Archive und Museen des Exils 9783110542103, 9783110540932

Exil, Flucht und Migration sind meist mit grenzüberschreitenden Ortsveränderungen verbunden, die mehr als einen Staat be

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German Pages 351 [352] Year 2019

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Inhalt
Archive und Museen des Exils – Einleitung
I. Archiv(theorien) und Exilforschung
Kollektive Montage, Momentaufnahme und Arbeit des Archivs: Die Sammlung „Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933“
Archivspuren einer Denkfigur: Der ‚amerikanische Goethe‘ als Exil- und Projektionsmetapher des deutsch-jüdischen Schriftstellers Iwan Heilbut
Dem Archiv entschrieben. Wege aus dem Speichergedächtnis
Exil in Kenia: Eine archivarische Spurensuche
The Living Archive: On Hugo Simon’s posthumous return to Germany
Reste von Recht. Exil und Archiv bei Ludwig Borchardt und der kolonialen Archäologie Dieser Text behandelt den Bezug zwischen Archiv und Exil –
Kunstwerke im Exil – Das sogenannte „Fluchtgut“ als Zeugnis von Verfolgung, Vertreibung und Verlust
II. Globale und digitale Exilarchive: Geteiltes Wissen und Vernetzung
Records of Forced Displacement and Refugee Narratives: A Case Study from the Vera and Donald Blinken Open Society Archives in Budapest
Exilwissenschaften im Unterricht der Universität von Südkalifornien und Aktives Lernen an der Feuchtwanger Memorial Library
Globale Archive / Globale Überlieferung. Exilliteratur und weltliterarische Netzwerke
Freunde, in alle Welt zerstreut, denken an Sie.“ Zu einer digitalen Edition der Briefe an Max Herrmann-Neiße ins Londoner Exil
Mapping German Film Migration“ – digitale Filmgeschichtsschreibung am Beispiel des Nachlasses von Günter Peter Straschek
III. Museen, Sammlungen und Ausstellungen zum Exil
Exil. Erfahrung und Zeugnis. Zur Dauerausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek
Das Archiv lesen. Die Bedeutung der Sammlung Paul Kohner Agency für die Exilforschung
Warum ein Exilmuseum? Vision und Hintergründe
Emigration, Exil oder Diaspora – Perspektiven aus dem Jüdischen Museum Frankfurt
IV. Rezensionen
Hans Albert Walters Monumentalwerk abgeschlossen
Analytischer vs. affirmativer Antifaschismus deutscher Emigranten
Roland Jaeger: Foto-Auge Fritz Block. Neue Fotografie – Moderne Farbdias
Die Erfindung von Paris, hg. v. Susanne Brogi und Ellen Strittmatter
Max Beck und Nicholas Coormann (Hg.): Historische Erfahrung und begriffliche Transformation. Deutschsprachige Philosophie im Exil in den USA 1933–1945
Notker Hammerstein: Kurt Riezler. Der Kurator und seine Universität
Anthony Grenville: Encounters with Albion. Britain and the British in Texts by Jewish Refugees from Nazism
Thomas Mann in Amerika, hg. von Ulrich Raulff und Ellen Strittmatter
Anat Feinberg: Wieder im Rampenlicht. Jüdische Rückkehrer in deutschen Theatern nach 1945
Ausgewiesen! Berlin, 28. 10. 1938. Die Geschichte der „Polenaktion“, hg. von Alina Bothe und Gertrud Pickhan unter Mitarbeit von Christine Meibeck
Jacques Semelin: Das Überleben von Juden in Frankreich 1940–1944. Vorwort von Serge Klarsfeld. Aus dem Französischen übersetzt von Susanne Wittek
V. Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren
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Archive und Museen des Exils
 9783110542103, 9783110540932

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Exilforschung Band 37

Exilforschung

Ein internationales Jahrbuch Im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung/ Society for Exile Studies herausgegeben von Bettina Bannasch, Doerte Bischoff, Burcu Dogramaci und Claus-Dieter Krohn

Band 37/2019

Archive und Museen des Exils Herausgegeben von Sylvia Asmus, Doerte Bischoff und Burcu Dogramaci

Redaktion der Beiträge/Volume Editors: Dr. Sylvia Asmus Deutsche Nationalbibliothek/ Deutsches Exilarchiv 1933–1945 Adickesallee 1 60322 Frankfurt [email protected] Prof. Dr. Doerte Bischoff Institut für Germanistik Universität Hamburg Überseering 35 22297 Hamburg [email protected] Prof. Dr. Burcu Dogramaci Ludwig-Maximilians-Universität Institut für Kunstgeschichte Zentnerstr. 31 80798 München [email protected] Rezensionen: Prof. Dr. Klaus-Dieter Krohn [email protected]

ISBN 978-3-11-054093-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054210-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054099-4 ISSN 0175-3347 Library of Congress Control Number: 2019946032 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Claas Möller. Zeichnung nach der Fotografie von Abraham Pisarek (1935), Wohin? (Igna Beth, Schauspielerin des Jüdischen Kulturbundes in Berlin, vor einem Globus). Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Sylvia Asmus, Doerte Bischoff, Burcu Dogramaci Archive und Museen des Exils – Einleitung  1

I Archiv(theorien) und Exilforschung Daniel Weidner Kollektive Montage, Momentaufnahme und Arbeit des Archivs: Die Sammlung „Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933“  11 Nicolas Berg Archivspuren einer Denkfigur: Der ‚amerikanische Goethe‘ als Exil- und Projektionsmetapher des deutschjüdischen Schriftstellers Iwan Heilbut  30 Sebastian Schirrmeister Dem Archiv entschrieben. Wege aus dem Speichergedächtnis  58 Natalie Eppelsheimer Exil in Kenia: Eine archivarische Spurensuche  74 Rafael Cardoso The Living Archive: On Hugo Simon’s posthumous return to Germany  96 Kaya Behkalam, Knut Ebeling Reste von Recht. Exil und Archiv bei Ludwig Borchardt und der kolonialen Archäologie  108 Gesa Jeuthe Kunstwerke im Exil – Das sogenannte „Fluchtgut“ als Zeugnis von Verfolgung, Vertreibung und Verlust  130

VI 

 Inhalt

II Globale und digitale Exilarchive: Geteiltes Wissen und Vernetzung Csaba Szilagyi Records of Forced Displacement and Refugee Narratives: A Case Study from the Vera and Donald Blinken Open Society Archives in Budapest   149 Michaela Ullmann Exilwissenschaften im Unterricht der Universität von Südkalifornien und Aktives Lernen an der Feuchtwanger Memorial Library   163 Sonja Arnold, Lydia Schmuck Globale Archive / Globale Überlieferung. Exilliteratur und weltliterarische Netzwerke   178 Sibylle Schönborn „Freunde, in alle Welt zerstreut, denken an Sie.“ Zu einer digitalen Edition der Briefe an Max Herrmann-Neiße ins Londoner Exil   199 Imme Klages, Alexandra Schneider „Mapping German Film Migration“ – digitale Filmgeschichtsschreibung am Beispiel des Nachlasses von Günter Peter Straschek   222

III Museen, Sammlungen und Ausstellungen zum Exil Sylvia Asmus Exil. Erfahrung und Zeugnis. Zur Dauerausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek   241 Heike Klapdor Das Archiv lesen. Die Bedeutung der Sammlung Paul Kohner Agency für die Exilforschung   253 Christoph Stölzl, Cornelia Vossen Warum ein Exilmuseum? Vision und Hintergründe   272

Inhalt 

Mirjam Wenzel Emigration, Exil oder Diaspora – Perspektiven aus dem Jüdischen Museum Frankfurt   284

IV Rezensionen   299 V Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren   337

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Sylvia Asmus, Doerte Bischoff, Burcu Dogramaci

Archive und Museen des Exils – Einleitung Archive in ihren unterschiedlichen Formen folgen verschiedenen Konzepten, Ordnungsmodellen und Regelungen. Als für die Öffentlichkeit unzugängliche staatliche oder kommunale Einrichtungen waren Archive ursprünglich auf Akten und Vorgänge aus der „Geschäfts- und Verwaltungssphäre“ fokussiert.1 Als Handschriftenabteilungen von Bibliotheken und seit Wilhelm Diltheys programmatischem Beitrag „Archive für Literatur“2 dezidiert als Literaturarchive ausgewiesen, zielten sie außerdem auf die Sammlung und Erschließung von Nachlässen im Kontext der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur. Aus diesen Polen hat sich eine vielfältige Archivlandschaft entwickelt, deren Gegenstände und Zuständigkeiten sich durch die Veränderungen in den Wissenschaften, durch neue Fragestellungen und Methoden herausgebildet haben. Archivalien oder Objekte des Exils, die die gewaltsame Vertreibung von Menschen aus ihren ursprünglichen Lebenskontexten und die Bedingungen von Flucht und Asyl dokumentieren können, finden sich in diesen unterschiedlichen Einrichtungen. Häufig müssen sie in den vielfältigen Kontexten, in denen sie abgelegt und einsortiert wurden, erst als solche identifiziert und gefunden werden. Nur selten sind sie zu einem regelrechten, so benannten Exilarchiv gebündelt, in dem das Exil selbst das verbindende Element ist. Dabei stellt sich vielfach die Frage, wo ein solches Exilarchiv entsteht und welche Geschichte(n) es birgt: in den ehemaligen Asylländern sind die Kontexte der Erinnerung an die einmal angekommenen Verfolgten andere als in dem Land, aus dem sie ursprünglich vertrieben wurden. Kleine lokale, möglicherweise auf einzelne Personen oder Gruppen ausgerichtete Sammlungen haben andere Funktionen als Nationalarchive. Hinzu kommt, dass die Biografien derjenigen, deren Hinterlassenschaften solche Archive bergen, vom Wechsel der Lebensorte, der Länder geprägt sind. Sie gehörten Personen, die ihre Heimat verlassen, sich auf Routen mit ungewissen Zielen begeben mussten, die oftmals ankamen an Orten, deren Sprache, Kultur und Geschichte ihnen fremd war. Viele kehrten nicht zurück, nachfolgende Generationen sind in anderen Ländern aufgewachsen und haben, wie oft auch schon die Exilanten und Exilantinnen selbst, ein anderes Verständnis von Zugehörigkeit entwickelt. Auch Schriftstücke und Objekte, die das Exil von Institutionen, etwa von Zeitungs- und Verlagsredaktio-

1 Siehe Wolfgang Ernst: Das Archiv als Gedächtnisort. In: Knut Ebeling und Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. Berlin 2009, S. 177–200, hier S. 178. 2 Wilhelm Dilthey: Archive für Literatur. In: Deutsche Rundschau 58 (1889), S. 360–375. https://doi.org/10.1515/9783110542103-001

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 Sylvia Asmus, Doerte Bischoff, Burcu Dogramaci

nen, von Firmen oder politischen Organisationen dokumentieren, sind ‚gewandert‘ und so in neue Kontexte geraten. Die Gegenstände des Exils verweisen also auf Dislozierungen, Entortungen, auf Unordnung und Aufbruch. Dispersion oder Verstreuung ist diesen Dingen ein ureigenes Merkmal. Neben dem Sammeln, Ordnen und Speichern von Wissen gehört auch die kulturelle Vermittlung, das Herzeigen der Sammelstücke zu den Aufgaben der Archive. Noch deutlicher ist diese Geste des Zeigens, der Bildung und Unterhaltung dem Museum inhärent. Diese Mittlerfunktion in die Öffentlichkeit veranschaulicht sich deutlich in einer zentralen Verrichtung des Museums: der Ausstellung, die eine „nach außen gerichtete Tätigkeit bezeichnet und ‚ausstellen’ im Sinne von ‚aushändigen’ meint.“3 Wenn sich dieses Jahrbuch Archiven und Museen im Kontext von Exil und Migration widmet, dann sollten die verschiedenen Definitionen und Aufgaben der Institutionen im Blick behalten werden, die selbstverständlich auch Überschneidungen aufweisen, dann etwa, wenn ein Archiv das Gesammelte ausstellt, wenn aus dem Archivgut ein Kulturgut wird.4 Beim Sprechen und Schreiben über Archive und Museen des Exils kommen zunächst ganz konkrete Orte und Institutionen, auch geplante Institutionen, wie sie durch Autor/innen dieses Jahrbuchs in ihren professionellen Funktionen zum Teil repräsentiert werden, in den Sinn. Diese Orte ermöglichen Besucher/ innen und Nutzer/innen eine Begegnung mit Dokumenten und Objekten, die auf unterschiedliche Entortungsgeschichten verweisen. Vielfach erzählen sie diese Geschichte nicht als kohärente und kontinuierliche, sondern sind als Bruchstücke erkennbar, die auf erzwungene, unfreiwillige Ortswechsel und damit auf Diskontinuitäten und Brüche in Biografien, Gemeinschaften und Sinnordnungen schließen lassen. Die Platzierung solcher Materialien im Archiv oder Museum konfrontiert also mit einem Spannungsverhältnis zwischen einer einhegenden Verortung einerseits und einer von ihnen selbst bezeugten Beweglichkeit und Entgrenzung. In den vergangenen Jahren ist im Kontext von Ausstellungskonzepten, die sich dem Thema Migration widmeten, darüber nachgedacht worden, ob und wie das Bewegliche der Migration im Raum des Museums sinnvoll dargestellt werden kann.5 Das Exil konfrontiert mit diesem Problem offenbar in einem noch weiter-

3 Dies schreibt te Heesen in Bezug auf die Grimm’sche Wortdefinition von 1854. Vgl. Anke te Heesen: Theorien des Museums zur Einführung. Hamburg 2012, S. 22  f. 4 Vgl. Ernst, Das Archiv als Gedächtnisort, S. 178. 5 Siehe u.  a. Gottfried Korff: Fragen zur Migrationsmusealisierung. Versuch einer Einleitung. In: Migration und Museum. Neue Ansätze zur Museumspraxis, hg. v. Henrike Hampe. Münster 2005, S.  5–16; Joachim Baur: Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation. Bielefeld 2009; Lorraine Bluche u.  a. (Hg.): NeuZugänge.

Archive und Museen des Exils – Einleitung 

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gehenden Maße, insofern die Exilierung ja häufig nicht nur in vieler Hinsicht Grenzüberschreitungen erzwingt, sondern mit dem Verlust von Zugehörigkeit, zu einem Staat, einer Nation, einer Kultur, gar der menschlichen Sphäre insgesamt, bedroht. Selbsterzählungen, die zwischen einem Leben im Herkunftsland und dem im Aufnahmeland sinnstiftend vermitteln, werden dadurch grundsätzlich erschwert. Wie lässt sich also die Erfahrung des Exils, wie lassen sich die für die Exilkonstellation typischen Brüche, Fragmentierungen und Heterogenitäten ins Archiv aufnehmen? In welchem Verhältnis steht ein Exilarchiv, das ausdrücklich der Sammlung von Exil-bezogenen Schriftstücken und Objekten gewidmet ist, zu anderen Archiven, die etwa mit dem Anspruch verknüpft sind, Gedächtnisspeicher einer bestimmten Kultur und Gemeinschaft zu sein? Inwiefern lässt sich das Exil als Sonderfall von Migration beschreiben, das zum Teil ähnliche Merkmale aufweist, zum Teil aber auch Besonderheiten? Das Deutsche Exilarchiv 1933–1945, an dem die Tagung, die das vorliegende Jahrbuch vorbereitet hat, stattfand, ist ein geeigneter Ort, um solche Fragen zu stellen. Der Frankfurter Standort des Exilarchivs der Deutschen Nationalbibliothek, der auf die Initiative exilierter Schriftsteller und Schriftstellerinnen in der Schweiz zurückgeht, Dokumente des Exils zu sammeln und vor dem Vergessen zu bewahren, markiert bereits durch seine Benennung und seine Sammelgegenstände, beispielsweise Literatur, die infolge gewaltsamer Verfolgung und Vertreibung im Ausland entstand, sowie persönliche Nachlässe ehemals Exilierter und Archive von Exilorganisationen, eine Besonderheit innerhalb der DNB. Zugleich ist das Exilarchiv aber auch integraler Teil jener Institution, die als Nationalbibliothek einen spezifischen Rahmen für die Sammlung und Bewahrung von Kulturgut setzt. Tatsächlich macht das Exilarchiv, das Bestände versammelt, die eine gewissermaßen exterritoriale Herkunft vereint, auf Grenzen, die den Gedächtnisspeicher des nationalen Kulturerbes bestimmen, aufmerksam. Gerade indem es sich nicht bruchlos einfügen lässt, sondern interne Zäsuren markiert, fordert es dazu heraus, die Geschichte und Implikationen nationaler Einhegungen und Grenzziehungen in den Blick zu nehmen. Im Exilarchiv ist die durch den Nationalsozialismus erzwungene Entortung das Kriterium für die Aufnahme von Publikationen, Dokumenten und Objekten in die Sammlung. Die historische und kulturwissenschaftliche Archivforschung, die in den vergangenen Jahren eine derartige Konjunktur erlebt hat, dass geradezu von einem

Museen, Sammlungen und Migration. Eine Laborausstellung. Bielefeld 2013; Natalie Bayer, Belinda Kazeem-Kamiński und Nora Sternfeld (Hg.): Kuratieren als antirassistische Praxis. Kritiken, Praxen, Aneignungen. Berlin 2017; Marcel Berlinghoff, Christoph Rass und Melanie Ulz (Hg.): Die Szenographie der Migration. Geschichte. Praxis. Zukunft. Themenheft IMIS-Beiträge 51 (2017).

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 Sylvia Asmus, Doerte Bischoff, Burcu Dogramaci

‚archival turn‘ gesprochen wurde,6 hat Archive nicht zuletzt unter Bezugnahme auf Michel Foucault vielfach mit Aspekten der Gewalt in Beziehung gesetzt.7 Dies betrifft sowohl das, was man die Gewalt des Archivs nennen kann wie auch diejenige Gewalt, die gegen Archive gerichtet worden ist. Im ersten Fall liegt der Fokus auf den Prozessen der Selektion und Anordnung derjenigen Materialien, die in das Archiv aufgenommen oder von ihm ausgeschlossen werden, wodurch die das Archiv etablierenden und aufrechterhaltenden (Macht-)Instanzen ihre Verfügungsgewalt und Deutungshoheit im Hinblick auf das kulturelle Erbe bekunden. Autorität, z.  B. die eines Staates, ruht aber nicht nur auf selbst geschaffenen Archiven, sie kann sich auch in der Aneignung, Umordnung oder Vernichtung von Archiven anderer Mächte und Ordnungen manifestieren. Die historische Archivforschung hat diese doppelte Bewegung im Hinblick auf die NS-Archivpolitik detailliert herausgearbeitet.8 Archive des Exils stehen natürlich in engem Zusammenhang mit dieser spannungsgeladenen Geschichte, zugleich führt ihre eigene Geschichte vielfach auf komplexe Konstellationen, die die Schwierigkeiten, unter den Bedingungen von Gleichschaltung, Vertreibung und Zerstreuung Kristallisationspunkte eines Gegengedächtnisses zu schaffen, anschaulich werden lässt. Hier berührt sich die Erforschung von Exilarchiven mit neueren kolonialismuskritischen Studien zum Archiv, die nach Möglichkeiten fragen, wie das von den kolonialen Wissensspeichern entweder Ausgeschlossene oder ihren

6 Der Begriff wird einerseits für eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Institution des Archivs, ihre (macht-)politischen, juristischen, gemeinschafts- und geschichtskonstituierenden Logiken und Bedingtheiten verstanden, andererseits bezeichnet er eine vor allem in der Kunstwissenschaft, zunehmend auch in der Literaturwissenschaft beobachtete Tendenz der Gegenwartskunst bzw. -literatur, Archivmaterialien zum Ausgangspunkt ästhetischer Produktion und Reflexion zu machen. 7 Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1969; ders.: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1966; Burkhardt Wolf und Thomas Weitin (Hg.): Gewalt der Archive. Studien zur Kulturgeschichte der Wissensspeicherung. Konstanz 2012; Annika Wellmann: Theorie der Archive – Archive der Macht. Aktuelle Tendenzen in der Archivgeschichte. In: Neue Politische Literatur 57 (2012), S. 385–401; Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt a. M. 2000. 8 Vgl. Nicolas Berg: Geschichte des Archivs im 20. Jahrhundert. In: Marcel Lepper und Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte – Aufgaben – Perspektiven. Stuttgart 2016, S. 57–75, hier bes. S.  63  f.; Das deutsche Archivwesen im Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart, hg. vom Verband deutscher Archivarinnen und Archivare. Essen 2017; Torsten Musial: Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archivwesens in Deutschland 1933–1945. Potsdam 1996.

Archive und Museen des Exils – Einleitung 

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Gesetzmäßigkeiten unterworfene ‚andere Wissen‘ rekonstruiert und dargestellt werden kann.9 Die Erforschung von Exilarchiven, die ihren Ort ja bis heute nicht nur in den großen Institutionen in Deutschland wie der DNB oder dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach haben, sondern auch in New York, Buenos Aires, London, Jerusalem oder Shanghai, muss von der Situation der Zerstreuung und Fragmentierung ausgehen. Neuere Verfahren der digitalen Verzeichnung von Archivbeständen und der Vernetzung geografisch weit entfernt voneinander existierender Archive begünstigen transnationale Formen des Archivs. Die vom Deutschen Exilarchiv verantwortete, kooperative Online-Plattform „Künste im Exil“, aber auch das Marbacher Projekt der ‚Global Archives‘ oder der gemeinsamen Erschließung von Dokumenten deutschsprachiger Einwanderer in Palästina/Israel stellen jeweils Formen dar, die die nationalen Grenzen des Archivs überschreiten, ohne sie aufzuheben. Die Beschäftigung mit Archiven des Exils, die im Zentrum dieses Jahrbuchs steht, ist nicht nur als Versuch der Rekonstruktion von oft schwer aufzufindenden, zerstreuten und in vielfache neue Kontexte eingebundenen Materialien zu verstehen, die ‚eigentlich‘ zum nationalen Gedächtnis gehören und für dieses sozusagen restituiert werden müssen. Exilarchive machen Konstellationen sichtbar, so lässt sich eine Leithypothese dieses Jahrbuchs formulieren, die dazu anregen können, Logiken der Konstitution und Einhegung kultureller Gedächtnisspeicher zu überdenken. Einerseits ist der Fokus auf Exil-Archive relativ begrenzt und auf ganz konkrete Institutionen und ihre Geschichte beziehbar. Indem andererseits aber zugleich weiterführende kulturwissenschaftliche Überlegungen anschließbar sind, erscheint das Thema besonders geeignet, die Reflexion der konkreten, praktischen Archivarbeit mit theoretischeren Perspektiven zu verknüpfen und so ‚den Graben‘, der vielfach zwischen beiden Annäherungen an das Archiv beobachtet wurde, schließen zu helfen.10 Die einleitenden Überlegungen führen zu der Idee imaginärer Archive. Exemplarisch soll ein imaginäres Bildarchiv, das der Vorstellung eines „musée imaginaire“ nach André Malraux nicht unähnlich ist, hier kurz skizziert werden.11 9 Vgl. etwa Michelle Caswell, Ricardo Punzalan und T-Kay Sangwand (Hg.): Journal of Critical Library and Information Studies 1:2 (2017), Special Issue: Critical Archival Studies. 10 Vgl. Marcel Lepper und Ulrich Raulff: Vorwort. In: dies. (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte – Aufgaben – Perspektiven. Stuttgart 2016, S. VII–X, hier S. VIII. Als programmatisches Ziel des Handbuchs wird hier das Vorhaben beschrieben, den Graben „[z]wischen der Theoriekarriere der Rede vom ‚Archiv‘ und der institutionellen Praxis der Archive“ zu verzeichnen und reflexiv zu überbrücken. 11 André Malraux: Le Musée imaginaire de la sculpture mondiale, 3 Bde., Paris: Gallimard 1952–1954. Vgl. Walter Grasskamp: André Malraux und das imaginäre Museum. Die Weltkunst im Salon, München 2014.

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 Sylvia Asmus, Doerte Bischoff, Burcu Dogramaci

Diese imaginäre Sammlung wäre – analog zum Konzept des virtuellen Museums „Künste im Exil“ – nicht an einen Ort oder eine Institution gebunden, sondern würde Gegenstände zusammenbringen, die räumlich und zeitlich getrennt voneinander entstanden und verschiedene Urheber haben. Das imaginäre Archiv würde Bildproduktionen versammeln, die in den 1930er und 1940er Jahren parallel zu den Emigrationsbewegungen innerhalb Europas und aus dem Kontinent heraus entstanden. Sie zeigen Porträtfotografien von Emigranten und Emigrantinnen und finden sich in den Nachlässen von Fotograf/innen wie Grete Stern, Hermann Landshoff, Gisèle Freund, Lotte Jacobi, Eric Schaal und vielen mehr. Diese Kamerakünstler waren selbst Emigrierte, verließen das nationalsozialistische Deutschland, um in London, New York, Buenos Aires oder Paris Zuflucht zu suchen. In den Jahren nach ihrer Ankunft fotografierten sie immer wieder Emigrant/innen aus Kunst, Kultur, Wissenschaft. Oftmals entstanden diese besonderen Beziehungen zwischen emigrierten Fotograf/innen und Modellen, weil sie zu denselben alten und neuen Netzwerken gehörten. In den Zielstädten verband die Fotograf/ innen und Fotografierten der Status des Exiliert-Seins, oftmals dieselbe Muttersprache, Bekanntschaften und Arbeitsbeziehungen aus früheren Vor-Exilzeiten. Beispielhaft sind zwei Fotoserien, die Lotte Jacobi 1937 und 1938 von dem Physiker Albert Einstein anfertigte, zum einen in Huntington/Long Island, zum anderen in Princeton. Bereits in Deutschland fotografierte Jacobi den Wissenschaftler in ihrem Berliner Studio und in Caputh; diese Bekanntschaft führte dazu, dass die Fotografin Einstein auch in den USA ablichtete.12 Auch die emigrierten Fotografen Hermann Landshoff, Eric Schaal oder Robert Haas porträtierten Einstein in Princeton. Die Konvolute an Fotografien, die Exilierte zeigen, müssen jedoch in den verschiedenen Nachlässen identifiziert werden. In der Gesamtheit gesehen, könnten diese verstreuten Porträtfotografien ein Bildarchiv der Emigration ergeben, das Werke vereint, die zeitgleich zu den großen Emigrationsbewegungen entstand. Damit wäre es möglich, die literarischen Texte der Emigration wie Escape to Life (1939) von Erika und Klaus Mann, Exil (1940) von Lion Feuchtwanger oder Transit (1941) von Anna Seghers um Bilder der Emigration zu ergänzen und damit der globalen intellektuellen Emigrationsbewegung ein Gesicht zu geben. Diese Porträts könnten nicht nur nach den Abgebildeten befragt, sondern auch auf ästhetische Parameter, Kompositionen und Konzeptionen untersucht werden. Dabei stellt sich die Frage, welche Form dieses Archiv erhalten und wo es anschließen könnte? Wie ließen sich die Relationen und Verbindungen zwischen

12 Siehe dazu u.  a. http://www.dasverborgenemuseum.de/ausstellungen/ausstellung/lottejacobi (Abruf: 21. 4. 2019).

Archive und Museen des Exils – Einleitung 

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einem imaginären Bildarchiv, Dokumenten, Werken und Objekten des Exils, wie sie bereits auf „Künste im Exil“ zusammengebracht sind, digitalen Editionen und Netzwerkvisualisierungen, wie sie das Projekt „Vernetzte Korrespondenzen“ verfolgt, abbilden? Wie lassen sich die jeweiligen Bestände und ihre Kontexte zu einem den Bewegungen und der Richtungslosigkeit der Emigration adäquaten Archiv verbinden? Die in diesem Buch versammelten Beiträge stellen solche und viele weitere Überlegungen zur Diskussion. Die Aufsätze leisten einen substantiellen Beitrag zur Gegenwart und Zukunft analoger und virtueller Exilarchive wie -museen, zu den Potenzialen des Digitalen und der analogen Objekte und zu Möglichkeiten der Sammlung und Präsentation von Verstreutem und Bruchstückhaftem. Damit positioniert sich dieser Band zu den Herausforderungen für die Institutionalisierung von Exilgeschichte in der Gestalt von Archiven und musealen Sammlungen. Die meist mit Bezug auf Fallbeispiele aus dem Exil nach 1933 entfalteten Überlegungen werfen vielfach allgemeinere Frage nach der Repräsentation der Schicksale und Hinterlassenschaften von Verfolgten, Flüchtenden und Staatenlosen auf. Vor dem historischen Hintergrund wird dabei auch für die Rahmenbedingungen und Schwierigkeiten sensibilisiert, Spuren, Dokumente und Objekte der Flucht in gegenwärtigen Kontexten wahrzunehmen und als potentiell archivfähige zu identifizieren.

Literaturverzeichnis Baur, Joachim: Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation. Bielefeld 2009. Bayer, Natalie, Belinda Kazeem-Kamiński und Nora Sternfeld (Hg.): Kuratieren als antirassistische Praxis. Kritiken, Praxen, Aneignungen. Berlin 2017. Berg, Nicolas: Geschichte des Archivs im 20. Jahrhundert. In: Marcel Lepper und Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte – Aufgaben – Perspektiven. Stuttgart 2016, S. 57–75. Berlinghoff, Marcel, Christoph Rass und Melanie Ulz (Hg.): Die Szenographie der Migration. Geschichte. Praxis. Zukunft. Themenheft IMIS-Beiträge 51 (2017). Bluche, Lorraine u.  a. (Hg.): NeuZugänge. Museen, Sammlungen und Migration. Eine Laborausstellung. Bielefeld 2013. Caswell, Michelle, Ricardo Punzalan und T-Kay Sangwand (Hg.): Journal of Critical Library and Information Studies 1:2 (2017), Special Issue: Critical Archival Studies. Dilthey, Wilhelm: Archive für Literatur. In: Deutsche Rundschau 58 (1889), S. 360–375. Ernst, Wolfgang: Das Archiv als Gedächtnisort. In: Knut Ebeling und Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. Berlin 2009, S. 177–200. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1969. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1966.

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 Sylvia Asmus, Doerte Bischoff, Burcu Dogramaci

Grasskamp, Walter: André Malraux und das imaginäre Museum. Die Weltkunst im Salon. München 2014. Heesen, Anke te: Theorien des Museums zur Einführung. Hamburg 2012. Korff, Gottfried: Fragen zur Migrationsmusealisierung. Versuch einer Einleitung. In: Henrike Hampe (Hg.): Migration und Museum. Neue Ansätze zur Museumspraxis. Münster 2005, S. 5–16. Lepper, Marcel und Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte – Aufgaben – Perspektiven. Stuttgart 2016. Malraux, André: Le Musée imaginaire de la sculpture mondiale, 3 Bde. Paris 1952–54. Musial, Torsten: Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archivwesens in Deutschland 1933–1945. Potsdam 1996. Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (Hg.): Das deutsche Archivwesen im Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart. Essen 2017. Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt a. M. 2000. Wellmann, Annika: Theorie der Archive – Archive der Macht. Aktuelle Tendenzen in der Archivgeschichte. In: Neue Politische Literatur 57 (2012), S. 385–401. Wolf, Burkhardt und Thomas Weitin (Hg.): Gewalt der Archive. Studien zur Kulturgeschichte der Wissensspeicherung. Konstanz 2012.

I Archiv(theorien) und Exilforschung

Daniel Weidner

Kollektive Montage, Momentaufnahme und Arbeit des Archivs: Die Sammlung „Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933“ Im Herbst 1939 veröffentlichen drei Professoren aus Harvard, Gordon Allport, Edward Y. Hawthorne und Sydney B. Fay sowohl in amerikanischen Zeitschriften wie Newsweek als auch in der deutschsprachigen Exilpresse wie dem Pariser Tageblatt einen Aufruf zu einem Preisausschreiben (Abb.  1). Die Leser werden aufgefordert, Memoiren und Erinnerungen über ihr Leben in Deutschland vor und nach 1933 einzusenden, die beste unveröffentlichte Lebensgeschichte über das Thema würde ein Preis von 500 $ bekommen, andere Plätze kleinere Preise. In den folgenden Monaten bis zum April 1940 erhalten die Initiatoren über 250 Einsendungen von teils voluminösen Erinnerungen, Memoiren und Abhandlungen, die heute zusammen mit der sie betreffenden Korrespondenz und ihrer partiellen Auswertung in der Houghton Library der Harvard University als Sammlung My life in Germany before and after January 30th, 1933 erhalten sind. Einige von ihnen sind später separat veröffentlicht worden, etwa die Memoiren von Karl Löwith oder das von Wolfgang Benz herausgegebene Tagebuch der Hertha Narthorff.1 Vor allem der Erziehungswissenschaftler Detlev Garz hat sich für die Sammlung sehr verdient gemacht und unter seiner Ägide sind einige weitere Berichte erschienen, der bekannteste wohl der von Käthe Vordtriede.2 In Amerika hat Mark Anderson in einer Reihe von Texten aus der Sammlung in Auszügen veröffentlicht, und seit 2001 gibt es einen ausführlichen Katalog von Harry Liebersohn und Dorothee Schneider, in dem die Sammlung als „collective montage“ bezeichnet wird.3

1 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Stuttgart, 2. Auflage 2007; Hertha Nathorff: Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945, hg. von Wolfgang Benz. Frankfurt a. M. 1988. 2 Käthe Vordtriede: Es gibt Zeiten, in denen man welkt. Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, hg. von Detlef Garz. Lengwil 1999. Vgl. auch die verschiedenen Aufsätze von Detlev Garz, etwa: Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933. In: Irmtrud Wojak und Susanne Meinl (Hg.): Im Labyrinth der Schuld. Täter, Opfer, Ankläger. Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, hg. von Fritz Bauer Institut. Frankfurt a. M. 2003, S. 333–357. 3 Harry Liebersohn und Dorothee Schneider (Hg.): My life in Germany before and after January 30, 1933. A guide to a manuscript collection at Houghton Library, Harvard University. Philadelphia 2001, S. 29; Mark Anderson: Hitler’s exiles. Personal Stories of the Flight from Nazi Germany to America. New York 1998. https://doi.org/10.1515/9783110542103-002

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 Daniel Weidner

Abb. 1: Preisausschreiben „My Life in Germany before and after January 30th“, 1933.

Kollektive Montage, Momentaufnahme und Arbeit des Archivs 

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Die Sammlung enthält höchst interessante Lebensberichte, die jeder für sich ein eigenes Interesse beanspruchen. Aber auch als Gesamtheit, in ihrem Nebeneinander haben sie einen eigenen Charakter, der nicht leicht zu greifen ist. Was bedeutet es, die Texte zusammen zu lesen; was bedeutet es, diese Sammlung als Archiv zu betrachten, was heißt es, ein Archiv zu lesen, insbesondere ein Archiv des Exils? Was ist charakteristisch für ein solches Archiv und welche Erkenntnisprozesse regt es an? Wie lebt es und wie könnte es weiterleben – und mehr sein als ein passives Behältnis einzelner Lebensgeschichten? Dabei stehen Archiv und Exil offensichtlich in Spannung zueinander. Archive sind letztlich territoriale Institutionen: Versteht man sie im engen Sinne, entstehen sie aus der Ablage von Schriftstücken, setzen also einen Geschäftsgang ebenso voraus wie ein Archeion, einen Ort, an dem besagte Schriftstücke dauerhaft verbleiben.4 Auch im weiten Sinne von Sammlungen sind sie meist an einen Ort gebunden, selbst die privaten Hinterlassenschaften sind oft verortet – der Koffer auf dem Dachboden –, und zum Archiv im engeren Sinne werden sie erst, wenn sie die Schwelle des Öffentlichen überschreiten und umgeordnet werden, wenn sie einen festen Ort, eine Ordnung und Ortung bekommen: Signaturen, Findbücher, Archivboxen.5 All das ist problematisch für das Exil. Hier fehlt eben gerade das Territorium, die Ortung, und die Ordnung gerät leicht durcheinander. Archive des Exils sind oft verstreut, finden sich am fremden Ort, sind partiell und fragmentiert. Aber gerade diese Spannung kann man produktiv machen, weil eben diese Verstreuung auch etwas von der ursprünglichen Ortungs- und Ordnungsarbeit des Archivischen sichtbar macht. Ein Archiv des Exils muss auch diese Effekte mitarchivieren – und sie damit auch überschreiben. Denn so wie das Archiv als Verstreutes seine Natur ändert, so nimmt auch die Verstreuung eine andere Form an. An die Stelle der territorialen Autorität des Archivs tritt dabei leicht der Kult des Authentischen, des Zeugnisses oder des Materials, der aber selber wieder problematisch ist, weil das Auratische sich letztlich doch nur vor dem Hintergrund des Gewöhnlichen abhebt und das Authentische daher das Archiv und dessen Abkühlung und Distanzierung bereits voraussetzt. Sichtbar, erfahrbar und fruchtbar wird diese Spannung nur in der Lektüre einer konkreten Sammlung. Um die Erfahrung angesichts von Mein Leben in

4 Aus der fast uferlosen Literatur vgl. zur Übersicht: Marcel Lepper und Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2016; Knut Ebeling und Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin 2009. 5 Sigrid Weigel: Vor dem Archiv. Inkorporation, Verschwinden und Wiederkehr von Sammlungen und Bibliotheken im Archiv. Die Fälle Szeemann, Cohen und Benjamin. In: Falko Schmieder und Daniel Weidner (Hg.): Ränder des Archivs. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf das Entstehen und Vergehen von Archiven. Berlin 2016, S 177–203.

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Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933 zu umreißen, scheinen mir dabei drei Momente zentral: (1) die Vielfalt, Streuung und Parallelität der Berichte, (2) ihre Zeitgenossenschaft, der historische Moment, in dem sie verfasst sind und schließlich (3), wie sich an ihnen die Spuren ihrer Bearbeitung ablesen lassen.

I Der Ausschreibungstext fragte explizit nach authentischen Berichten: „Bitte beschreiben Sie wirkliche Vorkommnisse, die Worte und Taten der Menschen, soweit erinnerlich.“ Man sei nicht an philosophischen Reflexionen und auch nicht an literarischer Qualität interessiert, sondern an persönlichen Erfahrungen. Der Zweck der Untersuchung sei ein rein wissenschaftlicher, nämlich die „Untersuchung der gesellschaftlichen und seelischen Wirkungen des Nationalsozialismus auf die deutsche Gesellschaft und das deutsche Volk“. Als Länge wurden 20.000 Worte empfohlen, ungefähr 80 Seiten Typoskript, gebeten wurde auch um einige biographische Informationen zur Geschichte, zur religiösen und sozialen Zugehörigkeit.6 Von den insgesamt gut 250 Einsendungen – die genaue Zahl ist aufgrund von Verlusten schwer festzustellen – stammte der Großteil aus Amerika (155), davon alleine 96 aus New York, gefolgt von Großbritannien, Palästina, der Schweiz, Shanghai, Frankreich und Schweden (je fünf). In Deutschland hatte der Großteil der Schreibenden in Großstädten gewohnt, fast ein Drittel in Berlin, die Sammlung enthält aber auch ein paar Schilderungen des Landlebens: Friedrich Weil war Weinhändler in Baden, Leo Grünbaum erinnert sich an seine Kindheit im ländlichen Hessen, bevor er nach Köln zog. Ungefähr jeder fünfte Einsender stammt aus Österreich. Der Großteil der Berichte ist auf Deutsch verfasst, meist handelt es sich um Typoskripte, nicht selten sind ergänzende Dokumente beigefügt, etwa Fotos oder Zeitungsausschnitte (Abb. 2). Im Archiv werden sie zusammen mit den auf sie bezüglichen Korrespondenzen aufbewahrt, sowie mit der Auswertung, wenn diese vorhanden ist. Gut drei Viertel der Einsender bezeichnen sich als Juden. Vorhanden ist das ganze Spektrum jüdischer Zugehörigkeiten: einige aktive Zionisten, naturgemäß aus Palästina, einige Rabbiner, aber auch viele, die erst durch die nationalsozia-

6 Vgl. dazu den Ausschreibungstext Abb. 1 sowie die Einleitung in den Katalog von Schneider und Liebersohn. Hier finden sich auch die Signaturen der im Folgenden im Text erwähnten Berichte, die dort alphabetisch aufgeführt sind.

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Abb. 2: Edna Haynes: Our Life in Germany before and after January 30th 1933, Harvard University, Houghton Library (Collection bMS Ger 91.Nr 167, S. 3).

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listische Politik zu Juden gemacht werden. Ein kleinerer Teil gehört zu den universitären Intellektuellen wie der Philosoph Karl Löwith, insgesamt überwiegen die freien Berufe; auffällig ist ein hoher Anteil von Frauen, in einem Fall geben Hilde Koch und ihr Mann einander ergänzende und durchaus auch kontrastierende Berichte aus weiblicher bzw. männlicher Sicht. Ungefähr ein Zehntel der Berichte stammen von politisch motivierten Exilanten, Sozialisten und Kommunisten oder aus dem Umfeld der bekennenden Kirche. Wir finden hier häufig Berichte über den Zustand der Arbeiterklasse, etwa bei Martha Levinson, die über die engen Netzwerke und die immer noch bestehende Solidarität der Arbeiter schreibt. Nicht alle Einsendungen stammen von Exilanten, es gibt auch einige Berichte von Auslandsdeutschen, die schon vorher oder auch freiwillig ausgewandert waren. Und es gibt, wie wir sehen werden, nicht wenige, die ein mehr oder weniger ambivalentes Verhältnis zum Nationalsozialismus haben. Schon diese Daten zeigen, dass die Berichte recht verschiedene Hintergründe haben. Sie berichten aber auch Verschiedenes und dies auf verschiede Weisen, denn die Pfade der Emigration sind naturgemäß sehr verschieden und es ist eben etwas Anderes, ob jemand schon einige Jahre in den USA lebt oder zunächst nach Palästina ausgewandert ist, das nun aber wieder verlassen werden soll, wie im Fall von Wolfgang Yourgrau, oder jemand sich in Frankreich aufhält und schließlich als Anschlussadresse ein französisches Internierungslager angibt, wie Paul Diel. Aber die Berichte haben auch viel gemeinsam und sind miteinander verzahnt. In vielen der Berichte gibt es charakteristische historische Erfahrungen, am ausgeprägtesten der „Anschluss“ und die folgenden Ausschreitungen gegen die Juden sowie die Reichspogromnacht – sehr viele Berichte beschreiben eines dieser beiden Ereignisse als entscheidend für Ihre Auswanderung. Was genau in diesen Tagen erlebt wurde, und wie das bewertet wird, unterscheidet sich freilich wieder. Durchaus kann auch von Hilfsbereitschaft bei der Emigration die Rede sein, Arthur Blum trifft bei der Ausreise einen weinenden Gestapomann und Beamte, die sich höflich verabschieden; Alfred Christian Schneider kann als Elsässer auf einer Quote auswandern und gibt eine intensive und von Trauer geprägte Schilderung des Abschieds, Helen Hirsch schildert ebenfalls lange den Abschied und klebt ihre steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung ein, die ihr ein wohlwollender Beamter gegeben habe, um zu zeigen, dass mancher auch „anständig“ geblieben sei. Auch das gleiche wird also sehr verschieden erlebt. Noch auffälliger ist diese Variation bei den nicht jüdischen Autoren. Maria Kahle aus Köln hilft in der Reichspogromnacht aus einem spontanen Impuls heraus beim Aufräumen, wird dabei von der Polizei angetroffen, die ihre Personalien aufnimmt, was zur Kündigung der Anstellung ihres Vaters, eines Universitätsprofessors, führt, sie wandert schließlich nach England aus, wo sie später

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auch ein Buch über diese Erlebnisse veröffentlicht.7 Bruno Gebhardt, Protestant, sozialdemokratischer Mediziner und wichtiger Kurator des Dresdner Hygienemuseums arrangiert sich zunächst mit dem Nationalsozialismus und setzt dessen Maßnahmen um, so schließt er die Juden aus seinem Abteilungen aus und beschreibt ein Treffen mit Adolf Hitler, der ihm ehrlich erscheint. Er habe dann 1934 auf einer USA Reise erste Zweifel bekommen, von den „atrocities“ in den Konzentrationslagern gehört und überhaupt eine neue Perspektive gewonnen: „I realized how much we all had been unconsciouly under Nazi propaganda without knowing it or fighting it.“8 Als Illustration legt er den Text eines damals gehaltetnen Vortrags bei: „At that time I thought that there was no Nazi philosophy in my speech – but today I wonder …“.9 Nach seiner Rückkehr arbeitet er weiter unter wachsendem ideologischen Druck am Hygienemuseum, bleibt aber schließlich bei einem zweiten Besuch 1937 in den USA. Der Text beschreibt eine wahrscheinlich gar nicht so untypische Position und gewinnt zugleich den Charakter einer Konfession, in der sich der Autor im Nachhinein sein Handeln beurteilt. Eine Reihe von Autorinnen sind nicht erst 1933 ausgewandert und haben eine andere Perspektive auf die Ereignisse. Eslie Axelrath berichtet als Frau eines amerikanischen Geschäftsmannes von ihrem Aufenthalt in Deutschland. Ruth Heide Laué aus Hamburg beschreibt ihre Jugend in Ostpreußen, die Krise der dortigen Güter, und wie sie nach Amerika gekommen sei und dort über die „Lügenpropaganda“ gegen Hitler erschrocken sei. Anna S. Saunders war schon 1910 ausgewandert und beobachtet Deutschland bei verschiedenen Besuchen. Hatte sie 1922 eigentlich beschlossen, nie mehr zurückzukehren, weil alles dreckig sei und man nur „mistrust“ und „misery“ begegne,10 so erlebt sie bei einem weiteren Besuch im Mai 1936 eine freudige Überraschung: Alles sei aufgeräumt und sauber, es werde gesammelt und verwertet, insgesamt gebe es mehr Gleichheit und auch die Kultur sei nun für den kleinen Leuten zugänglich. Sie habe oft gehört, dass das „unserem Führer“ zu verdanken sei und freue sich über den Enthusiasmus ihrer Mitbürger. Allerdings, auch das steht ganz offen da, gebe es auch viele, denen die Entwicklungen nicht gefallen: „quite a few“ würden gerne das Kaiserreich

7 Marie Kahle: What would you have done? The Story of the Escape of the Kahle Family from Nazi Germany. London 1945. Eine deutsche Übersetzung des Buches erscheint erst 1998 (Marie Kahle: Was hätten Sie getan? Die Flucht der Familie Kahle aus Nazi-Deutschland. Bonn 1998). 8 Bruno Gebhard: My life in Germany before and after 1933, Harvard University, Houghton Library, Collection bMS Ger 91. Nr. 101, S. 63. 9 Ebd., S. 64. 10 Anna Saunders: My life in Germany before and after 1933. Harvard University, Houghton Library, Collection, bMS Ger 91. Nr. 57, S. 2.

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wiederhaben, und die „majoritiy“ sei kritisch gegenüber der „Jewish situation“, aber das trete doch gegen das Gesamtbild zurück.11 Als „kollektive Montage“ kann man diese Sammlung vor allem aufgrund der Vielzahl von Perspektiven charakterisieren. Dieselben Geschehnisse, manchmal präzise dasselbe Ereignis wird aus verschiedenen Sichtweisen präsentiert. Vieles ist dabei ähnlich, manches ganz anders, und zwar in verschiedener Hinsicht: Manche Ereignisse sind in der jeweiligen Lebensgeschichte kohärent, historisch aber auffällig, manche umgekehrt sind historisch typisch, werden aber für die jeweilige Lebensgeschichte zum Wendepunkt. Die Kohärenz wird mit jedem neuen Bericht, den man liest, zugleich größer und komplexer. Und manchmal kommt noch etwas hinzu, das man „Wirklichkeitseffekt“ nennen könnte. So schreibt Arthur Samuel aus Bonn lange Berichte der sich wandelnden Stimmung in den dreißiger Jahren und betont, dass es noch an deren Ende viele anständige Deutsche gegeben habe. 1938 trifft er einen ehemaligen Kameraden, der inzwischen Offizier in Uniform ist, im Stadtgarten und beide trinken zusammen; 1938 wird er zum Regimentsfest eingeladen, dem er fernbleibt. Entscheidend wird auch hier das Erlebnis der Pogromnacht – und in ihr taucht auch eine Maria Kahle auf, die einer alten Frau hilft, Samuel wird ihr später noch mal beim Abschied begegnen und ihr noch später die Auswanderung ermöglichen.12 Tatsächlich handelt es sich hier um dieselbe Frau Kahle, deren oben erwähnter Bericht sich ebenfalls in der Sammlung befindet. Für den Leser des Archivs hat diese Wiederbegegnung einen faszinierenden und auch leise verstörenden Effekt. Sie macht deutlich, dass wir es nicht nur mit einer Reihe von sich ergänzenden, parallelen Lebensläufen zu tun haben, die sich an einzelnen Punkten berühren, sondern eher mit etwas Verknüpftem, an dessen Knotenpunkten eine Wirklichkeit greifbar ist, die auch den anderen Berichten einen anderen Wirklichkeitsstatus gibt. Nebeneinander liest man die Berichte aber nicht nur in Bezug auf ihre Inhalte, sondern auch auf ihre Form. Denn auch diese variiert stark: Viele Texte sind durch einen Memoirengestus geprägt und berichten vor allem von der eigenen Karriere, von professionellen Erfahrungen und Begegnungen. Friedrich Gottschalk etwa betont, er habe ohnehin beabsichtigt, seine Memoiren zu veröffentlichen; als ehemaliger Jurist schreibt er viele Kapitel über seine Erfahrung in der deutschen Justiz mit umfangreichen Fallgeschichten und einem langen, fast theoretischen Exkurs über die Mehrdeutigkeit von Verträgen. Dabei behandelt er vor allem die

11 Ebd., S.  15. Die Juroren beurteilten diese Einsendung, so die Notiz auf dem Umschlag der Akte, als „worthless“. 12 Arthur Samuel: Mein Leben vor und nach dem 30. Januar 1933. In: Bonner Geschichtsblätter 49/50 (1999/2000), S. 399–457, hier S. 430  f.

