpunkt dieses Bandes könnte für den einen oder anderen Leser mißverständlich sein. Ist Exil nicht immer politisch - auch da, wo es sich unpolitisch versteht? Die jüngste öffentliche Aufregung um die neu entdeckten naiven Mussolini-Huldigungen des Schriftstellers Walter Meckauer hat dies wieder einmal gezeigt. Auch können dem Charakter eines Sammelbandes entsprechend natürlich nur einzelne Facetten des politischen Exils behandelt werden. Der vorliegende Band versucht deshalb, Schlaglichter auf ein viel umfassenderes Thema zu werfen, Einzelfälle vorzustellen, verschiedene Handlungsspielräume in einigen Ländern darzustellen und damit Vergleiche zu ermöglichen. Einen besonderen Akzent setzen dabei die Beiträge zum kommunistischen Exil. Das hier erkennbare Spannungsverhältnis zwischen antifaschistischem Widerstand und politischem Dogmatismus, der mit dem Schlagwort Stalinismus nur unzureichend formuliert ist, erhält vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen in den Ländern des bisher sogenannten realen Sozialismus unvorhergesehene Aktualität. Es ging und geht, kurz gesagt, darum, wie die historische Tradition des Marxismus in der leninistischstalinistischen Praxis zu parteilichen Avantgarde-Ansprüchen mit Wahrheitsmonopol verbogen wurde, die nur noch eine extrem getrübte Realitätswahrnehmung zuliessen. Stil und Argumentationsmuster in der Haltung der Exil-KPD gegenüber dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt mögen das ebenso dokumentieren wie die Propaganda-Strategien des Deutschen Freiheitssenders 29,8 oder auch die tödlichen Lernprozesse Willi Münzenbergs. Nicht weniger fragwürdig sind freilich die billigen Triumphe derjenigen, die mit der Stalinismuskritik gleich alle Kommunisten oder gar die gesamte Linke zu treffen suchen. Welche Funktion der wabernde Antikommunismus für deutschnationale Formierungsversuche in der Verdrängungsgesellschaft der Bundesrepublik hat, beleuchtet unter anderem der Beitrag über das Nationalkomitee Freies Deutschland, der vor allem dessen Rezeptionsgeschichte nach 1945 verfolgt. Wie die öffentlichen, zum Teil maßlosen Angriffe bei der Eröffnung der Widerstandsausstellung im vergangenen Sommer in Berlin (die auch das Nationalkomitee in abgewogener Weise zu würdigen sucht) zeigten, ist der Umgang mit diesem Kapitel der Exil- und Widerstandsgeschichte bis heute keineswegs frei von Vorurteilen. Hingewiesen sei schließlich auf den Aufsatz über das britische Refugee Industries Committee. Auf dem Wege einer noch zu schreibenden Sozialgeschichte der deutschen Emigration bietet er einige Anhaltspunkte dafür, wie während der Weltwirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit und der

nicht zuletzt darauf mitberuhenden Fremdenfeindschaft der Aufnahmeländer durch staatliche Initiativen in Großbritannien eine wirtschaftliche Ansiedlungspolitik für exilierte Unternehmer eingeleitet wurde. Sie führte zu Beschäftigungseffekten, die die Zahl der dorthin Geflohenen zu einem erheblichen Teil kompensierten. Ob damit durch die Flüchtlinge strukturpolitische Weichen gestellt wurden, ob sie das neue Paradigma konturiert haben, das seit den dreißiger Jahren unter dem Begriff des Keynesianismus zum Signum fast aller westlichen Industrieländer gehörte, muß weiteren Forschungen vorbehalten bleiben. Der nächste Band des Jahrbuchs soll Remigrationsfragen behandeln. Danach sind Beiträge zur Situation von Künstlern und Künsten im Exil und vergleichende Untersuchungen zu verschiedenen Exilbewegungen im 20. Jahrhundert geplant.

Gerhard Paul

Lernprozeß mit tödlichem Ausgang Willi Münzenbergs Abkehr vom Stalinismus

»Wo ist noch ein Freund, wer ist schon Feind? Wer wird morgen der Feind sein? Man treibt den Zweifelnden zur Verzweiflung, und wenn er politischen oder gar physischen Selbstmord begeht, frohlockt die Propaganda, der Tote aber ist von ihr ermordet worden.« W. Münzenberg, Propaganda als Waffe (1937) Am 22. Oktober 1940 meldeten französische Zeitungen aus Saint Marcellin in der Nähe von Grenoble, zwei Jäger aus Montagne hätten im Wald von Caugnet die Leiche eines Mannes gefunden. Nach Angaben der Gendarmerie handele es sich um den 51jährigen Willi Münzenberg aus Erfurt. Der Tote, so hieß es später, habe sich mit einer dünnen Hanfschnur, wie sie zum Zusammenbinden von Erntegarben benutzt werde, an einem Baum erhängt. 1 Skepsis gegenüber der polizeilichen Selbstmordversion tauchte schon bald auf, denn nur wenige Wochen zuvor war das Bild des von Stalins Häschern ermordeten Trotzki mit dem blutdurchtränkten Kopfverband und der Kanüle im Nasenloch um die Welt gegangen. Die Fotografie lieferte einen Interpretationshinweis, was mit jenem Manne geschehen sein konnte, der Stalin ein Jahr zuvor als »Verräter« am Sozialismus attackiert und offen zum Kampf gegen den sowjetischen »Moloch« aufgerufen hatte. Bestärkt wurden die Zweifler, als die Kommunistische Partei Frankreichs das Gerücht verbreitete, Münzenberg sei ein Polizeispitzel gewesen und der Rache für den Verrat an Genossen zum Opfer gefallen. 2 Nach dem Krieg geriet die Diskussion über Münzenbergs Tod in den Strudel der politischen Auseinandersetzung. Obwohl sich für die These vom Fememord keine Belege fanden, wurde sie 1957 von Münzenbergs Mitarbeiter, dem Schriftsteller Kurt Kersten, und zehn Jahre später auch von Babette Gross, der Lebensgefährtin Münzenbergs, propagiert. 3 Sie fügte sich ein in die publizistischen Attacken des Kalten Krieges und in das von den Freunden gezeichnete Münzenberg-Bild eines vitalen, furchtlosen und kampfesmutigen Mannes, den nur gedungene Mörder auf dem Gewissen haben konnten. Da nicht sein kann, was nicht sein darf, bestritten DDR-Autoren demgegenüber stereotyp die der Mordversion zugrunde liegende Verantwortlichkeit Stalins4, ohne allerdings zu untersuchen, welche Umstände es gewesen sein könnten, die den Kampfgefährten Lenins, den Mitbegründer der Kommu-

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Gerhard Paul

nistischen Jugendinternationale, den Organisator der großen Solidaritätskampagnen für die notleidende Sowjetbevölkerung, den großen Agitator und Begründer des KPD-Propagandakonzerns, das langjährige Mitglied des Reichstages und des ZK der Exil-KPD bewogen hatten, Zuflucht im Freitod zu suchen. Die vorläufig letzte Version präsentierte 1988 der DDR-Journalist Gerhard Leo, der mit der Neuigkeit aufwartete, sein Vater - der Strafverteidiger Dr. Wilhelm Leo - habe Münzenberg auf der Flucht vor den deutschen Truppen bis nach Montagne begleitet, den völlig erschöpften und demoralisierten Gefährten dann zurückgelassen und Stunden später am Waldrand erhängt aufgefunden. 5 Beide Versionen abstrahieren davon, daß sich Münzenberg seit 1939 in einer tiefen lebensgeschichtlichen Krise befand, die das Resultat eines mehrjährigen schmerzhaften Auseinandersetzungs- und Lernprozesses war, in dem sich Münzenberg von einem glühenden Verehrer Stalins zu einem demokratischen Sozialisten und leidenschaftlichen Gegner der stalinisierten KPD und ihres sowjetischen Vormannes gewandelt hatte. Babette Gross und Kurt Kersten verkleinerten die Dimensionen dieser Krise, indem sie auch den Münzenberg von vor 1937 als einen unabhängigen und kritischen Kommunisten darzustellen versuchten, der er nicht war. Vielmehr reihte sich Münzenberg ein in die Riege derer, die in den kommunistischen Exilzeitschriften unablässig die Sozialfaschismus-Theorie, den Stalin-Kult und die Unfehlbarkeit der KPD propagierten. Die DDR-Legitimationswissenschaftler demgegenüber bestritten rundweg einen sich auf die Politik der Exil-KPD beziehenden rationalen politischen Lernprozeß bei Münzenberg und machten - wie vor ihnen schon Alexander Abusch, Franz Dahlem und Herbert Wehner — ausschließlich subjektive Faktoren wie »persönlichen Geltungsdrang« und »andere negative Charaktereigenschaften« für Münzenbergs Bruch mit dem parteioffiziellen Marxismus/Leninismus verantwortlich. 6 Ihre Psychiatrisierung des Problems entlastete von der Notwendigkeit der eigenen Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit und schied objektiv-politische Verhältnisse, an denen Menschen verzweifeln konnten, a priori aus. Da die Partei bekanntlich immer Recht hatte, konnte sich nur der einzelne irren. Also mußte Münzenberg - wie in der Version Leos Selbstmord begangen haben, weil ihm die Füße schmerzten. Peter Steinbach hat kürzlich zu Recht gefordert, Münzenberg als »Vertreter eines Kommunismus, der sich dem demokratischen Sozialismus öffnete«, neu zu entdecken und ihn nicht als Träger einer Legende und als kommunistischen Medienzar zu glorifizieren7, wie dies unter anderem auf der von Theo Pinkus im September 1989 organisierten Züricher Gedenktagung zum 100. Geburtstag Münzenbergs versucht wurde. Eine Analyse von Münzenbergs zahlreichen Exilpublikationen8, deren Texte gleichermaßen als Dokumente seines Lernprozesses und als subjektive Verarbeitungsformen politischer Veränderungen zu begreifen sind, eröffnen eine solche neue Sichtweise auf jenen Mann, dem zunächst die Kulissenpolitik der KPD in der Volksfrontfrage und schließlich Stalins Pakt mit Hitler sukzessive den

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Boden unter den Füßen wegzog. Insbesondere die Analyse von Münzenbergs Aufsätzen aus der Zeit nach Abschluß des Hitler-Stalin-Pakts wirft exemplarisch auch ein Licht auf die noch viel zu wenig untersuchten subjektiven Verarbeitungsweisen des Vertrags durch die in Deutschland und im Exil lebenden Kommunisten. Zunächst die äußeren Daten: Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand emigrierte Münzenberg über Saarbrücken nach Paris, machte sich dort mit großem Elan wieder an die Arbeit, baute einen neuen Verlag auf, in dem unter anderen die legendären Braunbücher erschienen, beteiligte sich an der Gründung und Leitung des »Welthilfskomitees für die Opfer des Hitlerfaschismus« und am Aufbau der »Deutschen Freiheitsbibliothek«, organisierte den Londoner »Gegenprozeß« zum Leipziger Reichstagsbrandprozeß und diverse Solidaritätskampagnen für den inhaftierten KPD-Führer Ernst Thälmann. Nach der Rückkehr vom VII. Weltkongreß der Komintern in Moskau nahm er im Auftrag Dimitroffs Kontakte zum bereits existierenden »Vorläufigen Ausschuß zur Bildung einer deutschen Volksfront« - dem Lutetia-Kreis - auf, der zeitweise die einzige repräsentative Gesamtvertretung der politischen deutschen Emigration darstellte. Erste Differenzen mit Walter Ulbricht und Franz Dahlem wurden zum Jahresbeginn 1936 deutlich, als Münzenberg das tolpatschige Verhalten der beiden ZK-Unterhändler beim Gespräch mit dem Prager SOPADE-Vorstand kritisierte, das eine künftige Beteiligung der SPD-Führung am Lutetia-Kreis nahezu ausschloß. 9 Im Laufe des Jahres verschärften sich die Auseinandersetzungen mit Ulbricht, die schließlich im Oktober 1936 zur Ladung Münzenbergs vor die »Internationale Kontrollkommission« der Komintern nach Moskau führten. In den strategischen Grundpositionen und den geschichtsphilosophischen Deutungs- und Orientierungsmustern hatte sich Münzenberg bis zu diesem Zeitpunkt allerdings noch keinen Zentimeter von der KPD entfernt. Zentrales Grundmuster seines Denkens war ein naiv-objektivistischer Fortschrittsoptimismus, den er mit den meisten - keineswegs nur kommunistischen - Exponenten der Arbeiterbewegung seiner Zeit teilte10 und der seinen Ablösungsprozeß von der KPD noch lange Zeit überlagerte. Die Deutung des historisch-politischen Prozesses als gradliniger, quasi naturgesetzlicher Fortschritt vom Niederen zum Höheren, als hoffnungsfrohe, sinnund Überlegenheitsstiftende Aufwärtsbewegung der Menschheit >vom Urnebel zum Zukunftsstaat< hatte im deutschen Kommunismus gleichsam religiöse Züge angenommen. Dieser Fortschrittsglaube prägte lange Zeit Münzenbergs Bild vom Nationalsozialismus, seine Einschätzung der Arbeiterklasse und ihrer Avantgarde, das Verständnis vom antifaschistischen Widerstand und sein Verhältnis zur Sozialdemokratie. Anders als Babette Gross behauptet, stand für Münzenberg außer Frage, daß der Nationalsozialismus nur eine vorübergehende Erscheinung, die »letzte Karte der deutschen Bourgeoisie« und Hitler die »letzte Hoffnung auf Rettung des kapitalistischen Systems vor der steigenden Welle der proletarischen Revolution« war. Ganz in Übereinstimmung mit der KPD

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Gerhard Paul

deutete er die epochale Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung von 1932/33 zur unmittelbar bevorstehenden Revolution um. Analog dem Hegeischen Weltgeist setzte sich für ihn die kommunistische Idee auch durch Widersprüche hindurch fort. Das »Dritte Reich« war folglich nur eine Episode. Zwar wolle Hitler den Marxismus vernichten, aber gerade seine Politik der Verschärfung der Klassengegensätze - so die kommunistische Interpretation der »List der Vernunft« - stärke den Marxismus. Hitler sei nicht der Anfang einer Renaissance des Kapitalismus in Deutschland, sondern der Beginn seines endgültigen Untergangs, verkündete Münzenberg siegesgewiß. Ja selbst die Politik der SPD nach dem 30. Januar sei ein »Gewinn«, da sie die »Abkehr der sozialdemokratischen Arbeiter von ihrer reformistischen, feigen und verräterischen Parteileitung« forciere und letztlich die KPD stärke.11 Da in dieser funktionalen, auf Dimitroff zurückgehenden und auch von Münzenberg propagierten FaschismusFormel für die Frage nach der sozialen Basis des Nationalsozialismus kein Platz war, die Massen als höchstens »chauvinistisch aufgepeitscht« erschienen, lag die stetige Abwärtsentwicklung des Faschismus und das Zerbröckeln seiner Anhängerschaft ganz in der Logik der objektiven Gesetze. Noch im Juni 1934 stand daher für Münzenberg unverrückbar fest: »Am nächsten ersten Mai ist's mit dem Hakenkreuz vorbei.«12 Auch nach dem Ausbleiben der Revolution, als der KPD-Apparat weitestgehend zerschlagen war, Hitler sich außenpolitisch etabliert hatte und innenpolitisch die Rüstungskonjunktur ihre ersten loyalitätsbildenden Früchte zu tragen begann, erklärte er in Das freie Deutschland, die Lage der Hitlerdiktatur sei innen- wie außenpolitisch die schwerste seit 1933.13 In völliger Verkennung der Realitäten deutete er schließlich das Attentat des Einzeltäters Johann Georg Elser vom November 1939 auf Hitler als »weithin sichtbares Zeichen der Zersetzung und der Fäulnis des Hitlerregimes« und prognostizierte einen »baldigen Umschwung«.14 War die politisch folgenreiche Unterschätzung des Nationalsozialismus die eine Seite des kommunistischen Fortschrittsoptimismus, so die Überschätzung der Handlungsmöglichkeiten der KPD und des antifaschistischen Kampfes die andere Seite. Die KPD verkörperte für Münzenberg das Aufwärtsprinzip der Menschheit. Ihre Führer waren die neuen Priester, die unaufhörlich die kosmisch-menschheitlichen Entwicklungsgesetze verkündeten und über deren Vollzug wachten. Immer ging es aufwärts, nie abwärts. »Der Marxismus lebt und keine Macht kann ihn vernichten.« Jeder Tag stärke die Machtstellung des Marxismus und der KPD, schrieb Münzenberg noch nach der Verhängung des Ausnahmezustandes und dem Beginn der Kommunistenhatz. Trotz furchtbarster Mißhandlungen und schlimmster Morde »lebt, arbeitet, kämpft und wächst die illegale KPD«. Aus den gewaltigen Zusammenstößen zwischen den Klassen und Staaten werde »unvermeidlich« der »Triumph des Weltoktobers« wachsen.15 »Todesmutig« trotzten die »Sturmbataillone« der KPD den von Göring verordneten drakonischen Verfolgungsmaßnahmen. Im deutschen Untergrundkampf

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formiere sich eine neue »Heldengeneration«. »Unermüdlich«, »zäh« und »heldenhaft« bereite die KPD die »entscheidende Auseinandersetzung mit der faschistischen Diktatur« vor.16 Unbeirrt wie ein Fels stand die Partei in der Brandung und trotzte den braunen Fluten. Nur: der stete Tropfen höhlte auch diesen Stein. Dieses Geschichtsbild ließ Zweifel am Sinn der KPD-Politik öffentlich nicht zu, obwohl der Nationalsozialismus tagtäglich das Gegenteil demonstrierte. Vielmehr hatte der Fortschrittsoptimismus eine emotionale Funktion, indem er Niederlagen erträglich machte, die ja immer nur von kurzer Dauer sein konnten, bevor sich das »Prinzip Aufwärts« mit um so stärkerer Wucht wieder durchsetzte. Aus Angst, die Anhänger könnten durch das Eingeständnis von Niederlagen den Glauben verlieren, daß sich der Einsatz lohne, wurde zwanghaft die Fahne hochgehalten und der Zukunftsoptimismus fortgesetzt, der spätestens seit 1934 nur mehr Lüge war.17 Konsequenz dieses Geschichtsbildes, forciert durch die spezifischen psychosozialen Zwänge des Exils: eine Realitätstrübung, die sich exemplarisch in der kommunistischen Exilpublizistik abbildete und deren Wert als zeitgeschichtliche Quelle so sehr einschränkt. Das »Prinzip Aufwärts«, symbolhaft umgesetzt in der parteioffiziellen Parole »Die KPD lebt«, die naive Siegesgewißheit, keine Macht der Welt und schon gar nicht der Faschismus könne der deutschen Arbeiterbewegung ihren Marxismus nehmen, findet sich in abgewandelter Form noch in Münzenbergs letztem Aufsatz vom 10. Mai 1940, den er mit einer zurechtgestutzten Passage aus Ferdinand Freiligraths Gedicht Trotz alledem und alledem beschloß. Dieses durch die Faktizität der historischen Ereignisse konterkarierte forschrittsoptimistische Wunschdenken war keineswegs nur für Münzenberg charakteristisch. Es prägte weite Kreise gerade des kommunistischen Exils und produzierte zwangsläufig eine immer größere Glaubwürdigkeitslücke, die nur oberflächlich durch Appelle an die »revolutionäre Disziplin« und durch Ausschluß von Zweiflern zu schließen war. Die potentielle Identitätskrise war strukturell in der kommunistischen Geschichtsphilosophie angelegt. Aus der Erkenntnis der universalen Entwicklungsgesetze durch die KPD leitete auch Münzenberg die politische Führungsrolle seiner Partei und ihren absoluten Wahrheitsanspruch ab. Wer sich dem Weltgeist sperrte, den revolutionären Aufschwung verkannte und den Annahmen über den unvermeidlich untergehenden Kapitalismus nicht folgte, war auch für ihn ein »Opportunist«, ein »Abtrünniger«, ein »Renegat«, ein Feind der Menschheit eben. Feindbilder erfüllten auch für ihn die Funktion, die eigenen Zweifel und Aggressionen auf andere zu projizieren und an ihnen auszuleben. Trotzki hatte er so 1932 als einen »völlig verlorenen und konterrevolutionären Faschisten« beschimpft, da dieser die Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung in Erwägung gezogen hatte. 18 Im innerparteilichen Streit stand Münzenberg auf der Seite Thälmanns gegen die »opportunistische Gefahr« und diffamierte Thalheimer/Brandler und Genossen wegen ihrer Skepsis

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bezüglich des revolutionären Aufschwungs als »Agenten des Sozialfaschismus«.19 Zuvorderst objektivierte sich der Fortschrittsgeist für Münzenberg in den beiden »Hohen Priestern« des Weltkommunismus, in Stalin und Thälmann, die Über-Ich-Funktionen für ihn erfüllten. Den inhaftierten KPD-Führer lobte er als Verkörperung des Fortschritts, als »Symbol der gesamten antifaschistischen Bewegung der Welt« und als »Schmied der bolschewistischen Partei«, mithin der richtigen Politik, unter dessen Führung die Partei alle sozialdemokratischen Überreste der Gründerzeit überwunden habe.20 Stalin war für Münzenberg das gottähnliche Ideal, dem er noch im Juli 1937, als die Moskauer Prozesse wüteten und sein Freund Heinz Neumann bereits den Säuberungskommandos zum Opfer gefallen war, sein »absolutes und unbegrenztes Vertrauen« aussprach.21 Schon zu Lebzeiten war Stalin für Münzenberg ein Denkmal: der »Baumeister der klassenlosen sozialistischen Gesellschaft«, ein Mann mit »großem Weitblick« und »sicherer Hand«, ein »wahrhafter Lehrmeister der revolutionären Strategie und Taktik«. Mit ihm verband ihn eine geradezu kindliche Anhänglichkeit.22 Wenn Ossip K. Flechtheim in seinen Anmerkungen zum psychologischen Habitus der deutschen Kommunisten hervorhebt, bei diesen paare sich die radikale Opposition gegen alle bestehende bürgerliche Autorität und Ordnung mit einer ebenso blinden Unterwerfung unter die Autorität der eigenen Partei und der Sowjetunion, das heißt, diese fungiere als das Objekt, auf das die Kommunisten einen großen Teil ihrer masochistischen Gefühle konzentrierten 23 , so traf dies in besonderer Weise für Münzenberg zu. Die Sowjetunion, das »Vaterland aller Werktätigen«, war ihm mental Heimat, das gelobte Land, in dem sein Zukunftsideal schon Realität geworden war. Hier war das »Wunder« der Revolution in einem rückständigen Land und das Wirtschafts»Wunder« des Fünfjahresplanes geschehen. Die Sowjetunion, so meinte er, verkörpere die Sehnsucht aller Menschen nach Frieden und alle »Freiheitsträume der arbeitenden Menschheit«. 24 Sie erschien ihm als das »leuchtende Beispiel« für den revolutionären Ausweg aus dem Elend der kapitalistischen Krise und als das »Musterbeispiel der Lösung der nationalen Frage, des Zusammenschlusses und der Annäherung der Nationen auf der Basis des Vertrauens und des freiwilligen Übereinkommens«. 25 Solche geradezu paradiesisch anmutenden, religiös eingefärbten, Zwangskollektivierung und Annexionismus negierenden Schilderungen demonstrierten das Fortschrittsprinzip und spornten die emigrierten Kommunisten zu neuem Kampf an. Das sowjetische Zukunftsideal bildete einen Teil jenes psychosozialen Stützkorsetts, das die einzelnen Kommunisten zusammenhielt. Um die immer bedrohte Identität zu wahren und Zweifel abzuschütteln, wurde mit allen ideologischen Verrenkungen das Paradies verteidigt. Keineswegs aus Angst, ihm könne das gleiche wie den anderen Abtrünnigen geschehen, schwieg Münzenberg öffentlich zu den Moskauer Terrorprozessen26, sondern weil er innerlich von ihrer Notwendigkeit überzeugt war. In internen Besprechungen rechtfertigte er die Vorgänge in der Sowjetunion.

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»Der Prozeß war absolut notwendig und gerechtfertigt«, da »Lebensgefahr für die SU« bestanden habe, entgegnete er der Behauptung einer SAPFunktionärin, die Prozesse hätten unermeßlichen Schaden für die Einigungsbewegungen des Exils angerichtet.27 Die kritiklose Bewunderung der Sowjetunion setzte Münzenberg auch dann noch fort, als er sich längst von der KPD getrennt hatte. In seinem Brief an Dimitroff vom 30. August 1938 bezeichnete er seinen Gehorsam gegenüber den »sowjetrussischen Freunden« als das höchste Gut, das selbst Priorität gegenüber jeder Parteidisziplin besitze.28 Noch am Vorabend des Hitler-Stalin-Paktes - so in der Zukunft vom 10. März 1939 - lobte er die Sowjetunion als das erste Land des sozialistischen Aufbruchs, als den großen Friedensgaranten und den wichtigsten Verbündeten beim Aufbau eines neuen Deutschlands. So unrealistisch und jungfräulich wie Münzenbergs Bild von der Sowjetunion und ihrem Diktator waren auch seine Vorstellungen von der »proletarischen Solidarität«, deren große sittliche Kraft, wie er glaubte, jeder Anfeindung und Verfolgung zu widerstehen verstand. »Weder List noch Lüge, weder Schwindel noch Phrasennebel, weder Verfolgung noch Tod« könnten sie vernichten. »Sie erstrahlt immer wieder, ewig wie die Flamme und das Licht der Sonne.«29 In Münzenbergs Wertehimmel war sie ganz oben angesiedelt. In seinen vielfältigen Solidaritätskampagnen hatte sie praktische Gestalt angenommen. Sie erschien ihm als die Grundlage, auf der sich die Einheitsfront aufbauen ließ. Aber weder im Exil noch in Deutschland reichte die Kraft dieser Idee aus, dem Nationalsozialismus wirklich Paroli zu bieten. Aus der Perspektive des Exils konnte einem leicht entgehen, daß der proletarische Lebenszusammenhang so solidarisch gar nicht war, Frauen ihre Ehemänner und kommunistische Funktionäre unter den Schlägen der Gestapo auch ihre Genossen verrieten. Zudem war die »proletarische Solidarität« im Exil eingegrenzt auf die eigene Gefolgschaft; Abtrünnige blieben außen vor. Und auch die Differenzen in der Volksfront konnte sie nur zeitweilig überlagern. Vielfach war die »proletarische Solidarität« nichts als Mythos. Ganz im Sinne der »ultralinken« Taktik der Parteiführung 30 war auch für Münzenberg bis in den Sommer 1934 hinein nicht die Frontstellung gegen den Nationalsozialismus, sondern der Kampf gegen die Sozialdemokratie dominant. Die SPD machte er verantwortlich für die Weimarer Republik, die er abgrundtief haßte und deren »verdienten Untergang« er bejubelte 31 , vor allem aber für den Sieg des Faschismus in Deutschland. Durch das wiederholte Ablehnen der Einheitsfrontangebote der KPD habe sie sich zudem als ernstzunehmender Faktor im Kampf gegen Hitler ausgeschaltet. Als »sozial-imperialistische und sozial-faschistische Partei«, als »soziale Hauptstütze der Bourgeoisie« sei die SPD vielmehr dazu übergegangen, »systematisch dem Hitler-Regime bei der chauvinistischen Verhetzung zu helfen und damit die Kriegsvorbereitungen zu unterstützen und zu beschleunigen«. Der Faschismus könne erst besiegt werden, wenn es gelinge, »die

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Massen von diesen Gruppen verräterischer Führer loszulösen und zu einer großen revolutionären Einheitsfront zum Kampfe gegen Faschismus und imperialistischen Krieg zusammenzuschweißen«. 32 Seit es im Sommer 1934 zur Bildung der Volksfront in Frankreich und zur antifaschistischen Aktionseinheit im Saargebiet gekommen war, verstummte die Diffamierung der SPD als »sozialfaschistisch« und der Appell zur Spaltung. Nach dem VII. Weltkongreß der Komintern beerdigte Münzenberg - ohne jeden Anflug von Selbstkritik - die Sozialfaschismus-Theorie und lobte nun Dimitroff, dessen historisches Verdienst es gewesen sei, »das Hitlersystem als den Hauptfeind« benannt zu haben. 33 Die nun folgende Phase von Münzenbergs Volksfrontaktivitäten war für ihn lebensgeschichtlich insofern bedeutsam, als er durch sie die spezifische Lagermentalität der KPD 34 überwand und zum innerparteilichen Gegenspieler der verknöchert-asketischen Apparatschiks vom Schlage Ulbrichts, Dahlems und Wehners wurde. Illoyalität, Kritikunfähigkeit und Abkapselung waren nun einmal keine Tugenden, mit denen ein überparteiliches Bündnis zu erreichen war; vielmehr waren solidarisch-offene Kommunikationsformen gefragt. Der Lutetia-Kreis öffnete bei Münzenberg Schleusen und initiierte den Beginn eines mehrstufigen Lernprozesses, der feste Bindungen an die KPD-Führung löste und sich in Skepsis gegenüber der Kulissenpolitik Ulbrichts artikulierte. Zunächst allerdings glaubte Münzenberg - ganz nach dem Motto: Erst Einheit, dann Klarheit35 - grundsätzliche Differenzen zwischen KPD und SPD, zum Beispiel in der Frage des zukünftigen politischgesellschaftlichen Systems in einem Deutschland nach Hitler, zurückstellen zu können und statt dessen die Gemeinsamkeit der Verfolgung und des Kampfes gegen den Nationalsozialismus betonen zu müssen. Nicht der Kampf für eine bürgerliche Republik oder für ein Sowjetdeutschland, sondern das Primat des Sturzes der Hitlerregierung solle vorrangiges Ziel der Volksfront sein und Struktur und Taktik der Arbeiterparteien in der Volksfront bestimmen, forderte er in seinem programmatischen Aufsatz 1936 - das Jahr der Schaffung der deutschen Volksfront36. Statt programmatischer Klärungen sei die Zeit reif zum Handeln: »Am Anfang war die Tat.« Mit dem Elementarsten und Primitivsten, mit gemeinsamen Solidaritätsaktionen für die politischen Gefangenen Hitlers, solle die Volksfront beginnen. Tatsächlich bildeten Amnestieappelle und Protestnoten gegen den Justizmord in Deutschland die ersten öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten des Lutetia-Kreises und betrachtete Münzenberg die sich bildende Volksfront in Paris nicht ganz zu Unrecht als sein Verdienst. Geradezu euphorisch kommentierte er die Volksfront-Konferenz vom 2. Februar 1936 als den ersten Versuch in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, bei dem Vertreter von KPD und SPD gemeinsam mit christlichen Gewerkschaftern und bürgerlich-demokratischen Oppositionellen tagten37; Fortschritte in der Volksfrontpolitik konstatierte er besonders in der Asylrechts- und Emigrantenfrage. 38 Dem Weiterbestehen von Mißtrauen einiger »sozialdemokratischer Freunde« gegenüber der KPD begegnete er mit der Zusicherung, die

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deutschen Kommunisten hätten aus »früheren Versäumnissen und Mängeln« gelernt. Auch im Lutetia-Ausschuß habe zunächst ein »gewisses Mißtrauen« bestanden, das aber allmählich einer »brüderlichen Zusammenarbeit« gewichen sei.39 Münzenberg, zu einem der bedeutendsten Motoren der Einigungsbestrebungen avanciert, plante nun gemeinsam mit Max Braun, dem saarländischen SPD-Vorsitzenden, die Herausgabe einer gemeinsamen Pressekorrespondenz und erwarb sich durch sein Verhalten das Vertrauen der Sozialdemokraten im Ausschuß. Auf Victor Schiff machte er den »Eindruck ehrlicher Verständigungsbereitschaft ohne Manöver pp.«, und auch Willy Brandt erinnert sich, daß Münzenberg »ein Gefühl von Aufrichtigkeit« vermittelt habe.40 Ganz so zufriedenstellend, wie Münzenberg öffentlich behauptete, waren die Verhältnisse im Lutetia-Ausschuß aber keineswegs. Die Programmkommission, der er angehörte, kam nicht voran; der Prager SOPADE-Vorstand weigerte sich weiterhin, das Einigungsprojekt zum Sturze Hitlers zu unterstützen; intern verschärfte sich der Konflikt mit Ulbricht, so daß Münzenberg die Volksfront für gefährdet sah und am 14. Juli 1937 gar einen »Hilferuf« an Stalin sandte. Bereits in einem Brief an seinen Freund Fritz Brupbacher vom April 1936 hatte er eingestanden, daß die Arbeit »ja nicht sehr erfolgreich« sei. Trotzdem ackere er weiter, »was immer noch besser ist, als beiseite zu stehen und nichts zu tun«.41 Zu den vorhandenen Differenzen, die Münzenberg - anstatt sie öffentlich zu benennen und auszutragen - durch seine chronische Arbeitswut überspielte, gesellte sich seit der Rückkehr von den inquisitorischen Befragungen der »Internationalen Kontrollkommission« in Moskau im Herbst 1936 eine leichte Herzneurose, wie Babette Gross berichtet. Ein Artikel in Das freie Deutschland vom Januar 1937 enthielt dann erstmals auch öffentlich skeptischere Töne zur Arbeit und Wirkung der Volksfront und des innerdeutschen Widerstands. Zwar widersprach Münzenberg dem bereits aus dem Ausschuß ausgeschiedenen Leopold Schwarzschild, die deutsche Volksfront sei gescheitert, konzedierte aber, daß, gemessen an den sich rasch verändernden Verhältnissen in Deutschland, die bisher erzielten Resultate »nicht restlos befriedigend« seien. Wenn der Faschismus zum Jahresbeginn 1937 schwächer erscheine, so sei das nicht auf »ernstliche Störungen von außen« oder auf den »Widerstand von innen«, sondern primär auf die objektiven Entwicklungsgesetze zurückzuführen. Zwischen der Entwicklung der objektiven Verhältnisse und dem subjektiven Faktor, das war Münzenberg deutlich geworden, klaffte eine Lücke. Erstmals sprach er nun auch von »Fehlern« und nicht wie bisher von »Versäumnissen« und »Mängeln« der KPD. 42 Während Münzenberg, so Kersten, nach außen weiterhin das »Gesicht eines entschlossenen, aktiven, rastlos tätigen Mannes« vermittelte, habe er im engen Kreise aber keineswegs seine Sorge um die Entwicklungen verhehlt. Er »war zuweilen sogar tief deprimiert und gestand melancholisch, bald würde er der einzige Überlebende von Zimmerwald und Kienthal sein«43.

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In tief deprimierter Stimmung habe er so auch die vierte Lutetia-Konferenz am 10. April 1937 in Paris eröffnet und in seinem Referat insbesondere von den eigenen Genossen eine offene Sprache gefordert und sich gegen die »kleinliche Politik von Winkelzügen« gewandt.44 Wenige Wochen später verdrängte Ulbricht Münzenberg aus seiner Funktion im Ausschuß und nahm nun selbst dessen Stellung ein. Erstmals tauchten jetzt auch öffentlich Spekulationen über Differenzen zwischen Münzenberg und der Komintern auf, die er aber in einer Erklärung vom 23. Juli 1937 noch als nationalsozialistische Propaganda dementierte. 45 Ein Bruch mit der KPD schien für ihn noch nicht in Frage zu kommen, da er immer noch auf ein Machtwort aus Moskau hoffte. Gleichwohl war es nur eine Frage der Zeit, wie lange er den Widerspruch zwischen äußerer Anpassungskonformität und innerer Überzeugung würde aushalten können. Tatsächlich hatte sich Münzenberg in seinem Ende Mai 1937 in Paris erschienenen Buch Propaganda als Waffe - als dessen tatsächlicher Verfasser zu Recht Kersten vermutet werden kann46 - bereits von zentralen Grundannahmen seines bisherigen Denkens verabschiedet und eingestanden, daß die bisherige antifaschistische Politik der KPD in eine Sackgasse geraten war. Spekulationen über einen Bruch mit seiner Partei waren somit keineswegs aus der Luft gegriffen. Münzenberg räumte mit dem Mythos von der quasi naturwüchsigen Immunität des Proletariats gegenüber dem Terror und den Verlockungen des Nationalsozialismus auf und konstatierte, daß insbesondere die soziale Propaganda der NSDAP auch die »ehemaligen sozialistisch organisierten Arbeiter« für die Partei Hitlers mobilisiert habe. Entgegen der verengten Faschismus-Formel Dimitroffs anerkannte er erstmals auch die Bedeutung des subjektiven Faktors in der Geschichte und die Wirksamkeit von Hoffnungen und Ängsten, von Rettungs- und Gemeinschaftsmythen. Der Erfolg des Faschismus in Deutschland lag für ihn jetzt ganz wesentlich in dessen propagandistischen Eigenleistungen, in seiner sozialistischen Tarnung und der Reduktion des Sozialismus-Begriffs auf einen bloßen »Gefühlswert« begründet: »Das Wort wurde inhaltsleer, aber suggestiv.« Indirekt machte er auch die KPD für die Katastrophe von 1933 verantwortlich, da es ihr nicht gelungen sei, eine »ernsthafte Gegenpropaganda« zu entfalten. 47 Die Vision der führenden Rolle der KPD beim Kampf gegen Hitler, die Münzenberg 1935/36 in den Verhandlungen des Lutetia-Ausschusses noch wiederholt hervorgehoben hatte, wurde sang- und klanglos aufgegeben. Nur durch eine »klug geleitete, einheitlich organisierte, auch an Qualität starke Gegenpropaganda« sei der Nationalsozialismus entscheidend zu treffen, so Münzenberg jetzt. Das war meilenweit entfernt von seinen früheren Behauptungen, die SPD trage die Schuld am Faschismus und Hitler werde an seinen eigenen Widersprüchen scheitern. Während die kommunistische Exilpresse das Buch zunächst positiv rezensierte, fiel sie seit Herbst 1937 über ihren Verfasser her und warf ihm Verrat am Marxismus/Leninismus vor. In den Denkschablonen des ortho-

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doxen Kommunismus hatte sich Münzenberg als »opportunistischer Abweichler« entpuppt, der dem Faschismus eine enorme Lernfähigkeit und dem Kapitalismus eine größere Stabilität zugestanden hatte, als dies der parteioffizielle Zweckoptimismus zubilligte. Ein internes Informationsrundschreiben an die KPD-Mitglieder der Volksfront vom 27. Oktober 1937 teilte mit, daß Münzenberg aus dem ZK der KPD ausgeschlossen sei. Damit war die Hätz eröffnet. Auch die KP-Genossen im Lutetia-Ausschuß gingen jetzt zur offenen Attacke über. Ulbricht beschuldigte den Abtrünnigen im Ausschuß, geheime Besprechungen mit Politikern rechtsbürgerlicher Kreise geführt zu haben, wobei er vermutlich Münzenbergs Kontakte zur »Deutschen Freiheitspartei« um Otto Klepper und Carl Spieker im Visier hatte. Erst jetzt, mit der beginnenden Ablösung von der KPD, kam Münzenbergs eigentliche Stunde.48 Sein politisch-soziales Bezugsfeld änderte sich zusehends. In zum Teil hastig gegründeten Organisationen und Projekten versuchte er, neuen Halt und neue Aktionsspielräume zu finden. Mit Jakob Walcher von der noch ein Jahr zuvor befehdeten SAP begann er eine enge Zusammenarbeit. Seit November 1937 beteiligte er sich an den Diskussionen des von Rudolf Breitscheid initiierten »überparteilichen Gremiums« um Georg Bernhard, Paul Fröhlich, Alexander Schifrin, Siegfried Marek und Fritz Sternberg. Zusammen mit Max Braun erwog er die Aufstellung einer aus Emigranten bestehenden »deutschen Legion«, die sich im Kriegsfall an der Seite Frankreichs engagieren sollte, und plante mit Braun die Herausgabe seiner überparteilichen neuen Zeitschrift, der Zukunft, die erstmals am 12. Oktober 1938 erschien und bis zum Jahresende teilweise textidentisch mit Brauns Deutscher Freiheit war. Um sich auch verlegerisch vom KPApparat unabhängig zu machen, nutzte er die Publikationsmöglichkeiten des Straßburger Verlags Sebastian Brant. Im Mai 1939 schließlich kam es zur Gründung der »Freunde der sozialistischen Einheit Deutschlands«, einer Gruppe von gleichfalls abtrünnigen Kommunisten, die sich als Keimzelle einer unabhängigen, deutschen sozialistischen Einheitspartei verstand und postulierte, zu den »alten, ursprünglichen und ewig wahren Zielen des Sozialismus« zurückkehren zu wollen.49 Im August 1939 initiierte er die Gründung des Komitees »Menschen in Not«, das ohne Rücksicht auf weltanschauliche, religiöse und politische Einstellung jenen helfen sollte, denen sonst niemand half. In der Zeit des Zerfalls der alten Fronten und der Formung neuer Parteien und Organisationen hatte sich auch Münzenbergs Konzept der parteigebundenen proletarischen Solidarität als obsolet erwiesen. »Tausende zwingt ihre Erkenntnis und ihr Gewissen, neu Stellung zu nehmen, sie sind ohne Hilfe, ohne Unterstützung, ohne kameradschaftliche Betreuung und ohne helfenden Rat. Diesen Menschen soll vor allem geholfen werden«, verkündete ein von Münzenberg mitunterzeichneter Appell des Komitees50, das sich seit Kriegsbeginn unter anderem durch Hilfsaktionen für die in Südfrankreich internierten Spanienkämpfer hervortat. Obwohl Münzenberg bereits in einem Rundschreiben an seine Freunde

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vom Herbst 1938 die Trennung von der KPD angekündigt hatte51, ließ die öffentliche Abrechnung noch bis zum März 1939 auf sich warten. Seine sachliche und ohne jede persönliche Angriffe vorgetragene Kritik reflektierte seine Erfahrungen der vergangenen fünf Jahre. Primär beklagte er das Fehlen jeglicher innerparteilicher Demokratie und die Kulissenpolitik der KPD gegenüber den anderen sozialistischen Parteien in der Volksfrontfrage. Durch das Übergewicht eines bürokratischen, das gesamte Parteileben beherrschenden Apparates und durch eine Führung, »die sich trotz aller Niederlagen seit 1933 unfehlbar und unersetzbar« gedünkt habe, sei jede freie und öffentliche Diskussion verhindert worden. Innerparteiliche Demokratie und das Mitbestimmungsrecht der Mitglieder aber seien unverzichtbare und unverletzliche Grundprinzipien der Arbeiterbewegung. Die proletarische Revolution werde nur von solchen Menschen gewonnen, »die von der Richtigkeit der durch eigene Erkenntnisse gewonnenen Ideen überzeugt sind und in freiwilliger Disziplin die größten Leiden und Opfer auf sich nehmen«. Mit »reglementierten, kommandierten und schikanierten toten Seelen« sei der »revolutionäre Krieg« nicht zu gewinnen. Die Politik der KPD in der Volksfrontfrage attackierte Münzenberg als widersprüchlich und zwiespältig, da man zwar die Schaffung der Einheitspartei der Arbeiterschaft postuliert, aber gleichzeitig die vom VII. Weltkongreß verurteilte alte Taktik fortgeführt habe. Mit leeren Worten und Formeln wie der der »demokratischen Volksrepublik« sei eine neue Politik vorgetäuscht, gleichzeitig aber am Prinzip der Einparteien-Diktatur festgehalten worden. 52 »Willige Agenten, naive Intellektuelle und alte Dichter« - wobei insbesondere Heinrich Mann als Präsident der Lutetia-Volksfront gemeint war hätten diese »Märchen« weiterverbreitet. 53 Wirkliches Vertrauen aber habe sich durch diese Politik der KPD nicht entwickeln können. Der Abschluß des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939 und dessen Rechtfertigung durch die KPD bedeutete für Münzenberg - wie für zahlreiche andere deutsche Kommunisten - eine traumatische Schockerfahrung und eine Lernprovokation ohnegleichen.54 Sein Verhältnis zur KPD, der er nun erstmals auch ihre Abhängigkeit von Moskau vorwarf, radikalisierte und emotionalisierte sich. Die Partei, für die er die Hälfte seines Lebens geopfert hatte, erschien ihm nun als historisch überholt. In einem neuen Deutschland könne und dürfte kein Platz mehr für sie sein, forderte er.55 Auf Befehl Stalins habe sie das Hitlersystem verteidigt und sich damit selbst als »klägliches Werkzeug der nationalsozialistischen Banditen und Arbeitermörder« in die historische Bedeutungslosigkeit manövriert. Die Wahrheit, so Münzenberg hoffnungsvoll im Januar 1940, lasse sich nicht mehr länger, wie noch in Spanien, »mit heimlichen Morden« ersticken. 56 Trotz der »Liquidierung« von Freunden und Genossen durch Stalins Geheimpolizei und trotz seiner eigenen Absetzung durch die Komintern hatte Münzenberg bis zum August 1939 an der kommunistischen Weltbewegung und an Stalin festgehalten. Rational ließ sich diese Loyalität nicht mehr begründen. Die Sowjetunion war für ihn vielmehr der letzte sichere

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Traum geworden, in dem sich sein »Masochismus« auslebte, und der um so mehr Funktionen emotionaler Kompensation erfüllte als der Konflikt mit der KPD offen ausbrach und die Hoffnungen auf eine Einigung der deutschen politischen Emigration zerbrachen. Also hielt er die Fahne hoch, die längst blutbesudelt war. Erst Stalins Pakt mit Hitler und die ihm folgende sowjetische Gewaltpolitik ließen auch die letzten Illusionen zerplatzen. Alle »Dämme« - so Babette Gross - brachen jetzt bei Münzenberg. »Was sich in den letzten Jahren an verdrängten Erkenntnissen angestaut hatte, ergoß sich mit ätzender Schärfe über die Seiten der Zukunft.«51 In einem offenen Brief vom 28. August 1939 wertete er gemeinsam mit den »Freunden der sozialistischen Einheit« den Pakt als Verrat an den Prinzipien der kollektiven Sicherheit. Der Pakt sei kein Nichtangriffs-, sondern ein Hilfs- und Beistandspakt, der sich gegen die Völker des Westens richte und die Kriegsgefahr steigere. Durch den Schulterschluß mit Hitler hatte sich für Münzenberg die Sowjetunion als Kraft der sozialistischen Weltbewegung verabschiedet und war zur »imperialistischen Gewaltmethode« übergegangen. Der Pakt habe Hitler den Weg nach Polen freigemacht und damit den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. »Es ist kein sozialistisches Rußland mehr«, trauerte Münzenberg, »sondern ein Rußland, das seine imperialistischen Machtansprüche mit Feuer und Schwert angemeldet hat.«58 Nichts verteidige die »brutale imperialistische Gewaltpolitik« eines Staates, der bislang - so sein noch immer jungfräuliches Bild der frühen Sowjetunion - Intervention und Krieg als unsozialistisch abgelehnt und das nationale Selbstbestimmungsrecht - auch bei den Völkern der Sowjetunion - auf seine Fahnen geschrieben habe.59 Der Pakt werde verheerende Rückwirkungen auf die internationale Arbeiterbewegung haben, prognostizierte Münzenberg. Er vernichte das bisherige Vertrauen der Arbeiterschaft in die Sowjetunion und bedeute einen »schweren Schlag« für die illegalen Kämpfer in Deutschland, für die Volksfrontbemühungen und die Weltfriedensbewegung. In Anlehnung an die rechtsradikale Propagandasprache der zwanziger Jahre charakterisierte er den Vertragsabschluß als »russischen Dolchstoß«, der retrospektiv nicht nur die vielen Opfer für die Sowjetunion sinnlos erscheinen lasse, sondern auch eine »unheilvolle Verwirrung gerade in den tapfersten Reihen der deutschen Arbeiter« angerichtet, den Kommunismus in Deutschland »heillos kompromittiert« habe und letztlich mit der Vernichtung der letzten Reste der KPD bezahlt worden sei.60 Nichts demonstrierte für Münzenberg die Abkehr von den alten Prinzipien deutlicher als die Erklärung des Moskauer Rundfunks vom 8. Oktober 1939, in der es hieß: »Wer heute noch einen ideologischen Kampf gegen Hitler führt, verübt ein Verbrechen.«61 Mit der »Entartung« der Sowjetunion zu einer cäsaristischen Diktatur Stalins in bisher nicht erlebter »absolutistischer Machtvollkommenheit«, mit der Auslöschung der »alten Garde«, der Deportation »von Millionen revolutionärer Arbeiter« nach Sibirien und der Errichtung einer »persönlichen Polizeidiktatur auf den Bajonetten der GPU« habe Stalin das Erbe der russischen Revolution verraten. Mit Sozialismus habe der Stalinismus

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nichts zu tun. Wie sehr sich Münzenberg selbst durch Stalin getäuscht und verraten fühlte, zeigte sich nun auch darin, daß er den Verratsvorwurf, der ihm selbst gemacht wurde, an Stalin zurückgab und schrieb: »Der Verräter, Stalin, bist Du.« 62 Der Verrat Stalins und die Transformation der Sowjetunion in einen imperialistischen Machtstaat erfordere den Bruch mit Moskau und zwinge der internationalen Arbeiterbewegung eine neue, doppelte Frontstellung auf. »Moskau treu bleiben, hieße«, so Münzenberg jetzt, »die Bewegung zu opfern und einem Verräter die Treue zu halten.«63 Frieden und Freiheit müßten nun gleichermaßen gegen Hitler wie gegen Stalin verteidigt werden. »Wer heute nicht gleichzeitig gegen Stalin kämpft, hilft Hitler.« »Machen wir die äußersten Anstrengungen, um zu verhindern, daß der Moloch noch weitere Opfer fordert.« 64 Positiv setzte Münzenberg seiner Abrechnung mit dem Stalinismus das Bekenntnis zum »freiheitlichen Sozialismus« entgegen. Stalins Eroberungsfeldzug gegen Finnland habe bewiesen, »daß allein eine Organisationsänderung der Produktions- und Konsumgüter die Gefahr kriegerischer Abenteuer gegen kleine unabhängige Staaten nicht beseitigt«. Neben wirtschaftlichen Wandel - so Münzenbergs neue kulturrevolutionäre Perspektive - müßten umwälzende Änderungen »in den politischen Machtverhältnissen und im geistigen Leben der Völker« treten. Die Entwicklung in der Sowjetunion zeige zudem, daß die Rettung der Menschheit nicht in einer Personaldiktatur, sondern nur durch die Verwirklichung eines »freiheitlichen Sozialismus« gefunden werden könne, der Freiheit für alle, Aufstieg für jeden und die freie Entfaltung der Persönlichkeit garantiere. 65 Dieser Sozialismus lasse sich nicht dekretieren, sondern könne nur verwirklicht werden, »wenn er von der Mehrheit des Volkes bewußt gewollt und allein nach ihrem freien Willen gestaltet wird«66. Sozialismus setze Demokratie und Selbstbestimmung wesensmäßig voraus. Zugleich aber ahnte Münzenberg, daß der Sozialismus in Deutschland für lange Zeit diskreditiert sein würde. Zunächst hatten sich die Nazis dieses einstmals so klingenden Namens bedient, endgültig sei dann die sozialistische Idee unter den russischen Bomben auf Helsinki begraben worden. 67 Diese doppelte Enteignung des Sozialismus mußte schmerzen. Der Verlust der übermächtigen Vorbilder und Leitideen hinterließ ein Vakuum bei Münzenberg, ohne daß sich neue sinnstiftende Zukunftsentwürfe einstellten. Seine Vorstellungen von einem freien, demokratischen und sozialistischen Deutschland in einem föderativ strukturierten Europa blieben nebulös und waren eher durch Negativbilder geprägt. Weder dürfe das Deutschland nach Hitler eine Neuauflage der Republik von Weimar werden, die durch ihre soziale Ungerechtigkeit den Aufstieg des Nationalsozialismus ermöglicht habe, noch eine Kopie der sowjetischen Einparteienherrschaft, weder eine Generalsdiktatur noch eine soziale Monarchie. Noch am ehesten schwebte ihm das Modell einer wehrhaften und sozialen Demokratie vor, die mit Pangermanismus, Militarismus und Stalinismus gleichermaßen aufzuräumen habe. 68

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Auch das große Ziel der »Wiederherstellung der Einheit der deutschen Arbeiterklasse in einer einzigen deutschen Arbeiterpartei«, das er in der ersten Nummer der Zukunft proklamiert hatte, erschien ihm Anfang 1940 in immer weitere Ferne gerückt zu sein. In schroffem Gegensatz zu seiner bisherigen Einheitsfront euphorie stand für ihn seit 1938/39 fest, daß die Einheit nicht durch Erklärungen, Geschrei und Drohungen, sondern nur durch die Klärung grundsätzlicher ideologischer und programmatischer Fragen und eine ehrliche und aufrichtige Verständigung mit der Gesamtheit der Sozialdemokratie zu erreichen war: Erst Klarheit, dann Einheit. In diesem Prozeß habe die politische Emigration versagt. Die neue Partei, so glaubte er nun, könne nur in Deutschland selbst entstehen, wobei der »russische Dolchstoß« allerdings die Spaltung der Arbeiterbewegung vertieft habe. In einem seiner letzten Artikel schließlich konstatierte er die »bittere Tatsache«, daß kein Teil der »sozialistischen deutschen Bewegung« die Hoffnung mehr haben könne, die ganze Arbeiterklasse zu einen und zu sammeln. 69 An die Stelle des blinden Vertrauens auf das »Prinzip Aufwärts« war tiefste Skepsis bei Münzenberg getreten. Illusionäre Bilder waren von nüchternen Einschätzungen abgelöst worden, Ideale waren geplatzt, Beziehungen zerstört, Feindbilder zerbrochen, Gewißheiten unsicher geworden. Wie schmerzhaft dieser Lern- und Ablösungsprozeß für Münzenberg war, wie sehr er seine eigene Identität berührte, schimmerte in seinen Artikeln durch. »Ich trenne mich schwer von einer Organisation, die ich mitgegründet und mitgeschaffen habe«, hatte er 1939 seine Abrechnung mit der KPD eingeleitet. Er wisse, wie schwer es falle, Illusionen aufzugeben und »bittere Tatsachen anzuerkennen«, schrieb er an anderer Stelle.70 Da die Partei für ihn die Freudsche Dreieinigkeit von Ich, Über-Ich und Lustinstanz verkörperte, der er Treue geschworen hatte und gläubig bis an den Abgrund gefolgt war, war es keine einfache rationale Entscheidung, sich von ihr zu trennen, sondern ein die Gefühlswelt, die ganze Person tangierender Kampf: eine Herzenssache. »Zu stark war der Glaube an die Bewegung, zu fest die Verbundenheit mit der Partei, zu viel hatte der Einzelne gegeben, um sich leichten Herzens von der Bewegung trennen zu können«, gestand er im Oktober 1939.71 Diese unter dem Begriff der Treue firmierende teils freiwillige, teils erzwungene, fast immer blinde Identifikation mit der Partei sowie die Integration in den Apparat hatten auch bei Münzenberg jahrelang Zugehörigkeiten gestiftet und Zweifel verdrängt. Die Schattenseiten jener Identifikation: die Abwehr querliegender Außenwelteindrücke, ein realitätsferner Illusionismus, eine blinde, fast schon krankhafte Überidentifikation mit Stalins Sowjetunion und die Projektion der unterschwelligen Aggressionen auf »Renegaten« und äußere Feinde. Mit der Trennung von der KPD und dem Verlust des sowjetischen Ich-Ideals zerbrachen diese psychologischen Mechanismen, zerfiel das ideologische Korsett der Dogmen und Prinzipien, gingen soziale Beziehungen in die Brüche, betrat Münzenberg schwankendes

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Terrain. Was gestern noch Wahrheit war, war heute Lüge. Aus Freunden wurden über Nacht Feinde. Soziale und politische Desintegrationserscheinungen und ein anomischer Zustand waren die Folge. »In dieser Zeit der >Umwertung aller WerteUnsere Zeitimmer wieder an die Leute herangehen?NationalkomiteeFreies Deutschland). Mainz 1981. - 48 Heinrich Grafvon Einsiedel: Tagebuch der Versuchung. Berlin / Stuttgart 1950. - 49 Gerhard Philipp Humbert: »Ich bitte darum erschossen zu werden«. In: Der Spiegel Nr. 5-11,1949. - 50 Der damalige Bundesjustizminister Thomas Dehler erklärte sich für unzuständig und stellte zugleich fest, die Mitgliedschaft im NKFD »allein« böte »keine Handhabe zum Einschreiten der Staatsanwaltschaft«. Die Nachwirkungen dieser Kontroverse sind bis heute spürbar, wie die Debatte Einsiedels mit den Mitgliedern des Verbands der Heimkehrer in Bonn zeigte. Vgl. Diskussion (wie Anm. 2),S. 15 ff. — 51 Jesco von Puttkammer Von Stalingrad zur Volkspolizei: Geschichte des NationalKomitees >Freies Deutschlands Wiesbaden 1951, S. 116 ff. - 52 Ebd., S. 117. - 53 Ebd. 54 Ebd., S. 118. - 55 Ebd., S. 119. - 56 Hans-Werner Richter Die Geschlagenen. München 1978. Dabei handelt es sich jedoch um einen Bericht über die Arbeit von Gegnern des Nationalsozialismus in amerikanischen Gefangenenlagern. - 57 Puttkammer, Stalingrad (wie Anm. 51), S. 120. - 58 Ebd., S. 119. - 59 Ebd., S. 117. - 60 Vgl. Peter Steinbach: »Zur Sozialgeschichte der deutschen Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion im zweiten Weltkrieg

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und in der Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland: Ein Beitrag zum Problem historischer Kontinuität«. In: Zeitgeschichte 17/89, H. 1, S. 1 ff. - 61 Die Geschichte dieser Prozesse ist bis heute nicht systematisch untersucht worden. Lediglich die Haftgeschichte der Verurteilten ist dokumentiert worden. Vgl. Kurt Bährens: Deutsche in Straflagern und Gefängnissen der Sowjetunion. Bd. V/1 bis V/3. Bielefeld 1965. - 62 Vgl. dazu Karl-Wilhelm Fricke: Politik und Justiz in der DDR: Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1965 Bericht und Dokumentation.Köln 1979, S. 205 ff. sowie DDR-Handbuch. Bonn 31985, S. 756. - 63 Von exemplarischer Bedeutung z.B. Assi Hahn: Ich spreche die Wahrheit: Sieben Jahre kriegsgefangen in Rußland. Eßlingen 1951, besonders S. 130 ff. - 64 Vgl. als neuesten, wenngleich in seinen Wertungen schwankenden und problematischen Gesamtentwurf Peter Graf Kielmansegg: Lange Schatten: Vom Umgang der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Berlin 1989. - 65 Theodor Schieder (Hg.): Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. 8 Bde. München 1985 (Nachdruck). - 66 Erich Maschke: »Deutsche Kriegsgefangenengeschichte: Der Gang der Forschung«. In: Ders. (Hg.): Die deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs: Eine Zusammenfassung. München 1974, S. 4. - 67 Vgl. zum Gesamtüberblick ebd., S. IX f. - 68 Diether Cartellieri: Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion: Die Lagergesellschaft - eine Untersuchung der zwischenmenschlichen Beziehungen in den Kriegsgefangenenlagern. München 1967. - 69 Vgl. Henry Faulk: Die deutschen Kriegsgefangenen in Großbritannien: Re-education. München 1970; Kurt W. Böhme: Geist und Kultur der deutschen Kriegsgefangenen im Westen. München 1968. 70 Grundlegend und außerordentlich differenziert im Urteil Gert Röbel: Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion: Antifa. München 1974. Diese Studie wurde von der Universität Innsbruck als Habilitationsleistung im Zusammenhang mit der Verleihung der Venia legendi für osteuropäische Geschichte anerkannt. - 71 Werner Ratza: Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion: Der Faktor Arbeit. München 1973; Hedwig Fleischhacker: Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion: Der Faktor Hunger. München 1965. 72 Vgl. J. Segal: Factors Related to the Collaboration and Resistance Behavior of U.S. Army PW's in Korea. Washington 1956; H A . Segal: »Initial Psychiatric Findings of Recently Repatriated Prisoners of War«. In: American Journal of Psychiatry 111/54, S. 358 ff. 73 Durchstehen nach dem Kampf. Bonn 1965. ( = Schriftenreihe innere Führung). (Ich verdanke Herrn Hesslein den Hinweis auf diese Veröffentlichung). - 74 Ebd., S. 52. - 75 Ebd., S. 53. - 76 Ebd., S. 52. - 77 Ebd., S. 53. Gerade diese Deutung läßt sich, vereinzelt bis in die Ähnlichkeit von Formulierungen hinein, in den Stellungnahmen ehemaliger Bundeswehrgeneräle zur Auseinandersetzung über die Darstellung des NKFD in der Berliner Gedenkstätte aufzeigen. - 78 Peter Strassner: Verräter: Das Nationalkomitee >Freies Deutschland) - Keimzelle der sogenannten DDR. München-Lochhausen 1960. - 79 Peter Strassner: »Betrogene Verräter: Das Nationalkomitee >Freies Deutschland««. In: Verrat und Widerstand im Dritten Reich. Coburg 1978, S. 109 ff. - 80 Eine Kopie dieses Aufsatzes eröffnet die Sammlung von Briefen des Forstamtmanns Hellmut Götze, die dem Institut für Zeitgeschichte auf Anregung eines Ministerialbeamten des Landes Rheinland-Pfalz übergeben wurde. Die Briefe - etwa 50 - sind im Zusammenhang mit Versuchen geschrieben worden, führende Politiker und Militärs der Bundesrepublik zu bewegen, die »Erwähnung« des NKFD in der Berliner Gedenkstätte zu verhindern. Die Beifügung des Aufsatzes von Strassner trägt den Vermerk »Zur Einführung« des streitbaren Forstamtmanns. Damit wird zumindest ein gedanklich-ideologischer Zusammenhang deutlich, denn die Arbeit ist zuerst auf einem rechtsextremistischen Historikertreffen vorgetragen worden. - 81 Bodo Scheurig: Freies Deutschland: Das Nationalkomitee und der Bund Deutscher Offiziere in der Sowjetunion 1943-1945. Neuausgabe Köln 1984 (zuerst 1961). - 82 Scheurig, Verrat (wie Anm. 10), zuerst 1965. - 83 Vereinzelt knüpfte man bei der jüngsten Kontroverse über die Darstellung des NKFD im Rahmen einer Widerstandsausstellung an vorangegangene Polemiken an, die sich vor allem gegen Mitarbeiter von Fernsehanstalten gerichtet haben. Neuauflagen dieser Disziplinierung waren Ausfälle gegen Journalisten, die über die Kontroversen berichtet hatten. - 84 Aufstand des Gewissens: Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933-1945. Herford 1987, besonders S. 126 ff. - 85 Vgl. Alexander Fischer. »Die Bewegung >Freies Deutschland« in der Sowjetunion: Widerstand hinter Stacheldraht?«. In: Ebd., S. 439 ff. - 86 Daran erinnerte der Leserbrief von Philipp Freiherr von Boeselager. In: FAZ vom 29.9.1989. - 87 FJ. Strauß an den Regierenden Bürgermeister von Berlin, 6.8.1988, Anlage zum Schreiben der Bayerischen Staatskanzlei an H. Götze vom 14.10.1988. Darin heißt es: »Daher halte ich es für eine Verunglimpfung der Opfer des Nationalsozialismus, ihrer Angehörigen und der Überlebenden des Widerstandes gegen die nationalsozialistische

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Tyrannei, wenn in der Berliner Ausstellung ein Raum dem Andenken von Männern gewidmet wird, die für ihre Gegnerschaft zu Hitler hinter den Stacheldrahtzäunen sowjetischer Kriegsgefangenenlager verschiedene Vorteile, besonders materieller Art, eingetauscht haben... Von welcher Seite man es auch immer ansehen mag: Die Mitglieder des >Nationalkomitees Freies Deutschland< und des >Bundes Deutscher Offiziere< verdienen es nicht, daß ihrer im Rahmen einer Ausstellung gedacht wird, die dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewidmet ist.« - 88 Dies geschah bereits Ende 1988 und führte dann zu einem offenen Brief, der anläßlich der Eröffnung der ständigen Ausstellung verlesen wurde. Vgl. Die Tageszeitung vom 21.7.1989; dazu auch Claus Christian Mahlzahn: »Die Gedenkstätte dient nicht der Fabrikation von Adelsprädikaten«. In: TAZ vom 24.7.1989. Vgl. dagegen aber die Argumentation von Peter Hermes: »Nicht alle Opfer waren dagegen«. In: Rheinischer Merkur vom 28.7.1989, S. 3. - 89 Frieser, Krieg (wie Anm. 47); zur Rezeption vgl. Götze an Bundesminister der Verteidigung Scholz, Juni 1988, S. 2 (»die Wahrheit auch über das NKFD und seine Hintermänner zusammentrug«), Götze an L. von Hammeistein, Juli 1988, S. 3: »Ich habe dieses wissenschaftlich-objektive Werk schon so manchem Kommandeur und Einheitsführer ... empfohlen, um den heutigen Soldaten, die wirklich nur für den Frieden auf dem Kasernenhof stehen und den Rest verbliebener Freiheit verteidigen wollen, zu zeigen, wie man sich in einer Gefangenschaft als Soldat nicht verhalten soll«. Götze an den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Juli 1988, S. 3: »Dieses Buch müßte jeder gelesen haben, der mit den Sowjets und anderen Kommunisten politisch umzugehen hat«. Schließlich Götze an den CDU-Fraktionsvorsitzenden Dregger, Juni 1988, S. 5: »Dieses Buch habe ich schon an manchen Kommandeur und Offizier vermittelt und dabei festgestellt, daß es seine Wirkung nicht verfehlt hat, weil es eine wirkliche wissenschaftliche Arbeit ist, die nicht auf sogenannten Erkenntnissen von Journalisten und einäugiger (!) Medien beruht.« Sämtliche Briefe im entsprechenden Bestand des IfZ München. - 90 Karl-Heinz Frieser »Nationalkomitee >Freies Deutschlandc Der >Krieg hinter Stacheldraht< in sowjetischen Gefangenenlagern«. In: Militärgeschichtliche Beihefte zur Europäischen Wehrkunde / Wehrwissenschaftlichen Rundschau, 3-4/89; erneut in: Militärgeschichtliche Beiträge. Hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Herford 1989; drittmalig in: Wolfgang Michalka, Hg. im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes: Der Zweite Weltkrieg: Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz. München / Zürich 1989, S. 728 ff. - 91 Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich in den Äußerungen von Oberst Horst Zank (wie Anm. 4); vgl. dazu auch die Fernsehdebatte zwischen Zank und General Schmückte auf der einen, Einsiedel auf der anderen Seite im ZDF, 16.7.1989 mit dem dazugehörenden Bericht der FAZ vom 18.7.1989. Dagegen vgl. den Bericht von Winters über die Ausstellung der NKFD-Flugblätter in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. In: FAZ vom 30.10.1989, S. 35. In derselben Ausgabe eine Leserbriefäußerung von General G. Schmückle. - 92 Frieser, »Nationalkomitee« (wie Anm. 90), zit. nach der Veröffentlichung als Beiheft der Europäischen Wehrkunde, S. 1. - 93 Peter Kleist: Zwischen Hitler und Stalin 1939-1945. Bonn 1950; vgl. dazu Heinrich Graf von Einsiedel: »Bridge mit Madame Kollontaj«. In: Die Zeit vom 30.9.1983, S. 24. - 94 Ingeborg Fleischhauer: Die Chance des Sonderfriedens: Deutschsowjetische Geheimgespräche 1941-1945. Berlin 1986, S. 108 ff. sowie S. 161 ff. und S. 86 f. - 95 Frieser, »Nationalkomitee« (wie Anm. 90), S. 3. - 96 Wolfgang Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder. Köln 1955, zit. nach der Ausgabe München 1979, S. 245 ff. - 9 7 Fleischhauer, Chance (wie Anm. 94), S. 197 f. - 98 Vgl. Christian Streit: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945. Stuttgart 21980; vorzüglich Alfred Streim: Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im >Fall Barbarossas Eine Dokumentation. Heidelberg 1981. - 99 Vgl. Ernst Reuter: Schriften und Reden. Bd. 2 (1922-1946). Hg. Hans J. Reichardt. Berlin 1973, S. 445 ff.; die Ähnlichkeit der gegen Reuter gerichteten Argumente mit der NKFD-Diskussion ist frappierend. - 100 Vgl. Frieser, Krieg (wie Anm. 47), S. 216 ff.; dort findet sich auch die einschlägige Überlieferung aus Erinnerungen verarbeitet. Ergänzend und korrigierend sollte unbedingt Röbel, Antifa (wie Anm. 70) herangezogen werden. - 101 Dazu wieder Frieser, Krieg (wie Anm. 47), S. 144 ff.; dieser Bezug findet sich in vielen Briefen zur Kontroverse. Vgl. etwa Werner Fähnrich. In: FAZ vom 14.8.1989, S. 7, oder Götz Dornbach. In: FAZ vom 22.8.1989. - 102 Besonders kennzeichnend ist der Bericht des Generalleutnant Werner Ranck, der erst bei Kriegsende im Mai 1945 in Kurland in Gefangenschaft geriet und durch seine Frau (FAZ vom 23.8.1989) Einsiedel und Puttkammer belasten ließ. Beide hätten »Kameradenverrat verübt und Beiträge zur Verurteilung« anderer deutscher Offiziere geleistet: »Diese handschriftlichen Beiträge mit eigenhändiger Unterschrift hätten die später zu 25 Jahren Arbeits- und Besserungslager Verurteilten in ihren Gerichtsakten gelesen.« Puttkammer und Einsiedel sind wohl niemals zuvor in dieser

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Weise beschuldigt worden. Zu Ranck vgl. auch Europäische Wehrkunde 3/89, S. 137, wo NKFDMitglieder als »Russenknechte« tituliert werden. - 103 Vgl. vor allem Cartellieri, Lagergesellschaft (wie Anm. 68). - 104 Vgl. Steinbach, »Sozialgeschichte« (wie Anm. 60). - 105 Vgl. in diesem Zusammenhang Walter F. Peterson: »Zwischen Mißtrauen und Interesse: Regierungsstellen in Washington und die deutsche politische Emigration 1939-1945«. In: Manfred Briegel u. Wolfgang Frühwald (Hg.): Die Erfahrung der Fremde. Weinheim u.a. 1988, S. 55 ff. - 106 Röbel, Antifa (wie Anm. 70) arbeitet gerade diese Entwicklung heraus. Sie läßt die Volksfront, erste Antifa-Periode und die Wirksamkeit des NKFD und BDO nachgerade zum Vorspiel der eigentlichen Antifa-Periode werden, die Kritiker des NKFD nahezu regelmäßig nicht in ihrer Besonderheit und ihren Zäsuren erkennen. Besonders typisch ist in dieser Hinsicht das Statement des Bundeswehr-Oberst Neelmeier, der behauptet, das NKFD habe die »Überlebenschancen« der 1,9 Mio. deutschen Kriegsgefangenen »entscheidend beeinträchtigt«. Dabei beruft er sich auf eine angebliche Umfrage, derzufolge »Opportunisten, Spitzel und Antifa-Lagerfunktionäre« (!) vor »entwürdigender Behandlung, Vernehmungen« als weitaus am »unangenehmsten, niederdrückendsten und widerwärtigsten« galten. Sein Beitrag ist das wohl beste Beispiel für eine Vermengung unterschiedlichster Perspektiven und Deutungen. - 107 Wie kontrovers auch die amerikanische und französische Geschichte deutscher Kriegsgefangenschaft diskutiert werden kann, zeigt die geradezu haltlose Arbeit von James Bracque: Der geplante Tod: Deutsche Kriegsgefangene in amerikanischen und französischen Lagern 1945/46. Frankfurt/M. 1989; dazu Karl-Heinz Janßen: »Für Eisenhower waren die deutschen Bestien«. In: Die Zeit vom 8.12.1989, vor allem aber Arthur L. Smith. In: Die Zeit vom 19.1.1990. - 108 Vgl. Hermann Graml: Die Alliierten und die Teilung Deutschlands: Konflikte und Entscheidungen 1941-1948. Frankfurt/M. 1985. - 1 0 9 Frieser, »Nationalkomitee« (wie Anm. 90), S. 3. - 110 Georg Meyer: »Täuschung hinter Stacheldraht«. In: Rheinischer Merkur vom 28.7.1989, S. 3 f. Auch er benutzt den Begriff des »Landesverrats« und knüpft an die merkwürdige Diskussion über den »Verrat« von Oster an, um den angeblich »weit überdehnten Widerstandsbegriff zu kritisieren, der - wie immer wieder betont wurde - der Berliner Widerstandsausstellung zugrunde gelegt worden sei. Wenn Diskussionsbeiträger wie der ehemalige Leutnant Scholz dagegen betonten, der Kampf gegen die Rote Armee sei »Widerstand« gewesen (vgl. Diskussion des VdH - wie Anm. 2 - , S. 28 f.), so erhält diese Begriffserweiterung von Widerstand Beifall. Meyers Beitrag spiegelt seinen eigentlichen Arbeitsschwerpunkt: die Mentalitätsgeschichte des deutschen Offizierskorps. Dies verbindet Methode und Deutung mit den Arbeiten von Frieser. - 111 Vgl. Scheurig, Verrat (wie Anm. 10), S. 43 ff. - 112 Ebd., S. 65.-113 Dies, obwohl er Röbel, Antifa (wie Anm. 70) berücksichtigt hat. Ein folgenreicher Fehler ist die Vernachlässigung der grundlegenden Arbeit von Alexander Fischer, »Bewegung« (wie Anm. 85); Fischer hat sich mit einem Leserbrief in die Debatte eingeschaltet; vgl. FAZ vom 28.7.1989. - 114 Ihre Verhaltensweise, aber auch das Unverständnis für kritische Rückfragen machte Generalleutnant Ranck auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Berlin deutlich. Vgl. den Bericht der Frankfurter Rundschau vom 24.7.1989: »Der General bleibt dabei: Kameradenverrat«. - 115 Vgl. Alexander Fischer: »Die Bewegung »Freies Deutschland in der Sowjetunion: Widerstand hinter Stacheldraht«. In: Jürgen Schmädeke u. Peter Steinbach (Hg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus: Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler. München 1985, S. 954 ff. - 116 Vgl. Steinbach, »Sozialgeschichte« (wie Anm. 60), S. 6 ff. mit weiteren Literaturhinweisen. 117 Heinrich Graf von Einsiedel: Tagebuch der Versuchung. Neuausgabe Frankfurt/M. 1985, S. 18 ff. - 118 Hahn, Wahrheit (wie Anm. 63), S. 11 ff. - 119 Frieser, »Nationalkomitee« (wie Anm. 90), S. 33; eine Scheinhinrichtung schildert besonders eindrucksvoll Einsiedel. 120 Theodor Fontane: Vor dem Sturm: Roman aus dem Winter 1812 auf 1813. München 1969, S. 191 ff. - 121 Ein besonderes Problem ergibt sich für die Kriegsgefangenengeschichte daraus, daß immer wieder Überlieferungen und Erzählungen, die in der Gefangenschaft zu einem Mittel der Selbstbehauptung wurden, mit eigenen Erfahrungen vermengt werden. Dieses Problem verschärft sich noch, wenn Erzählungen zugleich Teil einer Bemühung um Traditionssicherung werden. Frieser komponiert immer wieder Erlebnisfragmente, ohne nach deren Entstehungszeit, Funktion oder Realitätsgehalt zu fragen. Immer wieder verraten Querverweise Zirkelschlüsse, die schließlich eine hermetische Überlieferung erzeugen können. - 122 Vgl. dazu die methodisch reflektierten Arbeiten von Lutz Niethammer (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Frankfurt/M. 1980. In der Tat ist das zentrale Problem die Überlieferungswahrnehmung. - 123 Frieser, »Nationalkomitee« (wie Anm. 90), S. 13. - 124 Derartige Thesen sind ohne eine intensive Diskussion der Studien des Berliner Wahlforschers Jürgen Falter heute nicht mehr zu belegen, selbst dann nicht, wenn man

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einwenden mag, vor allem die Wandlungsprozesse nach 1933 im Blick zu haben. - 125 Röbel, Antifa (wie Anm. 70), Cartellieri, Lagergesellschaft (wie Anm. 68). - 126 Frieser, »Nationalkomitee« (wie Anm. 90), S. 11 f. - 127 Die »Kameradenschinderprozesse« richteten sich ausnahmslos gegen Kriminelle; in diesem Zusammenhang ist ein Satz aus dem Diskussionsbeitrag von Gerhard Philipp Humbert (vgl. Diskussion, wie Anm. 2) bezeichnend: »Eines muß ich noch als Gefangener sagen: Ich kann verstehen, wenn bei Prozessen über Judenvernichtungen und ähnlichem die Beteiligten an solchen Prozessen es einfach anekelt, wenn sie ihre ehemaligen Kapos da auf einmal mit Ehren versorgt in der Gegend rumwandern sehen.« 128 Frieser, »Nationalkomitee« (wie Anm. 90), S. 15. Dieser Satz wird erstmals Ende der sechziger Jahre überliefert, nach dem Erscheinen der ersten Biographie über Stauffenberg in der DDR. - 129 Dies betont vor allem Horst Zank in verschiedenen Leserbriefen (wie Anm. 4). Vgl. auch Frieser, »Nationalkomitee« (wie Anm. 90), S. 14. - 130 Vgl. dazu Wolfgang Wippermann: Zur Analyse des Faschismus: Die sozialistischen und kommunistischen Faschismustheorien 1921-1945. Frankfurt/M. u.a. 1981; vgl. ferner Bruno Seidel u. Siegfried Jenkner (Hg.): Wege der Totalitarismusforschung. Darmstadt 1968. - 131 Vor allem wurde dabei betont, Widerstand könne nur im Innern geleistet werden und setze ein persönliches Risiko voraus. Dies würde nicht nur die Ausgrenzung des Exils aus dem inhaltlichen Zusammenhang der Widerstandsgeschichte bedeuten, sondern hätte eine neue Auseinandersetzung über die Risikogröße zur Folge, die einzelne Widerstandskämpfer ganz unterschiedlicher Funktion und sozialer Stellung auf sich nahmen. Zum Problem des Risikos von NKFD-Mitgliedern vgl. jetzt Claus-Dieter Krohn: »Wir schössen mit Flugblättern«. In: Ausstellungskatalog (wie Anm. 6), S. 29 ff.

Werner Röder

Sonderfahndungsliste UdSSR Über Quellenprobleme bei der Erforschung des deutschen Exils in der Sowjetunion

In der Geographie des deutschsprachigen Exils nach 1933 gibt es seit geraumer Zeit kaum noch terra incognita. Wanderungswege, Größenordnungen, Sozialstrukturen, Lebensumstände und Organisationsformen der Emigration sind der Forschung in recht verläßlicher Weise ebenso bekannt wie die Reaktionen auf das nationalsozialistische Regime und den von ihm ausgelösten Flüchtlingsstrom bei Regierungen, Parteien und Bevölkerung der Asylstaaten. Dies gilt, wenn auch in unterschiedlichem Maße der Details, für die Hauptaufnahmeländer und für eine Reihe peripherer Zufluchtsregionen in Europa und Übersee, deren Befunde sich mit einiger Wahrscheinlichkeit als Muster in den noch zu erwartenden Länderuntersuchungen wiederholen dürften. Das beachtliche Fazit einer erst vor rund zwei Jahrzehnten initiierten Wissenschaftsanstrengung wird freilich durch eine Zone fragwürdiger Erkenntnisse gestört: gemeint ist die Sowjetunion als Asylland und angebliches Zentrum des »antifaschistischen« Exils. Zwar ist auch hier das anfängliche Hic sunt leones auf dem Atlas der Forschung überholt (und lediglich in ironischem Sinne noch treffend); nach wie vor aber stützt sich unser Wissen im wesentlichen auf die parteilichen Verlautbarungen und Druckerzeugnisse der damaligen Zeit, auf affirmative Lebensberichte von Siegern und Opfern kommunistischer Fraktionskämpfe und auf jene faktischen Mitteilungen in der östlichen Partei- und Staatsgeschichtsschreibung, die den Prozeß der »revolutionären Wachsamkeit gegenüber den Quellen« mit einem schwer überprüfbaren Maß an Deformation passiert haben. 1 Akten und Aufzeichnungen der dreißiger und vierziger Jahre, die den Historiker instand setzen würden, Realien, Ereignisabläufe, Motivationen und Entscheidungsprozesse in bezug auf das Exil in der UdSSR lege artis zu rekonstruieren, befinden (oder befanden) sich mehrheitlich in staatlichen Archiven der Sowjetunion und der DDR, in den Sondersammlungen der ZK-Institute und Akademien und in den Dokumentationszentralen von Ministerien, Geheimdiensten und Militärverwaltungen. Deren Örtlichkeiten sind zum Teil unbekannt, einzelne Bestände oft nur mit Hilfe kryptischer Zitierweisen in der Literatur inhaltlich abzuschätzen und der Zugang ist auch dortigen Wissenschaftlern nur selektiv und zum Zweck offiziöser Darstellung unter der Kontrolle von Gutachtern und Geschichtskommissionen gewährt worden. Betroffen sind von dieser Quellensperre nicht allein die einschlägigen Unterlagen der Sowjetregierung, ihrer Behör-

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den und der KPdSU, der Kommunistischen Internationale und ihrer Gliederungen sowie die Registraturen der Exil-KPD, sondern auch Akten des nationalsozialistischen Gegners, die mehr oder minder zutreffende Nachrichten aus dem Bereich der Kaderstrukturen, der illegalen Parteiarbeit oder der Aktivität der kommunistischen »Apparate« in und außerhalb der Sowjetunion enthalten. So wurde ein Großteil des bei Kriegsende der Vernichtung entgangenen Schriftguts des Reichssicherheitshauptamts und der Staatspolizei(leit)stellen mit Lageberichten, Statistiken und Sachakten zu Widerstand und Exil der Arbeiterbewegung im Zentralen Parteiarchiv der SED verwahrt. Neben umfangreichen Prozeßunterlagen des Volksgerichtshofs (VGH) im Zentralen Staatsarchiv Potsdam und in den Sammlungen des Instituts für Marxismus-Leninismus hielt das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit der DDR mehrere tausend Verfahrensakten des VGH unter Verschluß, deren besondere Relevanz für die Auslandstätigkeit der KPD mehr als nur vermutet werden darf. Es steht zu hoffen, daß mit dem Zusammenbruch der Parteidiktaturen in der DDR und der Sowjetunion die Archiwerhältnisse sich westeuropäischen Organisationsformen und Zugangsbedingungen annähern werden. Die Ära Gorbatschow hat es schon vor dem Herbst 1989 möglich gemacht, innerhalb der kommunistischen Linken die »nun allseits als Problem erkannte und abgelehnte Geschichtsschreibung des Weglassens und Glattbügeins« offen zu thematisieren. Zunächst war freilich die utilitaristische Korrektur an einer allzu »vereinfachenden Geschichtsdarstellung« im Gespräch: »Aus heutiger Sicht geht es allein darum, (...) geschichtliche Fakten, die bislang unterschlagen wurden, überhaupt erst einmal in der marxistischen Geschichtsschreibung zur Kenntnis zu nehmen und aufzuarbeiten, statt sie totzuschweigen und zu verleugnen.«2 In der DDR scheint inzwischen eine Perestrojka des Archivwesens in Gang gesetzt. Die dortige Exilforschung aber, die aufgrund der exponierten Bedeutung ihres Untersuchungsobjekts für die Partei- und Staatstradition unter Walter Ulbricht und Erich Honecker der Orthodoxie ganz besonders verpflichtet gewesen ist, wird sich schwer tun, eine Wende allein durch den Umgang mit neu geöffneten Aktenfonds und die »Aufarbeitung« bisher verschwiegener Fakten unter Beweis zu stellen. Ausschlaggebend für eine künftige Glaubwürdigkeit muß die Bereitschaft sein, die Quellen mit allen wissenschaftlichen Interessenten, also nicht nur mit den Vertretern einer »marxistischen Geschichtsschreibung« zu teilen. Zu den spärlichen Überlieferungen staatlichen Schriftguts über das UdSSR-Exil, das der Forschung bislang in Archiven der Bundesrepublik3 zur Verfügung stand, gehört an prominenter Stelle das im folgenden beschriebene Fahndungsbuch für die deutschen Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion. Die vermutlich im Frühjahr 1941 fertiggestellte Sonderfahndungsliste »UdSSR Band I« ist im Bestand Reichssicherheitshauptamt des Bundesarchivs überliefert und wurde 1976 vom Verfasser dieses Beitrags an entlegener Stelle als Faksimile-Nachdruck herausgegeben.4

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Schon beim »Anschluß« Österreichs, der Eingliederung des Sudetenlands, der Besetzung der Tschechoslowakei und der Liquidierung des polnischen Staates hatten polizeiliche Sondereinheiten mit Hilfe von Fahndungslisten »systematisch durch Verhaftung, Beschlagnahme und Sicherstellung wichtigsten politischen Materials heftige Schläge gegen die reichsfeindlichen Elemente in der Welt aus dem Lager von Emigration, Freimaurerei, Judentum und politisch-kirchlichem Gegnertum sowie der 2. und 3. Internationale geführt.«5 Im besetzten Westeuropa gehörten die »Erfassung und Überwachung von gegen das Reich gerichteten Bestrebungen der Juden, Emigranten, Logen, Kommunisten und Kirchen« bzw. die »Sicherstellung (von) Emigranten, Kommunisten, Juden, Saboteuren, Terroristen usw.« sowie die »Durchforschung und Sicherung« von Behördenschriftgut und anderem interessierenden Material ebenfalls zu den Aufgaben von Sicherheitspolizei (Sipo) und Sicherheitsdienst (SD).6 Seit Januar 1941 waren im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) die Vorbereitungen für die polizeiliche und nachrichtendienstliche Behandlung der neu zu unterwerfenden »Ostvölker« im Gange. Ab Mai wurden in der Grenzpolizeischule Pretzsch an der Elbe und in umliegenden Städten vier Einsatzgruppen der Sipo und des SD mit je 500 bis 1000 Mann zusammengestellt, für die man Gestapobeamte, SD-Leute, Kriminalpolizisten und Anwärter des leitenden Polizeidienstes aus allen Teilen des Reiches rekrutiert hatte. Sie sollten - wie der Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall von Brauchitsch, in Abstimmung mit Reinhard Heydrich verfügte - im Osten die folgenden Aufgaben übernehmen: »a) Im rückwärtigen Armeegebiet Sicherstellung vor Beginn von Operationen festgelegter Objekte (Material, Archive, Karteien von reichs- oder staatsfeindlichen Organisationen, Verbänden, Gruppen usw.) sowie besonders wichtiger Einzelpersonen (führende Emigranten, Saboteure, Terroristen usw.) (...) b) im rückwärtigen Heeresgebiet Erforschung und Bekämpfung der staatsund reichsfeindlichen Bestrebungen, soweit sie nicht der feindlichen Wehrmacht eingegliedert sind, sowie allgemeine Unterrichtung der Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete über die politische Lage (,..).«7 Bei der Aufspürung, Überwachung und Ausschaltung des politischen Gegners im Reich und jenseits der Grenzen hatten sich die nationalsozialistischen Sicherheitsorgane eine immerhin achtjährige, im Falle der Arbeiterparteien zum Teil an die Evidenztätigkeit republikanischer Polizeibehörden anknüpfende, von rechtsstaatlichen Beschränkungen unbehinderte Praxis mit relativ hochentwickelten Sach- und Personenkenntnissen angeeignet.8 Als genuin nationalsozialistisches Überwachungsorgan war der schon 1931 entstandene SS-eigene Sicherheitsdienst unter Reinhard Heydrich in das Polizeisystem des »Dritten Reichs« überführt worden, ohne indes Teil des staatlichen Behördenapparats zu werden.9 Die aus den politischen Polizeien der Länder geschaffene Geheime Staatspolizei übte als Teil der neustrukturierten Sicherheitspolizei die politisch-polizeiliche Exekutive aus,

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während sich der SD dem Auslandsnachrichtendienst, der »wissenschaftlichen Gegnererforschung« und der sogenannten Lebensgebietsarbeit zuwandte. Nach einem systematischen Zentralisierungsprozeß waren 1939 Gestapo, Kriminalpolizei und SD in einer verwaltungsmäßigen Einheit, dem Reichssicherheitshauptamt in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße, zusammengefaßt worden. Der SD-Inland bildete schließlich Amt II, die Gestapo Amt IV, die Kriminalpolizei Amt V, der SD-Auslandsnachrichtendienst Amt VI und der SD-Weltanschauliche Forschung und Auswertung Amt VII des RSHA.10 Als ausschreibende Stelle ist in der Sonderfahndungsliste UdSSR im Sinne ihrer politisch-nachrichtendienstlichen Zielsetzung das Amt IV des RSHA, also die Geheime Staatspolizei mit ihren Referaten A 12 »Kommunismus, Marxismus und Nebenorganisationen, Kriegsdelikte, illegale und Feindpropaganda«, B 4 »Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten«, D 3 »Vertrauensstellen, Staatsfeindliche Ausländer« und E 5 »Abwehr Ost« zuvorderst vertreten. Federführend für das Fahndungsbuch ist im Reichssicherheitshauptamt offenbar das Referat A 1 gewesen. Da zwischen 1936 und 1939 die schrittweise Zusammenlegung der neun Spezialkarteien für Fahndungs- und Nachrichtenzwecke in einer nach Ländergruppen erschlossenen Hauptkartei beim RSHA erfolgreich betrieben worden war11, dürfte der Personenteil der Fahndungsliste vom zuständigen Referat IV C 1 erstellt worden sein. Legt man die überlieferten Autorenschaften bei der »Sonderfahndungsliste G.B.« aus dem Jahr 1940 zugrunde, sind an der Abfassung des Sach- und Ortsteils wohl in erster Linie das Referat IV E 5 und die Gruppe A vom Amt VI (SD-Ausland) beteiligt gewesen. Näheres über die Richtlinien, das Arbeitsverfahren und zur Verbreitung der Fahndungsliste ist nicht überliefert.12 Das 316 Seiten umfassende Fahndungsbuch im Oktavformat mit dem Außenaufdruck »Geheim!« gliedert sich - so die vorangestellten »Erläuterungen« - »in drei Teile, in ein Personenverzeichnis (weißes Papier), Sachverzeichnis (grünes Papier), Ortsverzeichnis (rosa Papier). Sämtliche Verzeichnisse sind nach dem Schulalphabet geordnet. (...) Die unter den einzelnen Buchstaben im Personenverzeichnis gebrachten Namen sind laufend durchnumeriert. Der Anfangsbuchstabe ist als Kennbuchstabe auf jeder Seite rechts oben aufgedruckt. Die Personenangaben sind - soweit möglich - in folgender Reihenfolge gebracht: Familienname, Vorname, akademische Grade, Staats- und Rassenzugehörigkeit, Decknamen, Geburtszeit und -ort, Beruf, Wohnort, Straße und Haus-Nr., sachbearbeitende Dienststellen. Die nicht gekennzeichneten Personen müssen vom sicherheitspolizeilichen Standpunkt aus als gefährlich betrachtet werden. Mit * gekennzeichnete Personen sind weniger gefährlich; ihre Festnahme erscheint jedoch geboten. Bei den Personen, die mit ** gekennzeichnet sind, ist zu prüfen, ob sie nicht als V-Personen Verwendung finden können. Im Sachverzeichnis findet sich neben einem Presseverzeichnis und einem Verzeichnis der Hochschulen eine Zusammenstellung der wesentlichsten

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sowjetrussischen Abkürzungen und ihrer Bedeutung in deutscher Sprache. Das Ortsverzeichnis enthält nur Städte mit über 50 000 Einwohnern und einige sonstige wichtige Orte im europäischen Rußland. Nach Möglichkeit ist eine kurze Charakteristik der Stadt beigefügt. Außerdem sind die in den Orten festzunehmenden Personen, sofern sie in dem Personenverzeichnis erscheinen, mit Kennbuchstaben und laufender Nummer aufgeführt. Soweit in den einzelnen Orten Fundstellen bekanntgeworden sind, sind sie ebenfalls besonders vermerkt.« Knapp 2 800 Einträge, das heißt über die Hälfte der 5 256 Ausschreibungen13 beziehen sich auf Personen aus dem Deutschen Reich, aus Österreich und aus den deutschsprachigen Gebieten der Tschechoslowakei, gehören also der »Gegnergruppe« der politischen Emigration und der Rußlandauswanderung vor 1933 an. Das nationalsozialistische Regime hatte seit Anbeginn einen nicht unwesentlichen Teil seiner Verfolgungsenergie auf die deutsche Opposition im Ausland konzentriert, die seinen Totalitätsanspruch sichtbar in Frage stellte, äußerst rege als Faktor der Meinungsbildung im Ausland wirkte und auch den Widerstand im Inneren organisatorisch, materiell und propagandistisch unterstützte.14 Bereits 1933 wurde im Geheimen Staatspolizeiamt mit dem Aufbau einer zentralen Emigrantenkartei und der Sammlung sachlicher Erkenntnisse begonnen, die in der Überwachungstätigkeit anderer Stellen (z.B. Auswärtiges Amt, Reichswehr, Deutsche Arbeitsfront, SD, SA und Auslandsorganisation der NSDAP) ihre Unterstützung oder Entsprechung fand. Mit zunehmender Ermittlungspraxis verfügte die Geheime Staatspolizei schließlich über differenzierte Fahndungsmittel wie Sektorenkarteien, die Kartei flüchtiger Kommunisten und Marxisten, die Kartei international tätiger Kommunisten und die Kartei Internationale Brigaden.15 Neben speziellen Suchlisten diente ab 1936 vor allem das neue zentrale »Deutsche Fahndungsbuch« des Reichkriminalpolizeiamts (Amt V RSHA) zur Ausschreibung von »Reichsfeinden« jenseits der Grenzen. Während für die meisten Asylländer ein Netz von beamteten und freiwilligen Observanten, Sonderagenten und eingeschleusten V-Leuten, zuweilen auch die kollegiale Mitarbeit einheimischer Polizeibehörden, die Geständnisse festgenommener Regimegegner und Emigranten sowie die Presseauswertung und die Berichte der diplomatischen Vertretungen das Gros von mehr oder weniger zutreffenden Informationen der Berliner Zentrale zuführten, bildeten im Falle der Sowjetunion auch die Aussagen der sogenannten Rußlandrückkehrer einen Hauptteil der polizeilichen Erkenntnisse. Seit 1920 hatte als Folge wirtschaftlicher Krisen und gefördert durch die Sowjetpropaganda der KPD eine relativ starke Abwanderung von Facharbeitern und technisch-wissenschaftlichen »Spezialisten« in die UdSSR stattgefunden; ihre Zahl wurde amtlicherseits auf etwa 18 000 geschätzt. Hinzu kam nach dem Februar 1934 die österreichische SchutzbundEmigration als gesonderte Einwandererkategorie.16 Bis 1939 sind vermutlich