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Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, dagegen kommt die Weimarer Zeit kaum vor und auch dort betont der Verfasser, er habe von dem Aufstieg der Nationalsozialisten nichts gesehen und gehört. Nur ein einziges Kapitel beschreibt die Machtergreifung des Nationalsozialismus und die Auswanderung nach Palästina. In solchen Berichten, die die eigene Gegenwart fast gar nicht erreichen, zeigt sich ex negativo, vor welche Herausforderungen das Exil die Autobiographie stellt, weil es die Erzählung des Lebens unterbricht. Andere Texte gehen in die andere Richtung und entwickeln eher Gesamtdeutungen. Fritz Solon etwa schickt eine umfassende Abhandlung von 250 Seiten unter dem Titel „Panorama“ ein, die eine Theorie der Erkenntnis des Menschen, seiner Pflichten und Rechte, der Wirtschaft, Politik und auch des Sein Gottes umfasst, eine Theorie, die freilich keineswegs vollständig sei. Diese Einsendung ist, wenig überraschend, nicht ausgewertet worden. Interessant sind dabei vor allem die Zwischenformen zwischen Deutung und Bericht bzw. die Deutungen, die in der Form des Berichtes gegeben werden. Denn die Autorinnen und Autoren, großteils aus bildungsbürgerlichen Schichten kommend, haben meist ausgeprägte Fähigkeiten zur Stilisierung und Narrativierung des eigenen Lebens. Arthur Goldstein, der unter prekären Umständen in Shanghai wohnt, interpretiert sein Schicksal als Ausdruck für die Tragödie des Menschen, nur die Hoffnung erhalte ihn noch am Leben. Robert Rié schickt ein Manuskript mit dem Titel „Der Europamüde“, das in großer Detailliertheit seine Erlebnisse vor und nach dem „Anschluss“ sowie die Emigration nach Frankreich beschreibt und mit langen Überlegungen zur Charakteristik verschiedener Völker durchzogen ist, darunter auch eine Analyse, was den Deutschen am Nationalsozialismus gefalle: der Abbau der Hemmungen der Zivilisation im unausgesetzten Blutrausch und im gelebten Schundroman. Er selbst freue sich, die Auswanderung geschafft zu haben, träume aber noch oft von seiner Heimat und Herkunft. Und vielleicht sei das ja auch ganz gut, denn eines Tages sollte Europa wieder von Europa restauriert werden, damit sich die Menschheit wieder so nennen darf. An solchen Texten ist nicht nur die inhaltliche Deutung interessant – die offensichtlich eine deutliche Ambivalenz gegenüber Deutschland verarbeitet  –, sondern auch die zeitliche Ordnung: Anders als die Memoirentexte sind solche Deutungen explizit von der Gegenwart her geschrieben und greifen sogar in die Zukunft aus. Es handelt sich nicht nur um eine kollektive Montage, sondern auch um eine Momentaufnahme des historischen Verlaufs.

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II Das wahrscheinlich Faszinierendste dieser Sammlung ist wohl ihre Nähe zu den Ereignissen. Im Winter 1939/1940, in dem die Berichte geschrieben werden, ist der „Anschluss“ noch keine zwei Jahre her, die Reichspogromnacht etwas über ein Jahr. Und mehr noch: der Krieg ist zwar schon ausgebrochen, aber es ist keineswegs ausgemacht, wie er sich entwickeln wird und – besonders wichtig – ob die USA, das Exilland der meisten Autorinnen und Autoren, in ihn eintreten würden. Anders als die zahlreichen rückblickenden Berichte handelt es sich hier um Momentaufnahmen, die nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart und Zukunft deuten müssen. Wieder tun sie das auf sehr verschiedene Weise, wieder ist dabei auch die Form wichtig, da diese unterschiedliche Schreibsituationen und damit unterschiedliche Verhältnisse zu dieser Gegenwart und Zukunft implizieren und dabei auch die Vergangenheit je anders formen. Wie erwähnt, überwiegt die Form der relativ ausführlichen Memoiren, aber einige Berichte konzentrieren sich auch auf einige wenige Ereignisse. Schalom Ben Chorin etwa schildert nur die wenigen Tage der Inhaftierung und Verbringung in ein Konzentrationslager mit Details, Dialogen, der entsprechenden Dramatik und einer dezidierten Deutung: „Dieser Blick in die Hölle genügte, um mich aufzurütteln aus meiner selbstgewählten, hochmütigen Einsamkeit und […] um mich einzureihen in die Armee derer, die entschlossen sind zu kämpfen für die Vernichtung der Barbarei und die Wiedererrichtung des Rechtes in Deutschland.“13 Hier stellt die Literarisierung als Konversionsnarrativ gewissermaßen selbst die Deutung dar. In anderen Fällen wird das eigene Erleben zwar umfassender thematisiert, aber nicht im Rückblick, sondern in immer neuen Momentaufnahmen. Hertha Nathorffs Erinnerungen basieren auf einem Tagebuch, dass sie in ihr Londoner Exil gerettet hat und aus dem sie nun, Ende 1939, über 50 Seiten abschreibt: Es sind Berichte, oft im Telegrammstil, von der „Machtergreifung“, vom Reichstagsbrand, vom Judenboykott, die immer wieder vom Ausdruck des Staunens unterbrochen werden, dass so etwas im zwanzigsten Jahrhundert noch möglich sei, gelegentlich von Gedichten: „Immer wieder jetzt die gleiche Frage arisch oder nicht,  / und wer mich wieder fragt, dem schlag ich ins Gesicht“.14 Wie diese Gedichte versucht hatten, das Unverständliche zu verarbeiten, so wird auch im Exil das Erinnern selbst zum Trost:

13 Shalom Ben Chorin: Schutzhäftling Arthur Fischer. Harvard Universtiy, Houghton Library, Collection bMS Ger 91, Nr. 42, S. 89. 14 Narthoff: Das Tagebuch der Hertha Nathorff, S. 43.

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Erinnerung! Wie machst du mich reich! Gnadenspeise, von der ich zehre  – heute u. alle Tage, wo ich nun in schneidender Januarkälte mit steifen Fingern in einer dürftigen Stube in einer Londoner Vorstadt dieses niederschreibe – wartend, immer noch wartend auf die Visa nach U.S.  A.15

Das alte, in Teilen gerettete, teils rekonstruierte Tagebuch wird nun in einem neuen fortgeschrieben, das das erste Kriegsjahr umfasst und ständig zwischen Optimismus und Verzweiflung schwankt, zwischen dem Willen, eine neue Heimat zu gewinnen und den neuen Demütigungen des Emigrantendaseins. Andere Texte gehen anders mit der Zweideutigkeit von Erinnern und Erinnertem um. Walter Gottheil etwa beginnt in der Gegenwart. Heute sei Heiliger Abend, auch hier in Palästina, er lasse seine Erinnerungen schweifen und beginnt dann, seine Kindheit zu erzählen. Dabei ergeben sich auch im Fortgang immer wieder Parallelen zur Erzählgegenwart, etwa wenn er gerade am 30.  Januar über die Machtergreifung spricht, also an ihrem 17. Jahrestag, an dem es nun auch in Palästina kalt ist. Helen Hirsch erzählt in einem englischen Manuskript die Geschichte rückwärts: Sie betont gleich einleitend, dass sie sich nun in Amerika befinde, dass ihre Aussichten zwar nicht gut seien, sie aber trotzdem voller Hoffnung in die Zukunft blicken wolle. Sie schildert dann detailliert ihre Jugend in Wien, den Anschluss und die Auswanderung, um gegen Ende ihres Berichts eine lange Rede wiederzugeben, die ein alter Mitreisender während der Überfahrt nach Amerika hält: eine Rede über die Verwüstungen der Zivilisation und über die Zerstörung Europas, gegenüber der Amerika die Freiheit bewahren müsse, um der Zukunft ein Vorbild zu sein. Die erzählte Geschichte nähert sich hier nicht nur ihrem Ausgangspunkt, sondern endet mit einem Ausblick in die Zukunft. Auch wenn der Weg ins Exil wie hier rückwärts als Ankommen an dem Ort des Schreibens erzählt wird, ist das doch kein sicherer und stabiler Ort. Schließich ist zum Zeitpunkt, an dem die Berichte geschrieben werden, die Frage, wie es weitergeht, unabweisbar geworden. In fast allen Texten finden sich daher auch Spekulationen über die Zukunft, über die persönliche, aber auch die politische, ja welthistorische. Die Texte sind also gleichzeitig Dokumente und Deutungen. Sie schildern das Erlebte mehr oder weniger deutlich aus einer bestimmten Perspektive, aber diese Perspektive ist selbst eine prekäre, vorläufige, und viele Autorinnen und Autoren sind sich dessen auch voll bewusst. Um Momentaufnahmen handelt es sich nicht nur darum, weil sie von den Autoren über ihre eigenen Erlebnisse verfasst worden

15 Helga Nathorff: Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933. Harvard University, Houghton Library, Collection bMS Ger 91, Nr. 114, S. 9. Dieser Passus fehlt in der Ausgabe von Benz, die auch das Tagebuch der englischen Zeit nicht abdruckt.

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sind, sondern weil sie auch einen bestimmten historischen Moment, den Schreibaugenblick eben, konservieren, weil die Geschichte, die sie erzählen, gewissermaßen unterbrochen und eingefroren ist. Dieser historische Moment manifestiert sich besonders deutlich in der Form, in der diese Berichte uns überliefert sind: in den Spuren, die das Archiv in ihnen hinterlassen hat.

III Das Archiv hat für die Texte dieser Sammlung eine höchst ambivalente Funktion. Einerseits ist das Preisausschreiben und die Absicht, eine Sammlung anzulegen, ein Impuls der Textproduktion: Offensichtlich ist das Preisgeld, aber auch die Möglichkeit, die eigenen Erlebnisse zum Teil des öffentlichen Gedächtnisses zu machen, für viele der Autorinnen und Autoren der Anlass, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. Andererseits ist das Archiv eben auch die Institution der Unterbrechung und Stillstellung der Erinnerungen, welche nicht nur die einzelnen Berichte in ihrer provisorischen Form festhält, sondern sie auch aus dem privaten Raum der Verfasser ablöst, und sei es nur, indem die verschiedenen Berichte nebeneinandergestellt, kategorisiert, katalogisiert werden. Zum historischen Index der Texte gehören daher auch die Spuren ihrer Archivierung, die in der Houghton Library in denselben Akten aufbewahrt werden wie die Lebensberichte. Die Initiatoren des Preisausschreibens entstammten verschiedenen Disziplinen und hatten wohl auch verschiedene Absichten.16 Allport, der bekannteste von ihnen, hatte 1937 mit Personality. A Psychological Interpretation ein Standardwerk der Persönlichkeitsforschung vorgelegt, Hawthorne war Soziologe und Experte für das Erziehungswesen, Fay ein Historiker Preußens. Das genaue Forschungsdesign ist zwar nicht überliefert, aber die Art, wie mit den Einsendungen umgegangen wurde, lässt auf ein großes sozialpsychologisches und soziologisches Interesse schließen. Allport und Hawthorne engagierten sich stark im Projekt und antworteten den Beiträgerinnen und Beiträgern teilweise detailliert. Die eingehenden Texte wurden gelesen und annotiert, wahrscheinlich von Graduate Students, dabei wurden teilweise relativ komplexe psychologische und soziologische Informationen erfasst. Im Anschluss wurden zehn der Beiträgerinnen und Beiträger interviewt und Persönlichkeitsprofile erstellt. Nichtsdestotrotz scheint das Projekt ins Stocken geraten zu sein, vermutlich waren die Veranstalter von der

16 Vgl. Liebersohn und Schneider: My life in Germany, S. 3  ff., sowie: Vordtriede: Es gibt Zeiten; Garz: Mein Leben in Deutschland.

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Abb. 3: Fragebogen über Erna Albersheim, Harvard University, Houghton Library (Collection bMS Ger 91.Nr. 3).

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Zahl der Einsendungen überrascht. Jedenfalls sind die Ergebnisse bescheiden, als Resultat wurde lediglich 1941 ein Aufsatz von Allport mit J.S. Bruner und E.M. Jandorf publiziert: „Personality Under Social Catastrophe. Ninety Life Histories of the Nazi Revolution“.17 Hawthorne plante wohl, eine soziologische Monographie zu schreiben, wurde dann aber von seiner Arbeit für den amerikanischen Geheimdienst in Anspruch genommen und vollendete das Projekt bis zu seinem Tod 1946 nicht mehr. Aus den erhaltenen und bisher gesichteten Dokumenten ist nicht wirklich ersichtlich, in wie weit der Preis ausgezahlt wurde: Es scheint, dass die Hälfte des ersten Preises an Carl Paeschke vergeben wurde, auch über ein paar kleinere Zahlungen wird korrespondiert.18 In den meisten Akten findet sich aber ein entschuldigender Brief der Veranstalter, man habe leider so viele Einsendungen bekommen, dass die vorliegende keinen Preis bekommen könne; man würde aber begrüßen, wenn das jeweilige Manuskript noch zu wissenschaftlichen Zwecken behalten werden könnte. Nicht alle Autorinnen und Autoren stimmen dem zu, es finden sich auch eine Reihe von leeren Ordnern, in denen nur die Korrespondenz erhalten ist, das lässt vermuten – und in einigen Fällen auch rekonstruieren –, dass die Memoiren zurückgeschickt wurden. An ungefähr der Hälfte der vorliegenden Berichte finden sich Spuren von Bearbeitung durch die Empfänger mit stark variierender Intensität. Oft gibt es eine Zusammenfassung und auch mit einer Bewertung durch den Leser, sowie einen standardisierten Frageboten (Abb. 3), der mehr oder weniger umfassend ausgefüllt ist und Verwandtschaft, sozialen Status, „basic orientation“, also Wertorientierung, erfasst, aber auch „rumour, gossip“ und Erlebnisse mit Partei, Gestapo, Justiz, Bürokratie, Armee, Kirchen, Schulen und Universitäten, der Industrie oder sonstigen Gruppen erfasst, also sowohl soziologischen wie sozialpsychologischen Zwecken dient. Überliefert sind auch Karteikarten sowie Stichwortlisten und verschiedenfarbige und mit Sigeln markierte Anmerkungen, deren Logik sich nicht immer erschließt (Abb. 4, 5). Die Kommentare der Wissenschaftler variieren ebenfalls stark, meist handelt sich es nur um kurze Zusammenfassungen und allgemeine Charakterisierungen, es finden sich aber auch ausführlichere Kommentare, oft kritischer Art, so etwa zum Bericht von Alfred Christian Oppler, wo der Reviewer vermerkt: „it would be of definite interest to ask the writer of his present adjustment in this country to see just how complete the break with

17 G.W. Allport, J.S. Bruner und E.M. Jandorf: Personality Under Social Catastrophe. Ninety Life Histories of the Nazi Revolution. In: Character and Personality 10 (1941), S. 1–22. 18 Vgl. den Brief von Sidney B. Fay an Carl Paeschke vom 13.  11. 1940. Harvard Universtiy, Houghton Library, Collection bMS Ger 91, Nr. 197.

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Abb. 4: Paul Diel: Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. 1. 1933, Harvard University, Houghton Library (Collection bMS Ger 91.Nr 49, S. 3, mit Anmerkungen).

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Abb. 5: Karteikarte mit Notizen zu Karl Paeschke. Harvard University, Houghton Library (Collection bMS Ger 91, Nr. 174).

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Germany really is”.19 An dem erwähnten Bericht von Ben-Chorin lobt der Reviewer die große psychologische Verdichtung, merkt aber auch an, es könne wohl nur als Zeichen von „Regression“ bewertet werden, dass der Autor heute Theologe sei. Noch markanter ist die Distanzierung beim Bericht von Karl Otto Thieme, einem Mitglied der bekennenden Kirche, der lange Charakterisierungen von Hitler und dem „Deutschen Wesen“ mit umfangreichen theologischen Reflexionen enthält, sich aber auch selbst immer wieder befragt, wie nazistisch er eigentlich selbst geprägt sei. Die „summary“ des Jurors – die selbst einräumt „may be unfair“ zu sein – findet diesen Diskurs typisch: I suggest that the whole committee and all those who work on the projected book read this in extenso. To my mind this Ms. shows just why Hitler was possible. By that I don’t mean that the author has shown it in his comments. He has shown it by being almost a caricature of the type of German.20

Das ganze Manuskript ist dann auch mit zynischen Kommentaren übersät wie „Hallelujah“, „Ideological confusion!“, „This man is a hopeless case of fideism!“ – offensichtlich hatte auch der Kommentator ein doch recht klares Bild davon, was typisch deutsch sei und wie eine gesunde psychologische Entwicklung zu verlaufen habe. Das Forschungsunternehmen ist bereits an sich interessant im Kontext der frühen Erforschung des Nationalsozialismus, und zwar sowohl auf Seiten der amerikanischen Initiatoren, deren Interessen in eine Reihe ähnlicher Unternehmen zu stellen wäre,21 als auch auf Seiten der Autoren der Lebensberichte, die ja ihre Erfahrungen bereits interpretieren und sich auch mit anderen Interpretationen auseinandersetzen. Im Falle von Thieme etwa gibt es eine lange Auseinandersetzung mit Hermann Rauschnigg, dessen Bücher Revolution des Nihilismus (1938) und Gespräche mit Hitler (1939) eine wichtige Rolle in vielen frühen Versuchen spielen, den Nationalsozialismus zu verstehen. Autoren wie Thieme sind auch deshalb interessant, weil sich an ihnen beobachten lässt, wie die Exilierten versuchen, die ‚europäischen‘ Kategorien ihres politischen Denkens zu reformulieren, um ihre Erfahrungen zu verstehen. Was Thieme hier gegenüber seinem amerikanischen Leser nicht gelang – sich in einen neuen Kontext zu übersetzen und

19 NN: Guide to future use of the Manuscript of Alfred Christian Oppler. Harvard University, Houghton Library, Collection bMS Ger 9, Nr. 172. 20 NN: Conceptual Interpretative Summary on Karl Thieme. Harvard Universtiy, Houghton Library, Collection bMS Ger 91, Nr. 233. 21 Vgl. etwa Raffael Laudani (Hg.): Secret Reports on Nazi Germany. The Frankfurt School Contribution to the War Effort. Princeton 2013.

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auch das eigene Denken zu revidieren – spielt auch in der intellektuellen Arbeit der akademisch erfolgreicheren Emigranten eine wichtige Rolle.22 Aber das Forschungsprojekt ist auch archivtheoretisch interessant. Denn dadurch, dass das Unternehmen offensichtlich abgebrochen wird, verstärkt sich die Mehrdeutigkeit des Materials der Sammlung. Die Texte changieren zwischen Zeugnis und Dokument. Eröffnet wurde das Projekt als Sammlung von Zeugnissen, die dann aber durch den wissenschaftlichen Apparat, durch Indexierung und Vergleich in eine Sammlung von Dokumenten umgewandelt wird, ein Prozess, der selbst einen historischen Index hat: ein bestimmtes wissenschaftliches Programm. Aber diese Transformation ist wiederum nicht komplett, sondern selbst noch einmal eingefroren, weil das Unternehmen nicht vollständig durchgeführt wurde. Was überliefert wurde, ist  – wie immer  – eine Ruine, aber eine Ruine, an der die Spuren ihrer Bearbeitung gerade darum deutlich werden, weil diese irgendwann aufgegeben worden ist und das Material im Archiv zurückgelassen wurde. Was hier sichtbar wird  – diese Dimension des Archivischen  – ist nicht äußerlich und nicht nur eine Frage der Überlieferung. Denn die Archivisten, deren Arbeitsspuren wir hier sehen – Anstreichungen, Stichworte, Zusammenfassungen Vergleiche – sind letztlich ja auch nur Präfigurationen unserer selbst. Auch unsere Lektüren changieren, auch für uns ist das, was wir da wahrnehmen, Zeugnis und Dokument zugleich, auch wir legen unsere Fragen über den Text, wenn wir beginnen, ihn zu lesen, hören aber auch immer die Stimmen der Anderen durchklingen.

Literaturverzeichnis Allport, G.W., J.S. Bruner und E.M. Jandorf: Personality Under Social Catastrophe. Ninety Life Histories of the Nazi Revolution. In: Character and Personality 10 (1941), S. 1–22. Anderson, Mark: Hitler’s exiles. Personal Stories of the Flight from Nazi Germany to America. New York 1998. Ben-Chorin, Shalom: Schutzhäftling Arthur Fischer. Harvard University, Houghton Library, Collection bMS Ger 91, Nr. 42. Brief von Sidney B. Fay an Carl Paeschke vom 13. 11. 1940. Harvard University, Houghton Library, Collection bMS Ger 91, Nr. 197. Conceptual Interpretative Summary on Karl Thieme. Harvard Universtiy, Houghton Library, Collection bMS Ger 91, Nr. 233.

22 Vgl. Daniel Weidner: Doppelstaat, Unstaat, Massenwahn. In: Exilforschung 32 (2014): Sprache(n) im Exil, hg. von Doerte Bischoff, Christoph Gabriel und Esther Kilchmann, S. 100–117.

Kollektive Montage, Momentaufnahme und Arbeit des Archivs 

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Ebeling, Knut und Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin 2009. Garz, Detlev: Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933. In: Irmtrud Wojak und Susanne Meinl (Hg.): Im Labyrinth der Schuld. Täter, Opfer, Ankläger. Jahrbuch 2003 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, hg. von Fritz Bauer Institut. Frankfurt a. M. 2003, S. 333–357. Gebhard, Bruno: My life in Germany before and after 1933, Harvard University, Houghton Library, Collection bMS Ger 91. Nr. 101. Guide to future use of the Manuscript of Alfred Christian Oppler. Harvard University, Houghton Library, Collection bMS Ger 9, Nr. 172. Kahle, Marie: What would you have done? The Story of the Escape of the Kahle Family from Nazi Germany. London 1945. Kahle, Marie: Was hätten Sie getan? Die Flucht der Familie Kahle aus Nazi-Deutschland. Bonn 1998. Laudani, Raffael (Hg.): Secret Reports on Nazi Germany. The Frankfurt School Contribution to the War Effort. Princeton 2013. Lepper, Marcel und Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2016. Liebersohn, Harry und Dorothee Schneider (Hg.): My life in Germany before and after January 30, 1933. A guide to a manuscript collection at Houghton Library, Harvard University. Philadelphia 2001, S. 29. Löwith, Karl: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Stuttgart, 2. Auflage 2007; Nathorff, Helga: Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933. Harvard University, Houghton Library, Collection bMS Ger 91, Nr. 114. Nathorff, Hertha: Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945, hg. von Wolfgang Benz. Frankfurt a. M. 1988. Samuel, Arthur: Mein Leben vor und nach dem 30. Januar 1933. In: Bonner Geschichtsblätter 49/50 (1999/2000), S. 399–457. Saunders, Anna: My life in Germany before and after 1933. Harvard University, Houghton Library, Collection, bMS Ger 91. Nr. 57. Vordtriede, Käthe: Es gibt Zeiten, in denen man welkt. Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, hg. von Detlef Garz. Lengwil 1999. Weidner, Daniel: Doppelstaat, Unstaat, Massenwahn. In: Exilforschung 32 (2014): Sprache(n) des Exils, hg. von Doerte Bischoff, Christoph Gabriel und Esther Kilchmann, S. 100–117. Weigel, Sigrid: Vor dem Archiv. Inkorporation, Verschwinden und Wiederkehr von Sammlungen und Bibliotheken im Archiv. Die Fälle Szeemann, Cohen und Benjamin. In: Falko Schmieder und Daniel Weidner (Hg.): Ränder des Archivs. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf das Entstehen und Vergehen von Archiven. Berlin 2016, S. 177–203.

Nicolas Berg

Archivspuren einer Denkfigur: Der ‚amerikanische Goethe‘ als Exil- und Projektionsmetapher des deutsch-jüdischen Schriftstellers Iwan Heilbut 1 Das Alphabet des Zeugen lernen: Nachdenken über Exilbiografien Der folgende Versuch ist das Ergebnis einer archivalischen Spurensuche im Nachlass des deutsch-jüdischen Schriftstellers Iwan Heilbut (1898–1972). Über sein Leben und Werk wurde seit den 1980er Jahren keine umfassendere historisch-biografische Forschung oder germanistische Untersuchung mehr verfasst, seit der Germanist und Exilforscher John M. Spalek dessen ideelles Erbe an das Deutsche Exilarchiv 1933–1945 nach Frankfurt am Main vermittelt hat und Maria Luise Caputo-Mayr eine Sichtung des umfangreichen Bestandes vornahm und auf dieser Grundlage eine erste kurze Werkbiografie des Dichters präsentierte.1 Im Jahre 1993 wurde Iwan Heilbut im Band „Deutsche Intellektuelle im Exil“ als eine von 33 Biografien exemplarisch vorgestellt.2 Nach einer gut zwei-

1 Über John M. Spalek, der 1928 in Warschau geboren wurde, 1949 in die Vereinigten Staaten emigrierte und dort u.  a. über Lion Feuchtwanger und Ernst Toller forschte, vgl.: Claus-Dieter Krohn: John M. Spalek, Pionier der Exilforschung. In.: Wulf Koepke/Jörg Thunecke (Hg.): Preserving the Memory of Exile. Festschrift for John M. Spalek on the Occasion of his 80th Birthday. Nottingham 2008, S. 10–26; Maria Luise Caputo-Mayr: Iven George Heilbut (Ivan Heilbut). In: John M. Spalek und Joseph Strelka (Hg.): Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2, Teil 1. Bern 1989, S. 342–357; vgl. auch den Eintrag zu Iwan Heilbut in: Archiv Bibliographica Judaica (Hg.): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 10: Güde – Hein. Redaktionelle Leitung Renate Heuer. Unter Mitarbeit von Jürgen Eglinsky u.  a. München 2002, S. 339–346; der Eintrag in der OnlineEnzyklopädie Wikipedia basiert auf den hier zusammengetragenen bibliografischen Daten. Ernst Loewy nahm Heilbuts Gedicht „Die Geiseln“ von 1941 in seine enzyklopädische Textsammlung zum Exil auf, vgl.: Ernst Loewy (Hg.): Exil. Literarische und politische Texte aus dem literarischen Exil 1933–1945, 3 Bde., Bd. 1: Mit dem Gesicht nach Deutschland. Frankfurt a. M. 1981, S. 444  f. (Vgl. auch die kurze biografische Notiz in: ebd., Bd. 3. Frankfurt a. M. 1982, S. 1249  f.). 2 Deutsche Intellektuelle im Exil, ihre Akademie und die „American Guild for German Cultural Freedom“. Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main. Ausstellung und Katalog: Werner Berthold, Brita Eckert und Frank Wende. München u.  a. 1993, S. 447–455. https://doi.org/10.1515/9783110542103-003

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einhalb Jahrzehnte währenden Latenzphase, in der Heilbut fast vergessen zu sein schien, nehmen in den letzten Jahren Bezugnahmen auf sein Lebensschicksal und seine Werke wieder zu, prominent etwa in der im Frühjahr 2018 neu eröffneten Dauerausstellung des Deutschen Exilarchivs.3 Iwan Heilbut wurde in eine bürgerliche Familie Hamburgs geboren, studierte französische und deutsche Literatur, arbeitete nach dem Ersten Weltkrieg einige Jahre als Theaterkritiker und Kulturjournalist und schrieb bereits in jungen Jahren Romane und Gedichte. Das Jahr 1933 zerschlug alle Pläne und Gewissheiten des Mitdreißigers; er musste vor den Nazis aus Deutschland fliehen, zuerst ging er nach Prag, dann nach Paris und von dort rettete er sich über Spanien und Portugal in die Vereinigten Staaten, wo er sich in New York mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verdiente er seinen Lebensunterhalt für einige Jahre als Lehrer an einem Mädchencollege; 1947 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Anfang der 1950er Jahre kehrte er – zunächst besuchsweise, später auch für längere Phasen – nach Deutschland zurück. Hier verstarb er auch an den Folgen eines Herzinfarkts am 15. April 1972 in einem Bonner Hotel. Verbunden mit einer zu gleichen Teilen erfahrungs- wie ideengeschichtlichen Annäherung an dieses so exemplarische Exilleben werden auf den folgenden Seiten auch Fragen zur Methodologie der Biografik diskutiert, Fragen, die das Genre und das wissenschaftlich-biografische Eingedenken generell aufwirft, denn nicht die Nachlebenden und (Literatur-)Historiker sind die ersten Biografen der Person, sondern immer diese selbst.4

3 Diese Wiederentdeckung verdankt sich vor allem Sylvia Asmus, die das Konzept für die Dauerausstellung verfasste, vgl. auch ihre Erwähnungen von Iwan und Charlotte Heilbut, seiner Ehefrau, und ihres Sohnes Francis in ihrem Beitrag: Sylvia Asmus: Was bleibt? Zeugnisse von Passagen aus der Sammlung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 17 (2017), Schwerpunkt „Passagen des Exils“. Hg. von Burcu Dogramaci und Elizabeth Otto, S. 39–53 (hier u.  a. der Verweis auf Heilbuts Roman Birds of Passage von 1943); außerdem: dies.: Exil. Erfahrung und Zeugnis. Reale und virtuelle Ausstellungen des Deutschen Exilarchivs 1933–1945. In: Zeitschrift für Museum und Bildung (2018), Nr. 84/85, S. 52–65 (auf S. 57 das Faksimile des 1940 in Marseille gefälschten tschechoslowakischen Passes für das Ehepaar Heilbut und ihren Sohn, der ihnen das Leben rettete); mit der „virtuellen Ausstellung“ ist u.  a. das Netzwerkprojekt „Künste im Exil“ gemeint, in dem Iwan Heilbut ebenfalls mehrfach erwähnt wird (www.kuenste-im-Exil.de; hier etwa eine Faksimile-Abbildung des Schiffstickets der Familie Heilbut für die Serpa Pinto von Lissabon nach New York am 28. Dezember 1940). 4 Zur Methodologie des Genres: Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar 2009; Bernhard Fetz (Hg.): Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin, New York 2008; Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979; wertvolle Anregungen verdankt der vorliegende Aufsatz den folgenden Studien: Irmtraud Ubbens: „Aus meiner Sprache verbannt …“: Moritz Goldstein, ein deutsch-jüdischer Journalist und

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Ein Ausgangspunkt für beides war der vor über zehn Jahren erschienene Beitrag von Hans-Magnus Enzensberger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem dieser das Exilgedicht „Welt und Wanderer“ von Heilbut würdigte, dessen handschriftliches Faksimile er in einer Vitrine des seinerzeit neueröffneten Literaturmuseums der Moderne in Marbach entdeckt hatte. Das Gedicht und die materielle Aura des Papiers und der Handschrift Heilbuts, dieses „vergilbte Blatt“, so Enzensberger, habe ihn dazu verführt, „sich auf die Suche nach dem verschollenen Autor zu machen.“5 In seinem Artikel findet sich aber leider nur ein sehr schmales Ergebnis dieser Suche; auch deshalb, so scheint es, fügte Enzensberger seiner Recherche am Ende noch ein Lob des Archivs und des Berufs der Archivare an, das in einen Kommentar zur generellen Frage nach dem intellektuellen und gesellschaftlichen Ort jener Biografien mündete, die in den 1930er Jahren aus Deutschland verjagt wurden. Dieser Satz konterkariert die im Text von Enzensberger selbst begonnene persönliche Wiederentdeckung des Schriftstellers, der vor allem ihm selbst unbekannt war: Wahrscheinlich wird nie wieder jemand seine [Heilbuts, NB] Schriften drucken. Womöglich reicht es nicht einmal zu einer Dissertation, und auch den Roman seines Lebens wird keiner mehr schreiben. Die Geschichte der Literatur ist vergesslich, und damit mag es am Ende sogar sein Bewenden haben. Die Menschheit kann und will sich nicht alles merken.

Diesen Passus in einer Spurensuche nach einem aus dem öffentlichen Gedächtnis Gefallenen und in einer plötzlichen Laudatio der Institution des Archivs zu lesen, erstaunt. Wie immer die Menschheit als Ganzes oder auch nur die deutschen Spracherben dieses jüdischen Dichters sich weiter zu Heilbut verhalten mögen: Es irritiert, als Teilbotschaft im Moment seiner Wiederentdeckung lesen zu müssen, dass es „sein Bewenden“ damit haben mag, wenn sich außer den Archivaren und ihrem zum Scheitern verurteilten „Kampf mit der Vergeßlichkeit“ niemand um

Schriftsteller im Exil. München 2002; Andrea Reiter: Die Exterritorialität des Denkens. Hans Sahl im Exil. Göttingen 2007; Doerte Bischoff: Die jüdische Emigration und der Beginn einer (trans-) nationalen Exilforschung: Walter A. Berendsohn. In: Rainer Nicolaysen (Hg.): Auch an der Universität. Über den Beginn von Entrechtung und Vertreibung vor 80 Jahren. Reden der Zentralen Gedenkveranstaltung der Universität Hamburg im Rahmen der Reihe „Hamburg erinnert sich 2013“ am 8. April 2013. Hamburg 2014, S. 53–76; Mona Körte: Dichtungslogiken des Ich. Theoriebildung im Exil bei Käte Hamburger und Margarete Susman. In: Stephan Braese und Daniel Weidner (Hg.): Meine Sprache ist Deutsch. Deutsche Sprachkultur von Juden und die Geisteswissenschaften 1870–1970. Berlin 2015, S. 174–198. 5 Hans-Magnus Enzensberger: Heilbut? Nie gehört! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 119 vom 23. Mai 2006, S. 39.

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das Erbe und den Nachlass von Iwan Heilbut bemüht, weil man sich – individuell wie kollektiv – sowieso nicht alles merken könne.6 Die vorliegende Reflexion nimmt die zur Universalie geadelte Paradoxie von Enzensbergers Doppelbotschaft zum Ausgangspunkt, um noch einmal gegen sie Einspruch zu erheben.7 Statt Erinnerung zu stiften, um diese dann sogleich wieder in Frage zu stellen, wird Iwan Heilbut im Folgenden nicht als vergangen und vergessen verstanden, sondern als symptomatischer Gewährsmann für einen ganz eigenen, der Exilsituation Heilbuts entsprechenden Blick auf die Bedeutung Goethes befragt.8 Das Ergebnis dieser archivalischen Annäherung an den Schriftsteller basiert nicht auf dessen dichterischem Werk, zumindest nicht primär, sondern auf unpubliziert gebliebenen Notizen und Gebrauchstexten aus dem im Frankfurter Exilarchiv verwahrten Nachlass. Die Lektüre seiner Vorlesungstexte und -materialien, die er für seine Kurse über deutsche Literatur am 1870 als College für Frauen gegründeten Hunter College an der Park Avenue auf der East Side von Manhattan schrieb, dienen im vorliegenden Essay als Grundlage für den Versuch, den Autor und seine Weltsicht jener Jahre genauer kennenzulernen.

6 Enzensberger: Heilbut. Der Satz im Zusammenhang: „[D]och sieht man das Blatt in der Vitrine mit anderen Augen an, wenn man weiß, wer es geschrieben hat. Die kleine Aura und der schwache Trost, das ist es, was uns die Archive zu bieten haben. Sie nehmen den Kampf mit der Vergeßlichkeit auf. Es ist ein Kampf, den niemand gewinnen kann. Daß die Archivare ihn nicht aufgeben, darin liegt ihr diskreter Ruhm und ihre Tugend.“ 7 Zum Artikel von Enzensberger vgl. auch den Leserbrief des Deutschen Exilarchivs, in dem nachgetragen wurde, dass sich Heilbuts Nachlass in ihrem Bestand befinde, Enzensberger dort aber nicht recherchiert habe: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 147 vom 27. Juni 2006, S. 8; außerdem erfolgten Richtigstellungen und Korrekturen von Paul Raabe (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Juni 2006, S. 48); Jeannette Strauss Almstad und Matthias Wolfes (ebd., 19. Juni 2006) und Klaus Jonas (ebd., 27. Juni 2006). 8 Das Kapitel „Goethe im Exil“ bezeichnete Karl Robert Mandelkow 1989 noch als ein „weithin unbekanntes und unerforschtes Gebiet.“ Vgl. Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 2: 1919–1982. München 1989, S. 117–134, hier 117; inzwischen trifft diese Einschätzung natürlich nicht mehr zu, vgl.: Brita Eckert und Werner Berthold, u. Mitarb. von Mechthild Hahner (Hg.): „… er teilte mit uns allen das Exil“: Goethebilder der deutschsprachigen Emigration 1933–1945. Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Bibliothek. Begleitbuch. Wiesbaden 1999; Brita Eckert: Goethe-Rezeption im Exil 1933 bis 1949. In: Exilforschung 18 (2000), S. 230–253; Wolfgang Frühwald: Die Goethe-Rezeption in der deutschsprachigen Exilliteratur. Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge. Paderborn, München, Wien, Zürich 2002; Gert Sautermeister und Frank Baron (Hg.): Goethe im Exil. Deutsch-amerikanische Perspektiven, Bielefeld 2002, hierin v.  a. der Aufsatz von Guy Stern: Goethe as a Figure in Exile Literature. In: ebd., S. 281–185; wichtig auch die Hinweise im Aufsatz von: Lutz Winckler: Exilliteratur und Literaturgeschichte – Kanonisierungsprozesse. In: Bettina Bannasch und Gerhild Rochus (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin, Boston 2013, S. 171–202.

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Es wird dabei an den Goetheverehrer und -forscher erinnert, der Iwan Heilbut ebenfalls war und als der er im Exil Goethe zum Ausgangspunkt nahm, um seine eigene Existenz symbolhaft zu bebildern, neu zu durchdenken und auch politisch auszuformulieren. Diese Beschäftigung mit dem Lehrer Heilbut, der seinen amerikanischen Studentinnen deutsche Literatur beibringt und dabei nicht nur sie in das Werk Goethes einführt, sondern faktisch auch sich selbst ein neues Goethebild vermittelt, verdankt sich keinem rein antiquarischen Interesse, sondern ist als Erinnerungsappell gemeint. Denn es gibt gute Gründe, neben den von ihm publizierten Erzählungen und Büchern auch noch einmal die im Nachlass überlieferten Manuskripte in die Hand zu nehmen, die zu seinen Lebzeiten nicht für den Druck gedacht waren. Wenn wir von der Vorstellung Abstand nehmen, dass uns Autoren das Wesentliche in ihren Hauptwerken mitteilen, sondern wenn wir stattdessen eine mit ihrer Exilwirklichkeit, die solche Hauptwerke sehr häufig nicht ermöglicht hat, angemessenere Zwiesprache mit ihnen halten, dann können sie unsere Fragen sehr genau beantworten. Der Basler Historiker Jacques Picard hat vor einigen Jahren in einem bemerkenswerten Buch über Möglichkeiten und Grenzen der Biografik mit Blick auf die Besonderheit jüdischer Schicksale im 20. Jahrhundert die These vertreten, dass hier für Historiker gleich mehrere zusätzliche Aufgaben zu bewältigen seien: Einmal müsse man eine Antwort auf die Frage finden, wie sich Erfahrungen von Gebrochenheit überhaupt vermitteln und darstellen lassen; außerdem – dies ist mit der ersten Frage eng verbunden –, sei zu reflektieren, wie erinnernde Anerkennung von Leid erfolgen könne.9 Picard geht in seiner Annäherung davon aus, dass der Biograf die Sprache der Überlebenden nicht schon Apriori versteht, sondern das Alphabet des Zeugen erst lernen muss.10 Erst mithilfe dieser Sprache des jüdischen Überlebens und des im Exil erlernten Provisoriums und Neuerfindens

9 Jacques Picard: Das Alphabet der Erinnerung. Über Biographik und andere Zeitfelder des Schreibens. In: ders.: Gebrochene Zeit. Jüdische Paare im Exil. Zürich 2009, S. 287–332 u. S. 391– 400, hier S. 291; zur jüdischen Exilerfahrung auch: Itta Shedletzky: Exil im deutsch-jüdischen Kontext – Theologie, Geschichte, Literatur, in: Bannasch/Rochus (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur, S. 27–47; Vivian Liska: Exil und Exemplarität. Jüdische Wurzellosigkeit als Denkfigur. In: Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein (Hg.): Literatur und Exil. Neue Perspektiven. Berlin, Boston 2013, S. 239–255; Joachim Schlör: „Menschen wie wir mit Koffern“. Neue kulturwissenschaftliche Zugänge zur Erforschung jüdischer Migrationen im 19. und 20. Jahrhundert: In: Gerald Lamprecht u.  a. (Hg.): „Nach Amerika nämlich.“ Jüdische Migrationen in die Amerikas im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2012, S. 23–54; Anne Kuhlmann: Das Exil als Heimat. Über jüdische Schreibweisen und Metaphern. In: Exilforschung 17 (1999), S. 198–213; Guy Stern: Der jüdische Beitrag zur Exilliteratur. In: ders.: Literarische Kultur im Exil. Gesammelte Beiträge zur Exilforschung (1989–1997). Dresden 1998, S. 50–66. 10 Picard: Das Alphabet der Erinnerung, S. 322.

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der eigenen Vita lassen sich die „narrativen Strukturen jüdischer Geschichte und Geschichten“ erkennen, nacherzählen und deuten.11 Die herkömmlichen Konzepte der Biografie-Forschung, etwa die verbreiteten Konzepte „Identität“ und „Lebenswelt“12, so Picard, erweisen sich häufig als umso fragwürdiger, je konkreter man Exil-, Flucht- und Überlebens-Biografien betrachtet und darzustellen versucht. Die klassischen Genre-Axiome der Biografie, also die Vorstellungen von „Authentizität“, „Autonomie“ und „Entwicklung“, die in der säkularisierten Moderne schon an sich fragwürdig geworden sind, erscheinen im Kontext des jüdischen Exils besonders unpassend.13 Und noch ein Weiteres kommt für die zurückblickenden Historiker in diesem Fall hinzu: In der jüdischen Geschichtsschreibung ist die Lebensbeschreibung  – dieses paradigmatische Genre, das eigentlich der individuellen Selbstentfaltung gilt  – in besonders hohem Maße immer auch das Porträt einer Gruppe oder Schicksalsgemeinschaft, nicht zuletzt deswegen, weil der Einzelne ständig Anfeindungen zu gewärtigen hat, die auf „die Juden“ als Gruppe zielen.14 Gerade dieser Aspekt, der sich nach dem Holocaust in das Bewusstsein der allermeisten Holocaustüberlebenden überträgt und sich in der quälenden Frage verdichtet, ob man je nach Deutschland zurückkehren könne, oder ob die Heimat für immer zu meiden ist, weil man nicht wissen könne, wem man dort die Hand gibt, dieses Bewusstsein kontaminiert die Idee der Rückkehr bei jüdischen Exilierten (auch in jenen Fällen, wo sie schließlich gewagt und vollzogen wird) um ein Vielfaches stärker als bei nichtjüdischen Vertriebenen und Remigranten.15 Die grundlegende Ambivalenz des RückkehrThemas gehört deshalb ebenfalls zu den Apriori, die beim Verstehen jüdischer Flucht- und Exilbiografien besondere Aufmerksamkeit beanspruchen und hermeneutische Genauigkeit benötigen.16

11 Picard: Das Alphabet der Erinnerung, S. 291. 12 Picard: Das Alphabet der Erinnerung, S. 291. 13 Picard: Das Alphabet der Erinnerung, S. 310. 14 Picard: Das Alphabet der Erinnerung, S. 320. Picard verweist in diesem Aufsatz u.  a. auf das Werk des Sozialpsychologen Kurt Lewin (1890–1947), selbst Exilant, der die neutrale Kategorie des „Feldes“ dem emphatisch aufgeladenen Konzept der „Lebenswelt“ vorgezogen hat (ebd., S. 321  ff.). 15 Exemplarisch Werner Vordtriede: Das verlassene Haus. Tagebuch aus dem Amerikanischen Exil 1938–1947. München o.  J. [1975], der sich an ein Gespräch im Jahr 1943 mit Richard Alewyn an der Columbia-Universität in New York erinnert und vom „verseuchten und verdorbnen Deutschland“ spricht. (ebd., 178); erwähnt wird die Passage auch bei Klaus Garber: Zum Bilde Richard Alewyns. München 2005, S. 96. 16 Wulf Köpke, Gibt es eine Rückkehr aus dem Exil? In: John M. Spalek (Hg.): Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 3.: USA, Teil 3. Berlin, New York 2002, S. 334–363; David Kettler: The Liquidation of Exile. Studies in the Intellectual Emigration of the 1930s. London, New York 2011.

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Für die Konstellation, die auch für Iwan Heilbut zutrifft und die sich somit für jene, die sich ihm zuwenden, mit dem Gang ins Archiv und der Spurensuche nach ihm ergibt, ließe sich im Anschluss an die Überlegungen Picards folgern, dass das Entscheidende auch in seinem Fall weder das Thema seiner publizierten Schriften oder die literarische Qualität der von ihm gewählten Darstellungsweisen und -formen ist, sondern dass mit seinen New Yorker Goethe-Interpretationen etwas Zusätzliches abgebildet wird, etwas, das nicht in Stoff, Inhalt, Gestaltung und literarischem Gehalt allein zu fassen ist: Picard spricht in diesem Zusammenhang von Ideenfiguren und Erfahrungen, die „Formen für eine innere Verarbeitung des Verlustes von alter Lebenswelt und Strategien für ein Weiterleben in neuen Umwelten“17 darstellen und schreibt: Das eigene Lebensschicksal und die durchlebte Epoche selbst werden implizit in den Medien von Philosophie, Psychologie, Geschichte oder dann Malerei, Musik und Theater [und man darf hinzufügen: Literatur oder aber Goetheforschung, N.B.] thematisiert.18

Picard nennt diese ideellen Wissensgebiete oder auch jene praktischen Lebensformen, in denen oder an denen Nachdenken sich vollzieht, „Projektionsmetaphern“19, durch die die eigentliche Geschichte der eigenen Erlebnisse und Erfahrungen verhandelt wird. Vor diesem Hintergrund erscheint es übrigens auch schlüssig, dass ein Großteil derjenigen Texte und Theorien, die grundlegende methodologische Fragen zum Problem der Biografik reflektieren, einer Tradition entstammen, der Autoren angehören, die selbst Migrations-, Vertreibungs- und Exilerfahrungen hatten. Picard verweist hierfür etwa – um nur beispielhaft eine Reihe von Namen aus der älteren Generation zu nennen – auf Kurt Lewin, Norbert Elias und Max Horkheimer.20 Man könnte diesen prominenten Namen aber noch weitere, weniger bekannt gewordene hinzufügen, etwa Ernst Grünfeld und seine

17 Picard: Das Alphabet der Erinnerung, 300. 18 Picard: Das Alphabet der Erinnerung, 303; Picard bemerkt, dass für jede der Persönlichkeiten, die er im Buch porträtiert, ihr Ausschluss, ihre Vertreibung und ihr Überleben lebendig geblieben seien. Jedoch nicht die Erinnerung hieran oder das Reden und Nachdenken über das Widerfahrene sei das biografisch Fassbare; eher werde deutlich, so Picard, „daß die Frage nach dem Überleben eine andere, wenig offenkundige Sprache führt. Es sind banal anmutende Gegenstände, wie Uhren oder Werkzeuge zu ihrer Herstellung, oder ein Puppentheater und Skulpturen, oder die Befassung mit Philosophie und Psychotherapie, oder die Wahl eines Studienfaches, aus denen der Drang nach Erklärungen des eigenen Überlebens spricht.“ (ebd., 332) 19 Ebd., 305. 20 Picard: Das Alphabet der Erinnerung, S. 315  f.

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lange Zeit vergessene Studie Die Peripheren (1939)21 oder Vertreter der Literaturund Sozialwissenschaften, die schon als Kinder zusammen mit ihren Eltern aus Deutschland oder Österreich fliehen konnten und die dann später, nach ihrem Studium in Amerika, im Nachdenken über erkenntnistheoretische Fragen diese Exiltradition fortführten. Zu nennen wären im vorliegenden Kontext beispielhaft der Germanist Guy Stern (Jg. 1922)22 oder aber der Sozialwissenschaftler David Kettler (Jg. 1939), der mit seinen Publikationen als einer der besten Kenner von Leben und Werk von Karl Mannheim und Franz Neumann gilt.23 Den Arbeiten beider verdankt auch die vorliegende Studie mehr, als mit Nachweisen in den Anmerkungen deutlich gemacht werden kann.