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über 12 000 Rußland-Auswanderer ins Reich zurückgekehrt, seit Mitte der dreißiger Jahre mehrheitlich aufgrund von Ausweisungsbefehlen der stalinistischen Bürokratie. 4 300 dieser Rückkehrer hat die Gestapo »staatspolizeilich erfaßt und behandelt«, wobei insbesondere genaue Angaben über »Besetzung, Gliederung, Aufgaben der Komintern sowie ihrer Hilfsorganisationen, KPR und ihre Gliederungen, die GPU usw.«, über »die in der Sowjetunion bekannt gewordenen Reichsdeutschen«, über allfällige Gefängnisbekanntschaften sowie die Lehrer und Mitschüler bei politischen Kursen abzufragen waren.17 Der hohe Anteil an Facharbeitern und vermutlichen Schutzbündlern, von Familienangehörigen und auffällig oft vertretenen Herkunftsorten in der Sonderfahndungsliste UdSSR weist ebenso wie die relativ geringe Zahl der ausgeschriebenen politischen Führer der vornationalsozialistischen Zeit und des Exils auf die überwiegende »Erkenntnisquote« hin, die die Gestapo aus den Rückwandereraussagen gewonnen haben muß. Die Verhöre der etwa 4 000 im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetunion nach Deutschland »abbeförderten« Reichsangehörigen dürften als weitere Quelle dieser Art gedient haben. Verglichen mit den europäischen Hauptaufnahmeländern der deutschen Emigration wie Frankreich oder der Tschechoslowakei ist die Sowjetunion für die vom Nationalsozialismus Bedrängten nur im Ausnahmefall Zufluchtsstätte gewesen. Der Mehrheit der ausschließlich rassisch Verfolgten wäre sie auch - solange andere Auswanderungsmöglichkeiten bestanden - aus weltanschaulichen, politischen und wirtschaftlichen Gründen kaum als wählbare Alternative erschienen. Im Gegensatz zu Artikel 12 der Verfassung von 1925, die allen Ausländern Asylrecht zusicherte, die »wegen ihrer Tätigkeit im Dienste der revolutionären Befreiungsbewegung Verfolgungen ausgesetzt sind«18, hat die Sowjetunion auch politisch aktive kommunistische Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Machtbereich in nur wenigen Fällen aufgenommen. Als Voraussetzung für die Erteilung einer Einreisegenehmigung sollte gelten, daß »Todesstrafe oder sehr lange Einkerkerung droht oder (...) die Auslieferungsgefahr unmittelbar besteht und (...) die Sowjetunion die allerletzte Möglichkeit der Asylgewährung darstellt.«19 In der Regel jedoch war die Einreise von Parteiemigranten in die UdSSR von operativen Erwägungen und den Bedürfnissen der Kominternorganisationen bestimmt. Für die Parteiführung selbst bildete die Sowjetunion zwar die wichtigste politische Basis zur Leitung der Aktivitäten in den Nachbarstaaten des Deutschen Reichs, wo die Mehrzahl der geflüchteten Mitglieder Asyl gefunden hatte. Die Deutschlandarbeit der KPD erfolgte jedoch von den Stützpunkten in der CSR, in Skandinavien und Westeuropa aus und auch ihre legalen und illegalen Propagandamittel - also Zeitungen, Zeitschriften, Flugblätter und Tarndrucke - hat die Partei in diesen Ländern herstellen lassen. Von der fremdsprachigen Buchproduktion und Presse der staatlichen Verlage abgesehen sind in der Sowjetunion vor Kriegsbeginn als Periodika mit Zielgruppen über die sowjetischen Grenzen hinaus nur zwei literarische deutschsprachige Exilzeitschriften erschienen: die seit 1931 zunächst als

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Zentralorgan des Internationalen Verbands Revolutionärer Schriftsteller herausgegebene Zeitschrift Internationale Literatur /Deutsche Blätter unter der Leitung von Johannes R. Becher und, von 1936 bis 1939, Das Wort in der Redaktion von Willi Bredel und Fritz Erpenbeck. Angesichts dieses engen Betätigungsfeldes unterhalb der Führungsspitze der Partei orientierte sich die Zulassung von KPD-Emigranten an den Bedürfnissen der Kaderschulung für besondere Einsätze im Reich und im westlichen Ausland sowie an den von Staat und Komintern zu besetzenden Stellen für Berater, Übersetzer oder Verwaltungsfachleute in den Deutschland-Abteilungen ihrer Apparate. Erst nach Ausbruch des gesamteuropäischen Kriegs konnte das KPD-Exil auch im Lande selbst größere Aktivität entfalten, die 1943 in die Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland mündete. Der vorübergehende oder dauernde Aufenthalt von sympathisierenden Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern hatte die individuelle Einladung durch eine Sowjet-Institution zur Voraussetzung, die in der Regel unter dem Aspekt der internationalen Manifestation - so im Rahmen des VolksfrontBündnisses mit dem »fortschrittlichen Bürgertum« - bzw. der kulturpolitischen und propagandistischen Unterstützung von innersowjetischen Entwicklungen erfolgte. Die Gesamtzahl der deutschsprachigen Flüchtlinge in der Sowjetunion kann nach wie vor mit Schätzungen von nicht mehr als 3 000 Personen nur vermutet werden. Ein größerer Teil der Parteiaktivisten ist erst Ende der dreißiger Jahre, das heißt im Zuge der Destabilisierung in Mittel- und Westeuropa, in die UdSSR gelangt. Für die Fahndungsbeamten des Reichssicherheitshauptamts mußten sich hieraus und durch den Umstand, daß die wichtigeren Moskau-Emigranten einem nach stalinistischer Manier streng abgeschirmten »Apparat« angehörten, erhebliche nachrichtendienstliche Probleme ergeben. Neben dieser zumeist vom RSHA-Referat IV A 1 gesuchten Gegnergruppe konzentrierten sich die Ausschreibungen auf zwei weitere Interessenkomplexe. Zum einen auf die hauptsächlich in die Zuständigkeit von IV D 3 und - soweit es sich um führende jüdische Funktionäre handelt - von IV B 4 fallenden Mitglieder der sowjetischen Staats-, Partei- und Wirtschaftsbürokratie, des Militär- und Polizeiapparats und des Kultur- und Pressewesens, die mit annähernd 500 Personen im Fahndungsbuch vertreten sind. Jenseits allbekannter Namen aus der keinesfalls vollständig erfaßten Prominenz etwa eines »Dschungaschwili, Josef Wissarion (Deckname: siehe Stalin, Josef)«, W.M. Molotow, M. Litwinow, M.I. Kalinin, E. Varga, S.M. Eisenstein oder A.N. Tolstoi - reicht die Liste der von IV D 3 gesuchten Funktionäre bis in unterste Ränge des Sowjetapparates. Eine funktionsorientierte Systematik ist nicht erkennbar. Vermutlich sind hier lediglich die routinemäßig in den RSHA-Karteien aktenkundig gewordenen Personen für das Fahndungsbuch übernommen worden.20 Erkenntnisse höchst sensationeller Art wird sich das Sicherheitshauptamt, namentlich das ausschreibende Referat IV E 5, zum anderen vom Zugriff

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auf die Zentren des sowjetischen Nachrichtendienstes erhofft haben. Allein über 150 Personen sind im Text des Fahndungsbuches als Funktionäre, Agenten und Kuriere des sowjetischen Spionagewesens genannt. Bei einigermaßen erfolgreichem Fahndungsergebnis konnte erwartet werden, nach zwei Jahrzehnten mehr oder weniger karger Fortschritte bei der Bekämpfung des Moskauer Geheimdienstes das sowjetische Spionagesystem aufzurollen und endgültige »Säuberungen« im Reichsgebiet und im übrigen Europa in die Wege zu leiten. Ungeklärt sind die Kriterien für die Unterteilung in »gefährliche«, »weniger gefährliche« Personen und solche, die möglicherweise als Spitzel Verwendung finden sollten. Unter den »weniger Gefährlichen« befinden sich zum Beispiel der spätere stellvertretende DDR-Minister und Generalmajor Heinrich Dollwetzel, der KPD-Mitbegründer Fritz Globig, der Reichstagsabgeordnete Fritz Kahmann, das Mitglied des Politbüros der KPÖ Alfred Klaa(h)r, der Sekretär der KPD-Reichstagsfraktion Julius Klepper, der nachmalige DDR-Gesandte Erich Kops, das Mitglied des ZK der KPD Willi Koska, der Sekretär des Exekutivkomitees der KJI Alfred Kurella und das spätere Mitglied des ZK der SED Lorenz Lochthofen. Als V-MannKandidaten wurden unter anderem das Mitglied des ZK der KPD Felix Halle, der in der Sowjetunion als Schutzbundheld gefeierte Floridsdorfer Kommandant Heinz Roscher, das Mitglied des Zentralausschusses der KPD Max Strötzel und der KJVD-Führer und spätere Volkskammerabgeordnete Erich Wendt eingestuft. Im Falle von Globig, Halle, Klepper, Koska, Roscher, Strötzel und Wendt mag die Zuordnung durchaus begründet gewesen sein: Sie alle befanden sich nach 1936/37 als Opfer der »Säuberungen« in NKWD-Haft. Der Spanienkämpfer Fritz Kahmann dagegen ist erst 1943 über Frankreich und Nordafrika in die UdSSR gelangt, Alfred Klaar und Erich Kops waren schon 1937 und 1938 aus Moskau zu Parteieinsätzen in die CSR und nach Spanien abgeordnet worden; beide hat man Anfang der vierziger Jahre aus Frankreich an die Gestapo ausgeliefert. Fehlinformationen dieser Art sind nicht selten. So ist dem RSHA das Moskauer Exil prominenter Regimegegner wie Fritz Heckert, Paul Schwenk oder Gustav Sobottka offenbar ganz unbekannt geblieben. Andererseits war man häufig Vermutungen und Gerüchtemeldungen gefolgt: Konnten dabei die politischen Sympathien eines Alexander Abusch, Egon Erwin Kisch oder Ludwig Renn (damals in Frankreich und der ¿SR) und die Parteifunktionen von Paul Bertz (Schweiz), Wilhelm Beuttel oder Franz Dahlem (Frankreich) und zahlreicher anderer den fälschlich vermuteten Aufenthalt in der Sowjetunion durchaus nahelegen, so bezeugt beispielsweise die Fahndung nach dem ehemaligen Trotzkisten Erwin Ackerknecht, der ISK-Pädagogin Erna Blencke (beide Frankreich) oder den Sozialisten Karl Gerold (Schweiz) und Alexander Schifrin (Frankreich) neben dem faktischen Irrtum auch ein recht erstaunliches Maß an Unkenntnis der ideologisch-politischen Strukturen. Der Umstand, daß es »naturgemäß nicht möglich« war, mit der Sonder-

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Fahndungsliste »alle gefährlichen Personen in der Sowjetunion zu erfassen«, ist auch den Herausgebern durchaus bewußt gewesen.21 Um so interessanter erscheint es, deren Kompetenz mit Hilfe des Biographischen Handbuchs der deutschsprachigen Emigration nach 1933 zu überprüfen, das durch seine hierarchischen Aufnahmekriterien vor allem jene Exilanten nachweist, die zum Teil auch für die Belange des RSHA von besonderer Bedeutung hätten sein müssen.22 Für die Jahre 1933 bis 1945 verzeichnet das Biographische Handbuch ohne Zählung von Familienangehörigen - 505 deutschsprachige Flüchtlinge, die sich für längere oder kürzere Dauer in der Sowjetunion aufgehalten haben. Lediglich 201 Personen, also etwa 40 Prozent, sind in der Sonderfahndungsliste des RSHA vermerkt. Die zunächst kärgliche Optik verschiebt sich jedoch ganz wesentlich nach der notwendigen Beschränkung der Vergleichszahl auf erwachsene Emigranten, die zur Entstehungszeit des Fahndungsbuchs ihren Aufenthalt in der UdSSR hatten: Von 304 anfänglichen »Fehlanzeigen« verbleiben nur 155 nicht erfaßte Namen, die den relativen Vollständigkeitsgrad der Liste auf ca. 69 Prozent erhöhen. Eine Aufschlüsselung der in Berlin nicht dokumentierten UdSSR-Emigranten des Stichtermins 1940 bringt aussagekräftige Resultate: 58 Personen haben erst kurz zuvor, in den Jahren 1938/39, in der Sowjetunion Aufnahme gefunden, 44 stammen aus Österreich, der Tschechoslowakei, aus Danzig und Oberschlesien und mindestens 27 nicht erfaßte KP-Funktionäre waren innerhalb der in der Regel hermetischen Partei- und Kominternapparate tätig. Würde man, was angesichts der 1938 einsetzenden nationalsozialistischen Expansion mit ihren neuen »polizeilichen« Aufgaben nicht fern liegt, die erstgenannten Zahlen aus der quasi normalen Evidenztätigkeit der deutschen Dienste ausklammern, wäre das in den Vorkriegsjahren angesammelte Personenwissen über das Exil in der Sowjetunion immerhin mit einem an der qualitativ definierten Zielgruppe des Handbuchs gemessenen Vollständigkeit von mehr als 80 Prozent anzusetzen. Auf jeden Fall aber hätte die den Einsatzgruppen auf den Weg gegebene Suchliste mit zweihundert höchst notorischen »Reichsfeinden« und, darüber hinaus, weit mehr als zweitausend wegen angeblichen Hoch- und Landesverrats ausgeschriebenen Emigranten und »Spezialisten« zu einem scharfen Instrument in den Händen der »Gestapo auf Rädern« werden können. Sie hat allerdings aus zwei Gründen ihren Zweck nicht erfüllt. Während der Vernichtungsschlag gegen die Juden mit grauenhaftem Ergebnis geführt wurde, konnte »die andere Gegnergruppe (...) nur in beschränktem Maß aufgefunden werden«, da nicht nur die als gefährdet einzuschätzenden Aktivisten, Staatsfunktionäre und politischen Emigranten mit der Roten Armee evakuiert worden waren, sondern auch zahlreiche Parteimitglieder die Flucht ergriffen hatten - nicht zuletzt wohl in der durchaus berechtigten Erwartung, nach dem Einmarsch der Wehrmacht Racheakten ihrer Landsleute ausgesetzt zu sein. Auch die »ursprüngliche Annahme, wesentliches Material in den sowjetischen Dienstgebäuden und

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hier wiederum in den Dienststellen des NKWD zu erfassen«, haben die Sowjetbehörden durch gründlich Räumung oder die Vernichtung des Zurückgelassenen »nahezu ausnahmslos« durchkreuzt. In der weißrussischen Hauptstadt Minsk, auf die sich die Hoffnungen der Einsatzgruppen nach den Fehlschlägen im Baltikum und im sowjetisch besetzten Ostpolen konzentriert hatten, wurden lediglich die für politisch-polizeiliche Zwecke weniger relevanten Verwaltungsakten der BSSR im unzerstört gebliebenen Haus des Sowjets aufgefunden.23 In Moskau und in anderen bedrohten Regionen der Sowjetunion fanden vorsorgliche Evakuierungen nach Osten statt, in die auch die deutschen Emigranten einbezogen wurden - zum Teil im Rahmen der Sicherheitsmaßnahmen zugunsten der Nomenklatura und bestimmter Bevölkerungsgruppen, zum Teil jedoch durchaus in Form von Deportation und Verbannung als »feindliche Ausländer«, ebenso wie dies in Frankreich und Großbritannien den Flüchtlingen gegenüber praktiziert worden war.24 In bezug auf den einheimischen und den internationalen Kommunismus fanden die Einsatzgruppen also ihre eigentlichen Gegner gar nicht mehr vor. »Aber wie sich zeigen sollte« - so Hans-Heinrich Wilhelm in einer plastischen Schilderung ihrer pseudo-polizeilichen Praxis - »hatten sie nicht umsonst bevorzugt Angehörige von Opfern des stalinistischen Terrors als Hilfspolizisten engagiert und als Bluthunde zuerst auf alle eventuell noch im Lande befindlichen Kommunisten angesetzt. Binnen kurzem waren die Gefängnisse überfüllt mit versprengten Rotarmisten, Tausenden von Mitläufern und Sympathisanten der Sowjetmacht, in den Wäldern aufgegriffenen Flüchtlingen, die sich nicht ausweisen konnten, und halben Kindern, die sich um die Komsomol-Mitgliedschaft beworben hatten. Zu Hunderten wurden in der ersten Hysterie an den verschiedensten Orten Menschen wegen ihrer angeblichen kommunistischen Vergangenheit erschossen; häufig lediglich aufgrund einer nicht überprüften Denunziation, ohne Verhör, ohne Gegenüberstellung von Zeugen, ohne Einsichtnahme in die zum Teil noch vorhandenen sowjetischen Akten. Niemand besaß einen genauen Überblick. Der Privatrache war Tür und Tor geöffnet (...). Im Gesamtbereich der Einsatzgruppe A (sind) in diesen Monaten — ohne Partisanen! — zwischen 11 000 und 12 000 Kommunisten ermordet worden (...), von denen wahrscheinlich höchstens jeder Zehnte Parteimitglied war; die meisten waren vermutlich nicht einmal Sympathisanten des Sowjetsystems gewesen.«25 Es liegt nahe, daß bei Vernichtungsaktionen dieser Art für gezielte Fahndungsmaßnahmen kein Platz war. Erst bei der späteren »Säuberung« von Ortschaften, Stadtteilen und Landstrichen und bei der Siebung von Gefängnissen und Kriegsgefangenenlagern haben die Einsatzgruppen - wie aus ihren Ereignismeldungen (EM) hervorgeht - Personenüberprüfungen im Einzelfall vorgenommen. So verweist die Einsatzgruppe A in einer Beschwerde über die eigenmächtige Freisetzung von Gefängnisinsassen durch eine Wehrmachtskommandantur ausdrücklich auf die Gefahr, die eine

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»Entlassung von Häftlingen ohne vorherige sicherheitspolizeiliche Vernehmung unter Verwertung des Fahndungs- und Karteimaterials« mit sich bringe.26 Ermittlungen dieser Art aber hatten hauptsächlich den einen Zweck: »Vernehmungen und Festnahmen«, so eine Ereignismeldung, »enden zum größten Teil mit Exekutionen.«27 Erfolge im Sinne der polizeilichen Zielsetzung der Sonderfahndungsliste UdSSR sind denn auch so gut wie gar nicht überliefert.28 Unabhängig vom Umstand, daß der eigentlichen politischen »Gegnergruppe« die Flucht aus den Besatzungsgebieten geglückt war, hatte also das Fahndungsverzeichnis zu diesem Zeitpunkt schon seine ratio eingebüßt. Abstrahiert man von der ideologischen Besonderheit des Nationalsozialismus, könnte der Gedanke plausibel sein, auch die Sonderfahndungsliste UdSSR in die Kategorie »normaler« polizeilicher und nachrichtendienstlicher Hilfsmittel in Verbindung mit dem kriegerischen Unternehmen eines modernen Staates einzuordnen. In der Tat ist von Verantwortlichen nach 1945 diese scheinbare Normalität als Schutzbehauptung einer quasi rechtsstaatlichen Tätigkeit von Sipo und SD im Osten herangezogen worden: »Seitens des Reichssicherheitshauptamtes war ein Fahndungsbuch zusammengestellt worden, in dem die Personen auf Grund der verschiedenen Karteiunterlagen zusammengestellt waren, ohne daß der zugrundeliegende Tatbestand erkennbar war. Nach Durchführung der angeordneten Maßnahme (Festnahme, Aufenthaltsermittlung) mußte also in jedem Falle an das Reichssicherheitshauptamt berichtet und dessen Weisung abgewartet werden.«29 Dies mag 1938/39 für die Gestapoaktionen in den besetzten Territorien noch mehr oder weniger gültig gewesen sein. Doch schon nach dem Feldzug im Westen hatte Heydrich die Ausklammerung der listenmäßig gesuchten Juden aus dem »normalen« Prozeß der nationalsozialistischen »Rechtspflege« verfügt. Während festgenommene »deutschblütige« Emigranten der ausschreibenden Dienststelle im Reich zugeführt und gegebenenfalls auch gerichtlich abgeurteilt worden sind, durften Juden nur ausnahmsweise und unter Anlegung »strenger Maßstäbe« dann ins Reich zurückgebracht werden, wenn sie »in laufenden Ermittlungsverfahren dringend gebraucht werden oder deren internationale Verbindungen bzw. sonstiges reichsfeindliches Verhalten von einer derartigen Bedeutung sind, daß ein weiteres Verbleiben im Ausland eine dauernde wesentliche Gefahr für das Reich bildet. Das ist insbesondere auch bei denjenigen Juden zu beachten, die wegen krimineller Verfehlungen gesucht werden.«30 Damit war der tödliche Weg für die in der Sonderfahndungsliste West ausgeschriebenen Juden in der Regel bereits vorgezeichnet; er führte über die Internierungslager in die Deportation nach Osten. Mit den Weisungen an die Einsatzgruppen für ihre Tätigkeit in der Sowjetunion erreichte der weltanschaulich begründete Vernichtungswille des Regimes eine Qualität, die letztlich alle Evidenz- und Fahndungsmittel des traditionellen politischen Polizeiwesens gegenstandslos machte: »Zu exekutieren sind alle Funktionäre der Komintern (wie überhaupt die kommuni-

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stischen Berufspolitiker schlechthin), die höheren, mittleren und radikalen unteren Funktionäre der Partei, der Zentralkomitees, der Gau- und Gebietskomitees, Volkskommissare, Juden in Partei- und Staatsstellungen (und) sonstige radikalen Elemente (Saboteure, Propagandeure, Heckenschützen, Attentäter, Hetzer usw.).«31 Im Sinne dieses Heydrichschen Befehls haben bis Anfang 1942 die Einsatzgruppen der Sipo und des SD in der Sowjetunion meist im Zuge von Massenexekutionen weit über eine halbe Million Menschen, vorwiegend Juden und angebliche Kommunisten, mit tatkräftiger Unterstützung durch einheimische Hilfstruppen umgebracht. Natürlich bleibt es offen, welche »Regelung« für die gesuchten nichtjüdischen Emigranten der KPD getroffen worden wäre, hätte man ihrer in den besetzten Gebieten habhaft werden können. Manches deutet darauf hin, daß lediglich ihre Weimarer Prominenz, im Interesse politischer Schaueffekte nach dem siegreichen Ende des Krieges, eine Identifizierung anhand der Fahndungsliste für längere Zeit überlebt hätte. Der »Entscheidungskampf im Osten« kennzeichnete ja den realen Übergang vom Polizeistaat einer Parteidiktatur mit europäischen Vorläufern und Entsprechungen zur vorzivilisatorischen Gewalt (oder zur NS-spezifischen Moderne), zur Herrschaft durch Ausrottung, die sich zunächst auf dem eroberten Territorium des angeblich unzivilisierten Gegners entfaltete. Die Fragen, inwieweit mündliche Anordnungen über den scheinbar differenzierenden Liquidierungsbefehl hinaus die ganz unterschiedslose Beseitigung von Juden und Kommunisten - so ja die überwiegende Praxis - vorgegeben haben, ob schon im Jahr 1941 »Reichsjuden« und Juden aus anderen west- und mitteleuropäischen Ländern in eine Vernichtungsorder einbezogen waren und welcher Stellenwert den Aktionen der Einsatzgruppen auf dem Weg zu einem vorgeplanten oder situationsbedingt improvisierten Holocaust zukommt, sind Gegenstand zeithistorischer Diskussion.32 Zu ihrer Entscheidung kann die Existenz der Sonderfahndungsliste UdSSR angesichts der Widersprüchlichkeiten des »polykratischen« NS-Regimes nichts beitragen. So ist das mit einem furchtbaren Umfeld verbundene und zu seiner Zeit funktional schon überholte Dokument recht eigentlich nichts weiter als die erste »Gruppenbiographie« des deutschsprachigen Exils in der Sowjetunion. Ihre Grundlage waren die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Kriegsende vernichteten Karteien des Reichssicherheitshauptamts. Deren hier dokumentierte Reichhaltigkeit aber stützte sich auf die über Jahre angesammelten Sach- und Personalakten, auf Berichte und Analysen der nationalsozialistischen Verfolgungsagenturen, die zum Teil den Weg in östliche Archive gefunden haben dürften. Die Forderung, allfällig erhaltene Überlieferungen von Verfolgten und Verfolgern zu öffnen, muß jetzt ein Punkt der Tagesordnung sein.33

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1 Vgl. hierzu u.v.a. Klaus Jarmatz et al.: Exil in der UdSSR. Leipzig 1979, und die diesbezüglichen Anmerkungen bei Hans-Albert Walter Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 2. Stuttgart 1984, S. 525 f. Als Beispiele für die produktive Nutzung veröffentlichter und sekundärer Quellen: Höret Duhnke: Die KPD von 1933 bis 1945. Köln 1972; Alexander Fischer Sowjetische Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg 1941-1943. Stuttgart 1975; Hans-Albert Walter, op. cit., S. 203-247 u. 525-536; ders.: Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 3. Stuttgart 1988, S. ¿56-271, und insbes. ders.: »Das Pariser KPD-Sekretariat, der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt und die Internierung deutscher Emigranten in Frankreich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs«. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36, H. 3,1988, S. 483-528, letzteres ein Kabinettstück komparatistischer Auswertung von zeitgenössischer Publizistik und Memoirenliteratur, dessen Ergebnisse bisher von östlicher Seite vielsagend ignoriert worden sind. Des weiteren David Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933-1945. Frankfurt/M. 1981 und hierzu die Methodenkritik bei Walter, Exilliteratur, Bd. 2, S. 526 f., 533 f. - 2 Hans-Henning Adler »Das Problem der drei Pünktchen«. In: Deutsche Volkszeitung / die tat vom 30.6.1989, S. 15. Hierzu und zur Dezimierung des KPD-Exils durch das stalinistische System Hermann Weber: »Weiße Flecken* in der Geschichte. Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung. Frankfurt/M. 1989. - 3 Hier handelt es sich vor allem um einschlägige Vorgänge in den Restakten des SD-Hauptamts im Bundesarchiv Koblenz, die in dieser Hinsicht den Überlieferungen in der DDR bei weitem nachstehen; ferner um Anklage- und Urteilsschriften innerhalb des in westliche Archive gelangten VGH-Schriftguts (Bundesarchiv, U.S. Document Center Berlin, Institut für Zeitgeschichte München), das umfangmäßig den DDR- Beständen in etwa gleichkommen dürfte. Die im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts vorhandenen Zentral- und Missionsakten zum »Emigrantenwesen« sind in Hinblick auf das UdSSR-Exil wenig ergiebig. Im allgemeinen kommt gerade im Falle der Sowjetunion und des konspirativ abgeschirmten KPD-Exils den gegnerischen Quellen nur nachrangiger Erkenntniswert zu. - 4 Bundesarchiv Koblenz (BA), R 58/221a. Werner Röder (Hg.): Sonderfahndungsliste UdSSR. Faksimile der »Sonderfahndungsliste UdSSR«• des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, das Fahndungsbuch der deutschen Einsatzgruppen im Rußlandfeldzug 1941. Erlangen (Verlag für zeitgeschichtliche Dokumente und Curiosa) 1976. Der vorliegende Beitrag stützt sich in Teilen auf die damalige Kommentierung, korrigiert jedoch einige der dortigen Bewertungen. - 5 Aktenvermerk Reinhard Heydrich v. 2.7.1940, zit. nach Helmut Krausnick / Hans-Heinrich Wilhelm: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD i93S-7!W2Stuttgart 1981, S. 19. Dort auch zur Sonderfahndungsliste UdSSR, S. 170 ff. - 6 Vgl. Hans-Heinrich Wilhelm: Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941/42. Phil. Diss. München 1974, S. 10. Emigranten waren »anhand der deutschen Fahndungsbücher, der Sonderfahndungsliste West und Aufenthaltsermittlungsliste zu überprüfen« und ggfs. der zuständigen Staatspolizeileitstelle im Reich zuzuführen. Vgl. CdS, Erlaß v. 30.10.1940, BA R-59/269. Von den in Österreich, der Tschechoslowakei, Polen und Westeuropa (»Sonderfahndungsliste West«) eingesetzten Fahndungsbüchern sind dem Verf. keine überlieferten Exemplare bekannt. Als historische Kuriosa haben sich die mit der Sonderfahndungsliste UdSSR in der Aufmachung identische Sonderfahndungsliste G.B. und das Informationsheft G.B. für die Invasion der britischen Inseln aus dem Jahr 1940 erhalten (IfZ-Archiv De. 15.30/1 bzw. BA-R 58/1161). Die Sonderfahndungsliste G.B. ist auszugsweise nachgedruckt bei David Lampe: The Last Ditch. London 1968; vgl. auch Walter Schellenberg: Memoiren. Köln 1959, S. 107. - 7 Merkblatt für die Führer der Einsatzgruppen und Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD für den Einsatz »Barbarossa«. IfZ-Archiv, Fb-101/32, Nr. 27208. - 8 Der Feldpolizeichef der Wehrmacht nimmt in einem Hinweis auf die Alleinzuständigkeit der Sipo für alle »Vorgänge, welche Juden, Emigranten, Logen, Kommunisten und Kirchen betreffen«, sogar weiterreichende Traditionen in Anspruch: »(...) durch die internationalen Zusammenhänge zwischen Judentum, Kommunismus bzw. Marxismus im allgemeinen, Logenwesen und Emigrantenangelegenheiten (kann) nur eine Stelle federführend sein (...), welche aufgrund jahrzehntelanger (!) Erfahrung über die Mittel und Möglichkeiten einer intensiven Abwehr und Auswertung der Vorgänge verfügt.« Erl. v. 16.7.1941, IfZ-Archiv Fb 101/32, S. 165 f. - 9 Hierzu und zum folgenden u.a. die Überblicke bei Heinz Boberach: Meldungen aus dem Reich. Neuwied, Berlin 1965, S. XI ff.; Heinz Höhne: Der Orden unter dem Totenkopf. Gütersloh 1967, S. 184 ff.; Hans Buchheim: »Die SS - Das Herrschaftsinstrument«. In: Anatomie des SS-Staates. Bd. 1. München 1967, S. 35 ff. - 10 Stand 1. Januar 1941. Geschäftsverteilungsplan u.a. bei Röder, Sonderfahndungsliste (wie Anm. 4), S. 41-53, nach IfZ-Archiv MA-432, Bl. 1072-1150. - 11 Vgl. IfZ-Archiv MA-443 und MA-445. - 12 Vgl. Schellenberg, Memoiren (wie Anm. 6), S. 31. Die von

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Schellenberg genannte Druckauflage von 20 000 Exemplaren für die Sonderfahndungsliste G.B. scheint bei weitem zu hoch gegriffen. - 13 Die tatsächliche Personenzahl verringert sich durch Doppelnennungen (Decknamen) um ein Wesentliches. - 14 Hierzu u. zum folgenden vgl. Herbert E. Tutas: Nationalsozialismus und Exil. Die Politik des Dritten Reiches gegenüber der deutschen politischen Emigration. München 1975. - 15 Vgl. Vermerk Gestapa/II A 4 v. 25.6.1936, IfZ-Archiv MA-443. - 16 Vgl. Gestapa, Erl. v. 5.8.1939, IfZ-Archiv MA^43. Zur Schutzbund-Emigration Karl R. Stadler: Opfer verlorener Zeiten. Wien 1974. - 17 Gestapa, Erl. v. 5.8.1939, Anm. 16. - 18 Zit. nach Hans-Albert Walter Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 2. Darmstadt, Neuwied 1972, S. 133. - 19 So ein zeitgenössisches Rundschreiben der Internationalen Roten Hilfe, zit. bei Peter Stahlberger Der Zürcher Verleger Emil Oprecht. Zürich 1970, S. 30. Vgl. auch Kurt R. Grossmann: Emigration. Geschichte der Hitlerflüchtlinge 1933-1945. Frankfurt/M. 1969, S. 105 ff. Eine propagandistisch begründete Ausnahme bildete die Aufnahme von österreichischen Schutzbund-Flüchtlingen 1934. - 20 Zu den Ungereimtheiten dieser Einträge s. Krausnick / Wilhelm: Die Truppe des Weltanschauungskrieges (wie Anm. 5.), S. 171 f. - 21 Vgl. Schreiben CdS an Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) v. 2.7.1941, IfZ-Archiv Fb 85/1. - 22 Werner Röder / Heibert A. Strauss (Hg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 / International Biographical Dictionary of Central European Emigrés, 1933-1945. 3 Bde.. München, New York, London, Paris 1980-1983. - 23 Vgl. IfZ-Archiv, Ereignismeldung (EM) 127 v. 31.10.1941. - 24 Vgl. z.B. IfZ-Archiv, EM 131 v. 10.11.1941: »Am 20.10.1941 wurde der Jude Max Wulfson in seiner Wohnung in Riga festgenommen. Wulfson steht in dringendem Verdacht, Verbindungsmann des im Jahre 1933 aus Deutschland emigrierten (unter Nr. K 469 ausgeschriebenen) Lehrers Karl Kühndorff gewesen zu sein (...). Kühndorff selbst ist am 27.3.1941 durch Beamte des NKWD festgenommen worden (...). Vermutlich ist er nach Rußland transportiert worden.« S.a. Walter Exilliteratur. Bd. 3 (wie Anm. 1), S. 262 ff. - 25 Wilhelm, Die Einsatzgruppe A (wie Anm. 6), S. 490 f., S. 493. - 26 Sehr, an HSSPF Riga v. 13.9.1941, IfZ-Archiv Fb 101/18. - 27 IfZ-Archiv, EM 132 v. 12.11.1941. - 28 Unter »Besondere Festnahmen« berichtet das Einsatzkommando 9 der Einsatzgruppe B von der Verhaftung einer - in der Sonderfahndungsliste nicht erfaßten - Abgeordneten des Unionsrats, die für eventuelle »propagandistische Zwecke« nach Berlin verbracht wurde. IfZ-Archiv, EM 73 v. 4.9.1941. Die Verhaftung eines Schutzbündlers erwähnt Stadler, Opfer (wie Anm. 16), S. 363. S.a. Anm. 24. - 29 Zeugenschrifttum Walter Huppenkothen, IfZ-Archiv Zs 249/11, S. 6. - 30 Erl. CdS v. 30.10.1940, BA-R 58/269. - 31 Sehr. CdS an HSSPF v. 2.7.1941, Anm. 21. - 32 Hierzu ausführlich Krausnick / Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges (wie Anm. 5). 33 Seit Insatzgabe dieses Beitrags hat der »Wechsel der Zeiten« auch die Archivlandschaft der DDR ergriffen. Von der SED entfremdetes Schriftgut ist auf dem Wege in die Obhut der Staatsarchive, für die in Bälde Benutzungsordnungen nach westlichen Regeln gelten dürften. Auch die Partei- und Akademiearchive werden nicht unterhalb dieses Standards verweilen können. Projekte zur Inventarisierung der bisher größtenteils unbekannten Überlieferungen sind im Gange. - Die Hoffnung auf eine Öffnung der sowjetischen Archive steht nunmehr an erster Stelle.

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Vom Grunewald nach Woodstock über Moskau Alfons Goldschmidt im USA-Exil

In Moskau war Goldschmidt nur wenige Monate. Bereits im August 1933 traf er in New York ein und blieb dort, bis er im Dezember 1938 nach Mexiko-Stadt übersiedelte. Er kannte seine Exilländer von früheren, zum Teil monatelangen oder gar mehrjährigen Aufenthalten. Im Deutschland der Weimarer Republik genoß der Publizist und Schriftsteller Alfons Goldschmidt den Ruf, einer der besten Kenner der Sowjetunion und Mexikos zu sein. Er verdankte dies seinen Büchern, Tausenden von Presseveröffentlichungen und ungezählten Vorträgen. Sein Interesse für Rußland reichte weit zurück. 1904 hatte er an der Freiburger Universität mit einer Arbeit über Leo Tolstois soziales Problem den akademischen Titel eines Doktors der Staatswissenschaften erworben. 1917 war er der erste Deutsche außerhalb der Arbeiterbewegung gewesen, der die russische Oktoberrevolution als »ein ungeheueres Geschehen mit gewaltigen Nah- und Fernwirkungen jetzt und später«1 charakterisierte. Goldschmidt reiste dann als einer der ersten intellektuellen Westeuropäer nach Sowjetrußland und bekannte sich zu den dort angestrebten Sozialentwicklungen. Sein Buch Moskau 1920, erschienen in dreizehn Ländern, machte ihn weltbekannt und offenbarte, daß der einstige liberale Wirtschaftsjournalist aus dem Hause Ullstein den Weg zum Marxismus eingeschlagen hatte. Mexiko lernte Goldschmidt 1923 kennen. Nach einer Lehrtätigkeit an der Universität im argentinischen Cordoba, die er beenden mußte, weil ihn die Presse des Gastlandes wegen seiner Vorlesungen über Sowjetrußland als einen »agente de los bolcheviques«2 denunzierte, erhielt er eine Einladung nach Mexiko. Zwei Jahre war er Professor für Politische Ökonomie an der Nationaluniversität in Mexiko-Stadt und faktisch der erste marxistische Hochschullehrer dieses Landes. Auch in Mexiko endete seine Tätigkeit ähnlich wie in Argentinien. In Deutschland, wo er vor seiner Professur in Cordoba an der Leipziger Universität gelehrt hatte, blieb ihm künftig jede feste Anstellung verwehrt. Bis zum Exil lebte er als freier Schriftsteller ohne regelmäßiges Einkommen. Seinen ständigen Wohnsitz hatte Goldschmidt in Berlin-Grunewald, Douglasstraße 30. Häufige und zum Teil ausgedehnte Studien- und Vortragsreisen führten ihn durch Deutschland, in die Sowjetunion, in andere europäische Länder und nach Amerika, 1928 auch in die USA. Nach eigenen Angaben lernte Goldschmidt fünfunddreißig Hauptstädte auf drei Kontinenten kennen.

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Alfons Goldschmidt engagierte sich für die Internationale Arbeiterhilfe (IAH). 1929 wurde er deren Reichsvorsitzender für Deutschland. Er beschrieb und propagierte die Befreiungsbewegung in kolonialen und abhängigen Ländern und befaßte sich mit nationalen und sozialen Problemen Lateinamerikas. Politisch näherte er sich mehr und mehr der KPD und gewann als ihr Mitstreiter große Popularität. Mitglied der KPD war er offenbar nicht. »Ich gehöre keiner Partei, wohl aber der Einheitsfront gegen den Faschismus an«3, schrieb er 1937. Goldschmidt bekannte sich zu Marx und Lenin und verteidigte die Möglichkeit des Sozialismus in einem Lande. Folglich wandte er sich gegen die gesellschaftstheoretischen Ansichten Trotzkis. Über Stalin äußerte er sich nur in rhetorischen Floskeln. In seinen Schriften trat er für die Menschenrechte und gegen jede Form von Rassismus ein. Frühe und herausragende Belege sind seine Bücher Mexiko (1925) und Auf den Spuren der Azteken (1927), in denen er beim deutschen Leser um Verständnis für die Indios warb. Fünfzehn Jahre später, als in Mexiko-Stadt ein Grabdenkmal für Goldschmidt eingeweiht wurde, sagte dazu Ludwig Renn: »Für Goldschmidt, wie für seinen großen Vorläufer Alexander von Humboldt, war nicht nur der Indio als Individuum von Interesse. Er begnügte sich nicht, seine Armut zu beklagen. Den Wissenschaftler und Seher, der in die Weite zu blicken verstand, beschäftigte das Schicksal der Völker. Er versuchte, die Völker Amerikas und Europas einander näherzubringen. Beide, Humboldt und Goldschmidt, waren Wortführer der besten humanistischen Ideen ihrer Zeit. Sie träumten von einer Zukunft, in der keine Rasse und kein Volk diskriminiert sein wird, von einer Zukunft, in der alle Völker in einer großen Brüderlichkeit verbunden sein werden, indem sie ihre Kulturen und Güter austauschen zum gegenseitigen Nutzen.«4 Das rapide Heraufziehen der Nazibewegung hatte Goldschmidt Ende 1929 veranlaßt, seine Forschungen über die Völker Lateinamerikas zu unterbrechen. Die dritte Eroberung Amerikas war das letzte Buch, das von ihm in Deutschland erschien. Fortan stellt er sich dem Kampf gegen alle Erscheinungsformen des Faschismus. Im antijüdischen Rassismus sah er das Kernstück der Naziideologie und nannte den Antisemitismus das wirksamste Gedankengift, um die Mehrheit der Deutschen für Schandtaten an Teilen des eigenen Volkes, nicht nur an den Juden, und schließlich an anderen Völkern zu gewinnen. Goldschmidt, der aus einer gläubigen jüdischen Kaufmannsfamilie stammte und mit einer Frau aus wohlhabendem jüdischen Hause verheiratet war, hatte sich seit seiner Studentenzeit von der Religion der Väter gelöst. Doch er verleugnete nie, woher er gekommen war. Er fühlte sich als Deutscher und als Jude; das brachte ihn in keinen Zwiespalt. Zu Beginn der dreißiger Jahre trat Goldschmidt für die Einheit aller Nichtnazis gegen die drohende faschistische Gefahr ein. Er sah die größte Erfolgschance an der Seite der Kommunisten. Sein öffentliches Bekenntnis zu ihnen verschloß ihm endgültig die kommerzielle Presse. Die Honorare der linken Zeitungen reichten nicht aus, den bisherigen Lebensstandard zu

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halten. Hinzu kam, daß er sich für die große Amerikareise von 1928 in die USA und in neun lateinamerikanische Länder Geld geborgt hatte, das er nicht zurückzuzahlen vermochte. Ein physischer Zusammenbruch warf ihn wochenlang nieder. Die Ärzte diagnostizierten Diabetes mellitus. Im Frühjahr 1932 mußte Goldschmidt sein Haus in Berlin-Grunewald, das er seit 1911 bewohnte, aufgeben. Mit seiner Frau Lina und der neunzehnjähigen Tochter Irene fand er Unterkommen bei dem in unmittelbarer Nähe wohnenden Ludwig Herleshausen, einem langjährigen Gefährten aus dem Kreis der Begründer der Internationalen Arbeiterhilfe. Möbel und Hausrat wurden gepfändet. Seine umfangreiche Bibliothek und das wissenschaftliche Archiv hatte Goldschmidt retten können. Genossen der KPD verpackten die Bücher und Papiere in Kisten und brachten sie in den Speicher eines vertrauenswürdigen Spediteurs. Faktisch war Goldschmidt bereits vor dem Machtantritt Hitlers die berufliche Existenz in Deutschland entzogen. Offensichtlich hatte er seine sich abzeichnende Misere schon 1931 mit Wilhelm Pieck beraten, der zu dieser Zeit die KPD beim Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale in Moskau vertrat. Pieck vermittelte Goldschmidt eine Einladung als Gastprofessor an das Internationale Agrarinstitut in Moskau und bewirkte, daß diese Institution einen Teil seines Archivs ankaufte. Außerdem war vorgesehen, Goldschmidts Bibliothek in die Sowjetunion zu bringen. Am 29. April 1932 schrieb Alfons Goldschmidt an Wilhelm Pieck in Moskau: »Lieber Genosse Pieck! Zunächst danke ich Dir nochmals bestens für die Unterstützung meiner Bibliotheksangelegenheit. Ich habe inzwischen 1 500 RM für das Material vom Agrarinstitut erhalten. Durch die Verzögerung bin ich allerdings um einige Wochen in meinen Dispositionen zurückgeworfen worden, sonst wäre ich jetzt schon drüben an der Arbeit. Ich werde Anfang nächster Woche Bibliothek und Archivmaterial an das Institut schicken, muß jedoch vorher mit verschiedenen Stellen wegen des Transports verhandeln. Es sind eine ganze Reihe Kisten. Ich werde wohl spätestens Mitte Mai in Moskau sein. (...) Du kannst Dir gar nicht denken, wie sehr ich mich nach so angestrengter Tagesarbeit, die ich ohne Urlaub nun lange Jahre hindurch tun mußte, auf die ruhigere wissenschaftliche Tätigkeit in Moskau freue. Das ist in der Tat ein neuer Abschnitt für mich.«5 Am 23. Mai 1932 verließ Goldschmidt Berlin in Richtung Moskau. Die Bücherkisten hatte er nicht abschicken können. Fehlte ihm das Geld für die Frachtkosten? Oder wollte er die Pfändung der Bibliothek verhindern, die ihr drohte, sobald sie aus dem sicheren Aufbewahrungsort hervorgeholt wurde? Die Antwort muß offen bleiben. In Moskau erwartete Goldschmidt ein Arbeitsprogramm mit Seminaren, Kursen und Vorlesungen am Agrarinstitut. Obwohl er »Genesungsmüdigkeit« empfand und der »Morgendruck auf der Brust verschwunden«6 war, schickten ihn die Ärzte nach wenigen Wochen für mehrere Monate in ein Erholungsheim bei Moskau. Hier, in dem ehemaligen Landhaus des Fürsten

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Trubezkoi »inmitten eines herrlichen Buchenwaldes, durchhellt von Birkenstämmen und fichtengedüstert«7, überdachte er sein bisheriges Leben. Obwohl er keinerlei Unterlagen zur Hand hatte, schrieb er nieder, woran er sich im Rückblick seiner dreiundfünfzig Jahre erinnerte und was er davon für mitteilenswert hielt. Er wählte eine Mischform von Autobiographie und literarischer Lebensbeschreibung, sich selbst in der dritten Person nennend. Nicht nur der Held der Darstellung erhielt ein Pseudonym, sondern auch die meisten der von ihm genannten Zeitgenossen. Die halbe Welt, wie Goldschmidt das Manuskript überschrieb und dem er den Untertitel Der Weg eines Intellektuellen zur Revolution hinzufügte, ist eine selbstkritische Studie zu seinem »rebellischen, aber unklaren Lebensgang«8. Der Text, für den Goldschmidt zu Lebzeiten keinen Verleger fand und der auch später ungedruckt blieb, endet mit der Beschreibung der Umstände, die ihn 1932 in der Sowjetunion die Ruhe finden ließen, über sich nachzudenken. Vor dem 15. Jahrestag der Oktoberrevolution beendete Goldschmidt seinen Landaufenthalt. Am 5. November kam Lina Goldschmidt nach Moskau. Als die Revolutionsfeiern vorüber waren, fuhr das Ehepaar mit einer Studiengruppe der Leningrader Akademie der Wissenschaften in den Süden der Sowjetunion. Goldschmidt war tief beeindruckt von dem, was er sah und hörte. Wieder in Moskau ergänzte er den Schlußteil seines autobiographischen Manuskripts. Er bekannte, er habe einst, und meinte damit die Zeit zwischen dem russischen Februar und Oktober 1917, »mehr aus Instinkt als aus Erkenntnis der Notwendigkeit, Sowjetisierung verlangt. Was aber nun um ihn lebte, war viel, unendlich viel größer als sein Wunsch.«9 Er sollte allerdings wenige Jahre später erfahren, daß sich in der Sowjetunion Entwicklungstendenzen abzeichneten, die der Selbstverantwortung des Menschen in der Gesellschaft entgegenwirkten. Ende 1932 kehrten Alfons und Lina Goldschmidt in das spannungsgeladene Berlin zurück. Am 18. Januar 1933 sprach er, veranstaltet von der Gesellschaft zur Organisierung Sozialwissenschaftlicher Vorträge, in der Düsseldorfer Ludwigsburg zum Thema Reise nach Mittelasien oder Sozialismus am Dach der Welt. Möglicherweise war dies Goldschmidts letztes öffentliches Auftreten in Deutschland. Nach dem 30. Januar häuften sich Morddrohungen der Nazis gegen ihn. Er war für sie eine Symbolgestalt des »jüdischen Bolschewismus«. Unter dieser Etikettierung bereiteten sie einen Steckbrief mit Foto gegen ihn vor, den der Goebbels-Intimus Dr. Johann von Leers im Sommer 1933 im Anhang des zweiten Bandes von 14 Jahre Judenrepublik veröffentlichte. Über Goldschmidts letzte Tage in Berlin ist kaum etwas bekannt. Nach seinen eigenen Angaben besuchte er am 12. Februar Carl von Ossietzky in der Redaktion der Weltbühne.10 Wahrscheinlich noch vor dem Reichstagsbrand gelang es ihm und seiner Frau, aus Hitlerdeutschland zu entkommen. Eisenbahner halfen ihnen über die Grenze in die Tschechoslowakei. Jahre später erfuhr er von Ludwig Herleshausen, als dieser selbst emigriert war, daß kurz nach seiner Flucht siebzehn Nazis gekommen seien, ihn zu holen. Sie nahmen Herleshausens Lebensgefährtin