2 In New York mit dem ‚Faust‘ in der Hand getrennte Welten verbinden Iwan Heilbut erneuerte im Exil sein Nachdenken über Goethe von Grund auf. Sich ihm über die besondere Verehrung für Goethes Leben und Werk zu nähern, der seit Rahel Varnhagen, Heinrich Heine, Ludwig Geiger, Hermann Cohen und Walter Benjamin (um nur diese fünf exemplarisch zu nennen) eine jüdische Tradition eingeschrieben ist, basiert auf Archivfunden im Deutschen Exilarchiv Frankfurt am Main, das neben Briefen auch Manuskripte verwahrt, die Heilbut für größere Vorträge und vor allem für seinen Unterricht verwendet hat.24 Der Ausgangspunkt

21 Ernst Grünfeld: Die Peripheren. Halle/Saale 1939; hierzu: Nicolas Berg: Ernst Grünfeld und „Die Peripheren“ (1939) – Erinnerung an ein vergessenes Werk über die Soziologie der Aussonderung. In: Sabine Koller und Verena Lepper (Hg.): Rethinking the Diaspora: Jewish Minorities in the Past, Present and Future [erscheint demnächst im Berliner Kadmos-Verlag]. 22 Guy Stern: Leben in Briefen. In: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 7 (2013), H. 2, S. 13–22; ders.: Deutsche Kultur, jüdische Ethik. In: Renate Heuer und Ludger Heid (Hg.): Deutsche Kultur – jüdische Ethik. Abgebrochene Lebenswege deutsch-jüdischer Schriftsteller nach 1933. Frankfurt a. M., New York 2011, S. 15–24; ders.: Literarische Kultur im Exil. 23 David Kettler und Gerhard Lauer (Hg.): Exile, Science, and ‚Bildung‘. The Contested Legacies of German Emigré Intellectuals. New York 2005; David Kettler: The Liquidation of Exile: Studies in the Intellectual Emigration of the 1930s. London, New York 2011; Detlev Garz und David Kettler (Hg.): Nach dem Krieg! Nach dem Exil? Erste Briefe – First Letters. Fallbeispiele aus dem sozialwissenschaftlichen und philosophischen Exil, München 2012. 24 Allgemein zum ideengeschichtlichen Hintergrund jüdischer Goethe-Verehrung, in deren Tradition auch Iwan Heilbut steht: Wolfgang Leppmann: The German Image of Goethe. Oxford 1961 [dt.: ders.: Goethe und die Deutschen. Vom Nachruhm eines Dichters. Stuttgart 1962]; Wilfried Barner: Von Rahel Varnhagen bis Friedrich Gundolf. Juden als deutsche Goethe-Verehrer.

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für die Relektüre dieser Materialien stellte jedoch eine seiner Erzählungen dar, die Heilbut unter dem Titel „Menschen begegnen uns überall“ Mitte der 1960er Jahre im Band Höher als Mauern veröffentlicht hat.25 Hier schildert der Ich-Erzähler den Unterricht über Goethes Faust in jener Weltmetropole, deren „wolkenberührende Türme des Willens“26 hierfür die Szenerie bilden: Das Empire State Building, das Rockefeller Center und andere Hochhäuser werden von Heilbut dabei aber nicht als eine kalte architektonische Gegenwelt zur ideellen Bedeutung der Weimarer Klassik konstruiert, sondern umgekehrt als gebaute Poesie regelrecht besungen, ganz so, als würden ihm die Hochhäuser dabei helfen, Goethes Hauptwerk in einem College der Neuen Welt zu lesen und für junge Menschen, die eine andere Sprache sprechen, zu erschließen. Heilbut schien Freundschaft geschlossen zu haben mit Größe und Gestalt Manhattans, die abends aufragenden Skyscraper nennt er „aufgestufte Lichterreihen im sternebestandenen Blau.“27 Ein solcher Ton fällt auf in einer Zeit, die noch etwas hielt auf ihre traditionell gepflegte Großstadtfeindschaft und die gerade New York als Emblem menschlicher Hybris zum Babel der Moderne nicht selten geradezu publizistisch verfluchte.28 Die Horizontlinie Manhattans nahmen viele europäische Autoren jener

Göttingen 1982; ders.: Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933. In: Stéphane Moses und Albrecht Schöne (Hg.): Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Frankfurt a. M. 1986, S. 127–151; Nicolas Berg: „In der genauen Mitte zwischen Haben und Nichthaben“: ‚Goethe‘ als Theorietext des deutschen Judentums. In: Claude Haas, Johannes Steizinger und Daniel Weidner (Hg.): Goethe um 1900. Berlin 2017, S.  239–267; Anna-Dorothea Ludewig und Steffen Höhne (Hg.): Goethe und die Juden – die Juden und Goethe. Beiträge zu einer Beziehungsund Rezeptionsgeschichte. Berlin 2018. 25 Iwan Heilbut: Menschen begegnen uns überall. In: ders.: Höher als Mauern. Erzählungen. Icking bei München 1965, S. 115–155. 26 Heilbut: Menschen begegnen, S. 148. 27 Heilbut: Menschen begegnen, S.  149; zum Kontext auch die wichtige Studie von Michael Winkler: New York als Thema der deutschsprachigen Exilliteratur. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 2, S. 1367–1384. 28 Zum Thema einführend: James Joll: Die Großstadt – Symbol des Fortschritts oder der Dekadenz? In: Peter Alter (Hg.): Im Banne der Metropolen. Berlin und London in den zwanziger Jahren. Göttingen, Zürich 1993, S. 23–39; grundlegend bleibt: Klaus Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft. Meisenheim am Glan 1970; zwei exemplarische Quellen aus der breiten Literatur der Großstadtfeindschaft in Deutschland vor 1933: Werner Sombart: Emporkommen, Entfaltung und Auswirkung des Kapitalismus in Deutschland. In: Heinrich Harms (Hg.): Volk und Reich der Deutschen. Bd. 1. Berlin 1929, S. 199–219; hier etwa die Formel von der Großstadt als Ergebnis der „Wurzellosigkeit unserer modernen […] Massenkultur“ (ebd., 210); Siegfried Pessarge: Die Charakterentwicklung des Menschen in den Großstädten der Gegenwart. In: Großstadt und Volkstum. Vorträge der 3. Tagung für Nationalerziehung, von der Fichte-Gesellschaft veranstaltet in Hannover vom 6.–9. März 1927, Hamburg 1927, S. 27–48.

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Zeit zum Anlass, lediglich ihren eigenen Hochmut auszubreiten. Bemerkenswerterweise verknüpfte etwa Karl Korn, der in den 1930er und 1940er Jahren Feuilleton-Redakteur beim Berliner Tageblatt, der Frankfurter Zeitung und auch der Wochenzeitung Das Reich war und nach dem Krieg Gründer und Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde, sein Urteil über New York ebenfalls mit Goethes Faust. Im Gegensatz zu Heilbut jedoch schreibt Korn in einem herablassenden Duktus dessen, der blasiert lächelnd davon überzeugt ist, dass man in Amerika überhaupt nicht in der Lage sei, das Werk Goethes in seiner weltliterarischen Dimension zu verstehen. Korns Amerika-Erfahrungen beginnen mit dem folgenden Satz: Vor Jahren soll in New York eine szenische Aufführung des „Faust“ versucht worden sein. Das Unternehmen scheiterte dem Vernehmen nach kläglich. Der Kritiker der New York Times verließ das Theater vor dem Schluß und schrieb, daß es sich um eine von allzuviel germanischem Tiefsinn umrankte Affäre zwischen einem Boyfriend und einem Girlfriend handele.29

Die Häme über die vermeintliche Kulturlosigkeit des New Yorker Kritikers wird hier zur Bestätigung der eigenen Vorurteile über das Land, dessen Sprache er offenkundig verabscheut und nur im Ton des Nachäffens in die überhebliche Betrachtung hinein montiert. Korns Reise-Erlebnisse in New York und seine Verteidigung kultureller Gewissheiten führen in seinem kurzen Feuilleton zu folgender Schlussfolgerung: Wie aber, wenn Faust selbst sich drüben verwandelt hätte? Jener Faust, der sein metaphysisches Gepäck nach drüben schon nicht mehr mitgebracht hatte? Was er damals mitnahm, als Pittsburg und Baltimore entstanden, war jene letzte ungeheure Idee, den ehedem metaphysischen Drang in Arbeit zu verwandeln, das heißt in Stahl, Flugzeuge, Raketen, Drugs aller Art, von der Pille bis zum billigen Candy, vom motorisierten Rasenmäher zum Thomas a Kempis in Taschenbuchaufmachung, von der Sodafountain zum Beauty-Saloon. Faust hat, konsequent und radikal wie er immer war, sich drüben selbst aufgegeben. Er ist in den industriellen Prozeß eingegangen, er ist Arbeit, Fabrik, Apparat, Güterstrom geworden. Der Gigant wurde zum ehernen Bilde.30

Dieser Faust Karl Korns amerikanisiert sich, oder umgekehrt: Amerika wird hier als Ganzes zu einem negativen Emblem des unbegrenzten Anspruches der

29 Karl Korn: Faust ging nach Amerika. In: Alfred Gong: Interview mit Amerika: 50 deutschsprachige Autoren in der neuen Welt. München 1962, S. 303–308, hier 303; der Artikel beruhte auf einer Serie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die das Ergebnis einer Reise von 1957 war und im gleichnamigen Buch (Freiburg i. Br. 1958) noch einmal zusammengefasst wurde. 30 Korn: Faust ging nach Amerika, S. 307.

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goetheschen Figur, eine neue Welt zu entwerfen, einen menschengemachten Zukunftsstaat herbeizuführen, koste es was es wolle. Unverkennbar ist der amerikanische Kapitalismus hier das Negativsymbol einer sehr europäischen, sehr germanischen Faustlektüre, die das heimische Deutschland mit Kultur und mit Metaphysik assoziiert, Amerika dagegen lediglich mit Ökonomie („Stahl, Flugzeuge, Raketen“) und schnödem Konsum („billiges Candy“ und  – offenkundig besonders schlimm  – Taschenbücher): Eine einseitige Faustlektüre und dazu noch abgestimmt auf ein gehässig verzerrtes Bild von Amerika. Den aus Europa gerade noch Entkommenen erscheint New York City gänzlich anders als den in den 1950er und frühen 1960er Jahren dorthin reisenden Besuchern aus Deutschland. Sie verwenden für die Großstadt auch andere Vergleiche und Metaphern, denn sie sehen sie als gesegnete Heimstatt einer besseren Zukunft, als Weltmetropole im Wortsinne, die nicht nur in ihren urbanen Umgangsformen, sondern eben auch im Denken für Zukunft steht. Der Ökonom Julius Bonn schrieb in den 1920er und frühen 1930er Jahren ein Buch nach dem anderen über Alltag und Wirtschaft Amerikas, um dem grassierenden Antiamerikanismus in Deutschland entgegenzutreten. Für ihn symbolisierte die Freiheitsstatue im Hafen von New York „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Prosperität“.31 Der Prager Schriftsteller Johannes Urzidil – auch er rettete sich zusammen mit seiner Frau vor den Nazis nach New York und auch er war Zeit seines Lebens ein passionierter Goetheforscher  – erkannte in dem kleinen Ort Concorde in Massachusetts das „amerikanische Weimar“, weil in ihm Thoreau geboren wurde, Emerson wirkte und Nathaniel Hawthorne dichtete.32 Und am Ende seines autobiografischen Romans Die verlorene Geliebte. Ein Prag-Roman (1956) schildert er „die Wolkenkratzerlinie“ von Manhattan als kongeniale Entsprechung zur alteuropäischen Kultur: „Sie erinnerte an die Türme von Carcassonne oder an die

31 „Man ist heute geneigt [zu sagen], Amerika sei nur eine Umschreibung des Wortes ‚Prosperität‘. Manche Leute möchten die Fackel in den Händen der Freiheitsgöttin, die die Einfahrt des Hafens in New York belichtet, durch ein Füllhorn ersetzen, aus dem allen, die schon im Lande sind, reiche Gaben zufließen.“ Moritz J. Bonn: Geld und Geist. Vom Wesen und Werden der amerikanischen Welt. Berlin 1927, S. 50; Amerika habe, so Bonn in der Einleitung, „den europamüden Pilger mit der Verheißung von Freiheit in der Gleichheit begrüßt.“ (ebd., S. 12); zu Bonn und seinen Amerikabüchern vgl.: Nicolas Berg: Ein anderer Blick auf Amerika – Die Verteidigung des Kapitalismus durch Moritz Julius Bonn. In: Ewald Grothe und Jens Hacke (Hg.): Liberales Denken in der Krise der Weltkriegsepoche. Moritz Julius Bonn. Stuttgart 2018, S. 73–92. 32 Johannes Urzidil: Wanderungen durch Concord: In: Gong (Hg.): Interview mit Amerika, S. 24– 30, hier S. 24  f.; zu Urzidil allgemein vgl.: Steffen Höhne, Klaus Johann und Mirek Němec (Hg.): Johannes Urzidil (1896–1970). Ein „hinternationaler“ Schriftsteller zwischen Böhmen und New York. Köln, Weimar, Wien 2013.

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Türme von San Gimignano oder an die Türme von Prag.“33 Die Hochhäuser selbst werden in dieser Sicht zur „Kristalldruse“, die Brücken über den Hudson zu „Riesenharfen“.34 Und auch der Dichter Hans Sahl hat in seinem New York-Roman Die Wenigen und die Vielen über die „nüchterne“ Schönheit New York geschrieben, dass diese echt war, keine „Kulisse, Dekoration“, wie die mittelalterlich anmutenden Kleinstädte Deutschlands, mit ihrem historischen Zierrat aus vergangenen Zeiten: New York war von Menschen für Menschen erbaut, nicht für die Ewigkeit, sondern von heute auf morgen. Es war ein in die Höhe gewachsener Grundriß, ein szenisches Gerüst für eines der größten Menschen-Schauspiele aller Zeiten, ein Denkmal menschlicher Mühe und Anstrengungen, Schwierigkeiten und Belohnungen. Es gab hier keine plätschernden Brunnen, keine verschlafenen Torbögen, keine mittelalterlichen Türme und Erker und Kreuzgänge. Aber es gab gewaltige moderne Schicksale, die das Gesicht der Stadt geprägt hatten […].35

Der Arzt Martin Gumpert, ein Jahr jünger als Iwan Heilbut, rettete sich bereits Mitte der 1930er Jahre nach New York; er sprach sogar ohne Scheu von seiner „Liebe zu einer Stadt, deren rührendste Eigenschaft“ es sei, „daß sie selbst nicht weiß, wie seltsam schön sie ist.“36 Gumpert verfasste in Zeit, in der Karl Korn im Angesicht von New York den Kapitalismus in der Tradition Werner Sombarts als geist- und kulturloses Kommerz-Streben verunglimpfte,37 einen regelrechten Hymnus über die Stadt: New York sei, so Gumpert, „von einer wilden und berückenden Schönheit, die ihresgleichen nicht hat.“38 Über das Rockefeller Center

33 Johannes Urzidil: Die verlorene Geliebte. Ein Prag-Roman. München 1996, S. 178. 34 Urzidil: Die verlorene Geliebte, S. 342 35 Hans Sahl: Die Wenigen und die Vielen (Auszug), hier zit. nach: Gong: Interview mit Amerika, S. 245–249, hier 247. 36 Martin Gumpert: New York. In: Gong, Interview mit Amerika, S. 21–23, hier 23; vgl. auch: ders.: Hölle im Paradies. Selbstdarstellung eines Arztes: In: Aufbau, Bd.  5, Nr.  23 vom 8.  Dezember 1939, S. 7; ders.: Hölle im Paradies. Stockholm 1939 [eine Neuausgabe dieser Ausgabe, die 280 Seiten umfasste und bei Bermann-Fischer erschienen war, legte 2018 Manfred Bosch vor]; in Gumperts Autobiografie ist Europa dem Untergang geweiht und Amerika das letzte Symbol einer helleren Zukunft, der auch Gumpert selbst seine Wiedergeburt verdankt; zum Kontext vgl. allgemein: Claudia Appelius: „Die schönste Stadt der Welt“. Deutsch-jüdische Flüchtlinge in New York. Essen 2003. 37 Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben. Leipzig 1911; zweite Aufl., 1913; zu diesem Buch und den Kontroversen, das es seinerzeit auslöste, vgl.: Nicolas Berg (Hg.): Kapitalismusdebatten um 1900. Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen. Leipzig 2011. 38 Gumpert: New York. In: Gong: Interview mit Amerika, S. 21.

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äußert er, wie später Heilbut, aber noch viel enthusiasmierter als dieser, es sei schlicht „das schönste Bauwerk der Welt“: Keine Kathedrale, kein Dom hat mir einen so einmaligen architektonischen Eindruck vermittelt und immer wieder, sooft es vor mir auftaucht, bleibe ich erschüttert davor stehen. Es ist ein lebendiges Feld, von Menschhand in ein Haus verwandelt, und keine Gewalt hätte ihn großartiger ersinnen können.39

Die Public Library wird von Gumpert als „die bestorganisierte Bibliothek der Welt“ gerühmt und den Warteraum der Grand Central Station vergleicht er aufgrund seiner „schweigenden Betriebsamkeit“ voller Ehrfurcht mit der Staatsbibliothek in Berlin.40 Die Vergleiche eines der zentralen New Yorker Verkehrsknoten mit einer Bibliothek mag auf den ersten Blick schief erscheinen. Doch folgt diese Metapher einer inneren Logik, nach der die Stadt dem Geist nicht hinderlich ist, sondern dessen Entfaltung besser ermöglicht, als es außerhalb von Großstädten der Fall ist. Auch Heilbuts Goethe-Unterricht am Hunter-College ist von dieser Überzeugung geprägt. Er weiß, dass er keine zukünftigen Germanistinnen vor sich hat; und er übersieht auch nicht, dass die Studentinnen den „Zwiespalt im Charakter des Goetheschen Faust“ betrachten, als sähen sie sich „einem kleinen Experiment“ gegenüber.41 Doch während er die Klasse dabei beobachtet, wie sie sich über ein fremdsprachiges und auch ideell nicht vertrautes Stück europäischer Literatur beugen, wächst – „in der Hand den Faust, im Blick das Gesicht der Negerin“42 – bei Heilbut die Empfindung für die Aufgabe, die vor mir stand: getrennte Welten zu verbinden. Ich fühlte die Neugier in mir zittern: die Verse des Faust in deutscher Sprache von einem dieser fremd-schönen Menschen gesprochen zu hören, die, durch Zeit und Schicksal auf fremde Erde geworfen, zum Geführten des Weißen geworden sind. Sie las, langsam, fast ohne Akzent: „Wer darf ihn nennen? und wer bekennen Ich glaube an ihn?

39 Gumpert: New York. In: Gong: Interview mit Amerika, S. 21. 40 Gumpert: New York. In: Gong: Interview mit Amerika, S. 22; zum ideengeschichtlichen Hintergrund vgl. den Aufsatz von Claus-Dieter Krohn: Differenz oder Distanz? Hybriditätsdiskurse deutscher refugee scholars im New York der 1930er Jahre. In: Exilforschung 27 (2009): Exil, Entwurzelung, Hybridität, S. 20–39. 41 Heilbut: Menschen begegnen uns überall, S. 148. 42 Heilbut: Menschen begegnen uns überall, S. 149.

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Wer empfinden, und sich unterwinden, und sagen: ich glaub‘ ihn nicht? Der Allumfasser, der Allerhalter, faßt und erhält er nicht dich, mich, sich selbst? Wölbt sich der Himmel nicht da droben? Liegt die Erde nicht hier unten fest? Und steigen freundlich blickend ewige Sterne nicht herauf?“43

Die Freundlichkeit, mit der Heilbut in seiner Erzählung die Neugier der Schülerin und ihr makelloses Deutsch darstellt, bereitet die damit verknüpfte Einsicht vor, dass der Unterricht zwar an keiner berühmten Universität stattfinden mag, aber dennoch grundlegende Bedeutung hat, nämlich die „getrennten Welten“ zwischen Alt und Jung, Mann und Frau, Europäer und Amerikanerin, Schwarz und Weiß „zu verbinden“. Diese Erkenntnis verändert nicht nur die an der Lektüre Beteiligten, sondern auch den dichterischen Text Goethes und das Bild des Dichters selbst, der in diesem Exilmoment und in der denkbar weitesten zeitlichen und räumlichen Distanz zum kulturellen Kontext, in dem im frühen 19.  Jahrhundert der Faust entstand, nun – in der jüdischen Krise des 20. Jahrhunderts – eine Antwort auf die Fragen der Zeit bereit hält: Nicht als curriculares Pensum, sondern als echten Bildungsmoment, als Verbindung über Zeiten, Räume und Differenz von Alter, Geschlecht, Herkunft und auch Hautfarbe hinweg. Und Heilbut schließt diesen Passus seiner autobiografischen Erzählung mit folgenden Worten, die noch einmal deutlich machen, dass der Goethe dieses Augenblicks nicht mehr derjenige ist, den er 1940 aus Deutschland mit nach Amerika gebracht hatte: „Dies Erlebnis verband uns für immer.“44 Was Jacob Picard „Projektionsmetaphern“ nannte, hat der Germanist Guy Stern in einem Aufsatz, der das Exilinteresse an Goethe zum Thema hat, den „zentrale[n] Austausch symbolischer Ebenen“ genannt, eine neue Perspektive auf das Exil und seine Literatur, das die beiden Begriffe – „Exil“ und „Literatur“ –, so Stern, „weniger als Kompositum“ versteht, sondern vielmehr „die Literarizität des Exils selbst stärker in den Blick“ rückt.45 Wenn wir mit Picard und Stern argu-

43 Heilbut: Menschen begegnen uns überall, S. 149  f. Es ist die berühmte Stelle aus dem Religionsgespräch von Faust und Gretchen aus dem ersten Teil (Marthens Garten, V. 3433–3445). 44 Heilbut: Menschen begegnen uns überall, S. 150. 45 Guy Stern: Goethe as a figure in Exile Literature. In: Sautermeister/Baron (Hg.). Goethe im Exil, S. 185–198, hier S. 113  f.

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mentieren, so gestaltete Iwan Heilbut sein eigenes Exilerlebnis „mythopoetisch, symbolisch, metaphorisch“46 mit Goethe und dessen Dichtung. Das eine erschien ihm klarer, benennbarer und erkenntnisträchtiger im jeweils anderen zu werden: Goethe wurde durch das Exil verändert, dieses erschien in einem anderen Licht durch eine Relektüre seiner Dichtung.

3 Iwan Heilbuts Amerikanisierung Goethes Iwan Heilbut lebte auf der West Side Manhattans in der Nähe des Riverside Drives (328 West 96th Street), sein College lag auf der East Side, so dass er lange Fußwege zur Arbeit und nach Hause zurücklegen musste. Er kannte die Stadt und die Menschen, die täglich unterwegs waren und seine Beobachtungen waren immer auch kleine Momente des Studiums darüber, was dieses Amerika der Gegenwart eigentlich darstellte und was es – überhaupt, aber auch für ihn persönlich – bedeutete. Wie Hans Sahl, von dem die auf Faust anspielende Sentenz „Zwei Kontinente wohnen, ach in meiner Brust“47 überliefert ist, die auch Iwan Heilbut hätte formulieren können, war auch er ein Alltagsbeobachter, der für Nachdenken und Studium nicht ausschließlich in Bibliotheken ging, sondern sich dem Alltag aussetzte und diesen zu decodieren versuchte. In diesem Alltag veränderte sich auch Heilbuts Goethe-Bild immer stärker: es wurde amerikanischer, aber er verstand diese Veränderung nicht negativ, sondern positiv. In seinem Unterricht bot er als Literaturkurse etwa „Deutsche Dichtergestalten und die Entwicklung der Dichtung in Deutschland vom 17. bis zum 20. Jahrhundert“48 an, ein Kurs, in dem er an Goethes eigener Entwicklung dessen kosmopolitischen Pantheismus hervorhob, eine Religiosität der Natur, die auf der frühen Lektüre Spinozas gründete und sich vom traditionellen Christentum weit entfernt hatte.49 Heilbut beendete in dieser Vorlesung den Abschnitt über Goethe wie folgt:

46 Stern: Goethe as a figure in Exile Literatur, S. 114. 47 Reiter: Die Exterritorialität des Denkens, S. 226. 48 Iwan Heilbut: Deutsche Dichtergestalten und die Entwicklung der Dichtung in Deutschland vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Typoskript New York 1946 [38 Bl.]. In: Deutsches Exilarchiv 1933–1945 (DEA), Frankfurt am Main, NL 097 – Iwan Heilbut, EB 96/182 – A. 08. 01. 0003. 49 Zum Thema jetzt: Wolfgang Frühwald: Goethe und das Christentum. Anmerkungen zu einem ambivalenten Verhältnis. In: Goethe-Jahrbuch 130 (2013), S.  43–50; Terence James Reed: Der säkulare Goethe und seine Religion. In: ebd., S. 59–64; Eckart Förster: „Zum Schauen bestellt“ – Goethes Naturreligion. In: ebd., S. 65–74.

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Ein grosser Klang ist wieder in der Dichtung der Deutschen. Das kommt: ein neuer Gott lebt darin; ein Gott, aus Vernunft geboren, bewiesen – ein neuer Inhalt in einem alten Wort. Wir verstehen ihn, wir können uns auf ihn einlassen, wir erschrecken nicht vor der Darstellung und Form: und das ist nichts weniger als ein Zeugnis dafür, dass Goethe uns noch angehört, dass wir seine Welt noch nicht gänzlich verlassen haben.50

Mit diesen Worten gab er Goethe den Schülerinnen; mit ihnen aber übersetzte er ihn sich auch in die Neue Welt an die Upper West Side New Yorks. In einer Vorlesung, die eigens Goethe gewidmet war, streicht er nicht das Sturm- und-DrangTypische des jugendlichen Dichters heraus, sondern den vernünftigen Denker und dessen „klaren Blick aufs Leben“; Goethe, so Heilbut, sei mit dieser Haltung der „Klarheit“ mehr mit Amerika verbunden, als mit dem „alten Europa“, er habe dieses vielmehr für seine „falsch verstandene Romantik“ kritisiert: Eines seiner höchsten Ziele heißt: Klarheit. Er fordert von sich und er fordert von uns den klaren Blick aufs Leben, damit wir, zu unserem Vorteil und Glueck, die Bedingungen auf Erden erkennen, mit denen wir zu rechnen haben. Er fordert das alte Europa auf, jene Phantasie zu zügeln, die das Leben verkennt und deren falschverstandene Romantik den Erdteil stets neu mit Krieg überschwemmt und mit Tränen. Diese Klarheit in seiner Forderung, sich von schädlicher Tradition und Erinnerung zu lösen, verbindet ihn mit Amerika.51

In einer englischen Übersetzung seiner Vorlesungsschrift „On Goethes Poems“ spricht Heilbut sogar noch expliziter von der „close connection between Goethe and America“: He admonishes the old continent of Europe to restrain those flights of wishful fancy that make for a distorted conception of the realities of life and for a pseudo-romantic idealism with war and tears inevitably in its wake. The clarity of his demand that harmful traditions and memories be relinquished establishes a close connection between Goethe and America.52

Hier sprechen Goethe und Heilbut zusammen wie aus einem Mund; jener wird aktualisiert, dieser versichert sich seines literarischen Vorbilds, indem er den Dichter in seine neue amerikanische Gegenwart hinein holt und vor dem Hintergrund seiner New Yorker Wirklichkeit anders zu lesen beginnt. Dabei übersieht Heilbut natürlich nicht, dass Goethe selbst jene oft zitierten Verse „Den Vereinig-

50 Heilbut: Deutsche Dichtergestalten, Bl. 6. 51 Iwan Heilbut: Ueber Goethes Dichtung, Typoskript New York 1949 [6 Bl., mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen und Streichungen], in: DEA, NL 097 – Iwan Heilbut, EB 96/182 – A. 08. 01. 0010, Bl. 1. 52 Ivan Heilbut: Ueber Goethes Dichtung (5 Bl.), in: ebd., Bl. 1.

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ten Staaten“ über die Neue Welt geschrieben hat, die nun zum Leitmotiv der neuen Aneignung im Exil werden konnten und die er auch im Unterricht heraushob: Amerika, du hast es besser Als unser Kontinent, der alte, Hast keine verfallene Schlösser Und keine Basalte Dich stört nicht im Innern Zu lebendiger Zeit Unnützes Erinnern Und vergeblicher Streit.53

In Heilbuts Literaturkurs wurde also „Goethes Wirklichkeitssinn“54 hervorgehoben und seine Ethik der Anerkennung menschlicher Tüchtigkeit, nicht seine „Dämonie“, wie zeitgleich in Deutschland.55 In diesem Wissenstransfer Goethes aus dem alten Europa der Vergangenheit in das moderne Amerika der Gegenwart wird der Dichter gar zum Gewährsmann für einen „Wille[n] zur Dauer“ und für einen „Wille[n] zur Leistung“, im Namen der Zukunft, des „Optimismus“, der „Lebensfreude“ und sogar des „Pioniertum[s]“ wird der Weimarer Dichter angerufen, so, als wäre er selbst einer der amerikanischen Gründerväter, ein Amerikaner avant la lettre. Heilbut schließt diesen Goethe-Kurs mit dem Fazit, dass die Weltsicht des Dichters und das amerikanische Selbstverständnis übereinstimmten: […] wäre dies nicht eben die Moral, welche auch die Gründer dieses Landes uns als Erbe liessen? War es nicht gerade um solcher Ideale willen, dass Goethe die Vereinigten Staaten

53 Ivan Heilbut: Ueber Goethes Dichtung, Bl. 1. 54 Ivan Heilbut: Ueber Goethes Dichtung, Bl. 2. 55 Ivan Heilbut: Ueber Goethes Dichtung, Bl. 3: „Alle Tüchtigen, auf welchem menschenwürdigen Gebiete auch immer, erachtet er als Gleiche. Das ist die Ethik in seinem Leben.“ Das Goethebild der Nachkriegsdeutschen wird exemplarisch in folgenden beiden Titeln greifbar: Frank Thiess: Heimkehr zu Goethe. In: Nordwestdeutsche Hefte, Jg. 1946, H. 1, S. 29–32; Fritz-Joachim von Rintelen: Goethe als abendländischer Mensch. Mainz 1946; diese Goethe-Literatur um 1949 diskutieren: Klaus Schwab: Zum Goethe-Kult. In: Gerhard Hay (Hg.), Zur literarischen Situation nach 1945. Kronberg 1977, S. 240–251; Jakob Hessing: Friedrich Meinecke, Naturbegriff und Goethebild. Zur Problematik der konservativen Goethe-Rezeption in Deutschland. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 12 (1983), S. 317–351; Erich Kleinschmidt: Der vereinnahmte Goethe. Irrwege im Umgang mit einem Klassiker 1932–1949. In: Jahrbuch der Schillergesellschaft 28 (1984), S. 461–482; Arno Klönne: „Heimkehr zur Goethe?“ Deutungen des Verhältnisses von Jugend, „Bildungserbe“ und Nationalsozialismus nach 1945. In: Diskussion Deutsch 19 (1988), S. 144–156; Bettina Meier: Goethe in Trümmern. Zur Rezeption eines Klassikers in der Nachkriegszeit. Wiesbaden 1989; Waltraud Wende-Hohenberger: Ein neuer Anfang? Schriftsteller-Reden zwischen 1945 und 1949. Stuttgart 1990.

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bewunderte, ja, liebte? Er liebt den klaren Blick fuer das Leben, den Nord-Amerika bewiesen hatte – für dies Leben, das in mächtigen Bauten und im Treiben der geschäftigen Tage uns umgibt; und fuer jenes Leben, das unsichtbar wirkt, das uns erst zu Menschen macht, und das wir unser geistiges nennen.“56

Es war kein rein privater Goethe, den Heilbut sich hier erschloss und er trug seine neuen Überzeugungen auch nicht nur am College vor, sondern auch anlässlich der Feierlichkeiten zu Goethes 200. Geburtstag im August 1949, wie eine (wahrscheinlich von Heilbut formulierte) Pressenotiz aus dem Nachlass anzeigt: Am 28. August findet in dem im Zentrum New Yorks gelegenen Bryant-Park vor dem dort befindlichen Goethe-Monument die Zweihundertjahrfeier für den Dichter statt. Umrahmt von Goethelieder-Vorträgen eines Gesangvereins werden verschiedene Ansprachen im Mittelpunkt stehen, darunter die des früher in Berlin beheimateten Schriftstellers Ivan Heilbut, der am New Yorker Hunter College seit mehreren Jahren Vorlesungen über Deutsche Dichtung hält. Die Ansprache wird in englischer Sprache erfolgen; die im Nachstehenden zitierten Gedichte werden vom Redner im deutschen Urtext wiederholt.57

Ein Bericht über die Feierlichkeiten hebt die Rolle Heilbuts besonders hervor, hier heißt es über seinen Auftritt: Der Schriftsteller Ivan Heilbut sprach darauf über Goethes Dichtung, die die Begleitmusik zu seinem Leben gewesen sei. Eines der höchsten Ziele Goethes sei die Klarheit gewesen. Er habe das ‚alte Europa aufgefordert, jene Phantasie zu zügeln, die das Leben verkennt und deren falschverstandene Romantik den Erdteil stets neu mit Krieg überschwemmt und mit Tränen.‘ Diese Klarheit in seiner Forderung von der Loslösung von schädlicher Tradition verbinde Goethe mit Amerika. Heilbut trug danach die Goetheschen Gedichte ‚Amerika, du hast es besser‘, ‚Geh! Gehorche meinen Winken‘, ‚Feiger Gedanken bängliches Schwanken‘

56 Ivan Heilbut: Ueber Goethes Dichtung, Bl. 3  f. 57 Iwan Heilbut: Notiz. In: ebd. Zur Goethefeier im Bryant-Park (gleich neben der New York Public Library), in dem seit 1932 ein Goethedenkmal stand, dessen Büste der Bildhauer Karl Fischer noch zu Lebzeiten Goethes geschaffen hatte; vgl. auch: Henry W. Brann: Deutschamerikaner ehren Goethe in schlichter Feier. In: New Yorker Staats-Zeitung und Herold. An American Newspaper printed in the German Language, 115. Jg., No. 206, Montag, den 29. August 1949, 1  f. Brann spricht von rund 600 „Goethe-Freunden“, die das Publikum dieser Gedenkfeier bildeten, unter ihnen waren der Initiator der Feier, G. C. L. Schuchard von der Deutschen Abteilung der New York University, Karl L. Behrens, Walter K. Frankel und der Dichter Fritz von Unruh. Branns Bericht hebt hervor, dass die Feier nicht das Deutschtum, sondern das Weltbürgertum des Dichters zum Ausgangspunkt nahm. Eine Spendensammlung während der Veranstaltung erbrachte die Summe von mehreren Hundert Dollar, die für den Wiederaufbau des Goethehauses in Frankfurt am Main gestiftet wurde.

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und ‚Laßt fahren dahin‘ vor, in denen einige der Goetheschen Ziele, irdische und unirdische, charakterisiert seien.58

Auch in seiner Vorlesung über „Goethes Charakter“ und einem weiteren Vortrag mit dem Titel „Der Gesellige. Goethe der Freimauerer“59, die beide in demselben Jahr entstanden, wird das Bild eines demokratischen Goethe entworfen, der Amerika vorausgedacht hat. Hier heißt es etwa, in Abgrenzung vom Verdacht, der Dichter sei elitär gewesen, habe aristokratisch gedacht und mystische Ansichten vertreten: „Er ist der, der ueber alles Geselligkeit liebt, der gesellige Mensch, der gute Gesell, – der soziale Mensch, der nicht allein sein –, der nicht allein lassen –, der immer nur zur Gesellschaft hinstreben will.“60 Heilbut spricht einmal sogar von einem „Trieb zur Geselligkeit“ bei Goethe61 und rühmt dessen „großartiges Bewusstsein von der Gleichheit der Menschen“62, so dass Amerika als Gemeinwesen für ihn zuletzt gar zum „Traumland für seine Epoche“ geworden sei: Von daher Goethes liebevolle Teilnahme am Fortschritt auf allen Gebieten der Kultur und weit ueber die Grenzen Europas hinaus. Ein Traumland fuer seine Epoche – ist ihm Amerika eine Realitaet. Er sieht Bestimmung und Entwicklung des werdenden amerikanischen Volkes voraus. Er hat den Blick ueber alle Grenzen; und er hat die Menschheit im Sinn.63

Das umfangreichste Manuskript in diesem Zusammenhang, das sich im Nachlass von Heilbut erhalten hat, trägt den Titel „Goethe und Amerika“ und fasst all diese Überzeugungen noch einmal in einem Text zusammen.64 Diese Abhandlung setzt ein mit einer Kritik, Dichtung patriotisch zu verwenden65 und endet mit einer

58 Brann: Deutschamerikaner ehren Goethe, S. 2. 59 Iwan Heilbut: Goethes Charakter. 1949, New York [16 Bl. maschinenschriftl.], in: DEA, NL 097 – Iwan Heilbut, EB 96/182 – A. 08. 01. 0009; ders.: Der Beständige. Goethes Charakter. Vorlesung gehalten am 26. Mai 1949 im Hunter College, New York, vor dem Sigma Epsilon Phi Chapter (Delta Phi Alpha) Honorary German Fraternity, ebd.; ders.: Der Gesellige. Goethe der Freimaurer. Vorlesung gehalten am 16. März 1949 in der Good Shepherd Presbyterian Church, New York, vor dem Humanitas Social Club, Typoskript [13 Bl.], in: ebd. 60 Heilbut: Der Gesellige, Bl. 5. 61 Heilbut: Der Gesellige, Bl. 6. 62 Heilbut: Der Gesellige, Bl. 6. 63 Heilbut: Der Gesellige, Bl. 10  f. 64 Ivan Heilbut: Goethe und Amerika, 1949, Typoskript New York [29 Bl.], in: DEA, NL 097 – Iwan Heilbut, EB 96/182 – A. 08. 01. 0007; zum Thema insgesamt: Walter Hinderer, Goethe und Amerika, in: ders. (Hg.), Goethe und das Zeitalter der Romantik. Würzburg 2002, S. 489–505. 65 Ivan Heilbut: Goethe und Amerika, Bl. 2: „Wo Dichtung patriotisch verwendet wird, wird sie entweder missbraucht, oder sie ist in Wirklichkeit Pseudo-Dichtung, denn Patriotismus setzt (eine freilich nicht selten heroische) Begrenzung des Ausblicks voraus […].“

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längeren Reflexion über die unterschiedlichen Perspektiven auf Goethe in dessen Jubiläumsjahr, die im Folgenden fast ungekürzt zitiert wird, weil sie nicht nur so präzise benennt, was 1949 politisch im Hinblick auf das weltweit begangene Goethejubiläum der Fall war, sondern weil dieser Passus auch das Nachdenken Heilbuts über Goethe und den Wandel des Goethebildes in der Gegenwart so differenziert und exakt widerspiegelt. Hier heißt es: Nicht nur Deutschland feiert Goethes zweihundertsten Geburtstag. In den Vereinigten Staaten, wo sein Name, bei Lebzeiten von einer Elite bereits anerkannt, nun beginnt, im Volke geläufig zu werden, bereitet man Goethefeiern vor […]. In England wird man in Form von Festspielen seiner einmaligen Erscheinung gedenken. Ist es nicht ein erstaunliches Phänomen auf dem Gebiete der Kultur, dass Nationen, in deren Namen in Deutschland die ‚Reorientation‘ durchgeführt wird – härter noch: die Reeducation –, den Dichter anerkennen, auf den die Deutschen selber sich immer wieder als ihren grössten beziehen? Nehmen wir es vorweg: Für die Tatsache der Hochschätzung zweier, die untereinander divergieren, gegenüber dem Dritten, ist eine Erklärung möglich. Wir finden sie, wenn wir uns um die Erkenntnis bemühen, wo man in beiden Ländern bei der Goethe-Betrachtung die Akzente setzt. Für Deutschland stellt Goethe u.  a. eine kulturpolitische Tatsache dar, die noch nicht allgemein bewältigt worden ist; sie wird, der politischen Neigung entsprechend, vom Einzelnen akzeptiert oder abgelehnt. Ein Deutschland, wie es offiziell zwischen 1933 und 1945 bestand, – aber nicht nur dies Deutschland – verdeckte notwendigerweise einen Teil von Goethe, das heisst, es musste sich in einem Winkel zu ihm stellen, aus dem es entscheidende Züge Goethes nicht sah. Es musste jenen Goethe verschweigen – wenn es ihn nicht ganz zu verschweigen unternehmen wollte  –, der das absolute menschliche Interesse höher als das nationale erachtete; der nicht ‚dem Zufall der Geburt‘ gemäss Partei nehmen konnte; der zu tief von den Werten in allen Völkern durchdrungen war, als dass er, in kommandierendem Hass, sich gegen irgendeines hätte wenden können. Die Hetze gegen Goethe, den Freimaurer, den universalen Denker, den Bewunderer der politischen Ueberlegenheit Napoleons hat bereits zur Zeit der Weimarer Republik in deutschen nationalistischen Kreisen beträchtlichen Umfang erreicht. Man muss verstehen, dass Goethe, wenn er von den ‚miserablen‘ Deutschen spricht, die Urteilsfähigkeit der Deutschen ‚im ganzen‘ in Bezug auf ausserdeutsche Werte wurmt.“66

Und der Vortrag von Heilbut zieht sodann eine eindeutige Konsequenz, die darin liegt, dass es zwei Goethebilder gebe, ein vergangenes und ein zukünftiges, und dass der „deutsche“, also der machtgestützte nationale Goethe der „Eingekapseltheit“, so wie er in den letzten Jahren in Deutschland propagiert worden war, ein Lügenbild darstellte während der Goethe der echten „Geöffnetheit“ zum Gewährsmann jener Seite wurde, die das „Deutschland der Hybris, wie wir es erlebten“, das Deutschland Hitlers also, das „das Fremde bekämpfte“, befehden musste:

66 Heilbut: Goethe und Amerika, Bl. 12  f.

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Es soll mit all diesem nicht im Entferntesten angedeutet sein, dass die Deutschen im allgemeinen von Goethe nichts als seine unbequeme Kritik an ihnen im Gedächtnis behalten hätten. Aber die Tatsache besteht, dass gegen ein Deutschland der Hybris, wie wir es erlebten, Goethe zum Bundesgenossen derer wird, die solch ein Deutschland befehden. Hier liegt die Erklärung für die Tatsache, dass sowohl Deutschland als auch Amerika sich zu Goethe bekennen, obgleich Amerika die entscheidende kulturelle Haltung Deutschlands zu ändern versucht. Und zwar lässt sich diese Erklärung in dieser Fragestellung fassen: von welchem Deutschland ist die Rede? Amerika steht auf Seiten des Goethe-Deutschlands, das den Akzent auf Geöffnetheit zur Welt setzt, gegen jenes Deutschland, das seine Stärke in Eingekapseltheit sucht und feindselige Stellung gegen ‚das Fremde‘. An der Beziehung eines Deutschen zu Goethe erkennt man seine Beziehung zur Welt (die Goethe ja alle in seiner Person enthält); und Deutschland selber wird mit Sicherheit als glücklich eingegliedert ins Konzert der Nationen gelten können, wenn es den ganzen Goethe – alle Aspekte – zumindest vorurteilslos zu betrachten wagt.“67

Dass Goethe recht eigentlich ein ideeller Amerikaner war, ohne dabei seine europäisch-deutsche Ermöglichung dementiert zu haben, war für Iwan Heilbut zu einer Gewissheit geworden. In dieser spiegelte er sich und sein Leben. Die Überzeugung bedeutete also auch für ihn ganz persönlich beides: Er konnte die Kontinuität seines Lebens und den abrupten Bruch seiner Vertreibung ins Exil miteinander in einer Geschichte, seiner Lebensgeschichte, begreifen und erzählen: Weil (nicht obgleich) er Europäer war, konnte er den Blick auf Amerika richten und einmal sogar den Wunsch aussprechen, dahin auszuwandern. Denn der Europäer empfindet universal. Will das heißen, dass in ihm Züge sind, die denen des Amerikaners entsprechen, ähneln oder gar gleich sind? Ich wage zu behaupten: ja.68

In diesem Satz ist die Projektionsmetapher, die Goethe für Iwan Heilbut im amerikanischen Exil darstellte, zur Formel der eigenen Lebensgeschichte geworden.

4 Goethe als Projektionsmetapher im Exil Nicht nur für Iwan Heilbut, sondern für viele deutsche Juden, die sich vor HitlerDeutschland nach New York retten konnten, war das literarische Nachdenken über Goethe und dasjenige über die Gegenwart, über verschiedene Nationalkulturen und über sich selbst, eng miteinander verflochten und zuweilen gar identisch. Man könnte dies mit derselben Genauigkeit auch für Julius Bab oder für Johannes

67 Heilbut: Goethe und Amerika, Bl. 14. 68 Heilbut: Goethe und Amerika, Bl. 15.

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Urzidil aufzeigen, die in Gedichten, Romanen, Vorträgen, Tagebuch-Notizen und Briefen eine ganz ähnliche Biografiearbeit an Goethe und an sich selbst vollzogen, während der sie sich grundlegend veränderten um – so ließe es sich sagen – mit sich selbst identisch bleiben zu können.69 Urzidil etwa stellte seinem Buch Das Glück der Gegenwart. Goethe und Amerika das folgende Goethe-Motto voran: „Die Gottheit ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten.“70 Das war auch das Motto für Urzidils eigenes Leben und für seine eigenen Ansichten. Autoren und Schriftsteller wie Urzidil und Iwan Heilbut mussten, wenn sie diesen Leitsprüchen Glauben schenken wollten, ihr eigenes Goethebild öffnen und verändern; sie mussten es sozusagen neu konfigurieren, neu aufbauen, einen neuen Goethe ausprobieren und genau das taten sie auch. Den alten Goethe, den sie aus ihrer Vergangenheit mit nach Amerika genommenen hatten, konnten sie aus vielerlei Gründen nicht gegen die neue, fremdsprachige Gegenwart verteidigen. Vielmehr empfanden sie es als ihre Aufgabe, das Gegenteil zu tun: Sie mussten ihn in eine neue Sprache, eine neue Denkfigur übersetzen und ihren Goethe im Lichte der radikal veränderten Umwelt Amerikas völlig neu betrachten. Goethe selbst half ihnen dabei. Denn alles, was Iwan Heilbut, Julius Bab, Johannes Urzidil und andere nun an ihm entdeckten, war in seinen Schriften ja enthalten. Und vieles von dem, was nun die neue Attraktivität desjenigen Goethes ausmachte, der in ihrem neuen Blick auf ihn und sein Werk zum Amerikaner geworden war, war bereits Teil ihrer Überzeugungen gewesen, als sie noch in Deutschland gelebt hatten. Goethe kam ihnen beim Nachdenken über Exil und über ein deutschsprachiges jüdisches Selbstverständnis geradezu entgegen. Er hatte Spinoza ja wirklich gelesen und immer wieder dessen Bedeutung gerühmt; er war tatsächlich besonders früh von jüdischen Lesern und Verehrern als Dichter anerkannt und gefeiert worden, etwa in den Salons der Rahel Varnhagen. Sein

69 Johannes Urzidil: Goethe and America. In: Wilhelm Unger und Lutz Weltmann (Hg.): The Goethe-Year/Das Goethe-Jahr 1749–1949. An international bilingual publication, issued to celebrate the bi-centenary of the birth of Goethe, 6 Teile in 4 Bänden, London 1952, S. 214–220; ders.: Das Glück der Gegenwart. Goethes Amerikabild. Essay. Zürich, Stuttgart 1958 [wieder in: Alexander Ritter (Hg.): Deutschlands literarisches Amerikabild: Neuere Forschungen zur Amerikarezeption der deutschen Literatur. Hildesheim, New York 1977, S. 154–203]; zum Wandel der Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Europa und Amerika bei Urzidil vgl.: Bernd Hamacher: Prag und Goethe im Exil. Zur kulturellen Konstruktion Prags in der Konstellation Johannes Urzidil – Erich Kahler – Thomas Mann. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei, N. F. 21 (2012), Nr. 1–2, S. 271–280. 70 Urzidil: Das Glück der Gegenwart, S. 7 (die Sentenz Goethes ist den Gesprächen mit Eckermann vom 13. Februar 1829 entnommen.).

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Faust begann und endete mit dem Hiob- und dem Moses-Mythos, den großen kulturellen Metaphern des Judentums. Und die meisten der erfolgreichen großen Biografien über Goethe im späten 19. Jahrhundert hatten jüdische Autoren geschrieben; sogar das Goethe-Jahrbuch war von einem jüdischen Goetheforscher, von Ludwig Geiger, begründet worden. Auch zeitgeschichtlich war Goethes Werk voller Anknüpfungsmöglichkeiten und seine Einschätzungen Amerikas waren ja weithin bekannt. In Hermann und Dorothea hatte er zudem das Schicksal von Vertriebenen dargestellt, darauf verwies jüngst noch einmal Guy Stern.71 Und mit Stern ist auch deshalb das Fazit dieser Spurensuche nach Iwan Heilbut zu ziehen, weil es ja nicht nur um den Wandel von Anschauungen geht, sondern auch um die damit einhergehende, eng verbundene Kontinuität des eigenen Selbst, die im Falle der deutsch-jüdischen Intellektuellen zum unablässigen Nachdenken über den Bindestrich zwischen „deutsch“ und „jüdisch“ wurde. Bis in die jüngste Zeit reichen Berichte jüdischer Zeitzeugen, die besonders betonen, dass – gegenläufig zu Tendenzen in der Sprache der Exil- und Geschichtsforschung – das eigene deutsch-jüdische Selbstverständnis durch eben diesen Bindestrich nicht getrennt erlebt wurde, sondern als Verbindung: Ich verstehe mich als einen Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Kultur, der in ein Umfeld deutscher Sprache und Kultur hineingeboren wurde und die prägendsten Jahre seiner Kindheit und Jugend in diesem für ihn damals in keiner Weise kontroversen Ambiente verbracht hat. An dieser Welt, in der Jüdisches und Deutsches sich nicht ausschlossen, hielt meine Generation von Exilanten vielfach fest, was auch in der diese Zeit dokumentierenden Exilliteratur auf manche Weise nachvollziehbar ist.72

Und eine der besonders starken Befestigungen, die das Selbstverständliche und Verbindende dieses kulturellen Selbstverständnisses hervorhob, bestand darin, Goethe nicht als erworbenes Bildungsgut, sondern als Besitz, als jüdischen Besitz zu verstehen. Das zu vermitteln ist kaum jemand besser als Lehrer geeignet, als es Iwan Heilbut ist, der vielleicht nicht als Dichter oder Schriftsteller in Erinnerung geblieben sein mag, dessen Kurse über die Literatur der Goethezeit vor über 75 Jahren in Manhattan aber Grundlegendes zu einer wahrhaftigen kulturellen Rettung Goethes in die Epoche nach dem Holocaust und nach dem Zweitem Weltkrieg enthalten und die deswegen weitaus mehr als lediglich antiquarische biografische Relevanz beanspruchen dürfen. Das Archiv ordnet nicht das Wissen selbst (es schützt dieses und hält es für zukünftige Benutzer bereit); es ordnet die überlieferten Dokumente, Materialien, Lebens- und Denkspuren; „Wissen“

71 Stern: Das Exil als Lebensform, S. 114. 72 Stern: Das Exil als Lebensform, S. 111  f.

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müssen wir selbst aus den Mappen, Ordnern und Kartons bergen. Es sind wir selbst, es sind unsere Fragen, mit denen wir in diesen Sammlungen Resonanzen hervorzubringen vermögen, wenn wir das Archiv als den Ort verstehen, an dem ein Gespräch über die Zeiten hinweg ermöglicht wird.

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Stern, Guy: Leben in Briefen. In: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 7 (2013), H. 2, S. 13–22. Ubbens, Irmtraud: „Aus meiner Sprache verbannt …“: Moritz Goldstein, ein deutsch-jüdischer Journalist und Schriftsteller im Exil. München 2002. Urzidil. Johannes: Goethe and America. In: Wilhelm Unger und Lutz Weltmann (Hg.): The Goethe-Year (das Goethe-Jahr) 1949. London 1952, S. 214–220. Urzidil. Johannes: Das Glück der Gegenwart. Goethes Amerikabild. Essay. Zürich, Stuttgart 1958 [wieder in: Alexander Ritter (Hg.): Deutschlands literarisches Amerikabild: Neuere Forschungen zur Amerikarezeption der deutschen Literatur. Hildesheim, New York 1977, S. 154–203]. Urzidil, Johannes: Wanderungen durch Concord: In: Gong (Hg.): Interview mit Amerika. München 1969, S. 24–30. Urzidil, Johannes: Die verlorene Geliebte. Ein Prag-Roman. München 1996. Thiess, Frank: Heimkehr zu Goethe. In: Nordwestdeutsche Hefte, Jg. 1946, H. 1, S. 29–32. Vordtriede, Werner: Das verlassene Haus. Tagebuch aus dem Amerikanischen Exil 1938–1947. München o.  J. [1975]. Wende-Hohenberger, Waltraud: Ein neuer Anfang? Schriftsteller-Reden zwischen 1945 und 1949. Stuttgart 1990. Winkler, Michael: New York als Thema der deutschsprachigen Exilliteratur. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 2, S. 1367–1384. Winckler, Lutz: Exilliteratur und Literaturgeschichte – Kanonisierungsprozesse. In: Bannasch/ Rochus (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur, S. 171–202.

Sebastian Schirrmeister

Dem Archiv entschrieben. Wege aus dem Speichergedächtnis In seinen Erläuterungen zum Programm der inzwischen als Gründungsereignis der deutschen Exilforschung legendären, ersten internationalen Tagung in Stockholm im September 1969 formulierte Walter A. Berendsohn einen vorläufigen Auftrag für das neue Forschungsfeld, der auch seine eigene Arbeitsweise im Exil widerspiegelt. Berendsohn schrieb: Es gibt die verschiedensten Archive und privaten Sammlungen, die ermittelt und genutzt werden müssen. […] Es gibt in allen Aufnahmeländern noch sehr viel zu ermitteln und zu sammeln. Ich nenne diese Sammlung des Materials Grundforschung, als eine Vorarbeit für die eigentliche Forschung an der deutschen Flüchtlingsliteratur.1

Heute, ein halbes Jahrhundert später, steht der deutschen Exil(literatur)forschung eine kaum zu ermessende, inhaltlich diverse und gut erschlossene, internationale Landschaft von Archiven und Sammlungen mit einschlägigen Beständen zur Verfügung, um immer neuen Fragestellungen nachzugehen, alte Ansichten zu revidieren und bislang unbekannte Zusammenhänge sichtbar zu machen. Der Schritt von der Grundforschung zur eigentlichen Forschung im Sinne Berendsohns ist längst vollzogen. Es geht im Folgenden daher nicht um das Verhältnis von Sammeln und Forschen, sondern um die spezielle Beziehung zwischen Sammlung und Erinnerung, also um die Frage, durch welche kulturellen Praktiken das einmal Archivierte (wieder) Teil des aktuellen, nicht nur wissenschaftlichen Diskurses werden kann. Naheliegender Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist das zweigeteilte Modell des kulturellen Gedächtnisses von Aleida Assmann.

1 Gespeicherte Potentiale Unter Bezug auf Friedrich Nietzsche, Maurice Halbwachs, Pierre Nora und Dan Diner hat Assmann vorgeschlagen, die lange gängige binäre Gegenüberstellung

1 Walter A. Berendsohn: Erläuterungen zum Programm der internationalen Tagung vom 19. – 21. September 1969 in Stockholm über „Die Deutsche Literatur der Flüchtlinge aus dem Dritten Reich und ihre Hintergründe“, Typoskript, P. Walter Jacob Archiv, Sign. BFDE/I/2, S. 7 (Hervorhebung im Original). https://doi.org/10.1515/9783110542103-004

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von Geschichte und Gedächtnis zu überwinden. Sie postuliert stattdessen zwei Modi der Erinnerung, die sie „Funktionsgedächtnis“ und „Speichergedächtnis“ nennt. Mit dem insbesondere in der Archivtheorie intensiv rezipierten Konzept vom Speichergedächtnis bezeichnet Assmann denjenigen Teil des kulturellen Gedächtnisses, der gewissermaßen abgelegt wurde, ohne gänzlich dem Vergessen anheimgefallen zu sein. Paradigmatischer Ort dieses Gedächtnisses ist das Archiv. Materialien, die sich in diesem Speicher befinden, sind zwar physisch noch vorhanden, stehen aber nicht für aktive gesellschaftliche Erinnerungs- und Identitätsbildungsprozesse im Funktionsgedächtnis zur Verfügung – sie stellen lediglich eine latente Erinnerung dar. Zugleich repräsentieren sie laut Assmann „das Repertoire verpaßter Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen.“2 Sie können also als ein potentielles Korrektiv allgemein anerkannter, dominanter Narrative betrachtet werden – müssen hierfür jedoch zunächst dem Archiv als letzter Ruhestätte entrissen werden. In diesem Sinne schreibt Assmann: „Als einem potentiellen Gedächtnis, beziehungsweise als materieller Voraussetzung zukünftiger kultureller Gedächtnisse kommt dem Archiv eine hervorragende Bedeutung zu.“3 Damit diese Potentiale überhaupt zur Geltung kommen können, sind die beiden Gedächtnismodi bei Assmann  – analog zur Unterscheidung zwischen Bewusstem und Unbewusstem in der Psychoanalyse – nicht statisch, sondern veränderlich und perspektivisch aufeinander bezogen zu denken: Die Möglichkeit zur permanenten Erneuerung setzt eine hohe Durchlässigkeit der Grenze zwischen Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis voraus. Wird die Grenze offengehalten, kann es leichter zu einem Austausch der Elemente und einer Umstrukturierung der Sinnmuster kommen. Im entgegengesetzten Falle droht eine Gedächtniserstarrung.4

Drei Punkte aus Assmanns Thesen zum Verhältnis von Archiv und kulturellem Gedächtnis sind mir an dieser Stelle besonders wichtig. Erstens, der Verweis auf die politische Bedeutung von Archiven für die Legitimierung wie Delegitimierung von Herrschaft und Ordnung. Erstarrte Gedächtnisse sind Zeichen für entsprechende Herrschaftsstrukturen. Ähnlich argumentiert auch Jacques Derrida in seinem ebenfalls psychoanalytisch inspirierten Archiv-Essay. Derrida schreibt, es gäbe „[k]eine politische Macht ohne Kontrolle des Archivs“, und erhebt Partizipation und Zugang zu allen Aspekten des Archivs zum Kriterium einer „wirklichen

2 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 137. 3 Assmann: Erinnerungsräume, S. 345. 4 Assmann: Erinnerungsräume, S. 140.

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Demokratisierung“.5 Zweitens, die immer wieder betonten Potentiale und das implizite Versprechen jedes Archivs, vorübergehend Ungewusstes / Unbewusstes für eine zukünftige Geschichtsschreibung und damit erneute Sinnbildung zur Verfügung zu stellen. Diese „gespenstische Messianizität“6 des Archivs führt zum dritten und für die folgenden Überlegungen entscheidenden Punkt: die Durchlässigkeit der Grenze zwischen den beiden Gedächtnismodi. Wie genau werden die Potentiale des Speichergedächtnisses genutzt? Wie lassen sich latente Gedächtnisinhalte aktivieren und mit Sinn und Funktion versehen? Welche konkreten kulturellen Praktiken sind bei der ‚Belebung‘ von Archivalien zu beobachten? Archive und Museen mit wachsenden Sammlungsbeständen sehen sich beständig dem Phänomen des „Verwahrensvergessens“ (Friedrich Georg Jünger) ausgesetzt. Die verwahrten Materialien fallen insofern dem Vergessen anheim, als sie zwar noch vorhanden und potentiell zugänglich sind, aber vorläufig ohne Funktion im Assmann’schen Sinne im ‚Speicher‘ der jeweiligen Institutionen verbleiben und dort ihrer Verwendung für noch zu schreibende Geschichte(n) harren.7 In Formen des Vergessens schreibt Assmann, die gespeicherten Materialien befänden sich in einem Purgatorium zwischen dem Inferno des Vergessens und dem Paradiso des Erinnerns. Sie existieren in einem Zustand der Latenz, einem Wartezustand zwischen den Zeiten; sie warten darauf, dass Spezialisten, Journalisten oder Künstler kommen, die in diesem Fundus Ausgrabungen machen, etwas entdecken und es ins allgemeine Bewusstsein zurückholen. […] Auch die historischen Geisteswissenschaften insgesamt sind gefordert in der Aktualisierung von Archivgut. Sie sind Arbeiter im Weinberg des kulturellen Gedächtnisses.8

Wie sich an zahlreichen Beispielen zeigen lässt, übernehmen inzwischen viele hauptsächlich mit archivarischer Verantwortung betraute Einrichtungen diese von Assmann geradezu sakralisierte Arbeit selbst und rufen auf ganz unterschiedliche Weise ihre Bestände zumindest vorübergehend ins öffentliche Gedächtnis. Die Bandbreite ist groß. Sie umfasst klassische, langfristig angelegte Ausstellungskonzepte wie die neue Dauerausstellung „Exil. Erfahrung und Zeugnis“

5 Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. In: Knut Ebeling und Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin 2009, S. 29–60, hier S. 34. 6 Derrida: Dem Archiv verschrieben, S. 44. 7 Vgl. hierzu Nicolas Berg: Geschichte des Archivs im 20.  Jahrhundert. In: Marcel Lepper und Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2016, S. 57–75, hier S. 67–69. 8 Aleida Assmann: Formen des Vergessens. Göttingen 2016, S. 41.

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des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 in Frankfurt am Main, die sich auch in den virtuellen Raum erstreckt,9 ebenso wie die fortlaufende Präsentation einzelner „Schätze“ aus großen Beständen – etwa die „Archive Treasures“10 der Israelischen Nationalbibliothek oder den „Schatz des Monats“11 des Centrums für Naturkunde an der Universität Hamburg. Auch Publikationen wie die Reihe „Aus dem Archiv“ des Deutschen Literaturarchivs Marbach12 und eher flüchtige Veranstaltungsformate wie der „ObjektSlam“, bei dem in jeweils zwei Minuten einzelne Objekte aus größeren Sammlungszusammenhängen vorgestellt werden,13 lassen sich als Vergegenwärtigungsstrategien verstehen, als Aktualisierungen und Aktivierungen der archivalischen Potentiale. Zu den Gemeinsamkeiten dieser hier nur beispielhaft zusammengetragenen Praktiken gehört die Notwendigkeit der Auswahl. In jedem Fall wird Einzelnes aus der Masse des vorhandenen Materials hervorgehoben und bevorzugt präsentiert. Dementsprechend ist bei einer Betrachtung dieser Praktiken das Nichtgezeigte stets mitzudenken. Oder wie es Dietger Pforte in Bezug auf das durchaus vergleichbare Feld der Anthologie formuliert hat: „Entscheidung ist immer auch Verneinung; das nicht […] Aufgenommene zählt mit.“14 Mit diesem Entscheidungs- und Auswahlprozess eng verknüpft ist die nahezu inflationär gebrauchte Metapher vom „Schatz“, die auch in Nachrichtenmeldungen über besondere Archivfunde gern zur Steigerung der Aufmerksamkeit verwendet wird. Die Rede von Schätzen gehört nicht nur zum häufig im Zusammenhang mit dem Archiv verwendeten lexikalischen Feld der Archäologie (gleichzeitig assoziiert sie literarische Gattungen wie Märchen, Sagen oder Abenteuergeschichten), sondern transportiert immer auch eine bedenkenswerte Bewertung des Gezeigten und legitimiert so die vollzogene Auswahl und den Fokus auf Einzelnes durch ein quasi-ökonomisches Argument. Diese Art der ‚Schatzsuche‘, bei der – um im Bild zu bleiben – alles umliegende (Archiv-)Material sprachlich zu störender, irrelevanter Materie (Sand, Erde, Staub o.  ä.) herabgesetzt wird, ist eine Art zeitliche Inversion der von Derrida beschriebenen „Besessenheit des Archäologen“, sein Verlangen nach dem

9 https://exilarchiv.dnb.de/DEA/Web/DE/Home/home.html (Zugriff: 14. 2. 2019). 10 http://web.nli.org.il/sites/NLI/English/collections/personalsites/archive_treasures/Pages/ default.aspx (Zugriff: 14. 02. 2019). 11 https://www.cenak.uni-hamburg.de/aktuelles/schatz-des-monats.html (Zugriff: 14. 2. 2019). 12 https://www.dla-marbach.de/shop/aus-dem-archiv-ada/ (Zugriff: 14. 2. 2019). 13 Ein solcher ObjektSlam wurde am 4. 11. 2019 im Rahmen der Nacht des Wissens in der Zentralstelle für wissenschaftliche Sammlungen der Universität Hamburg veranstaltet. 14 Dietger Pforte: Die deutschsprachige Anthologie. Ein Beitrag zu ihrer Theorie. In: Joachim Bark und Dietger Pforte (Hg.): Die deutschsprachige Anthologie. Frankfurt a.  M. 1969–1970, S. XIII–CXXIV, hier S. XLIII.

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Archiv und die phantasmatische Suche nach einem imaginären Ursprung.15 Die Obsession mit den Schätzen des Archivs zielt gerade nicht in die Vergangenheit, sondern auf die jeweils unmittelbare Gegenwart des Funds und dessen besonderen ‚Wert‘ im Hier und Jetzt. Die Herstellung und nachvollziehbare Begründung dieser Relevanz und mithin der Transfer eines Elementes aus dem vergleichsweise hierarchiearmen16 Speichergedächtnis in die Bedeutungsstrukturen des Funktionsgedächtnisses lässt sich nur mithilfe von narrativen Rahmungen und Inszenierungen erreichen, einer ergänzenden, erläuternden „story“. Solche Rahmungen und erzählerischen Strategien lassen sich untersuchen. Ich möchte diese zunächst vielleicht etwas abstrakt oder aber selbstverständlich erscheinenden Überlegungen anhand von zwei Beispielen präzisieren und so exemplarisch nachvollziehen, wie zwei solcher „Schätze“ ihren Weg aus dem Speichergedächtnis des Archivs (zumindest vorübergehend) ins gegenwärtige Funktionsgedächtnis gefunden haben. Es handelt sich zum einen um ein mit jahrzehntelanger Verspätung zum Buch gewordenes Romanmanuskript und zum anderen um die Metamorphose eines ganzen Archivs zu einem aufwendig produzierten Doku-Drama.

2 M. Y. Ben-Gavriêl: Jerusalem wird verkauft oder Gold auf der Straße (2016) Zwischen erzähltem Erlebnis und erfolgreicher Erstpublikation17 dieses mit dem Untertitel „Ein Tatsachenroman (Tagebuch 1917)“ sowohl in Bezug auf seinen Faktizitätsanspruch als auch auf seine historische Verortung eindeutig festgelegten Textes liegen knapp 100 Jahre, in deren Verlauf er sich in ganz unterschiedlichen Gedächtniskonstellationen wiederfindet. Es beginnt damit, dass der 25-jährige, jüdische k.u.k-Offizier Eugen Hoeflich im März 1917 nach schwerer Verwundung an der Front vorübergehend in Jerusalem stationiert wird und nun den Irrsinn des Ersten Weltkriegs im osmanischen Hinterland erlebt. Die Eindrücke des Krieges und des Orients werden zum Dreh- und Angelpunkt seines literarischen und politischen Schaffens, das nicht nur vom Gedanken an einen jüdisch-arabischen

15 Vgl. Derrida: Dem Archiv verschrieben, S. 52–60. 16 Tatsächlich finden schon beim Eintritt des Materials ins Archiv Prozesse der Selektion, Anordnung und Verzeichnung statt, die als hierarchisierende Eingriffe verstanden werden können. 17 M. Y. Ben-Gavriêl (Eugen Hoeflich): Jerusalem wird verkauft oder Gold auf der Straße, hg. von Sebastian Schirrmeister. Wuppertal 2016.

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Ausgleich geprägt war, sondern unter der Bezeichnung „Panasianismus“ die Vereinigung aller asiatischen Völker gegen den Westen propagierte.18 1927 wendet sich Hoeflich endgültig von Europa ab, um als Moshe Ya’akov Ben-Gavriêl dauerhaft in Jerusalem zu leben. Bereits kurz nach seiner Einwanderung ins britische Mandatsgebiet Palästina bekundet Ben-Gavriêl die Absicht, seinen Kriegserlebnissen Romanform zu geben. „Ich will“, schreibt er 1929 an den befreundeten Albert Ehrenstein, „die Kriegsromankonjunktur ausnuetzen und ein Buch schreiben, das mir schon lange auf dem Herzen liegt.“19 Vermutlich angespornt durch den Erfolg von Erich Maria Remarques im selben Jahr erschienenen, aus dem kulturellen Gedächtnis bis heute nicht wegzudenkenden Roman Im Westen nichts Neues, schreibt Ben-Gavriêl auf der Grundlage seines nicht überlieferten Kriegstagebuchs seine eigene, verstörende Darstellung des Krieges in Jerusalem, findet jedoch trotz intensiven Bemühungen jahrelang keinen Verlag. Erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges erscheint 1946 in Palästina eine hebräische Übersetzung des Romans und wird von der zeitgenössischen Kritik als wichtiger Beitrag für die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft vor Ort betrachtet, ist also vorübergehend funktionaler Teil des hebräisch-jüdisch-zionistischen kulturellen Gedächtnisses in den Jahren unmittelbar vor der Gründung des Staates Israel. Der deutschsprachige Originaltext dagegen bleibt unpubliziert und gelangt nach Ben-Gavriêls Tod 1965 als 148-seitiges Typoskript (Abb. 1) mit dem Vermerk „dtsch unveröff. nur hebr. ersch.“ ins Archiv der israelischen Nationalbibliothek.20 In Ben-Gavriêls umfangreichem, gut erschlossenem Nachlass ist der Roman zwischen vielen weiteren publizierten und unpublizierten Texten auch nach seiner Archivierung durchaus auffindbar und wird etwa von Armin A. Wallas für den Kommentar der von ihm herausgegebenen frühen Tagebücher Eugen Hoeflichs herangezogen.21 Als ich selbst 2014 bei Recherchen für meine Dissertation im Archiv der Nationalbibliothek in Jerusalem auf den Text stieß, war dieser ‚Fund‘ der erste (eher zufällige) Schritt von vielen, damit der Roman ein halbes Jahrhundert nach der Archivierung des Typoskripts doch noch in Buchform auf Deutsch erscheinen konnte. Abgesehen von einigen editorischen Notwendigkeiten wie der Transkrip-

18 Zu dieser besonderen Geisteshaltung vgl. Hanan Harif: Asiatische Brüder, europäische Fremde. Eugen Hoeflich und der „panasiatische Zionismus“ in Wien. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60,8 (2012), S. 646–660. 19 Moshe Ya’akov Ben-Gavriêl: Brief an Albert Ehrenstein vom 5. Juni 1929, National Library of Israel, Archives Department, ARC Ms. Var. 365 4/63. 20 Für eine ausführliche Darstellung der Entstehungs- und Publikationsumstände siehe Sebastian Schirrmeister: Der andere Krieg. Nachwort. In: Ben-Gavriêl: Jerusalem wird verkauft, S. 223–245. 21 Eugen Hoeflich: Tagebücher 1915 bis 1927, hg. von Armin A. Wallas. Wien 1999, S. 259 (FN 79).

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Abb. 1: M. Y. Ben-Gavriêl: Jerusalem wird verkauft oder Gold auf der Straße. Typoskript (Beginn des Romans). National Library of Israel (Archives Department, Sign. ARC Ms. Var. 365 2/17).

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tion des Typoskripts, der Berücksichtigung handschriftlicher Korrekturen nach Abgleich mit der hebräischen Übersetzung sowie der behutsamen Eliminierung offensichtlicher Fehler und Vereinheitlichung abweichender Schreibweisen, umfasste der Transformationsprozess vom Archivgut zum Kulturprodukt auch eine umfangreiche paratextuelle Einbettung des Romans. Das beginnt bei der Bildmontage aus Felsendom und marschierenden k.u.k-Truppen auf dem Cover und dem vollmundigen Klappentext des Verlags, demzufolge „dieser Schlüsselroman eines Augenzeugen über den Ersten Weltkrieg im Nahen Osten eine fesselnde Parallellektüre zu den Büchern von T. E. ‚Lawrence von Arabien‘“ darstelle. Der Text wird also als bedeutsames Komplement zu vorhandenen und bekannten Erzählungen präsentiert und sein historischer Wert hervorgehoben. Im umfangreichen Anhang setzt sich diese Einbettung fort. Ein Glossar (S. 214–221) erklärt vermutlich in Vergessenheit geratene Personen, Orte und Begriffe und überbrückt so die historische Distanz zwischen dem Text und seiner heutigen Leserschaft. Ein ausführliches und mit historischen Aufnahmen bebildertes Nachwort (S. 223– 245) erzählt ergänzend zur Geschichte im Roman die Geschichte des Romans und seines Verfassers und bietet so eine erste historische und literaturwissenschaftliche Einordnung der ehemaligen Archivalie. Das Faksimile eines bereits 1917 in der Zeitschrift Der Jude erschienenen Beitrags Hoeflichs mit dem Titel „Aus einem Jerusalemer Tagebuch“ (S. 246–247) unterstreicht den vom Text selbst mehrfach behaupteten Tatsachencharakter und historischen Anspruch der nichtsdestotrotz literarisierten Darstellung. Eine Nachbemerkung von den Herausgebenden der mit diesem Roman begründeten Reihe „Europa in Israel“22 (S.  248–250) verortet Ben-Gavriêls Roman zuletzt noch einmal explizit an der oben beschriebenen Schnittstelle zwischen den beiden Gedächtnismodi und nutzt die bekannte Topoi. Von „ungehobene[n] Schätze[n] europäischer Kultur und Literatur“ in israelischen Archiven ist dort die Rede und von der Absicht, „zu Unrecht unbekannt Gebliebenes zu erschließen“ – immer unter der Maßgabe der besonderen Relevanz für die Gegenwart. Diese Art der Sinnzuschreibung mit Gegenwartsbezug setzt sich in den Rezensionen fort, von denen manche direkt das Wort vom „Archivschatz“ aufgreifen.23 Andernorts wird der Roman als „Antikriegsroman par excellence“24 bezeichnet, der den Vergleich mit Remarque nicht scheuen müsse. Wiederholt wird sein zeit-

22 Die Reihe ist ein Kooperationsprojekt von Doerte Bischoff (Universität Hamburg), Alfred Bodenheimer (Universität Basel) und Stefan Litt (National Library of Israel). 23 Ingo Way: Möglichkeit zur Menschlichkeit. In: Jüdische Allgemeine, 17. 3. 2016. 24 Galina Hristeva: Nichts Neues in Jerusalem. In: literaturkritik.de 18.12 (Dezember 2016), https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=22745 (Zugriff: 14. 2. 2019).

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historischer Wert hervorgehoben, weil er „einen Kriegsschauplatz [beleuchtet], von dem wir bisher viel zu wenig wussten“25 und „eine Geschichte [erzählt], die in unserem historischen Bewusstsein kaum noch präsent ist.“26 Eine besonders radikale Vergegenwärtigung nimmt Peter Bollag in der NZZ vor, indem er die im Roman geäußerte Skepsis gegenüber den osmanischen Verbündeten mit dem umstrittenen EU-Türkei-Abkommen vom 18. März 2016 engführt und zudem auf die Potentiale von Ben-Gavriêls panasiatischer Einstellung für heutige Perspektiven auf den Nahost-Konflikt verweist.27 Erst durch ihr Zusammenwirken, das durch die im Zusammenhang mit dem 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs zusätzlich erhöhte öffentliche Sensibilität für das Thema signifikant verstärkt wurde, haben all diese Rahmungen und Zuschreibungen dazu beigetragen, ein jahrzehntelang unbeachtetes Stück europäischjüdischer Literatur erstmals lesbar zu machen und damit in einen kulturellen Funktionszusammenhang zu überführen.

3 Who will write our history? (US 2018, R: Roberta Grossman) Völlig anders gelagert und doch überaus instruktiv für die oben skizzierten Fragen zum Zusammenhang von Archiv und aktiver Erinnerung ist der Fall des auch als Ringelblum-Archiv bekannten Oyneg-Shabbes-Archivs aus dem Warschauer Ghetto, dessen Geschichte 2018 von Autorin und Regisseurin Roberta Grossman erstmals filmisch in Form des aufwändig produzierten Doku-Dramas Who Will Write Our History? erzählt wird. Auch hier lassen sich diverse narrative und mediale Eingriffe und Rahmungen beobachten, die aus Archivgut ein funktionales, mit Sinn und Bedeutung versehenes Element im gegenwärtigen Erinnerungsdiskurs machen. Die Geschichte dieses Geheimarchivs ist für sich genommen bereits ein geradezu extremes Lehrstück für die politischen und historiografischen Potentiale des Speichergedächtnisses – gerade vor dem Hintergrund von totalitärer Herrschaft, Krieg und Vernichtung. Unter der Leitung des jüdischen Historikers Emanuel Ringelblum sammelten ab November 1940 unter dem Tarnnamen „Oyneg Shabbes“ (jidd. für „Schabbat-

25 Rolf Brockschmidt: Europa ist der Wahnsinn, Europa ist der Mord. In: Der Tagesspiegel, 31. 7. 2016, S. 26. 26 Jakob Hessing: Als Jerusalem türkisch war. In: FAZ, 28. 7. 2016, S. 10. 27 Peter Bollag: Doppeladler an der Klagemauer. In: NZZ, 1. 9. 2016.

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freude“) zeitweise bis zu 60  Mitglieder im Warschauer Ghetto Dokumente und Zeugnisse, die sowohl alle Aspekte jüdischen Lebens im Ghetto als auch die deutschen Verbrechen dies- und jenseits des Ghettos bekundeten. Neben einer gewissermaßen sozialgeschichtlichen Motivation zur Aufzeichnung der jüdischen Kultur in Polen, die sich mit Bekanntwerden der Massentötungen zu Vorarbeiten für eine spätere juristische Aufarbeitung wandelte, stand ein Gedanke im Zentrum der geheimen Aktivitäten des Archivs: ein eigenes, jüdisches Gegengedächtnis aufzubauen, damit eine zukünftige Geschichte des Krieges nicht durch das Monopol der verzerrten NS-Propaganda ‚vorgeschrieben‘ würde. Dieses prospektive Selbstverständnis vom Oyneg-Shabbes-Archiv als bedeutsamem Speichergedächtnis mit künftiger Funktion führte angesichts von Krankheit, Hinrichtungen und Deportationen dazu, dass das Überleben der Zeugnisse vom Überleben der Zeug/innen entkoppelt wurde. Insbesondere mündliche Berichte wurden mehrfach transkribiert und kopiert, um die Wahrscheinlichkeit der Überlieferung zu erhöhen.28 Der damals 19-jährige David Graber, der Anfang August 1942 dabei half, eine erste Charge des Archivs zu vergraben, fasste diesen Gedanken in naheliegende Bilder: Was wir nicht in die Welt hinausrufen und -schreien konnten, haben wir im Boden vergraben. […] Nur zu gerne würde ich den Augenblick erleben, in dem der große Schatz ausgegraben wird und der Welt die Wahrheit ins Gesicht schreit. Damit die Welt alles erfährt. […] Aber nein, wir werden das gewiss nicht erleben. […] Möge dieser Schatz in gute Hände fallen, möge er bis in bessere Zeiten überdauern, möge er die Welt alarmieren und auf das aufmerksam machen, was geschehen ist. […] Wir können jetzt in Frieden sterben. Wir haben unseren Auftrag erfüllt. Möge die Geschichte für uns zeugen.29

Tatsächlich überlebten nur drei Mitglieder des Archivs den Krieg. Von mindestens drei Orten, an denen die Materialien versteckt worden waren, wurden 1946 und 1950 zwei gefunden, darin mehr als 60.000 Seiten. Der Rest des Archivs ist wohl verloren. Seit ihrer Entdeckung wurden die erhaltenen, im Jüdischen Historischen Institut (JHI) in Warschau aufbewahrten Materialien des Oyneg-Shabbes-Archivs bereits auf ganz verschiedene Weise zugänglich gemacht. So wurden die Tagebücher Emanuel Ringelblums veröffentlicht,30 ebenso ausgewählte Dokumente

28 Vgl. Tadeusz Epsztein: Structure and Organization of the Ringelblum Archive and Its Catalog. In: The Warsaw Ghetto Oyneg Shabes – Ringelblum Archive. Catalog and Guide, hg. von Robert Moses Shapiro, Tadeusz Epsztein. Bloomington 2009, S. 1–22, hier S. 4–5. 29 Zit. n. Samuel D. Kassow: Ringelblums Vermächtnis: Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos. Aus d. Amerik. v. Karl Heinz Siber. Reinbek 2010. 30 Emanuel Ringelblum: Ghetto Warschau. Tagebücher aus dem Chaos. Stuttgart 1967.

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aus dem Archiv.31 Die englische Fassung des polnischen Katalogs32 macht die Bestände seit einigen Jahren international recherchierbar und mit Samuel D. Kassows umfangreicher Studie gibt es inzwischen auch eine Gesamtdarstellung der Geschichte des Archivs und seiner Mitglieder.33 1999 wurde das Oyneg-Shabbes-Archiv zudem gemeinsam mit den Kompositionen Chopins und den Schriften von Kopernikus auf Vorschlag Polens in die Liste des UNESCO Weltdokumentenerbes (Memory of the World) aufgenommen. Zu den erklärten Zielen dieses Programms gehört es, das weltweite Bewusstsein für die Existenz und Bedeutung des dokumentarischen Erbes zu erhöhen sowie seine Bewahrung und Zugänglichkeit sicherzustellen.34 Mit dem Doku-Drama Who Will Write Our History?, das auf der Grundlage von Kassows gleichnamigem Buch entstanden ist, geht Roberta Grossman noch einmal einen Schritt weiter und nutzt alle medialen und künstlerischen Möglichkeiten des Films, um das Ghetto-Archiv und seine Geschichte einem über wissenschaftliche Fachkreise hinausgehenden, internationalen Kinopublikum ins Bewusstsein zu rufen. Auf der visuellen Ebene besteht Who Will Write Our History? aus historischem Bildmaterial (Fotografien und Filmaufnahmen), Expert/innen-Interviews, Ansichten der Archivdokumente und einem nicht unerheblichen Teil von Spielfilmszenen (Abb.2), die nach Aussage Grossmans monatelang unter wissenschaftlicher Begleitung vorbereitet wurden, um die historische Genauigkeit des Szenenbildes sicherzustellen.35 Punktuell wurden Schauspieler/innen in historische Aufnahmen montiert. Auf der auditiven Ebene wechseln sich vergleichsweise wenig bildsynchrone Dialoge auf Polnisch, Jiddisch und Deutsch in den Spielfilmszenen und O-Töne der gezeigten Interviews mit ausgedehnten, englischsprachigen Voiceover-Passagen ab, die häufig die vielfachen Wechsel zwischen den einzelnen visuellen Ebenen überbrücken. Hierzu zählen Texte aus dem Archiv in Übersetzung, u.  a. Berichte, Essays und Zeugnisse von Ghettobewohner/innen und Überlebenden der Vernichtungslager, die Tagebücher von Ringelblum und Rachel Auerbach, einer der wenigen Überlebenden, die als eine Art Erzählerin und rahmende Hauptfigur fungiert. Auch die Aussagen der befragten Wissenschaftler/innen werden wiederholt als Voiceover eingespielt. In diesem kom-

31 Joseph Kermish (Hg.): To Live with Honor and Die with Honor. Selected Documents from the Warsaw Ghetto Underground Archives Oneg Shabbath. Jerusalem 1986. 32 Shapiro / Epsztein (Hg.): The Warsaw Ghetto Oyneg Shabes – Ringelblum Archive. 33 Kassow: Ringelblums Vermächtnis. 34 Vgl. die „Programme Objectives“ auf der Seite der UNESCO: https://en.unesco.org/ programme/mow (Zugriff am 14. 2. 2019) 35 Vgl. Roberta Grossman: Director’s Statement. In: Press-Kit, https://whowillwriteourhistory. com/press-kit/ (Zugriff: 14. 2. 2019).

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Abb. 2: Israel Lichtenstein (Andrew Bering) bereitet das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto zum Vergraben vor. Szene aus Who Will Write Our History?, USA 2018, Regie: Roberta Grossman (Foto: Anna Wloch).

plexen Geflecht geht nach und nach die Trennschärfe zwischen den zeitlichen Ebenen, zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Zeugnis und seiner Interpretation verloren. Hierbei spielt auch der häufige, ebenfalls die heterogenen Elemente verbindende Einsatz von Filmmusik eine wichtige Rolle. Die umfangreiche, im Einzelnen nicht markierte Verwendung von historischen Aufnahmen der NS-Propagandakompanie wird im Film durchaus problematisiert. Die Historikerin Barbara Kirshenblatt-Gimblett spricht davon, dass bei der Betrachtung der Bilder die „deutsche Linse“ und die bewusste Demütigung der Gefilmten oder Fotografierten stets mitzudenken seien. In Ermangelung anderer visueller Quellen aus dem Ghetto erweist sich der Rückgriff auf dieses Material als bewusste Entscheidung, die durchaus im Gegensatz zu anderen Formen des Umgangs mit historischem Bildmaterial aus NS-Quellen steht.36 Die

36 Am bekanntesten ist sicher Claude Lanzmanns Entscheidung, in Shoah (1985) nicht eine einzige Sekunde an Archivmaterial zu zeigen, sondern sich auf Zeitzeugeninterviews und zeitgenössische Aufnahmen der historischen Orte zu beschränken.

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Spielfilmszenen fungieren hier bis zu einem gewissen Punkt als Komplement und Korrektiv, lassen sich somit als Fortsetzung der erinnerungspolitischen Selbstermächtigung begreifen, die dem Oyneg-Shabbes-Archiv selbst zugrunde lag. Dass sich der historische Authentizitätsanspruch des Gezeigten auch auf die Spielfilmszenen erstreckt, wird durch die anfängliche Texteinblendung unterstrichen, alle von Schauspieler/innen im Film gesprochenen Worte stammten direkt aus dem Archiv. Allerdings treten die Archivalien selbst nur mittelbar auf: übersetzt und gelesen (als Voiceover), inszeniert (als Dialoge) oder reproduziert (als Requisiten). Die oft nur kurz gezeigten, abgefilmten Originaldokumente aus den Beständen des JHI dienen im Verlauf des Films lediglich zur Illustration und wiederkehrenden Versicherung der Authentizität der Geschichte. In ihnen ruft sich das Archiv selbst in Erinnerung. Das „story telling“, der dramatische Fluss des Erzählten, steht allerdings sichtlich im Vordergrund. Ein komplettes Archiv in der vorliegenden Form erzählbar zu machen, setzt zudem einen enormen Reduktionsprozess voraus. Von 60 individuellen Lebensgeschichten, über 60.000 Seiten Archivmaterial und Kassows mehr als 500-seitiger Studie bleiben am Ende 90  Minuten Film mit einem überschaubaren Arsenal an Figuren und Texten. Das Archiv tritt zwangsläufig hinter seine eigene Geschichte zurück, um die leinwandtaugliche Erinnerung an das Archiv und die von ihm bezeugte Geschichte zu ermöglichen. Kann ein Film über das dramatische Schicksal eines geheimen Archivs im Warschauer Ghetto Einfluss darauf nehmen, wie wir uns heute an die Geschichte des Ghettos, des Zweiten Weltkriegs und der Shoah erinnern? Eine Antwort auf diese Frage wird erst mit entsprechendem zeitlichem Abstand möglich sein. Zweifellos wurde und wird ein nicht unerheblicher Aufwand betrieben, damit durch den Film möglichst viele Menschen mit der Geschichte des Oyneg-Shabbes-Archivs in Berührung kommen und von ihr berührt werden. Who Will Write Our History? wurde u.  a. auf internationalen Filmfestivals, im regulären Kinoprogramm sowie in einer synchronisierten Fassung im Januar 2019 auf arte und NDR im deutschen Fernsehen gezeigt. Zum internationalen Holocaustgedenktag am 27. Januar 2019 wurde der Film in einem nie dagewesenen „global screening event“ simultan an über 300 Orten in mehr als 40 Ländern vorgeführt und von der jährlichen #WeRemember-Kampagne des World Jewish Congress in den sozialen Medien begleitet.37 Ob diese Bemühungen nachhaltigen Einfluss auf kollektive Erinnerungsmuster haben, muss sich erst noch zeigen. Angesichts der gegenüber den späten 1970er Jahren völlig veränderten aufmerksamkeitsökonomischen Rahmenbedingungen im Informationszeitalter ist eine breite gesellschaftliche Debatte mit spürbaren

37 Vgl. die Online-Broschüre unter https://online.flowpaper.com/7b450788/WhoWillWrite/ (Zugriff: 14. 2. 2019).

Dem Archiv entschrieben. Wege aus dem Speichergedächtnis  

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Folgen für die Erinnerungskultur, wie sie etwa die US-Fernsehserie Holocaust bei ihrer Ausstrahlung in Westdeutschland auslöste, wohl nicht zu erwarten.38 In jedem Fall aber ist Who Will Write Our History? ein überaus ergiebiges Beispiel für die Fragestellungen, die sich an die vom Filmtitel selbst aufgeworfene Problematik historiografischer Deutungshoheit anschließen: Wie viel Fiktion ist erlaubt, um Geschichte erzählbar zu machen? Steht die historische Aufklärung oder die emotionale Katharsis des Publikums im Mittelpunkt? Welche Folgen hat die mediale Mittelbarkeit auf die Wahrnehmung von Archivdokumenten? Wie lässt sich der Authentizitätsanspruch eines letztlich künstlerischen Werks aufrechterhalten? Was für (imaginäre) Gemeinschaften werden durch die Formulierung „unsere Geschichte“ geschaffen?

4 Ausblick Zwei Beispiele, die zudem noch dem arbiträren Erfahrungsraum eines einzelnen Wissenschaftlers entnommen sind, reichen natürlich nicht aus, um die von Aleida Assmann konzeptionell beschriebene Durchlässigkeit zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis in ihren konkreten Ausprägungen erschöpfend zu erörtern. Umfangreichere, vergleichende Perspektiven bieten sich an, etwa zwischen dem Oyneg-Shabbes-Archiv als kollektiver und den Tagebüchern Victor Klemperers als individueller Spielart derselben Motivation: Zeugnis ablegen bis zum letzten. Klemperers Aufzeichnungen wurden auf vielfältige Weise medial verarbeitet und auf diese Weise zum kanonischen Teil der deutschen Erinnerungskultur. Auch Zvi Kolitz’ im Warschauer Ghetto spielende Erzählung Jossel Rakovers Wendung zu Gott samt des langen Streits um Authentizität und Urheberschaft berührt sich in vielen Punkten mit hier aufgeworfenen Fragen.39 Die Programme engagierter Verlage wie Arco (Wuppertal) oder Das kulturelle Gedächtnis (Berlin), die das erklärte Ziel verfolgen, „notwendige Bücher der Literatur- und Kulturgeschichte neu zu verlegen“40 und so dem kulturellen Vergessen etwas entgegenzusetzen, bieten sich ebenso als Ausgangspunkt für weitere Erkundungen an. In besonderer Weise aussichtsreich für weitere Untersuchungen in der hier skizzierten Richtung

38 Vgl. Anton Kaes: 1979. The American television series Holocaust is shown in West Germany. In: Sander L. Gilman und Jack Zipes (Hg.): Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096–1996. New Haven 1997, S. 783–789. 39 Vgl. hierzu Rudolf Pesch: Anna Maria Jokl und der „Jossel Rackower“ von Zvi Kolitz. Trier 2005. 40 Selbstbeschreibung auf http://daskulturellegedaechtnis.de/verlag/ (Zugriff: 14. 2. 2019).

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erscheint mir das weite Feld der Exilliteratur. Nicht wenige im Exil entstandene literarische Texte sind erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung, ggf. entlegenen Erstveröffentlichung oder Erstveröffentlichung in Übersetzung aus Archivbeständen (neu) ediert und herausgegeben worden. Teilweise, wie jüngst Ulrich Alexander Boschwitz’ Roman Der Reisende, mit beachtlichem Erfolg und einer fortgesetzten medialen Verwertung.41 Wie im beschriebenen Fall von Jerusalem wird verkauft erfordert die Herausgabe solcher ‚unzeitgemäßen‘ Texte mit zeitlosem Wert jeweils eine paratextuelle Rahmung, die immer auch Einfluss auf ihre Rezeption hat. Noch einmal auf ganz eigene Weise reflektieren Texte der Gegenwartsliteratur  – wie etwa Ursula Krechels Romane Shanghai fern von wo und Landgericht –, die auf der Grundlage umfangreicher Archivrecherchen und teilweise unter direkter Einbindung von Archivmaterialien entstehen und so neue Erzählungen der Exilepoche schaffen, das komplexe Verhältnis von Literatur, Archiv und kulturellem Gedächtnis und beteiligen sich am Gespräch über Authentizität, Erzählbarkeit und Deutungshoheit. Hier gibt es eine Menge Potential für die Exilliteraturforschung und auch aus wissenschaftlicher Sicht noch den einen oder anderen ‚Schatz‘ zu heben.

Literaturverzeichnis Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. Aleida Assmann: Formen des Vergessens. Göttingen 2016. Ben-Gavriêl, M.Y. (Eugen Hoeflich): Jerusalem wird verkauft oder Gold auf der Straße, hg. von Sebastian Schirrmeister. Wuppertal 2016. Berg, Nicolas: Geschichte des Archivs im 20. Jahrhundert. In: Marcel Lepper und Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2016, S. 57–75. Bollag, Peter: Doppeladler an der Klagemauer. In: NZZ, 1. 9. 2016. Boschwitz, Ulrich Alexander: Der Reisende. Stuttgart 2018. Brockschmidt, Rolf: Europa ist der Wahnsinn, Europa ist der Mord. In: Der Tagesspiegel, 31. 7. 2016, S. 26. Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. In: Knut Ebeling und Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin 2009, S. 29–60.

41 Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende. Stuttgart 2018. Das Typoskript liegt im Exilarchiv der DNB, der Roman stand auf der SPIEGEL Bestsellerliste und ein vom NDR produziertes, gleichnamiges Hörspiel wurde am 13.  Januar 2019 gesendet (NDR Info 2019, R: Irene Schmuck), https://www.ndr.de/info/sendungen/hoerspiel_kriminalhoerspiel/Hoerspiel-DerReisende,sendung847536.html (Zugriff: 14. 2. 2019).

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Epsztein, Tadeusz: Structure and Organization of the Ringelblum Archive and Its Catalog. In: The Warsaw Ghetto Oyneg Shabes – Ringelblum Archive. Catalog and Guide. Hg. v. Robert Moses Shapiro und Tadeusz Epsztein. Bloomington 2009, S. 1–22. Grossman, Roberta: Director’s Statement. In: Press-Kit, https://whowillwriteourhistory.com/ press-kit/ (Zugriff: 14. 2. 2019). Harif, Hanan: Asiatische Brüder, europäische Fremde. Eugen Hoeflich und der „panasiatische Zionismus“ in Wien. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60.8 (2012), S. 646–660. Hessing, Jakob: Als Jerusalem türkisch war. In: FAZ, 28. 7. 2016, S. 10. Hoeflich, Eugen: Tagebücher 1915 bis 1927, hg. von Armin A. Wallas. Wien 1999. Hristeva, Galina: Nichts Neues in Jerusalem. In: literaturkritik.de 18.12 (Dezember 2016), https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=22745 (Zugriff: 14. 2. 2019). Kaes, Anton: 1979. The American television series Holocaust is shown in West Germany. In: Sander L. Gilman und Jack Zipes (Hg.): Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096–1996. New Haven 1997, S. 783–789. Kassow, Samuel D.: Ringelblums Vermächtnis: Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos. Aus d. Amerik. v. Karl Heinz Siber. Reinbek 2010. Kermish, Joseph (Hg.): To Live with Honor and Die with Honor. Selected Documents from the Warsaw Ghetto Underground Archives Oneg Shabbath. Jerusalem 1986. Pesch, Rudolf: Anna Maria Jokl und der „Jossel Rackower“ von Zvi Kolitz. Trier 2005. Pforte, Dietger: Die deutschsprachige Anthologie. Ein Beitrag zu ihrer Theorie. In: Joachim Bark und Dietger Pforte (Hg.): Die deutschsprachige Anthologie. Frankfurt a. M. 1969–1970, S. XIII–CXXIV. Ringelblum, Emanuel: Ghetto Warschau. Tagebücher aus dem Chaos. Stuttgart 1967. Schirrmeister, Sebastian: Der andere Krieg. Nachwort. In: Ben-Gavriêl: Jerusalem wird verkauft, S. 223–245. Way, Ingo: Möglichkeit zur Menschlichkeit. In: Jüdische Allgemeine, 17. 3. 2016.