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in Geiselhaft und suchten von ihr Angaben zu erpressen, wo sich Goldschmidt verborgen halte. In der ersten Märzhälfte 1933 befanden sich die Goldschmidts wieder in Moskau. Tochter Irene, die zunächst bei Pflegeeltern in Berlin geblieben war, folgte ihnen mit dem Zug über Warschau. Wilhelm Pieck erwirkte, daß die Goldschmidts vorerst im Hotel Lux, dem zentralen Wohngebäude der Komintern, unterkamen. Eine dauernde Lehr- und Forschungstätigkeit in der Sowjetunion hielt Goldschmidt zumindest für überlegenswert. Durch die Nazis aus Deutschland verjagt, schien es ihm wie eine Selbstaufgabe, hätte er sich jetzt aus der öffentlichen Auseinandersetzung mit ihnen zurückgezogen und nur daran gedacht, eine Aufgabe zu finden, um die Zeit des Vertriebenseins zu überstehen. Er wünschte dort zu sein, wo er aufklärend wirken, neue Mitstreiter gegen den Faschismus gewinnen und seine Fähigkeiten im Umgang mit dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort voll einsetzen konnte. Er beriet dies auch mit Philipp Dengel, dem engsten Freund seit vielen Jahren. 1919 hatten sie in Berlin gemeinsam die Räte-Zeitung herausgegeben und sich die kommunistische Gedankenwelt, vor allem durch die Lektüre Leninscher Schriften, angeeignet. Dengel war damals der KPD beigetreten und gehörte bald zu ihrer Führung. Jetzt arbeitete er in Moskau im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale. Dengel kannte besser als andere Goldschmidts Stärken und Schwächen und wußte, daß dieser nur dann überragend sein konnte, wenn er, frei von jedweder Bevormundung, ganz seinen eigenen Ideen folgte. Goldschmidt, der das Spanische beherrschte und englisch sprach, sich aber im Russischen nicht auszudrücken verstand, hätte auch aus diesem Grunde in der Sowjetunion nur begrenzt tätig sein können. Unabhängig davon, wie lange das Naziregime bestehen würde, glaubte Goldschmidt, die Sowjetunion bliebe ihm immer als Land der Zuflucht, falls er darauf angewiesen sein sollte. Vorerst reizte ihn das Angebot zu einer ausgedehnten Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Die Einladung kam von der Journalistin Ella Winter. Sie war die Sekretärin des neugegründeten American Committee Against Fascist Oppression in Germany. Dieses Komitee förderten namhafte Bürger der USA, unter ihnen Robert Morse Lovett, Fannie Hurst, Walter Damrosch, Arthur Garfield Hays, Senator Burton K. Wheeler, Bischof Francis J. McConnell, Jane Addams und Suzanne La Follette. Ella Winter suchte für das Komitee einen prominenten deutschen Redner. Als Albert Einstein um eine Empfehlung gebeten wurde, nannte er Alfons Goldschmidt, von dessen geglückter Flucht in die Sowjetunion er erfahren hatte. Goldschmidt traf die Entscheidung, das Angebot aus den USA anzunehmen, in der Gewißheit, daß ihm die Vortragsreise keine Existenzgrundlage auf längere Zeit garantierte, aber wenn ihn eine Aufgabe reizte, dann zählte dies allein. Die bürgerliche Lebensweise hatte er hinter sich gelassen, und es verlangte ihn nicht, sie wieder aufzunehmen. Das Gefühl, in den USA etwas Nützliches zur Verbreitung der Wahrheit über das Naziregime tun zu können, war ihm

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wichtiger als alles andere. Die Freunde in Moskau sagten zu, ihn bei der KP der USA zu avisieren. Damit sollte auch Spekulationen darüber vorgebeugt werden, warum er die Sowjetunion verlassen hatte. Eine Überraschung gab es, als Goldschmidts Tochter erklärte, sie werde in Moskau bleiben. Sie hatte sich in einen Mitarbeiter der Komintern verliebt und wollte ihn heiraten. Kurz vor ihrer Abreise nahmen die Goldschmidts am 22. Juni auf dem Roten Platz am Beisetzungszeremoniell für Clara Zetkin teil. Sie empfanden den Abschied von der alten Revolutionärin wie ihre eigene Trennung von einem Deutschland, das nie wiederkehren würde. Alfons und Lina Goldschmidt trafen am 29. August 1933 mit einem Besuchervisum der USA in New York ein. Während der Überfahrt hatten sie auf dem schwedischen Schiff eine Bekanntschaft gemacht, die ihnen den Start in den USA erleichterte. Sie lernten den aus Österreich stammenden amerikanischen Architekten Paul Wiener und dessen künftige Frau Alma kennen. Alma Wiener war die Tochter des in Deutschland geborenen und in den USA zum Großbankier und Diplomaten aufgestiegenen Henry Morgenthau sen. und die Schwester von Henry Morgenthau jun., dem Finanzberater und Finanzminister von Präsident Franklin Delano Roosevelt. Diese Mitreisenden waren von Goldschmidts Absicht beeindruckt, in den USA über Hitlerdeutschland sprechen zu wollen und das öffentliche Bewußtsein gegen die Nazis wachzurütteln. Da sie für sich selbst keine Möglichkeit sahen, etwas Konkretes gegen den Faschismus zu unternehmen, war es für sie ein Ausdruck der Mithilfe an einem Menschheitsdienst, die New Yorker Hotelkosten der Goldschmidts zu übernehmen und ihm später noch nützlichere Freundschaftsdienste zu erweisen. Auch andere jüdische Bürger der USA sollten die Goldschmidts später gelegentlich aus gleichen Gründen unterstützen, unter ihnen der aus Breslau stammende New Yorker Matze- und Nudelfabrikant Erich Cohn, bekannt als Mäzen des Malers und Zeichners George Grosz. Ein Unterkommen fanden die Goldschmidts im Hotel Brevoort in der Fifth Avenue/8th Street. Das Zimmer kostete wöchentlich 12 Dollars. Von hier aus unternahm Goldschmidt seine am 26. September beginnende und mit Unterbrechungen bis Frühjahr 1934 dauernde Vortragsreise durch die USA. Das American Committee Against Fascist Oppression in Germany vereinbarte mit Interessenten Ort und Zeit des Vortrags und die Höhe der Vergütung, die Goldschmidt insgesamt etwas mehr als das Existenzminimum sicherte. Ein Werbeprospekt des Komitees stellte den Vortragenden biografisch vor und nannte seine inzwischen vom Hitlerregime verbrannten und verbannten Bücher. Vier Themen standen zur Wahl: Deutschland heute; Wirtschaftspraxis und -theorie der Nazis; die jüdische Frage in Deutschland; der Nationalsozialismus an den Universitäten. Außerdem hieß es, Goldschmidt wäre als Kenner der Sowjetunion auch bereit, über russische Probleme zu sprechen. Träger von Veranstaltungen waren Gewerkschaften, Kulturverbände, religiöse Gruppen, jüdische Organisationen, Hochschulen, Arbeiterklubs, Vereinigungen von Geschäftsleuten und Industriellen.

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Manchmal hatte Goldschmidt nur zwanzig oder dreißig Zuhörer, dann wieder hundert oder zweihundert. Auch in Massenkundgebungen trat er auf. Gern sprach er zu Deutschamerikanern, nicht nur wegen der gemeinsamen Muttersprache. Er suchte ihnen begreiflich zu machen, daß ihnen im Kampf gegen die Nazis eine besondere Verantwortung zukam. Während der Vortragsreise stellte Goldschmidt fest, daß die Mehrheit der USA-Bürger, die Juden nicht ausgenommen, die Menschenrechtsverletzungen des Naziregimes nur vage aus der Ferne registrierte und selbst die vorprogrammierte Lebensbedrohung der deutschen und aller europäischen Juden unterschätzte. Er fand viele Zuhörer und manchen Gesprächspartner bei anderen Gelegenheiten gleichgültig, wenn es darum ging, praktische Schlüsse zu ziehen. Nach einer Begegnung mit Albert Einstein, der sich bereit fand, das Vorwort zu schreiben, verfaßte Goldschmidt im Februar 1934 seine Broschüre Whither Israel? (Wohin gehst Du, Israel?). »Sollen wir kämpfen, wie sollen wir kämpfen?« fragte er einleitend und begründete die Notwendigkeit seiner Schrift: »Die Judenverfolgung in Deutschland heute ist nur eine Erscheinung des wilden Kampfes um die Macht, ein Fanal kommender größerer Brände, deren Schein schon am Horizont sichtbar wird.«11 Goldschmidt kam zu dem Schluß, daß die Juden den Kampf zur Rettung nicht allein führen könnten, sondern nur in Gemeinschaft mit allen Antifaschisten. Mitte März 1934 gelangte die Kampfschrift in 5000 Exemplaren in Umlauf. Sie fand eine nachhaltige, wenn auch nicht ungeteilte Resonanz. Zusätzliches Gewicht gab ihr Einsteins Vorwort. Der Nobelpreisträger, der große Autorität unter den Juden der USA wie überhaupt in der amerikanischen Öffentlichkeit und bei Präsident Roosevelt genoß, empfahl das kleine Buch allen, »die noch bereit sind, die Stimme der Vernunft zu hören.«12 Im Juni 1934 verbrachten die Goldschmidts einen Urlaub in dem außerhalb New Yorks gelegenen Landhaus von Paul und Alma Wiener. Es wurden die letzten unbeschwerten Tage im gemeinsamen Leben der beiden Gäste. Bald danach erkrankte Lina Goldschmidt an Tuberkulose, unheilbar, wie sich herausstellte. Goldschmidt sagte die geplante Fortsetzung der Vortragstournee ab, die sich, nachdem er in etwa sechzig Städten aufgetreten war, sowieso allmählich erschöpfte. Er mußte einen Neuanfang finden. Die Reise durch die Staaten hatte ihn populär gemacht - nicht nur zu seinem Vorteil, wie sich zeigte. Manche Tür, die schon offen stand, schloß sich wieder. Sein erster Pressebeitrag im USA-Exil war am 4. Januar 1934 in der New York Times erschienen. Weitere Versuche, in dieser und in anderen großen bürgerlichen Zeitungen zu publizieren, scheiterten, von Ausnahmen abgesehen. Immer wieder, solange er in den USA lebte, suchte er mit Verlagen und mit der Filmindustrie Verträge zu schließen. Vor allem wollte er ein Buch über die soziale Sicherheit, eventuell unter dem Titel Der Plan vom Glück, schreiben, ein Problem, womit sich das menschliche Denken durch die Jahrhunderte befaßte. Dem Verlag Farrar & Rinehart, New York, schrieb er: »Das Buch soll eine Geschichte werden, so interessant und einfach

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wie möglich, und die wichtigsten Theorien und Vorstellungen über die soziale Sicherheit von Plato bis zur Sowjetunion behandeln. Die soziale Sicherheit ist Tausende von Jahren alt und keine Entdeckung unserer Zeit. Zum Beispiel: Piatos utopischer Staat, seine Theorie sollte dialektisch untersucht werden, um die tatsächlichen Gründe für die Idee zu zeigen. Einige Daten aus Piatos Leben, die zum Verständnis seiner Theorie wichtig sind, sollen erwähnt werden. Das frühe Mittelalter, besonders die Theorien und Praktiken des klösterlichen Kommunismus (Franziskaner, Bernhardiner etc.) sollen untersucht werden.« Er wünschte eine Verlagsdiskussion seiner Konzeption.13 Doch bereits fünf Tage später kam die Absage mit der Begründung, ein solches Buch sei nicht mit Erfolg zu verkaufen. Goldschmidt dachte auch an seine Erfahrungen mit der UFA, für die er 1925 einen Mexiko-Film gemacht hatte. Seine Filmprojekte in den USA, Filme über Taras Bulba und Heinrich Heine, reiften ebenfalls nur bis zum Exposé. Dann kamen die Ablehnungen in Worten freundlichen Bedauerns. Niemand nannte ihm als wahren Grund, daß sie sich den Marxisten Goldschmidt nicht zu leisten wagten. Er wäre zu vielen Kompromissen bereit gewesen. Doch sie durften nicht an seiner Weltsicht rühren. In dieser Frage hatte er schon im Deutschland vor Hitler die Selbstprüfung hinter sich gebracht und sein Verhältnis zwischen geistiger Freiheit und Existenzminimum ausbalanciert. In der USAGesellschaft der Privatinitiative blieb ihm nur das Risiko, auf eigene Rechnung und Gefahr zu handeln. Dieses Risiko wog für ihn doppelt. Denn eigene Mittel besaß er nicht, und wenn er sie besessen hätte, wäre es fraglich gewesen, ob er damit gewinnbringend hätte umgehen können. Goldschmidt, ein theoretischer Finanzexperte par excellence - das belegen die Veröffentlichungen aus seiner Frühzeit als liberaler Wirtschaftsjournalist und als Herausgeber einer privaten Finanzkorrespondenz, die von Banken in aller Welt abonniert worden war - , vermochte zu keiner Zeit mit dem hauszuhalten, was er in seiner Tasche hatte. Goldschmidt spürte auf seiner Vortragstournee in den USA das Bedürfnis mancher Zuhörer, das Gedankengut von Marx, dessen sozialökonomische Lehre und die Grundlagen des dialektischen und historischen Materialismus unverfälscht kennenzulernen. Interessiert waren Studenten, die darüber nichts an den Universitäten erfuhren, und Leute mit Geld, für die der Marxismus den Reiz des Unheimlichen hatte. Goldschmidt, der kaum die Mittel fürs tägliche Leben und die Behandlungskosten für seine Frau aufbringen konnte, entschloß sich zu einem waghalsigen Schritt: Er gründete ein Institut, das er Social Economic Laboratory (SEL) nannte. Eine Starthilfe vermittelte ihm der noch junge, aber einflußreiche Dr. Corliss Lamont, Sohn eines Teilhabers der Morgan-Bank. Der Philosoph und Soziologe Lamont war selbst am Marxismus interessiert, gehörte zu den Herausgebern von Soviet Russia Today und zur Leitung des New World Discussion Club, einer Intellektuellenvereinigung, die sich mit Entwicklungsproblemen der Sowjetunion befaßte. Corliss Lamont fungierte auch als Sekretär der Social

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Economic Foundation und erreichte, daß das Direktorium dieser Stiftung beschloß, Goldschmidt einen Zuschuß von 4200 Dollar, 350 Dollar ab 1.3. 1935 monatlich, zu gewähren, für das Vorhaben, »seine wertvolle wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der sozialen Ökonomie fortzusetzen«.14 In einem am Washington Square in New York gelegenen einstöckigen Haus mietete Goldschmidt einen Raum. Wie spätere Besucher den Vortragssaal beschrieben, befanden sich darin etwa sechzig hölzerne Klappstühle, eine Wandtafel, Landkarten, ein Globus, zahlreiche Bücher in einfachen Wandregalen und ein Schreibtisch, an dem Goldschmidts Sekretär Ernest Simon arbeitete. Zur generellen Absicht des SEL erklärte Goldschmidt, es sei eine unabhängige Einrichtung für Lehre und Forschung auf dem Gebiet der sozialen Ökonomie. Es wolle Studenten die Möglichkeit zur Weiterbildung geben und soziale und ökonomische Entwicklungen in aktueller und historischer Sicht untersuchen. So wurde beispielsweise ein Vorlesungszyklus angeboten, in dem ein Abriß der Entwicklung des ökonomischen Denkens in Beziehung zur ökonomischen Praxis vom Altertum bis zur Gegenwart vermittelt werden sollte. Dieser Kurs kostete pro Teilnehmer 12,50 Dollar. Außerdem bot Goldschmidt Einzelvorträge an, die nur dann gehalten wurden, wenn sich vorher genügend Interessenten eingetragen hatten. Themen dieser Vorträge waren: Der kommende Krieg; Probleme der Weltwirtschaft; Ist Hitler Sozialist?; Was ist Planwirtschaft?; Was ist Geld?; Die Theorie vom totalen Staat: Faschismus und Nazismus; Faschismus an europäischen Universitäten; Das Rassenproblem in Deutschland, Mexiko und in der Sowjetunion; Die Geschichte des Pogroms; Die Indios in Mexiko vom Reich der Azteken bis heute; Soziale und ökonomische Fragen Lateinamerikas. Der Auftakt des SEL war vielversprechend. Goldschmidt erhielt die Lizenz des Board of Education of the City of New York zur Weiterbildung von Grundschullehrern. Die Schulbehörde zahlte die Gebühren, und die Lehrer konnten damit rechnen, wenn sie die Kurse besuchten, in ihren Gehaltsbezügen höhergestuft zu werden. Auch die New York School of Social Work, eine Fachschule für Mitarbeiter der Sozialfürsorge, schloß mit dem SEL einen Vertrag für spezielle Kurse. Ein Seminar für Schauspieler, getragen von deren Gewerkschaft, kam zustande. Theaterautoren wie Elmer Rice, Albert Maitz, Paul Peters, Irwin Shaw, Clifford Odets und Lillian Hellman baten um eine Vorlesungsreihe. Doch die Studenten der Universitäten, mit denen Goldschmidt vor allem auch für Forschungsseminare gerechnet hatte, blieben nahezu aus. Statt dessen meldeten sich Hausfrauen, unter ihnen ernsthaft interessierte, die mitreden wollten, wenn die Männer über Fragen des Marxismus diskutierten, oder die einfach der Langeweile ihres Daseins zu entrinnen suchten. Das reflektiert der Briefwechsel des SEL mir einer potentiellen Interessentin. Angeregt durch Goldschmidts Werbeblatt Dialectics in Essence (Das Wesen der Dialektik)15, schrieb sie ihm: »Ich habe versucht, das Buch Feuerbach von Friedrich Engels zu lesen, aber ich verstehe die verwendeten Argumente nicht, weil ich nicht mit den Wissenschaften und

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Philosophien bekannt bin, die er zitiert. Glauben Sie, daß jemand, der nicht geschult ist, der keine formale Bildung in diesen Wissenschaften hat, einem Kursus über dialektischen Materialismus mit Gewinn folgen kann? Ich nehme an, es gibt auch andere Menschen, die gern die Werke von Marx und Engels studieren möchten, die jedoch dieselben Schwierigkeiten wie ich haben können.«16 Goldschmidt glaubte, in ihr die erste Teilnehmerin für einen neuen Dialektik-Kurs gefunden zu haben. Doch sie schrieb: »In Beantwortung Ihres Briefes vom 3. Februar möchte ich sagen, daß niemand in meinem Freundeskreis genügend interessiert ist an einem Kurs über Dialektik oder Marxismus. Aber deshalb möchte ich Sie bitten, mir mitzuteilen, wann eine neue Klasse gebildet wird, von der Sie annehmen, daß ich dort hineinpasse.«17 Es ist nicht bekannt, ob sie jemals diese Nachricht erhielt. Anfang 1936 verfaßte Goldschmidt eine 68 Seiten umfassende Schrift. Er gab ihr den Titel Ort Economics you are wrong, den er, wenn er ihn deutsch nannte, mit den Worten Sie verstehen nichts von ökonomischen Problemen übersetzte. Mit dieser Broschüre wollte er seinen Studenten wesentliche Tatsachen der Ökonomie verständlich machen, wie Geld, Eigentum, Arbeitslosigkeit, Fortschritt der Technologie, Wirtschaftskrieg, Planwirtschaft, Wert. Er nahm dazu den Tag eines Maschinenarbeiters als Beispiel und erklärte an dessen Tageswerk und seinen Gedanken diese Grundbegriffe. Die Publikation fand auch das Interesse von Mary Fledd6rus und Mary van Kleeck. Diese beiden Holländerinnen leiteten ein internationales Wirtschaftsinstitut, das International Industrial Relations Institute (IRI), eine Gründung in Den Haag mit einer gewichtigeren Filiale in New York. Das IRI befaßte sich mit ökonomischen Studien zum Rosseveltschen New Deal und widmete zudem der industriellen Entwicklung in der Sowjetunion besondere Aufmerksamkeit. Die linksliberal orientierten Frauen waren marxistischen Forschungsmethoden nicht abgeneigt, so daß Goldschmidt das Angebot annahm, ihrem Direktorium beizutreten. Er wurde damit faktisch zu einem unbezahlten Berater des IRI - eine Aufgabe, die er bis zu seinem Weggang aus den USA wahrnahm. Für sein SEL war die Bindung an das IRI nur insofern nützlich, als die Leiterinnen des Wirtschaftsinstituts Goldschmidt wohlgesonnen waren und seine Kurse Interessenten empfahlen. Goldschmidt hatte mit zwei Mitarbeitern begonnen, mit Dr. Frankwood Williams und Dr. Lin, einem jungen Chinesen. Es zeigte sich bald, daß nicht das Social Economic Laboratory, sondern, wenn überhaupt, Alfons Goldschmidt gefragt war. Nur durch ihn und seine Art, den Stoff darzubieten, wurden die Themen für die Hörer interessant. Goldschmidt mußte sich von den beiden Mitarbeitern trennen. Sekretär Simon blieb vorerst bei ihm, stets darum bangend, für seine Tätigkeit auch bezahlt zu werden. Daß sich die Krise des SEL schon im ersten Jahr seines Bestehens abzeichnete, hing nicht zuletzt mit Goldschmidts persönlicher Misere zusammen. In den Wochen vor dem Tod seiner Frau (sie starb im August 1935) war er oft verhindert, Lehr- und Vortragstermine wahrzunehmen. Das

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folgende Jahr ließ sich zwar zunächst gut an, doch dann unterbrach Goldschmidt die Tätigkeit des SEL für mehrere Monate. Nach dem Tod der Mutter wollte Irene ihren Vater endlich wiedersehen. Seit geraumer Zeit arbeitete sie im Moskauer Trickfilmstudio und hatte, wie ihre Kollegen auch, beim Bau der Metro mitgeholfen. Sie wohnte mit ihrem Mann und der Schwiegermutter, die den Haushalt führte, in einem Haus für Mitarbeiter der Komintern. Im Frühjahr 1936 deutete sie in ihren Briefen nach New York an, daß es Schwierigkeiten mit ihrem Mann gebe. Goldschmidt vermutete Eheprobleme und fühlte sich auch dadurch gedrängt, Irene zu besuchen. Freunde, wie das Ehepaar Wiener, fanden sich bereit, einen Teil der Reisekosten zu übernehmen. Offensichtlich griff Goldschmidt auch auf die spärlichen Mittel für das SEL zurück. Sich selbst gegenüber rechtfertigte er dies damit, daß er letztlich keine Privatreise nach Europa anzutreten gedachte, sondern neue Eindrücke und Einsichten für seine Arbeit gewinnen wollte. Der New York Times und anderen Zeitungsredaktionen bot er Beiträge über die Sowjetunion an, die er nach seiner Rückkehr zu schreiben gedachte und für die er um Honorarvorschuß bat - vergeblich, wie er sich hätte denken können. Als erste Station seiner Reise wählte Goldschmidt die belgische Hauptstadt. Das Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus hatte ihn zur Teilnahme an einer europäischen Amnestiekonferenz für die Opfer des Freiheitskampfes im »Dritten Reich« eingeladen. Am 5. Juli 1936 sprach er dort zu den 230 Teilnehmern über die Kampagne in den USA zur Freilassung von Carl von Ossietzky, Ernst Thälmann, Carlo Mierendorff und aller antifaschistischen Gefangenen. Anschließend traf Goldschmidt in ihrem Zürcher Exil seine langjährige politische Freundin Helene Stöcker. Mit ihr hatte er in der Deutschen Liga für Menschenrechte und in der Internationalen Liga gegen den Imperialismus gearbeitet. In Sankt Moritz besuchte er einen Neffen, der sich nach der Flucht aus Deutschland in einer Nervenklinik befand. Die zweite Etappe der Reise führte per Schiff von Antwerpen nach Göteborg. Hier sprach Goldschmidt in Veranstaltungen des schwedischen Arbeiterbildungsvereins, dessen Gast er bereits in den zwanziger Jahren gewesen war. Noch im Juli traf er in Moskau ein. Die Wiederbegegnung mit Irene verlief nicht in der von beiden erwarteten Herzlichkeit. Ihr Mann war als angeblicher Volksfeind verhaftet worden. Sie und ihre Schwiegermutter sprachen von haltlosen Beschuldigungen und von Willkür. Goldschmidt konnte oder wollte das nicht glauben. Repressalien paßten nicht in sein Bild von der Sowjetunion, vor allem standen sie im Widerspruch zu seinen Vorstellungen vom Sozialismus. Doch es ging nicht nur um den Mann seiner Tochter. Mancher Bekannte aus seinen früheren Moskaubesuchen war verschwunden. Wollte er Näheres erfahren, stieß er auf Schweigen. Wie betroffen er tatsächlich war, belegt eine erhalten gebliebene Notiz aus den ersten Wochen nach seiner Rückkehr in die USA. Goldschmidt schrieb, Irenes »schlimme Situation« bringe ihn »beinahe zum Verzweifeln«.18

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Goldschmidt teilte seine Sorgen mit Philipp Dengel und mit Wilhelm Pieck, mit denen er in Moskau vor allem darüber nachdachte, wie die Politik einer deutschen antifaschistischen Volksfront in den USA popularisiert werden könne und welche Organisationsformen zu finden seien, um auf dem gesamten amerikanischen Kontinent stärker als bisher der faschistischen Weltgefahr entgegenzutreten, die mit den Ereignissen in Spanien neue Dimensionen erlangte. Es ist sehr wahrscheinlich, obwohl dafür die Belege ausstehen, daß an diesen Gesprächen auch Kurt Rosenfeld teilnahm, der seit 1934 in den USA lebte und etwa zur gleichen Zeit wie Goldschmidt die Sowjetunion besuchte. Im Unterschied zu Goldschmidt war der Jurist Kurt Rosenfeld ein Parteipolitiker mit jahrzehntelanger Funktionserfahrung in der SPD und schließlich in der SAP. Beide, der Theoretiker Goldschmidt und der politische Praktiker Rosenfeld, sollten ab Herbst 1936 engagiert für deutsche Volksfrontzusammenschlüsse in den USA arbeiten. Goldschmidt war schon am 12. September von Göteborg direkt nach New York gefahren, während Rosenfeld, der über Frankreich ins republikanische Spanien reiste, erst später zurückkehrte. Zusammen mit Toni Sender und Julius Lips gründeten sie die deutsche Volksfrontgruppe New York, die sich als Vertretung des von Heinrich Mann repräsentierten Pariser Ausschusses betrachtete und dessen programmatischen Aufruf ßr die deutsche Volksfront für Frieden, Freiheit und Brot vom 21. Dezember 1936 mitunterzeichnete. Goldschmidts Wirken für die deutsche Volksfront wäre eine spezielle Darstellung wert, denn es reicht von vielen praktischen Schritten bis zu theoretischen Konzeptionen, die über seinen Tod hinaus wirkten und wesentliche Ansätze enthielten, die zur Grundlage der Bewegung Freies Deutschland auf dem amerikanischen Kontinent wurden. Am Anfang stand seine Initiative zur Herausgabe einer Zeitung. Gemeinsam mit Rosenfeld gründete er am 12. Januar 1937 im Hotel Park Plaza die Wochenzeitung Deutsches Volksecho, deren Redakteur Stefan Heym wurde und die vom 20. Februar 1937 bis zum 16. September 1939 erschien. Goldschmidt arbeitete außerdem als Sekretär des von ihm mitbegründeten Deutsch-Amerikanischen Hilfskomitees zur Unterstützung des spanischen Freiheitskampfes, zu dessen namhaften Mitgliedern Kurt Rosenfeld, Toni Sender, Ernst Toller, Albert Einstein und William E. Dodd jun. gehörten. Er war ferner Vorstandsmitglied des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, Sektion New York, Redner diverser deutschamerikanischer Organisationen in New York, Chicago, Detroit und Philadelphia sowie antifaschistischer Vereinigungen der USA, unter anderem der International Labor Defense und der Non-Sectarian Anti-Nazi League to Champion Human Rights, deren führende Persönlichkeiten Samuel Untermeyer und New Yorks Bürgermeister Fiorello H. La Guardia zu den prominentesten Hitlergegnern Nordamerikas zählten. Am 24. März 1938 schrieb Goldschmidt an Sepp Miller, den ehemaligen Sekretär der Roten Hilfe Deutschlands, nach Prag: »Unser aller Leben in

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dieser schlimmen Zeit ist mehr als je Opferleben, und es ist gut, daß es so ist. Denn diese Verhältnisse geben erst den Menschen unserer Gesinnung die Möglichkeit, seine Gradheit und Festigkeit zu beweisen (...). Wo ich konnte, habe ich gekämpft gegen die grauenhafte Reaktion in unserem Lande, für die spanische Demokratie, für das chinesische Volk, wo immer ein Kampffeld für uns war. Das ist ja selbstverständlich.«19 Wenig später äußerte er in einem Brief an Kurt Kersten in Paris: »Seit ich in den Vereinigten Staaten bin, habe ich sehr viel gearbeitet, hunderte Male öffentlich gesprochen, viele Vorlesungen gehalten, Broschüren veröffentlicht, an der Gründung von Zeitschriften und anderen Organen unseres Kampfes teilgenommen usw. So glaube ich, nicht ganz nutzlos gewesen zu sein.«20 Goldschmidts antifaschistische Maxime lautete: »Einigkeit und Aktion, das ist der Weg zur Niederringung der Weltseuche.«21 Als New Yorks Bürgermeister nach dem Münchner Abkommen vom September 1938 die Regierungen Frankreichs und Englands als Verräter am Widerstand gegen Hitler charakterisiert und die antifaschistische Vereinigung des amerikanischen Kontinents gefordert hatte, rief Goldschmidt die Deutschen in Amerika dazu auf, bei diesem Prozeß voranzugehen: »Jetzt ist der Augenblick zu sofortiger Einigung aller antifaschistischen Deutschen über den ganzen amerikanischen Kontinent. (...) Wir haben wichtige deutsche Verbände hier, die den Faschismus bekämpfen. Wir haben den Kulturverband, wir haben den Schriftsteller-Verband, wir haben die antifaschistische Volksfrontgruppe, wir haben die vielen Arbeiterklubs, die Krankenkassen, die Freidenker, die Naturfreunde, das Spanienkomitee, die Gesangvereine, wir haben Zeitungen und Zeitschriften. Der ganze Apparat, der hunderttausende freiheitlicher Deutschamerikaner umfaßt, sollte sofort anfangen, nach der Einigung hinzuarbeiten. (...) Wie die antifaschistischen Deutschen hier in den Vereinigten Staaten sich mit allen Kräften bemühen, die Bewohner der Vereinigten Staaten über die Gefahr des Nazismus aufzuklären, sie vor ihm zu schützen und sie gegen die Bedrohung zu aktivieren, so werden das auch unsere Freunde in den lateinamerikanischen Ländern tun. Derart wird nicht nur die Gegenseitigkeit der Deutschen in den Ländern Amerikas für die gemeinsame antifaschistische Aktion gestärkt, sondern die Zusammenarbeit der amerikanischen Völker überhaupt.«22 Zu Goldschmidts Lebzeiten kam die von ihm geforderte Einheit nur in Ansätzen zustande. Aber er wurde mit seinem Aufruf zu einem der Vordenker der 1942 von Kurt Rosenfeld geschaffenen German American Emergency Conference, der Dachorganisation zahlreicher deutschamerikanischer Organisationen mit etwa 50 000 Mitgliedern, und des 1943 in Mexiko gebildeten Lateinamerikanischen Komitees der Freien Deutschen, in dem sich Organisationen in fast allen Ländern des Teilkontinents auf föderativer Basis vereinten. Ende 1936 war Goldschmidt in das am Central Park gegenüber dem Naturhistorischen Museum gelegene vierzehnstöckige Hotel Park Plaza

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gezogen. Sein Appartement kostete im Monat nur zwei Dollar mehr als das Zimmer im Hotel Brevoort und bot dennoch einen gewissen Komfort, wozu auch der Tag und Nacht funktionierende Telefondienst gehörte. Bereits im Frühjahr 1937 wünschte sich Goldschmidt eine eigene Wohnung - wegen seiner Bücher und weil eine junge Frau in sein Leben getreten war. Von früheren Moskaufahrten kannte Goldschmidt einen Amerikaner namens Trone, der als Vertreter von General Electric die Sowjetunion bereiste und auch Geschäfte in Deutschland abwickelte. In New York fragte Trone nach dem Schicksal von Goldschmidts Bibliothek, die seit 1932 in Kisten verpackt, noch auf einem Speicher in Berlin lagerte. Goldschmidt hätte gern selbst genaueres gewußt, doch er nahm an, daß sie für ihn verloren sei. Trone begann zu recherchieren, und das Ergebnis überraschte. Die Kisten befanden sich noch dort, wo sie einst gelagert worden waren. Nun griff, organisatorisch und finanziell, der Nudel- und Matzefabrikant Erich Cohn ein. Die Bibliothek kam von Berlin nach Breslau zu dessen Schwester Gertrud, die bereits ihre Übersiedlung nach New York betrieb und, weil der Bruder aus den USA reichlich Dollars schickte, gegenüber den Nazibehörden die ominösen Bücherkisten zu ihrem Hab und Gut erklären konnte, das sie ins Exil mitzunehmen gedachte. Goldschmidt äußerte gegenüber Freunden, der großzügige Erich Cohn habe mit dieser Aktion einen Nebengedanken verknüpft: Er hoffte, seine Schwester werde in New York die Zuneigung des Witwers Goldschmidt finden. Doch dieser hatte andere Empfindungen, nachdem ihm Hans Meyer, ein Neffe Albert Einsteins, und dessen Frau Bertie die erst kürzlich nach New York gekommene und im Widerstand gegen das Naziregime bewährte Leni Weitzenkorn vorgestellt hatten. Briefen ist zu entnehmen, was Goldschmidt bewegte: »Ich habe eine junge Jüdin, Emigrantin aus Westfalen kennengelernt, die ich, wenn die Verhältnisse sich einigermaßen günstiger gestalten, heiraten will. Sie ist erst 23 Jahre alt, aber hat, besonders im Konzentrationslager und im Nazigefängnis, die Nöte des Lebens schon kennengelernt. (...) Ich bin sehr jung geworden und hoffe nur, daß ich immer jünger werde. Noch viel jünger würde ich sein, wenn nicht der schlimme materielle Druck länger auf mir lastete.«23 »Mein persönliches Leben dagegen ist sonnenhell. Ich glaube fast, daß mein kühner Schritt nicht abenteuerlich gewesen ist. Gemeinschaftliche Interessen sind starke Brücken.«24 An Sepp Miller in Prag schrieb er: »Ich schien mir fast selbst verloren, bis ich eine junge Kameradin fand, die mich aus den fürchterlichen Depressionen zu neuer optimistischer Aktivität führte.«25 Und gegenüber seiner Schwester Amanda äußerte er: »Ich habe, Du kennst mich ja, >reiche Heiraten< abgelehnt. Mitgiften sind nach meinen Erfahrungen alles andere als Segen. Ich wohne zu gemeinsamer Arbeit mit der jungen Dame in einem kleinen Haus in einem Vororte New Yorks.«26 Das Haus befand sich in Sunnyside, Long Island. Die monatliche Miete betrug 65 Dollar. Das Ehepaar Wiener zahlte Goldschmidt ab 1. Juni 1937 eine Monatsrente von 150 Dollar, so daß eine bescheidene Existenz gesichert war. Leni erinnerte sich: »Für Sunnyside kauften wir gebrauchte Möbel. Von

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Wieners erhielten wir eine Bücherwand. Wir hatten einen großen Eßtisch und einen eichernen Schreibtisch, an der Wand ein Bild von George Grosz mit persönlicher Widmung. Kleidung bedeutete Goldschmidt nicht viel. Er besaß zwei Anzüge mit Weste, einen Mantel, langen Schal und einen breitkrempigen Filzhut. Eine Aktentasche und die Zigarre in der Hand dazu machte sein Äußeres komplett. Immer war er mit geistigen Problemen beschäftigt. Er hatte viele Pläne, von denen er nur wenige zu Papier brachte. Mary Fledd6rus, Mary van Kleeck und andere verstanden es, die Anregungen, die von ihm ausgingen, zu nutzen. Er schrieb täglich, zumeist publizistische Beiträge. Er war vor allem Journalist und Redner und wirkte dabei wie ein Künstler, der die Sprache wie ein Wortmaler und Worteschmied gebrauchte. Er faszinierte als Gesprächspartner, konnte herzlich lachen, erzählte gern Anekdoten und war ein scharfer Beobachter seiner Umwelt. Er wirkte nie belehrend, aber ein Lehrer zu sein, der das Denken seiner Zuhörer entwickeln wollte, war ihm wichtig. Dogmatismus war ihm fremd, doch an seiner weltanschaulichen Überzeugung ließ er nicht rütteln. Ich war völlig mittellos nach den USA gekommen und hatte zunächst als Kindermädchen gearbeitet. Alfons kaufte mir eine Schreibmaschine und bezahlte mir Kurse, um Maschineschreiben, Stenografie und Englisch zu lernen. Allmählich wurde ich auch seine Sekretärin, und er konnte auf Ernest Simon verzichten.«27 Ein Exilidyll wurde Goldschmidts Dasein nicht. Nur einen Teil seiner Bücher hatte er nach Sunnyside genommen. Die meisten blieben verpackt in einem Lagerhaus. Am 8. Juni 1937 schreib er an Max Horkheimer: »Ich bin gezwungen, wenn nicht andere Hilfe kommt, zwecks Aufrechterhaltung meiner Arbeit, meine Bibliothek zu verkaufen. Ein großer Teil besteht aus Werken der Literatur, aber es ist auch manches darunter, was wissenschaftlicher Arbeit dienen kann. Ich schätze, daß die Bibliothek im ganzen etwa 3000 Bände stark ist. Dazu kommt Archivmaterial, speziell über deutsche Wirtschaft und deutsche Finanzen bis zum Jahre 1922. Hat Ihr Institut Interesse oder wissen Sie jemanden, der bereit wäre, das Material zu kaufen? Wenn ich schon meine Bücher weggeben will, so können Sie sich vorstellen, wie schlecht die Situation ist.«28 Bereits fünf Monate war Goldschmidt mit der Miete für das SEL am Washington Square im Rückstand. Schließlich erhielt er, obwohl er sich mit dem Hauswirt arrangiert hatte, den Gerichtsbeschluß, den Raum bis Ende Juni zu räumen und zu verlassen. Ida Guggenheimer, eine seiner wohlhabenden Schülerinnen, die das SEL mit einigen tausend Dollar unterstützt und zu den möglichen Heiratspartien gehört hatte, antwortete ihm auf seine Nachricht von der bevorstehenden Räumung: »(...) wenn Sie wirklich realistischer darüber nachgedacht hätten, dann hätten Sie gesehen, daß dort niemals ein Seminar stattfand im vollsten Sinne des Wortes. Und es scheint mir, die Geldausgaben waren zu hoch im Vergleich zu dem, was in einem einfachen Raum getan werden konnte. Am Ende war ich gar nicht einverstanden mit der Weiterführung auf der alten Basis. Obwohl der

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Besitzer Ihnen erlaubte, ohne Miete dort zu bleiben, gab es immer die Ausgaben für Telefon, Licht und Reinigung, um nichts zu sagen über die anderen Verbindlichkeiten, zu denen, wie ich meine, eine Vergütung für Mr. Simon gehörte.«29 Von alledem war Goldschmidt nun befreit. Doch seine Kurse setzte er fort und hielt auch an der Bezeichnung Social Economic Laboratory fest. 1938 gab es für das SEL sogar zwei Adressen, einmal die des Gebäudes der Teachers Union, deren Mitglied er wurde, zum anderen die der New York School of Social Work, in deren Haus er gleichfalls ein Unterkommen fand. Außerdem übernahm er Kurse an der FAECT-School, einer Gewerkschaftsschule für Architekten, Ingenieure, Chemiker und Techniker, die mit ihren 300 Studenten in der Tradition des Dessauer Bauhauses arbeitete. Goldschmidts Lebensgefährtin Leni war ein Jahr jünger als seine Tochter. Irene wollte es zunächst nicht fassen. Schließlich korrespondierten die beiden Frauen freundschaftlich miteinander. Das Jahr 1937 war für Irene noch schrecklicher als das vorangegangene. Wenige Einzelheiten lassen sich aus erhaltenen Briefen rekonstruieren. Irenes Mann war in ein Lager deportiert worden. Aber auch sie und die Schwiegermutter gerieten in die Mühle der Repressalien. Irene flehte ihren Vater an, sich an seine für sie unerreichbaren Freunde in Moskau zu wenden, diskret und ohne Schärfe. Am 4. August schrieb Goldschmidt deshalb an Wilhelm Pieck: »Lieber Freund, ich bitte Dich sehr, nach Erhalt dieses Briefes, meine Tochter Irene zu Dir kommen zu lassen und Ihre schwere Situation mit ihr durchzusprechen. Sie ist wieder ohne Arbeit, soll am 1. Oktober ihr Zimmer aufgeben und ist völlig verzweifelt. Ich schrieb Dir schon vor einiger Zeit über Irene und hoffe, daß Du den Brief erhalten hast. Ich wäre Dir ganz besonders dankbar, wenn Du ihr behilflich sein würdest, die Ausreiseerlaubnis zu erhalten, damit sie mich besuchen kann, was ich für durchaus notwendig halte. Da die Formalitäten einige Zeit in Anspruch nehmen werden, so muß sie bis dahin Beschäftigung und Unterkunft haben. Würdest Du so sehr freundlich sein, ihr auch das zu sichern?«30 Monatelang blieb ungewiß, ob der Brief den Empfänger erreichte. »Ich bin schon nur noch durch ein Wunder lebendig«, schrieb Irene Ende November. Und wenige Tage später: »Ich bin geistig und körperlich völlig zerrüttet und stehe vor dem Zusammenbruch. Ich bin ohne Zimmer und wohne, vom Mitleid der wenigen Bekannten, heute hier, morgen da. Und nur auf wenige Tage. Die Wirtschaft habe ich aufgelöst. Die Mutter ist fort. Was nun? Arbeit auch nicht (...).«31 Ende des Jahres wußte Goldschmidt, daß seine Bitte an Pieck etwas bewirkt hatte. »Die Entscheidungen haben sich gekreuzt«, schrieb Irene. »Man war sehr, sehr hilfreich zu mir, Papa, hilfreicher als gegen die meisten, und das geht sicher auch auf Dein Konto. Rätsel sind hier keine zu lösen, nur wir leben in einer furchtbar schweren Zeit. Das muß man alles verstehen. Ich habe Arbeit dort, wo ich früher war (...). Die Zimmerfrage ist zwar noch nicht gelöst (,..).«32 Wo ihre Schwiegermutter geblieben war, klärte sich ebenfalls auf. Goldschmidt erhielt einen

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Brief von ihr aus der lettischen Hafenstadt Liepaja.: »Mein lieber Alfons! Du wirst recht erstaunt sein, von hier aus von mir zu hören, jedoch blieb mir kein anderer Ausweg (...). Um alles zu verstehen, will ich dir nur einen Fall von jemandem herausgreifen, und zwar (von) Deinem Freund, dem Du damals Deinen Paletot überlassen hast. Er ist vollkommen liquidiert (...). Hoffentlich werde ich etwas Passendes für mich finden, um mich über Wasser zu halten, bis zu dem Moment, wo ich meinen armen Jungen wieder in meine Arme schließen kann (,..).«33 Nur Irenes weiteres Schicksal ist bekannt. »Jetzt habe ich ein ganz kleines sonniges Zimmerchen«, schrieb sie im Mai 1938. »Ich komme langsam wieder in ein ruhiges Fahrwasser. Sehr langsam (...). Wir haben alle eine schwere Zeit hinter uns, was noch kommt, das weiß man nicht.«34 Eine Hilfe für sie wurden die Kontakte ihres Vaters zur Internationalen Literatur / Deutsche Blätter. Johannes R. Becher bot Goldschmidt an, nach längerer Unterbrechung wieder an der Moskauer Zeitschrift mitzuarbeiten: »Ich habe einige Deiner neuen Arbeiten gelesen, u.a. in der Weltbühne, sie gefallen mir außerordentlich gut. Sie sind im besten Sinne lebendig. Es ist für uns dringend nötig, unseren internationalen Gesichtskreis zu erweitern, umsomehr als jetzt doch mehrere deutsche Schriftsteller in Amerika eingetroffen sind. Das Honorar steht hier natürlich jederzeit Deiner Tochter zur Verfügung.«35 Irene bemerkte zu diesem Angebot, nachdem es Goldschmidt angenommen hatte: »Es ist sehr gut in jeder Beziehung, daß Du wieder Artikel schreibst. Ich bitte Dich, das regelmäßig zu tun. Nicht nur meinetwegen, aber der engste Kontakt mit hier muß Dir bleiben. Und Du siehst, man bittet Dich darum (...). Du hast ja keine Ahnung, wie wichtig es ist, daß Du hier gedruckt wirst. Wirklich.«36 Die Massenrepressalien, die Willkür und Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion hatten Goldschmidt in den schwersten Gewissenskonflikt gebracht. Er sah, daß der Stalinismus nicht nur der Sowjetunion selbst, sondern auch ihrem internationalen Ansehen großen Schaden zufügte und das Bild vom Sozialismus verzerrte und diskreditierte. »Wir haben viel darüber gesprochen«, erinnerte sich Leni, seine Vertraute auch in diesen Fragen. »Wenn es eine Kraft in der Welt gibt, meinte Alfons, die dem unaufhaltsam scheinenden Aufstieg des Faschismus Einhalt gebieten kann, dann ist das nur die Sowjetunion. Er baute z.B. sehr auf das Bemühen von Außenminister Litwinow für eine kollektive Sicherheit in Europa. Alfons war sich der Verantwortung bewußt, die er hätte wahrnehmen müssen, um seine Stimme gegen das zu erheben, was an Entsetzlichem in der Sowjetunion geschah. Doch er wußte auch, daß er sich dann, ob er wollte oder nicht, sofort auf der antikommunistischen Frontseite befunden hätte. Selbst seine Aufgabe im Deutsch-Amerikanischen Hilfskomitee zur Unterstützung des spanischen Freiheitskampfes hätte er nicht mehr ausüben können. Er, der das dialektische Denken lehrte, war in höchstem Maße gefordert, zwischen den Widersprüchen zu differenzieren. Ein- oder zweimal sprach er in Washington mit den sowjetischen Botschaftern, 1937 mit Alexander Troja-

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nowski und 1938 mit Konstantin Umanski. Beide teilten seine Sorgen und seinen Standpunkt.«37 Bis zu seinem Tode hat Goldschmidt an dieser Position festgehalten. Dafür gibt es viele Belege. Einer davon ist besonders aufschlußreich. 1938 meldete sich eine von Lenis Cousinen aus ihrem Schweizer Exil. Dr. Betty Waldheim war in den zwanziger Jahren Mitglied der KPD gewesen und hatte am Moskauer Marx-Engels-Institut gearbeitet. Jetzt schrieb sie, die Realisierimg der Doktrin der Dritten Internationale nach russischem Beispiel sei nicht weniger gräßlich als der Faschismus. Leni antwortete ihr: »Erlaube mir, daß ich dieses Urteil (...) zurückweise. Die internationale Arbeiterschaft (...) hat mit solchem Pessimismus nichts zu tun, der ganz und gar ihrer Naturtendenz widerspricht. (...) Wir, mein Mann und ich, bewundern die ungeheuere Arbeit und ihre Erfolge in der Sowjetunion und erkennen darin den ersten Schritt der Menschheit in ihre materielle und kulturelle Geschichte. Mein Mann war der erste Verteidiger der Sowjetunion und würde, wenn alle wanken sollten, ihr letzter sein. Dafür hat er seine wissenschaftlichen Gründe, sein Kampf ist gewiß nicht unfundiert und seine Entschlossenheit von Jahr zu Jahr firmer geworden. Er war zum letzten Male im Jahre 1936 dort und hat den ungeheuren Aufschwung vorgefunden, den er erwartet und vorausgesagt hatte (...). Die Sowjetunion ist in einem Gesundungsprozeß begriffen und ihre ungeheure Stärke wird sich auch außerhalb ihrer selbst noch erweisen. Das ist die feste Überzeugung meines Mannes, und darin gehe ich mit ihm.«38 Goldschmidt hatte in New York, wie auch sein Vortragsprogramm für das SEL belegt, Mexiko nie aus dem Auge verloren. Als er sich 1933 in Moskau für die Reise in die USA entschied, schwang der Gedanke mit, eines Tages doch wieder nach Mexiko zu gehen. Zunächst gab es dafür keinen Ansatzpunkt, zumal er seine Lehrtätigkeit an der Universität von Mexiko-Stadt nicht aus eigenem Entschluß beendet hatte. Nachdem 1934 Präsident Lázaro Cárdenas sein Regierungsamt angetreten hatte und einen energischen Kurs zur Weiterführung der mexikanischen Revolution von 1910 bis 1917 steuerte und vor allem die Landreform zugunsten der Indios vorantrieb - ein Thema, mit dem sich Goldschmidt seit langem wissenschaftlich und publizistisch befaßte - , dachte er ernsthaft daran, dort wieder tätig sein zu wollen. Als schließlich Mexiko neben der Sowjetunion der einzige Staat war, der das republikanische Spanien direkt unterstützte und überhaupt eine antifaschistische Außenpolitik betrieb, war dies für Goldschmidt ein weiteres Zeichen der Hoffnung. Er wollte jedoch den Schritt nach Mexiko nur dann wagen, wenn ihn eine konkrete Aufgabe erwartete. Mehrere seiner Schüler und Freunde aus den frühen zwanziger Jahren erlangten in der Amtszeit des Präsidenten Cárdenas Einfluß und Ansehen. Vor allem waren dies der Wirtschaftswissenschaftler Jesús Silva Herzog, der in Regierungsfunktion gelangte, und Vicente Lombardo Toledano, der als Führer des mexikanischen Gewerkschaftsbundes CTM zu einem der bedeutendsten Politiker des Landes wurde.