Natalie Eppelsheimer

Exil in Kenia: Eine archivarische Spurensuche Wer sich auf eine archivarische Spurensuche nach Dokumenten zu Exilerfahrungen deutscher und österreichischer Emigrantinnen und Emigranten in Kenia zwischen 1933–1945 begeben möchte, der benötigt viel Zeit, ausreichende Forschungsgelder zur Finanzierung von Reisen und – angesichts der oft langen Wartezeiten auf Genehmigungen zur Einsicht von sowohl in staatlichen als auch in privaten Sammlungen aufbewahrten Dokumenten – vor allem viel Geduld. Aber der Aufwand lohnt sich, denn es existieren zahlreiche Archivalien, anhand derer sich nicht nur historische Hintergründe der Flucht in die britische Kronkolonie dokumentieren lassen, sondern ebenso persönliche Erfahrungen von Emigrantinnen und Emigranten.1 Kenia zählt in der Exilforschung noch immer zu den weniger untersuchten Fluchtländern2 und verdankt seine Bekanntheit wohl hauptsächlich Stefanie Zweigs autobiographischem Roman Nirgendwo in Afrika sowie dem gleichnamigen, oscarprämierten Film von Caroline Link.3 Dass diesem Land in Exilstudien recht wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, liegt wohl auch an der – verglichen mit anderen Aufnahmeländern  – geringen Zahl an deutschsprachigen Exilanten. Es kann davon ausgegangen werden, dass insgesamt nicht weniger als 800 Emigrantinnen und Emigranten aus Deutschland und Österreich in Kenia Zuflucht fanden. Dies ist zwar weit mehr, als Kurt Grossmann und Hans-Albert

1 Eine umfangreiche Darstellung des Exils in Kenia bietet Natalie Eppelsheimer: Roads Less Traveled. German-Jewish Exile Experiences in Kenya 1933–1947. Oxford 2019. Auch Jutta Vinzent hat zum Thema Emigration nach Kenia geforscht, insbesondere zur Internierung von „Enemy Aliens“. Siehe z.  B. die folgenden Aufsätze: The British Internment of Refugees from Nazi Germany in Kenya during World War II. In: The Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 20 (2019) (im Erscheinen) und Dies.: Shifting identities and questioning entangled histories. German Art in British Internment in Kenya during WWII (in Bearbeitung). 2 Folgende Publikationen sollen hier – sortiert nach Veröffentlichungsdatum – erwähnt werden: Lucile Bourcet-Salenson: Das Exil der kleinen Leute in Kenia 1938–1947. In: Daniel Azuelos (Hg.): Alltag im Exil. Würzburg 2011, S. 127–137. Margit Franz und Heimo Halbrainer (Hg.): Going East – Going South: Österreichisches Exil in Asien und Afrika. Graz 2014. Leonie Marx: Konkurrierende Netzwerke im kenianischen Exil: Zwischenpositionen der Familie Stefanie Zweigs. In: Helga Schreckenberger (Hg.): Networks of Refugees from Nazi Germany. Continuities, Reorientations, and Collaborations in Exile. Leiden 2016, S. 11–37. 3 Stefanie Zweig: Nirgendwo in Afrika. München 1995. Caroline Links Verfilmung wurde 2003 mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film aus dem Jahr 2002 ausgezeichnet. https://doi.org/10.1515/9783110542103-005

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Walter4 noch in den achtziger Jahren schätzten, doch verglichen mit anderen Exilländern relativ wenig. Ein weiterer Grund für das Fehlen umfangreicher Exilstudien zu Kenia ist sicherlich auch der Umstand, dass das „Kenia Archiv“ – wie ich die auf der ganzen Welt verstreuten Dokumente zum kenianischen Exil nennen möchte – so wie wohl alle Archive des Exils, partiell, fragmentiert und zerstreut ist. Dies umso mehr, da mit Kenias Unabhängigkeitskämpfen und dem Ende der britischen Kolonialherrschaft im Jahr 1963 viele in staatlichen (britischen) Archiven aufbewahrte Dokumente zerstört wurden. Aber bereits vor und während des Exils gingen viele Dokumente verloren: auf der Flucht aus Deutschland und der langen Schiffs- und Bahnreise nach Mombasa und Nairobi, bei der vieles zurückgelassen, verloren oder konfisziert wurde; aufgrund wiederholter Umzüge innerhalb der britischen Kolonie, wo das Leben der meisten Exilanten sich auf einsam gelegenen Farmen abspielte; und auch infolge der Beschlagnahmung von Fotoapparaten im Zuge der Internierung deutscher und österreichischer Emigrantinnen und Emigranten als „Enemy Aliens“ (feindliche Ausländer). Zur Zerstreuung und Fragmentierung des Kenia Archivs trägt weiterhin der Umstand bei, dass das Land nur für wenige zur neuen Heimat wurde. Für das Gros der deutschsprachigen Emigrantinnen und Emigranten war die britische Kolonie nur Übergangsstation: Nach Ende des Krieges zogen die meisten weiter nach Palästina, in die USA oder nach England, wo nicht selten bereits Familienmitglieder lebten. Von den Wenigen, die nach 1945 in der Kolonie bleiben wollten, verließen weitere während der bereits in den fünfziger Jahren immer stärker werdenden Widerstandsbewegung der kenianischen Bevölkerung gegen die britischen Kolonialherren das Land. Am Tag der Unabhängigkeit, dem 12. Dezember 1963, lebten in Kenia kaum noch ehemalige Flüchtlinge aus der nationalsozialistischen Diktatur. Zudem war – mit Ausnahme Stefanie Zweigs, die allerdings erst lange nach ihrer Kindheit in Kenia als Schriftstellerin bekannt wurde – Kenia ein Exilland der „kleinen Leute“5, deren Schicksale die Exilforschung erst später zu untersuchen begann und deren Dokumente des Exils, wie Briefe, Fotografien,

4 So schrieb Walter [bezugnehmend auf Grossmanns Buch Emigration: Geschichte der HitlerFlüchtlinge, 1933–1945. Frankfurt a.  M. 1969, S.  317]: „Von dem gesamten, in Évian so verheißungsvoll propagierten Projekt einer Öffnung der ostafrikanischen Kolonien blieb nicht viel mehr als der Versuch einer Niederlassung von 15 Familien in Kenia.“ Hans-Albert Walter: Deutsche Exilliteratur: 1933–1950, Bd. 2: Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis. Stuttgart 1984, S. 257. 5 So der Titel von Wolfgang Benz’ Anfang der neunziger Jahre erschienenem Werk Das Exil der kleinen Leute: Alltagserfahrungen deutscher Juden in der Emigration. München 1991.

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Tagebücher, Notizen, Ausweise oder Fahrkarten, nur selten als „archivwürdig“ gesammelt oder aufbewahrt wurden. Schließlich gilt es auch die Erben oder Verwandten zu erwähnen, in deren Hände Erinnerungsstücke aus der Exilzeit gelangten, die oft weit verstreut wohnen und die über die Wichtigkeit der Aufbewahrung entscheiden. Wie Ulrich von Bülow im Handbuch Archiv treffend feststellt, „[ermöglichen] Zeitgenossen und Erben künftige Forschung, indem sie Nachlässe retten, hüten und anreichern. Bekannter sind jedoch Beispiele dafür, dass Erben Dokumente verstreuen, vernachlässigen und vernichten.“6 Dieser Artikel beschreibt im ersten Teil Archive in Deutschland, Großbritannien, Kenia und den USA, die Dokumente zum Exil in Kenia aufbewahren, und liefert – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einen Überblick über deren jeweilige Bestände. Angesprochen werden hier auch Archivierungspraktiken, Zugangsbeschränkungen und Nutzungsbedingungen. Die Beschreibung beschränkt sich in diesem Beitrag auf schriftliche Dokumente. Die für die Exilstudien ebenso bedeutenden Objekte des Exils bleiben aus Platzgründen unberücksichtigt.7 Der zweite Teil widmet sich Kenia als Exilland. Anhand ausgewählter Beispiele wird aufgezeigt, wie sich Stationen des Exils, Auswanderungs- sowie Einwanderungsvorschriften und damit verbundene bürokratische Hürden und individuelle, persönliche Exilerfahrungen mithilfe der von der Verfasserin bisher recherchierten Archivalien zumindest in Teilstücken nachverfolgen und rekonstruieren lassen. Trotz der umfangreichen Quellenlage bleiben jedoch Leerstellen bestehen.

1 Archive Die Adjektive „partiell, fragmentiert und zerstreut“, die auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Exilforschung zum Thema: „Archive und Museen des Exils“ im September 2018 wiederholt genannt wurden, beschreiben sicherlich auch die Archivlage in Bezug auf das Exil deutschsprachiger Flüchtlinge in der britischen Kolonie Kenia. Dokumente zum kenianischen Exil sind, wie eingangs erwähnt, über eine Vielzahl von Ländern verstreut, darunter Kenia, England, Deutschland, die Vereinigten Staaten und Israel (Abb. 1). Nur ein Bruchteil der Dokumente in

6 Ulrich von Bülow: Nachlässe. In: Marcel Lepper und Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2016, S. 143–152, hier S. 151. 7 Zu den materiellen Zeugnissen des Exils siehe Sylvia Asmus: Was bleibt? Zeugnisse von Passagen aus der Sammlung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 35 (2017): Passagen des Exils, S. 39–53.

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Abb. 1: Archiv-Standorte. Natalie Eppelsheimer: erstellt mit Google-Maps, 2018.

diesen Sammlungen wurde bisher digitalisiert und selbst die digitalisierten Versionen sind in vielen Fällen nur vor Ort – und oftmals nur mit besonderer Genehmigung – zugänglich. In Deutschland sollte die Recherche im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main beginnen. Von dort hat man Zugriff auf digitalisierte jüdische Periodika aus NS-Deutschland wie das Korrespondenzblatt über Auswanderungs- und Siedlungswesen und das Jüdische Nachrichtenblatt (Ausgaben Berlin und Wien). Die innerhalb des Projekts „Exilpresse digital“, digitalisierten wichtigen Exilzeitungen und -zeitschriften wie die Pariser Tageszeitung bzw. das Pariser Tagesblatt und der Aufbau sind weltweit verfügbar. Alle bieten wertvolle Informationen zur Emigration nach Kenia. Es sei hier auf Zugangsmodalitäten verwiesen, über die das Deutsche Exilarchiv auf seiner Webseite informiert, wie z.  B., dass „[d]ie Bestände des Exilarchivs in einem eigenen Lesesaal bereitgestellt [werden]“ und dass für die Einsicht in bestimmte Unterlagen „eine Terminvereinbarung notwendig“ ist. Außerdem „gilt aus persönlichkeits- und urheberrechtlichen Gründen eine gesonderte Benutzungsordnung. Unterlagen lebender Personen dürfen nur mit deren Genehmigung eingesehen werden“8. Seit 2016 befindet sich auch der Splitternachlass Stefanie Zweigs im Exilarchiv, welcher neben etlichen Schriftstücken der Autorin ein Fotoalbum mit

8 https://www.dnb.de/DE/Ueber-uns/DEA/Benutzung/benutzung_node.html (Zugriff: 15.7.2019).

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zahlreichen Fotografien aus der Zeit in Kenia enthält.9 Auch die 2018 eröffnete Dauerausstellung „Exil. Erfahrung und Zeugnis“ spricht mit Ausstellungsstücken aus dem Nachlass Stefanie Zweigs das kenianische Exil an. Da Kenia während der NS-Zeit zum britischen Kolonialreich gehörte, ist der Schriftverkehr bezüglich Einwanderungsgesetzen, Flüchtlingspolitik und Siedlungsplänen für deutschsprachige, jüdische Flüchtlinge zwischen dem Kolonialministerium in England und den Kolonialbehörden in Kenia zum großen Teil in The National Archives in Kew, Richmond zu finden.10 Viele der Akten waren lange Zeit als vertraulich eingestuft, doch ist diese Sperrfrist mittlerweile aufgehoben. Die in diesem Nationalarchiv aufbewahrten Dokumente sind (noch) nicht digitalisiert und es existiert auch kein umfassendes Schlagwortregister. Es ist erlaubt, die Dokumente abzufotografieren bzw. zu scannen. Die Akten des Colonial Offices enthalten sowohl handschriftlich als auch maschinell verfasste Protokolle, amtliche Rundschreiben mit Anmerkungen verschiedener Kolonialbeamten, vertrauliche, innerbehördliche Korrespondenz, Zeitungsausschnitte und Telegramme. Auch der Bericht des extra aus Palästina angeforderten Garten- und Landwirtschaftsspezialisten Asaph Grasovsky, der Kenia im Januar 1938 besuchte, befindet sich im Bestand des Nationalarchivs. Der 65 Seiten umfassende Bericht „The ‚White Highlands‘: Its settlement possibilities“ beschreibt detailliert die Lebensbedingungen in der Kolonie sowie konkrete Möglichkeiten und absehbare Probleme bei der Planung einer größeren jüdischen Ansiedlung in Kenia.11 In den London Metropolitan Archives wird, unter anderem, die Korrespondenz zwischen der Jüdischen Gemeinde in Nairobi – Nairobi Hebrew Congregation – und dem Abgeordnetenausschuss der britischen Juden in London – Board of Deputies of British Jews – aufbewahrt.12 Um Einsicht in diese Archivbestände,

9 Splitternachlass Stefanie Zweig. Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek: EB 2016/004. Informationen zur „Exilpresse digital“ unter: https://www.dnb.de/exilpresse digital (Zugriff: 15.7.2019) und zu jüdischen Periodika in NS-Deutschland unter: https://www.dnb. de/juedischeperiodika (Zugriff: 15.7.2019). 10 The National Archives, Kew: CO  533/497/8 [White Settlement  / Settlement of German Jewish Refugees (1937/38)]; CO 533/511/8 [White Settlement / Settlement of German Jewish Refugees / Indian Interests]; CO 525/176/9 [Nyasaland: Settlement of Refugees from Central Europe (1938)]; CO 533/511/7 [Kenya: White Settlement. Settlement of German Jewish Refugees (1939)]; CO 533/521/4 [Kenya: White Settlement. Settlement of German Jewish Refugees (1940)]. 11 Asaph Grasovsky: Report. The ‚White Highlands‘. Its settlement possibilities. The National Archives, Kew: CO 533/497/8. Zusätzlich zum ausführlichen Bericht wurde auch eine kurze Zusammenfassung verfasst (Summary of the report). 12 Nairobi: correspondence with the Nairobi Hebrew Congregation about representation on the Board, and the Kenya Jewish Refugee Committee. Also Council for German Jewry report on Rhodesia and Kenya. London Metropolitan Archives: ACC/3121/B/04/NA/002.

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die ebenfalls nicht digitalisiert wurden, zu erhalten, bedarf es einer schriftlichen Genehmigung des Boards. Von besonderem Interesse ist in dieser Sammlung die Korrespondenz des Boards mit dem Jüdischen Flüchtlingskomitee in Kenia  – Kenya Jewish Refugee Committee  – und der Bericht des Zentralrats deutscher Juden zu Siedlungsmöglichkeiten in Rhodesien und Kenia. Die Kenya National Archives in Nairobi stellen eine weitere reiche Fundstelle dar. Dort befinden sich Unterlagen, die Auskunft geben über den Umgang des Aufnahmelandes bzw. dessen kolonialen Besatzungsmächten mit deutschsprachigen, bei Ausbruch des Kriegs zu „Enemy Aliens“ (feindlichen Ausländern) erklärten und internierten Flüchtlingen. Insbesondere die vom Exekutivrat des Criminal Investigation Departments nach Ende des Krieges verfasste Liste aller nicht-britischen, weißen Einwohner in Kenia ist aufschlussreich hinsichtlich der Gesamtzahl deutscher und österreichischer Emigrantinnen und Emigranten, die in Kenia Zuflucht fanden.13 Auf dieser Liste wurden Männer, Frauen und Kinder von den Behörden in vier Kategorien unterteilt, je nachdem, ob die jeweilige Person (A) in ihr Herkunftsland zurückkehren sollte („to be repatriated“) oder (B) in der Kolonie bleiben durfte („to be permitted to remain in the Colony“). In der Kategorie (C) wurden die Namen von aus dem Mittleren Osten, Zypern etc. Evakuierten gelistet, die keine Erlaubnis erhielten, in Kenia zu bleiben („Evacuees from the Middle East, Cyprus, etc. who will not be permitted to remain in the Colony“) und in Kategorie (D) die Namen von „feindlichen Ausländern“, die Europa nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten aus politischen Gründen oder aufgrund von religiöser Verfolgung verlassen hatten, und die als Immigranten in der Kolonie aufgenommen worden waren („Enemy Aliens who left Europe after the assumption of power by the Nazis, either for political reasons or on account of religious persecution and who have been accepted as immigrants in the Colony“). In der Kategorie (A) sind 44 Deutsche und 4 Österreicher gelistet, in Kategorie (B) 23 Deutsche und 2 Österreicher, in Kategorie (C) 16 Deutsche und 33 Österreicher und in Kategorie (D) 396 Deutsche und 59 Österreicher. Diese Liste belegt, dass in der Tat eine beträchtliche Anzahl deutschsprachige Emigrantinnen und Emigranten in Kenia Zuflucht gefunden hat. Zieht man außerdem in Betracht, dass diejenigen österreichischen und deutschen Männer, die in der britischen Armee dienten, nicht auf dieser Liste verzeichnet sind,14 so kann man davon ausgehen, dass die Zahl deutschsprachiger Exilanten bei mindestens 800 liegt.

13 Kenya National Archives: AH/13/148; AH/13/155; AH/13/156; AH/13/160 und AH/13/163. 14 Walter Zweig, der Vater der Autorin Stefanie Zweig, ist aus diesem Grund nicht auf dieser Liste verzeichnet.

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Im Archiv der jüdischen Gemeinde in Nairobi – Nairobi Hebrew Congregation (NHC) – befinden sich wichtige Dokumente zur Arbeit der Hilfskomitees und zu den Exilerfahrungen jüdischer Emigrantinnen und Emigranten in Kenia. Insbesondere die gesammelten Hilfsgesuche und Anfragen an die Gemeinde und die Antwortschreiben bezeugen die unermüdliche Arbeit des NHC-Flüchtlingskomitees, doch weisen diese Schriftstücke auch auf Probleme zwischen Exilanten und Vertretern der Gemeinde hin. Um Zugang zum Gelände der NHC und Einsicht in die in zwei Ordnern gesammelten Briefe, Telegramme, Namenslisten, Rechnungen und Belege gewährt zu bekommen, bedarf es einer Erlaubnis. Die im Archiv der NHC liegenden Dokumente sind (noch) nicht digitalisiert. An dieser Stelle seien auch zwei Bücher erwähnt, die Bezug auf das Archiv nehmen und Passagen über deutschsprachige jüdische Flüchtlinge in Kenia enthalten: Julius Carlebachs The Jews of Nairobi 1903–1962 und Cynthia Salvadoris Glimpses of the Jews of Kenya 1904–2004.15 Auch das Archiv des United States Holocaust Museum (USHMM) in Washington DC verfügt über eine reichhaltige Sammlung von Dokumenten zum Exil in Kenia – darunter Fotografien, Memoiren, Briefwechsel und Audio- und Videoaufzeichnungen mit Zeitzeugen. Viele Materialien sind mittlerweile digitalisiert und online einsehbar. Es gibt keinerlei Zugangsbeschränkungen. Am umfangreichsten ist sicherlich der (zum Teil digitalisierte) mehrere Kartons umfassende Nachlass der Familie Berg, der umfangreiche Dokumente wie Ausweisdokumente mit amtlichen Anmerkungen und Stempeln aus NS-Deutschland und Kenia, Schiffskarten, detaillierte Listen des Umzugsguts (Abb. 2), Formulare der Einwanderungsbehörden und während der Reise sowie in Kenia aufgenommene Fotografien von Familienmitgliedern und den beiden Farmen, die die Familie Berg in Kenia besaß, enthält.16 Sehr aufschlussreich sind auch mehrere Zeitzeugen-Interviews mit den „Berg-Schwestern“ – Inge Katzenstein und Jill Pauly, geborene Inge und Gisela Berg  – im Rahmen des vom Museum regelmäßig veranstalteten „First Person: Conversations with Holocaust Survivors“ Programms für Museumsbesucher, in denen beide von ihren Kindheitserlebnissen in Kenia sprechen.17 Beide Schwestern arbeiteten viele Jahre ehrenamtlich für das USHMM. Auch zwei Memoiren

15 Cynthia Salvadori: Glimpses of the Jews of Kenya. Centennial Story of the Nairobi Hebrew Congregation 1904–2004. Nairobi 2004 und Julius Carlebach: The Jews of Nairobi 1903–1962. Nairobi 1962. 16 Berg family Dossier. USHMM Collections: 1989.232.31. Die Berg-Sammlung besteht aus zwei Haupt- und zehn Unterdossiers („series“). 17 Jill Pauly nahm in den letzten 25 Jahren regelmäßig an den USHMM Oral History Interviews teil. Das (bisher) letzte Interview fand im April 2018 statt: https://www.ushmm.org/onlinecalendar/event/MAFRSTPERPAU0418 (Zugriff: 18.  11. 2018). Oral History Interview Jill Pauly,

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Abb. 2: Liste mit Umzugsgut der Familie Berg. Sammlung Jill Pauly, United States Holocaust Memorial Museum Archives: RG-19.387.0001.0000071 (Copyright UHSMM).

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befinden sich in der Sammlung des USHMM-Archivs: Heinz Bauers unbetitelte und undatierte Erinnerungen an die Zeit seines Emigrantenlebens in Kenia und Ruth Weyls 2004 in ihrer Wohnung im New Yorker Stadtteil Queens verfasste Schrift My Memories from Africa18. Das Ruth-Weyl-Dossier enthält außerdem in Kenia aufgenommene Fotos von ihr und ihrem Mann Heinrich sowie von der wie die Weyls aus Breslau stammenden Familie Zweig, mit der das Paar befreundet war. Ein Abzug des in Abb. 3 gezeigten Fotos der Familie Zweig befand sich auch in deren Besitz. Es ist Bestand sowohl des im Deutschen Exilarchiv aufbewahrten Splitternachlasses Stefanie Zweigs als auch des im Archiv des USHMM aufbewahrten Nachlasses Ruth Weyls. Keiner der beiden Kontexte lässt jedoch auf die Fotografin oder den Fotografen schließen. Dokumente im Zusammenhang mit der deutschsprachigen Emigration nach Kenia sind auch im Leo Baeck Institute in New York verwahrt, das mittlerweile viele Quellen online via „DigiBaeck“ zur Verfügung stellt. Dazu gehört eine umfangreiche Dokumentensammlung über das jüdische Auswanderungslehrgut Groß-Breesen, inklusive Briefe, durch die in viele Länder – darunter Kenia – verstreute ehemalige Groß-Breesener miteinander in Kontakt blieben.19 Das Leo Baeck Institut zählt auch den „vertraulich[en] – nicht für die Presse!“ verfassten „Bericht über eine Informationsreise nach der Suedafrikanischen Union, den beiden Rhodesien und Kenya (Britisch-Ostafrika)“ des Vorsitzenden des Hilfsvereins der Juden in Deutschland, Dr. Mark Wischnitzer zu seinen Archivalien.20 Wischnitzer hatte die Inspektionstour nach Afrika im November 1936 unternommen, um Möglichkeiten für Ansiedlungen von Flüchtlingen aus NS-Deutschland zu überprüfen. In Kenia traf er sich mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde sowie mit Vertretern aus Handel und Wirtschaft. Schließlich bietet „DigiBaeck“ auch Zugriff auf die digitalisierte Zeitung Jüdische Auswanderung: Korrespondenzblatt über Auswanderungs- und Siedlungswesen, welches zahlreiche Artikel zur Emigration nach Kenia enthält. Schließlich ist das Visual History Archive der 1994 von US-Regisseur Steven Spielberg gegründeten und seit 2006 in die University of Southern California

z.  B.: 1998.A.0033 [RG-50.106.0092]; 1995.A.1271.107 [RG-50.119.0107]; Oral History Interview mit Jill Pauly und Inge Katzenstein: 2001.207 [RG50.106.0144]. 18 Ruth Weyl: Dossier. USHMM Collections: 2004.478; Heinz Bauer: Memoir. USHMM Collections: 1994.A.026. 19 Guide to Juedisches Auswanderungslehrgut Gross-Breesen, Silesia. Leo Baeck Institute: AR3686. Siehe auch die Webseite und Ausstellung zu Groß-Breesen unter https://www. grossbreesen.com/ (Zugriff: 28. 11. 2018). 20 Mark Wischnitzer: Bericht über eine Informationsreise nach der Suedafrikanischen Union, den beiden Rhodesien und Kenya (Britisch-Ostafrika). Leo Baeck Institute: MS 695.

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Abb. 3: Die Familie Zweig mit Owuor und Freunden. Sammlung Ruth Weyl, United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives # 63599 (Copyright UHSMM).

eingegliederten Shoah Foundation in Los Angeles, Kalifornien auch für das Exil in Kenia relevant. Dessen mittlerweile digitalisierte und an mehreren Instituten weltweit zugängliche Sammlung von auf Video aufgenommenen Zeitzeugenberichten enthält einige Interviews u.  a. mit Jill Pauly (geb. Gisela Berg).21 Zur Archivlage in Zusammenhang mit Kenia als Exilland lässt sich abschließend feststellen, dass es zwar umfangreiche Quellen gibt, dass aber die beschränkte Zugänglichkeit mancherorts ein Studium der Dokumente erschwert. Jedoch sind die Zugangslimitierungen nachvollziehbar, weil, wie Marcel Lepper und Ulrich Raulff bemerken, „verschiedene Ideen, Werte und Rechte miteinander vor den Toren der Archive in Konflikt geraten und sorgfältiger Abwägung bedürfen: zwischen dem Schutz lebender Personen aufgrund des allgemeinen Persönlichkeitsrechts […], dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung […], Forschungsfreiheit […] und Informationsfreiheit“22.

21 Interview mit Jill Pauly. Visual History Archives der USC Shoah Foundation: Nr. 26396. 22 Marcel Lepper und Ulrich Raulff: Erfindung des Archivs. In: Marcel Lepper und Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2016, S. 1–9, hier S. 7.

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2 Exilland Kenia 2.1 Einreisebedingungen und Aufnahme Einer der Hauptgründe, die für eine Auswanderung nach Kenia sprachen, waren die  – jedenfalls bis November 1938  – relativ laxen Einreisebedingungen in die britische Kolonie. So stand zum Beispiel in der Oktoberausgabe des Jahres 1933 im Korrespondenzblatt über Auswanderungs- und Siedlungswesen unter der Überschrift „Britisch-Ostafrika (Kenia)“: Der Einreise Deutscher steht kein Hindernis entgegen. Für die Einreise genügt der deutsche Reisepass ohne Visum. Landungsgeld (Rückreisedepot). In Kenia und Uganda gilt als Teil der „ausreichenden Mittel“ von etwa 100 engl. Pfund, deren Nachweis die Einwanderungsbehörde von den ohne Anstellungsvertrag Einreisenden fordert, ein Rückreisedepot von 50 engl. Pfund, das von der Reederei vor der Einschiffung eingezogen und bei der Landung an die Einwanderungsbehörde weitergeleitet wird. Das Depot wird nach der Erteilung der endgültigen Einreiseerlaubnis, im allgemeinen nach zwölf Monaten, von der Behörde zurückvergütet.23

In derselben Ausgabe wurde die folgende Pressemitteilung abgedruckt: Die Regierung gab bekannt, dass die Kolonie allen Juden offen stehe, die sich daselbst ansiedeln wollen, vorausgesetzt, dass sie alle Bedingungen erfüllen, die für die Einwanderung in Kraft sind. Neue Verordnungen über Freigabe von Regierungsböden [Hervorhebung im Original] zwecks Besiedlung seien in Vorbereitung. Das Land wird für die Dauer von 99 bis 999 Jahren verpachtet. – Ein Teil jenes Gebietes, welches die britische Behörde seinerzeit den Zionisten angeboten hatte, käme für jüdische Siedler in Frage. […] Jeder gesunde, kräftige, ledige oder verheiratete Mann, der sich der Landwirtschaft widmen will und im Besitz von mindestens 5000 RM ist, kann siedeln.

Wie im Korrespondenzblatt wurde in jüdischen Zeitschriften und Zeitungen immer wieder von Plänen einer größeren Ansiedlung jüdischer Flüchtlinge in britischen Kolonien in Afrika berichtet, wie sie z.  B. die Plough Settlement Association in Zusammenarbeit mit dem Council for German Jewry und dem Colonial Office in London sowie den Kolonial-Behörden in Nairobi zu organisieren versuchte. Die erste Gruppe von sieben zukünftigen Farmern war bereits 1933 durch Unterstützung der Jüdischen Gemeinde in Nairobi nach Kenia gelangt. Die Verhand-

23 Britisch-Ostafrika (Kenia). In: Korrespondenzblatt über Auswanderungs- und Siedlungswesen (Oktober 1933), S. 31. Sämtliche Ausgaben des Korrespondenzblattes sind über das online Archiv des Leo Baeck Instituts, „DigiBaeck“ einzusehen.

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lungen zu Siedlungsplänen in größerem Umfang gestalteten sich jedoch als kompliziert und brachten immer wieder Verzögerungen mit sich, währenddessen sich die Lebensbedingungen in Deutschland täglich verschlimmerten und die Ausreisebedingungen zunehmend verschärften. Der stärkste Widerstand gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus NS-Deutschland kam in Kenia von Gouverneur Henry R.M. Brooke-Popham, der sich im Juni 1938 mit folgenden Worten an den in London ansässigen Staatssekretär der Kolonien, Malcom MacDonald wandte: To sum up the situation, I am definitely opposed to the setting aside of any large area of land, even if such were available, for one big Jewish settlement as I consider that a Jewish enclave of this kind would be an undesirable feature in a Colony which I consider should be developed on lines predominantly British. I should have no objection, however, to the carefully regulated influx of Jews of the right type – i.  e. Nordic from Germany or Austria, – for agricultural settlement in reasonably small numbers, the rate of immigration to be determined by the speed at which they could be established on the land, to be settled on privately acquired land (chiefly in the Highlands), or such small areas of suitable Crown land as might be made available, in small groups of a size not too large to become part of the general economic and social life of the community.24

Auch britische Siedler, die Anfang der dreißiger Jahre angesichts der wirtschaftlich desolaten Situation der Kolonie noch alle weißen Einwanderer mit Kapital begrüßten, standen der Aufnahme von Flüchtlingen aus NS-Deutschland zunehmend ablehnend gegenüber, insbesondere, als mehr und mehr mittellose Männer, Frauen und Kinder ins Land kamen, die das idyllische Bild der Kolonie als Paradies für ‚gentlemen farmer‘ bedrohten. Entsprechend sprachen sie sich bei Sitzungen des Legislativrats wiederholt für Verschärfungen der Einreisebedingungen und drastische Erhöhungen der Einreisegebühren aus. Die Jüdische Gemeinde in Kenia bürgte für die Geflüchteten und war dazu angehalten sicherzustellen, dass sich keine mittellosen Europäer in den Städten aufhielten, weswegen viele auf entfernt gelegene Farmen gebracht wurden. Auf diesen stellte man viele Männer ohne jedwede landwirtschaftliche Kenntnisse als ‚farm manager‘ an. Aus Furcht vor dem Protest der Inder gegen eine Konkurrenz im Handelsgeschäft durften Emigrantinnen und Emigranten nicht im Handel tätig werden. Darauf wies auch ein 1938 in der Pariser Tageszeitung erschienener Artikel unter der Überschrift „Die Inder in Kenya gegen Jüdische Einwanderer“ hin.25

24 Brooke-Popham (Governor of Kenya) an MacDonald (Secretary of State to the Colonies), 18. June 1938. The National Archives, Kew: CO 533/497/8. 25 Die Inder in Kenya gegen Jüdische Einwanderer. In: Pariser Tageszeitung, 14. 10. 1938, S. 4.

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Mit Kriegsausbruch endete offiziell die Emigration nach England und in die britischen Kolonien. Das Jüdische Nachrichtenblatt informierte seine Leser im Oktober 1939, dass von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland die Mitteilung eingegangen sei, dass Permits und Visa für England, die vor dem 4. September 1939 ausgestellt wurden, ungültig [seien]. Dies [gelte] für sämtliche Gruppen von noch in Deutschland befindlichen Juden, die eine Erlaubnis zur Einreise oder Einwanderung nach England hatten […] Mit einer Erneuerung dieser Permits oder Visa [sei] nicht mehr zu rechnen.

Ferner wurde darauf hingewiesen, dass „England auch kein Auswanderungsziel [sei], auf das hin ein Zwischenaufenthalt in irgendeinen zentralen europäischen Staat bewilligt werden könnte“ und dass „[d]as gleiche wie für England […] für Australien, Neuseeland, Südafrika und Kenya [gelte].“26 Bei Kriegsausbruch wurden außerdem alle deutschen und österreichischen Emigrantinnen und Emigranten als „feindliche Ausländer“ interniert. Radios, Fotoapparate und Autos wurden konfisziert und die Internierten erst wieder freigelassen, nachdem sie als unbedenklich eingestuft worden waren und wenn sie einen Bürgen und einen Wohnsitz bzw. eine Arbeitsstelle vorweisen konnten. Ein Verlassen des Wohnsitzes bedurfte, wie die Dokumente in der Sammlung der Familie Berg zeigen (Abb. 4), einer schriftlichen Genehmigung durch die kenianische Polizei. Es dauerte einige Zeit, bis die Restriktionen gelockert wurden, doch musste man letztendlich einsehen, dass die Internierung der Flüchtlinge finanziell nicht tragbar war und dass man auf den Farmen Arbeitskräfte als Ersatz für die vielen britischen Männer brauchte, die zum Kriegsdienst eingezogen worden waren. Am Ende durften auch aus Deutschland stammende Männer in der britischen Armee dienen und es wurde Emigrantinnen und Emigranten überdies erlaubt, bezahlte Tätigkeit anzunehmen.

2.2 Exil-Erfahrungen in Kenia Die Erfahrungen einzelner Emigrantinnen und Emigranten in Kenia unterscheiden sich stark voneinander und hingen von zahlreichen Faktoren ab, darunter dem Datum der Flucht oder Emigration aus Deutschland, der Höhe der finanziellen Mittel, die den Personen in Kenia zur Verfügung standen, dem Kontakt zu ein-

26 Permits und Visa nach dem britischen Weltreich. In: Jüdisches Nachrichtenblatt, Nr. 86, 27. 10. 1939, S. 3.

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Abb. 4: Von der Polizei in Nairobi ausgestellte Genehmigung für Klara Berg, ihren Mann auf der Farm zu besuchen. Sammlung Jill Pauly, United States Holocaust Memorial Museum Archives: RG-10.387.0001.0000067 (Copyright USHMM).

flussreichen Kontaktpersonen in England oder in der Kolonie, dem Gesundheitszustand und natürlich auch den beruflichen Qualifikationen bzw. Fertigkeiten. Diese Unterschiede sollen im Folgenden am Beispiel der Familien Weyl, Zweig und Berg gezeigt werden. Das bereits an früherer Stelle erwähnte Ehepaar Ruth und Heinrich Weyl aus Breslau kam schon im Jahr 1937 nach Kenia. Wie Heinrich Weyl in seinem Brief „An alle Freunde u. Verwandten“ beschreibt, war die Schiffsreise nach Mombasa und die zahlreichen Landgänge mit Besichtigungstouren an Orten wie Tanger, Genua, Port Said und Port Sudan, ein wunderbares Erlebnis.27 Auch die Ankunft verlief reibungslos:

27 Heinrich Weyl: Brief „An alle Freunde u. Verwandten“. Kampala, 24. Oktober 1937, S. 2. In: Ruth Weyl: Dossier. USHMM Collections: 2004.478.

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Die Einfahrt ist wunderschön, alles prangt im frischen Grün. […] Die Einwanderungsformalitäten sind schnell erledigt. 50£ pro Person muss für 1  Jahr hinterlegt werden […] Ein uns durch meine Verwandten in London bekannter Herr holte uns von Bord ab u. empfahl uns ein gutes Hotel. […] Die Verpflegung ist erstklassig. Morgens um 7 Uhr kommt ein Boy (natürlich Neger) die übliche Bedienung in Afrika, nimmt das Moskitonetz fort, unter dem man hier schlafen muss u. bringt Tee ans Bett. Die Boys sehen übrigens sehr sauber u. ordentlich aus. Sie tragen ein langes weißes Hemd mit Ärmeln, eine Livree Jacke u. ein weißes Mützchen auf dem Kopf. Dann echt englisches breakfast mit xerlei Sachen. Um 12 Uhr lunch. Um 5 Uhr Tee mit Gebäck und um 8 Uhr das große Dinner. Die Damen meistens in langer Abendtoilette.28

Da in Mombasa keine Arbeit zu finden war, zog das Paar zuerst weiter nach Nairobi, wo man ihnen eine Anstellung in einem Bekleidungsgeschäft in Kampala, Uganda, vermittelte. Dort blieben die beiden nur kurz. Sie kehrten nach Nairobi zurück und eröffneten in der Hauptstadt eine Pension, in der viele Exilanten aus NS-Deutschland unterkamen. Das Haus, so schreibt Ruth Weyl in ihren 2004 verfassten Erinnerungen My Memories from Africa, war „a nice stone house with a big veranda, a large lawn and trees in front of the house, in a good neighborhood“29 (Abb.  5). Das Mobiliar konnten sie günstig von britischen Beamten ersteigern, die alle nur für begrenzte Zeit in der Kolonie eingesetzt waren. Mit Ausbruch des Krieges wurden die Weyls interniert, ihr Gästehaus geschlossen und sowohl ihr Radio als auch ihre Kamera konfisziert. Das Bankkonto wurde ebenso von den Behörden geschlossen.30 Mit der Versicherung, eine Anstellung auf einer Farm anzunehmen, durfte Heinrich Weyl das Internierungslager verlassen. Die beiden kamen bei den Zweigs unter, bis Heinrich Weyl eine Anstellung in einer Goldmine in Kisumu annahm. Seine Frau fand Arbeit in einem naheliegenden Hotel, das auch bald ihren Mann anstellte. Dies war, wie Ruth Weyl schreibt, ein wahrer Glückstreffer: „Besides our very good salaries, free hotel life, we got a car and government health insurance. We couldn’t have found a better position. […] in Kenya, one could forget that there was a war.“31 Nach Kriegsende stand den Weyls, so wie allen Angestellten englischer Firmen in Kenia, ein langer (viermonatiger) Heimaturlaub („a long ‚home‘ leave“) mit voller Bezahlung zu, den die beiden in Palästina und Ägypten verbrachten. Die Weyls blieben nach dem Krieg noch einige Jahre in Kenia und emigrierten 1948 nach New York.

28 Weyl: Brief, S. 1–2. 29 Ruth Weyl: My Memories from Africa, S.  3. In: Ruth Weyl: Dossier. USHMM Collections: 2004.478. 30 Allerdings wurde das Geld den Weyls später ausgehändigt. 31 Weyl: Memories, S. 6.

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Abb. 5: Ruth Weyl mit Personal vor dem Gästehaus der Weyls in Nairobi. Sammlung Ruth Weyl, United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives # 63593 (Copyright USHMM).

Die Familie Zweig  – Walter, Lotte (Jettel) und die fünfjährige Stefanie  – deren Schicksal dem ein oder anderen durch Stefanie Zweigs autobiographische Werke bekannt sein mag, kam auf Anraten des befreundeten Heinrich Weyl nach Kenia. Walter Zweig, der als Rechtsanwalt weder Englisch gelernt hatte noch etwas von Landwirtschaft verstand, kämpfte mit immensen Schwierigkeiten, Anstellungen zu finden bzw. zu halten. Viele Jahre verbrachte die Familie auf verschiedenen, weit abseits von Städten gelegenen Farmen mit gar keinen oder nur spärlichen sanitären Einrichtungen. Die Sorge um die Anstellung Walter Zweigs war besonders groß nach Ausbruch des Krieges und im Zuge der Internierung der deutschsprachigen Emigrantinnen und Emigranten als feindliche Ausländer, da allen

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Deutschen und Österreichern ohne Bürgen bzw. ohne Arbeit auf britischen Farmen drohte, nach Südafrika deportiert zu werden. Dieser Aspekt des Lebens als „Refugees“ findet in Nirgendwo in Afrika nur marginal Erwähnung, wird jedoch in Schriftstücken im Nachlass der Autorin thematisiert, wie zum Beispiel in dem Büchlein mit Kenia-Erinnerungen „Weißt du noch?“, das Stefanie Zweig ihrem Vater im Jahre 1958 zum Geburtstag schenkte. Unter der Überschrift „… daß der Papa seine Stellung behält!“ beschreibt sie ihre Sorgen um die Anstellung des Vaters: Auf der Farm  – ich meine auf den vielen Farmen, die heute meine Kindheitseindrücke bestimmen – gab es aber noch andere Bedürfnisse des täglichen Lebens. Primäre Forderung des Lebens schloß ich eigentlich am Abend in mein Nachtgebet ein: „Lieber Gott, mach, daß der Papa die Stellung behält“, betete ich. Ich kann nicht behaupten, daß das Gebet sehr gut erhört worden ist, weil wir ja sonst schwerlich auf so vielen Farmen gelebt hätten. Aber immerhin gab es immer eine Stellung, um deren Erhaltung ich beten konnte. Und das reichte schon aus. […] Wenn dann meine Mutter mir schrieb, wir würden auf eine andere Farm ziehen, dann betete ich eben um die neue Stellung. Immerhin ging es ja nicht in erster Linie um die Farm, sondern um die Stellung.32

Besonders hart traf das Exil in Kenia Eltern mit Kindern im schulpflichtigen Alter, da diese in den meisten Fällen auf britische Internate geschickt wurden.33 Bereits das isolierte Leben als mittellose Flüchtlinge auf einsam gelegenen Farmen war schwierig, doch sich für mehrere Monate von dem Kind oder den Kindern trennen zu müssen, war für viele Eltern in dieser Situation eine weitere Belastung. Erschwert wurde die Lage dadurch, dass die Kinder britisch erzogen wurden, Schreiben und Lesen auf Englisch lernten und sich zunehmend von den Eltern entfremdeten. Vielfach war auch für die Kinder die Trennung traumatisch. Stefanie Zweig beschreibt diese Erfahrung eindrücklich in ihren autobiographischen Werken Nirgendwo in Afrika und Nirgendwo war Heimat: Mein Leben auf zwei Kontinenten.34 Auch in einem 2003 für die englische Zeitung The Guardian geschriebenen Beitrag erinnert sie sich daran, wie sie im Alter von sechs Jahren von ihren Eltern getrennt und auf ein Internat in Nakuru geschickt wurde: „The Nakuru Government School was 200 miles from home and I hated it. I was an only child, pampered by adoring parents, homesick, shy and speech-

32 Stefanie Zweig: Weisst du noch? From Mombasa to Leobschütz, 1958. Splitternachlass Stefanie Zweig. Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek: EB 2016/004. 33 Diejenigen, die in der Nähe von Schulen lebten, durften ihre Kinder als Tagesschülerinnen und -schüler („day scholars“) anmelden. 34 Stefanie Zweig: Nirgendwo in Afrika. München 1995 und Dies.: Nirgendwo war Heimat. Mein Leben auf zwei Kontinenten. München 2012.

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less – I could not speak a word of English and I had no idea what was expected of me.“35 Erst nachdem man Walter Zweig im Jahr 1943 zur britischen Armee zugelassen hatte, konnte die Familie wieder zusammenleben. Die Zweigs fanden im Hove Court, einer Art Apartmentkomplex in Nairobi, in dem viele Emigrantinnen und Emigranten lebten, eine Wohnung und Stefanie Zweig durfte als Tagesschülerin die Kenya Girls High School in Nairobi besuchen. Im Fotoalbum des im Deutschen Exilarchiv aufbewahrten Splitternachlasses Stefanie Zweigs sind mehrere Fotos aus dieser Zeit zu finden.36 Mit der Anstellung Walter Zweigs bei der Armee hatte die Familie auch erstmals ein gesichertes Einkommen und erhielt regelmäßige Mahlzeiten und ärztliche Betreuung. Dass Walter Zweig nach dem Krieg auf eine Rückkehr nach Deutschland insistierte, lag vor allem daran, dass er in Kenia nie heimisch werden konnte und dass er seine Kinder  – sein Sohn Max wurde im März 1946 geboren37 – nicht in Kenia aufwachsen lassen wollte. Zudem erhoffte er sich, als Jurist im Nachkriegsdeutschland von Nutzen sein zu können. Man bot ihm eine Stelle am Hessischen Justizministerium an und so kehrten die Zweigs im April 1947 nach Deutschland zurück. Die Erfahrungen der Familie Berg in Kenia (Abb.  6) unterscheiden sich stark von denen der Weyls und der Zweigs. Wie bereits erwähnt, gibt es zu dieser Familie sehr umfangreiches Archivmaterial, das zum größten Teil in der Sammlung des United States Holocaust Memorial Museum aufbewahrt wird. Die insgesamt siebzehn Mitglieder der aus Köln und dem Eifeler Umland stammenden, orthodoxen Familie Berg (und Mayer) kamen erst in den Jahren 1939 und 1940 nach Kenia. Sie hatten glücklicherweise schon kurz nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten Geld außer Landes gebracht, auf das sie bei ihrer Flucht nach den Novemberpogromen und beim Neustart in Kenia zurückgreifen konnten. Auch war es ihnen möglich, umfangreiches Umzugsgut inklusive Möbeln, Haushaltsgeräten und Kleidungsstücken mitzunehmen (Abb.  2). In Kenia erwarben die beiden Brüder Joseph und Georg Berg, die bereits in Deutschland als Landwirte gearbeitet hatten, für die Großfamilie zwei Farmhäuser in direkter Nähe voneinander sowie 375 Morgen Land in Limuru und 125 Morgen in Maguaga, wo sie Pyrethrum anbauten und Rinder züchteten.

35 Stefanie Zweig: Strangers in a Strange Land. In: The Guardian, 21. 3. 2003. 36 Splitternachlass Stefanie Zweig. Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek: EB 2016/004. 37 Die Zweigs schalteten die Geburtsanzeige am 5. April 1946 im Aufbau: Dr. Walter Zweig und Frau Lotte, geb. Perls (früher Leobschütz) zeigen die Geburt ihres Sohnes Max Ronald Paul an. Nairobi, Kenya Colony, 6. März 1946. Alle Ausgaben des Aufbaus sind über die „Exilpresse Digital“ einzusehen. Eine Kopie der Anzeige findet sich auch in Zweig: Heimat, S. 253.

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Abb. 6: Mitglieder der Familie Berg in Kenya. Sammlung Jill Pauly, United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives # 43999 (Copyright USHMM).

Aufgrund der großen Entfernung zur nächsten Synagoge in Nairobi hielten die Bergs ihre eigenen Gottesdienste in Limuru ab, zu denen auch andere jüdische Flüchtlinge aus der Umgebung kamen. Die Bergs entgingen der Internierung, weil sie sich verpflichteten, das Land eines britischen Farmers zu bestellen, der zur Armee einberufen worden war. Außerdem mussten die Schwestern Inge und Gisela Berg zwar englische Schulen, aber im Gegensatz zu Stefanie Zweig kein englisches Internat besuchen. Da den Eltern eine orthodoxe Erziehung wichtig war, zog Klara Berg mit ihren Töchtern zuerst nach Limuru und später nach Nairobi, so dass Inge und Gisela nur als Tagesschülerinnen der Schulpflicht nachkommen mussten und ansonsten in einem koscheren Umfeld aufwachsen konnten. Dennoch waren die Bergs – so wie alle deutschen Emigrantinnen und Emigranten, Restriktionen ausgesetzt. Wollte Klara Berg zum Beispiel nach Limuru reisen, um ihren Mann auf der Farm zu besuchen, benötigte sie eine schriftliche Genehmigung der Polizei (Abb.  4). Die Bergs blieben bis 1947 in Kenia. Nach Aussage Jill Paulys war der Hauptgrund für die Emigration in die

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USA, dass ihr Vater wieder in einer orthodoxen Gemeinschaft leben und Ehemänner für seine Töchter finden wollte.38

3 Fazit Die hier vorgestellte Sammlung von Archivmaterialien zu Kenia weist noch zahlreiche, deutlich erkennbare Leerstellen auf, von denen manche zu füllen sind, aber manche zwangsläufig leer bleiben werden. Was fehlt, sind neben einer (von der Verfasserin geplanten) Archiv-Recherche in Yad-Vashem, eine Studie von in privaten Beständen aufbewahrten Schriftstücken und Fotografien von ehemaligen Kenia-Exilanten, wie z.  B. das Privatarchiv von Lavinia Davenport Braun39 mit Dokumenten ihres Vaters Gerhard Braun (Dusemond), der von Groß-Breesen nach Kenia gekommen war, oder Erinnerungsstücke aus Kenia im Besitz der nun in England lebenden Inge Allen (geborene Inge Sadler), die mit der jungen Stefanie Zweig in Kenia aufs Internat gegangen und eng befreundet war.40 Auch gilt es, Archivalien des „Temporary Shelters“ in London nach Informationen von Emigrantinnen und Emigranten, die dort auf der Reise nach Kenia Station gemacht haben, zu durchforschen. Ein weiterer Ansatzpunkt bei der Suche nach zusätzlichen Materialien für das Kenia-Archiv wäre eine Untersuchung der Manifeste von Reedereien wie der Deutschen Afrika Linien (zu der auch die Deutsche Ostafrika und die Woermann Linie gehören), der Holland Afrika Linie oder der Union Castle Line. Unwiederbringlich verloren sind wohl Akten, die bei der Archivierung als „unwichtig“ eingestuft wurden, z.  B. im Archiv des Board of Deputies of British Jews, in dessen Katalogbeschreibung die Kassation wie folgt erklärt wird: „A certain amount of weeding of the archives has been done by the staff at the Board and the RCHM in the 1970s. Very little material has been weeded at the LMA and that consists almost entirely of duplicate printed material

38 Oral History Interview with Jill Pauly. USHMM: 1998.A.0033. 39 Vgl. Jutta Vinzents Arbeiten zur Internierung deutscher Flüchtlinge in Kenia, in der sie Bezug auf Dokumente aus dem Privatarchiv nimmt (s. Anm. 1). 40 Siehe das Interview von Inge Allen mit der Lokalzeitung ihrer Heimatstadt Weiden anlässlich ihres ersten Besuchs nach der Flucht ihrer Familie aus Nazi-Deutschland: U.H.: Weiden–Kenia– London  – und zurück: Inge Allen, geborene Sadler, auf Spurensuche. Der erste Besuch nach 73 Jahren (16. Juni 2012), https://www.onetz.de/weiden-in-der-oberpfalz/lokales/weiden-kenialondon-und-zurueck-inge-allen-geborene-sadler-auf-spurensuche-der-erste-besuch-nach-73jahren-d19302.html (Zugriff: 18. 11. 2018).

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and very trivial ephemera.“41 Wie dieses Beispiel zeigt, sind Archive „nicht nur für die Sicherung der Überlieferung, sondern immer auch für die Lücken verantwortlich“42. Eine der größten Leerstellen stellt jedoch das Fehlen von Dokumenten dar, die das Leben deutschsprachiger Emigrantinnen und Emigranten aus afrikanischer und indischer Perspektive beleuchten könnten. Eine Geschichte des Exils bleibt bruchstückhaft, wenn nicht auch die Geschichte und Perspektive des Aufnahmelandes berücksichtigt wird. Mit Ausnahme eines von Vertretern der indischen Bevölkerung in Kenia verfassten Protestschreibens gegen die Einwanderung jüdischer Flüchtlinge und den Verkauf von fruchtbarem, in den „White Highlands“ gelegenen Land an deutschsprachige Emigranten43 konnte die Verfasserin dieses Artikels jedoch bei ihrer Recherche bisher leider keinerlei entsprechende Dokumente finden.44

Literaturverzeichnis Asmus, Sylvia: Was bleibt? Zeugnisse von Passagen aus der Sammlung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 35 (2017): Passagen des Exils, S. 39–53. Benz, Wolfgang: Das Exil der kleinen Leute: Alltagserfahrungen deutscher Juden in der Emigration. München 1991. Bourcet-Salenson, Lucile: Das Exil der kleinen Leute in Kenia 1938–1947. In: Daniel Azuélos (Hg.): Alltag im Exil. Würzburg 2011, S. 127–137. Britisch-Ostafrika (Kenia). In: Korrespondenzblatt über Auswanderungs- und Siedlungswesen (Oktober 1938), S. 31. Bülow, Ulrich von: Nachlässe. In: Marcel Lepper und Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2016, S. 143–152. Carlebach, Julius: The Jews of Nairobi 1903–1962. Nairobi 1962.

41 Board of Deputies of British Jews. The National Archives: ACC/3121. http://www. nationalarchives.gov.uk/ (Zugriff: 12. 12. 2018). 42 Bülow: Nachlässe, S. 151. 43 Memorandum submitted by the Executive Committee of the East African Indian National Congress to the Secretary of State for the Colonies on the ‚Immigration of Jewish Refugees into Kenya‘. Nairobi, 7th September 1938. London Metropolitan Archive: ACC/3121/B/04/NA/00. Siehe auch: Die Inder in Kenya gegen Jüdische Einwanderer. In: Pariser Tageszeitung, 14. 10. 1938, S. 4. 44 Alexandra Kemmerer fragt in ihrem Beitrag „Akten“ im Handbuch Archiv treffend: „Doch erleichtert der Blick in die Akten tatsächlich immer die Wahrheitsfindung?“ In: Marcel Lepper und Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2016, S. 131–143, hier S. 133. Es bleibt zu hoffen, dass diese fehlende Perspektive keine Leerstelle bleibt.

Exil in Kenia: Eine archivarische Spurensuche  

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The Living Archive: On Hugo Simon’s posthumous return to Germany I was invited to contribute to these conference proceedings not as a scholar of exile but as a product of it. So, I will take the liberty of writing in the first person. I am not a specialist in exile studies, at least not in the same sense as most other contributors to this volume. Though I have studied the topic and even written about it, my field of expertise as an art historian is a different one. I have been asked to write because I am a descendant of refugees, an heir to the exile of other people. In particular, of one prominent name among those who fled Germany during the National Socialist terror: my great-grandfather Hugo Simon. Since I was asked to contribute for what are essentially family connections, there is poetic justice in the circumstance that I was absent from the conference for family reasons. My daughter, Hugo Simon’s great-great-granddaughter, came into the world – in Berlin, of all places – a week before the conference took place in Frankfurt. She is a Brazilian citizen born in Germany, where her parents have chosen to live in what could loosely be defined as self-imposed exile. My father, Hugo Simon’s grandson, did a similar thing, moving in 1969 from Brazil to the United States where I grew up as an immigrant child. On her father’s side, the newborn baby is thus descended from four consecutive generations of displaced persons: global nomad parents, immigrant grandparents, refugee great-grandparents and exiled (in the strict sense of the term) great-great-grandparents. Exile breeds exile. It is a state of simultaneous absence and presence. That is what I will try to discuss here. Since exile stories tend to get confusing very fast, I should fill in some biographical detail before taking up that point further. Hugo Simon was a leading cultural figure in Berlin during the era of the Weimar Republic. He was a banker, activist, agriculturalist, collector and patron of the arts. Immediately following the November Revolution, he became Minister of Finance, for the USPD, in the Prussian Revolutionary Cabinet, a position he shared with Albert Südekum who was his counterpart for the SPD. When the USPD left the government in early January 1919, he gave up his post, marking the end of a very brief political career. At some point, Hugo Simon became known as the red banker. Despite the flavour of the epithet, which I like, it does not convey his position accurately. He began to engage in political activism during the First World War, as a member of the organization Bund Neues Vaterland, along with notable peace advocates such as Georg Graf von Arco, Albert Einstein, Helene Stöcker, Kurt von Tepper-Laski. After 1922, the name of that organization changed to German League of Human Rights. As a financier, he played a key role in the https://doi.org/10.1515/9783110542103-006

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pacifist and socialist circles asserting themselves around this time and drew close to leading figures on the political left. Over the 1920s, in Berlin, Hugo Simon was reputed to be a sort of grey eminence, a man who knew everyone and made vital connections between the worlds of literature and art, politics and finance. He was on the board of over a dozen companies, including S. Fischer Verlag and Adolf Sommerfeld’s Allgemeine Häuserbau A.G. Both of those were business ventures with a view to a higher purpose, run by Jewish entrepreneurs engaged in the effort to remake German society in a newly modern spirit. Independently of their place on the political spectrum, the men and women belonging to the circles in which my great-grandfather moved tended to share an outlook in which cultural improvement and social amelioration were perceived as two sides of the same coin. After 1919, Hugo Simon turned his attention from politics to land husbandry. He purchased an estate in Seelow, Oderbruch, and began transforming it into his own private utopia, bringing together agriculture, art and architecture, improved conditions for workers. The Schweizerhaus Seelow was soon recognzied as a model enterprise – a Mustergut – and managed to remain productive long after it was confiscated by the NSDAP regime in October 1933. Hugo Simon’s consuming passion was art, and he became an influential player in the Berlin art world as a member of the acquisitions committee of the Nationalgalerie. Today, his name often comes up with regard to his exceptional collection of artworks, which included the leading contemporary artists of his day  –Alexander Archipenko, Ernst Barlach, Lyonel Feininger, August Gaul, George Grosz, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, Oskar Kokoschka, Georg Kolbe, Wilhelm Lehmbruck, Aristide Maillol, Franz Marc, Ludwig Meidner, Paula Modersohn-Becker, Otto Mueller, Edvard Munch, Max Pechstein, Renée Sintenis, among many others – as well as a number of nineteenth-century works and Old Masters. The largest part of that collection was looted during the Second World War, and a smaller part was sold under duress in the run-up to the conflict itself as well as its aftermath. Piecing together its history, as we are now doing, reveals a lot about how the process of becoming severed from one’s identity is a gradual and protracted one. The artworks provide material markers of Hugo Simon’s descent into exile, which began well before the war and continued long afterwards. In some ways, it continued to unfold even after his death in 1950. But, I am getting ahead of myself. A little more biography will help make my meaning clearer. Though he made his name in Berlin, Hugo Simon was born in 1880 in Usch (today, Ujście), then a part of the province of Posen and therefore of the German Reich. He was the third of four brothers and sisters and himself the child of at least one migrant. His father Victor Simon, a teacher, came to Posen from western

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Germany, though the family of his mother, Sophie Jablonski, had already been in the region for generations. We know more about the Jablonski side because his mother was a descendant of Meïr Katzenellenbogen, chief rabbi of Padua in the sixteenth century and a legendary figure in European Jewish history. In 1930, Hugo Simon sponsored the private publication of a genealogical survey of Katzenellenbogen’s descendants, researched and authored by his distant cousin Max Wollsteiner. Though he was not, as far as we know, a religious man, he seems to have taken pride in this family heritage. Hugo Simon’s birthplace was a historical crossroads. Posen was the home of one of the oldest and most vibrant Jewish communities in what is now Poland. During the late nineteenth century, it also became the object of efforts to achieve greater Germanization of the region that included incentives for German-speaking people to settle there. Jews were caught in the middle of the cultural crossfire between rival Polish and German nationalisms as well as anti-Semitism on both sides. After serving a banking apprenticeship in Marburg, Hugo Simon arrived in Berlin around 1905. In 1909, he married Gertrud Oswald, originally from Koschmin (today, Koźmin Wielkopolski), likewise in Posen. Her sisters Cäcilie and Olga also married men moving in socialist circles. The one sister was wed to Kurt Heinig, a writer and politician who served in the Reichstag between 1927 and 1933, going on to become active in social-democratic circles in Sweden after the War. The other sister married Alexander Bloch, a journalist who wrote for the USPD weekly Klassenkampf, was a friend of Karl Liebknecht and Rosa Luxemburg, and brother of Joseph Bloch, editor of the journal Sozialistische Monatshefte. In 1933, Olga and Alexander Bloch fled to France and then emigrated to Palestine where their son Charles Bloch grew up to become a historian of German society, a founding faculty member of the University of Tel Aviv and, later on, a professor at the Université de Paris Nanterre. After 1945, the remnants of the Simon and Oswald families found themselves spread out in Brazil, France, Palestine, Sweden and the United States. Like many Jewish families driven from Germany, they formed a tiny diaspora of their own within the larger diaspora. Hugo Simon’s dealings and activities during the Weimar Republic era are too extensive to detail here. This is an ongoing task that began in the 1980s when exile scholars like Edita Koch first took an interest in his disappearance. In the 1990s, Izabela Maria Furtado Kestler researched his role in the German-speaking exile in Brazil and managed to recover much of his biography. The work has continued over the past decade through other researchers on exile in Brazil, like Marlen Eckl who co-edited with Sylvia Asmus the volume „… mehr vorwärts als rückwärts schauen …”: das deutschsprachige Exil in Brasilien 1933–1945 (2013). The latest contribution is a book of essays and photos titled Hugo Simon in Berlin: Handlungsorte und Denkräume, edited by Anna-Dorothea Ludewig and myself, which

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came out in November 2018 from Hentrich & Hentrich. I am happy to announce that a full biography, authored by Jan Maruhn and Nina Senger, will be published in 2019 by Nimbus Verlag. The point of touching upon his life before exile in the present text is to establish that Hugo Simon was the product of a particular background of cosmopolitanism and internationalism, antithetical to the racialist nationalism promoted by völkisch movements. The milieu in which he circulated in Berlin was highly intellectualized, left-leaning, reform-minded and engaged in nothing less than the transformation of society through a new vision of culture. As a progressive banker and collector of modern art, he was branded a “typical Marxist Jew and capitalist” [sic] by the NSDAP regime and targeted by propaganda that strategically deployed these categories as scapegoats. At the end of March 1933, Hugo and Gertrud Simon fled Berlin and headed for Paris. Their daughters, son-in-law and grandson were already resident in the south of France. My grandfather, Wolf Demeter, was a sculptor and had moved to France in 1930 to work with Aristide Maillol. My father was born in Paris in 1931. For the Simon couple, therefore, the choice of France as a place of exile was motivated also by family reasons. Thus begins the phase of most interest to traditional scholars of exile – political banishment as an explicit condition. Due to his prominence in socialist circles, Hugo Simon was recognized by the French authorities as a political refugee, meaning he was much better off than the majority of others who fled there in the coming years. He was granted permission to stay in France and even do business. In 1934, he opened a brokerage firm in Paris catering mainly to fellow émigrés. He also served as representative for the German community on the committee assisting incoming refugees, the Comité d’Assistance aux Réfugiés, and lent support to the loan organization Caisse Israëlite des Prêts, suggesting that he was in condition to grant help rather than receive it. By 1936, he became active in the anti-Nazi resistance, taking part in the so-called Lutetia Circle and efforts to establish a German Volksfront, as well as providing financial backing to the Pariser Tageszeitung, the major newspaper of the German community in exile. He moved in the same circles as prominent exiles like Georg Bernhard, Rudolf Breitscheid, Rudolf Hilferding, Harry Graf Kessler, Heinrich Mann and Willi Münzenberg. This political activity intensified after October 1937 when both Hugo and Gertrud Simon were expelled from the German nationality. My great-grandparents remained in Paris for seven years, until the German invasion of the city. After June 1940, they headed south, first to Montauban and then to Marseille. Like many exiles, especially those who no longer held any nationality, they were caught in the labyrinth of trying to match up travel documents, exit visas, transit visas, entry visas and ship’s passage. They managed to obtain non-immigrant visas for the USA, for instance, but lacked passports with

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which to use them or exit visas from France. The latter were virtually impossible to obtain for those wanted by the NSDAP, whom the Vichy regime had agreed to turn over to the German authorities under article 19 of the Armistice of 22 June 1940. Finally, in February 1941, they managed to escape France by clandestine means, using false Czech passports under assumed names, entered Spain on foot via the town of Port Bou and embarked in Vigo, five days later, on the passenger ship Cabo de Hornos, bound for Rio de Janeiro. Their escape bears all the hallmarks of the Varian Fry route, though an actual connection to the Emergency Rescue Committee has yet to be confirmed by documentary evidence. What is certain is that they got out at the last possible moment. Hugo’s former comrades Breitscheid and Hilferding were arrested just four days after the Simons departed Marseille. In Brazil, the couple lived under the assumed names Hubert and Garina Studenic. The situation for refugees under the Vargas regime was uneasy, especially before Brazil was finally pressured into joining the war effort on the side of the Allies in August 1942. A number of secret directives issued by the Brazilian foreign service restricted the entry of so-called undesirable immigrants, essentially Jews and communists; and a significant faction of the Vargas government was ideologically aligned with the fascist regimes in Berlin and Rome. The Simons were lucky to get into the country when they did, as many others were turned away and some even sent back to perish in concentration camps. With the support of Catholic organizations, especially the Monastery of Saint Benedict in Rio de Janeiro, the couple settled into the makeshift exile community and even managed to reencounter old friends like Stefan Zweig and journalist Ernst Feder, the latter of whom followed the same route from Berlin to Paris to Rio de Janeiro. Feder was to become one of their main contacts with the outside world during the subsequent years of hiding. Their daughters, son-in-law and grandson also managed to enter Brazil in 1941, arriving on a separate ship and using false French documents (under the invented family name Denis) provided by contacts in the incipient French Resistance. During their first years in Brazil, the two family groups – Studenic/Simon and Denis/Demeter – could not reveal they were related, lest their respective identities be revealed as false. The initial threat they faced was deportation; and later, after Brazil entered the War, this was compounded by fear of internment in camps for enemy aliens. Three months after my great-grandparents’ arrival in Rio, the authorities gave notice to Hubert Studenic to leave Brazilian territory within fifteen days. Faced with deportation, with nowhere left to go and no valid papers, they eventually made the decision to disappear into the countryside. First they moved to Penedo, in the state of Rio de Janeiro, where Hugo/Hubert administered a farm producing medicinal plant extracts. This venture was set up by the Geigy pharmaceutical

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concern and employed hundreds of refugees, including my grandfather Wolf Demeter/André Denis. One year later, again under threat of being denounced to authorities as illegal aliens, the Simon/Studenic couple moved to the town of Barbacena, in the state of Minas Gerais, where they lived in hiding for the remainder of the War. In this quiet mountain town, Hugo and Gertrud Simon experienced the most extreme phase of exile – a fifth stage of removal, after Paris, Marseille, Rio de Janeiro and Penedo – during which their links with the past and other exiles were all but severed. Over the two years they remained there, they had only intermittent contact with their children and grandchild, who had moved to Curitiba in the south of Brazil. Two of the letters Hugo wrote to his grandson during this time have survived. They are written in French. He addresses his twelve-year-old grandson as vous and signs off with: votre vieux Hubert, suggesting that even in private correspondence they felt a need to hide their true relationship. Hugo Simon devoted his time in Barbacena to raising silkworms and writing an autobiographical novel titled Seidenraupen. He also developed a friendship with the French writer Georges Bernanos who, by remarkable coincidence, lived nearby for the duration of the War. Coming from opposite political backgrounds in Europe (Bernanos, in his youth, had been a member of the Action Française and remained a staunch Catholic and monarchist) these two exiles managed to find common ground. I tried to capture some of the strangeness of these experiences in my novel O Remanescente (German title: Das Vermächtnis der Seidenraupen), published 2016, but I am not sure I did them justice. To live in another country, under another name, constantly in fear of being found out, is a kind of psychological torture that is hard to imagine. After the end of the War, Hugo and Gertrud Simon moved back to Penedo and began procedures to recover their identities and properties. Lacking passports or any valid papers, they were unable to travel abroad or even clear up their legal status in Brazil. And, of course, between 1945 and 1948, there was no German state to petition. Through intermediaries, especially Ernst Feder in Rio and Kurt Heinig in Sweden, Hugo made several applications to French authorities with the aim of recovering lost properties. Reestablishing identity from afar was not as simple as it might sound. Despite letters of support from the likes of Albert Einstein and Thomas Mann, he was unable to achieve this aim before his death in São Paulo on 4 July 1950. Gertrud Simon lived another fourteen years and died in Curitiba in 1964. Their two daughters, son-in-law and grandson also remained in Brazil. Continuing to live under their assumed identities, they managed to obtain residency papers and settled into a discreet existence, moving further and further out of view. My grandparents and grand-aunt kept up the charade as false French citizens until the 1960s, when they finally initiated proceedings to recover German citi-

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zenship. The three of them only succeeded in fully rectifying their legal status in 1972, over three decades after arriving in Brazil. By that time, the exile identities had become so ingrained that they settled on hybrid names. My grandfather, for instance, chose to take the name André Demeter-Denis, a composite of his real and assumed ones, instead of simply reverting to Wolf Demeter. My father never bothered to recover his birth name and maintained the nom de guerre until his death. He never applied for French or German citizenship, though he would have been entitled to either. He became a naturalized Brazilian citizen in 1956 and a citizen of the USA in 1976. None of the six members of the Simon and Demeter clan who fled to Brazil in 1941 ever set foot in Europe again. I was brought up believing my grandparents were French and had no reason to doubt this information until I was sixteen, when the truth was tersely communicated to me by my mother. She knew little of the story herself and could provide nothing more than a few disjointed facts. However, she did instruct me to keep it a secret, in no uncertain terms. My father and grandparents almost never talked about their past. The War and anything related to Germany were taboo subjects at home. If anyone so much as spoke German around my father, he would discreetly leave the room. Among the few snippets of information I remember hearing as a child were that my grandfather had fought in the French Resistance and been interned in a camp as a prisoner. As a young man growing up in the USA, I could never really understand why these matters should be kept secret. After all, I reasoned, my family had been on the side of the victors, not the hated Nazis. Later on, as I began to grow familiar with other exile stories, I discovered that this is a running theme. Many descendants recount some variation of the phrase: we never talked about that at home. All refugees experience fear; most experience some level of humiliation. Even for those who manage to overcome the fear, there is a shame that comes from remembering the humiliation. There is also the guilt born of survival, as famously explored by Primo Levi. These are powerful emotions, and they seep on down through the generations. After my grand-aunt and father died, within a month of each other in 1986/1987, it fell to me to take apart the remains of my grandparents’ home on the outskirts of São Paulo. That was when I discovered a trove of documents that shed light on the family’s hidden past. Letters, papers, photographs, even the original manuscript of Hugo Simon’s unfinished book Seidenraupen. At that point, I could not read German, so the real import of most of these documents escaped me. At first, I thought the story was of relevance only to me and my family, that no one else would even be interested. Only gradually, I learned that was not the case. The truth is I was not prepared to deal with what they contained. I did hold on to the papers, probably one of the more important decisions I ever made.

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In 1991, a researcher doing her doctorate on German exile in Brazil, Izabela Maria Furtado Kestler, found me and began to educate me on my family’s past and its relationship to recent German history. If not for her, I might never have taken further action. Despite her support, it would be many years before I was ready to dig deeper into the story myself. Yet, neither could I simply let it go. There were other options. I could very well have passed the materials on to someone else or just left them in the closet where they remained stored for over a decade. I did not forget them. Throughout the years I pursued my studies as an art historian, they nagged at my conscience. I knew they mattered but could not face up to the prospect of devoting serious attention to them. Very occasionally, I would take them out and look at the photographs or documents I could read, the ones written in French or Portuguese. More rarely, I might show them to someone, almost as trophies, proof of a great and mysterious secret. Meanwhile, I was undergoing important changes in other areas of my life. Between 1991 and 1995, I undertook archival research seriously for the first time and acquired the historical training that has served me well ever since. Sometime in the late 1990s, I also began to undergo psychoanalysis. It might seem self-indulgent to mention this in a paper on the exile of Hugo Simon, but I am convinced that there is a psychological constellation common to refugees and their descendants. I wrote at the beginning of this text that exile is a state of simultaneous absence and presence. I believe it has much to do with the feeling of being cut off from one’s self, a mental process roughly akin to what psychiatrists label dissociative disorders. I do not mean to say that being a refugee leads necessarily to mental illness, though in some cases the trauma is so great that it increases the risk. I think it is rather the opposite. To avoid becoming paranoid, depressed or killing themselves, those who have lost everything else must often break with the past in brutal ways. A sort of emotional self-mutilation to excise memories that are otherwise too difficult to endure. Looking at historical examples, it is not unusual to find exiles and refugees who forcibly changed their identities or denied their past. Many Jewish exiles during the Second World War underwent religious conversions, like Alfred Döblin, to cite only one of the most notorious cases. In less dramatic ways, exile often involves a process of effacement and reinvention of the self. Around 2003, more researchers from Germany sought me out. This time, it was Jan Maruhn and Nina Senger, who were then beginning work on their biography of Hugo Simon, finally set to be published this year. By that time, the historical importance of my stash of papers had become inescapable even to me. Soon afterwards, Marlen Eckl also began to visit me on her frequent research trips to Brazil. Through these researchers, I came into contact with the Deutsche Nationalbibliothek and the Deutsches Exilarchiv 1933–1945, initially through the person

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of Brita Eckert, who was its director, and subsequently through regular contact with Sylvia Asmus, who succeeded her in 2011. In 2006, I was preparing to travel to Holland and decided to consult the Exilarchiv to see if they would be interested in receiving the Seidenraupen manuscript in donation. They were, of course, and offered to pay my travel costs from Amsterdam. So, at the age of 42, I set foot in Germany for the first time, still unable to speak a word of German. I remained in Frankfurt for only 24 hours, just long enough to visit the Exilarchiv and deliver the manuscript. It sounds banal, now. I took a train to Frankfurt and spent a day there. It was a breakthrough for me, though. In the back of my mind, I was still operating under the interdiction delivered by my mother so many years before: you must not tell anyone about this. I am not sure the people working at the Exilarchiv realized how deeply I was affected. They looked slightly bemused, but maybe I was just projecting my own bewilderment onto them. My first impression of Germany was that it was nothing like I had imagined. It was completely exotic to me and yet seemed oddly familiar. In hindsight, that was the start of conveying the legacy of Hugo Simon back into remembrance. The role I played as a vehicle for transporting documents and information is worth considering here. As an author writing about the history of my own family, I was able to subvert the directionality of inheritance, at least in part. We are all products of our ancestors; but the opportunity to shape how those forebears are perceived in the present is an unusual one. Especially since the publication of my novel, the memory of Hugo Simon has become increasingly entangled with my own existence. For this reason, I will indulge in a little more autobiography. In 2000, my first two books were published: one of fiction, the other non-fiction. Over the following decade, I continued to write and publish both but always maintaining these two aspects of my work strictly separate. I was long aware that the narrative of my family’s exile might make a good novel and received much encouragement from my mother and brother to write it. I first tried to do so around 2009. I actually produced something like one hundred pages of a completely fictionalized version. It was awful. The attempt to fabricate the story, with made-up names and situations, was a disaster. Disheartened, I put the manuscript away in a drawer. I did not give up on the idea of writing a book, though. I had finally given myself permission to break with the interdiction. I started talking to more people about the story and found, to my surprise, that they were invariably receptive and interested. I read more on the topic of exile. I came across W.G. Sebald, of course, and was deeply moved. I also read other works on family, loss and wartime operating on the border between history and fiction that were coming out around this time: in English, Edmund de Waal’s The Hare with Amber Eyes (2010); in Portuguese, Luis S. Krausz’s Desterro (2011). It struck me that the book I wanted to write should partake of the qualities of both fiction and non-fic-

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tion. It would have to be true to the historical facts but also reveal the inner lives of its characters. That meant twice the work of writing, since history and fiction operate according to quite different rules. I proceeded to apply for grants to fund the research and, more significantly, started learning German. Though I had not as yet formulated any plan to move to Berlin, I knew on some level it would be necessary. Personal circumstances helped nudge me in that direction. In 2009, I met my wife, who was partly brought up in Hamburg and speaks fluent German. She was then considering coming to Berlin to pursue a master’s degree in art. In 2011, I received an e-mail from Michi Strausfeld, of S. Fischer Verlag, saying she had read my book of short stories Entre as Mulheres (German: Sechzehn Frauen) and wanted to publish it in Germany. At first I thought this was some sort of practical joke played on me by one of my friends. The book had been published in Brazil in 2007 and was not very successful. To receive an expression of interest, out of the blue, from a publisher as legendary as S. Fischer was surprising, to say the least. In October 2012, we moved to Berlin with the intention of remaining two years – enough time for me to write the book and my wife to complete her degree. At the time we made the decision, I remember thinking that, once the book was finished, I would finally be rid of the family history. Two and a half years passed, and we both achieved what we set out to do. She completed her degree in 2015, and I finished my novel O Remanescente, which was published simultaneously in Brazil and Germany in 2016, thanks to the exceptional support I received from my editor at S. Fischer, Hans-Jürgen Balmes, and his then assistant, Friederike Schilbach, as well as a generous grant from the S. Fischer Stiftung. I had written the story and brought together the two sides of my work. At last, I would be free to move on to other things. Or so went the idea. Something surprising happened, along the way. Once in Germany, the names and places I knew only from books were transformed into lived experience. Out of nowhere, people began to appear who had something to contribute to my story. Not only other researchers but also individuals who possessed links to my family in the past, some who had known them personally in Germany or Brazil, and even long-lost relatives. Probably the most dramatic example of these resurrections happened in 2013, when I first visited the town of Seelow. After Sechzehn Frauen was published, I gave an interview to the Frankfurter Allgemeine Zeitung. The members of the Heimatverein Schweizerhaus Seelow – an organization established 2008 with the aim of restoring my great-grandfather’s former estate and reviving his legacy – learned that I was in Berlin and managed to contact me via S. Fischer. They invited us to visit the Schweizerhaus and staged a luncheon reception to which were invited descendants of the employees of the estate, as well as members of the Heimatverein and local dignitaries like the Landrat and Bürgermeister.

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It was a very emotional day. The local newspaper, Die Märkische Oderzeitung, sent a reporter, Doris Steinkraus, who summed it up best in the first line of the article she wrote: “A historical circle was closed on Friday in Seelow.” That is certainly how it felt to be the first person in my family to set foot there, precisely eighty years after my great-grandparents had been forced into exile. The feeling was mutual, I soon learned. The head of the Heimatverein, Marion Krüger, showed me a black-and-white photograph of herself as a child playing on the estate, in front of the house where my family once lived. Since we are roughly the same age, it was easy to see how our personal histories ran parallel, even though they were so completely different. We were counterparts on two sides of the divide created by war and exile, each filling in a blank in the other’s view of the world. It was not a homecoming, since Seelow is not my home. I do not possess any attachment to place that fits into the German conception of Heimat. Nonetheless, it was a coming to terms with absence. To recover a memory that was lost is a healing process. There have been other such encounters. Since Das Vermächtnis der Seidenraupen was published, hardly a month goes by without receiving some e-mail or letter with new information about Hugo Simon or Wolf Demeter or enquiring about matters relating to their exile. Often, strangers find me through publishers. On one such occasion, I asked my editor at S.  Fischer the rhetorical question: when will it end? His wise reply was: “it will never end”. I have now grown used to that fact and no longer desire to be freed from my family’s troubled legacy. Exile, in the broad sense of the term, is a condition. One that involves simultaneous absence and presence, as I stated at the outset. There is a liminality to this condition, an essential in-betweenness, that precludes ever arriving at anything so clear-cut and unambiguous as freedom from the past. On the contrary, I feel increasingly connected to history, not only intellectually but as a living entity. Even though moving to Germany has meant physical dislocation from people and places I love, it has also allowed me to come to terms with the fragmentary nature of our human condition, rather than struggling to try to impose some sort of unified identity upon myself or others. There are still a few places I feel at home. Perhaps, I should qualify the word place as used here in a figurative sense, since none is a specific territorial location. The first is in my writing and use of language. Fernando Pessoa’s famous affirmation that the Portuguese language was his homeland (“A minha pátria é a língua portuguesa.”) rings true for me, especially since Portuguese happens to be my first language. However, it is not my only language, and I feel nothing like a chauvinistic pride in it, only the comfort and tenderness that come from long familiarity. Another place of great affection for me is the archive. That stands to reason. The archive is a place of simultaneous absence and presence, since what it contains are the vestiges of something else that no longer exists.

The Living Archive: On Hugo Simon’s posthumous return to Germany 

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Taking stock of the long process of recovering the history of Hugo Simon’s exile, I am struck by how archives have played a key role. They have served not only as sources from which I have taken but also as repositories to which I have given back. One very important marker for me was the decision to donate a large part of Hugo Simon’s documents, papers and photographs to the Exilarchiv of the DNB in 2015. It was a difficult decision and one that prompted discussions within my family. In the end, we decided that my great-grandfather’s legacy belonged in Germany and in a public institution. It is appropriate that a place devoted to the remembrance of exile should preserve the remnants of his loss, as well as the traces of his exodus. The story these objects have to tell is one that concerns us all in these days when migration and displacement have come back to the forefront of discussions about what kind of society we wish to build.

Kaya Behkalam, Knut Ebeling

Reste von Recht. Exil und Archiv bei Ludwig Borchardt und der kolonialen Archäologie Dieser Text behandelt den Bezug zwischen Archiv und Exil – in institutioneller, biografischer und philosophischer Hinsicht: Was bedeutet es, wenn sich Archivalien im Exil befinden? Was wird aus Nachlässen von Exilanten und Exilantinnen, die nicht nur anderen Rechtsverständnissen, sondern auch anderen Verständnissen der Archivalien ausgesetzt sind? Und gibt es nicht auch einen weiteren Zusammenhang zwischen Exil und Archiv in dem Sinne, dass jedes Archiv eine ‚exilische‘ Dimension besitzt, weil seine Bestände ebenso aus dem Blick geraten, ebenso entzogen und zugleich zentral sind für jene Gesellschaften, deren kulturelles Gedächtnis sie von außen verfügen, wie der prekäre und widerständige Status politischer Exilanten und ihrer Zeugnisse? Und was würde es wiederum für Exilarchive bedeuten, wenn Archive generell als exilantische Institutionen oder Institutionen des Exils beschrieben werden können? Ausgehend von der These, dass jedes Archiv eine ‚exilantische‘ oder wenigstens ‚exilische‘ Dimension besitzt  – sofern man ‚exilantisch‘ auf tatsächliche Exilanten und Exilantinnen und ‚exilisch‘ auf ihre philosophische und theoretische Kondition bezieht –, beschäftigt sich dieser Text mit dem historischen Exilarchiv eines deutschen Archäologen, dessen Nachlass in Kairo schlummert: Es geht um den Nachlass Ludwig Borchardts (1863–1938), eines bedeutenden Berliner Archäologen und Bauforschers, der von 1902–1914 die Expeditionen der Deutschen Orient-Gesellschaft (DOG) in Ägypten leitete und durch den Fund der Büste der altägyptischen Königin Nofretete bei Ausgrabungen der DOG in Tell el-Amarna am 6.  Dezember 1912 weltberühmt wurde (Abb.  1). Der gelernte Architekt Borchardt war einer der bedeutendsten Bauforscher und Ägyptologen seiner Zeit und verbrachte mehr als 40 Jahre in Kairo. In dieser Zeit, von denen man nur die Jahre 1933–38 als tatsächliches ‚Exil‘ bezeichnen kann, baute Borchardt das Deutsche Archäologische Institut (DAI) in Kairo auf,1 sowie das dortige Institut für Ägyptische Bauforschung und Altertumskunde, das mittlerweile in Schweizerisches Institut umbenannt wurde (Abb. 2, 3). Dieses heute noch immer existierende Institut liegt im alten Villenviertel Kairos, circa einen Kilometer Luftlinie vom Ägyptischen Museum entfernt, direkt am Nil und gut versteckt hinter einer unscheinbaren Mauer in einer zweistöckigen, klassizisti-

1 Gegründet 1906 unter dem Namen „Kaiserlich Deutsches Institut für Ägyptische Altertumskunde in Kairo“, seit 1929 „Deutsches Archäologisches Institut in Kairo“. https://doi.org/10.1515/9783110542103-007

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Abb. 1: Ludwig Borchardt in seiner Kairoer Wohnung in der Sharia Zaki, undatiert, um 1899 (© Schweizerisches Institut für Ägyptische Bauforschung und Altertumskunde, Kairo).

schen Villa. Hier lebten Ludwig Borchardt und seine Frau Emilie, genannt Mimi, beide aus wohlhabenden deutsch-jüdischen Familien, mit einer erzwungenen mehrjährigen Unterbrechung während des Ersten Weltkrieges, von 1903 bis Ende der 1930er Jahre. In diesem Kairoer Institut logiert heute noch immer Borchardts umfangreiches Archiv: Sein Privatnachlass umfasst zwar nicht die berühmte Büste der Nofretete, dafür aber Aufzeichnungen seiner archäologischen Studien und Ausgrabungsergebnisse für das Deutsche Reich, sowie die ausgiebige Korrespondenz der Borchardts und seiner Institutsnachfolger. Darüber hinaus liegt hier das Schriftarchiv der deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde Kairo (1857–1977), Restbestände des Archivs des Schweizer Clubs in Kairo (Cercle Suisse/Maison Suisse du Caire, 1894–1987) und ein umfangreiches Briefkonvolut aus dem Nachlass von Paul Kraus, eines jüdischstämmigen Arabisten aus Prag, der vor den Nazis nach Kairo floh und sich hier laut Polizeiakten 1944 das Leben nahm:2 Was

2 Vgl. Eugene Sheppard: Leo Strauss and the Politics of Exile: The Making of a Political Philosopher. Waltham/MA 2006.

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Abb. 2: Gartenansicht der Institutsvilla in Zamalek, Kairo, 1924 (© Schweizerisches Institut für Ägyptische Bauforschung und Altertumskunde, Kairo).

hier in Vitrinen, Schränken und Kellern lagert, ist eine Art Blackbox europäischer (Exil-)Geschichte. Allein der circa 14.000 Schriftstücke umfassende Briefnachlass von Mimi Borchardt, der den Zeitraum vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis 1939 umfasst, ist überraschend vielschichtig: „Er kann gelten als das ‚Who-is-Who‘ des Frankfurter jüdischen und nichtjüdischen Bildungs- und Großbürgertums, der über Deutschland hinausreichenden zeitgenössischen Polit- und Kunstszene sowie vor allem der internationalen Ägyptologen- und Orientalistenschaft.“3 Die Korrespondenz Mimi Borchardts, sorgfältig nach Jahrgängen sortiert und mit Paketschnur gebündelt (Abb. 4), zeugt spätestens ab 1933 von der immer feindseliger werdenden antisemitischen Stimmung, die in der deutschen Gemeinde in Kairo um sich greift, sowie von den Hiobsbotschaften aus Nazideutschland, die für das Ehepaar weitreichende berufliche und biografische Folgen haben werden.

3 Cilli Kasper-Holtkotte: Deutschland in Ägypten. Orientalistische Netzwerke, Judenverfolgung und das Leben der Frankfurter Jüdin Mimi Borchardt. Berlin 2017, S. 3.

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Abb. 3: Borchardts Institutsbibliothek, 1924 (© Schweizerisches Institut für Ägyptische ­Bauforschung und Altertumskunde, Kairo).

Das Exil des Archivs Als praktische Archive des Exils berühren die Archive des Instituts auch die theoretische Frage nach dem Exil des Archivs: In Archiven befinden sich der Wirklichkeit entnommene empirische Daten, die sie an einem anderen Ort verwahren, einem ‚Exil‘, wenn man so will. Auch Archäologen schicken ihre Funde gewissermaßen in ein Exil, wenn sie dem Erdboden „Archive der Vergangenheit” (Theodor Mommsen) entnehmen, die sie ebenfalls an anderen Orten verwahren. Beide Fragen, die nach den empirischen Archiven des Exils wie die theoretische nach dem Exil des Archivs, verschränken sich brennpunktartig im Fall des zeitweise exilierten Archäologen, der dem Erdboden Daten entnimmt, die er sammelt, archiviert und damit ‚exiliert‘. Indem er in kolonialer Mission archäologisch arbeitet und diese Arbeit zumindest zeitweilig in der Kondition des Exils stattfindet, treibt er die Konvergenz zwischen Archiv des Exils und Exil des Archivs auf die Spitze: In der Person Borchardts verschränken sich Biografie und Institution, Empirie und Philosophie, Praxis und Theorie des Archivs: Ein Vertreter kolonialer Expansionspolitik, der ganz selbstverständlich Archive anlegt und mit Archiven

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Abb. 4: Korrespondenz der Emilie Borchardt im Keller der ehemaligen Borchardt Villa (© Schweizerisches Institut für Ägyptische Bauforschung und Altertumskunde, Kairo).

arbeitet – dessen eigene Archive aber in seinem späteren Exilstatus mit der exilischen Kondition von Archiven konvergieren, da sie sich in einem territorialen und rechtlichen Außerhalb befinden. Diese exterritoriale Kondition eines Archivs wirft die Frage auf, ob sich institutionelle (Exil-)Archive wie das Borchardts theoretisch in Beziehung setzen lassen zu einer Situation, die sich als ,exilisch‘ beschreiben lässt. In diesem Sinne beschreitet dieser Text den Parcours von tatsächlichen Exilarchiven zu einer archivtheoretischen Beschreibung von Archiven als Exil. Viele Archive weisen eine exilische Dimension auf, die sich in Exilarchiven verdichtet  – eine Konvergenz, die seit den jüngsten globalen Migrationsbewegungen längst nicht mehr nur auf die theoretische Diskussion zutrifft. Seit der Entstehung der Archivtheorie in den 1960er und 70er Jahren hat sich die globale politische Situation dergestalt radikalisiert, dass man heute von einer empirischen Wiederholung der philosophischen Archivtheorie sprechen kann: Heute lässt sich nicht mehr nur mit Michel Foucault und Jacques Derrida rechtsphilosophisch argumentieren, dass institutionelle Archive seit ihren griechischen oder römischen Anfängen eine irgendwie ‚exilisch‘ geartete Situation darstel-

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len  – heute muss man auch darüber nachdenken, dass die Zeugnisse der globalen Exilanten-Communities Archive benötigen und archiviert werden müssen: Niemand benötigt dringender Archive als die weltweiten sans papiers, die nicht nur aktuelle Antworten auf ihren prekären Rechtsstatus benötigen, sondern die auch ein Rechtsgedächtnis brauchen, um ihre Rechte später einklagen zu können. Aber wie lassen sich Menschen ohne Papiere archivieren? Tatsächlich stellt die derzeitige Situation von globalen Exilantengemeinden die philosophische Archivtheorie auf die Probe. Das betrifft einerseits den historischen und philosophischen Anspruch, Archive zu dekolonialisieren, das heißt, die koloniale Herkunft vieler Archive offenzulegen und transparent zu machen.4 Andererseits betrifft es aber auch das zeitgenössische philosophische Projekt, das Außerhalb der Institution des Archivs in Beziehung zu setzen zur Exterritorialität der globalen Flüchtlingsbewegungen, die ebenfalls der Archive bedürfen: Auch und gerade die exilantische Situation ist – nicht trotz, sondern wegen ihrer Exterritorialität – auf Archive angewiesen, mit denen sich die Konvergenz zwischen Exil und Archiv wörtlich nehmen und empirisch ausbuchstabieren lässt. Gerade die exilantische Situation benötigt heute wie gestern Archive, um sie zu bezeugen. Weil Exilanten und Exilantinnen und sans papiers sich oft auch rechtlich in einem Außerhalb, in einer Situation von rechtlicher Exterritorialität befinden, benötigen sie mehr noch als die Bewohner und Bewohnerinnen von rechtlichen Innenräumen Archive, um ihre außerrechtliche Situation jenseits nationaler Rechtssysteme zu bezeugen und ihre Reste von Recht zu sichern – und das nicht nur für die Vergangenheit, sondern umso mehr für eine Zukunft, für die die Zeugnisse der Vergangenheit überhaupt nur gesammelt werden: Niemand bedarf mehr des Rechts und seiner Archivierung als der rechtlose Homo Sacer – der nicht nur der Mensch ohne Recht ist, sondern dessen Rechtlosigkeit darüber hinaus noch nicht einmal archiviert wird.5 Aber was bedeutet diese notwendige Archivierung der Biographien, Perspektiven und Erzählungen von Exilanten und Exilantinnen, die uns heute politisch als notwendig erscheint, für die Situation historischer Exilanten und ihrer Archive? Ist die rechtliche Situation dieser Exilarchive nicht ebenso prekär wie die der heute Exilierten selbst? Ist ihre Materialität nicht ebenso gefährdet wie die Körper der Exilanten und Exilantinnen? Und wie verhält sich die Materialität der Reste und Ruinen, die Archäologen und Archäologinnen in aller Welt bergen, zur

4 Vgl. Eva Knopf, Sophie Lemcke und Mara Recklies: Archive dekolonialisieren. Mediale und epistemische Transformationen in Kunst, Design und Film. Bielefeld 2018. 5 Vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002.

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Immaterialität und Archivlosigkeit der sans papiers, die manchmal aus den gleichen Gegenden fliehen, in denen immer noch materielle Reste der Vergangenheit geborgen werden, während ihre zeitgenössischen materiellen Kulturen einfach verschwinden?

Der Weltraum des Exils Wenn man Archive als exilische Außenräume beschreibt, die aus ihrer exterritorialen Position die Gesetzeskraft von staatlichen Innenräumen regulieren, sollte man wissen, dass die Geschichte der abendländischen Archive im und als Außenraum beginnt, genauer: als Weltraum. Sie beginnt spätestens im antiken Rom, das nach Cornelia Vismann die Akte erfand6  – und sie beginnt beispielsweise mit jenem Diogenes Laertius, von dem der Ausspruch überliefert ist, „die einzige wahre Staatsverfassung finde ich nur im Weltall.“7 Man kann Diogenes’ Ausspruch durchaus buchstäblich verstehen: Weil Staatsverfassungen auf der Erde nicht sicher (oder nicht neutral) sind, ist ihr „wahrer“ Ort ein exilischer, das Weltall – oder die Institution des Archivs, das bestrebt ist, Weltraumbedingungen für Archive auf der Erde herzustellen. Weil die Zeugnisse in Archiven nur in weltraumhaften Außenräumen vor den Übergriffen der Erdbewohner sicher sind, wird versucht, schon auf der Erde exilische Situationen herzustellen. Das ist die erste Allianz zwischen archivarischer Verfassung und anonymem Archiv, die erste Solidarität zwischen Archiv und Exil: Archive sind fortan unbetretbare Räume des Exils, die von ihrem exterritorialen Ort aus den Innenraum von Staaten und Verfassungen fernsteuern. Ein solcher Ort, an dem sich Archiv, Archäologie und Exil verschränken, ist das Ägyptische Museum in Kairo, eines der größten Museen der Welt. Monumenta prioris aevi his sedibus collocavit lautet die Inschrift über dem pfirsichfarbenen Portal des Museums; inauguriert von Prinz Abbas Helmi II im Jahr 1902, als Heimstätte der „Monumente früherer Zeiten“. In den mehr als hundert Jahren seit seiner Grundsteinlegung ist das Museum selbst zum Monument geworden. Wer sich seiner wechselvollen Geschichte widmet, dem eröffnet sich ein komplexes Geflecht historischer und politischer Bezüge; zu den rund 120.000 altägyptischen Artefakten, verwaltet von einem Katalog, den Borchardt selbst mit angeregt und angelegt hat, gesellen sich eine Vielzahl von zeitgenössischen Geistern und

6 Vgl. Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt a. M. 2000. 7 Diogenes Laertius, 6.72.

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Untoten  – von den Nachwirkungen der europäischen, kolonialen Expansionspolitik bis hin zu den mumifizierten Hoffnungen der ägyptischen Revolution von 2011. Wie eng die Politik der musealen Repräsentation mit der Politik der Repression zusammenhängt, zeigte sich beispielsweise im März 2011, als das ägyptische Militär in den Monaten nach der Revolution des 25. Januar das Museum kurzerhand zum temporären Gefängnis und zur Folterkammer umfunktionierte, in der unzählige Traumata in die Leben der Aktivisten und Aktivistinnen vom Tahrirplatz nebenan eingeschrieben wurden. Fast acht Jahre nach diesen Ereignissen sitzen viele der ehemaligen Aktivisten und Aktivistinnen in Haft oder sind ins Exil geflohen, wenn sie überhaupt überlebt haben. Ein Ort des Exils war das Ägyptische Museum seit seiner Gründung: Die Klassische Archäologie, die hier ein prominentes Zuhause in klassizistischer Kolonialarchitektur bekam, ist in ihrem Impetus eine zutiefst exilische Disziplin, die ihre Suche stets im Außen verortete und ihre Funde ebenfalls außerhalb des Erdbodens verwahrte. Gegraben wurde seit ihren Anfängen fast ausschließlich in ‚fremden‘, außereuropäischen Böden, wie die erste große archäologische Expedition vor rund zweihundert Jahren zeigt: Napoleons Ägyptenfeldzug von 1798– 1801 brachte mit einem Heer von Soldaten auch fünfhundert Wissenschaftler und Künstler nach Nordafrika, die die Erde in Ägypten und Syrien umgruben, antike Schriften entzifferten und Land und Leute, Flora und Fauna kartografierten. Die Idee, die (fremde) Vergangenheit auszugraben, um die (eigene) Gegenwart zu verstehen, und die sich anschließende Begeisterung für Schaufel und Spitzhacke, Material und Sediment, Vergangenheit und Erinnerung revolutionierte die westeuropäische Kultur.8 Dennoch war das Verdrängte der archäologischen Disziplin – ihre Ursprünge in Kolonialismus, militärischer Expansion und Gewalt – bis vor nicht allzu langer Zeit verborgen im toten Winkel der Wissenschaft. Die spektakulären Funde, die Archäologen zu Tage förderten und deren Abbildungen um die Welt gingen, wurden zu Bausteinen einer imaginierten und zu entziffernden Vorgeschichte europäischer Zivilisation. Sie wurden unter den Kolonialmächten aufgeteilt, nach Europa verschifft oder direkt an ihren Fundorten vermessen und verwaltet. In Kairo unterstanden die archäologischen Ausgrabungen zwischen 1858 bis 1952 dem französisch geleiteten Service des Antiquités de l’Égypte, unter der de-facto Kolonialherrschaft des sogenannten britischen Protektorats. Bei aller Rivalität über das Direktorat des Antiquitätendienstes zwischen Engländern und Franzo-

8 Vgl. Christiane Zintzen: Von Pompeji nach Troja. Archäologie, Literatur und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Wien 1998; Richard H. Armstrong: A Compulsion for Antiquity. Freud and the ancient world. Ithaca, London 2005.