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Im März 1938 traf Silva Herzog bei einem Besuch in New York mit Goldschmidt zusammen und bot seinem einstigen Lehrer an, in Mexiko als Berater für ökonomische Forschungen zu wirken und erneut eine Professur an der Nationaluniversität zu übernehmen. Wenig später schlug ihm Lombardo Toledano vor, auch an der 1936 gegründeten Arbeiteruniversität zu lehren. Goldschmidt sagte mit Freude zu, machte jedoch seine Übersiedlung nach Mexiko davon abhängig, eine offizielle Berufung zu erhalten. Vorerst veranlaßte ihn jene Aussicht auf eine grundlegende Veränderung seines Exillebens, sich an die Peripherie von New York zurückzuziehen, um die äußere Ruhe für ein Vorhaben zu finden, das er vor Jahren konzipiert, aber nie realisiert hatte: ein Buch zur Geschichte der mexikanischen Landindios von den Azteken bis in die Gegenwart. Goldschmidt hatte die Wohnung in Sunnyside aufgegeben und war mit Leni nach Woodstock in der Nähe von Kingston in den Catskill Mountains gezogen. Das Leben war hier billiger als in der Großstadt, ein wesentlicher Umzugsgrund für Goldschmidt, obwohl er dennoch mit der Miete bald in Rückstand geriet. »Da ich jetzt in den Bergen bei New York etabliert bin und nur einmal in der Woche zur Vorlesung nach der City muß, kann ich die Arbeit für Sie wieder aufnehmen«39, schrieb er an Hermann Budzislawski, den Herausgeber der Neuen Weltbühne, nach Prag. Sommer und Herbst in Woodstock wurden für Goldschmidt »eine sehr aktive Zeit des Forschens, Schreibens und Lehrens«40. Dem Buchmanuskript über die mexikanischen Bauern, das er zuerst deutsch schrieb und dann selbst ins Spanische übersetzte, gab er den Titel Tierray Libertad (Boden und Freiheit). Er dachte es sich als Einstandsgabe für Mexiko, dessen Reformen gerade in diesem Jahr 1938 erheblich vorankamen: Lohnkonflikte mit den ausländischen Monopolen führten zur Verstaatlichung der Erdölförderung, ein Vorgang, der Mexiko in eine äußerst angespannte innen- und außenpolitische Lage brachte und letztlich der Grund war, weshalb sich Goldschmidts Übersiedlung dorthin von Monat zu Monat verzögerte. Die offizielle Einladung der mexikanischen Regierung erreichte ihn im August, aber erst gegen Ende des Jahres waren alle Formalitäten erledigt und das Reisegeld überwiesen. Die Abgeschiedenheit in Woodstock war nur scheinbar. Freunde kamen zu Besuch; für Kurt Rosenfeld, der ein eigenes Auto fuhr, war der Weg nach Woodstock leicht zu bewältigen. Mit ihm beriet Goldschmidt Fragen der antifaschistischen Arbeit und des Deutschen Volksechos. Sie überlegten, wie sie auch später an der Einheit der deutschen Antifaschisten in Amerika zusammenwirken könnten. Zu den Woodstocker Besuchern gehörte auch Max Horkheimer, für den Goldschmidt ein Partner zur ausgiebigen Diskussion philosophischer Probleme war. Durch Vermittlung des Kingstoner Kinderarztes Henry Lambert Bibby fanden sich Interessenten, vor allem Intellektuelle, denen Goldschmidt gegen Bezahlung Vorträge über Hegel, Feuerbach, Marx und Engels hielt. An Mary Fledderus schrieb er: »Ferner halte ich in unserer Wohnung in Woodstock seit einiger Zeit ein Seminar

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mit etwa zwanzig Hörern aus Woodstock und Kingston. Die Hörerschaft gehört zu den qualifiziertesten, die ich je gehabt habe.«41 Das bevorstehende Ende seines USA-Aufenthaltes veranlaßte Goldschmidt zur Bilanz über die weltpolitische Entwicklung der vergangenen Jahre und über das, was er selbst bewirkt hatte. Das Resultat bedrückte ihn. Vor der Redaktion der Deutschen Volkszeitung in Paris war ihm der Aufruf der KPD zur Aktivierung des Volksfrontausschusses vom 8. September zugegangen. Mit Blick auf das inzwischen geschlossene Münchner Abkommen und die damit verknüpften Zugeständnisse Englands und Frankreichs an das Naziregime resümierte er in seiner Antwort: »Meine Einigungswünsche decken sich durchaus mit denen, die der Aufruf enthält. Seit August 1933 habe ich hier auf die Verwirklichung einer solchen Einigung hingearbeitet. Widerstände, Lässigkeiten, Sorge ums tägliche Brot, Schwankungen vor scheinbaren Erfolgen Hitlers (...), das alles hat einen Erfolg verhindert, von dem ich innigst gehofft hatte, daß er schon eintreten würde, als der Hitlerterror noch nicht zum Weltterror geworden war. Es ist nunmehr hohe Zeit. Ich fühle fast mit Beschämung, wie wenig mit hunderten von öffentlichen Reden gegen die grauenhaft zerstörerische Gewalt des Faschismus ich habe erreichen können, wie wenig mit Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, mit meiner Lehrtätigkeit, die sich so oft wie möglich auf diese Fragen richtete und noch richtet, mit Büchern, Broschüren, Anstrengungen jeden Tag, die Menschen hineinzugewinnen in eine Front gegen das Grauen, wie wenig alle diese Anstrengungen eines Einzelnen genützt haben. Deshalb bin ich besonders interessiert an einer Stützung meiner eigenen Arbeit, die nur kommen kann durch eine wirkliche aktive Einigkeit der deutschen Opposition.«42 Erneut skizzierte er seine Vision von der deutschen antifaschistischen Einheit auf dem amerikanischen Kontinent. Ziel sei es, »unsern Brüdern in Deutschland besser zu helfen als bisher. Es müßte eine wirklich tätige, entflammte und opferbereite Welt-Volksfront angestrebt werden. Mit dem Ziel, eine Volksfront der Nationen von Wladiwostok bis Wladiwostok, rund um die Erde zu bilden.«43 Noch in Woodstock erfuhr er von den Novemberpogromen gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland. Wieder griff Goldschmidt zur Feder und schrieb den zu einem historischen Dokument gewordenen Brief an Rabbi Dr. Stephen S. Wise: »(...) Die beste Zeit ist versäumt worden, statt diese grauenhaften Unmenschen zu stoppen, hat man ihnen in München gegeben, was sie sich sonst unter Einsatz ihres Lebens hätten holen müssen. Sie haben nunmehr von der englischen und französischen Regierung die volle Bestätigung der Wirksamkeit ihres Terrors. (...) Was jetzt geschieht in Deutschland, das ist keineswegs spontan, wie auch das nicht spontan sein wird, was den deutschen Juden und anderen deutschen Gruppen noch bevorsteht. Der Reichstagsbrand, der so effektvoll war gegen die Arbeiterschaft, wird wiederholt in anderer Form.«44 Goldschmidt erinnerte den angesehenen und einflußreichen New Yorker Rabbiner Wise daran, daß er schon vor Jahren als entscheidende Waffe gegen den Nazismus die

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Opferbereitschaft aller Juden der Welt und ihre Solidarität und Kampfgemeinschaft mit allen Hitlergegnern vorgeschlagen hatte. Drei Tage später publizierte Goldschmidt im Deutschen Volksecho seinen leidenschaftlichen Appell Versteht doch! Einigt Euch! Kämpft! mit den Sätzen: »Ihr Deutschamerikaner, steht nicht zurück hinter den Fechtern von 1848. Steht nicht zurück hinter den heroischen Kämpfern in Deutschland selbst!«45 Im Dezember 1938 stand der Übersiedlung nach Mexiko nichts mehr im Wege. Goldschmidt besaß das Reisegeld und seine Berufung an zwei Universitäten sowie die Anstellung als Berater des Wirtschaftsministeriums. Am 26. Dezember fuhren Alfons und Leni Goldschmidt - sie hatten drei Tage zuvor in der Methodistenkirche von Putnam County geheiratet - auf dem Landweg in Richtung Mexiko. Die Grenzposten in Laredo ließen den als Gast ihrer Regierung reisenden Professor ohne Zollformalitäten passieren. Als der Zug die Grenze überfuhr, warf Goldschmidt seinen Wintermantel aus dem Fenster. »Ich werde ihn in Mexiko nicht mehr brauchen«, sagte er. »Wir fahren der ewigen Sonne entgegen.«46 Es erwartete ihn ein Jahr beruflicher Erfolge und intensiver Arbeit im Dienst des antifaschistischen Kampfes. Erstmals wieder nach fünfzehn Jahren lebte er frei von materiellen Sorgen. Doch es war nur ein Jahr. Am 20. Januar 1940 starb Alfons Goldschmidt in Cuernavaca an plötzlichem Herzversagen. Auf dem Pantheon Civil de Dolores in Mexiko-Stadt fand er seine letzte Stätte. Deutsche und Mexikaner, Juden, Christen und Atheisten ehrten ihn gemeinsam. Sein Grabstein erhielt die Inschrift: »Alfons Goldschmidt. 1879-1940. Deutscher Schriftsteller. Professor der ökonomischen Wissenschaften. Humanist. Er arbeitete für das mexikanische Volk und kämpfte für die Freiheit des deutschen Volkes.«47

1 Lorarius: »Neue Kurse«. In: Die Schaubühne, 13.12.1917, S. 573. - 2 Alfons Goldschmidt: Argentinien. Berlin 1923, S. 91. - 3 Alfons Goldschmidt: »Eine Gegenzuschrift zur New Yorker Neuen Volkszeitung«.. In: Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Fonds Alfons Goldschmidt. Alle folgenden Quellenbelege ohne Standortangabe und Signatur beziehen sich auf diesen Archivbestand. - 4 Ludwig Renn: »Wir und Alfons Goldschmidt«. In: Ders.: In Mexiko. Auswahl des Anhangs und Nachwort von Wolfgang Kießling. Berlin/DDR und Weimar 1979, S. 131 f. - 5 Goldschmidt an Wilhelm Pieck, 29.4.1932. In: Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Zentrales Parteiarchiv, 3/1/327. - 6 Alfons Goldschmidt: Die halbe Welt. Unveröffentlichtes Manuskript, S. 258. - 7 Ebd. - 8 Alfons Goldschmidt: »Wie ich Marxist wurde«. In: Internationale Literatur / Deutsehe Blätter, Moskau, März/April 1933, S. 179. 9 Goldschmidt, Die halbe Welt (wie Anm. 6), S. 257. - 10 Vgl. Deutsches Volksecho, New York, vom 14.5.1938. - 11 Alfons Goldschmidt: Wohin gehst Du, Israel? Manuskript der deutschen Fassung, S. 1 ff. - 12 Ebd., Vorwort. - 13 Goldschmidt an Farrar & Rinehart, 28.5.1937. - 14 W.O. Thompson an Goldschmidt, 23.1.1935. - 15 Alfons Goldschmidt:

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Dialectics in Essence, o.O. und Jahr. - 16 Rose Brown an Goldschmidt, 29.1.1937. - 17 Rose Brown an Goldschmidt, 5.2.1937. - 18 Goldschmidt an Ludwig Lore, Briefentwurf, nach dem 26.10.1936. - 19 Goldschmidt an Sepp Miller, 24.3.1938. - 20 Goldschmidt an Kurt Kersten, 8.4.1938. - 21 Goldschmidt an das Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus in Paris, 6.12.1938. - 22 Alfons Goldschmidt: »Deutschamerikaner sollen führend an panamerikanischer Front mitarbeiten«. In: Deutsches Volksecho vom 3.12.1938. - 23 Goldschmidt an Waither Loewendahl, 8. u. 17.6. 1937. - 24 Goldschmidt an Paul und Alma Wiener, 17.6.1937. 25 Goldschmidt an Sepp Miller, 24.3.1938. - 26 Goldschmidt an Amanda Becher, 11.6.1937. - 27 Leni Goldschmidt-Kroul im Gespräch mit Wolfgang Kießling, Wemitzgrün/DDR, Juli 1983. - 28 Goldschmidt an Max Horkheimer, 8.6.1937. - 29 Ida Guggenheimer an Goldschmidt, 27.6.1937. - 30 Goldschmidt an Wilhelm Pieck, 4.8.1937. - 31 Irene Mansfeld an Goldschmidt, 28.11. u. 3.12.1937. - 32 Irene Mansfeld an Goldschmidt, 12. u. 27.12.1937. - 33 Marta Mansfeld an Goldschmidt, 17.1.1938. - 34 Irene Mansfeld an Goldschmidt, 25.5.1938. - 35 Johannes R. Becher an Goldschmidt, 11.8.1938. - 36 Irene Mansfeld an Goldschmidt, 30.11.1938. - 37 Leni Goldschmidt-Kroul im Gespräch mit Wolfgang Kießling, a.a.O. - 38 Leni Weitzenkorn an Betty Waldheim, Januar 1939. - 39 Goldschmidt an Hermann Budszislawski, 17.4.1938. - 40 Goldschmidt an Ida Guggenheimer, 11.11.1938. 41 Goldschmidt an Mary Fleddirus, 16.10.1938. - 42 Goldschmidt an die Redaktion der Deutschen Volkszeitung in Paris, 4.10.1938. - 43 Ebd. - 44 Goldschmidt an Stephen S. Wise, 16.11.1938. - 45 Deutsches Volksecho vom 19.11.1938. - 46 Wolfgang Kießling: Brücken nach Mexiko. Traditionen einer Freundschaft. Berlin/DDR 1989, S. 263. - 47 Wolfgang Kießling: »Der Weg nach Mexiko«. In: Alfons Goldschmidt: Mexiko. Auf den Spuren der Azteken. Frankfurt/M. 1985, S. 5.

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»Hirngespinste« oder moralische Pflicht? Emil J. Gumbel im französischen Exil 1932 bis 1940

Mehr als 30 Jahre nach seiner Vertreibung aus Deutschland beschrieb der Pazifist und Statistiker Emil J. Gumbel das politische Exil wie folgt: »Die Emigration ist das Grauenhafteste, was es für einen politisch interessierten Menschen gibt. Denn plötzlich hört die Wirklichkeit auf. Der Emigrant lebt nur in der Vergangenheit, die Weltgeschichte hört an dem Tag auf, an dem er das Land verlassen hat. (...) Die Emigration ist komplett irreal, alle Kämpfe, die es früher gegeben hat, werden jetzt in Hirngespinsten weitergeführt. Früher waren die Kämpfe real. Es ging um Macht, um Position, auch ums Geld, es ging um die Wirkung, auch um die Anhänger, ob sie existierten oder nicht, spielt keine Rolle, sie existierten in der Vorstellung. In der Emigration setzt sich alles fort, nur die Basis verschwindet. Es ist alles in der verdünnten Luft. Und ich habe versucht, mich von diesem fern zu halten. Ich hatte nämlich neben meiner Überzeugung immer noch einen Beruf: und habe meinen Beruf immer ausgeführt, unabhängig von meinen Überzeugungen. Ich habe nie versucht, meine Überzeugungen zum Beruf zu machen, sondern habe sie immer als Luxus betrachtet. (...) Ich hab versucht, so weit ich konnte, meinen Teil in dem Kampf gegen die Nazis zu führen.«1 Am Tag der Machtübernahme war Gumbel in Paris. Man hatte den ehemaligen Heidelberger Professor der Statistik 1932 berufen, Vorlesungen über sein Fach an der Sorbonne zu halten. Seine Chance, eine akademische Stellung in Deutschland zu erhalten, war gering: Eine achtjährige Schmutzkampagne, die von Nationalsozialisten und ihren studentischen Anhängern sowie von nationalgesinnten Mitgliedern der Heidelberger Dozentenschaft gegen Gumbels Lehrtätigkeit geführt worden war, hatte im August 1932 zu seiner Entlassung geführt. Durch gezielten Rufmord war erreicht worden, daß keine deutsche Universität mehr wagte, ihm einen Lehrstuhl anzubieten. Emil Julius Gumbel, geboren 1891 als Sohn eines Münchener Bankiers, stammte aus einer assimilierten jüdischen Familie, die schon im 17. Jahrhundert in Württemberg lebte. Der junge Gumbel war im Ersten Weltkrieg zum Pazifisten geworden. Im August 1914 hatte er sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, im Januar 1915 wurde er aus Gesundheitsgründen entlassen.2 Trotz der Vermutung von Zeitgenossen Gumbels und von Historikern, daß er durch das Fronterlebnis zum Pazifisten geworden sei3, scheint es wahrscheinlicher, daß seine Haltung sich änderte, als er vom Tod

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des Sohnes seines pazifistischen Onkels Abraham Gumbel erfuhr. Dieser Onkel, ein Heilbronner Bankier, hatte unter dem Pseudonym »Emel« pazifistische und sozialistische Schriften verlegt und ihm nach dessen eigenen Worten »mehr gegeben als irgend ein anderer Mensch«4. Ein weiteres einschneidendes Ereignis war der Tod seines Bruders Paul, der im Juli 1915 fiel. Gumbel verbrachte den Rest des Krieges in Berlin als Ingenieur bei der Flugmeisterei Adlershof und später bei Telefunken. In Berlin begann auch sein politisches Engagement. Gumbel trat der USPD und dem »Bund Neues Vaterland« bei. Der Bund, der sich Ende 1922 in »Deutsche Liga für Menschenrechte« (DLM) umbenannte, war fortan seine politische Heimat. Er wurde einer der einflußreichsten, militantesten, engagiertesten Menschenrechtler und Friedenskämpfer Deutschlands. Durch seine politischen Bücher und politischen Äußerungen wurde er in Deutschland berühmt-berüchtigt. Er veröffentlichte in der demokratischen, sozialistischen und kommunistischen Presse und schrieb aufklärerische und erschütternde Bücher über politische Morde, über Terror, Feme und über die »Schwarze Reichswehr«. Er entlarvte die Personen und Gruppen, die diesen Terror ausübten oder unterstützten, und er berichtete über das Versagen der deutschen Justiz, die den Terror tolerierte. In Zwei Jahre Mord (Berlin 1921) und dessen fünfter Auflage, Vier Jahre politischer Mord (Berlin 1924) zählte Gumbel hunderte von Fällen politischer Gewalt auf. In nüchternem Stil legte er etwa folgende Bilanz vor: 354 Morde, die von Nationalisten, Monarchisten und Mitgliedern der Freikorps von 1918 bis 1922 begangen wurden, waren mit insgesamt nur 90 Jahren Haft und ein Mord mit lebenslänglicher Haft bestraft worden; 326 Morde blieben ohne Strafe. Dagegen wurden 22 Morde, die von linksgerichteten Personen begangen wurden, mit 10 Erschießungen, insgesamt 238 Jahren Gefängnis und drei lebenslänglichen Zuchthausstrafen geahndet.5 Das Reichsjustizministerium untersuchte die von ihm geschilderten Fälle und bestätigte »ausdrücklich« Gumbels Anklage und Beweisführung in einer offiziellen Denkschrift.6 Auf eigene Kosten mußte Gumbel diese Denkschrift des Reichsjustizministers zu >Vier Jahre politischer Mord< (Berlin 1924) verlegen, weil die Regierung sich weigerte, die peinlichen Resultate zu veröffentlichen. Besonderen Haß bei Nationalisten und Militaristen erweckte sein Weißbuch über die Schwarze Reichswehr (Berlin 1925), das auch zu einem Ermittlungsverfahren führte. Das Buch, das Gumbel zusammen mit den Pazifisten Berthold Jacob, Paul Lange und General a.D. Paul Freiherr von Schönaich verfaßt hatte, brachte die Existenz einer illegalen, sogenannten schwarzen Reichswehr ans Licht. Was seine Gesinnungsfreunde gerade schätzten, Gumbels Zivilcourage, seinen Pazifismus und seine Freimütigkeit, das machte ihn, zusammen mit der Tatsache, daß er Jude war, zur Zielscheibe seiner politischen Gegner. Schon im März 1919 versuchten Freikorpssoldaten Gumbel zu ermorden7; im Februar 1920 wurde er auf einer Kundgebung, auf der Hellmuth von Gerlach schwer zusammengeschlagen wurde, überfallen8; und schließlich wurden zwischen 1924 und 1926 vier Ermittlungsver-

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fahren wegen Landesverrats gegen ihn eingeleitet.9 Besonders verhaßt war er, weil er seine Enthüllungen durch Fakten belegen konnte und es so seinen Gegnern unmöglich machte, die Anklagen zu widerlegen. Sein politisches Engagement brachte Gumbel auch im akademischen Bereich Probleme. Er hatte Statistik und Nationalökonomie an der LudwigMaximilians-Universität München studiert und 1914 mit summa cum laude promoviert, 1923 habilitierte er sich an der Universität Heidelberg und wurde zum Privatdozenten für Statistik ernannt. Aber bereits Ende Juli 1924 wurde seine vielversprechende wissenschaftliche Zukunft zerstört. Gumbel hatte auf einer »Nie-wieder-Krieg! «-Kundgebung in Heidelberg das Schlußwort gesprochen und die Anwesenden zu zwei Schweigeminuten für die Soldaten aufgerufen, »die, ich will nicht sagen, auf dem Felde der Unehre gefallen sind, sondern auf gräßliche Weise ums Leben kamen.«10 Mit diesem Satz löste er eine der spektakulärsten akademischen Kontroversen der Weimarer Zeit aus. Nationalsozialistische und Korps-Studenten verlangten seine Entlassung; die überwiegende Mehrheit der Heidelberger Professoren schloß sich an. Gumbel wurde in der Öffentlichkeit als »Lump« und »Schandfleck« bezeichnet, als ein Mann, unwürdig deutsche Studenten zu unterrichten. Gumbel überstand einige Disziplinarverfahren, die auf die Entziehung seiner Lehrbefugnis zielten, und zeigte keine Reue. Er erklärte den Krieg als eine Schande für die Menschheit und bestand darauf, daß die Prinzipien akademischer und allgemeiner Freiheit der Meinungsäußerung durch seine Verfolgung schwer verletzt worden wären. Die Angriffe auf diese Prinzipien gingen aber noch weiter: Als der badische Kultusminister im August 1930 Gumbel zum außerordentlichen Professor ernannte, versuchten die nationalsozialistischen Studenten, die inzwischen den Allgemeinen Studentenausschuß in Heidelberg beherrschten, Gumbel loszuwerden, indem sie das Recht verlangten, die Ernennungen von Dozenten zu bestätigen oder abzulehnen. Im Wintersemester 1930/31 veranstalteten die Nazis Massenkundgebungen gegen Gumbel, an denen bis zu 3500 Studenten und Bürger teilnahmen. Als der Kultusminister den AStA auflöste, kam es zu einer Straßenschlacht zwischen Nazistudenten und Polizei. Die Mehrheit der Heidelberger Professoren stimmte mit dem Ziel der Proteste überein, wenn ihnen auch die Mittel unpassend scheinen mochten. Die Philosophische Fakultät erklärte, sie hätte die Ernennung Gumbels nicht empfohlen, wenn sie dazu gehört worden wäre11, was die AntiGumbel-Bewegung weiter anheizte. Auch die Korporation der deutschen Hochschulen ergriff die Partei der Studenten. Nur wenige Akademiker und Intellektuelle verteidigten Gumbel vor der Öffentlichkeit: Gustav Radbruch und Emil Lederer aus Heidelberg, Albert Einstein, Georg Bernhard, Martin Hobohm, Theodor Lessing (der ähnliches erlebt hatte) und Anna Siemsen. Sie gehörten zu den 80 Gelehrten, die eine »Protesterklärung republikanischer und sozialistischer Hochschullehrer« zum Fall Gumbel unterzeichneten.12 Der letzte Akt des Falles Gumbel, der charakteristisch für den Niedergang der akademischen Würde in der Weimarer Republik war, fand

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im Frühjahr 1932 statt. Nach einer Bemerkung, die er Ende Mai 1932 auf einem Diskussionsabend der sozialistischen Studentengruppe Heidelbergs machte, begann eine weitere Kampagne, die zu einem neuen Disziplinarverfahren und schließlich zur Entlassung führte. Gumbel hatte auf diesem Diskussionsabend (wohlwissend, daß einige Nazistudenten anwesend waren) gesagt, für ihn sei das wahre Kriegsdenkmal »nicht eine leichtbekleidete Jungfrau mit der Siegespalme in der Hand, sondern eine einzige große Kohlrübe«13 als Symbol des Hungers in der Kriegszeit. Die Universität entzog ihm die Lehrberechtigung im August 1932. Damit war Gumbel der erste deutsche Professor, der auf Druck der Nazis aus dem Lehramt entlassen wurde. Später betrachtete Gumbel seine Entlassung als Glück: »Die Herren, die mich damals abgesetzt haben, haben mir das Leben gerettet«14, schrieb er 1964. Es gelang den Nazis nicht, einen ihrer meistgehaßten Gegner einzusperren und zu ermorden, wie sie es mit vielen anderen politischen Gegnern gleich nach dem 30. Januar 1933 getan hatten. Da sie seiner nicht habhaft werden konnten, versuchten sie, Gumbels Geist aus Deutschland auszutreiben. Am 23. April 1933 wurden Gumbels Bücher verboten, am 10. Mai 1933 flogen sie in Heidelberg als erste ins Feuer. Schließlich gehörte Gumbel zu den ersten 33 Deutschen, die von den Nazis am 23. August 1933 offiziell ausgebürgert wurden. Die Nazis beschlagnahmten einen Teil seiner persönlichen Bibliothek und verbrannten den Rest; sie konfiszierten außerdem im Winter 1934 sein Vermögen.15 Am Anfang seiner französischen Jahre wirkten die Leiden des Exils nicht so deprimierend auf Gumbel wie auf andere deutsche Emigranten. Gumbel hatte seinen Beruf, auch wenn im Jahr 1933 sein Lehrauftrag an der Sorbonne abgelaufen war. Es gab auch andere Vorteile: Er sprach gut Französisch und hatte als Menschenrechtler Zugang zu französischen politischen und akademischen Kreisen. Diese Kontakte führten im Januar 1934 zu seiner Berufung an die Universität Lyon.16 Zum ersten Mal seit langem fühlte sich Gumbel frei von physischen Drohungen, mündlichen und schriftlichen Verleumdungen und auch von der Notwendigkeit, politisch vorsichtig sein zu müssen. Im Dezember 1933 schrieb er an einen ehemaligen Heidelberger Kollegen über seine Situation im Exil: »Die Sorge um die persönliche Sicherheit sind Sie los und Sie sind frei zu handeln.«17 Gumbels Frau Marie Luise (geb. Czettritz; sie war die Tochter eines deutschen Generals) brachte die Stimmung der Familie mit den Worten zum Ausdruck: »Das Bewußtsein der reinlichen Trennung von denen, die uns den Begriff > Vaterland< zerstört haben, nicht mehr, wenn auch mit knirschenden Zähnen, stillhalten und scheinbar dazugehören zu müssen, eben das Bewußtsein, wieder ein innerlich freier Mensch sein zu können, wird auch für Sie sicher das Verlorene aufwiegen.«18 Für die meisten deutschen Emigranten war die Lage nicht so gut. Das Frankreich der dreißiger Jahre war kein Paradies für Ausländer, sondern eher ein Land, das wegen seiner wirtschaftlichen Probleme und seiner

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Rücksichten auf das »Dritte Reich« die Flüchtlinge nicht mit offenen Armen empfing. Es galten strenge Aufenthalts- und Arbeitsbedingungen für die Exilierten; die meisten fühlten sich isoliert und deprimiert, manche von ihnen verhungerten. In seiner relativ privilegierten Lage engagierte sich Gumbel für seine Schicksalsgenossen; in den Jahren 1933 und 1934 leitete er die »Service juridique« der DLM im Exil, die den Emigranten half, Aufenthaltsund Arbeitserlaubnis zu erhalten und ihnen bei anderen Rechtsfragen zur Seite stand.19 Nach seinem Umzug nach Lyon wurde Gumbel Leiter eines Kreises von deutschen (und ab 1938 auch österreichischen) Emigranten in Lyon, der sich mit rechtlichen und auch mit kulturellen Dingen beschäftigte.20 Um etwas bessere Arbeitsmöglichkeiten für die deutschsprachigen Flüchtlinge zu bekommen, versuchte Gumbel, ihre Aufnahme als vorteilhaft für Frankreich darzustellen. Er verglich die Deutschen mit den spanischen Juden, die zum Aufstieg der Niederlande beitrugen, und mit den Hugenotten, die in der Entwicklung des preußischen Staates eine wesentliche Rolle spielten: »Wenn wir Emigranten einen Wunsch haben dürfen, so ist es der: die Staaten, die uns Gastfreundschaft gewähren, mögen uns Gelegenheit geben, für sie genauso vorteilhaft zu sein, wie es diese Emigration war.«21 Gumbels Anstrengungen galten aber nicht nur den Existenzbedürfnissen der Emigranten, sondern auch dem moralischen Auftrieb der isolierten und machtlosen Flüchtlinge. Für ihn und andere Exilpolitiker bot die Emigrantenhilfe zugleich die Möglichkeit, eine größere Gemeinde politisch zu erreichen. Emil J. Gumbel gehörte zu den unabhängigen Intellektuellen, die demokratisch und sozialistisch orientiert waren. Dieser Personenkreis war sich nicht einig darüber, wie man die Politiker, unpolitische Flüchtlinge oder die Weltöffentlichkeit für die antifaschistische Bewegung gewinnen könne. Auch über die Grundlagen für eine künftige zweite Republik in Deutschland bestanden in diesem Kreis ganz unterschiedliche Vorstellungen. Wie es Walter Peterson in seiner Geschichte des Pariser Tageblatt-Pariser Tageszeitung beschreibt, wurden »the intellectual temperaments, political idiosyncrasies, and keen individualism«22 der unabhängigen Intelligenz mit in die Emigration gebracht. Natürlich waren die ersten antifaschistischen Aktionen des politischen Exils nicht einheitlich, sondern eher unsystematisch und zufällig. Man gründete verschiedene Hilfsorganisationen (z.B. das Deutsche Hilfskomitee in Paris und die »Service juridique« der Pariser Sektion der DLM), diverse Zeitschriften und kulturelle Organisationen wie den »Schutzverband deutscher Schriftsteller«.23 Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des politischen Exils waren nicht leicht zu überwinden; die kampflose Reaktion der deutschen Linken auf die Machtübernahme Hitlers führte zu gegenseitigen Schuldzuweisungen. Gumbel, der immer ein politischer Einzelgänger war, betrachtete diese Beschuldigungen als sinnlos. Schon im Juni 1934 schrieb er: »Bisher hat es sich die Emigration (...) leicht gemacht: die einen leugneten die Niederlage, nur die andern sind geschlagen. Die andern schoben die Schuld auf die einen:

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>Warum seid Ihr abseits gestanden - bei unserer Niederlagenstrategiefünfte KolonneAhnennachweis< maßgeblich. Dieser Kampf der Nationalsozialisten gegen die Intelligenz (...) hat die deutsche Wissenschaft schwer geschädigt.« Er bat die potentiellen Mitarbeiter, »sachliche Polemiken gegen nationalsozialistische Scheingrössen der >deutschen< Wissenschaft« zu schreiben, »besonders wenn sie beweisen, daß die politischen Aufgaben, die den deutschen Professoren heute gesetzt sind, sie verhindern, der echten Wissenschaft zu dienen.«33 Aber zu Gumbels Enttäuschung waren die Antworten der vertriebenen Kollegen mehrheitlich negativ. Dem amerikanischen Genetiker L.C. Dunn gegenüber klagte er: »I have great difficulties with the book (...). Most of the displaced German scholars do not wish to be (considered) refugees.«34 Sein ehemaliger Heidelberger Kollege Albrecht Götze, Professor der Assyriologie, erklärte Gumbel, der gemeinsame deutsche Ursprung der wissenschaftlichen und politischen Emigranten »ist eine reine Zufälligkeit. (...) Das Buch, das Sie planen, ist ein politisches, kein wissenschaftliches Buch. (...) Sie sind ein Politiker, der gleichzeitig wissenschaftlich tätig ist. Ich bin ein Wissenschaftler, der durch die Ereignisse seiner Zeit zu politischer Stellungnahme gezwungen worden ist. Ich fühle das nicht als Beruf, ich fühle das als Schicksal.«35 Der Moralist Gumbel konnte darauf nur erwidern: »Zu dem, was heute in Deutschland geschieht, schweigen, heißt: Hitler stärken. Gerade weil der Zusammenhang zwischen den aus Deutschland weggegangenen Wissenschaftlern zum Teil zufällig ist, scheint es mir notwendig, sie in dem Punkt, der ihnen allen gemeinsam ist: die Gegnerschaft zu Hitler, zusammenzufassen.«36 Das Buch, das 1938 unter dem Titel Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration erschien, war lediglich eine Auslese von Beiträgen politisch orientierter Gelehrter wie Anna Siemsen, F.W. Foerster, Carl Misch, Julius Schaxel und anderen über die Nazifizierung verschiedener Fachgebiete. Gumbel selbst stellte die »Säuberung« der Dozentenschaft, ihre rassische und militaristische Ausrichtung einschließlich der Anwendung des »Führerprinzips« in der Universitätsverwaltung dar. Außerdem lieferte er einen Beitrag über »Arische Naturwissenschaft«, der sich mit den Arbeiten der Physiker Philip Lenard und Johannes Stark sowie denen des Mathematikers Ludwig Bieberbach auseinandersetzte.

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Die unüberbrückbaren Spannungen innerhalb des politischen Exils entmutigten Gumbel wie viele andere überzeugte Antifaschisten. Diese internen Schwierigkeiten wurden durch Hitlers Erfolge weiter verstärkt. Nach den Röhm-Erschießungen im Sommer 1934 und dem Erfolg der Saar-Volksabstimmung im Januar 1935 schien Hitler stärker denn je. Gumbels Briefwechsel im Herbst 1934 mit Willi Eichler, dem Vorsitzenden des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes, zeigt, für wie deprimierend er die politische Lage hielt. Er klagte dort, die Emigranten seien »viel zu klein gegenüber der ungeheueren Größe der Ereignisse. Eine ganze Welt ist untergegangen, die Sklaverei modern geworden. Überall sehnen sich die Menschen nach neuen Ketten und wir stehen hoffnungslos außen, und können nicht einmal den andern Völkern in geeigneter Weise mitteilen, was ihnen noch droht.« Zu Eichlers Beteuerung, daß man weiter kämpfen müsse, erklärte er, »natürlich können wir nicht resignieren. Ich wollte nur sagen, daß ich unser aller Arbeit für ungenügend halte.«37 Das Gefühl von Wirkungslosigkeit war vielen politischen Emigranten gemein. Erst die Zusammenarbeit der französischen Arbeiterparteien, die sich im Juli 1934 zum gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus in der Front populaire vereinigten, löste unter den deutschen Verbannten die Hoffnung aus, zu einer ähnlichen Vereinbarung unter den deutschen Antifaschisten zu kommen.38 Das Konzept war indes nicht neu. Schon in den Jahren 1930 bis 1933 hatten sich deutsche Splitterparteien bemüht, eine Einheitsfront der Arbeiterbewegung gegen den Faschismus zu schaffen.39 Gleich nach den ersten Ausbürgerungen im August 1933 hatte Gumbel daran anzuknüpfen versucht: »Die Regierung hat neben Parteilosen, von denen die Mehrzahl zur Deutschen Liga für Menschenrechte gehört, in beinahe gleicher Weise Sozialdemokraten wie Kommunisten betroffen (sie!). Den Sozialisten aller Schattierungen muß dies eine grosse Mahnung zur Einheit bedeuten. Sie werden unter vorläufiger Zurückstellung - nicht Verwischung - der Gegensätze im Bewußtsein der Härte wie der langen Dauer des Kampfes, innerhalb wie ausserhalb der Deutschen Fesseln, einheitlich den zentralen Gedanken in den Vordergrund stellen: Nieder mit dem Faschismus! Es lebe die Zweite, die Sozialistische RepublikZ«40 Mit wenigen Ausnahmen - wie zum Beispiel dem Untersuchungsausschuß zur Aufklärung des Reichstagsbrandes, der den Londoner Gegenprozeß veranstaltete - blieben solche Aufrufe bis zum Sommer 1935 wirkungslos. In dem im Juli 1935 gebildeten »Vorläufigen Ausschuß zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront« wirkte auch Gumbel seit August 1935 mit. Er war wegen seiner Weimarer Schriften bekannt, er war ein erfahrener Publizist gegen den Nazismus, und seine Verbindungen mit einflußreichen französischen politischen Persönlichkeiten, besonders mit dem Präsidenten der »Ligue des droits de lliomme«, Victor Bäsch, wären im Fall einer internationalen Volksfront nicht zu unterschätzen gewesen. Gumbel selbst zählte sich politisch immer zu den linken Sozialisten, er war Mitglied der USPD gewesen, hatte zweimal die Sowjetunion besucht und Organisationen

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wie zum Beispiel dem »Bund der Freunde der Sowjetunion« angehört.41 Dies wurde bedeutsam, als die SPD sich weigerte, als Partei bei der Volksfrontbewegung mitzumachen. Die Volksfront-Diskussionen ließen kurzfristig Hoffnungen wieder aufleben. Für die unabhängige Linke schreibt Walter Peterson, »these changes could only be welcomed. The long sought after union seemed closer than ever before.«42 Über die Konferenz, die die Exilierten im Pariser Hotel Lutétia am 22. November 1935 veranstalteten, berichtete damals ein Teilnehmer: »Der Gesamteindruck der Sitzung war der großer Einmütigkeit und hoffnungsvoller Geschlossenheit.«43 Gegen diese Hoffnungen war auch Gumbel nicht immun: »Wenn die Nationalsozialisten gestürzt sind, werden unerhörte Kräfte aus den Tiefen des Volkes frei. Sie entstammen vor allem den Schichten, die heute stärker als jemals zuvor unterdrückt sind. Sie gilt es zu wecken. Auf sie können wir vertrauen. Die Revolution wird die opferfreudigen Helden der Illegalität als zukunftsgläubige Führer aufsteigen lassen, Menschen mit reinen Herzen und reinen Händen, an denen weder Blut noch unterschlagenes Geld klebt. (...) So werden wir den Weg zur Freiheit gehen. Wir rufen Euch zu: >Kommt mit uns!Ein Apostel der JustizVter Jahre politischer MordPariser Tageblatt - Pariser TageszeitungAusschusseszur Vorbereitung einer deutschen Volksfront 1933-1936. Frankfurt/M. 1977, S. 50 ff. - 24 Emil J. Gumbel: »Ein Jahr Exil«. In: Der Aufruf vom 1.6.1934. - 25 Vgl. Gilbert Badia: Feu au Reichstag. L'acte de naissance du régime Nazi. Paris 1983, S. 87-126. - 26 Georg Bernhard: »Ein Jahr >Pariser Tageblatts Viel geliebt und viel gescholten«. In: Pariser Tageblatt (PTB) vom 12.12.1934, S. 1. Zitiert in Peterson: Berlin Liberal Press (wie Anm. 22), S. 100. - 27 »Le réfugié ingrat«. In: Le Salut Publique vom 26.4.1934. - 28 Vgl. z.B. »Le droit d'asile«. In: La Liberté vom 28.4.1934. - 29 Gumbel an A. Weber, 26.6.1934. Gumbel NL 4/5. - 30 Deutsche Botschaft Paris an das Auswärtige Amt, 4.5.1934. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, AA Inland, II A/B, 83-75, Bd. 2. - 31 Emil J. Gumbel: »Einleitung. Die Gleichschaltung der deutschen Universitäten.«. In: Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration. Straßburg 1938, S. 16-17. - 32 Gumbel an Albrecht Götze 18.11.1935. Götze NL 200. - 33 »Plan zu einem Buch: Die deutsche Wissenschaft in der Emigration.« L.C. Dunn NL (American Philosophical Society Library, B:D917). - 34 Gumbel an L.C. Dunn, 1.4.1936. Ebd. - 35 Götze an Gumbel, 1.12.1935. Götze NL 200. - 36 Gumbel an Götze, 24.1.1936. Ebd. - 37 Gumbel an Willi Eichler, 29.9.1934. Eichler an Gumbel, 25.10.1934. Gumbel an Eichler, 12.11.1934. Bestand UB/ISK, Box 27. (Archiv der sozialen Demokratie, AsD). 38 Langkau-Alex, Volksfront (wie Anm. 23), S. 48-49. - 39 Vgl. Werner Link: Die Geschichte des Internationalen Jugend-Bundes (IJB) und des Internationalen sozialistischen Kampf-Bundes (ISK). Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Meisenheim am Glan 1964, S. 146 ff. - 40 Emil J. Gumbel: »Expatriierung ist Mahnung zur Einheit!« In: FreiePresse vom 9.9.1933. - 41 Vgl. dazu Emil J. Gumbels Buch: Vom Russland der Gegenwart. Berlin 1927, und »Kundgebung gegen den Krieg«. In: Rote Fahne vom 5.11.1928. - 42 Peterson, Berlin Liberal Press (wie Anm. 22), S. 133. - 43 »Über die Besprechungen in Paris am 22. November 1935 nachmittags im Hotel Lutétia. (Salle ovale)«. Bericht vom 27.11.1935, der zusammen mit einem Brief von Gustav Ferl an Erich Rinner am 14.1.1936 geschickt war. Erich-Rinner-Korrespondenz, Nr. 9 (AsD: Abteilung II, »Emigration SOPADE« E,F). - 44 Emil J. Gumbel: »Kommt mit uns!« In: Mitteilungen der deutschen FreiheitsBibliothek, 1.11.1935. - 45 Georg Bernhard: »Entwurf einer Verfassung für das >Vierte Reich< vom Februar 1936« und Leopold Schwarzschild: »Entwurf eines Einigungsabkommens und Konzept einer Grundgesetzgebung für das Deutschland nach Hitler vom Februar 1936«. In: Langkau-Alex, Volksfront (wie Anm. 23), S. 183-200. - 46 Emil J. Gumbel: »Ein Vorschlag zur Einheit«. In: NWB XXXII (30.1.1936), Nr. 5, S. 131. - 47 Interviews des Verfassers mit Renée und Walter Barth, 23.2.1989. - 48 Emil J. Gumbel: »Briefe an das >Pariser Tageblatt««. In: PTB vom 8.7.1935. - 49 Rudolf Breitscheid, Bericht über die Versammlungen vom 1 . - 2 . Februar 1936 an Wilhelm Hoegner, o.D. Hoegner NL (Institut für Zeitgeschichte, F205). - 50 Gumbel an Eichler, 31.3.1936. Bestand UB/ISK, Box 29. (AsD). - 51 Emil J. Gumbel: »Antworten«. In: NWB XXXII (8.10.1936) Nr. 32, S. 1304. - 52 Welczeck an das Auswärtige Amt, 15.4.1937. (Bundesarchiv (BA): R18/6009, S. 269a-270). - 53 Ursula Langkau-Alex: »Deutsche Emigrationspresse«. Sonderdruck aus Exilliteratur 1933-1945. Darmstadt 1987, S. 211, Anm. 136. Vgl. auch Rundbrief von Heinrich Mann vom 2.9.1937. Bestand Exil-PEN (EB 75/175, Deutsche Bibliothek, Exil-Abteilung). - 54 Vgl. den Brief von Paul Merker und Siegfried Rädel (beide KPD) an Heinrich Mann, 19.4.1938. BA, R58/355, Bl. 128, 132-136. - 55 Vgl. »2. Landeskonferenz der deutschen Sozialdemokraten in Frankreich«. In: Deutsche Freiheit vom 29.4.1938. - 56 Willy Brandt: »Literatur und Politik im Exil«. In: Literatur des Exils. Eine Dokumentation über die PEN-Jahrestagungv. 18.-20. September 1980. Hg. von Bernt Engelmann. München 1981, S. 169. - 57 Vgl. Emil J. Gumbels Brief an Albert Einstein, 25.4.1938. Einstein Duplicate Archive, Box 77, Nr. 53-267 (Princeton University Library). 58 Vgl. The Emil J. Gumbel Collection. Political Papers of an anti-Nazi Scholar in Weimar and Exile, 1914-1966. Ein Mikrofilm der Sammlung Gumbel am Leo Baeck Institute New York. Hg. von Arthur Brenner. New York und Frederick, Maryland 1990. Teil B.l. Vol. IV. - 59 [Emil J. Gumbel]: »The Professor from Heidelberg«. In: We Escaped. Twelve Personal Narratives of the Flight to America. Hg. von William Allan Neilson. New York 1941, S. 28-57. - 60 Emil J. Gumbel: »Vorwort«, In: Maximilian Scheer. Blut und Ehre. Paris 1937, S. 7. - (1 Gumbel, »Memoiren« (wie Anm. 1). - 62 Emil J. Gumbel: »Die Pflicht der Deutschen«. In: PTZ vom 10.9.1938. - 63 Bestand SOPADE, Nr. 194. (AsD).