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sen waren sich die Kolonialmächte doch in einem Punkt einig: Ägypter durften unter Anleitung die Erde durchpflügen, aber nicht als professionelle Archäologen arbeiten. Sie wurden von jeglicher archäologischer Ausbildung, der Teilnahme an oder gar Leitung von Ausgrabungen sowie der Verwertung der Ausgrabungsfunde systematisch ausgeschlossen – eine Tatsache, die nach dem Militärcoup von 1952 und der damit einhergehenden Beendigung der britischen Einflussnahme auf Politik und Kultur Ägyptens die Dekolonialisierungsversuche ägyptologischer und archäologischer Praxis nicht gerade einfacher machen sollte.9

Das Außen des Exils Dem kolonialen Habitus der klassischen Archäologie entsprechend, berichtete Borchardt in seinen Rundschreiben nach Deutschland nicht nur von seinen spektakulären Funden, sondern beschwerte sich zuweilen auch über unzuverlässige Mitarbeiter und Grabräuber: Es ist ja gewiss auch schwer, Leuten, für die von Urväterzeiten her jede Antike eine res nullius war, nun plötzlich Respekt vor den zum Staatseigentum erklärten Altertümern beizubringen.[…] Es ist bei diesen Verhältnissen und bei dem an sich nicht stark zur Ehrlichkeit neigenden Charakter der Ägypter natürlich, dass wir in der Annahme der Arbeiter die größte Vorsicht walten lassen mußten. Des Antikendiebstahls verdächtige Individuen, von denen uns nur zu viele bekannt sind, wurden nicht eingestellt. Trotzdem kam es vor, daß bei der Arbeit Leute in flagranti ertappt wurden, die kleinere Funde „gesenkt“ hatten.10

Dass Borchardt selbst den wohl größten Ausgrabungsschatz seiner Zeit, die Büste der Nofretete, unter bis heute umstrittenen Umständen nach Berlin verschifft hatte, lässt er dabei unerwähnt – was dazu geführt hat, dass er heute selbst ein „des Antikendiebstahls verdächtiges Individuum“ ist. Forderungen ägyptischer Kulturpolitiker, die Büste zurück nach Kairo zu bringen, hat Deutschland bis heute immer wieder abgelehnt. Mit den kolonialen archäologischen Museen und Archiven wurden jedoch bis heute existierende exilische Orte innerhalb der eigenen Zivilisationen geschaffen, um außereuropäische Kunstwerke und Arte-

9 Vgl. Stephen Quirke: Exclusion of Egyptians in English-directed archaeology 1882–1922 under British occupation of Egypt. In: Susanne Bickel, Hans-Werner Fischer-Elfert, Antonio Loprieno und Sebastian Richter (Hg.): Ägyptologen und Ägyptologien zwischen Kaiserreich und Gründung der beiden deutschen Staaten. Berlin, Boston 2013, S. 379–406. 10 Ludwig Borchardt: Ausgrabungen in Tell el-Amarna 1912/1913, Vorläufiger Bericht. In: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 52 (Oktober 1913), S. 4.

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Abb. 5: Expeditionsequipment Ludwig Borchardts aus dem Schweizer Institut für Ägyptische Bauforschung und Altertumskunde. Installation in der Ausstellung Das große Spiel: Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus im Ruhr Museum Essen, 2010 (Charlotte Trümpler: Das große Spiel – Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus. Köln 2008).

fakte, Verfassungen und Gesetze aufzunehmen. Die Gründung dieser Räume war jedoch nicht nur konstitutiv für die Museen und Sammlungen, die außerhalb des Erdbodens und auch meistens außerhalb des Territoriums entstanden, aus dem die Artefakte stammten. Diese exilische Situation war auch für die Institution von Archiven, also für ein Rechtsgedächtnis zentral, das vorher mündlich oder memorial überliefert worden war. Insbesondere die Institution des (Rechts-)Archivs, die Überlieferung der ersten Gesetze, war auf die „Festigkeit äußerer Dinge“11 angewiesen, wie Foucault in „Das Denken des Außen“ schreibt: Entweder ein Gesetz war außen, gesichert und veräußerlicht  – oder es war überhaupt nicht und wurde nicht überliefert. Ein Gesetz, das man nicht dauerhaft abrufen konnte, existierte nicht; ein unabgelegtes und unkonsultierbares Gesetz war und ist nicht in der Welt. Ein ‚ungeschriebenes Gesetz’ ist überhaupt kein Gesetz. Erst wenn ein Gesetz in einem Exil gegen sein Verschwinden abgesichert ist, ist es überhaupt.

11 Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band I 1954–1969, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt a. M. 2001, S. 683.

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Ebenso die Objekte der Archäologie: Auch sie werden vom Archäologen oder von der Archäologin geborgen (Abb. 5) und in Außenräume, ins Exil gebracht, damit sie existieren; Artefakte werden für Archäologen und Archäologinnen erst dann lesbar, wenn sie sich im Exil außerhalb des Erdbodens – und oftmals außerhalb ihres Ausgrabungsterritoriums – befinden, wo sie erst Objekte einer kolonialen Wissensproduktion werden können. Diese Deterritorialisierung ist dieser Form der Wissensproduktion tief eingeschrieben: Wie sich Exilanten und Exilantinnen auf die Flucht begeben, um ihr Leben zu retten und nicht zu verschwinden, bringt man Dokumente, Archivalien und Artefakte ebenfalls an Orte des Exils in Sicherheit, damit auch sie nicht verschwinden. Archiv und Exil sind sich in diesem Widerspruch solidarisch: Sie verweisen beide auf ein Innen, ohne dort selbst einen Ort zu haben, in eine Äußerlichkeit gedrängt wie die Zinnfolie, die die Oberfläche des Spiegels reflektieren lässt, ohne dabei selbst in Erscheinung zu treten. Diese Exilsituation ist so prekär wie signifikant: Der innere Kern einer Gemeinschaft lässt sich theoretisch nur durch seine veräußerlichten Gesetze identifizieren; durch Gesetze, die immer auch historische Herrschaftsverhältnisse in sich tragen, von deren Schatten sie sich nur schwer lösen lassen. Dabei lässt sich eine Gemeinschaft erst über die Bezüge und Biografien jener Ausgeschlossenen in ihrer Komplexität begreifen, die ins tatsächliche, politische Exil getrieben wurden und die sich außerhalb jeder archivarischen Repräsentation wieder finden – eine Ambivalenz, die sowohl Versprechen wie Abgrund jeder exilantischen Situation kennzeichnet.

Das exilische Archiv Weil Archiv und Exil immer einen äußeren Ort kennzeichnen, sind sie immer schon deterritorialisiert, beeinträchtigt und erschüttert – weswegen ein Denken des Außen sie genau hier lokalisieren muss, nicht ohne, sondern inmitten ihrer Verwirbelungen, Sprünge und Deterritorialisierungen. Innerhalb dieser deterritorialisierten Situation markiert die Institution der Archive die Konstitution einer ‚positiven Abwesenheit’ oder eines ‚inneren Außerhalb’: Archive sind einerseits außen und abwesend, weil sie gesondert von der alltäglichen Wirklichkeit existieren, wo man normalerweise keinen Zutritt zu ihnen hat (weswegen die unbetretbaren Archive sich auch trotz ihrer Ähnlichkeiten von öffentlichen Museen unterscheiden, auch wenn beispielsweise das Ägyptische Museum Kairo lange Zeit für große Teile der ägyptischen Bevölkerung nicht zugänglich war). Andererseits ist das Archiv aber auch in der Welt, in die es jederzeit eingreifen kann und die es gleichsam von außen fernsteuert: Als institutionelle Außenseite

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der rechtlichen Welt markiert es den Raum, der viele rechtliche Akte von außen umgibt und bedingt. Weil das Zentrum des Rechtssubjekts nach außen ins Archiv verlegt wurde, spricht Gilles Deleuze davon, dass „das Außen bei Foucault wie bei Blanchot, dem er dieses Wort entlehnt, das ist, was ferner ist als jede Außenwelt. Darum ist es aber auch näher als jede Innenwelt.”12 Aber die Theoretiker eines exilischen Archivs waren nicht Blanchot und Deleuze, sondern Foucault und Derrida. Worauf das Zitat von Deleuze jedoch anspielt, ist die Tatsache, dass Foucault seinen philosophischen Begriff des Archivs in Bezug zu jenem „Denken des Außen“13 entwickelt hatte, das auch ein Denken der exilischen Kondition war. Das „Denken des Außen“ sollte gleichzeitig das „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“14 instituieren, wie es in Foucaults Archäologie des Wissens hieß. Das Außen, das aus seinem Exil im Archiv in die Realität einbricht, ist jedoch immer auch das Außen einer schlummernden und plötzlich zum Leben erwachenden Vergangenheit. Mit dem Einbruch des Außen erwachen die archivierten und exilierten ‚Leichen‘ im Keller der Geschichte: „Der Ort, wo Signifikanten gleich Knochen und Texte gleich Skeletten liegen, die buchstäblich darauf warten, zusammengelesen zu werden, ist das Archiv als Sammlung. Der Archivbehälter ist Sarg.”15 Doch im Unterschied zum Sarg sammelt das Archiv eine Vergangenheit, damit es auch in Zukunft den Menschen etwas bezeugen kann. Das Archiv ist also nicht an die Vergangenheit gekettet, sondern an seine exilische Kondition gebunden. Das Archiv sammelt keine vergangene Realität, es kodiert eine kommende. Das Archiv, vor allem das juristische Archiv, „reflektiert“16 nicht, wie die ehemalige Mitarbeiterin Foucaults, Arlette Farge schreibt: es codiert. Es bestimmt von außen, was in Zukunft überhaupt als Faktum gelten kann und was nicht. Das Archiv bildet nicht ab wie eine Bibliothek; mit seiner Hilfe wird eine Realität gesteuert und verwaltet, der es vorausgeht. Als „vorgängiges Raster registrierter Wirklichkeit”17 sammelt das Archiv nicht einfach Dinge; es sammelt nur Dinge, die Effekte in der Realität zeitigen, es ist ein Realitätsraffer, realer als die Realität: das Reale. Den Zusammenhang zwischen der Sicherung der Vergangenheit und der Codierung der Zukunft hat nach Foucault am klarsten Derrida gesehen. Die

12 Gilles Deleuze: Unterhandlungen. 1972–1990. Frankfurt a. M. 1993, S. 159. 13 Michel Foucault: Das Denken des Außen. In: ders.: Schriften in vier Bänden, S. 670–697. 14 Michel Foucault: Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1973, S. 187. 15 Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin 2002, S. 36. 16 Arlette Farge: Le goût de l’archive. Paris 1989, S. 124. 17 Ernst: Rumoren, S. 24.

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Abb. 6: Das Team des Catalogue Général: Friedrich Wilhelm von Bissing, Edward Quibell, Emile Chassinat, George Reisner, Ludwig Borchardt (von links nach rechts), Kairo 1898 (© Schweizerisches Institut für Ägyptische Bauforschung und Altertumskunde, Kairo).

Klammer zwischen beiden bildet der exilische Außenraum eines Archivs, der von Derrida als „Conditio des Archivs“ beschrieben wurde: „Äußerlichkeit des Ortes, topographische Bewerkstelligung einer Technik der Konsignation, Errichtung einer Instanz und eines Ortes der Autorität.“18 Mit Derrida wurde die Institution des Archivs als Außenraum einer exilischen Autorität beschreibbar, die nur dann in Kraft ist, wenn die Gesetze außen sind, sich im Exil befinden, niedergeschrieben, abgelegt, konsultierbar. Auch nach Derrida rührt die Gesetzeskraft von ihrem exilischen Außen her, das einen institutionellen Innenraum hervorbringt – der Innenraum eines absichernden institutionellen Archivs kann nur von einem exilischen Außenraum definiert werden. Im Exil des Archivs befindet sich also nicht das Gesetz, sondern die Exterritorialität der Gesetze, was etwas anderes ist als ihre Öffentlichkeit. Während das Gesetz nur

18 Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin 1997, S. 4.

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im Innenraum eines Denkens eine Existenz besitzt, regieren die Gesetze im Exil im Exil diesen Innenraum von außen. Diese unbedingte Verzeichnung der Gesetze in einem Außerhalb hat das Archiv mit den Artefakten im Ägyptischen Museum gemeinsam: Dort lagerten so viele Artefakte, dass sie ebenfalls katalogisiert werden mussten, wenn man den Überblick behalten wollte – was nicht katalogisiert war, war dazu angetan, in den Sammlungsmassen des Museums unterzugehen. Der erste Katalog der Artefakte des Ägyptischen Museums, der Catalogue Général, wurde von Ludwig Borchardt mit-initiiert und gestaltet (Abb. 6). Von 1896–1899 arbeitete er an der mehrbändigen Aufstellung des damals größten Museums altägyptischer Kultur. Eines dieser Exemplare liegt heute im Schweizerischen Institut für Ägyptische Bauforschung und Altertumskunde in Kairo  – und markiert damit die Institution eines exilischen Archivs, eine verbindliche Ansiedlung in einem Außen, die sowohl für das Archiv als auch für das Exil konstitutiv sind: Museumsbestände brauchen ebenso wie Ausgrabungsfunde und Gesetze eine Institution und räumliche Ansiedlung – von denen jene Menschen jedoch oft ausgeschlossen sind, die sich ebenfalls in Außenräumen befinden.

Der Ort der Gesetze Mit Fällen wie dem des Archäologen Borchardt sehen wir in der heutigen postkolonialen Situation klarer, dass sowohl die Ausgrabungen von Artefakten als auch die Absicherung von Gesetzen auf exilischen Außenräumen beruhen – weniger auf einem „Denken“ des Außen, sondern vielmehr auf der institutionellen Etablierung exilischer Außenräume wie Archive. Heute zeigt sich zusätzlich die Problematik, dass dieses Denken eines Außen nicht zu trennen ist vom „Othering“ der kolonialen Politik seiner Entstehungszeit. Denn so wichtig die Konstitution eines „inneren Außerhalb“ für die Absicherung von Gesetzeskraft gewesen sein mag, so brutale Auswirkungen zeitigt dieses Außen weiterhin. In diesem Konflikt und Widerspruch sind Archiv und Exil sich erneut solidarisch: Gesetze gelten immer nur in und für Innenräume; wenn die Gesetze nicht an einem exilischen Ort angesiedelt und verbürgt sind, sind sie überhaupt nicht: Das ist Derridas „Topo-Nomologie”19 des Archivs, die auch eine philosophische Beschreibung des Exils darstellt.

19 Derrida: Dem Archiv verschrieben, S. 12.

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Doch die „Topo-Nomologie” des Archivs sichert nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch ihre Manipulationen. Weil sich die Archive in Außenräumen befinden, werden sie ebenso anfällig für Angriffe wie Exilanten und Exilantinnen. In derselben Bewegung, in der die Gesetze veräußert und damit wirksam werden, werden sie auch manipulierbar. Keine Wirksamkeit ohne Manipulierbarkeit. Die Ansiedlung der Gesetze an einem äußeren Ort garantiert nicht nur ihre Gültigkeit. Ihre Verräumlichung riskiert auch ihre Veränderbarkeit: Die Gesetze sind entweder außen und damit manipulierbar oder sie sind ungültig. Nur das ungeschriebene Gesetz ist unmanipulierbar; es ist aber auch ungültig. Nur weil  – und wenn  – sich die Gesetze an einem äußeren Ort befinden, können sie durch jede Bewegung erschüttert werden. Seit ihrer äußerlichen Lagerung sind die Gesetze so empfindlich wie ein Haufen Asche, der bei der kleinsten Erschütterung zusammenbrechen kann.

Der Abgrund des Archivs Wie fragil und antastbar die Gesetze in ihrem exilischen Status tatsächlich sind, sollte Ludwig Borchardt bald am eigenen Leib erfahren: Als er das Deutsche Archäologische Institut als „Kaiserlich Deutsches Institut für Ägyptische Altertumskunde“ ab 1907 in den Räumen seines Privathauses in Kairo aufbaut und mit seinem Familienvermögen finanziert, kann er kaum ahnen, dass das Projekt der Archäologie in Deutschland bald eine ungeahnte Wende nehmen sollte. Das Graben in tatsächlichen und imaginären Schichten der Vergangenheit wurde bald okkulten Projekten wie Himmlers „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“ und anderen Mystifizierungen, historischen Umdeutungen und Legitimationsversuchen der nationalsozialistischen Rassenideologie verpflichtet.20 Dabei war der elitäre Kreis der Orientalisten, Ägyptologen und Archäologen in Deutschland seit jeher eine reaktionär denkende Gemeinschaft, wie der Althistoriker Stefan Rebenich dargestellt hat.21 Nach Borchardts Pensionierung im

20 Vgl. Thomas Schneider und Peter Raulwing: Egyptology from the First World War to the Third Reich: Ideology, Scholarship and Individual Biographies. Leiden 2013. 21 „Als den Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 die Macht übergeben wurde, hatten manche Altertumswissenschaftler – und darunter auch solche, die später als Juden verfolgt wurden – längst die Bausteine einer vitalistischen, irrationalen und aristokratisch-elitären Betrachtung der Antike zu einem eindrucksvollen Gebäude zusammengefügt, das unverkennbare Affinitäten zur nationalsozialistischen Weltanschauung aufwies.“ Stefan Rebenich: Zwischen Verweigerung und Anpassung. Die Altertumswissenschaften im „Dritten Reich“. In: Bickel u.  a.: Ägyptologen und Ägyptologien, S. 13–35, 17.

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Januar 1929 wird das Kairoer Institut dem Archäologischen Institut des Deutschen Reiches angegliedert. Direktor wird Hermann Junker, der am 1. November 1933 in die NSDAP eintritt, in eifriger Selbstgleichschaltung das DAI auf Regierungslinie bringt und am 8. April 1939 Joseph Goebbels um die Pyramiden von Gizeh führen wird. Seine Berichte nach Berlin seien stark von antijüdischen Ressentiments geprägt, schreibt Susanne Voss in ihrer Aufarbeitung des DAI während der NSZeit.22 Das Institut wird in der Folge zur Anlaufstelle rechter Kader in Ägypten, kritisch beäugt von der internationalen Kairoer Gesellschaft und begleitet von öffentlichen Protesten gegen die NS-Politik in Deutschland, vor allem der örtlichen jüdischen Gemeinde, die zwischen 1919–1948 um die 80.000  Mitglieder zählte. Kairo, die Wahlheimat der Borchardts, wird mit der Machtübernahme Hitlers zum Ort des Exils. Der heutige Leiter des Borchardt-Instituts, Cornelius von Pilgrim, beschreibt seinen Vorgänger als Deutsch-Patrioten, der sich selbst wohl nie als Exilanten bezeichnet hätte und den vor allem die Aberkennung seiner Zugehörigkeit zum Deutschtum empfindlich traf, „[d]enn seit jeher hatte er sein Wirken in Ägypten als einen Dienst am Vaterland und für das Ansehen Deutschlands und des Deutschtums im Ausland verstanden.“23 Als der deutsche Verein Kairo Borchardt im März 1933 zu einem patriotischen Abend einlädt, schreibt er dem Vereinsvorsitzenden Wilhelm van Meeteren eine Absage.24 Borchardt gründet sein eigenes, unabhängiges Institut direkt neben dem DAI, doch dem gesellschaftlichen Druck aus Deutschland kann er sich nicht entziehen. 1933 muss er auf Betreiben der gleichgeschalteten deutschen Gemeinde in Kairo seine Ehrenämter vor Ort niederlegen und wird 1934 aus dem DAI ausgeschlossen: in einem Rundschreiben verkündet DAI Präsident Theodor Wiegand, dass von nun an das ‚Führerprinzip’ herrsche.25

22 Susanne Voss: Der lange Arm des Nationalsozialismus. Zur Geschichte der Abteilung Kairo des DAI im „Dritten Reich“. In: Bickel u.  a.: Ägyptologen und Ägyptologien, S. 267–298. 23 Cornelius von Pilgrim: Ludwig Borchardt und sein Institut für Ägyptische Bauforschung und Altertumskunde in Kairo. In: Bickel u.  a.: Ägyptologen und Ägyptologien, S. 243–265, 255. 24 „Die treue Verbundenheit mit dem Vaterlande ist bei jedem Mitgliede der deutschen Kolonie Kairos eine Selbstverständlichkeit, die zu betonen an sich schon abgeschmackt ist. Am wenigsten ist eine solche Betonung jetzt am Platze, wo gerade Parteien an’s Ruder des Reiches gekommen sind, die den zur Zeit nicht in der Regierung befindlichen Parteien die Vaterlandsliebe absprechen. […] Ich persönlich aber habe, als ich in’s Ausland ging meine innenpolitische Einstellung in der Heimat gelassen und nur mein Deutschtum mitgenommen. Ich wollte, es hätten alle Mitglieder unserer Kolonie es ebenso gemacht, dann bräuchten wir nicht den Fremden unter denen wir wohnen, unsere innenpolitische Zerrissenheit zu zeigen.“ Brief von Ludwig Borchardt an Wilhelm van Meeteren vom 9. 3. 1933, zit. nach Pilgrim: Ludwig Borchardt, S. 255. 25 Vgl. Susanne Voss: Die Geschichte der Abteilung Kairo des DAI im Spannungsfeld deutscher politischer Interessen. Bd. 2: 1929–1966. Rahden 2017, S. 90.

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Borchardt wird zur Persona non grata, deren Kontakt zu meiden sei. Kurz darauf werden in einem Ministerialen Runderlass vom 26. August 1935 alle DAI Beamten zum Nachweis ihrer NSDAP-Parteimitgliedschaft aufgefordert. Während das DAI nazifiziert wird, avanciert das benachbarte Schweizer Institut zur Anlaufstelle bedrohter Wissenschaftler aus Deutschland.26 Borchardt bemüht sich fortan, deutsch-jüdische Wissenschaftler nach Kairo zu holen, die in Deutschland aufgrund der Gleichschaltungspolitik nicht länger arbeiten können. Eine Stipendiatenstelle für archäologische Bauforscher wird zu diesem Zweck eingerichtet, die vorsieht, „angesichts der kürzlich in Deutschland erfolgten Ausschaltung junger hoffnungsvoller Bauforscher semitischer Abstammung vorläufig für das nächste Jahr einen jungen deutschen Architekten dieser Art zu vorübergehender Ausbildung in ägyptischer Bauforschung gegen Bezahlung anzunehmen (Stipendium).“27 Hier offenbart sich die volle Tragweite der Einsicht, dass Archive eines institutionellen Außenraums bedürfen, um abgesichert zu sein. In Borchardts Fall bricht dieser Außenraum mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein. So ist die Stiftung des Borchardtschen Instituts zwar seit seiner Gründung im Schweizer Kanton Schaffhausen registriert; jedoch unterliegt er selbst als deutscher Staatsbürger deutschen Gesetzen, was ihn und sein Institut später noch in Bedrängnis bringen wird. Als Reaktion auf die immer stärker werdende antisemitische Politik in Europa erweitert Borchardt in der Folge die Statuten der Satzung seines Instituts um die Klausel, dass der Sitz der Stiftung sofort zu verlegen sei, wenn jüdische Bürger auch hier in ihren Rechten beschnitten würden.

Archäologie des Exils Allein die Tatsache, dass Archive ebenso wie Exilanten institutionell irgendwo in der Welt unterkommen müssen, bedeutet auch: In ihrer empirischen Anwesenheit und Ansiedlung sind Archive und Exilanten prinzipiell auffindbar – so wie Borchardts Institut heute aufgefunden und als Ausdruck einer immanent exilantischen Historiographie gelesen werden kann. Schon allein die Tatsache, dass Akten „bearbeitet [werden], wie Steine oder andere Materialien“28, weist darauf hin, dass eine Archäologie der Archive in eine Archäologie des Exils übersetzbar

26 Vgl. Kasper-Holtkotte: Deutschland in Ägypten, S. 4. 27 Protokoll der 2. Stiftungsratssitzung vom 27.Juli 1933, zit. nach Pilgrim: Ludwig Borchardt, S. 243–266. 28 Vismann: Akten, S. 8.

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ist. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Archäologen des Archivs am Ende ebenso bei jener „information revolution“29 landen, mit der es auch die Archäologen des Exils früher oder später zu tun bekommen: Die Auffindung archivischer oder exilantischer Vergangenheiten ist am Ende immer auch eine Frage der Daten. Ludwig Borchardt arbeitet auch nach seiner Pensionierung weiter an seinen Forschungen. Zwischen 1930 und 1938 schreibt er mehr als 35 Aufsätze und Besprechungen, unter anderem über den Bau der Pyramiden, die altägyptische Zeitmessung und die Monumente des Ägyptischen Museums in Kairo. Als sein jüdischstämmiger Freund Georg Steindorff, einer der herausragenden Altertumsforscher Deutschlands, nach vier Jahrzehnten aus seiner Mitherausgeberschaft der Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde gedrängt wird, in der Borchardt publiziert hatte, ist dies für ihn jedoch nicht länger eine Option: Steindorff […] schreibt mir unter dem 8. 8. 37, dass er nach einem 3-tägigen Besuch in Berlin den ‚Freiwilligen’ Entschluss gefasst habe, von der Leitung der ÄZ zurückzutreten, und fährt in Anlehnung an einen Ausspruch von mir aus meinem letzten Brief an ihn, fort: ‚Wir werden also in Zukunft unseren Mist auf einen anderen Haufen tragen müssen.‘30

Ein Jahr später, im Frühsommer 1938, verschärft sich die Lage der Borchardts abermals dramatisch. Im Rahmen der „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ vom 26. April 1938 und der „Verordnung zur Durchführung der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ vom 18.  Juni 1938 werden Ludwig und Mimi Borchardt gezwungen, ihr gesamtes Vermögen bis Ende Oktober bei den Behörden des Deutschen Reiches anzumelden. Die damit drohende Enteignung bringt Borchardt dazu, sich so schnell wie möglich um den diplomatischen Schutz durch ein anderes Land zu bemühen. Seine verzweifelten Versuche, amerikanische, skandinavische, albanische, englische und honduranische Diplomaten für ihre Absicherung und die des Institutes zu gewinnen, sowie Kontaktaufnahmen und Verhandlungen über die institutionelle Übernahme mit den Universitäten Harvard, Oxford und Kopenhagen verlaufen ergebnislos. Beim Versuch, den amerikanischen Botschafter zu treffen, stirbt Ludwig Borchardt im August 1938 auf dem Weg nach Paris im Zug an einem Herzanfall. Er wird in Kairo begraben. Seine Frau Mimi (Abb.  7) führt die Geschäfte des

29 James M. O’Toole: Introduction. In: Ernst Posner: Archives in the Ancient World. Chicago 2003, S. IX. 30 Brief von Ludwig Borchardt an Ricke vom 12. 8. 1937, zit. nach Pilgrim: Ludwig Borchardt, S. 254.

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Abb. 7: Mimi Borchardt (rechts) mit Hausangestellter auf der Terrasse der Kairoer Villa, undatiert, nach 1924 (© Schweizerisches Institut für Ägyptische Bauforschung und Altertumskunde, Kairo).

Instituts mit Hilfe befreundeter Wissenschaftler weiter. Ihre archivierte Korrespondenz gibt Zeugnis von der Fassungslosigkeit, mit der sie aus dem Exil nach Deutschland blickt: Über das, was in Deutschland geschieht, kann man kein Wort sagen. Ich begreife nicht, dass es überhaupt möglich ist. Ich fasse mich an den Kopf und glaube zu träumen. Ich bekomme von allen Seiten die grössten Bittbriefe und mir blutet das Herz nicht überall helfen zu können  – habe ich mir doch schon gleich am Anfang so viel aufgeladen, dass ich kaum weiss, wie es zu bewältigen. Besonders da bei mir, nach Ludwigs Tod, auch nicht alles so einfach ist und klar ist. […] Ich beisse die Zähne zusammen und finde, dass bei diesem allgemeinen Grauen, dieser entsetzlichen Katastrophe man über privates Leiden

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Abb. 8: Ägyptisches Museum Kairo, 2011 (Tara Todra Whitehill, Associated Press, 30. 1. 2011).

nicht jammern darf. Inzwischen versuche ich, Ludwigs letzten Willen, sein Werk weiter fort zu führen, so gut wie möglich zu erfüllen.31

Im Sommer 1939 sind auch ihre ägyptischen Tage gezählt: Aus ihrem alljährlichen Sommerurlaub in der Schweiz kann Mimi Borchardt in diesem Jahr nicht mehr nach Ägypten zurückkehren, da sie nach Ausbruch des Krieges damit rechnen muss, als Reichsangehörige interniert zu werden. Sie stirbt zehn Jahre später in Zürich, ohne das lange heimatlose Institut noch einmal zu betreten, das mittlerweile von der Schweizer Botschaft übernommen worden war. Heute, im Winter 2019, ist die Erinnerung an jene Schicksale der deutschjüdischen Exilgemeinde in Kairo weitgehend verblasst. Ebenso verflüchtigen sich unter dem Druck der Militärregierung auch die Spuren jener neuen Exilanten der ägyptischen Revolution von 2011 mehr und mehr. Das ägyptische Museum am Tahrirplatz, dessen altägyptische Monumente Ludwig Borchardt vor rund 120 Jahren in kolonialer Vergangenheitsverwaltung zu inventarisieren begann, wird heute rund um die Uhr von ägyptischer Militärpolizei bewacht, damit niemand auf die Idee kommt, über den Einbruch des archivarischen Außen in die unmittelbare

31 Brief von Mimi Borchardt an Georg Hermann, Ludwig Borchardts Bruder, vom 8. 12. 1938, zit. nach Pilgrim: Ludwig Borchardt, S. 262.

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Gegenwart zu fantasieren (Abb. 8). Zwar war für dieses Jahr – zum wiederholten Mal seit 2012 – der Umzug aller Exponate weg vom symbolträchtigen Tahrirplatz in das neue Grand Egyptian Museum (GEM) nah der Pyramiden angekündigt worden. Doch dessen vollständige Eröffnung wird sich wohl um weitere Jahre verzögern. Die von ihrem Fundort exilierte Büste der Nofretete ist weiterhin nicht nur Besuchermagnet auf der Berliner Museumsinsel, sondern längst auch der Idee eines nationalen Kulturguts zugeschlagen worden – angeblich lehnte bereits Hitler die Rückgabe der Büste mit der Bemerkung ab, sie sei deutsches Kulturgut.32 Die Traumata ihres exilierten Entdeckers finden dabei keinen Eingang in diese Narration und in dieses Archiv.

Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002. Armstrong, Richard H.: A Compulsion for Antiquity. Freud and the Ancient World. Ithaca, London 2005. Borchardt, Ludwig: Ausgrabungen in Tell el-Amarna 1912/1913, Vorläufiger Bericht. In: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 52 (Oktober 1913), S. 4. Deleuze, Gilles: Unterhandlungen. 1972–1990. Frankfurt a. M. 1993. Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin 1997. Ernst, Wolfgang: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin 2002. Farge, Arlette: Le goût de l’archive. Paris 1989. Foucault, Michel: Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1973. Foucault, Michel: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band I 1954–1969, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt a. M. 2001. Foucault, Michel: Das Denken des Außen. In: ders.: Schriften in vier Bänden, Band I, S. 670–697. Glück, Thomas und Ludwig D. Morenz: Ägyptenrezeptionen. Einführende Überlegungen. In: dies. (Hg.): Exotisch, weisheitlich und uralt: Europäische Konstruktionen Altägyptens. Münster 2007, S. 5–56. Kasper-Holtkotte, Cilli: Deutschland in Ägypten Holtkotte, Orientalistische Netzwerke, Judenverfolgung und das Leben der Frankfurter Jüdin Mimi Borchardt. Berlin 2017. Knopf, Eva, Sophie Lemcke und Mara Recklies: Archive dekolonialisieren. Mediale und epistemische Transformationen in Kunst, Design und Film. Bielefeld 2018. O’Toole, James M.: Introduction. In: Ernst Posner: Archives in the Ancient World. Chicago 2003, S. VII-X.

32 Vgl. Thomas Glück und Ludwig D. Morenz: Ägyptenrezeptionen. Einführende Überlegungen. In: dies. (Hg.): Exotisch, weisheitlich und uralt: Europäische Konstruktionen Altägyptens. Münster 2007, S. 5–56, hier S. 15.

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Quirke, Stephen: Exclusion of Egyptians in English-directed archaeology 1882–1922 under British occupation of Egypt. In: Susanne Bickel, Hans-Werner Fischer-Elfert, Antonio Loprieno und Sebastian Richter (Hg.): Ägyptologen und Ägyptologien zwischen Kaiserreich und Gründung der beiden deutschen Staaten. Berlin, Boston 2013, S. 379–406. Rebenich, Stefan: Zwischen Verweigerung und Anpassung. Die Altertumswissenschaften im „Dritten Reich“. In: Susanne Bickel u.  a. (Hg.): Ägyptologen und Ägyptologien zwischen Kaiserreich und Gründung der beiden deutschen Staaten. Berlin, Boston 2013, S. 13–35. Schneider, Thomas und Peter Raulwing: Egyptology from the First World War to the Third Reich: Ideology, Scholarship and Individual Biographies. Leiden 2013. Sheppard, Eugene: Leo Strauss and the Politics of Exile: The Making of a Political Philosopher. Waltham/MA 2006. Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt a. M. 2000. von Pilgrim, Cornelius: Ludwig Borchardt und sein Institut für Ägyptische Bauforschung und Altertumskunde in Kairo. In: Susanne Bickel u.  a. (Hg.): Ägyptologen und Ägyptologien zwischen Kaiserreich und Gründung der beiden deutschen Staaten. Berlin, Boston 2013 S. 243–265. Voss, Susanne: Der lange Arm des Nationalsozialismus. Zur Geschichte der Abteilung Kairo des DAI im „Dritten Reich“. In: Susanne Bickel u.  a. (Hg.): Ägyptologen und Ägyptologien zwischen Kaiserreich und Gründung der beiden deutschen Staaten. Berlin, Boston 2013, S. 267–298. Voss, Susanne: Die Geschichte der Abteilung Kairo des DAI im Spannungsfeld deutscher politischer Interessen. Bd. 2: 1929–1966. Rahden 2017. Zintzen, Christiane: Von Pompeji nach Troja. Archäologie, Literatur und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Wien 1998.

Gesa Jeuthe

Kunstwerke im Exil – Das sogenannte „Fluchtgut“ als Zeugnis von Verfolgung, Vertreibung und Verlust 1 „Fluchtgut“ – Die Diskussion um die Restitution Mit der Verabschiedung der „Washington Principles“ (Washingtoner Prinzipien) im Dezember 1998 gingen die Teilnehmer der „Washington Conference on Holocaust Era Assets“ (Washingtoner Konferenz) eine moralische Selbstverpflichtung ein, NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut, sogenanntes „NS-Raubgut“, zu identifizieren sowie anschließend eine faire und gerechte Lösung mit den früheren Eigentümern oder deren Nachfahren zu finden.1 Die Bezeichnung eines Kulturgutes als „NS-Raubgut“ findet immer dann Verwendung, wenn der Eigentümer aus rassischen, politischen oder weltanschaulichen Gründen in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 verfolgt wurde und aufgrund dieser Verfolgung einen Verlust des Objektes durch Zwangsverkauf, Enteignung oder auf sonstige Weise erlitt.2 Entscheidend für die Identifizierung von „NS-Raubgut“ ist deshalb nicht allein die Erforschung der Herkunft von Objekten, sondern vielmehr das Wissen um das Schicksal ihrer Eigentümer. Dass die Bereiche der Provenienzforschung und Exilforschung damit aufs Engste verbunden sind, offenbart sich schon anhand des Terminus „Fluchtgut“, der Kulturgüter beschreibt, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland heraus in das neutrale Ausland transferiert werden konnten, sozusagen ins Exil gingen – ganz unabhängig davon, ob sich ihre Eigentümer noch im Deutschen Reich aufhielten oder bereits emigriert waren. Der Begriff wurde mit einer 2001 veröffentlichten Studie über den Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1933 bis 1945

1 Vgl. die Washingtoner Prinzipien unter: https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Stiftung/ Grundlagen/Washingtoner-Prinzipien/Index.html (Zugriff: 5. 3. 2019). 2 Vgl. Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (Hg.): Handreichung zur Umsetzung der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ vom Dezember 1999 [Februar 2001, überarbeitet im November 2007]. Bonn, Berlin 2007, S. 29. https://doi.org/10.1515/9783110542103-008

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etabliert.3 Der Terminus „Fluchtgut“ wird zeitweise auch mit dem Begriff „Fluchtkunst“ gefasst, adäquat zu der Verwendung der Begrifflichkeiten „Raubgut“ und „Raubkunst“. Die Unterscheidung ist abhängig von dem zu beschreibenden kulturellen Gegenstand. So beschränkt sich „Raubkunst“ auf Kunstwerke, während „Raubgut“ jegliche Kulturgüter, also auch Bücher oder Möbel, umfasst.4 Wie Anja Heuß und Sebastian Schlegel feststellen, war die Restitution oder Entschädigung von Vermögenswerten, die in einem politisch neutralen Land verkauft worden waren, nach 1945 vor einem deutschen Gericht nicht durchsetzbar.5 Die „Beratende Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NSverfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts, insbesondere aus jüdischem Besitz“ (Beratende Kommission) ging mit ihrer ersten Empfehlung demnach über die bisherige alliierte Rückerstattungspraxis hinaus.6 Im Jahr 2003 gegründet, um in strittigen Rückgabeersuchen eine Vermittlerrolle zu übernehmen, empfahl sie 2005 drei Gemälde von Carl Blechen und ein Aquarell von Anselm Feuerbach an die Erbengemeinschaft nach den Eheleuten Julius und Clara Freund zurück zu geben.7 Die vier Kunstwerke waren im Zuge der Versteigerung der Sammlung im Jahr 1942 in der Luzerner Galerie Theodor Fischer von Hans Posse, Sonderbeauftragter Adolf Hitlers, für das sogenannte „Führermuseum“ in Linz erworben worden und befanden sich daher im Besitz des Bundes.8 Mit dieser Empfehlung zur „Fluchtgut-Restitution“ entspann sich eine kontroverse Diskussion, ob soge-

3 Vgl. Esther Tisa Francini, Anja Heuß und Georg Kreis: Fluchtgut – Raubgut. Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz und die Frage der Restitution, hg. von der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Zürich 2001, S. 25  f. 4 Um eine Beschränkung für die Zeit des Nationalsozialismus vorzunehmen, müsste der Begriff „Fluchtgut“ adäquat zu „NS-Raubgut“ „NS-Fluchtgut“ lauten, was sich jedoch nicht etabliert hat. Eine gänzlich andere Definition erhielt der Terminus „Fluchtkunst“ bei Stefan Koldehoff, der sie als Vermögenswerte verstanden wissen wollte, die bei der Flucht ihrer Eigentümer zurückgelassen und ohne deren Einverständnis verkauft wurden. Vgl. Stefan Koldehoff und Holger Liebs: Fluchtkunst von George Grosz. Hehlerware, Heuchelei und eine Handvoll Dollar. In: Süddeutsche Zeitung (19. 05. 2010), zitiert nach Esther Tisa Francini: Von der Raubgut- zur Fluchtgut-Restitution? In: Julius H. Schoeps und Anna-Dorothea Ludewig (Hg.): Eine Debatte ohne Ende? Raubkunst und Restitution im deutschsprachigen Raum. Berlin 2014, S. 37–55, hier S. 38. 5 Vgl. Anja Heuß und Sebastian Schlegel: „Fluchtgut“. Eine Forschungskontroverse. In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann und Thorsten Valk (Hg.): Spuren suchen. Provenienzforschung in Weimar. Klassik Stiftung Weimar, Jahrbuch 2018, S. 203–228, hier S. 222. 6 Vgl. Gunnar Schnabel und Monika Tatzkow: Nazi Looted Art. Handbuch Kunstrestitution weltweit. Berlin 2007, S. 458. 7 Vgl. Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter – Erste Empfehlung der Beratenden Kommission, Pressemitteilung 19/05, 12. Januar 2005, https://www.kulturgutverluste.de/ Webs/DE/BeratendeKommission/Empfehlungen/Index.html (Zugriff: 5. 3. 2019). 8 Vgl. Pressemitteilung 19/05.

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nanntes „Fluchtgut“ von „NS-Raubgut“ als eigenständig zu behandelnde Kategorie abzugrenzen oder gemäß den Washingtoner Prinzipien wie NS-verfolgungsbedingtes Kulturgut zu behandeln sei.9 Die Tatsache, dass die im „Fall Freund“ verhandelten vier Kunstwerke sich nur deswegen im Besitz des Bundes befanden, weil 1942 der „Sonderbeauftragte des Führers“ diese auf dem Schweizer Kunstmarkt erwarb, lässt eine Empfehlung zur Ablehnung des Restitutionsersuchen im Hinblick auf Deutschlands Schuld und Verantwortung gegenüber der Geschichte politisch nicht tragbar erscheinen. Der dadurch entstehende Eindruck, der Zweck des Ankaufs habe ein ausschlaggebendes Kriterium für die Beratende Kommission dargestellt, eröffnete zusätzlich die Debatte, ob bei „Fluchtgut“ die Motivation des Käufers die Restitutionsentscheidung beeinflussen sollte. Zugespitzt auf den „Fall Freund“ fragte Esther Tisa Francini, ob es demnach entscheidend sei, „ob ein Deutscher, gar Adolf Hitler, oder ein Schweizer, ob in privater oder in öffentlicher Mission, auf dieser Auktion 1942 bei Fischer gekauft hat?“10 In der Schlussfolgerung, den Großteil der heutigen Besitzer von „Fluchtgut“ treffe keine Schuld und Verantwortung an der Verfolgung, suchte eine Tagung in Winterthur gar nach Fairness und Gerechtigkeit für diese.11 Wurde der Begriff „Fluchtgut“ ursprünglich geprägt, um einen Unterschied zu „NS-Raubgut“ kenntlich zu machen, betonte jedoch Jutta Limbach, von 2003 bis 2016 Vorsitzende der Beratenden Kommission, man habe sich im „Fall Freund“ nicht mit der Kategorie „Fluchtgut“ beschäftigt und auch nicht mit der Frage, ob diese mit „NS-Raubgut“ gleichzusetzen sei. Vielmehr beruhe die Entscheidung, einen Zwangsverkauf zu bejahen, auf der Ansicht, die Witwe Clara Freund habe sich

9 Vgl. Tisa Francini: Von der Raubgut- zur Fluchtgut-Restitution?, S. 50. Vgl. auch Heuß, Schlegel: „Fluchtgut“, S. 223. 10 Tisa Francini: Von der Raubgut- zur Fluchtgut-Restitution?, S. 50. Gunnar Schnabel und Monika Tatzkow vertreten die Meinung, die Kommission habe es für maßgeblich gehalten, dass die im Ausland verkauften Kunstwerke von Nazi-Deutschland erworben wurden. Vgl. Schnabel, Tatzkow: Nazi Looted Art, S. 458. Sie beziehen sich hierbei vermutlich auf das Bundesrückerstattungsgesetz, das eine Rückerstattung für im Ausland geraubtes Gut in Betracht zog, wenn das Gut an einen bestimmten Ort innerhalb der Bundesrepublik gelangt war. Vgl. Jürgen Lillteicher: Westdeutschland und die Restitution jüdischen Eigentums in Europa. In: Constantin Goschler und Philip Ther (Hg.): Raub und Restitution. „Arisierung“ und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa. Frankfurt a. M. 2003, S. 92–107, hier S. 96. 11 Vgl. Fluchtgut II: Zwischen Fairness und Gerechtigkeit für Nachkommen und heutige Besitzer. Museum Oskar Reinhart. Winterthur, 31. August 2015.

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1942 aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen [gesehen], die Sammlung durch die Galerie Fischer in Luzern versteigern zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt war Julius Freund bereits völlig mittellos – da durch die Nazis seines Vermögens beraubt – in einem Armenhospital in London verstorben.12

Als alleiniges Kriterium, das eine Versteigerung im politisch neutralen Ausland als einen verfolgungsbedingten Zwangsverkauf definiert, wurde damit die aus der Verfolgung resultierende wirtschaftliche Notlage des Eigentümers angegeben. Das Argument orientiert sich augenscheinlich an den alliierten Rückerstattungsgesetzen, bei denen ein NS-verfolgungsbedingter Vermögensverlust außerhalb des Deutschen Reiches bzw. seines Herrschaftsgebietes nur ausnahmsweise möglich [erscheint], wenn der Alteigentümer belegt, er hätte sich infolge der Emigration in erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten befunden und war deshalb gezwungen, Kunstwerke für seine Existenzsicherung zu verwerten.13

Entsprechend ordnet die 2015 gegründete Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste die Kategorie des sogenannten „Fluchtgutes“ dem „NS-Raubgut“ unter, indem in einer zentralen Begriffsbestimmung erklärt wird: Als NS-verfolgungsbedingt entzogen gelten auch Kunstgegenstände, die ohne physischen Zwang aus einer wirtschaftlichen Notlage heraus veräußert wurden, unabhängig davon, ob die Veräußerung innerhalb des Deutschen Reiches oder im Ausland stattgefunden hat (sog. „Fluchtgut“).14

Die für die Provenienzforschung zu ziehende Konsequenz, die Bewertung eines Verkaufs eines Vermögensgegenstandes eines Emigranten im sicheren Ausland von dessen wirtschaftlicher Situation und den Gründen für diese abhängig zu machen, eröffnet neue Unsicherheiten bei der Suche nach fairen und gerechten Lösungen. Grundsätzlich fehlt eine klare Definition, ab welcher finanziellen Vermögensgrenze von einer wirtschaftlichen Notlage auszugehen ist. Wie vermögend durfte ein Emigrant sein, bis der Verkauf eines Kunstwerkes im Exil als Folge der

12 Jutta Limbach: Die Kriterien der Beratenden Kommission. In: Peter Mosimann und Beat Schönenberger (Hg.): Fluchtgut  – Geschichte, Recht und Moral: Referate zur gleichnamigen Veranstaltung des Museums Oskar Reinhart in Winterthur vom 28. August 2014. Schriftenreihe Kultur & Recht. Zürich 2015, S. 161–167, hier S. 164. 13 Schnabel, Tatzkow: Nazi Looted Art, S. 36. 14 Vgl. Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, Magdeburg: Zentrale Begriffsbestimmungen, https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Stiftung/Grundlagen/Zentrale-Begriffsbestimmun gen/Index.html (Zugriff: 8. 3. 2019).

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NS-Verfolgung und ergo als Zwangsverkauf anerkannt wird? Das Unbehagen, das diese Überlegung mit sich bringt, erlaubt den Einwand, ob es nicht prinzipiell ungerecht erscheint, von der Vermögenssituation eines Verfolgten einen NS-verfolgungsbedingten Verlust abzuleiten und davon einen Entschädigungsanspruch abhängig zu machen. Wurde in der 2001 veröffentlichten Studie Fluchtgut – Raubgut bereits angeraten, für die Bewertung von Verkäufen von „Fluchtgut“ mehrere Faktoren einzubeziehen, entwickeln die Autorinnen der Studie inzwischen unabhängig voneinander weitere Kriterien, die zur Überprüfung eines NS-verfolgungsbedingten Vermögensverlustes herangezogen werden sollten.15 Sowohl Esther Tisa Francini als auch Anja Heuß berücksichtigen zwar auch die finanzielle und wirtschaftliche Situation des früheren Eigentümers, fragen aber zudem nach dessen persönlicher, familiärer und politischer Lage. Daneben werden die Bedingungen des Verkaufs angesprochen und damit auch das Verhalten des Abnehmers oder Vermittlers. Tisa Francini erweitert diese Überlegungen noch um die Aufforderung, den einzelnen Verkauf im Ausland in die jeweilige Sammlungsgeschichte einzubetten.16 Die Bemühungen, NS-Raubkunst zu identifizieren, bedürfen somit einer möglichst umfassenden Aufklärung der individuellen persönlichen, politischen, finanziellen und wirtschaftlichen Situation früherer Eigentümer im Rahmen der allgemeinen Bedingungen im Exil – eine unmittelbare Überschneidung der Gegenstände der Exilforschung und der Provenienzforschung wird hier evident.

2 Das Kunstwerk als Zeugnis des Exils Während der kulturelle Gegenstand den Ausgangspunkt der Provenienzforschung bildet, die dem Schicksal seines Eigentümers und seiner Sammlung nachspürt, hinterlassen Objekte Spuren, die auf ihre Eigentümer verweisen und deren Biografien vervollständigen. Ein Versteigerungskatalog, wie der der Sammlung von Julius Freund, wird zum Beleg des Exilschicksals einer Familie und der Konsequenz der Verfolgung in Form eines Verlustes (Abb. 1). Dieser wird noch unterstrichen, wenn im Geleitwort des Kataloges die gescheiterte Absicht des Sammlers, seinen künstlerischen Besitz einem Museum zu vermachen, Erwähnung findet: „So sehen wir hier die Sammlung zum letztenmal vereint, das Werk eines Mannes,

15 Vgl. Tisa Francini, Heuß, Kreis: Fluchtgut – Raubgut, S. 25. 16 Vgl. Tisa Francini: Von der Raubgut- zur Fluchtgut-Restitution?, S.  54. Heuß, Schlegel: „Fluchtgut“, S. 226.

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Abb. 1: Umschlag des Auktionskataloges Sammlung Freund, Galerie Theodor Fischer, Luzern, 21. März 1942 (Universitätsbibliothek Heidelberg, https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ fischer1942_03_21/0001).