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»Es gilt, die Menschen zu verändern...« Zur Politik des Sozialdemokraten Paul Hertz im Exil

I »Schriftsteller« lautete die offizielle Berufsbezeichnung des auch international anerkannten Politikers Paul Hertz in der Weimarer Zeit. Seine zahlreichen, in der Tradition marxistisch-analytischer Methode stehenden Artikel und Broschüren begleiteten seine Hauptaktivitäten als Stadtverordneter von Berlin-Charlottenburg, als Reichstagsabgeordneter und als Sekretär der Reichstagsfraktion der USPD, dann der SPD.1 Mit der Flucht aus Deutschland im Mai 1933 begann für den rastlosen Vollblutpolitiker eine sechzehneinhalb Jahre währende Periode, in der notgedrungen die publizistische Tätigkeit zur Hauptsache seines politischen Wirkens wurde. Dabei war Hertz nicht auf den Erwerb des Lebensunterhalts durch im weiten Sinne schriftstellerische Arbeiten angewiesen. Er war besoldetes Mitglied des SPDParteivorstandes im Prager und für kurze Zeit im Pariser Exil; nach seinem umstrittenen Ausschluß im Sommer 1938 konnte er, wenn auch sparsam haushaltend, aus eigenen finanziellen Reserven schöpfen, in den USA verdiente er, nach anfänglicher Unterstützung durch seinen Sohn, als freier Wirtschaftsprüfer das zum Leben Notwendige. Der Augenschein trügt, wenn man annimmt, Hertz habe im Exil relativ wenig veröffentlicht - ein Eindruck, der noch verstärkt wird, wenn man weiß, daß eine Reihe von Arbeiten wörtlich oder modifiziert in mehreren Periodika verbreitet wurde.2 Eine nicht geringe Zahl von Artikeln erschien anonym; von einigen wissen wir mit Sicherheit aus Briefen. Konspirative Gründe mögen eine Rolle gespielt haben; gewiß wollte er, wie im Falle der Sozialistischen Aktion, in erster Linie für den Parteivorstand sprechen, selbst wenn dessen Mitglieder mehrheitlich anders dachten. Das meiste veröffentlichte Hertz noch während der europäischen Zeit. Der Schwerpunkt seiner publizistischen Arbeit bis zur Weiterwanderung, Ende 1939, liegt dabei in der Redaktionsarbeit für die Sozialistische Aktion (SA) und die Zeitschrift für Sozialismus (ZfS). Im US-Exil trat er vor allem mit Vorträgen an die Öffentlichkeit. Der Politiker Hertz als »Schriftsteller« - zu dieser Tätigkeit ist auch die >Graue Literatur< in Gestalt von Denkschriften und Redemanuskripten zu rechnen - und Hertz als Redakteur seien im folgenden möglichst getrennt betrachtet. Die Klammer bildet das politische (Selbst-) Verständnis und die daraus abgeleitete Aufgabenstellung.

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II Rund eineinviertel Jahre nach dem Beschluß der emigrierten Mitglieder des SPD-Parteivorstandes, in Prag ein Büro - genannt SOPADE - für den »Kampf gegen Hitler« zu errichten, zog Hertz in einem Unsere Aufgaben und ihre Erfüllung betitelten Aufsatz eine im ganzen positive Bilanz des bis dahin im Exil Geleisteten; gleichzeitig zeigte er neue Perspektiven auf.3 Er bewegte sich dabei zwischen den beiden Polen, die er einmal von der »MilesGruppe« mit ihrer Schrift Neu beginnen und dem »Arbeitskreis Revolutionärer Sozialisten« (RS) mit seiner Plattform für die Einheitsfront, zum anderen von der SOPADE und ihrem Manifest zum 30. Januar 1934 markiert sah.4 Die These der RS, daß SPD wie KPD organisatorisch und ideell zertrümmert seien, und die damit begründete Forderung nach einer von Grund auf neuen, einheitlichen sozialistischen Partei wies Hertz zurück. Damit gestehe man »dem Faschismus zu (...), daß er sein Ziel, den Marxismus zu vernichten, erreicht hat.«5 In der vom Prager PV zu beachtenden »Treuhänderschaft« des »organisatorischen«, des »ideelle(n) und materielle(n) Gut(s) der deutschen Sozialdemokratie« sah er den Schlüssel dafür, »den inneren Zusammenhalt der Menschen« zu fördern und zu garantieren. Bezüglich der »sozialdemokratischen Auffassung«, die es zu wahren gelte, machte er allerdings die Einschränkung: »so weit sie den Ereignissen und den neuen Erkenntnissen standgehalten hat.« Das entsprach seiner dynamischen Auffassung des Marxismus. Eine Entscheidung für die Zukunft der Sozialdemokratie bedürfe der »Mitwirkung« aller, auch und gerade der Illegalen; dazu sei geistige Vorbereitung dringend vonnöten.6 Das tradierte ideelle Gut, das nach Hertz bei aller (neuen) Hinwendung zu Kampf und Revolution und bei aller notwendigen Änderung der Mittel und der Taktik unter keinen Umständen preisgegeben werden durfte, nannte Hertz im Februar 1935 »demokratischen Sozialismus«7. Im Herbst 1934 sprach er noch, in grundsätzlicher Abgrenzung von der »Diktatur des Proletariats« bolschewistischer Prägung, von dem »System wirklicher Freiheit und sozialistischer Neugestaltung«8. Hertz' Konzeption sozialistischer Politik im Exil und der Mittel ihrer Verwirklichung ist in dem zitierten Aufsatz beispielhaft enthalten. Formelhaft ausgedrückt lauten die Ziele: 1. Organisatorischer Zusammenhalt oder Wiederzusammenführung der Teile der Partei >Drinnen< und >Draußen< (in Analogie zur Funktion der im Ausland erschienenen Parteipresse unter dem Sozialistengesetz nach 1878); 2. »Sammlung und Aktivierung der Arbeiterschaft« im Reich; 3. »Kritik an den Grundsätzen und der Praxis des Nationalsozialismus«. Die Einlösung der unter den Punkten 2 und 3 zitierten Forderungen sollte eine Massenbasis schaffen helfen, die in der Schicksalsstunde des Regimes aktiv für seinen Sturz wirken könne.9 Die Presseerzeugnisse hatten entsprechend eine Reihe von Kriterien zu erfüllen. Sie mußten der Selbstverständigung dienen und Selbstvertrauen und Vertrauen in die SPD neu wecken, informieren, aufklären und Kader erziehen; einen geistigen

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Klärungsprozeß »über den zukünftigen Weg und das Ziel«10 der deutschen Sozialdemokratie einleiten und fördern, Freiheit der Kritik und Toleranz in der Diskussion walten lassen. Hertz bewies letzteres auch selbst, als er die Plattform der RS in die Zeitschrift für Sozialismus aufnahm, obwohl er weder mit dem Inhalt noch mit der Politik der Autoren einverstanden war. III Im Grunde waren das alte Hertzsche Ideale, die er auch vor 1933, als sie in der SPD immer seltener wurden, in die Tat umzusetzen versucht hatte. Jetzt im Exil glaubte er die Genossen der SOPADE hinter sich. Schon am 7. Juli 1933 war auf einer Parteivorstandssitzung beschlossen worden, eine theoretische Zeitschrift unter der Chefredaktion von Rudolf Hilferding herauszugeben. Nach dem Willen von Hertz sollte sie keine Nachfolgerin von Die Gesellschaft sein, vielmehr offen und kritisch der »Selbstverständigung« dienen und »jedem Mitkämpfer« zur Mitarbeit offenstehen.11 Bis zum ersten Heft, das im Oktober als Sozialistische Revolution, Untertitel »Monatsschrift für die Probleme des Sozialismus«, herauskam - der Titel wurde vom zweiten Heft an aus urheberrechtlichen Gründen in Zeitschrift für Sozialismus (ZfS) verändert - , wurde der Beschluß dahingehend modifiziert, daß anstelle des ursprünglich vorgesehenen Curt Geyer nunmehr Hertz als »marxistisch-wissenschaftlich geschulter Redakteur« eingesetzt wurde. Die geplante kleinformatige Ausgabe für das Reich entfiel, statt dessen übernahm Hertz des öfteren, vor allem 1936, Artikel grundsätzlichen Charakters aus der ZfS in die für den illegalen Kampf konzipierte Sozialistische Aktion. Diese löste Ende Oktober 1933 den inhaltlich etwas umgearbeiteten illegalen Neuen Vorwärts (NV) ab, den Hertz am 2. Juli 1933 auf einer Vorstandssitzung ebenfalls mitinitiiert hatte.12 Der Begründung, mit einer fingiert in Deutschland hergestellten, deutlich vom NV unterschiedenen Zeitung werde das Sicherheitsrisiko für die Kuriere vermindert, hatte Hertz noch eine inhaltliche Dimension hinzugefügt: Der »Deutschlandvorwärts« müsse »1) zuverlässige Nachrichten bringen über die wahre Lage in Deutschland (...), 2) Übersicht über die wichtigsten Gebiete des wirtschaftlichen und politischen Lebens geben (...), 3) über die Stimmung des Auslandes gegenüber Deutschland orientieren und (...) 4) die grundsätzlichen Diskussionen in Deutschland fördern.«13 Ein entsprechendes Profil gewann die Sozialistische Aktion indes erst ab 1936. Nach der Besprechung zwischen Vertretern des Zentralkomitees der KPD und des Parteivorstandes der SPD Ende November 1935, für deren Zustandekommen er sich eingesetzt hatte und deren negatives Ergebnis er den PV-Kollegen ebenso wie den Kommunisten ankreidete14, begann Hertz, seinen seit dem Frühjahr gewachsenen Dissens mit der SOPADE-Mehrheit in Fragen der Haltung gegenüber oppositionellen Gruppen und gegenüber den Kommunisten nicht länger nur im internen Kreis zu vertreten. Der inzwischen verkrusteten, zu Intoleranz und politischer wie taktischer

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Immobilität degenerierten Auffassung von »Treuhänderschaft« setzte er in der Sozialistischen Aktion Positionen entgegen, die zur Diskussion, zum >Farbe-Bekennen< herausfordern mußten. Es war dies auch der Versuch, den PV auf die Linie von 1933/34 zurückzuzwingen und seine Autorität als geistige und organisatorische Führung der deutschen Sozialdemokratie und der Arbeiterklasse wiederherzustellen. Seine Gedanken zur »kommunistischen Parole der Einheitsfront« hatte Hertz um die Jahreswende 1935/36 in einem Memorandum niedergelegt.15 Darin forderte er speziell im Hinblick auf die Genossen in Deutschland den PV auf, Ideologie und Praxis zu trennen. Stärkung der »sozialistischen Überzeugung« und Hervorhebung der »grundsätzlichen Gegensätze« müsse die Sozialdemokraten »gegen kommunistische Ideen immunisieren, auch wenn die Lösung der praktischen Aufgaben eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten herbeiführt.« Generell plädierte Hertz für eine »Zweckgemeinschaft« mit den Kommunisten, so wie die Sozialdemokratie sie in ihren Koalitionen mit den bürgerlichen Parteien vor 1933 geschlossen habe, um den »Notwendigkeiten des politischen Tageskampfes« gerecht zu werden. Notwendig sei jetzt, die Arbeiterschaft zu einen, damit sie ein »Machtfaktor« werde, der schwankende bürgerliche Schichten zur »Unterstützung des Freiheitskampfes gegen die Diktatur« zu sich herüberzuziehen vermöge. Die Januar-Nummer 1936 der Sozialistischen Aktion zeigt bereits die konkrete Anwendung dieser Erwägungen. Zur Parole des sicher von Hertz verfaßten Leitartikels Jahr IV - die Probe aufs Exempel enthielt sie vier Aufsätze, die die »Ziele, Voraussetzungen und Bedingungen eines erfolgreichen Kampfes gegen Hitler untersucht(en)«. Hertz ergänzte sie in einem anschließenden Aufsatz um die Aspekte »Einheit der kämpfenden Arbeiterschaft und Solidarität mit den Opfern des illegalen Kampfes.«16 Zwei der vier Aufsätze stammen nachweislich aus der Gruppe »Neu Beginnen«17, zu der Hertz ein enges Verhältnis entwickelt hatte - ab Februar 1936 sollte die Gruppe noch intensiver die Zeitschrift mitgestalten18 - , während er selbst wiederum für die Enttarnung des auch innerhalb der SOPADE vorgeschützten »Bolschewistenschrecks« in dem Beitrag Kommt nach Hitler das Chaos? und für die Analyse über Die revolutionären Kräfte verantwortlich gezeichnet haben dürfte. Ferner druckte Hertz - neben dem »Blick in die Welt« und den auch weiterhin beibehaltenen Berichten über verschiedene Aspekte der Politik des NS-Regimes, wobei die Wirtschaftsanalysen mehr Gewicht bekamen - die Denkschrift, die der PV für die Besprechung mit den ZKVertretern im November ausgearbeitet hatte.19 Darin waren die grundsätzlichen Unterschiede zur Ideologie der KPD, die Abweisung ihrer vergangenen und die Bedenken gegen ihre gegenwärtige Politik formuliert. Es fehlte aber auch der Satz nicht, der auf eine Lockerung der Erstarrung gegenüber den Kommunisten hoffen ließ - nämlich, daß »die prinzipiellen Gegensätze (...) kein unüberwindliches Hindernis für ein Zusammengehen der Parteien von Fall zu Fall zu sein« brauchten. Als praktisches Beispiel für eine solche Zusammenarbeit ließ Hertz seinem Artikel über »Einheit

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und Solidarität« den von fünf Sozialdemokraten mit unterzeichneten »Gemeinsamein) Protest« gegen die Hinrichtung des Kommunisten Rudolf Claus folgen. Die Sozialistische Aktion vom Januar 1936 sei, so Vertreter der sozialdemokratischen »Gruppe Deutsche Volksfront« in Berlin ein Jahr später, die »erste Nummer (gewesen), die uns in unserer Arbeit wesentlich gefördert hat«. Gleichzeitig erschütterte diese Zustimmung allerdings das im Exil herrschende Vertrauen in die Wirkung der im Ausland verfertigten Parteipresse. Durch sie, so erfuhr der PV jetzt, entstehe noch »keine Organisation und keine neue Bewegung«. Die Verteilung der illegalen Schriften »verursacht nur Riesenopfer«20. Gerade zu dem Zeitpunkt, als die Sozialistische Aktion sich anschickte, den Illegalen »Antwort auf die Frage (zu geben): Wie kann das Hitlersystem überwunden werden und was geschieht danach«21, ging das Interesse an ihr aus Sicherheitsgründen rapide zurück. Die Auflage sank von 28 500 Exemplaren am 1. Januar 1935 auf 8 500 am 1. März 1936; Anfang Mai des Jahres waren es nur mehr 8 000. Und die »wirkliche Verbreitung ist selbstverständlich noch stärker zurückgegangen«, berichtete Hertz auf einer Sitzung der Auslandsleitung von »Neu Beginnen« mit Grenzarbeitern.22 Der bis Ende 1935 / Anfang 1936 erfolgte Schwund des Interesses an dem »Sensationsblättchen« - Hertz gab selbst zu, daß die Berichte über Proteste und Widerstandsaktionen wohl teilweise übertrieben gewesen seien23 unterstrich nur die Wirkung, die zahlreiche Verhaftungen bei den Kurieren und Beziehern verursachten. Die Einsicht in die Gefahren und den zweifelhaften Nutzen massenweiser Verbreitung illegaler Schriften bewog Hertz dann auch, in der Sozialistischen Aktion vom März 1936 zu schreiben, daß es vor allem darauf ankomme, einen strikt konspirativen, »organisierten Kern« der revolutionären Sozialdemokratie in Deutschland zu schaffen, und daß es dafür »wichtiger (ist), zehn gute Funktionäre heranzuziehen, als 100 Sozialistische Aktion< zu vertreiben.«24 Die folgende, in Zusammenarbeit mit der Gruppe »Neu Beginnen« vorbereitete Umstellung von einem allgemeinen Agitationsblatt auf ein Informationsblatt für Kader bewirkte indes einen weiteren, wenn auch einkalkulierten Rückgang.25 Der Tenor der Betrachtungen über Einheitsfront und Volksfront in Frankreich, Spanien und möglicherweise in Deutschland, über Demokratie und Sozialismus, Krieg und Revolution - immer zugespitzt auf die Frage nach der zukünftigen demokratischen und sozialistischen Revolution in Deutschland und über den Weg dorthin - erschien manchen Grenzsekretären als zu revolutionär und zu (pro-)kommunistisch. Sie boykottierten den Vertrieb, und auch von anderer Seite kamen Proteste.26 Die einzige Konzession, besser: der Schachzug, den Hertz machte, war, daß er ab November 1936 die Sozialistische Aktion mit dem Untertitel »Organ der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« versah. In dieselbe Nummer übernahm er, zur ideologischen Stärkung der illegalen Kader, die wichtigsten Abschnitte der von dem »Neu Beginner« Richard Löwenthal alias Paul Sering in seinem Auftrag für die ZfS verfaßten Abrechnung mit

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dem »Volkssozialismus«.27 Für volkssozialistische Ideen, die Wilhelm Sollmann, Otto Strasser, Hans Jäger und die sudetendeutschen Sozialdemokraten Wenzel Jaksch und Emil Franzi in unterschiedlichen Varianten verbreiteten, hatten sich auch SOPADE-Mitglieder und Sozialdemokraten in Belgien, Holland und Dänemark anfällig gezeigt. Hertz hielt die Prämisse, eine Revolution gegen Hitler und sein Regime könne nicht mehr von der Arbeiterklasse geführt, sie müsse vielmehr von den Mittelschichten und den nationalen Kräften getragen werden, die dann den Sozialismus des Volkes verwirklichen würden, für verhängnisvoll sowohl im Hinblick auf den Kampf gegen den Nationalsozialismus als auch im Hinblick auf die Sozialdemokratie.28 Daß er dabei keineswegs in Proletarier-Tümelei verfiel, dürfte aus dem zitierten Memorandum von der Jahreswende 1935/36 ersichtlich sein. Es zeigt sich ferner auch darin, daß er, mit würdigenden redaktionellen Vorbemerkungen versehen, Äußerungen von bürgerlichen Emigranten (so von Heinrich und Thomas Mann) oder von Staatsmännern wie Roosevelt und Churchill in der Sozialistischen Aktion publizierte. Das Ende der Sozialistischen Aktion kam mit dem Anfang vom Ende der Tschechoslowakischen Republik. Von England und Frankreich gedrängt, verhandelte die Regierung BeneS im Dezember 1937 mit der NS-Regierung über einen sogenannten »Pressefrieden«. Für die Periodika der exilierten NS-Gegner war damit kein Platz mehr. Zudem nahm die Mehrheit im Büro des PV die große Finanznot der SOPADE jetzt ohnehin zum Anlaß, von Paris aus nur noch den Neuen Vorwärts erscheinen zu lassen.29 Hertz war mit der Entscheidung zugunsten dieses »Prestige«-Objekts, für das »das Opfer, die Arbeit nach Deutschland einzustellen oder sehr wesentlich einzuschränken«, gebracht werden sollte, nicht einverstanden.30 Der Nummer vom Dezember 1937 folgte im März 1938 noch einmal eine Ausgabe der Sozialistischen Aktion. Redaktionell bereits am 27. Februar abgeschlossen, schwankte sie inhaltlich zwischen Optimismus und Pessimismus angesichts der innenpolitischen Schwierigkeiten und des noch ungewissen Ausgangs der auf Österreich zielenden Außenpolitik der NS-Regierung. Der Leitartikel Hitlers Vorstoß - gescheitert und der letzte Beitrag Was wird aus Oesterreich? Vom 12. Februar 1934zum 12. Februar 1938 lesen sich wie eine Beschwörung der deutschen und der österreichischen Arbeiterklasse, die Führung des erhoffen Widerstandes zu übernehmen. IV Mit dem auf September 1936 datierten 36. Heft hatte die SOPADE eineinhalb Jahre vorher schon die Zeitschriftßr Sozialismus eingestellt. Auch hier war Finanznot das ausschlaggebende Argument gewesen. Bereits im Frühjahr 1935 war entschieden worden, das theoretische Organ nur noch sechs Monate weiterzuführen, aus denen allerdings stillschweigend noch ein Jahr wurde. Am 4. Juni 1936 zog die Vorstandsmehrheit aber endgültig den Schlußstrich; das Juli-Heft sollte das letzte sein. Hertz, der mehr und mehr

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die inhaltliche Linie allein bestimmt hatte - am Ende sprach er von »meiner« Zeitschrift31, da Hilferding sich zunehmend persönlich wie politisch deprimiert und passiv gezeigt hatte - , war überzeugt, daß auch ideologische Motive bzw. »die allgemeine Abneigung gegen geistige Diskussionen«32 dabei mitspielten. Besorgt um »die Lösung der geistigen Aufgaben«, teilte er den Kollegen auf der Vorstandssitzung vom 4. Juni mit, daß er Geld für die Zeitschrift von anderer Seite auftreiben wolle. Die Kollegen verdächtigten ihn daraufhin, gegen die SOPADE handeln zu wollen.33 Tatsächlich hatte Hertz mit der Idee gespielt, der finanziellen Misere und der ständigen Kritik der PV-Kollegen und ihrer Freunde an seiner redaktionellen Linie durch ein unter eigener Regie herauszugebendes Periodikum, das die Zeitschrift für Sozialismus und die Sozialistische Aktion in sich vereinigen sollte, zu entgehen. Das Auslandsbüro von »Neu Beginnen« wollte in diesem Falle seine Nachrichten darin aufgehen lassen.34 Die Suche nach Geldgebern blieb jedoch erfolglos. Die letzten Hefte 34/35 (Juli/August) und 36 (September) der ZfS waren mit jeweils erheblicher Verzögerung überhaupt nur erschienen, weil Hertz sie schließlich selbst finanziert hatte, um die geplanten Themen noch zu veröffentlichen.35 In Heft 34/35 beschäftigte sich Karl Frank alias Willi Müller mit den innenund außenpolitischen Perspektiven der Volksfront in Spanien unter den Bedingungen des Bürgerkriegs.36 Fritz Alsen (d.i. Heinrich Ehrmann) analysierte die Parteien des Front populaire, vor allem die KPF. Für die junge Regierung Blum sah er erhebliche Gefahren von seiten der Wirtschaft; Erfolg oder Scheitern der Volksfront werde aber letztlich »von den weltpolitischen Auseinandersetzungen sowie der Entscheidung, die in Spanien fallen wird, bestimmt.«37 Zwischen diese beiden Artikel placierte Hertz einen Aufsatz, dessen Thema nicht nur ihn, sondern alle jüdischen Sozialdemokraten und Kommunisten angehen mußte und en passant ein grundsätzliches Problem ansprach. Die Spannung nämlich, die sich aus der Politik der zionistisch-sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der Histadrut auf der einen, der KP auf der anderen Seite ergaben. Während die Zionisten auf Kooperation mit England setzten und so in der Sicht des Autors »die Durchführung auch nur der bürgerlichen Revolution (Agrarreform!)« verhinderten, unterstützten die Kommunisten »im Zeichen der Volksfront« den antiimperialistischen Kampf der Palästinenser ohne Rücksicht auf die Klassengegensätze zwischen dem »arabischen Feudalismus« und der »arabischen Arbeiterschaft«.38 Im Schlußbeitrag setzte sich wiederum Karl Frank, als Paul Hagen, mit Otto Bauers Buch Zwischen zwei Weltkriegen? auseinander.39 Kern von Bauers Analyse der ökonomischen und politischen Krise der bürgerlichen Demokratie und der Niederlage der Arbeiter-Organisationen in einigen Ländern war der Entwurf eines zukünftigen »integralen Sozialismus«, einer Synthese von Kommunismus/Bolschewismus und Sozialdemokratie. Er enthielt vor allem das, was von »Neu Beginnen« und Paul Hertz seit einiger Zeit als Vorbedingung einer Wiedervereinigung der Parteien der deutschen Arbeiterbewegung diskutiert wurde: die sogenann-

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te »sozialistische Konzentration«. Der bereits zitierte Aufsatz von Sering über »Volkssozialismus« im letzten Heft der ZfS endlich schloß theoretisch und praktisch die »Darstellungen der Eigenart des nationalsozialistischen Regimes« ab, die mit einem Artikel desselben Autors in Heft 22/23 vom Juli/August 1935 begonnen hatten.40 Hertz nannte diesen Aufsatz den »erste(n) erfolgreiche(n) Versuch (...), wichtige neue Probleme zu klären«.41 Zeitgenossen dankten ihm und dem Autor schriftlich dafür.42 Nicht so Hilferding. Er hatte bereits in zahlreichen Briefen an Hertz über Mangel an guten Mitarbeitern und qualifizierten Artikeln geklagt. Jetzt befand er, die ZfS sei zu Recht eingestellt worden; »in der Art war die Zeits c h r i f t nicht weiterzuführen. Der beste Beweis war die skandalöse letzte Nummer.«43 Rückblickend ist festzustellen, daß bis zum Spätsommer 1936 die aktuellen politischen, ökonomischen, sozialen, organisatorischen und ideologischen Probleme, mit denen sich die deutsche und internationale Arbeiterbewegung konfrontiert sahen, nach Ursachen, Verlauf, Perspektiven offen, zum Teil kontrovers und insofern hinreichend behandelt worden waren, als sich die Autoren überwiegend aus dem linken und jüngeren bis jungen, auf Erneuerung drängenden Spektrum der Sozialdemokratie rekrutierten. Die Namen derjenigen, die sich auf ihr altes Mandat versteiften, findet man nur in den ersten Heften der ZfS. Sie zogen sich durchweg aus der Diskussion in die Nische des resignierten Schweigens zurück. Um wenigstens einige >konservative< Gegenpositionen anbieten zu können, mußte Hertz auf den alten Karl Kautsky, seinen persönlich hochverehrten Freund, und auf den Menschewiken Raphael Abramowitsch zurückgreifen.44 Gewichtige Stimmen aus Innerdeutschland waren, bis auf den ersten Beitrag von Sering/ Löwenthal, nach 1934 ebenfalls nicht laut geworden. Vorsicht und vielleicht mehr noch Aussichtslosigkeit und die Diskrepanz zwischen >Drinnen< und >Draußen< dürfen als Grund angenommen werden. Für die Umwandlung der Zeitschrift in »ein überparteiliches Diskussionsorgan«, das jeweils in Sonderheften spezielle Probleme von den Vertretern der verschiedenen sozialistischen Richtungen behandeln würde, wie die Auslandszentrale der SAP auf Hertz' Anfrage zur Mitarbeit vorgeschlagen hatte45, war die Zeit noch nicht reif. V Die Themen, zu denen Hertz als Autor - und Redner - Stellung nahm, lassen sich rubrizieren unter: - Arbeiten zugunsten von Freunden. Hierunter sind Memoranden zur Verteidigung politischer Freunde und Organisationen, wie zum Beispiel Karl Frank und »Neu Beginnen«, zu fassen, aber auch Gedenkschriften über Personen, die ihm, ungeachtet politischer Meinungsverschiedenheiten, persönlich teuer waren. Nicht immer hat er selbst zur Feder gegriffen oder diktiert, vielmehr angeregt, vermittelt, koordiniert.46

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- Arbeiten zur Flüchtlings- und Asylrechtsproblematik, zu Illegalität, Opposition sowie zum Widerstand. Sie erschienen überwiegend gedruckt und standen in unmittelbarem Zusammenhang mit Hertz' Tätigkeit als Mittelsmann zwischen Widerstand und Exil und als Vertreter der sozialistischen Flüchtlinge im Beirat des Völkerbund-Kommissars für deutsche Flüchtlinge.47 Sie informierten etwa über die Zahlen, die materielle und rechtliche Lage der Opfer des NS-Regimes in Deutschland sowie die der Flüchtlinge und appellierten an Rechtsgefühl und Solidarität über Partei- und Landesgrenzen hinweg. Hierzu gehört auch das Beharren darauf, daß asylrechtlich kein Unterschied zwischen den >rassischenpräpariert< werden sollten.50 Vor allem im US-Exil versuchte Hertz in Reden vor verschiedensten Hörerkreisen oder mittels Memoranden über die deutsche und deutschjüdische Geschichte, insbesondere über die Weimarer Republik, den Aufstieg der Nazis und über die sozialistische Bewegung aufzuklären. Die Darlegungen endeten meistens mit Ausblicken auf die Zeit nach Hitler und Ratschlägen für Politik und Propaganda.51 In einem Vortrag über die deutsche Sozialdemokratie, der seiner Meinung nach stärksten demokratischen und antiimperialistischen Bewegung in Europa zwischen 1871 bis 1914, trat Hertz beispielsweise in New York der weit verbreiteten Meinung entgegen, in Deutschland habe es »nie eine dem(okratische) Bewegung gegeben.«52 Er räumte zwar ein, »daß die Massen der deutschen Nazigegner die ersten waren, die sich der Nazismus unterworfen hat«, von »Verrat« der SPD wollte er jedoch nichts wissen. Die »Schwäche« der Partei nach 1918 sah er vielmehr sozialpsychologisch wie auch in ihrem Demokratieverständnis begründet, in der »Furcht vor Bolschewismus«, im »Glaube(n) an Reform«, in der »Mißachtung des eigenen Machtwillens« und »Unterschätzung des Machtwillens der anderen«.53 Mit Zitaten von ausländischen Politikern wies er aber zugleich auf die Schuld der Siegermächte hin, so etwa auf die kurzsichtige Behandlung der Weimarer Republik, vor allem in bezug auf Reparationen, Wirtschaft und Finanzen, bei gleichzeitiger Stützung der alten Machteliten, besonders der Militärkaste, aus Furcht vor einer Revolution in Deutschland.54 Die darauf bezogene rhetorische Frage: »Und haben

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die Weltmächte diese Politik nicht fortgesetzt, als Hitler zur Macht gekommen war?«, beantwortete er mit der Feststellung: »Wir haben 1933 erkannt, daß (der) Friede bedroht ist, (die) Welt hat Frieden mit Hitler gesucht.« Aus der Geschichte der Weimarer Republik zog Hertz vor seinen Zuhörern die warnende Lehre, »daß Friede und Gerechtigkeit zusammengehören, aber ebenso, daß sie abhängen von Sicherheit und Stabilität der sozialen Ordnung.« Folglich wandte er sich gegen die diversen Pläne auf alliierter Seite, Deutschland innerhalb Europas zu isolieren, es territorial, politisch und wirtschaftlich zu zerstückeln oder gar zu atomisieren. Weitsichtig sah er als Konsequenz für den Fall, daß für Deutschland »keine europäische Lösung« verwirklicht werde, daß es »aufgerüstet« werde »gegen Westen oder aufgerüstet gegen Osten«. Er forderte, daß die Alliierten einig, konsequent und zügig den Krieg fortsetzten, denn nur die Aussicht auf die militärische Niederlage biete eine Chance dafür, daß das deutsche Volk sich erheben und äußerlich wie innerlich vom Nationalsozialismus befreien werde. Die für den Aufbau der Demokratie unabdingbare Abschaffung von Großgrundbesitz, Großindustrie und Militärkaste könne nur mit Unterstützung, aber nicht unter der Knute der Siegermächte geschehen. Konkret plante Hertz für den Sektor Wirtschaft und Finanzen im R a h m e n des von dem Theologen Paul Tillich 1944 initiierten »Council for a Democratic Germany« mit. Unter anderem erarbeitete er Richtlinien für das »Geld- und Kredit-Wesen« 55 , deren Hauptziel es war, in der Übergangszeit, in der die (Friedens-)Produktion wieder in Gang gebracht und eine Währungsreform vorbereitet werden müsse, die »Wiederholung der Währungskatastrophe von 1923 (zu) verhindern«. D e r »Inflationsdruck« sollte mittels Kontrolle des Geldumlaufs und der Devisen auf der einen, »Schutz der kleinen Sparer« - unter anderem durch Registrierung und Hinterlegung der von ihnen gezeichneten Reichsanleihen — auf der anderen Seite unterbunden werden. Im Zusammenhang mit seinem praktischen Engagement in der »Credit Union League«, einer in etwa den Raiffeisen-Kassen vergleichbaren Kreditgenossenschaft zur (Eigen-)Finanzierung von Landwirtschafts- und städtischen klein- bis mittelständischen Betrieben, deren Anfänge in den USA er übrigens mittelbar auf seinen bzw. den Einfluß seiner politischen Freunde zu Anfang der zwanziger J a h r e zurückführte 56 , plädierte Hertz für den Wiederaufbau des Genossenschaftswesens in Deutschland und in den von den Nazis besetzten Ländern. Dabei stand der Gedanke an eine fruchtbare Wechselwirkung von demokratischem Geist, Selbstverwaltung und unabhängiger, freiwilliger Gemeinschaftsarbeit im Vordergrund. 5 7 In den zwanziger Jahren hatte Hertz die verschiedenen Genossenschaften demgegenüber eher als Selbsthilfe der städtischen und ländlichen proletarischen und kleinbürgerlichen Schichten gesehen und gefördert, um die Marktgesetze des Kapitalismus zu durchbrechen, mindestens zu begrenzen. Die Zerstörung der gemeinwirtschaftlichen Einrichtungen durch die Nazis hatte er noch 1935 vornehmlich als einen politischen Coup begriffen, durch den der gewerbliche und kaufmännische Mittelstand in seinen ökonomischen

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Interessen befriedigt und somit fester an das Regime gebunden werden sollte.58 Bei dieser Verschiebung des Blickwinkels wirkten mehrere Faktoren zusammen. Zu nennen sind vor allem die pragmatisch-sozial und nicht ideologisch-sozialistisch eingestellte neue Umgebung von Hertz, die ihre Ziele freiheitlich und demokratisch durchzusetzen versuchte, und die bereits Ende 1939 von ihm vorgetragene Analyse einer nicht nur »politische(n) sondern auch eine(r) große(n) ökonomische(n) Revolution« seitens der Nazis in Deutschland.59 Diese Revolution habe eine soziale Umschichtung bewirkt, »Millionen Mittelständler (seien) gewaltsam in Arbeiter verwandelt« worden, es gebe nunmehr 71 % Arbeiter, 28 % Mittelständler, und nur 1 % gehöre »der alten kapitalistischen Oberschicht an«. Die in der Diskussion der dreißiger Jahre um Einheitsfront und Volksfront umstrittene Frage eines Bündnisses der sozialistisch-kommunistischen Arbeiterklasse mit den Mittelschichten erschien vor solchen Tatsachen entschärft. Aus der einstigen »Avantgarde für Hitlers Aufstieg« sei durch die »Zwangsproletarisierung und Bürokratisierung« inzwischen eine zum Teil zwar »konservative«, zum Teil aber auch der sozialistischen Arbeiterbewegung verbundene Opposition erwachsen. Das bot für Hertz ganz neue Perspektiven einer künftigen Massenbewegung, die unter der Führung der Arbeiterklasse imstande sei, das Nazi-Regime und die »imperialistischen deutschen Kräfte, deren tragende Partei die Nazis geworden sind«, zu zerschlagen und die »demokratische Revolution«, die er seit 1848 mehrmals, zuletzt 1918 eingeleitet, jedoch immer wieder abgebrochen sah, zu vollenden.60 Daß Hertz im US-Exil die alte Losung vom »Volksstaat« als Ziel für ein Deutschland nach Hitler fallenließ, scheint eher eine Rücksichtnahme auf amerikanische Ohren gewesen zu sein, denn an dem Inhalt hielt er fest. 1938 hatte er über den »Volksstaat« geschrieben, daß in ihm »die Mächte des Fortschritts das politische und ökonomische Geschehen entscheidend bestimmen« würden.61 In diesem Zusammenhang hatte er, nach anfänglichem Zögern, der Einheitsund Volksfront zugebilligt, »notwendige Hilfsmittel zum Sturz der Diktatur« sein zu können, vorausgesetzt, daß diese Bündnisse die »demokratischen Freiheitsrechte« nach Hitler auch zur Anwendung brächten. Erneuerung der Sozialdemokratie ist das wichtigste Thema der Hertzschen Exilpublikationen. Ausgangspunkt der Überlegungen waren die Ereignisse des Jahres 1933. Hertz vertrat die Überzeugung, daß es der Parteiführung vor und nach 1933 an Selbstbewußtsein und Willen zur Macht gemangelt, daß die Verwurzelung in traditionellen Denkschemata ein Erkennen der neuen Situationen und Aufgaben verhindert und daß sich die hierarchischautoritäre Struktur der SPD in der SOPADE noch weiter verhärtet habe. Die Folgen, Gruppenbildungen und Abspaltungen, schwächten die Sozialdemokratie, so daß sie nicht zum Motor einer aktiven nationalen und internationalen antifaschistischen Bewegung werden konnte. Neu-Durchdenken der Bedingungen von Demokratie, Sozialismus, Staat - auch angesichts der Pervertierungen in der Sowjetunion62 - und Reorganisation der SPD

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waren für Hertz Vorbedingungen für die Sammlung und Zusammenfügung aller Teile der Partei. Die Formulierung von 1934, es gelte, »die Menschen zu verändern, damit sie der Organisation einen neuen Geist verleihen«63, läßt sich in ihrem ersten Teil auf das gesamte politische Wirken von Hertz, in ihrem zweiten Teil besonders auf die Exilperiode von Mai 1933 bis Ende 1949 anwenden. Zwischen 1936 und 1938/39 war die »Sozialistische Konzentration« gedacht als Etappe auf dem Weg zu einer neuen, einheitlichen Sozialdemokratie.64 Die geistige Basis für dieses organisatorische Ziel erblickte Hertz zur Zeit des europäischen wie des US-Exils im Prager Manifest der SOPADE zum 30. Januar 1934; es sei »radikal«, packe das Problem der alten Sozialdemokratie, den Reformismus, »an der Wurzel« und zeige, »was notwendig ist, um das Ziel der Freiheit zu sichern«.65 Als Führer einer neuen SPD und als künftigen Kanzler Deutschlands nannte Hertz Mitte Mai 1945 gegenüber dem Office of Strategie Services (OSS) Ernst Reuter.66

1 Ursula Langkau-Alex: »Paul Hertz. Realpolitiker im Dienste der sozialdemokratischen Utopie«. In: Peter Lösche, Michael Scholing, Franz Walter (Hg.): Vordem Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten. Berlin 1988, S. 145 ff. - 2 Nur ein Beispiel: Paul Hertz: »Wer stürzt Hitler?«. In: Sozialdemokrat. Zentralorgan der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik, 25.12.1935, erschien ebenfalls in: Mitteilungen der Deutschen Freiheits-Bibliothek, Nr. 9,10.1.1936, und in: Neue Volkszeitung, New York, 1936, Nr. 3, 18.1.1936; eine teilweise leicht überarbeitete Version von »Wer stürzt Hitler?« erschien anonym unter dem Titel »Einheit und Solidarität« in: Sozialistische Aktion, Januar 1936, und auszugsweise in: Mitteilungen der Deutschen Freiheits-Bibliothek, Nr. 10, Februar 1936; Schreiber des Leserbriefs betreffend »Geheimnisse des Kakaos« in: Das Neue Tage-Buch 6 (1938), H. 8, S. 190 f., dürfte der Physik-Professor Paul Hertz sein; zu allen genannten Exilperiodika s. Lieselotte Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933-1945, 3 Bde., München usw. 1976 ff. - 3 Paul Hertz: »Unsere Aufgaben und ihre Erfüllung«. In: ZfS 1 (1934), Nr. 12/13, S. 422 ff. - 4 Miles (d.i. Walter Löwenheim): »Neu beginnen! Faschismus oder Sozialismus. Als Diskussionsgrundlage der Sozialisten Deutschlands«. In: Probleme des Sozialismus, H. 2, Karlsbad 1933; »Der Weg zum sozialistischen Deutschland. Eine Plattform für die Einheitsfront. Zur Diskussion gestellt von einem Arbeitskreis revolutionärer Sozialisten«. In: ZfS 1 (1934), Nr. 12/13 (Oktober), S. 375 ff.; »Kampf und Ziel des revolutionären Sozialismus. Die Politik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.« In: Neuer Vorwärts (NV), Nr. 33,28.1.1934; Referenzen zu den »Traditionalisten«, zur »alten« und zur »neuen« Opposition in der SPD in Ursula Langkau-Alex: »Zwischen Tradition und neuem Bewußtsein. Die Sozialdemokraten im Exil«. In: Manfred Briegel / Wolfgang Frühwald (Hg.): Die Erfahrung der Fremde. Weinheim 1988, S. 61 ff., auf S. 75, Abschnitt VI, ist zu korrigieren: Crummenerl starb am 22. Mai 1940. - 5 ZfS, S. 429. (Alle Jahrgänge und Nummern sind durchgehend paginiert). - 6 Alle vorhergehenden Zitate ZfS, S. 432. 7 Kommentar zum Entwurf der KPdSU zur Demokratisierung des Wahlsystems: »Lob der

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Demokratie. Radikale Schwenkung in Moskau«. In: Sozialistische Aktion, Ende Februar 1935. - 8 ZtS, S. 431. - 9 Ebd., S. 426. - 10 Ebd., S. 425. - 11 Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin/DDR (IML), ZPA II 145/54, Bl. 0012 bis 0013, auch zum folgenden, einschließlich Zitat. Das IML verpflichtet die Benutzer, die Quellen nicht bekanntzugeben; vgl. Brief SOPADE an Hilferding, 10.8.1933. International Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam (IISG), N1 Paul Hertz, S. 19, XVII. - 12 IML, ZPA II 145/54, Bl. 0008 bis 0011; Fritz Heine an Hilferding, 16.8.1933. IISG, N1 Hertz, S. 19, XVII. - 13 Sitzung des Parteivorstandes am 18.10.1933 in Prag. IML, ZPA II 145/54, Bl. 0025. - 14 Vgl. Ursula Langkau-Alex: Volksfront für Deutschland?, Bd. 1. Frankfurt/M. 1977, S. 137 und S. 141. - 15 Vierseitiges maschinenschriftliches Memorandum, ohne Titel und Datum, wohl für die PV-Sitzung vom 17. Januar 1936 bestimmt. IISG, N1 Hertz, S. 16, lg. - 16 Zitate aus »Einheit und Solidarität« (vgl. Anm. 2 ) . - 1 7 »Die Ziele der deutschen Revolution« und »Die Organisation der deutschen Revolution«; vgl. Fragment Manuskript, beginnend mit: »Teil II«, S. 23-29. IISG, S1 Neu Beginnen, 13. - 18 Zu »Neu Beginnen«, zu Hertz und zu den im weiteren Verlauf angesprochenen Fakten und Problemen s. demnächst meine noch laufende Untersuchung: Widerstand, Exil und Deutschland nach Hitler. Paul Hertz und die deutsche Sozialdemokratie 1933-1949. - 19 »Die Einheitsfront. Eine Aussprache zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten«. In: Sozialistische Aktion, Januar 1936. - 20 Besprechungen am 16. und 17. Januar 1937 (zwischen 3 Berliner Vertretern und PV-Mitgliedern in Prag). IISG, N1 Hertz, S. 16, lg; zur Gruppe Deutsche Volksfront, auch: Zehn-Punkte-Gruppe, s. Rüdiger Griepenburg: Volksfront und deutsche Sozialdemokratie. Zur Auswirkung der Volksfronttaktik im sozialistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Marburg 1971. - 21 Ebd. 22 Hertz an Hilferding, 13.3.1936. IISG, N1 Hertz, S. 19, XVII; Zitat aus »Protokoll: vom 4.5.1936«. IISG, S1 NB, 13. - 23 Protokoll vom 4.5.1936, a.a.O. - 24 Leitartikel »Der Weg zur Freiheit«; Hertz an Wilhelm Sollmann, 24.3.1936. IISG, Nl Hertz, S. 18, Sollmann. 25 Zeitung und Organisation, 5 S. Masch., handschriftlich: NB, Sept(ember) 1935. IISG, Nl Hertz, S. 7/8, Mappe B. - 26 Hertz an Richard Hansen, 11.2.1936 (Ds für Sollmann). Historisches Archiv der Stadt Köln (HA Köln), Bestand 1120 (Nl Sollmann), 562; Hertz an Sollmann, 6.3.1936, ebd., 563; Sollmann an Hertz, 8.3.1936. IISG, Nl Hertz, S. 12, Mappe W, und 25.5.1936, Nl Hertz, S. 18, Sollmann. - 27 Paul Sering (d.i. Richard Löwenthal): »Volkssozialismus oder Sozialdemokratie?« In: SA, November 1936, mit redaktioneller Vorbemerkung, daraus Zitat im Text; Paul Sering: »Was ist der Volkssozialismus?«. In: ZfS 3 (1936), Nr. 36 (September), S. 1105 ff.; zur Aufforderung seitens Hertz'. Fragment Brief Sering an Hertz, o.D. IISG, Nl Hertz, S. 19, XVI. - 28 S. z.B. Hertz an Sollmann, 24.3.1936. IISG, Nl Hertz, S. 18, Sollmann. - 29 Die Deutschland-Berichte der SOPADE, inzwischen in 7 Bden. neu hg. (Salzhausen und Frankfurt/M. 1980), standen nie zur Diskussion, sie trugen sich anscheinend weitgehend selbst und erschienen bis April 1940; vgl. Die »Grünen Berichte« der SOPADE. Gedenkschrift für Erich Rinner (1902-1982). Jahresgabe 1984 für Freunde der Friedrich-Ebert-Stiftung zum 80. Geburtstag von Fritz Heine. Bonn 1984. - 30 Hertz an Sohn Wilfried, 26.12.1937. IISG, Nl Hertz, S. 20, XXIII. - 31 Hertz an Kurt Stechert, 21.10.1936. IISG, Nl Hertz, S. 18, St-T. - 32 Hertz an Sollmann, 10.9.1936. Ebd., Sollmann. 33 Vorhergehendes einschließlich Zitat nach IML, ZPA II 145/54, Bl. 187/188. - 34 Protokoll Westkonferenz vom 14. und 15.6.1936. IISG, S1 Neu Beginnen, 55. - 35 Vgl. Hertz an Sollmann, 10.9.1936, und an Stechert, 21.10.1936, a.a.O. - 36 Willi Müller: »Der spanische Freiheitskampf«. In: ZfS, S. 1073 ff. - 37 Fritz Alsen: »Die Volksfront in Frankreich«. In: ZfS, S. 1089 ff., Zitat S. 1099. - 38 Kurt Stein (Haifa): »Sturm über Palästina«. In: ZfS, S. 1078 ff. - 39 Otto Bauer Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus. Bratislawa 1936; Paul Hagen: »Integraler Sozialismus«. ZfS, S. 1099 ff. - 40 In die Reihe gehören die ZfS-Artikel von Paul Sering: »Wandlungen des Kapitalismus« (H. 22/23, S. 704 ff.); »Der Faschismus« (I) und (II) (H. 24/25, S. 765 ff. und H. 26/27, S. 839 ff.); »Historische Voraussetzungen des Nationalsozialismus« (H. 30, S. 959 ff.); dazwischen, »unabhängig von Serings Arbeit (...aber) in wichtigen Punkten ähnliche Auffassungen« vertretend, Karl Henrichsen (d.i. Werner Thormann): »Hitler ohne Hintermänner« (H. 26/27, S. 817 ff., Zitat hier und im Text aus der redaktionellen Vorbemerkung auf S. 817); vgl. auch Paul Sering: »Die Aufgaben der deutschen Revolution«. In: ZfS 3 (1936), Nr. 33 (Juni), S. 1041 ff. - 41 Hertz an Sollmann, 10.9.1936. IISG, Nl Hertz, S. 18, Sollmann. - 42 Z.B. (Moritz) Robinson an Hertz, 11.10.1936; Oskar Pollak an Sering, 17.10. und 22.10.1936. IISG, S1 NB, 2. - 43 Hilfeiding an Hertz, 19.8.1937. IISG, Nl Hertz, XVII; vgl. Briefwechsel Hertz - Hilferding 1935/1936 ebd. - 44 Karl Kautsky: »Gedanken über die Einheitsfront«. In: ZfS, H. 26/27 (November/Dezember) 1935, S. 825 ff.; R. Abramowitsch:

Zur Politik des Sozialdemokraten Paul Hertz im Exil

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»Einheitsfront und Einheitspartei«, In: ZfS, H. 33 (Juni) 1936, S. 1050 ff. - 45 Handschriftliches Protokoll der AZ-Sitzung vom 4.1.35 (richtig; 1936). Arbeideibevegelsens Arkiv og Bibliotek, Oslo (ARBARK), Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), Box 1, Mappe 7, Nr. 2. - 46 Die auch im folgenden global skizzierten Arbeiten, die zur >Grauen Literatur« zu zählen sind, befinden sich überwiegend an verschiedenen Stellen des Nachlasses von Hertz im IISG. - 47 Namentlich gezeichnete Artikel zur innerdeutschen Opposition z.B. in: Argentinisches Tageblatt, 18.11.1934; Neue Volkszeitung (NVZ) 7 (1938), Nr. 5, 29.1. Artikel zum Flüchtlingsproblem in: Neuer Vorwärts (NV), Nr. 163, 26.7.1936, Nr. 176, 25.10.1936; Nr. 264, 1938; NVZ 7 (1938), Nr. 6, 5.2., derselbe Artikel in: Deutsche Freiheit (DF), 1938, Nr. 5; NVZ 7 (1938), Nr. 34, 20.8; NVZ 8 (1939), Nr. 35, 2.10; Aufbau 6 (1940), Nr. 8, 23.2. (= Userbrief von P.H. zu einem Bericht über einen Vortrag von ihm). - 48 Zitate aus Paul Hertz: »Die Rechtsstellung der deutschen Flüchtlinge.« In: NVZ, 1938, Nr. 6,5.2.; zum Komplex Solidarität mit den NS-Opfern s. z.B. auch die Paraphrasierung der Rede von Hertz auf der Generalversammlung der Union für Recht und Freiheit in Prag, in: Deutsche Volks-Zeitung (DVZ) 2 (1937), Nr. 21, 20.5., S. 3; s. im übrigen die vorige Anm. - 49 Vgl. den unter Anm. 3 zitierten Aufsatz, dort besonders S. 422 f., oder. Paul Hertz: »Fünf Jahre Naziherrschaft. Hitler's Bilanz, wie wir sie sehen.« In: NVZ 7 (1938), Nr. 5, 29.1. - 50 Einige Memoranden im IISG, N1 Hertz, S. 19, XII, so das zitierte, auf S. 1 handschriftliche Notizen von Hertz in Rot- und Bleistift: »1936 Gillies (Labour Party)«, ferner »Die Aufrüstung Deutschlands«, Ds., 3 S., Bleistiftnotiz von Hertz auf S. 1: »Denkschrift für die Labour Party April 1934«; diesem Memorandum ist ein weiteres angeheftet, handschriftlicher Titel: »2. Wirtschaft und Aufrüstung«, beginnend mit handschriftlicher Seitenzahl 4, bis S. 8, o.D. (1936); andere Memoranden im Nl Hertz, S. 5/6, so Paul Hertz: »Die Aufrüstung Deutschlands. Eine Denkschrift über Umfang, Tempo und Art, im Auftrag des PV der SPD, Prag, Ende April 1934«, Ms. 11 S., und: »Entwicklungstendenzen im Deutschen Strafvollzug. Denkschrift an den 11. Internationalen Kongreß für Strafrecht und Gefangniswesen (vom 18. bis 24. August 1933 in Berlin). Überreicht vom Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Sitz Prag«, Dünndruck; zum Internationalen Strafrechtskongreß und Internationalen Städtetag in Berlin 1936 verfaßte Hertz ein Memorandum über den Strafvollzug für den holländischen Sozialisten F.M. Wibaut, um die Haltung der Sozialdemokraten zu koordinieren, dazu Brief Hertz an Hilferding, 14.1.1936, Nl Hertz, S. 19, XVII. - 51 Typoskripte, deutsch und englisch, im IISG, Nl Hertz, S. 19, XII, z.B. »Die Zukunft der Juden in Deutschland nach dem Sturze Hitlers«, handschriftlich datiert: 1939/1940; »Die Einheitsgemeinde Berlin«, handschriftlich datiert: July 1942, behandelt die Stadt in der Weimarer Zeit und die Zerstörung ihrer organisatorischen und demokratischen Strukturen durch die Nazis; ohne Titel z.B. ein Typoskript mit Anregungen für Radiosendungen, um die »amerikanische Öffentlichkeit (...) über die wirklichen Zustände in Deutschland zu unterrichten und mit dem Fühlen und Denken des deutschen Volkes vertraut zu machen«, handschriftlich datiert: April 1942 L(os) A(ngeles), Zitat S. 1; ein anderes Typoskript betrifft Betrachtungen zur »Propaganda Amerika(s) nach Beendigung des Krieges in Deutschland« sowie zur Wirtschaft und zur (Um)Erziehung, handschriftlich: L.A. July 1942, Zitat S. 1; Nl Hertz, S. 19, VI: diverse handschriftliche Vortragsnotizen aus den Jahren 1940-1944, in denen die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Kräfte und >Traditionen< in Deutschland herausgearbeitet werden. - 52 IISG, Nl Hertz, S. 19, VI: handschriftliche Notizen, überschrieben »Ballade of simple confusion«, 5 S., am Rand der 1. Seite: »New York - Juristen 1944«, auch alle folgenden Zitate dort; am selben Fundort in der Essenz ähnliche Vortragsnotizen zwischen 1940 und 1944; z.B. beginnend: »April 1940 - European War in its first stage, >phony waralles oder nichts< ist nur das Paktieren mit anderen Parteien übriggeblieben (...).« Hitler habe nicht selbständig, sondern »als der Beauftragte der Schwerindustrie« gehandelt.11 Dennoch wurde die politische Tragweite des Regierungswechsels richtig eingeschätzt: »Der

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30. Januar wird in der deutschen Geschichte als schwarzer Tag fortleben. Nicht so sehr deshalb, weil eine Regierung ans Ruder kam, deren Ernennung die schwersten innenpolitischen Konflikte auslösen kann, sondern weil an die Stelle des Gesetzes der Erfolg der Gewalt getreten ist, weil der Schutz der Verfassung Männern anvertraut wurde, deren offen ausgesprochenes Ziel noch jederzeit die Vernichtung der Verfassung gewesen ist«.12 Bereits im April 1933 erkannte das ATAW, daß es falsch sei zu glauben, der in Deutschland herrschende Terror bedeute eine Übergangserscheinung und werde nach einer Stabilisierung der Verhältnisse einem zwar autoritären, aber doch rechtsstaatlichen Regierungssystem Platz machen. Die »sadistischen Verbrechen der Hitlerhorden« seien auf höchste Veranlassung hin ausgeführt worden. Hitler habe ausdrücklich erklärt, daß nichts ohne oder gegen seinen Willen geschehe.13 Das nationalsozialistische »Mordgesindel«, dessen Führer vor »keinem Verbrechen zurückschrecken und sich schützend selbst vor den gemeinsten Mörder stellen; diese organisierte Mafia wird die Macht nicht wieder preisgeben«.14 Die Erschießung Röhms und anderer hoher SA-Führer am 30. Juni 1934 interpretierte das ATAW als »Verrat« Hitlers an seinen langjährigen Weggefährten und als Sieg der konservativen Kreise und der Reichswehr über die kleinbürgerlichen und proletarischen Horden der SA, deren Unzufriedenheit über das Ausbleiben der zweiten Revolution nur noch schwer zu zügeln gewesen sei.15 Nunmehr sei es die Generalität, die die Politik des »Dritten Reiches« bestimme: »Der Führer kann sich drehen und wenden wie er will - er hängt seit dem 30. Juni 1934 im Netz der Bendlerstrasse«. Hitler habe die SA der Reichswehr geopfert und sei dadurch »zu einer willenlosen Puppe in den Händen der Reichswehr und der Polizei« geworden. »Hitler kann vorläufig weiterhin bleiben - aber die Zeitdauer der Diktatur richtet sich von jetzt an ausschließlich nach dem Ermessen der Reichswehr (...). Denn hinter der Reichswehr steht die Grossindustrie, steht das Bankkapital, stehen die Junker, mit einem Wort die ausgesprochen kapitalistischen Kräfte der Nation.«16 Die Überschätzung des politischen Willens, des Urteilsvermögens und der Standfestigkeit und die Unterschätzung der Willfährigkeit und politischen Instinktlosigkeit eines Großteils der deutschen Generäle führte die Zeitung über Jahre hinweg zu groben Fehleinschätzungen der politischen Machtkonstellationen in Deutschland. Mit diesen Fehlurteilen stand das ATAW allerdings nicht allein - wurden sie doch von vielen Exilzeitschriften geteilt.17 Wie andere Zeitschriften der Emigration stellte das ATAW die Frage nach den Schuldigen am Emporkommen des Nationalsozialismus und dem Scheitern der Weimarer Republik. Als folgenschwerer Fehler wurde die von den republikanischen Parteien geduldete oder sogar geförderte illegale Wiederaufrüstung erkannt. Es seien republikanische Politiker gewesen, die sich bereitfanden, die Aufrüstungsbestrebungen der Reichswehr zu »entschuldigen und zu bemänteln. Sie lieferten frohgemut und ohne Gewissensbisse das pazifistische Alibi, das die Reaktion brauchte.« Es sei falsch, jetzt

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die Verantwortung auf einen Noske, Gessler oder Severing abzuschieben, denn diese hätten in ihrem Handeln dem Denken der Mehrheit der führenden Politiker ihrer Parteien entsprochen, sie »waren in nichts dümmer, unverständiger, instinktloser als die Organisationen, die sie auf den Posten eines Reichswehr- oder Polizeiministers (...) delegiert hatten«. Weil die republikanische Linke von der »moralischen Berechtigung der illegalen Aufrüstung vollkommen überzeugt« war, trug sie zur Vorbereitung des Revanchekriegs bei: »Von Noske über Gessler und Gröner bis zu Hitler geht eine gerade Linie; sie sind alle nur die Geschobenen, die Kommandierten, die Zivilisten, die von der Bendlerstrasse abhängig wurden, weil sie sich dem Geist der preussischen Armee innerlich unterwarfen!«18 Der Kommentar macht die Position der Zeitung links von der Sozialdemokratie deutlich. Mit ihrer Kritik an der »Schwarzen Reichswehr« verwies das Blatt auf einen der folgenschwersten Fehler der Weimarer Republik, nämlich ihren Mangel an Fähigkeit und Willen, das Primat des Politischen gegenüber den Militärs durchzusetzen. Das leichtfertige, sozusagen augenzwinkernde Tolerieren der dauernden Vertragsverletzungen, die sich die Reichswehr leistete, war ein sichtbarer Ausdruck dieser politischen Willensoder Kraftlosigkeit. III Vom Tage der »Machtergreifung« an betrachtete das ATAW den Krieg zwischen »Hitlerdeutschland und der friedlich gesonnenen Umwelt als unvermeidbar«.19 Um von den wachsenden innenpolitischen Spannungen und Widersprüchen abzulenken, müsse der Nationalsozialismus notwendigerweise expansiv und imperialistisch sein. Das Blatt warnte vor der Nachgiebigkeit der Nachbarländer gegenüber Hitler; die Kriegsgefahr wachse durch »Kriegsfurcht«.20 Aus Angst vor dem Krieg lasse man Hitler immer größer und stärker werden, bis er, statt zu >bluffenArrangements< die sich endlich bildende antifaschistische Einheitsfront europäischer Sicherheitsinteressen immer im entscheidenden Augenblick zerstört.32 Polemisch beschrieb die Zeitung die Ergebnisse der englischen Außenpolitik: »Wenn Europa heute zerrissen, zerrüttet vom Faschismus und vom Krieg bedroht ist, so trägt die englische Politik daran die Hauptschuld. Hätte England sich von vornherein gegen den offensichtlichen bösen Willen der faschistischen Diktaturen, gegen den Willen zur Gewalt, zur Eroberung und Unterdrückung gewendet, hätte es nicht die Diktatoren liebevoll hochgepäppelt, niemals wären Mussolini und Hitler in die Möglichkeit versetzt worden, Europa an den Rand des Abgrunds zu bringen.« Besonders widerlich sei die moralische Überheblichkeit, die Chamberlain zur Schau trage. »Wenn auch die Politik keines imperialistischen Staates vor moralischen Masstäben standhält, (...) so fordert doch die Moralheuchelei Chamberlains geradezu zu einer moralischen Beurteilung heraus, die nur vernichtend sein kann.«33 Alle außenpolitischen Erfolge der Nationalsozialisten - die Rheinlandbesetzung, die Annexion Österreichs, Böhmens und der Rumpftschechoslowakei - werden vom ATAW als Meilensteine auf dem Weg zu einem Zweiten Weltkrieg interpretiert. Den Höhepunkt der Nachgiebigkeit der Westmächte sah das Blatt im »Verrat« von München34, der den Krieg nur für kurze Zeit hinauszögern werde, vielleicht bis Ende 1938. Man müsse umlernen schwenke doch England mit »vollen Segeln in das Meer des Unrechts und der Vertragsbrüche« ein. Besonders zynisch sei die »Garantie«, welche die Vertragsbrüchigen Premiers Chamberlain und Daladier dem tschechischen Rumpfstaat anböten.35 Das Vorgehen der englischen Regierung gefährde dieses Mal allerdings auch unmittelbar die britischen Interessen.36 Das »unerhört Neue« an der Situation sei, schrieb die Zeitung, daß die Kapitulation der Tschechoslowakei nicht aufgrund der Drohungen des Feindes, sondern der eigenen Verbündeten erfolgte. Die Konsequenzen - »deutlicher denn je« zu erkennen — würden der Anschluß der östlichen europäischen Kleinstaaten an Hitlerdeutschland sein. Auf dem Weg Hitlers nach Osten, in die Ukraine, sei ein großes Hindernis preisgegeben worden. Falls Großbritannien darauf spekuliere, »Hitler durch gewährenlassen im Osten >abzulenkenHerr im eigenen Hause< und schützt die heiligsten Güter, die das Leben erst lebenswert machen.«65 Die im allgemeinen klare Haltung der Zeitung gegenüber Kommunismus und Faschismus66 unterlag in bestimmten Augenblicken Schwankungen. Dies zeigte sich vor allem anläßlich der Stalinschen »Säuberungen« in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre und ein zweites Mal nach dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts im August 1939. Die Schauprozesse waren für die sonst der Sowjetunion eher wohlgesonnene Zeitung ein Schock und mehrfach Gegenstand scharfer Kritik.67 Anfang 1937 schrieb das ATAW, daß es keine »Sympathie für den Bolschewismus« hege: »wir lehnen eine Sowjetdiktatur genau so entschieden ab wie jede andere Diktatur.«68 Noch schärfer urteilte die Zeitung nach dem Nichtangriffspakt und seinen Folgen, der Teilung Polens, der Besetzung der baltischen Staaten und dem Überfall auf Finnland. Die Enttäuschung über die Skrupellosigkeit der Stalinschen Politik äußerte sich in der - zuvor heftig bekämpften - Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus: »Allmählich bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass Diktatur gleich Diktatur ist, ob sie nun rot, braun oder schwarz gefärbt ist.«® Eine kurz nach der Teilung Polens erschienene Karikatur Clément Moreaus zeigt eine Hyäne mit dem Gesicht Stalins70, ein Artikel bezeichnet Stalin als »Totengräber des Kommunismus«.71 Diese Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus blieb jedoch die Ausnahme. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wird das sowjetische System wieder positiver bewertet. Im August 1942 wird beispielsweise in Formulierungen, die nicht frei von schwärmerischer Begeisterung sind, das ausgewogene Verhältnis von Planung und Einzelinitiative hervorgehoben, das die Sowjetunion auszeichne: »Man erkennt heute an der wunderbaren Widerstandskraft des Sowjetstaates, dass das Aufbauprinzip des neuen Russland in einer gesunden Durchdringung von Planung und Einzelinitiative bestand. Planung kann zu einer erstickenden Herrschaft der Bürokratie und Einzelinitiative zu kapitalistischer Bereicherungswirtschaft führen. Beides hat die Sowjetunion vermieden.«72 Selbst die Moskauer Prozesse und die Säuberungen der dreißiger Jahre wurden rückblickend

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anders beurteilt. Sie seien nötig gewesen, um die Sowjetunion vor einer Fünften Kolonne zu bewahren.73 Die Schwarz-Weiß-Malerei, die das ATAW betrieb, indem es jedes politische Ereignis in das Schema antifaschistisch, also gut, oder faschistisch, also böse, preßte, dürfte auch in diesem Fall die Ursache für die fragwürdige Exkulpation der Stalinschen Säuberungen gewesen sein. Die Verengung des Blickwinkels auf diese Antinomie hat im ATAW auch in anderen Fällen zu politischer Einseitigkeit und zu vorschnellen Urteilen geführt, insbesondere dann, wenn politische Phänomene beschrieben wurden, die nicht in Europa, sondern in einem ganz anderen gesellschaftlichen Kontext entstanden und nicht (wie z.B. die arabischen Unruhen in Palästina in den dreißiger Jahren) auf die Kategorien Faschismus-Antifaschismus zu reduzieren waren. Ende 1943 kritisierte die Zeitung erneut die Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus und vertrat die Ansicht, daß sich das Sowjetsystem demokratisieren könne.74 Ein Jahr später griff sie diesen Gedanken wieder auf: »Diese Stellung des >Argentinischen Tageblatts< zur Sowjetunion und zum Kommunismus ist in vielen Äusserungen klar genug festgelegt worden. Erstens: Wir haben nie darüber Zweifel gelassen, dass die Sowjetunion ein totalitärer Staat ist. Zweitens: Wir haben immer der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass sich das ändern wird. (...) Sowjetrussland ist viel zu jung, als dass man bestimmt voraussagen könnte, wohin seine stürmische Entwicklung geht.«7S Diese Haltung änderte sich auch nach Kriegsende nicht. Das Blatt kritisierte die bald nach dem Tode Franklin D. Roosevelts einsetzende antikommunistische Propaganda und vertrat die Ansicht, daß Präsident Truman von der politischen Linie seines Vorgängers abgerückt sei. Versucht man, die politische Haltung der Zeitung in den dreißiger und vierziger Jahren zusammenzufassen, muß man vor allem auf die radikaldemokratischen und linkssozialistischen Positionen hinweisen, die in einer Vielzahl von Artikeln zum Ausdruck kommen. Daß das ATAW seinen unabhängigen Standpunkt beibehielt, auch wenn es in seinen politischen Analysen (vor allem in bezug auf die »Schuldfrage« zum Untergang der Weimarer Republik) zeitweilig einen KP-nahen Standpunkt vertrat, zeigen die kritischen Berichte zu den Stalinschen Säuberungen und zu der mit dem Nichtangriffspakt vollzogenen außenpolitischen Neuorientierung. Die Sowjetunion wird wegen der Parteidiktatur kritisiert, die jede individuelle Freiheit unterdrücke, aber die Möglichkeit einer Humanisierung des Sowjetsystems wird betont. Den Faschismus hingegen betrachtete das Blatt als eine fortschrittsfeindliche und inhumane geschichtliche Größe, die per definitionem Unterdrükkung und Knechtschaft zum Ziel habe. Faschismus sei der Versuch einer privilegierten Minderheit, ihre Herrschaft durch Gewalt und Terror aufrechtzuerhalten und jegliche organisierte politische Willensbildung in der Bevölkerung zu unterdrücken. Die wichtige Frage nach der Entstehung der Massenbasis des Faschismus konnte die Zeitung mit ihrer überwiegend auf

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objektive Faktoren abzielenden Faschismusdefinition nur unzulänglich beantworten. Auch die zentrale Rolle des Antisemitismus in der nationalsozialistischen Politik war mit dem Faschismusbegriff des ATAW nicht zu erklären, wenn die Zeitung auch vom ersten Tag an die Judenverfolgungen ausführlich darstellte und anprangerte. Die Meinungsunterschiede, die im Lauf der Zeit in den Kommentaren und Leitartikeln der Zeitung zum Ausdruck kamen, haben sicher nicht nur mit divergierenden Ansichten einzelner Redakteure zu tun, sondern spiegeln auch die Meinungsvielfalt wider, die schon die normale Mitarbeiterfluktuation über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt bedingte. Hinzu kamen die sich stark verändernden politischen Konstellationen, die nicht ohne Einfluß auf die Einstellung der Redaktion bleiben konnten. Die Bedeutung des ATAW liegt darin, daß hier eine engagierte Berichterstattung deutlich werden läßt, wie politisch denkende Zeitgenossen, die vom eigentlichen Schauplatz der Ereignisse weit entfernt waren, diese Ereignisse mitvollzogen und beurteilten. Insofern ist das ATAW eine interessante außereuropäische und noch wenig erschlossene Quelle, die der Historiker nutzen sollte, um sich ein Bild davon zu machen, was in dieser Zeit von einzelnen und Gruppen gedacht wurde und welches die von den Zeitgenossen wahrgenommenen Motive für politisches Handeln waren.

1 Zit. nach Arnold Ebel: Die diplomatischen Beziehungen des Dritten Reiches zu Argentinien unter besonderer Berücksichtigung der Handelspolitik (1933-1939). Diss. Univ. Genf, Landau 1970, S. 232. - 2 Aus arbeitsökonomischen Gründen wird im folgenden aus dem Argentinischen Wochenblatt zitiert, das die wöchentlich erscheinende Zusammenfassung des Argentinischen Tageblatts war. Das über 60 Seiten starke Wochenblatt enthielt ungekürzt die Leitartikel, Randglossen, die Wochenbeilage »Hüben und drüben« und alle wichtigen Nachrichten und Kommentare. Das Argentinische Wochenblatt ist insofern inhaltsgleich mit fem Argentinischen Tageblatt. Daher die im Beitrag verwandte Abkürzung ATAW (für Argentinisches Tage- und Wochenblatt) und die Abkürzung AW für die Zitate aus dem Argentinischen Wochenblatt in den Anmerkungen. - 3 Zum Argentinischen Tageblatt und dem Argentinischen Wochenblatt in den zwanziger Jahren vgl. Peter Bussemeyer. 50 Jahre Argentinisches Tageblatt. Werden und Aufstieg einer auslanddeutschen Zeitung. Buenos Aires (1939). Vgl. auch Ronald C. Newton: German Buenos Aires 1900-1933. Austin/London 1977. - 4 Bericht des deutschen Gesandten von Keller an das Auswärtige Amt, Politisches Archiv des AA, Abt. III, Po 12, Pressewesen allgemein, Argentinien, Bd. 1, Argentinien 1920-1935, 770/32. Der Gesandte mutmaßte, daß die Zeitung von Felix J. Weil finanzielle Unterstützung erhielt. Felix Weil ist heute vor allem bekannt als Mitbegründer und Mäzen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. 5 Redakteure waren unter anderem Helmut Gastel, Josef Riemer, der bald darauf verstorbene Leopold Gröbner und Helmuth Bachmann. - 6 Wegen seiner Mitarbeit am Argentinischen Tageblatt wurde Peter Bussemeyer bereits 1935 ausgebürgert. Vgl. die Ausbürgerungsakte im Politischen Archiv des AA, Inland II A/B, Bd. 128/1, Az: 83:76, Ausbürgerungen 4. Liste, A - G , Vorgang Bussemeyer, Friedrich Peter. Vermutlich stammen einige Stellungnahmen zu

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Exilkontroversen, in denen ein KPD-naher Standpunkt deutlich wird, von ihm. - 7 Erst ein vollständiges Autorenverzeichnis könnte die Bedeutung des Argentinischen Tageblatts als Sprachrohr und Diskussionsforum für die deutschen Emigranten im südlichen Lateinamerika dokumentieren. Gedichte veröffentlichten Max Barth, Schalom Ben-Chorin, Max HerrmannNeisse, Mascha Kaliko, Hans J. Reinowski, Alfred Wolfenstein; von den in Argentinien ansässigen Schriftstellern u.a. Werner Bock, Paul Zech und Hans Jahn. - 8 Einem On-dit zufolge sagte einmal einer der Herausgeber des Blattes, daß eine Auslandszeitung nicht zuletzt von der Schere - d.h. vom Ausschneiden von Artikeln aus anderen Zeitungen - leben müsse. - 9 AW, 7.1.1933, LV, 2966, S. 5. - 10 AW, 21.1.1933, LV, 2968, S. 47. - 11 AW, 4.2.1933, LV, 2970, S. 54. - 12 AW, 4.2.1933, LV, 2970, S. 17 f. - 13 AW, 1.4.1933, LV, 2978, S. 45. - 14 AW, 1.4.1933, LV, 2978, S. 46. - 15 AW, 7.7.1934, LVI, 3044, S. 18 f. - 16 AW, 14.7.1934, LVI, 3045, S. 17. - 17 Zu den Erschießungen des 30. Juni schrieb z.B. Hermann Budzislawski, der Herausgeber der Neuen Weltbühne, daß das »Uebergangskabinett Hitler« vom Nationalsozialismus gereinigt worden sei. »Hitler wird regieren, wenn er brav pariert und bis der Rest seines Ruhms dahin ist. Also eine begrenzte Zeit und jedenfalls nicht Jahre. Dieselben Kräfte, in deren Auftrag Brüning, Papen und Schleicher Reichskanzler spielten, können ihn jederzeit stürzen (...). Konservativer Faschismus, das ist die Perspektive für die nächste Zeit.« (3. Jg., Nr. 27 (5.7.1934), S. 830 ff.; vgl. H.-A. Walter Deutsche Exilliteratur. Bd. 7: Deutsche Exilpresse I. Darmstadt/Neuwied 1974, S. 57. - 18 AW, 95.1936, LVIII, 3140, S. 20. - 19 AW, 16.5.1936, LVIII, 3141, S. 18. - 20 AW, 4.7.1936, LVIII, 3148, S. 19 f. - 21 AW, 5.12.1936, LVIII, 3170, S. 55. - 22 AW, 10.2.1934, LVI, 3023, S. 49. - 23 AW, 10.3.1934, LVI, 3027, S. 45. 24 AW, 26.5.1934, LVI, 3038, S. 20. - 25 AW, 15.12.1934, LVI, 3067, S. 45. - 26 AW, 9.3.1935, LVII, 3079, S. 57. - 27 AW, 30.10.1937, LIX, 3217, S. 18 f.; AW, 1.1.1938, LX, 3226, S. 19 f. - 28 AW, 4.2.1937, LIX, 3222, S. 19 f. - 29 War die These von der durch zunehmende wirtschaftliche Verelendung der Bevölkerung wachsenden revolutionären Stimmung im »Dritten Reich« eine ideologisch begründete Fehleinschätzung bzw. exilspezifisches Wunschdenken, so hatte in anderer Hinsicht die Ansicht der Zeitung, eine feste Haltung der Westmächte werde das »Dritte Reich« in große innere Schwierigkeiten stürzen, durchaus eine reale Grundlage: Die Geschichte des innerdeutschen Widerstands zeigt, daß die unerwarteten außenpolitischen Erfolge Hitlers, die er der Nachgiebigkeit der Westmächte verdankte, eine Formierung der Opposition erschwerten - eklatant war dies der Fall beim englischfranzösischen Nachgeben in der Sudetenkrise 1938; eine schwere außenpolitische Niederlage hätte günstigere politische und psychologische Voraussetzungen für einen Sturz Hitlers geschaffen. - 30 AW, 23.10.1937, LIX, 3216, S. 20; AW, 28.5.1938, LX, 3247, S. 17; AW, 17.7.1937, LIX, 3202, S. 19 f. - 31 AW, 26.2.1938, LX, 3234, S. 53. - 32 AW, 5.3.1938, LX, 3235, S. 20. - 33 AW, 23.4.1938, LX, 3242, S. 20. - 34 AW,24.9.1938, LX, 3264, S. 17. 35 AW, 24.9.1938, LX, 3264, S. 55. - 36 AW, 24.9.1938, LX, 3264, S. 57. - 37 AW, 1.10.1938, LX, 3265, S. 18. - 38 AW, 5.11.1938, LX, 3270, S. 1. - 39 AW, 5.11.1938, LX, 3270, S. 49. - 40 AW, 12.11.1938, LX, 3271, S. 20. - 41 AW, 25.3.1939, LXI, 3290, S. 1. - 42 AW, 3.12.1938, LX, 3274, S. 18. - 43 AW, 12.11.1938, LX, 3271, S. 18. - 44 AW, 14.1.1939, LXI, 3280, S. 2. - 45 AW, 25.3.1939, LXI, 3290, S. 1; zum folgenden vgl. auch AW, 8.4.1939, LXI, 3292, S. 1 und S. 2. - 46 AW, 29.4.1939, LXI, 3295, S. 1. Das AW polemisierte gegen die im konservativen Bürgertum verbreitete Anschauung, daß der NS gegenüber dem Bolschewismus das kleinere Übel sei. - 47 AW, 13.5.1939, LXI, 3297, S. 2. - 48 AW, 29.7.1939, LXI, 3308, S. 1. - 49 AW, 26.8.1939, LXI, 3312, S. 5. - 50 Zur Diskussion um die englische Appeasementpolitik vgl. u.a. Gottfried Niedhart: Großbritannien und die Sowjetunion, 1934-1939. München 1972. - 51 AW, 19.8.1939, LXI, 3311, S. 1. - 52 AW, 9.9.1939, LXI, 3314, S. 1. - 53 AW, 11.3.1933, LV, 2975, S. 18. - 54 AW, 9.5.1936, LVIII, 3140, S. 19 f. - 55 AW, 23.12.1933, LV, 3016, S. 59. - 56 AW, 26.5.1934, LVI, 3038, S. 47. - 57 AW, 29.9.1934, LVI, 3056, S. 46. - 58 Vgl. u.a. die Komintern-Zeitschriften Kommunistische Internationale und Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung, in denen vor allem während der ersten Jahre der NS-Diktatur immer wieder die Rede ist von den »Anzeichen« und »Belegen« für ein Anwachsen der revolutionären Stimmung in Deutschland. Ähnliche Thesen werden auch in der Neuen Weltbühne unter Hermann Budzislawski vertreten. Zur Einschätzung der Situation im Neuen Tage-Buch vgl. L. Maas: »Verstrickt in die Totentänze einer Welt«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 2. München 1984, S. 56-85. - 59 AW, 13.5.1933, LV, 2984, S. 46. - 60 AW, 12.5.1934, LVI, 3036, S. 44. - 61 Vgl. u.a. AW, 2.5.1936, LVIII, 3139, S. 20; AW, 16.1.1937, LIX, 3176, S. 19 f. - 62 AW, 2.9.1939, LXI, 3313, S. 4. - 63 AW, 5.10.1935, LVII, 3109, S. 19 f. - 64 Die Paradoxie der These findet ihre Parallele in der in den sechziger Jahren von Ralf Dahrendorf formulierten These von

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der Modernisierung wider Willen, die das »Dritte Reich« in der deutschen Gesellschaft bewirkt habe. - 65 AW, 22.6.1936, LVIII, 3129, S. 17. - 66 Eine merkwürdige »Entgleisung« war der 193S erfolgte Aufruf zur Sammlung der Opposition gegen Hitler unter der »Schwarzen Front« Otto Strassers. Der Aufruf erntete reichlich Kritik u.a. von Paul Zech, der einen flammenden Gegenaufruf »Halte wach den Hass! Eine Absage an die >Schwarze FrontKulturUnglück< und kein Schicksal, sie ist eine politische, kulturelle Aufgabe unter besonderen Verhältnissen, zu deren Erfüllung Haltung, Hingabe und Einsatzbereitschaft vorausgesetzt werden muß.«70 Die Mitarbeiter der Deutschen Freiheitsbibliothek, ob Schriftsteller oder politische Funktionäre, haben solche Einsatzbereitschaft gezeigt. Sie haben für fünf schwere Jahre »dem verbrannten Buch eine würdige Stätte« geschaffen. In der kleinen Schrift von Wolf Franck Führer durch die deutsche Emigration steht auf Seite 53 über die Bibliothek: »In ihr wird gelesen, nicht geschmökert, in ihr wird diskutiert, nicht geschwatzt, in ihr wird gearbeitet, nicht für totes Papier, sondern für den lebendigen Kampf. Sie ist das Symbol dafür, daß das Wort und der Gedanke die vornehmsten Waffen der deutschen Emigration sind.«71 Das mag als ein schönes, vielleicht etwas zu pathetisches, gewiß aber ehrliches Urteil eines Zeitgenossen am Ende dieser Skizze stehen. Das letzte Wort war es noch nicht.

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Dieter Schiller

Vortrag im Centre Culturel de la République Démocratique Allemande, Paris, am 24. Februar 1984. - Ich danke dem Zentralen Staatsarchiv Potsdam für die freundliche Unterstützung meiner Arbeit. Ich danke ferner der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main, Abteilung Exilliteratur, für die Möglichkeit, ihre Bestände zu nutzen, Frau Ursula Tschesno-Hell, Berlin, für Auskünfte über die Tätigkeit von Michael Tschesno-Hell und Frau Dagmar Wünsche, Berlin (West), für die Erlaubnis, aus einem unveröffentlichten Manuskript über die Deutsche Freiheitsbibliothek zu zitieren. 1 Was jeder Besucher von Paris und der Internationalen Ausstellung 1937wissen muß. Wegweiser durch die Internationale Ausstellung, o.O., o J . (1937). - 2 Völkischer Beobachter (Norddeutsche Ausgabe), 47. Jg., 19.5.1934, Nr. 139. - 3 Ebd. - 4 Mitteilung von Ursula Tschesno-Hell. - S Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror. Basel 1933, Reprint Berlin 1980. 6 Nazi fuhrer sehen dich an. 33 Biographien aus dem Dritten Reich. Paris 1935, S. 8. - 7 Alexander Abusch: Der Deckname. Memoiren. Berlin 1981, S. 348. - 8 Gegen-Angriff 1. Jg., 10.12.1933, Nr. 21. - 9 Pariser Tageblatt, 1. Jg., 16.1.1934, Nr. 36. - 10 Alfred Kantorowicz: Politik und Literatur im Exil. Deutschsprachige Schriftsteller im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Hamburg 1978, S. 272. - 11 Neue Deutsche Blätter, 1. Jg., 1.5.1934, Nr. 8, S. 518. - 12 Pariser Tageblatt, 1. Jg., 24.2.1934, Nr. 74. - 13 Neue Deutsche Blätter, 1. Jg., 1.5.1934, Nr. 8, S. 518. - 14 Interview des Manchester Guardian mit Alfred Kantorowicz am 11.5.1934. In: Dagmar Wünsche: Zur Geschichte der Deutschen Freiheitsbibliothek in Paris. Unveröffentlichtes Manuskript. - 15 Neue Weltbühne, 3. Jg., 8.2.1934, Nr. 6. - 16 Gegen-Angriff, 2. Jg., 20.5.1934, Nr. 20. - 17 Max Schröder Von hier und heute aus. Berlin 1957, S. 265. - 18 Pariser Tageblatt, 1. Jg., 11.5.1934, Nr. 50. - 19 Gegen-Angriff, 2. Jg., 20.5.1934, Nr. 20. - 20 Gegen-Angriff, 2. Jg., 13.5.1934, Nr. 19. - 21 Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror (wie Anm. 5), S. 146. - 22 Pariser Tageblatt, 2. Jg., 9.8.1935, Nr. 605. - 23 Neue Weltbühne, 3. Jg., 173.1934, Nr. 20, S. 624. - 24 Kantorowicz: Politik und Literatur im Exil (wie Anm. 10), S. 272. 25 Ebd. - 26 Pariser Tageblatt, 1. Jg., 1.6.1934, Nr. 171. - 27 Neue Weltbühne, 3. Jg., 12.6.1934, Nr. 25, S. 796. - 28 Pariser Tageblatt, 1. Jg., 27.8.1934, Nr. 258. - 29 Deutsche Volkszeitung, 1. Jg., 27.12.1936, Nr. 4 1 . - 3 0 Weissbuch über die Erschießungen des 30. Juni 1934. Authentische Darstellung der dt. Bartholomäusnacht. Paris 1934, Moskau 1935; Das braune Netz. Wie Hitlers Agenten im Auslande arbeiten. Paris 1935; Spione und Verschwörer in Spanien. Nach offiziellen nationalsozialistischen Dokumenten. Prag 1936. - 31 Wünsche: Zur Geschichte der Deutschen Freiheitsbibliothek in Paris (wie Anm. 14). - 32 Gegen-Angriff, 2. Jg., 20.5.1934, Nr. 20. 33 Pariser Tageblatt, 1. Jg., 30.7.1934, Nr. 230. - 34 Das Wort, 2. Jg. 1938, Heft 12, S. 65. - 35 Deutschland vom Feinde besetzt. Die Wahrheit über das Dritte Reich. Zusammengest, und hg. vom Internationalen Antifaschistischen Archiv. Paris 1935. - 36 Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles. Berlin 1929. - 37 Heinrich Mann: Vorwort. In: Deutschland vom Feinde besetzt. Die Wahrheit über das Dritte Reich (wie Anm. 35), S. 7. 38 Pariser Tageblatt, 2. Jg., 8.5.1935, Nr. 512. - 39 Der gelbe Fleck. Die Ausrottung von 500 000 deutschen Juden. Paris 1936. - 40 Maximilian Scheer: Das deutsche Volk klagt an. Paris 1936; Ders.: Blut und Ehre. Paris 1937. - 41 Pariser Tageblatt, 2. Jg., 9.5.1935, Nr. 513. - 42 Der Band erschien Ende Juni 1935 in Paris als Deutsch für Deutsche. Miniaturbibliothek Nr. 481/483. Leipzig, Verlag für Kunst und Wissenschaft. Vgl. dazu Dieter Schiller »>Deutsch für Deutschem Zur Anthologie des Schutzveibandes Deutscher Schriftsteller im Exil«. In: Weimarer Beiträge, Sonderdruck Heft 6 / 1985, S. 942-965. - 43 Mitteilungen der Deutschen Freiheitsbibliothek Paris. Präsident: Heinrich Mann, Paris. Erschienen von April 1935 bis Januar 1937, ab 1.8.1936 unter dem Titel: Das freie Deutschland. Mitteilungen der Deutschen Freiheitsbibliothek. - 44 Vgl. dazu Wolfgang Klein: Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Berlin 1982. - 45 Künstler und Künste im antifaschistischen Kampf 1933-1945. Hg. vom Kulturbund der DDR. Berlin/DDR 1983, S. 77. - 46 Heinrich Mann: »Die große Neuheit« (S. 4-6); Ders.: »Es kommt der Tag« (S. 25); Lion Feuchtwanger »Für eine Weltaktion« (S. 46-47); Emil Ludwig: »Volksfront in New York« (S. 47); Ernst Toller. »Mahnung« (S. 48). In: Eine Aufgabe. Die Schaffung der deutschen Volksfront. Hg. von der Deutschen Freiheitsbibliothek (1936); weiterhin: Heinrich Mann: »Adresse zum gemeinsamen Aufruf anläßlich der Hinrichtung des Kommunisten Rudolf Claus«; Ders.: »Es kommt der Tag«. In: Mitteilungen der Deutschen Freiheitsbibliothek, Nr. 10, Februar 1936; Heinrich Mann: »Seid einig, einig, einig«. In: Mitteilungen der Deutschen Freiheitsbibliothek, Nr. 11, März 1936, S. 6-7; Heinrich Mann: »Zur Freiheit«. In: Das freie Deutschland. Mitteilungen der Deutschen Freiheitsbibliothek, Nr. 15, Januar 1937, S. 8-12; »Was will die deutsche Volksfront. Rede von Heinrich Mann auf der Tagung des Ausschusses zur Vorbereitung der deutschen Volksfront am 10. und 11. April 1937«. Hg. als Sondernummer von Das freie Deutschland. Mitteilungen

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der Deutschen Freiheitsbibliothek; »Antwort an viele von Heinrich Mann«. Hg. als Sondernummer von Das freie Deutschland. Mitteilungen der Deutschen Freiheitsbibliothek. Paris 1938. 47 »Wir wollen helfen. Der bürgerliche Schriftsteller und die Frage der Volksfront«. In: Das freie Deutschland. Mitteilungen der Deutschen Freiheitsbibliothek, Nr. 13, 1.8.1936, S. 24-29. 48 Eine Aufgabe. Die Schaffung der deutschen Volksfront. Hg. von der Deutschen Freiheitsbibliothek. Präsident: Heinrich Mann, Paris 1936. - 49 »Wir wollen helfen« (wie Anm. 47), S. 28. - SO Ebd., S. 29. - 51 Das freie Deutschtand. Mitteilungen der Deutschen Freiheitsbibliothek, Nr. 13, 1.8.1936. In der Vorbemerkung heißt es dazu: »Die Mitteilungen der Deutschen Freiheitsbibliothek haben in ihrer neuen, gedruckten Form stärkste Interessen gefunden. Aus den meisten europäischen Ländern, aus Nord- und Südamerika sind uns Bestellungen von Freunden eines freiheitlichen Deutschland zugegangen, so daß die Auflage der Nummer 12 rasch vergriffen war und nicht alle Bestellungen ausgeführt werden konnten. Wir danken allen Freunden für ihre Hilfe und bitten sie, uns auch weiterhin in unserem Kampf gegen Hitler, für die Schaffung einer deutschen Einheits- und Volksfront zu unterstützen. Der Titel der Mitteilungen ist geändert worden.« - 52 Kantorowicz: Politik und Literatur im Exil (wie Anm. 10), S. 279. - 53 Pariser Tageblatt, 2. Jg., 5.6.1935, Nr. 540. - 54 Pariser Tageblatt, 2. Jg., 1.7.1935, Nr. 566. - 55 Deutsche Volkszeitung, 1. Jg., 22.11.1936, Nr. 3 6 . - 5 6 Deutsche Volkszeitung, 2. Jg., 31.1.1937, Nr. 5. - 57 Das Wort, 2. Jg. 1937, Nr. 1, S. 102. - 58 Ebd. - 59 Deutsche Volkszeitung, 2. Jg., 4.7.1937, Nr. 27. - 60 Vgl. Anm. 1 . - 6 1 Deutsche Volkszeitung, 2. Jg., 13.6.1937, Nr. 24. - «2 Das Wort, 3. Jg. 1938, Nr. 2, S. 152. - «3 Maximilian Scheer: So war es in Paris. Berlin 21972, S. 174. - 64 Deutsche Volkszeitung, 2. Jg., 13.6.1937, Nr. 24. - 65 Maximilian Scheer So war es in Paris. Berlin 1964, S. 173/174. - 66 Lion Feuchtwanger »Das deutsche Buch in der Emigration«. In: Escher Tageblatt, Luxemburg 10.7.1937, zitiert nach Wünsche: Zur Geschichte der Deutschen Freiheitsbibliothek in Paris (wie Anm. 14). 67 Scheer: So war es in Paris (wie Anm. 66), S. 184. - 68 Deutsche Volkszeitung, 2. Jg., 4.7.1937, Nr. 27. - 69 Bruno Frei: »Zur Verteidigung des proletarischen Erbes. Die Ausstellung >Das deutsche Buch in Paris 1837-1937««. In: Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung, Basel 1937, Nr. 32, S. 1156. - 70 Deutsche Volkszeitung, 2. Jg., 18.7.1937, Nr. 29. 71 Wolf Franck: Führer durch die deutsche Emigration. Paris 1935, S. 53.

Herbert Loebl

Das Refugee Industries Committee Eine wenig bekannte britische Hilfsorganisation

Die Hauptorganisationen, die in Großbritannien zur Hilfeleistung für Flüchtlinge vor der Nazi-Herrschaft gegründet wurden, sind in einer Reihe von Arbeiten dargestellt worden.1 Der vorletzte Band dieses Jahrbuchs enthielt einen Beitrag über eine kleinere Organisation, den Academic Assistance Council. Das weithin unbekannte Komitee, das hier vorgestellt werden soll, unterstützte ebenfalls eine relativ kleine Gruppe von Flüchtlingen: die Fabrikanten. Da Aufgaben und Arbeit des Komitees nicht beschrieben werden können, ohne Probleme zu berühren, denen alle Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich vor, während und unmittelbar nach dem letzten Krieg gegenüberstanden, dürfte dieser Beitrag von breiterem Interesse sein. Sherman2 hat gezeigt, daß die britische Flüchtlingspolitik mindestens bis zur deutschen Annexion Österreichs, vielleicht sogar bis zu den Ereignissen des 10. November 1938, sehr restriktiv war. Im Rahmen dieser Politik wurden aber immerhin schon seit Beginn der Nazi-Herrschaft eine kleine Zahl von Flüchtlingen aufgenommen, die die Absicht hatten, Produktionsfirmen aufzubauen. Seit Juli 1935 wurden einzelne ausländische Industrielle wohlgemerkt, im Unterschied zu den immer willkommenen ausländischen Firmen - von der Regierung, wenn auch indirekt, eingeladen, Fabriken in Bezirken mit hoher Arbeitslosigkeit zu gründen.3 Die Unterscheidung zwischen ausländischen Gesellschaften, die zur Umgehung der in den frühen dreißiger Jahren errichteten Zollschranken in Großbritannien Fabriken anlegten, und den von Exilierten beabsichtigten Gründungen ist wichtig. Selbst wenn etwa Direktoren und Führungskräfte ausländischer Gesellschaften genötigt waren, ihren Wohnsitz in Großbritannien zu nehmen, besaßen sie doch Pässe anderer Länder, in die sie jederzeit zurückkehren konnten. Flüchtlinge hingegen konnten das nicht, oder zumindest nicht in absehbarer Zeit. Sie waren daher der ganzen Strenge der britischen Einwanderungsgesetzgebung unterworfen. Die Anzahl der vor dem Krieg von Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich gegründeten Betriebe läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Am 9. September 1938 berichtete das britische Innenministerium, daß »185 factories have been established by aliens - mainly refugees, between April 1935 and July 1938«4, wohingegen der Arbeitsminister am 4. August 1939 eine weit geringere Zahl nannte, die zudem für eine längere Zeitspanne

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angesetzt worden war: 49 aus Deutschland und 8 aus Österreich im Zeitraum von 1933 bis 1939.5 Der Minister wies allerdings darauf hin, daß die Statistiken des Arbeitsministeriums die Betriebe mit weniger als 25 Beschäftigten nicht berücksichtigten. Zumal die meisten von Flüchtlingen gegründeten Betriebe erst kurze Zeit existierten, war es nur in relativ wenigen Fällen zu erwarten, daß sie in den Statistiken erfaßt wurden. Den Flüchtlingsbetrieben sollte später vor allem in bestimmten Krisengebieten Großbritanniens einige Bedeutung zukommen. Die wirtschaftlichen Probleme dieser Regionen - und die damit verbundene große Arbeitslosigkeit - resultierten aus dem Zusammentreffen zweier Krisen: zum einen aus der weltweiten Depression nach dem Börsenkrach an der Wall Street 1929, zum anderen aus dem strukturellen Niedergang der traditionellen Schwer-, das heißt Export-Industrien. Diese Probleme wurden zwar recht häufig im Parlament und in der Presse diskutiert, doch waren ihr Ausmaß und ihre Komplexität so einzigartig in der britischen Industriegeschichte, daß die Regierungen ihnen anscheinend hilflos gegenüberstanden. Es wurde zwar erkannt, daß die Krisengebiete neue Arten von Industrien benötigten, aber es gab zunächst keine praktischen Vorschläge, wie dies in die Wege zu leiten sei. Wenn die Regierung auch große Anstrengungen unternahm, um einheimische Industrielle zum Bau oder zur Übernahme von Fabriken in den wirtschaftlich besonders belasteten Gebieten - und anderen Orten mit hoher Arbeitslosigkeit - zu bewegen, so war doch eine interventionistische Politik zur Förderung von bestimmten Industriestandorten in den frühen dreißiger Jahren politisch noch unvorstellbar. Da britische Untemehmner zudem nicht davon überzeugt waren, daß jene Regionen mit ihren traditionell schwerindustriellen Strukturen für neuere Leicht- und Fertigwarenindustrien geeignet sein würden - ganz abgesehen von der Lage der meisten der betroffenen Regionen an der Peripherie des Landes - , ignorierten sie die dringenden Appelle der Regierung und expandierten statt dessen weiterhin in anderen Teilen des Landes, vornehmlich im Großraum London.6 Angesichts der dramatischen Lage - obwohl der Höhepunkt der Krise bereits überschritten war - begann die Regierung Ende 1934 mit dem ersten sogenannten Special Areas Act initiativ zu werden. Das Gesetz nannte verschiedene Gebiete in England, Wales sowie in Schottland (die keineswegs alle Krisenregionen einschlössen), in denen spezielle, aber begrenzte Hilfe gewährt werden sollte. Mit der Verwaltung der im Gesetz vorgesehenen Finanzierung von zusätzlichen sozialen Maßnahmen, von Verbesserungen in der Infrastruktur wie auch der industriellen Ansiedlungspolitik wurden zwei von der Regierung eingesetzte Kommissare betraut - bekannte Industrielle, die ohne Bezahlung arbeiteten. Das Gesetz schloß jedoch zu dieser Zeit noch jegliche direkten oder indirekten finanziellen Hilfen an private Firmen aus. Im Rahmen dieser Beschränkungen wurden die Kommissare von der Regierung allerdings ermutigt zu experimentieren und neue Wege zu suchen, um die Krisengebiete attraktiver für die Industrieansiedlung zu gestalten.

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Das folgenreichste Ergebnis der Gesetzgebung von 1934 war der zwar im Gesetz nicht vorgesehene, aber doch vom Special Areas Fund finanzierte Bau von überwiegend kleinen Fabrikanlagen in drei speziellen Industrieparks durch eigens zu diesem Zweck gegründete Gesellschaften; jene sollten zur Anmietung zur Verfügung stehen.7 Erst der Special Areas Amendment Act von 1937 ermächtigte die Kommissare, in besonders betroffenen Orten Einzel- oder kleine Gruppen von Fabriken direkt bauen zu lassen. In seinem Bericht vom 17. Februar 1936 sprach der Kommissar für die Special Areas of England & Wales erstmalig von Personen, die »owing to (...) unsettled conditions abroad« erwägen könnten, in Großbritannien Produktionsstätten zu gründen, und er bekräftigte, daß er seinen Einfluß geltend machen werde, sie für einen Industriepark in einer Special Area anzuwerben.8 Bevor noch die ersten staatlich finanzierten Fabrikanlagen etwa um die Mitte 1937 zur Verfügung standen, führte die weiterhin negative Einstellung der britischen Firmen zu den Special Areas dazu, daß auch die zuständigen Ministerien ihre allgemein restriktive Haltung gegenüber den Flüchtlingen zu überdenken begannen. Statt, wie bis dahin, lediglich auf Anträge zur Aufnahme von im »Dritten Reich« bedrohten Industriellen zu reagieren, begann das Innenministerium nun darüber nachzudenken, wie solche Anträge im Interesse der Special Areas gefördert werden könnten.9 Aus diesen Überlegungen entstand dann ein neues Einreiseverfahren für asylsuchende Industrielle, das auch die Kommissare für die Special Areas, und durch sie die Industriepark-Gesellschaften, mit einbezog.10 Diese Gesellschaften - wie auch die örtlichen und regionalen entwicklungsfördernden Gremien - entsandten fortan Unterhändler in die Länder Europas, in denen Menschen, hauptsächlich Juden, von den Nazis oder noch unabhängigen, aber quasi-faschistischen Regierungen bedroht waren. Sie hatten den Auftrag, Unternehmer unter den potentiellen Flüchtlingen ausfindig zu machen und diese dazu zu bewegen, sich in einer der Special Areas von England, Wales, Schottland oder in Nord-Irland niederzulassen. Auch die britischen diplomatischen Vertretungen in Europa wirkten bei der Suche mit. Die Einzelheiten dieser Anwerbung für die Special Areas in Nordengland sind vom Verfasser an anderer Stelle dargestellt worden.11 Schon vom Sommer 1936 an waren die Strategien der Einwanderungspolitik gegenüber Unternehmern differenziert worden. Denjenigen, die bereit waren, sich in einem Krisengebiet niederzulassen - also nicht nur in den Special Areas mit ihren Vorteilen für kapitalschwache Flüchtlinge wurde vergleichsweise schnell die Einreiseerlaubnis erteilt. Dagegen wurde jenen, die auf einen Standort in oder um London Wert legten, mitgeteilt, daß das Einreiseverfahren sehr langwierig sein könnte.12 Asylsuchende Industrielle, die bis ungefähr Anfang 1937 die Erlaubnis zur Niederlassung und Unternehmensgründung erbaten, konnten ihre Standorte noch relativ frei wählen. Die Tatsache, daß diese Flüchtlinge wenigstens noch einen Teil ihrer Vermögen mitbringen konnten, stärkte natürlich ihre Verhandlungsposition gegenüber den Behörden. Die meisten von diesen

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Unternehmern scheinen sich - aus guten Gründen - für einen Standort in oder in der Nähe von London entschieden zu haben.13 Aber von dem Moment an, als Mietfabriken in den Industrieparks der Special Areas zur Verfügung standen, verschärfte sich der Druck des Innenministeriums. Und da es für Juden bald eine Überlebensfrage werden sollte, so schnell wie möglich aus dem »Dritten Reich« und einigen angrenzenden Ländern zu fliehen - unabhängig davon, ob sie irgendwelche Vermögen retten konnten - , überrascht es nicht, daß diese Neuankömmlinge bereit waren, in den Special Areas und anderen Krisengebieten zu siedeln, obwohl sicher nur wenige dorthin gegangen wären, wenn sie die Freiheit der Wahl gehabt hätten.14 Der Erfolg dieser Politik geht aus Angaben von Sir Samuel Hoare, dem Innenminister, im Februar 1939 hervor: Von den etwa 300 bis dahin in Großbritannien von Flüchtlingen gegründeten Betrieben hätten sich 200 in den Krisengebieten angesiedelt.15 Es ist möglich, daß die Ziffern auch Unternehmer einbezogen, die zwar Fabriken in den Special Areas und anderswo gepachtet hatten, aber noch nicht in Großbritannien angekommen waren. Wie schon angedeutet, sind zuverlässige Daten nicht vorhanden; da aber die große Mehrheit der Flüchtlinge in Großbritannien erst in den sechs Monaten vor Kriegsausbruch eintraf16, ist anzunehmen, daß die von Sir Samuel Hoare genannte Anzahl von Flüchtlingsbetrieben, und vor allem deren Anteil in den Krisengebieten, sich noch weiter erhöhte, besonders auch deshalb, weil Flüchtlingen die Erlaubnis zur Eröffnung von Firmen im Großraum London spätestens seit Anfang 1939 nur noch in Ausnahmefällen gewährt wurde. Angesichts der allgemein unverändert negativen Haltung der britischen Unternehmer wurde schließlich ein großer Teil der staatlichen Fabrikanlagen in den Special Areas von kleinen örtlichen Neugründungen oder dort expandierenden Firmen und von Flüchtlingen genutzt. Im ersten - und größten - vom Staat finanzierten Industriepark, im Team Valley, Gateshead on Tyne, stellten beispielsweise die 21 von Flüchtlingen gegründeten Firmen 27 % aller Pachtbetriebe dar, obwohl sie anfänglich nur etwa 11 % des Fabrikraums nutzten.17 Etwa 15 weitere - wahrscheinlich jüdische Unternehmer vom Kontinent hatten offenbar in den letzten Monaten vor Kriegsausbruch Vorverträge zur Pacht von Fabriken im Team Valley abgeschlossen, konnten aber nicht mehr vor Schließung der Grenzen am 3. September 1939 ankommen.18 Die Einführung von Leichtindustrien durch Flüchtlinge in Gebieten ohne jegliche Tradition dafür bewies, daß das Arbeitskräftepotential anpassungsfähig war, daß die unterstützenden Dienstleistungen bzw. die Infrastruktur angemessen waren und daß die Entfernungen zu den wichtigsten Binnenmärkten kein großes Hindernis darstellten. Fogarty19 glaubt, daß die ersten positiven Erfahrungen dieser neuen Industrien in den Special Areas eine notwendige Demonstration darstellten, die die in der britischen Industrie vorherrschende negative Haltung gegen eine Ansiedlung in solchen Gebieten

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allmählich veränderte. Flüchtlinge waren somit unter den wenigen, die denjenigen industriellen Sektor Großbritanniens prägten, von dem dann in der Nachkriegszeit die Umstrukturierung der alten Schwerindustrie-Gebiete ausgehen sollte. Die Einstellung der Briten gegenüber den exilierten Fabrikanten blieb jedoch zwiespältig: einerseits begrüßten die Regierung, die IndustrieparkGesellschaften und die »development agencies< in den Special Areas und anderen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit alle neuen Beschäftigungsangebote, von welcher Seite auch immer. Darüber hinaus war die Regierung angesichts des bevorstehenden Krieges bemüht, gewisse Lücken im Güterangebot zu verringern. Allein schon aus diesem Grund hofierte man die Flüchtlinge, die vielfach in England bis dahin nicht hergestellte Produkte sowie einige dort unbekannte Produktionsverfahren mitbrachten. Aus dem gleichen Grund waren auch einzelne britische Anleger bereit, Geschäftsanteile an den von Flüchtlingen gegründeten Unternehmen zu erwerben. Als typisches Beispiel für diese positive Haltung liest sich eine Rede vom Präsidenten des Cumberland Development Council, die in der West Cumberland News vom 18. Februar 1939 wiedergegeben wurde. Die Zeitung erschien in Whitehaven, einer kleinen Hafenstadt in einem Krisengebiet an der Westküste der Nord-Region. Der Präsident begrüßte die Zuwanderung der Flüchtlinge und sagte: »we benefit, as we did when the Hugenots were forced out of France.« »It is significant«, so fuhr er fort, »that when unemployment is increasing again, there should be this wave of refugees, victims of persecution, ready to repay in kind the shelter offered to them.« Andererseits gab es aber auch in einigen Industriezweigen britische Unternehmer, die die Konkurrenz der Neuankömmlinge fürchteten, besonders in einer Zeit, da sich die Wirtschaft noch nicht völlig von der Rezession erholt hatte. Ein Beispiel für eine solche eher negative Haltung lieferte die schottische Strickwarenindustrie, als sie den Labour-Abgeordneten D. Kirkwood, der einen schottischen Wahlbezirk vertrat, veranlaßte, am 28. März 1939 im Unterhaus an den Arbeitsminister die folgende Frage zu richten: »Is he aware that Great Northern Knitwear Ltd, a German-Jewish firm, had a factory built for them at Percy Main near North Shields by the Commissioner for the Special Areas and that a permit has been issued for an Austrian expert to train local workers; and why, in view of the difficulty experienced by the Scottish hosiery manufacturers in keeping their factories working at full time, has a foreign firm been given these facilities under the Special Areas Act?«20 Es dürfte weder Kirkwood noch der schottischen Strickwarenindustrie bekannt gewesen sein, daß die Genehmigung für Projekte von Ausländern erst gegeben wurde, nachdem das Handelsministerium geprüft hatte, daß daraus keine zusätzliche Konkurrenz für britische Unternehmen entstehen würde, das heißt es mußte für das vorgeschlagene Produkt noch Raum auf dem Markt sein. Der Minister erwiderte auf die Anfrage von Kirkwood: »I understand that

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the firm proposes to manufacture knitted goods of continental design for the export trade and that their products will not compete with those of existing British hosiery manufacturers (...).«21 Diese vorsichtige Antwort mag die schottische Strickwaren-Lobby beruhigt haben, sie wich jedoch der grundsätzlichen Frage aus. Das wird beispielsweise deutlich, als die in North Shields - eben jenem in der Tyneside gelegenem Ort, in der die besagte Strickwarenfabrik neu errichtet worden war - erscheinenden Evening News das Problem ganz direkt ansprachen. In einem Leitartikel vom 28. März 1939 hieß es etwa: »The obvious answer (auf die Kirkwood-Anfrage im Parlament, Anm. d. Verf.) is that there is a crying need for new trade and if no English firm comes forward with an offer to supply it, it is only common sense to welcome the offer (...). That Scottish firms may not be injured by the competition, if any, will be the hope of everyone. But there would be little hope of new industries being established anywhere if the existence of similar industries in one part of the country or another were to be a barrier against new entrants.« Die parlamentarischen Anfragen zur Flüchtlingsfrage mit einer mehr oder weniger fremdenfeindlichen oder gar antisemitischen Tendenz waren zwischen 1933 und 1939 gar nicht so selten, was offenbar auf eine entsprechende Strömung in der öffentlichen Meinung hindeutete. Der Hinweis auf eine »German-Jewish firm« war vielleicht von Kirkwoods Auftraggebern beabsichtigt gewesen; es sei fairerweise darauf hingewiesen, daß Kirkwood, ein Gewerkschaftsführer, mindestens eine Anfrage eingebracht hatte, mit der er die Absicht verfolgte, Juden zu schützen. In diesem zwiespältigen politischen Klima wurde im Juli 1939 das Refugee Industries Committee in einem Sitzungssaal des britischen Unterhauses ins Leben gerufen. 22 Während die meisten Flüchtlingshilfe-Organisationen bald nach Beginn oder jedenfalls in den ersten Jahren der Nazi-Herrschaft aufgebaut wurden, wurde das Refugee Industries Committee also recht spät gegründet, und zwar zu der Zeit, als die meisten der Flüchtlinge, die in Großbritannien Asyl finden sollten, bereits angekommen waren. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten prominente Parlamentarier und ehemalige Kabinettsminister: Viscount Cecil of Chelwood, Alfred Duff Cooper und Sir Arthur Salter. Viscount Chelwood und Duff Cooper waren Konservative, Sir Arthur Salter war ein Unabhängiger. Alle drei hatten der AppeasementPolitik der Regierung kritisch gegenübergestanden. 23 Vorsitzender der Gründungsversammlung war Sir Neil Malcolm, der frühere Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen. An die Anfänge des Komitees erinnerte sich Duff Cooper einige Jahre später: »I remember so well the early suggestion of the formation of this Committee. Those were anxious days before the War, some three years ago now. I remember telling members of the Committee very frankly that, while I was most anxious to give every assistance in my power, I myself did not feel very optimistic about it.«24 Die Gründe für diesen Pessimismus sind nicht ersichtlich; auch nicht, warum Duff Cooper zur Zeit der Gründung angenommen haben könnte, daß die

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Exilunternehmer in der britischen Wirtschaft nur eine unbedeutende Rolle spielen würden. Von den erwähnten Gründungsmitgliedern wurde nur Viscount Cecil Mitglied des Komitees. Wahrscheinlich hielt die bevorstehende oder erwartete Berufung von Salter und Duff Cooper in den Regierungsdienst beide vom Beitritt ab. Die Angaben über die anderen Mitglieder der neuen Hilfsorganisation stützen sich auf den Briefkopf vom Mai 1940.25 Der spätere Sir Arthur Comyns Carr, ein renommierter Anwalt und ehemaliger Abgeordneter der Liberalen, war - und blieb es bis 1947 - Vorsitzender des Komitees. Unter den 21 übrigen Mitgliedern waren 14 Parlamentsmitglieder aus den politischen Hauptparteien; mit einer Ausnahme gehörten sie dem Unterhaus an: vier Konservative, zwei Liberale, sechs Labour-Abgeordnete und zwei Unabhängige, die englische Universitäten repräsentierten. Mindestens zwei von ihnen, Eleanor Rathbone und Victor Cazalet - der Nachkomme einer alten hugenottischen Familie, der später zusammen mit General Sikorsky bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist hatten sich schon mehrere Jahre lang für eine großzügigere Flüchtlingspolitik eingesetzt. Zu den sieben weiteren Mitgliedern zählte je einer der zwei Vizepräsidenten und Schatzmeister der Liberalen Partei, außerdem die Vorsitzenden des Central British Fund forJewish Relief und des Jewish Refugee Committee sowie schließlich ein höherer Staatsbeamter. Die organisatorische Zugehörigkeit der verbleibenden anderen beiden Mitglieder hat sich nicht feststellen lassen. Der starke parlamentarische Einfluß sollte später noch weiter zunehmen. Von den 40 Mitgliedern des Komitees 1947 waren 36 Parlamentarier. Der ursprüngliche Zweck des Komitees zielte darauf, asylsuchenden Unternehmern aus der Tschechoslowakei Hilfe zu leisten. Bald aber erstreckte sich sein Wirkungskreis auf alle Flüchtlingsunternehmer ohne Rücksicht auf ihr Herkunftsland. In einer seiner späteren Publikationen26 wies das Komitee sogar darauf hin, daß seine Unterstützung nicht nur denjenigen Firmen zur Verfügung stehe, welche von Flüchtlingen gegründet wurden und sich in ihrem Besitz befänden, sondern darüber hinaus auch exilierten Industriellen und Spezialisten, die mit britischen Firmen assoziiert seien. Die erste Bezeichnung der Organisation lautete Committee for Development of Refugee Industries, wurde aber bald zu Refugee Industries Committee verkürzt. Da bestimmte Gruppen von Flüchtlingen erst nach Kriegsende Fabriken eröffnen konnten27, setzte das Komitee nach 1945 seine Arbeit noch unter dem alten Namen fort, ab 1947 dann unter der neutraleren Bezeichnung Committee for Development from Overseas. Das Komitee unterhielt einen Generalsekretär, Ernest Cove war der erste, der von einem kleinen Büro in London aus die Geschäfte führte. Nach Aussagen des letzten Generalsekretärs, Dr. R. Munster, wurde das Komitee in den frühen fünfziger Jahren aufgelöst und seine Akten 1956 vernichtet.28

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Aus diesem Grunde ist das Quellenmaterial sehr begrenzt. Wenn es dennoch möglich ist, einen Umriß der Geschichte und Aktivitäten des Komitees zu rekonstruieren, so ist dies dem Umstand zu verdanken, daß 1977 unter dem Dach einer Fabrik, die sich noch im Besitz der Familie eines ehemaligen Flüchtlingsunternehmers befand, verschiedene Unterlagen, Briefe und vor allem die vom Komitee herausgegebenen Newsletters entdeckt wurden. Diese Papiere führten wiederum zu weiteren Informationsquellen. Dem Komitee waren lokale oder regionale Refiigee Industries'Association angegliedert. Die Gründungen dieser Sektionen begannen etwa 1941 und setzten sich noch bis nach Kriegsende fort. Zu denen in den Special Areas in Nordostengland, West Cumberland, Südwales und Südwestschottland kamen weitere in Belfast, Birmingham, Leeds, Leicester, London und Manchester hinzu.29 Die Finanzierung wurde durch jährliche Beiträge zugunsten der lokalen Sektionen sowie auch des Komitees in London gesichert. Die Lage der Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich (und später aus Ungarn) im Großbritannien der Kriegszeit war kompliziert. Mit Kriegsausbruch wurden sie enemy aliens, feindliche Ausländer. Hinzu kam, daß exilierte Unternehmer aller Nationalitäten, wie überhaupt sämtliche Gewerbebetriebe, die erst im Laufe der letzten zwölf Monate vor dem Krieg ihre Produktion aufgenommen hatten, besonderen Einschränkungen gegenüberstanden. So erfolgte beispielsweise die Zuteilung von Material für nicht kriegswichtige Güter auf der Grundlage des Verbrauchs im letzten vollen Jahr vor Kriegsausbruch. Flüchtlingsunternehmer aus Deutschland waren darüber hinaus mit speziellen Problemen konfrontiert und benötigten eine Form der Unterstützung, die ihnen allgemeine Wirtschaftsverbände nicht hätten geben können, selbst wenn diese die von enemy aliens geleiteten Firmen in ihre Reihen aufgenommen hätten. Diese besondere Lage bestimmte die anfänglichen Aufgaben des Refugee Industries Committee. Dazu gehörten: die Einreise asylsuchender Fabrikanten in den letzten Wochen vor dem Krieg noch zu ermöglichen; kürzlich gegründete Flüchtlingsfirmen gegen die einheimischen Industrie-Lobbies zu verteidigen; die Auswirkungen des enemy alien-Status, die wahrscheinlich die große Mehrheit seiner Klienten betraf, zu mindern; Arbeitsgenehmigungen für Mitarbeiter, die ebenfalls Flüchtlinge oder mindestens Ausländer waren, zu erreichen; Exportlizenzen zu beschaffen, soweit ein Export überhaupt noch möglich war; für die Materialzuteilung zu sorgen und mit Rat in juristischen Angelegenheiten in der unvertrauten Umgebung zu helfen. Andere, nicht weniger wichtige Aufgaben sollten im Verlauf und am Ende des Krieges auf das Komitee zukommen. Der Hauptzweck des Komitees und seiner Sektionen, deren Mitglieder sich ja größtenteils aus Parlamentariern zusammensetzten, war jedoch, als Lobby zu fungieren, um die Interessen ihrer Klienten zu wahren. Obwohl Anfragen an Minister im Unterhaus bei weitem nicht die einzige Möglichkeit für die Lobby darstellen, ist die Anzahl der Anfragen doch ein Indiz dafür, wie aktiv

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sie funktioniert. In diesem Zusammenhang muß festgestellt werden, daß die Durchsicht der parlamentarischen Anfragen in der im November 1939 endenden Legislaturperiode nur eine einzige ergab, die von einem Mitglied des Refugee Industries Committee eingebracht worden war, und zwar von Eleanor Rathbone.30 Daraus kann man schließen, daß das erst im Juli zuvor gegründete Komitee bis dahin seine Arbeit noch nicht wirklich aufgenommen, vielleicht noch nicht einmal einen Generalsekretär ernannt hatte. Doch bald wurde das Komitee in seiner Funktion als nationale Organisation der Flüchtlingsunternehmer allgemein anerkannt. Sie fanden in ihm einen Fürsprecher, der direkten Zugang zu Regierungskreisen hatte. Daß sich das Komitee ausschließlich aus britischen Staatsbürgern zusammensetzte, sollte sich als sehr nützlich erweisen, besonders unter den erschwerten Umständen, die die Kriegssituation mit sich brachte. Anders als 1914, als jeder Deutsche in Großbritannien der Spionage verdächtigt wurde - schon allein ein deutscher Name genügte oft, um seinen Träger der Gefahr von tätlichen Angriffen auszusetzen —, gab es im September 1939 zunächst keine Anzeichen irgendeiner antideutschen Hysterie. Ganz im Gegenteil, die Flüchtlinge genossen oft erhebliche öffentliche Sympathien, selbst wenn die Anstrengungen der Regierung, diejenigen unter den Deutschen herauszufiltern, die gar keine Flüchtlinge waren, in Einzelfällen zu Mißverständnissen und Ungerechtigkeiten führten. Nach der Niederlage des britischen Expeditionskorps in Norwegen und dem schnellen Sieg der deutschen Truppen über die Niederlande und Frankreich wandelte sich allerdings die Haltung der Öffentlichkeit, wobei flüchtlingsfeindliche Stimmungen noch von Teilen der Presse angeheizt wurden. Am 12. Mai 1940 wurden die Flüchtlingsunternehmer, ebenso wie alle anderen männlichen Emigranten ab 16 Jahren mit deutschen Pässen interniert, die im östlichen Küstenstreifen lebten, das heißt auch diejenigen in den Special Areas von Nordost-England. Von der Internierung waren selbst solche Flüchtlinge betroffen, die bei der zu Beginn des Kriegs durchgeführten Klassifizierung als »Refugees from Nazi Oppression«, das heißt als völlig unbedenklich eingestuft worden waren, was im Prinzip für alle jüdischen Flüchtlinge zutraf. Obwohl die Internierung anscheinend nicht einheitlich gehandhabt wurde, widerfuhr den meisten deutschen Flüchtlingen in anderen Teilen Großbritanniens wenige Wochen später ein ähnliches Schicksal. Anfangs versuchten die Ehefrauen von einigen der Internierten die Betriebe weiterzuführen. Doch wurden zum Beispiel die im östlichen Küstengebiet lebenden auch gezwungen, das Gebiet bis Ende des Monats Mai zu verlassen. In einigen Firmen bemühten sich die neu angelernten Vorarbeiter oder jüngere Manager weiterzumachen. Nachdem man die Betriebsleiter eingesperrt hatte, gerieten besonders die erst seit kürzerem bestehenden Unternehmen in ernste Schwierigkeiten. Da den meisten Firmengründern nur sehr begrenzte Ressourcen zur Verfügung standen, wurde vielen Betrieben durch die Internierung, besonders in den Gebieten, wo die Umsiedlung der Familien verlangt wurde, die Geschäfts-

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grundlage weitestgehend entzogen. Diese Situation stellte das Komitee auf eine harte Probe. Die verfügbaren Unterlagen liefern zwar wenig Beweise für konkrete Aktivitäten, doch unternahmen einige der parlamentarischen Mitglieder des Komitees augenscheinlich große verbale Anstrengungen, um diese unhaltbare Lage zu ändern. Die Internierung der Flüchtlinge wie auch die Bedingungen, unter denen sie festgehalten wurden, entfachten erhitzte Debatten in beiden Häusern des Parlaments, und dies, obwohl die Regierung und das ganze Land im Sommer 1940 mit verzweifelten Kriegsanstrengungen beschäftigt waren. Es würde hier zu weit führen, die Beiträge von Komiteemitgliedern - und anderen Parlamentariern - zu diesen Debatten im einzelnen darzustellen. Es mag der Hinweis genügen, daß sich vor allem sechs Mitglieder immer wieder in diesen Auseinandersetzungen engagierten. Ihr Eingreifen trug mit Sicherheit dazu bei, daß eine baldige Abkehr von der Internierungspolitik erreicht wurde.31 Darüber hinaus brachte eine Reihe von Komiteemitgliedern im Unterhaus Anfragen zu spezifischen Flüchtlingsunternehmen und einzelnen internierten Fabrikanten ein. Dies geschah jeweils auf Initiative des Generalsekretärs des Komitees, der offensichtlich solche Vorstöße selbst formulierte. Die folgende Anfrage, die der liberale Abgeordnete W. Roberts am 22. August 1940 an den Innenminister richtete, ist als typisches Beispiel anzusehen: »When will he be able to give a decision as to the release (from internment) of (es folgen die Namen einiger, keineswegs aller betroffenen Unternehmer des Team Valley Industrieparks, Anm. d. Verf.) and whether he is aware that the employment of over 100 British subjects is dependent on their release in industries in several instances attracted to this country by British consuls and started with the füll approval and after complete enquiries by the Home Office.«32 Die Entlassungen aus der Internierung begannen zwar schon im September 1940, sie wurden aber langsam und auf unberechenbare Weise durchgeführt. Einige Unternehmer aus dem Nordosten waren unter den ersten, die frei kamen, andere hingegen, manchmal die Geschäftspartner oder enge Verwandte der bereits Entlassenen, wurden ohne erkennbare Gründe noch für längere Zeit in Haft behalten - in einigen Fällen bis zu einem Jahr. Eine Anzahl von Flüchtlingsunternehmern trat unmittelbar nach ihrer Entlassung in die Armee ein, wo ihnen zunächst nur das Pioneer Corps offenstand. Viele der aus der Internierung zurückkehrenden Fabrikanten mußten tatsächlich noch einmal fast ganz von vorn anfangen. Das galt vor allem in den Fällen, wo während ihrer Abwesenheit die Fabriken für Kriegszwecke beschlagnahmt worden waren. Erst allmählich besserte sich ihre Lage. Nach und nach wurden Flüchtlingsfirmen dann sogar zur Kriegsproduktion herangezogen, wobei Direktoren und Manager deutscher Staatsangehörigkeit zuvor allerdings verpflichtet waren, sogenannte Awdliaty War Services Permits einzuholen. Flüchtlingsunternehmer wurden - gleich allen anderen Flüchtlingen - auch zur Zivilverteidigung einschließlich der Home Guard

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rekrutiert. Mit der Integration der Flüchtlinge in den Kampf gegen Hitler schwand langsam die Entfremdung wieder, die sich während der Internierungsphase aufgebaut hatte. Obwohl einige der Beschränkungen, die den enemy aliens auferlegt wurden, bereits wieder aufgehoben worden waren, blieben dennoch eine ganze Reihe weiter in Kraft. Dazu zählte zum Beispiel die Meldepflicht bei längerer Entfernung vom ständigen Wohnsitz, die für Bewohner des östlichen Küstenstreifens schon bei mehr als 24stündiger, anderswo im Lande bei mehr als dreitägiger Abwesenheit galt. Für Flüchtlingsunternehmer von denen sich bis Mitte 1942 etwa 90 % an der kriegswichtigen Produktion mitbeteiligten33 - war es besonders lästig, vor jeder Geschäftsreise, die über einen Umkreis von 40 Meilen hinausführte, eine Genehmigung beantragen zu müssen. Das Refugee Industries Committee brachte diese Angelegenheit mehrere Male beim Innenministerium zur Sprache und erreichte schließlich gewisse Erleichterungen. Von 1942 an richtete das Komitee jährlich in London stattfindende Konferenzen ein. Diese gaben den Vertretern der lokalen Refugee Industries' Associations Gelegenheit zur Aussprache mit dem Generalsekretär und den anderen Mitgliedern des Komitees. Einige Ministerien entsandten ebenfalls Vertreter, die Fragen der Konferenzteilnehmer beantworteten und anstehende Probleme mit ihnen diskutierten. So waren zum Beispiel bei der ersten Konferenz der Generaldirektor der Regional Boards for Industry (eine Organisation, die in der Kriegszeit eigens dazu eingerichtet wurde, um die Maximalproduktion für den >war effort< zu sichern), sowie Repräsentanten des Wirtschaftsministeriums, der Admiralität und der Ministerien für Arbeit, Flugzeugproduktion und Propaganda anwesend. Die Sitzungsberichte lassen erkennen, daß die Probleme und Vorschläge der Flüchtlingsunternehmer von den Regierungsbeamten nicht nur wohlwollend behandelt wurden, sondern diese machten ihrerseits auch zahlreiche Vorschläge, um den Betrieben zu helfen. Bei den Konferenzen wurden zudem von profilierten Gönnern des Komitees Ansprachen gehalten, die zweifellos der »Kampfmoral« der Anwesenden Auftrieb gaben. Aus der Rede von Duff Cooper, der damals wieder Regierungsmitglied war, anläßlich der ersten Konferenz vom Juni 1942 wurde bereits ein Abschnitt zitiert. Der allgemeine Tenor seiner Ausführungen kann einem weiteren Auszug entnommen werden: »I congratulate all those who have worked on the Committee during the last few years on the remarkable results achieved (...) which have been greater than the most optimistic of us could have hoped (...). You gentlemen, who have done so much towards the creation and development of new industries in this country (...) are also contributing to the great cause which you all have at heart, the cause of the Allied nations in the War. The policy of welcoming the exile, (...) has in the long run done a great deal of good to our own country. Throughout the years, our industries and commerce have been forwarded and helped enormously by the intelligent assistance of refugees from foreign

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countries (...). I think we have in this room proof of how well it has paid us to be kind and hospitable to those who were obliged to seek refugee in our country (,..).«34 Trotz solcher Töne aber wurde die Tatsache, daß sowohl Juden als auch politischen Gegnern des Nazi-Regimes ihre deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt worden war, von der Britischen Regierung nicht berücksichtigt. In offiziellen Verlautbarungen sprach man bei den Flüchtlingen aus dem Deutschen Reich nach wie vor nur von enemy aliens. Abgesehen davon, daß dies als falsche und verletzende Bezeichnung empfunden wurde, hatte das für die Flüchtlingsunternehmer auch negative praktische Konsequenzen: sie wurden, wie schon angedeutet, von den meisten britischen Wirtschaftsverbänden nicht zugelassen, ja die Diskriminierung ging sogar so weit, daß ihnen auf Geschäftsreisen einige Hotels die Übernachtung verweigerten. Auf der Konferenz von 1942 wurde bekannt gemacht, daß das Innenministerium in einem Fall zwar akzeptiert habe, daß ein deutscher Flüchtling sich als »stateless, formerly German« bezeichnete. Aber es sollte noch bis Dezember 1944 dauern, bis die Anstrengungen des Komitees eine offizielle Regelung in diesem Sinne erreichten, und auch dann nur mit besonderer Erlaubnis.35 Da nach britischem Firmenrecht - schon im Frieden - die ausländische Staatsangehörigkeit eines Direktors auf dem Briefkopf der Firma als Zusatz zu dessen Namen zu erscheinen hatte, bewahrte dieses Entgegenkommen die Flüchtlingsunternehmer vor weiteren Peinlichkeiten. Was die allgemeinen Einschränkungen betraf, so hatte Innenminister Herbert Morrison (gleichzeitig Labour-Abgeordneter) bereits am 21. Mai 1942 angekündigt, daß Deutsche ebenso wie Österreicher, »who satisfy me that they are wholeheartedly sympathetic to the Allied cause and Willing to assist our War effort«, künftig wie Angehörige befreundeter und neutraler Staaten behandelt werden würden.36 Welche praktischen Verbesserungen sich hieraus für diejenigen Deutschen ergeben sollten, denen schon zu Kriegsbeginn der Status als »Refugee from Nazi Oppression« bescheinigt worden war, ist aus der Äußerung selbst nicht ersichtlich. Da diese Ankündigung aber bei der einige Wochen später stattfindenden Konferenz des Komitees in London auf positive Resonanz stieß, ist anzunehmen, daß damit einige weitergehende Erleichterungen verbunden waren. Mit dem Ende der Internierungen war auch der Streit um das Flüchtlingsthema vorläufig aus den Medien verschwunden. Die nach 1941 günstigeren Aussichten auf einen Sieg der Alliierten wirkten sich positiv auf die allgemeine Grundstimmung gegenüber den deutschen Exilanten aus, und ab 1943 weckten die Schreckensmeldungen, die aus den von den Nazis beherrschten Teilen Europas durchsickerten, sogar gewisse öffentliche Sympathien für die Flüchtlinge. Dennoch lebten fremdenfeindliche Strömungen hartnäckig fort, die sich gegen Kriegsende wieder erheblich verschärfen sollten. Großenteils beruhten sie auf Unkenntnis der Lage und der Rolle der Flüchtlinge, so daß sich das Komitee genötigt sah, wenigstens den Auswüchsen dieser Ressentiments entgegenzutreten.

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Eine der Ursachen für die erneute Fremdenfeindlichkeit war in der wachsenden Besorgnis über die Beschäftigungsaussichten in der Nachkriegszeit zu suchen, da den Menschen noch die schlimmen Erfahrungen mit der Arbeitslosigkeit unter heimkehrenden Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg im Gedächtnis hafteten. Es bedurfte daher keiner großen Überzeugungskunst von Agitatoren, der Öffentlichkeit einzureden, daß durch jeden Flüchtling, dem man erlaube, im Lande zu bleiben, einem aus dem Krieg zurückkehrenden Briten der Arbeitsplatz weggenommen werde. Zwar hatten schon vor dem Krieg bekannte britische Wirtschaftswissenschaftler - so etwa Sir Norman Angell und Dorothy F. Buxton - Einwände gegen diese simplifizierende Sichtweise auf die Immigranten erhoben: »The theory that for every thousand aliens admitted a thousand Britons are thrown out of work is denied alike by economic science and the plainest experience.«37 Trotzdem hielten verschiedene Politiker wie auch einzelne Gewerkschafter an diesem Irrglauben fest. So hatten sich etwa auch die praktizierenden Ärzte vehement dafür eingesetzt, daß nur eine geringe Anzahl von Flüchtlingen zu ihrem Berufstand zugelassen werden sollten. In den Monaten vor Kriegsende wurde also erneut auf diese alten Ängste angespielt. So überrascht es nicht, daß die British Legion, die Hauptorganisation zur Vertretung ehemaliger Armee-Angehöriger, zu den ersten Gruppen gehörte, in denen diese Frage diskutiert wurde. Die Sunday Dispatch, ein Massenblatt, berichtete am 19. November 1944 über eine Tagung des Planungsausschusses der Legion unter der reißerischen Schlagzeile »British Legion to Fight Alien Menace to Post-War Jobs«. Nach diesem Bericht habe der Ausschuß vorgeschlagen, daß es keinem Flüchtling erlaubt werden sollte, in Großbritannien zu arbeiten, solange auch nur ein einziges Legions-Mitglied noch ohne Arbeit sei. Am 21. November 1944 wandte sich das Refugee Industries Committee an J.R. Griffith, den Generalsekretär der British Legion36, um auf die politischen Maßnahmen der Regierung in der Vorkriegszeit aufmerksam zu machen, durch die die Flüchtlinge ausdrücklich angespornt wurden, im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit mitzuhelfen. Der Brief widerlegte außerdem die in der Sunday Dispatch wiedergegebene Behauptung der Legion, Flüchtlingsunternehmen beschäftigten ausschließlich Exilanten. Vielmehr konnte nachgewiesen werden, daß im Gegenteil Flüchtlingsfirmen neben anderen britischen Staatsbürgern insbesondere auch Kriegsversehrte beschäftigten. Vorausgeschickt sei hier schon, daß die British Legion auf ihrer Jahrestagung im Sommer 1945 ablehnte, sich für eine ausländerfeindliche Propaganda herzugeben, nachdem auch bekannt geworden war, daß 8000 Flüchtlinge aus dem Reich in den Streitkräften dienten. Ein wahrscheinlich vom Planungsausschuß der Legion eingebrachter Antrag auf ein gemeinsames Eintreten gegen die Erteilung von Handelslizenzen an Ausländer wurde von einer großen Mehrheit der Delegierten abgelehnt. Britische Fairneß hatte sich damit gegen engstirnigen Nationalismus durchgesetzt. Ohne die hinter den Kulissen stattgefundene Einflußnahme des Refugee Industries

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Committee hätte das Abstimmungsergebnis jedoch womöglich anders aussehen können. Wenige Wochen nach der Veröffentlichung der ursprünglichen Resolution des Planungsausschusses der British Legion im November 1944 war im Unterhaus ein politischer Nachhall dieser feindseligen Stellungnahme zu vernehmen. Anfang Dezember richtete der konservative Abgeordnete Capt. P.D. MacDonald an den Innenminister die Frage39, ob dieser gesetzliche Vorschriften dahingehend einzuführen gedenke, daß kein Ausländer feindlicher Nationalität in einem Unternehmen die Aktienmehrheit besitzen dürfe und daß einem britischen Bewerber bei der Stellenvergabe in jedem Fall der Vorzug vor einem Ausländer gegeben werde, sofern er die für die betreffende Arbeit erforderliche Qualifikation mitbringe. Der Minister erwiderte darauf: » (...) the issues are not as simple as might appear from (...) the question. For example, refugees from Nazi oppression (...) have materially contributed to the War effort of the United Nations as members of the Forces or as civilians, while others have rendered valuable services by establishing industrial enterprises giving employment to British workers to the advantage of the national economy.«40 Mit der Frage der Beschäftigung kam zwangsläufig auch die Diskussion über eine freiwillige Rückkehr oder die zwangsweise Repatriierung der Flüchtlinge in Gang. Die Rechtslage war, daß fast alle Exilanten bei ihrer Einreise nach Großbritannien nur eine zeitlich begrenzte Aufenthaltserlaubnis erhalten hatten. Noch bei Kriegsausbruch wurde allgemein angenommen, daß die meisten von ihnen den Wunsch hätten, nach der Niederlage des Hitler-Staates in ihre Herkunftsländer zurückzukehren. Dieser Auffassung waren sogar unmittelbare Freunde der Flüchtlinge, wie zum Beispiel Duff Cooper. Es ist schwer verständlich, wie er in seiner bereits zitierten Ansprache an die Exilunternehmer von 1942 annehmen konnte, daß »many of you will no doubt return to your own country, taking with you, I hope, happy memories of your sojourn here.« Vielleicht sollte man aber bedenken, daß zum Zeitpunkt dieser Rede die Existenz der Gaskammern in Auschwitz, Treblinka und andernorts in der Weltöffentlichkeit noch nicht bekannt war, wenngleich die Ermordung bereits vieler Tausender von Juden auf andere Weise nicht unbekannt geblieben sein konnte. Als sich gegen Kriegsende abzeichnete, daß nur wenige der jüdischen Flüchtlinge bereit sein würden zurückzukehren, wurde die Repatriierung zu einer ernsten politischen Frage, mit der sich auch das Refugee Industries Committee intensiv auseinanderzusetzen hatte. Der folgende Auszug aus einer Rede von Lord Aylwin vor dem britischen Oberhaus am 27. Februar 1945 illustriert beispielhaft, wie das Thema Vollbeschäftigung dazu benutzt wurde, für eine zwangsweise Repatriierung der Flüchtlinge Stimmung zu machen: »(...) what is going to be the reaction of our fighting men, when they return after demobilisation and re-enter civil life and find countless (sic!) Germans firmly established in business in this country (...). One only hopes that the prospect of full employment for our own men and women is not

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going to be jeopardised by the retention of these aliens in this country for one day longer than necessary once hostilities are ended (...).«41 Viscount Templewood (ehedem Sir Samuel Hoare), der zur Zeit der Haupteinwanderungswelle Innenminister gewesen war, versuchte die Debatte auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen: »(...) I could show your Lordships that, far from these Jewish refugees having taken work from British subjects, they formed a number of industries and entered into other activities, so that no less but more British labour has been employed (,..).«42 Diese Feststellung verfehlte aber weitgehend ihre Wirkung, vielleicht deshalb, weil sie durch keinerlei Fakten belegt werden konnte. Die Zwänge der kriegsbedingten Geheimhaltung verhinderten genauere Datenerhebungen, welche die Leistungen der Flüchtlingsunternehmen gezeigt hätten. Die Repatriierungsfrage sollte danach noch mehrere Male, innerhalb wie außerhalb des Parlaments, aufgeworfen werden. So stellte beispielsweise im Mai 1945 der Unabhängige A. Hopkinson an den Premierminister die Frage, »whether, in view of the destruction of National Socialism, arrangements can be made for the immediate repatriation of all Jewish refugees, who had been victims of persecution in their country of origin.«43 Winston Churchill wies diesen Vorstoß mit dem Hinweis zurück: »Quite apart from other considerations, a policy of repatriation to Germany would meet with marked practical difficulties«44, und er pflichtete dem Labour-Abgeordneten S. Silverman, einem Mitglied des Refugee Industries Committee, darin bei, »that it would be difficult to conceive a more cruel procedure than to take people who have lost everything, their homes, their relatives, their children and all things that make life decent and possible and compel them against their will to go back to the scenes of these crimes.«45 Die Attacke einer rechtsradikalen Wochenzeitung ausgerechnet unter dem Namen Truth auf die Flüchtlingsunternehmer beleuchtete eine andere, zwar kleine, aber nicht unbedeutende Strömung in der öffentlichen Meinung, die das Komitee gegen Ende des Krieges zu parieren hatte. Hierbei ist anzumerken, daß die Zeitschrift, die schon auf ein langes Bestehen zurückblicken konnte, 1936 - wie vermutet wurde auf Geheiß Chamberlains - mit geheimen Geldern der Konservativen Partei aufgekauft wurde, um die Appeasement-Politik der Regierung zu unterstützen. 46 Mit einem Do the British Matter betitelten Artikel vom 6. Oktober 1944 reagierte das Magazin auf eine Äußerung - ob Zeitungsartikel oder Erklärung ist nicht erkennbar - , die Dr. J J . Malion von der Refugee Aliens Protection Society47 publiziert hatte. Er hatte Truth zufolge geschrieben (es war nicht möglich, den Originaltext ausfindig zu machen): »There were only 55 000 aliens of enemy nationality in Britain, most of whom were women, children and old men. All, if not in the Forces, are directed into industry in the same manner as our own nationals.« Hätte er es dabei belassen, so kommentierte der Schreiber des Truth-Artikels in einer Mischung aus Unkenntnis und Chauvinismus, »Dr. Mallon's statement would have been comforting, but he went on to boast the fact that the reminder, among other

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things, had established 300 factories in Britain and he estimated that they would employ 100 000 British workers by the end of the War. Not a bad achievement for a handful. Apparently, British brains and skill, which for so long led the world, are now bankrupt of resources to provide employment for these 100 000, who must therefore work for alien masters. Dr. Mallon rejoices in this state of affairs (...). We shall soon need a Native Britons' Protection Society.« Die Flüchtlinge konnten es offensichtlich niemandem recht machen, was auch immer sie taten: während sie von den einen beschuldigt wurden, Briten die Arbeitsplätze wegzunehmen, warfen ihnen andere nun vor, Arbeitgeber zu sein. Eine Antwort auf diesen Artikel, gezeichnet von Ernest Cove, dem Generalsekretär des Refugee Industries Committee, wurde am 27. Oktober in Truth abgedruckt: »If Truth is interested in >truthDo the British Matten. I have just returned from Northern Ireland. During my visit, I read in a newspaper that the Prime Minister had visited a factory run by refugees. The article was headed >How Prosperity Came to County Downdunklen< Lyrik Paul Celans.« (Bücherei und Bildung)

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