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der immer ein Freund von Kunst und Künstlern war, und dessen ganze unegoistische Leidenschaft dem galt, was er als schön und erhaltenswert empfunden hat.“17 Die Tochter und Erbin der Sammlung, die zu dem Zeitpunkt ebenfalls im Exil lebende Fotografin Gisela (Gisèle) Freund, betonte überdies den Erinnerungswert jedes einzelnen Objektes, wenn sie den Wunsch an die potentiellen Käufer formulierte, „daß mancher von ihnen vielleicht hin und wieder des früheren Eigentümers Julius Freund gedenken möge“18. Neben dem individuellen Schicksal dokumentiert der Auktionskatalog aber auch umfassende Veränderungen im Bereich des Kunstbetriebes, die sich während der Zeit des Nationalsozialismus außerhalb des Deutschen Reiches vollzogen: Er ist ein Beispiel für die sogenannten „Emigrantenauktionen“, die sich als eigenes Marktsegment auf dem Auktionssektor bildeten.19 Die Auflösung von Sammlungen ins Exil gegangener Verfolgter beförderte den Geschäftsbetrieb des Kunstmarktes und ermöglichte den Auf- und Ausbau privater sowie öffentlicher Sammlungen, die ohne die erzwungenen Emigrationen in ihrer heutigen Form nicht existent wären: „Der Brunnen war da, aus dem trinken konnte, wer durstig war.“20 Doch auch ohne Verkauf bereicherten die exilierten Werke den Kunstbetrieb erheblich. Der Transfer von Kulturgut, der durch die Verfolgung ihrer Eigentümer ausgelöst wurde, sorgte für rezeptionsgeschichtlich bedeutsame kulturelle Ereignisse, beispielsweise im Bereich des Ausstellungswesens. Berühmt aufgrund der in ihr wohnenden internationalen Antwort auf die nationalsozialistische Propagandaausstellung Entartete Kunst in München ist etwa die Londoner Ausstellung Twentieth Century German Art in den New Burlington Galleries im Jahr 1938. Jüngste Forschungen stellten nun die Frage nach der Herkunft der Exponate der deutschen Moderne, waren diese doch zu dem Zeitpunkt der Ausstellung

17 Geleitwort. In: Sammlung Julius Freund. Aus dem Besitz von Frau Dr.  G. Freund, Buenos Aires. Auktion-Kat. Galerie Theodor Fischer, Luzern, 21.  März 1942, S.  7, https://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/fischer1942_03_21/0001 (Zugriff: 11. 3. 2019). 18 „Nun wird die Sammlung in alle Winde zerstreut werden, und ich wünsche von Herzen, daß sie den neuen Besitzern ebensoviel Freude bereiten möge, und daß mancher von ihnen vielleicht hin und wieder des früheren Eigentümers Julius Freund gedenken möge.“ Gisela Freund. In: Sammlung Julius Freund, S. 7. 19 Vgl. Tisa Francini, Heuß, Kreis: Fluchtgut – Raubgut, S. 156–164. 20 Urs Schwarz: Zürcher Kunstsammler neuester Zeit. Fünf Porträts. Zürich 1977, S. 45, zitiert nach Esther Tisa Francini: Kunsthandel in der Schweiz 1933–45: Fluchtgut, Raubgut und die Restitutionsfrage. In: Museen im Zwielicht. Ankaufspolitik 1933–1945. Veröffentlichungen der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Bd. 2 [2002], hg. von der Koordinierungsstelle für Kulturverluste, Magdeburg. Magdeburg 2007 (2. Aufl.), S. 119–134, hier S. 119. Urs Schwarz bezieht sich in seiner Aussage auf den Züricher Kunstmarkt der unmittelbaren Vorkriegszeit.

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noch kaum in britischen Sammlungen vertreten. Ziel der Rekonstruktion war daher neben der Werkidentifikation auch die Aufschlüsselung des Leihgebers, im Katalog oft nur als „private collection“ aufgeführt.21 Die Auseinandersetzung mit dem Archivmaterial zur Ausstellung zeigte, dass sie nicht allein politisch motiviert war, sondern auch vom Kunsthandel inszeniert wurde, um neue Absatzmärkte für die aus Deutschland vertriebenen Künstler und Kunstsammlungen zu erschließen. Zudem war sie kein rein britisches, sondern in erheblichen Maßen ein Produkt der deutsch-jüdischen Emigrantenszene.22 Um jedoch „jeden Anschein zu vermeiden, dass diese Ausstellung eine Unternehmung von Juden oder Emigranten sei“, blieben all jene Namen öffentlich unbenannt, die in diesem Sinne ausgelegt werden konnten.23 Die Ausstellung enthält damit rückblickend eine mehrschichtige politische Botschaft: Sie lenkte die damalige Aufmerksamkeit mit der Auswahl der Exponate auf die nationalsozialistische Aktion „Entartete Kunst“ und die Vertreibung moderner Künstler aus Deutschland, wie Max Beckmann oder Oskar Kokoschka. Während dieser Aspekt in der Forschung reflektiert wurde, blieb der Erkenntnisgewinn zur Herkunft der Exponate, die auf Verfolgung und Flucht ihrer Eigentümer und damit auf die Verfolgungspolitik im NS-Staat verweisen, bislang unerwähnt.24 Generell fand das Faktum, dass sich das Ausstellungswesen ab 1933 nicht unerheblich aus „geflüchteten“ jüdischen Privatsammlungen speiste, in der Rezeptionsgeschichte weitaus weniger Beachtung als die Verfemung moderner Kunst, was symptomatisch für die mangelhafte Aufarbeitung der Exilschicksale in der Wiedergutmachungspolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit sein mag. Die Vermeidung der Namen jüdischer Sammler in damaligen Ausstellungskatalogen lässt nach deren persönlicher Situation fragen und die Befürchtung eines möglichen Einflusses deutscher Behörden auf das in das Ausland verbrachte Vermögen vermuten. Der zusätzliche erlittene Verlust der gesellschaftlichen Position

21 Vgl. Lucy Wasensteiner: Die Ausstellung Twentieth Century German Art. In: London 1938. Defending „Degenerate Art“. Mit Kandinsky, Liebermann und Nolde gegen Hitler, hg. von dies. und Martin Faass, Ausst.-Kat. The Wiener Library for the Study of the Holocaust & Genocide, London, und Liebermann-Villa am Wannsee, Berlin. Wädenswil 2018, S. 8–11, hier S. 8. 22 Lucy Wasensteiner: Die Organisation von Twentieth Century German Art  – Ein britisches Statement gegen die Nazis? In: London 1938, S. 67–75, hier S. 68–69. 23 „Um jeden Anschein zu vermeiden, dass diese Ausstellung eine Unternehmung von Juden oder Emigranten sei, haben wir der Öffentlichkeit gegenüber sorgfältig alle Namen ausgeschlossen, die in diesem Sinne ausgelegt werden könnten.“ Herbert Read an Paul Westheim, 6. April 1938, zitiert nach Wasensteiner: Die Organisation von Twentieth Century German Art, S. 72. 24 Vgl. Eberhard Roters (Hg.): Stationen der Moderne. Kataloge epochaler Kunstausstellungen in Deutschland 1910–1962. Köln 1988.

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spiegelt sich faktisch in der unbenannten Provenienz, denn mag die eigene Sammlung vor 1933 noch ein wertvolles Pedigree dargestellt haben, wurde ihre Nennung in Zeiten der Verfolgung oftmals strategisch vermieden und erfuhr nach 1945 nur eine unzureichende Würdigung, um heute meist allein durch Schlagzeilen über Restitutionsansprüche in Erinnerung gerufen zu werden. Ebenfalls wenig beachtet wurde bislang der Verdienst der zumeist aus rassischen Gründen vertriebenen Kunsthändler, die ihren gleichfalls verfolgten Kunden mit Hilfe ihrer internationalen Geschäftsbeziehungen überhaupt eine stufenweise Vermögensübertragung in das sichere Ausland ermöglichten: Immerhin war es Feilchen [Walter Feilchenfeldt] gelungen, mit Wilhelm Wartmann, dem Direktor des Zürcher Kunsthauses, eine Ausstellung zur französischen Malerei des 19. Jahrhunderts zu arrangieren. Es war nicht die einzige Verabredung dieser Art, die Feilchen traf, um seinen jüdischen Kunden und Freunden die Möglichkeit zu verschaffen, ihre wichtigsten Bilder außer Landes zu bringen. Vermögende Familien wie Mendelsohn, Bruno Cassirer, Fürstenberg, Liebermann usw. sahen sich plötzlich den widerwärtigsten Schikanen ausgesetzt und waren um jede Möglichkeit froh, ihren Kunstbesitz dem drohenden Zugriff der Nazis zu entziehen.25

Für die hier erwähnten Ausstellung Französische Maler des XIX. Jahrhunderts, die vom 14. Mai bis 6. August 1933 im Kunsthaus Zürich stattfand, stellte Walter Feilchenfeldt, damaliger Mitinhaber des Kunstsalons Paul Cassirer, 37 Exponate zur Verfügung.26 Mit der Deklarierung von Kunstwerken als Leihgabe zu Ausstellungszwecken konnten diese mit Hilfe eines Freipasses in die Schweiz eingeführt werden, der über mehrere Jahre verlängert werden konnte. Erst mit Verkauf eines Objektes wurde ein Einfuhrzoll fällig, der aber in der Regel dem Käufer berechnet wurde. Ebenfalls entfiel für einen Eigentümer, der sich noch in Deutschland befand, auf diesem Weg die Auswandererabgabe an die deutsche Behörde, da es sich formal nicht um einen dauerhaften Vermögenstransfer handelte.27 Bei dieser Form der temporären Sicherung von Kunstbesitz in den Depots der Schweizer Museen wird das Kunstwerk zum Emigrant noch bevor sein Eigentümer Deutschland verlassen konnte oder wollte. Die Herkunft dieser Kulturgüter lässt sich in den Akten der Museumsarchive recherchieren und dokumentiert die Bemühun-

25 Marianne Feilchenfeldt Breslauer: Bilder meines Lebens. Erinnerungen. Berlin 2010, S. 140. 26 Vgl. Christina Feilchenfeldt: Walter Feilchenfeldt: Verleger und Kunsthändler. In: Anna Dorothea Ludewig, Julius H. Schoeps und Ines Sonder (Hg.): Aufbruch in die Moderne. Sammler, Mäzene und Kunsthändler in Berlin 1880–1933. Köln 2012, S. 272–291, hier S. 284. Insgesamt umfasste die Ausstellung 103 Exponate. 27 Vgl. Tisa Francini, Heuß, Kreis: Fluchtgut – Raubgut, S. 165  f. Vgl. außerdem Tisa Francini: Kunsthandel in der Schweiz 1933–45, S. 121.

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gen ihrer Eigentümer, sich und ihr Vermögen vor der Verfolgung zu schützen. Ein prominentes Beispiel dieser besonderen Form des „Fluchtgutes“ sind 14 impressionistische Kunstwerke aus der Sammlung Max Liebermann, die in dessen Auftrag von Walter Feilchenfeldt am 2.  Mai 1933 an das Kunsthaus Zürich versandt und in das Depotbuch des Museums am 9. Mai 1933 eingetragen wurden.28 Betrachtet man ihre Aufenthaltsorte, bereicherten sie das Ausstellungswesen der folgenden Jahre: So wurden die Gemälde Kristallvase mit Rosen, Tulpen und Flieder (um 1881) und Klatschrosen (1882) von Édouard Manet sowie das Gemälde Das Gewächshaus (um 1864) von Auguste Renoir in die Ausstellung Französische Maler des XIX. Jahrhunderts integriert.29 Die Kunsthalle Basel erhielt für eine Paul Cézanne-Ausstellung 1936 die Gemälde Sommertag (um 1875) und Wiese und Bauernhaus in Jas de Bouffan (um 1885–1887), das Musée de l´Orangerie in Paris 1937 für eine Schau über Edgar Degas dessen Tänzerinnenfries (um 1895) und Tänzerinnen mit einem Stuhl (um 1895).30 Für Juni 1938 verzeichnet das Depotbuch eine Versendung einiger Werke zum Stedelijk Museum in Amsterdam, wo sie in der Sommerausstellung Honderd Jaar Fransche Kunst präsentiert wurden.31 Die restlichen Werke der Sammlung Liebermann erreichten im Dezember 1938 ebenfalls Amsterdam, allerdings die dort ansässige Filiale des Kunstsalons Paul Cassirer.32 Die Verbringung der Werke von der Schweiz in die Niederlande kongruiert mit dem Zeitpunkt der Emigration von Käthe Riezler, geborene Liebermann. Während

28 Vgl. Kunstsalon Paul Cassirer, Walter Feilchenfeldt, an das Kunsthaus Zürich, Wilhelm Wartmann, 3. Mai 1933, Archiv Kunsthaus Zürich, Korrespondenz: Besitzer/Händler, 1933, sowie Depotbuch des Kunsthauses Zürich. Beides abgedruckt in: Bärbel Hedinger, Michael Diers und Jürgen Müller (Hg.): Max Liebermann – Die Kunstsammlung. Von Rembrandt bis Manet. München 2013, S. 207 und Abb. 72. Annegret Janda spricht von einem Depot „Liebermann / Riezler“, was sich aber anhand der Eintragung im Depotbuch nicht bestätigen lässt. Vgl. Karl-Heinz Janda und Annegret Janda: Max Liebermann als Kunstsammler. Die Entstehung einer Sammlung und ihre zeitgenössische Wirkung. In: Forschung und Berichte, hg. von Staatliche Museen zu Berlin 15 (1973), S. 105–122, hier S. 122 und Anm. 65. 29 Vgl. Verzeichnis der Kunstsammlung. In: Max Liebermann – Die Kunstsammlung, SL 116, SL 117 und SL 194. 30 Vgl. Verzeichnis der Kunstsammlung. In: Max Liebermann – Die Kunstsammlung, SL 12, SL 13, SL 41 und SL 42. 31 Vgl. Depotbuch des Kunsthauses Zürich und Verzeichnis der Kunstsammlung. In: Max Liebermann – Die Kunstsammlung, Abb. 72, SL 12, SL 13, SL 23, SL 41, SL 99, SL 108, SL 109, SL 117 und SL 194. 32 Laut Depotbuch ist dies nachvollziehbar bei dem Pastell Tänzerinnen (um 1898) von Edgar Degas, dem Gemälde George Moore, sitzend im Garten (1879) und Kristallvase mit Rosen, Tulpen und Flieder (um 1881) von Édouard Manet sowie Claude Monets Windmühlen bei Zaandam (1871–72). Vgl. Depotbuch des Kunsthauses Zürich und Verzeichnis der Kunstsammlung. In: Max Liebermann – Die Kunstsammlung, Abb. 72, SL 43, SL 107, SL 116 und SL 177.

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Max Liebermann im Jahr 1935 im nationalsozialistischen Deutschland verstorben war, gelang seiner Tochter mit ihrer Familie Ende des Jahres 1938 die Flucht in die USA.33 Die Entscheidung, die Werke aus Zürich über Amsterdam nach New York zu transferieren, verweist zugleich auf die Geschichte eines mit der Familie Liebermann eng verbundenen jüdischem Unternehmens und dem Exil seiner Inhaber: Unmittelbar mit Beginn des Nationalsozialismus hatten sich die beiden Teilhaber des Kunstsalons Paul Cassirer, Grete Ring und Walter Feilchenfeldt, entschieden, die Aktiengesellschaft aufzulösen und in eine Einzelfirma unter Leitung von Grete Ring umzuwandeln. Walter Feilchenfeldt verlegte seinen Aufenthalt fortan nach Amsterdam und agierte hauptsächlich über die dort ansässige Filiale, die seit 1923 von Helmuth Lütjens geleitet wurde. Der zunehmenden antisemitischen Ausgrenzung ausgesetzt, liquidierte Ring das Berliner Stammhaus des Kunstsalons und entschloss sich 1938 zur Emigration nach London. Dort eröffnete sie noch im selben Jahr die Paul Cassirer Ltd, die Feilchenfeldt und Ring als gemeinsames neues Unternehmen geplant hatten. Doch die Familie Feilchenfeldt wurde in der Schweiz vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges überrascht, wo sie vorerst mit einem Touristenvisum und anschließenden „Toleranzaufenthaltsbescheinigung“ verbleiben konnte. Eine Arbeitserlaubnis sollte Feilchenfeldt erst im Oktober 1946 erhalten.34 In der Diskussion um die Restitution von sogenanntem „Fluchtgut“ ist die Situation und die Leistung der Kunsthändler, vor allem jener, die selbst von der nationalsozialistischen Verfolgung betroffen waren, bislang wenig erörtert worden, obwohl die Mitwirkung einer Vermögensübertragung ins Ausland ein wesentliches Kriterium der Orientierungshilfe der Handreichung zur Umsetzung der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ (Handreichung) darstellt, da bei

33 Vgl. Monika Tatzkow und Georg Graf zu Castell-Castell: Verlorene Schätze? – Die Sammlung Liebermann ab 1933. In: Verlorene Schätze. Die Kunstsammlung von Max Liebermann, hg. von Martin Faass, Ausst.-Kat. Liebermann-Villa am Wannsee, Berlin 2013, S. 91–106, hier S. 94. 34 Vgl. Feilchenfeldt: Walter Feilchenfeldt: Verleger und Kunsthändler, S. 280 und S. 287  f. Der Leiter der Amsterdamer Filiale, Helmuth Lütjens, hatte bereits im Juni 1937 die niederländische Staatsbürgerschaft beantragt, die er zwei Jahre später erhalten sollte. Vgl. Christina Feilchenfeldt: The Paul Cassirer Gallery (1933–1945): Berlin – Amsterdam – London. In: Ines Rotermund-Reynard (Hg.): Echoes of Exile. Moscow Archives and the Arts in Paris 1933–1945. Berlin 2015, S. 124–137, hier S. 125. Dass Helmuth Lütjens nicht jüdisch war, erlaubte die Fortführung des Geschäftes zwischen 1940 und 1945, das weitere Bestehen des Unternehmens nach 1945 sicherte seine niederländische Staatsbürgerschaft.

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Verweis auf dieses bei Verkäufen nach dem 15. September 1935 die Vermutung eines NS-verfolgungsbedingten Verlustes widerlegt werden kann.35

3 Der erlittene Verlust trotz Rettung Als das Spargelbündel (1880) von Édouard Manet im Jahr 1967 über die seit 1946 etablierte Zürcher Kunsthandlung Walter Feilchenfeldt aus dem Eigentum der Enkelin Max Liebermanns nach Deutschland zurückkehrte, titelt Gert von der Osten im Jahrbuch des Wallraf-Richartz-Museums: „Manets Spargelbündel ‚bei Liebermann‘ jetzt in Köln“ (Abb. 2).36 Die Provenienz des Stilllebens wurde berühmt, weil der Künstler Hans Haacke in seinem Manet-Projekt’74 anhand dieser Kritik am Kunstbetrieb der Nachkriegszeit übte. Doch anstatt die Verfolgung der Familie Liebermann zu thematisieren, stand die Nutzung der Förderung moderner Kunst zur Reinwaschung der eigenen Taten während des Nationalsozialismus im Fokus der künstlerischen Präsentation.37 Das „Emigrantenschicksal“ der Tochter Liebermanns findet zwar im Text von von der Osten als auch in der Arbeit von Haacke Erwähnung, doch bleibt das Ausmaß der Verfolgung und des Verlustes unreflektiert: Weder wird das tragische Schicksal von Martha Liebermann benannt, die sich angesichts der drohenden Deportation im März 1943 das Leben nahm, noch die Tatsache, dass die einstmals umfangreiche Sammlung bis auf wenige Werke zur Existenzsicherung verkauft bzw. von der Gestapo beschlagnahmt wurde.38 Die durch die vorsorgliche Deponierung im Kunsthaus Zürich geretteten 14 Kunstwerke erreichten zum Großteil bis Ende September 1939 Käthe und Kurt Riezler in New York.39 Edgar Degas’ Gemälde Tänzerinnen mit einem Stuhl (um 1895) wurde bereits am 1. Februar 1939 an den Pariser Kunsthändler

35 So kann die Vermutung eines NS-verfolgungsbedingten Verlustes auch bei Verkäufen nach dem 15.  September 1935 widerlegt werden, wenn die Vermögensinteressen des Verfolgten auf diese Weise gewahrt wurden. Vgl. Handreichung, S. 29. 36 Vgl. Gert von der Osten: Manets Spargelbündel. „Bei Liebermann“ jetzt in Köln. In: WallrafRichartz-Jahrbuch 31 (1969), S. 135–148. 37 Vgl. Hans Haacke: Manet Projekt’74 (1974) und Michael Diers: Liebermann und Manet. Anmerkung zum Verhältnis von Sammlung, Kunst und Politik. In: Max Liebermann – Die Kunstsammlung, S. 77–88, hier S. 85  f. 38 Von Osten und Besitzertafel Liebermann und Riezler im Werk Haackes. Zu Martha Liebermann und dem Verkauf der Sammlung vgl. Tatzkow, Graf zu Castell-Castell: Verlorene Schätze?, S. 91–106. 39 Vgl. Christina Feilchenfeldt: Liebermann, der Kunstsalon Cassirer und die Kunsthandlung W. Feilchenfeldt, Zürich. In: Max Liebermann – Die Kunstsammlung, S. 119–126, hier S. 122  f.

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Abb. 2: Édouard Manet: Spargelbündel, 1880, Öl auf Leinwand, 46 × 55 cm, Wallraf-RichartzMuseum & Fondation Corboud, Köln (Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_c004541).

Paul Rosenberg verkauft, der wenig später ebenfalls nach New York flüchten sollte.40 Auch die anderen 13 Werke gelangten sukzessive auf den Kunstmarkt und befinden sich heute hauptsächlich in öffentliche Sammlungen.41 Einige Verkäufe, wie Édouard Manets Rennen in Auteuil (1864–1865) oder Honoré Daumiers Maler vor der Staffelei (um 1870) wurden vor 1945 getätigt.42 Für die Verkäufe nach 1945 übernahm erneut Walter Feilchenfeldt und seine Frau Marianne die Vermittlung.43 Bei all diesen Transaktionen ist im Hinblick auf den Begriff

40 Vgl. Feilchenfeldt: Liebermann, der Kunstsalon Cassirer und die Kunsthandlung W. Feilchenfeldt, Zürich, S. 125 und Anm. 32. Zu Paul Rosenberg Vgl. MoMA: Paul Rosenberg and Company. From France to America, https://www.moma.org/interactives/exhibitions/2010/paulrosenberg/ (Zugriff: 20. 3. 2019). 41 Vgl. Verzeichnis der Kunstsammlung. In: Max Liebermann – Die Kunstsammlung, SL 12, SL 13, SL 23, SL 41, SL 43, SL 99, SL 107, SL 108, SL 109, SL 116, SL 117, SL 177 und SL. 194. 42 Vgl. Verzeichnis der Kunstsammlung. In: Max Liebermann – Die Kunstsammlung, SL 99 und SL 23. 43 Vgl. Feilchenfeldt: Liebermann, der Kunstsalon Cassirer und die Kunsthandlung W. Feilchenfeldt, Zürich, S. 124.

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Abb. 3: Detail des Ausstellungskatalogs Honderd Jaar Fransche Kunst, Stedelijk Museum, Amsterdam, Sommer 1938, S. 96. Nr. 156 zeigt Édouard Manets Spargelbündel mit dem Verweis „Privatsammlung“ (Foto: Gesa Jeuthe).

des „Fluchtgutes“ interessant, ab wann ein Kunstwerk nicht mehr als solches zu bezeichnen ist. Wann endete ihr Exil? Unmittelbar mit dem Ende der Herrschaft der Nationalsozialisten, oder erst mit der existenziellen Etablierung ihrer Eigentümer, etwa durch die Erlangung einer Arbeitserlaubnis oder sogar einer neuen Staatsbürgerschaft? Wenn die persönliche, finanzielle und wirtschaftliche Situation ein Kriterium für die Entscheidung der „Restitutionswürdigkeit“ darstellt, müssten dann nicht auch Geschäfte nach 1945 hinsichtlich der anhaltenden Konsequenzen aus der Verfolgung untersucht werden? Neben der dringend zu führenden Diskussion um verständliche und gerechte Kriterien der „Fluchtgut-Restitution“ erscheint für den Akt der Wiedergutmachung auch die Erinnerung an die einstmals vorhandene Sammlung notwendig. Viele der damals prominenten jüdischen Sammlungen drohen der Vergessenheit anheim zu fallen, da die Namen ihrer früheren Eigentümer ab 1933 kontinuierlich aus der Öffentlichkeit verschwanden. Dienten die Werke während ihres Exils zur Bereicherung des internationalen Ausstellungswesens, wurde ihre Herkunft in den Katalogen meist unter der anonymen Besitzangabe „Privatsammlung“ versteckt (Abb. 3). Ihr heutiger Standort in einem Museum offenbart gleichfalls nur

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selten ihre ehemalige Zugehörigkeit. Oftmals gelangten sie über den Ankauf oder durch Schenkung Dritter an ihre heutigen Plätze. Mit Blick auf die Sammlung von Julius Freund, die ursprünglich in Gänze einem Museum vermacht werden sollte, lässt sich abschließend festhalten, dass die Verfolgung jüdischer Sammler oftmals zu einer Verhinderung ihres Mäzenatentums führte und sie der Würdigung ihrer Sammlungsleistung beraubt wurden. Welche privaten Sammlungen wären wohl ohne die Herrschaft der Nationalsozialisten erhalten geblieben, welche Stiftungen würden die Sammlungsgeschichten der Museen dann heute prägen? Die Rekonstruktion einer Sammlung innerhalb der Provenienzforschung dient daher nicht allein dem Zweck einer möglichen Identifizierung von „NS-Raubgut“ zur materiellen Rückerstattung, sondern ist auch eine Form der Wiedergutmachung durch späte Anerkennung.

Literaturverzeichnis Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (Hg.): Handreichung zur Umsetzung der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ vom Dezember 1999 [Februar 2001, überarbeitet im November 2007]. Bonn, Berlin 2007. Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, Magdeburg: Zentrale Begriffsbestimmungen, https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Stiftung/Grundlagen/ZentraleBegriffsbestimmungen/Index.html (Zugriff: 8. 3. 2019). Feilchenfeldt, Christina: Walter Feilchenfeldt: Verleger und Kunsthändler. In: Anna Dorothea Ludewig, Julius H. Schoeps und Ines Sonder (Hg.): Aufbruch in die Moderne. Sammler, Mäzene und Kunsthändler in Berlin 1880–1933. Köln 2012, S. 272–291. Feilchenfeldt, Christina: Liebermann, der Kunstsalon Cassirer und die Kunsthandlung W. Feilchenfeldt, Zürich. In: Bärbel Hedinger, Michael Diers und Jürgen Müller (Hg.): Max Liebermann – Die Kunstsammlung. Von Rembrandt bis Manet. München 2013, S. 119–126. Feilchenfeldt Breslauer, Marianne: Bilder meines Lebens. Erinnerungen. Berlin 2010. Geleitwort. In: Sammlung Julius Freund. Aus dem Besitz von Frau Dr. G. Freund, Buenos Aires. Auktion-Kat. Galerie Theodor Fischer, Luzern, 21. März 1942, S. 7, https://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/fischer1942_03_21/0001 (Zugriff: 11. 3. 2019). Grundsätze der Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von den National­ sozialisten beschlagnahmt wurden (Washington Principles), https://www. kulturgutverluste.de/Webs/DE/Stiftung/Grundlagen/Washingtoner-Prinzipien/ Index.html (Zugriff: 5. 3. 2019). Hedinger, Bärbel, Michael Diers und Jürgen Müller (Hg.): Max Liebermann – Die Kunstsammlung. Von Rembrandt bis Manet. München 2013. Heuß, Anja und Sebastian Schlegel: „Fluchtgut“. Eine Forschungskontroverse. In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann und Thorsten Valk (Hg.): Spuren suchen. Provenienzforschung in Weimar. Klassik Stiftung Weimar, Jahrbuch 2018, S. 203–228.

Kunstwerke im Exil 

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Janda, Karl-Heinz und Annegret Janda: Max Liebermann als Kunstsammler. Die Entstehung einer Sammlung und ihre zeitgenössische Wirkung. In: Forschung und Berichte, hg. von Staatliche Museen zu Berlin 15 (1973), S. 105–122. Lillteicher, Jürgen: Westdeutschland und die Restitution jüdischen Eigentums in Europa. In: Constantin Goschler und Philip Ther (Hg.): Raub und Restitution. „Arisierung“ und Rück­erstattung des jüdischen Eigentums in Europa. Frankfurt a. M. 2003, S. 92–107. Limbach, Jutta: Die Kriterien der Beratenden Kommission. In: Peter Mosimann und Beat Schönenberger (Hg.): Fluchtgut – Geschichte, Recht und Moral: Referate zur gleichnamigen Veranstaltung des Museums Oskar Reinhart in Winterthur vom 28. August 2014. Schriftenreihe Kultur & Recht. Zürich 2015, S. 161–167. MoMA: Paul Rosenberg and Company. From France to America, https://www.moma.org/ interactives/exhibitions/2010/paulrosenberg/ (Zugriff: 20. 3. 2019). Roters, Eberhard (Hg.): Stationen der Moderne. Kataloge epochaler Kunstausstellungen in Deutschland 1910–1962. Köln 1988. Schnabel, Gunnar und Monika Tatzkow: Nazi Looted Art. Handbuch Kunstrestitution weltweit. Berlin 2007. Tatzkow, Monika und Georg Graf zu Castell-Castell: Verlorene Schätze? – Die Sammlung Liebermann ab 1933. In: Verlorene Schätze. Die Kunstsammlung von Max Liebermann, hg. von Martin Faass, Ausst.-Kat. Liebermann-Villa am Wannsee, Berlin 2013, S. 91–106. Tisa Francini, Esther, Anja Heuß und Georg Kreis: Fluchtgut – Raubgut. Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz und die Frage der Restitution, hg. von der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Zürich 2001. Tisa Francini, Esther: Kunsthandel in der Schweiz 1933–45: Fluchtgut, Raubgut und die Restitutionsfrage. In: Museen im Zwielicht. Ankaufspolitik 1933–1945. Veröffentlichungen der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Bd. 2 [2002], hg. von der Koordinierungsstelle für Kulturverluste, Magdeburg. Magdeburg 2007 (2. Aufl.), S. 119–134. Tisa Francini, Esther: Von der Raubgut- zur Fluchtgut-Restitution? In: Julius H. Schoeps und Anna-Dorothea Ludewig (Hg.): Eine Debatte ohne Ende? Raubkunst und Restitution im deutschsprachigen Raum. Berlin 2014, S. 37–55. von der Osten, Gert: Manets Spargelbündel. „Bei Liebermann“ jetzt in Köln. In: WallrafRichartz-Jahrbuch 31 (1969), S. 135–148. Wasensteiner, Lucy: Die Ausstellung Twentieth Century German Art. In: London 1938. Defending „Degenerate Art“. Mit Kandinsky, Liebermann und Nolde gegen Hitler, hg. von dies. und Martin Faass, Ausst.-Kat. The Wiener Library for the Study of the Holocaust & Genocide, London, und Liebermann-Villa am Wannsee, Berlin, Wädenswil 2018, S. 8–11. Wasensteiner, Lucy: Die Organisation von Twentieth Century German Art – Ein britisches Statement gegen die Nazis? In: London 1938. Defending „Degenerate Art“. Mit Kandinsky, Liebermann und Nolde gegen Hitler, hg. von dies. und Martin Faass, Ausst.-Kat. The Wiener Library for the Study of the Holocaust & Genocide, London, und Liebermann-Villa am Wannsee, Berlin, Wädenswil 2018, S. 67–75.

II Globale und digitale Exilarchive: Geteiltes Wissen und Vernetzung

Csaba Szilagyi

Records of Forced Displacement and Refugee Narratives: A Case Study from the Vera and Donald Blinken Open Society Archives in Budapest “In the photograph, the building was hollow, disemboweled by a shell, which had evidently fallen through the roof and dropped down a few floors. The supermarket now existed only in the flooded storage space of my memory.” (Aleksandar Hemon, The Book of My Lives)

1 Introduction: The Role of Archives in the Global Refugee Experience Liquid Traces – The Left-to-Die Boat Case1 is a forensic reconstruction of the circumstances in which a rubber boat carrying 72 refugees from Libya to Lampedusa, Italy in March 2011 was left to drift in the waters of the Mediterranean for 14 days under the gaze of military patrols and the ‘digital eyes’ of a wealth of remote sensing devices. In this animated account, the sea is shown as an archival space populated with signs and traces left behind by the boat, which can ultimately be investigated to attest to the tragic death of all but nine of its passengers. Without displaying concrete visual images of the refugees, the succinct, factual and at times monotonous narration of the story, accompanied by the never ending sound of sonars, radars and the deep sea, make it one of the most impacting refugee accounts of the past few years. According to a recent estimation by the United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), in every single minute of the day, 31 people were displaced. By the end of 2017, this trend resulted in a record number of 68.5 million people registered as refugees, internally displaced persons and asylum-seekers, who were forced to leave their homes due to persecution, human rights abuses, armed con-

1 Charles Heller and Lorenzo Pezzani (Forensic Oceanography): Liquid Traces – The Left-to-Die Boat Case, https://vimeo.com/89790770 (Accessed: 22 January 2019). https://doi.org/10.1515/9783110542103-009

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flicts and other forms of violence.2 Beyond administrative, legal and humanitarian concerns, forced displacement raises complex issues relating to the (personal, official and historical) documentation of refugee experiences. Personal identification documents, recollections and memorabilia, eyewitness accounts, or information collected by various archives, agencies and NGOs dealing with refugees, as well as other, ‘irregular’ forms of documentation (including communication and social media outputs on mobile devices), are crucial in just about every stage of the displaced persons’ journeys, from fleeing their countries across multiple jurisdictions to a final destination. Thus, recordkeeping agencies, archives and other institutions of social memory have undisputable roles and responsibilities in creating, managing, preserving, authenticating and making available records documenting historical and contemporary refugee experiences.3 Historical or collecting archives, which traditionally serve scholarly audiences and follow procedures that are not necessarily adaptive to the above requirements, have to be prepared to revisit and reasses their existing holdings from a refugee perspective, update and complement them with documentation resulting from community and personal archiving efforts, oral histories or digital copies of relevant records from partner institutions, and develop archival practices that accommodate the needs of refugees and guarantee their rights in records. Archivists working in such environments have a moral and professional obligation to look into “the human effects and affects of diasporic experiences manifested within and over generations”4 and to make visible the imprints of these experiences in the archival space. In an effort to turn their “sense of responsibility into a practice of hospitality”5, archivists have to develop more inclusive descriptive practices that empower refugees, who are largely marginalized and underrepresented, and acknowledge them as records creators, embrace multivocality to highlight both the uniqueness and the collective aspects of the refugee experience, and offer points of contestation of dominant narratives in the records of forced displacement and exile.

2 UNHCR Global Trends: Forced Displacement in 2017, https://www.unhcr.org/globaltrends2017/ (Accessed: 29 January 2019). 3 Refugees Rights in Records Symposium: Summary Report and Research and Development Questions Arising, 2018, http://www.osaarchivum.org/files/Final-Report_Symposium-onRefugee-Rights-in-Records.pdf (Accessed: 22 January 2019). 4 Anne Gilliland and Hariz Halilovich: Migrating memories. Transdisciplinary pedagogical approaches to teaching about diasporic memory, identity and human rights in archival studies. In: Archival Science 17 (2017), pp. 79–96. 5 Verne Harris: Antonyms of our remembering. In: Archival Science 14 (2014), pp. 215–229.

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In light of these considerations, we can think of several uses of the documentation on refugee experiences that human rights archives could implement and promote. First is the availability of vital records for identification and administrative procedures, such as asylum-seeking, legal and humanitarian work, or integration and repatriation (although non-governmental archival institutions have limitations in this respect.) Equally important is the evidentiary value of these records in documenting human rights violations perpetrated against refugees by different (state, NGO or civilian) actors they had to encounter. Other aspects include the need for factual information on refugee experiences, past and present, for research and education purposes, and the records’ outstanding role in memory work. Developing refugee narratives, personal or collective stories of displacement, and promoting them in memory spaces (digital archival and storytelling platforms) can be used as tools for advocacy and activism towards informing and shaping public discourse on refugees. Finally, archival records on displaced persons can serve as source of inspiration for artistic representations.6 Having set a possible theoretical frame in which such archival activities can be performed, I move on to give an overview of the professional practices and programs of the Vera and Donald Blinken Open Society Archives7 (Blinken OSA) at Central European University (CEU) in Budapest, conducted on behalf and for refugees, both in historical and contemporary context. Blinken OSA is an activist archive dealing with records of the recent past. Founded in Budapest in 1995, initially to preserve the archives of the Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) Research Institute, Blinken OSA evolved over time into one of the largest international repositories, research and education centers, and cultural venues focusing on communism, samizdat, human rights and civil society organizations. Its holdings, totaling ten linear kilometers of text documents, 150,000 photographs, 14,000 hours of audiovisual material and 14 TB of digital content comprise rare documents on the history of communism and the Cold War, and the succeeding transitions to democracy, as well as of human rights movements and violations worldwide, chronicling the struggle of the individual against repression and injustice. Those who suffered human rights abuses, scholarly or amateur researchers, international criminal investigators, artists and journalists will find useful resources on victim identification, mass atrocities and war crimes committed during the 1992–1995 Yugoslav wars or the genocide in

6 See e.  g. John Akomfrah’s The Nine Muses (2010), a visual essay on the immigration experience of the Windrush generation in the UK, realized mainly from archival footage available in the BBC archives. 7 www.osaarchivum.org (Accessed: 24 January 2019).

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Rwanda; on acts of state sponsored oppression, surveillance and censorship in communist countries, as well as modes and tactics of survival, opposition and counter-cultural activities developed in response to them; and on successful or failed attempts on establishing democracy, rule of law and open societies based on care for the powerless, inclusion of the other and respect for diversity. The archive conducts its activities in a transparent and self-reflexive way, and seeks to problematize its existence, methodology and procedures. It advocates critical approach to archival sources, equal and open access to information and cultural heritage, ethical use of private data, and provision of safe haven for endangered archives. Archivists working there can be considered as much curators of the collections in their holdings, as caretakers of all the vulnerable and disempowered people (dissidents, political prisoners, minorities, refugees, victims and survivors) inscribed in the records. Since its establishment coincided with the 1995 Srebrenica genocide, when over 8,000 Muslim men and boys were summarily killed and then dispersed in primary and secondary mass graves by the Bosnian Serb Army, from early on Blinken OSA had an interest in issues relating to restoring the identity of those who went missing or were expelled from their countries en masse and systematically stripped of all possible proofs of identity, such as their documents of identification or even the license plates of their cars. Without these crucial documents, their identification and reburial, and their return home and access to vital services connected to citizenship rights would have been difficult or near to impossible. As part of the Recovering Identity Program, established by international organizations including UNHCR, the International Organization for Migration (IOM), the United States Department of State, and the Forced Migration Projects8 of the Open Society Foundations, Blinken OSA was instrumental in formulating a set of recommendations on establishing “international rules to protect and/or re-establish the identity and property rights of refugees”, and especially “the basic principles for the handling of personal data of refugees.”9 In what follows, I move back to neuralgic moments of contemporary history to list a couple of prominent examples of records on twentieth century forced displacement that are more directly related to Hungary. Contrary to what is officially propagated, throughout the twentieth century, Hungary, as a country of origin, transit, or destination had witnessed significant refugee and migration crises

8 http://catalog.osaarchivum.org/catalog/jDvG9Vnx#context (Accessed: 24 January 2019). 9 Iván Székely: The Recovering Identity Program. In: Leszek Pudłowski and Iván Székely (eds.): Open Society Archives. Budapest 1999, pp. 145–147, http://w3.osaarchivum.org/images/stories/ pdfs/publications/white-book.pdf (Accessed: 24 January 2019).

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generated by wars, uprisings against tyranny and state sponsored violence, or by ethnic conflicts. The collective experience in handling these massive population movements, forced into oblivion by current, dominant anti-refugee narratives are well represented even in the holdings of such a non-governmental archival institution like Blinken OSA.

2 Hungary and Its Refugee Narratives in the ­Historical Records of Blinken OSA The Danube Exodus,10 created by the renowned art documentary filmmaker Péter Forgács, is a travelogue detailing the emigration of several hundred Slovakian and Austrian Jews, from Bratislava to the Black Sea (with Palestine as final destination), via the Danube and Budapest, on board of the river cruiser Queen Elisabeth in 1939–1940. This filmic diary, originally recorded by an eyewitness, the Hungarian captain of the ship, shows passengers spending the long days of their journey with talking to each other, praying, dancing, or even getting married, accompanied by the undulating surface of the surrounding water, an image all too familiar to observers of current day refugee movements. On the way back, the camera witnesses an inverse emigration, as the vessel transports from the Romanian port of Galaţi a group of ethnic Germans fleeing the Soviet-occupied Bessarabia to the Third Reich. The internal displacement of the Jewish population of Budapest began with their forced inhabitation to residential and other buildings marked with the yellow Star of David on 21. June 1944. Seventy years later, Blinken OSA reconstructed the web of almost 1,900 ‘yellow-star houses’ on an interactive, online map11 and launched a call for submission of personal recollections and other forms of documentation (such as archival sources, family papers, photographs and sound recordings) relating to everyday life in these buildings. At the same time, it invited current inhabitants to retrieve this shameful historical moment from oblivion and commemorate their former neighbors and fellow citizens by organizing public events (reading, film screening, photo exhibit or collective cooking) in their buildings. Following the crushing of the Hungarian Revolution by the Soviet Army on 4. November 1956, more than 200,000 Hungarians fled the country to find refuge

10 http://catalog.osaarchivum.org/catalog/OAelDVar#findingaids (Accessed: 25 January 2019). 11 http://www.yellowstarhouses.org (Accessed: 25 January 2019).

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 Csaba Szilagyi

in Western Europe and overseas. This is probably the most diversely documented mass exodus in the holdings of Blinken OSA. The audio recordings12 of the Hungarian Desk of RFE/RL from November 1956 contain live, personal messages of refugees sent home from Austrian refugee camps, summarizing their defection, actual conditions and plans regarding their final destination. The personal papers13 of Gábor Magos, a former close coworker and foreign policy advisor to Prime Minister Imre Nagy reflect not only on the circumstances of Magos’ emigration to Switzerland in early 1957, but also reveal the hardships of keeping the ideals of the Hungarian Uprising alive in exile and of obtaining citizenship in a country with tough and complex immigration rules. The fate of some of the over 35,000 Hungarians who settled in the United States, mostly as a result of the work of the President’s Committee for Hungarian Refugee Relief, transpires from a variety of sources: the photo collection14 documenting their arrival, registration, life and distribution in the largest collection center set up in Camp Kilmer, New Jersey; the correspondence, photos, and publications of Gary Filerman15, who, as a student volunteer, was responsible for the administration and placement of Hungarian student refugees in 1956–1957 (fig. 1); the 600 structured interviews16 of the Columbia University Research Project on Hungary recorded in 1956–1957, which reveal very specific, personal information on the situation of the refugees; and the personal case files17 on the successful or failed resettlement and integration of Hungarian refugees from the records of the International Rescue Committee (1957–1959). The late 1980s (and later the 1992–1995 Yugoslav Wars again) found Hungary in the position of a hospitable country: thousands of ethnic Hungarians, but also Romanians escaped from the tightening grip of the Ceauşescu regime across the border to find refuge in Hungary or move forward to another country in Western Europe, and only a few of them were returned by the Hungarian authorities. This is well documented in the Hungarian Subject Files18 of RFE/RL, the items of the

12 http://1956.osaarchivum.org/items/browse?collection=13 (Accessed: 25 January 2019). 13 www.osaarchivum.org/press-room/announcements/Personal-papers-Gábor-Magos1914-2000 (Accessed: 25 January 2019). 14 http://www.refugees1956.org/2017/01/21/1956-hungarian-refugees-in-the-us-photo-gallery/ (Accessed: 25 January 2019). 15 http://www.refugees1956.org/2017/01/21/assisting-1956-hungarian-student-refugees-garyl-filerman/ (Accessed: 25. January 2019). 16 http://w3.osaarchivum.org/digitalarchive/blinken/index.html (Accessed: 25 January 2019). 17 http://www.refugees1956.org/2016/11/11/the-historian-and-sovietologist/ (Accessed: 25 January 2019). 18 http://catalog.osaarchivum.org/catalog/O8BAp9Ga (Accessed: 26 January 2019).

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Fig. 1: U.S. Army Photograph: Hungarian refugees at the main Visitors Reception Desk of the US Army Refugee Reception Center, Camp Kilmer, 6 January 1957, analogue black and white photograph, 220.9.9 Records of the President’s Committee for Hungarian Refugee Relief, National Archives and Records Administration (Published with permission, http://www.refugees1956.org/2017/01/21/1956-hungarian-refugees-in-the-us-photo-gallery/).

informal news agency called the Hungarian Press of Transylvania, or a collection of archival sources from the Hungarian National Archive and the Historical Archives of the Hungarian State Security. This latter comprises very important and mature documents on debates about the political, ethnic, legal and moral implications of demography and migration amidst decisive political changes in Hungary in 1988–1989. In March 1989, the Socialist Republic of Hungary offered to open a regional UNHCR office in Budapest, and in June, the Council of Ministers approved the country’s joining the 1951 Geneva Refugee Convention and the 1967 New York Protocol.19

19 www.parallelarchive.org/tag/menekültügy (Accessed: 26 January 2019).

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Fig. 2: Gerda Hernacz: “Thank you for everything!”, a poster made by GDR citizens to thank the employees of the Malteser emergency services in the refugee camp at Zugliget Church in Budapest, 27 August–24 September 1989, analogue color photograph (Wir waren so frei … Momentaufnahmen/Moments in Time 1989/1990. Published under CC BY–ND–NC 3.0 DE, https://www.wir-waren-so-frei.de/index.php/Detail/Object/Show/object_id/1732/lang/ de_DE).

The dismantling of the physical Iron Curtain between Hungary and Austria (May–June 1989), and the organizing of the Pan European Picnic (initially as a peace demonstration of local Hungarians and Austrians on the two sides of the border on August 19) by civil groups and newly formed opposition parties, when a limited opening of the Austrian border near Sopron resulted in the escape of a few hundred East German citizens20, created a new situation. Several thousands of other East German citizens, on tourist visa in Hungary, refused to return to their home country and demanded free passage to West Germany. They gathered in makeshift refugee camps across Budapest (fig. 2), happily assisted with aid, food and clothing by charity organizations, civilians and the Hungarian authorities,

20 Some of the personal effects left behind by these escapees surfaced during a collection day organized by Blinken OSA within Europeana 1989 in May 2014, a project that aimed to collect personal stories and memorabilia relating to the 1989 regime changes in six East European countries.

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too. On 10. September, the communist Hungarian government decided to suspend a 1969 treaty with East Germany, and let the over 8,000 East German refugees leave for West Germany through Austria. The complete video-documentation21 of this unique case, which significantly contributed to the toppling of communist rule and propelled Hungary to the forefront of democratic transition in Eastern Europe, is available at Blinken OSA in the collection of the Black Box Foundation, an independent filmmaking group which was present at and recorded almost all of the important events of the regime change in Hungary.

3 The Archives and Refugees Project of Blinken OSA With this rich and diverse collective social memory of refugee experiences accumulated and processed in the twentieth century, a dramatically increased number of refugees and asylum-seekers entering Hungary in the summer of 2015 caught the country totally unprepared. Amidst the uninspired operations of unwelcoming and incapacitated authorities at the Southern borders of and in the rapidly filling refugee camps across the country, the situation had become chaotic by August, and improvised transit zones were opened in some of Budapest’s railway stations, where around 1,000 refugees waited in underground passages and tents, or in nearby streets for some resolution to their unbearable condition. Meanwhile, ordinary citizens and supporters took over the role of the hesitating professional aid organizations, and distributed water, food, clothing, and other personal effects to those in need.22 At this point, Blinken OSA (and CEU) decided to actively do something consistent with its mandate and moral conviction of its employees, who had already been involved in regular cooking sessions for the refugees, and in transporting and distributing various goods individually. Thus, throughout the summer of 2015, the ground floor gallery space of the Archives was turned into a collection and dissemination center for bottled water, dry food and other useful items. In the fall of the same year, Blinken OSA’s Verzio International Human Rights Documentary Film Festival, in cooperation with the Hungarian Helsinki Committee, presented

21 http://catalog.osaarchivum.org/catalog/j5LN7vap#findingaids (Accessed: 26 January 2019). 22 Gábor Bernáth and Vera Messing: Infiltration of political meaning-production. Security threat or humanitarian crisis? 2016, https://cmds.ceu.edu/sites/cmcs.ceu.hu/files/attachment/ article/1041/infiltrationofpoliticalmeaning.pdf (Accessed: 29 January 2019).

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its first special section on people on the move (and their civilian helpers), entitled Screening the Refugee Crisis23, which featured internationally acclaimed and at the time lesser known, but important documentary films. Its DocLab Workshop reacted to the crisis on a more atomic level, aiming at elevating individual faces, particular voices and, first and foremost, human stories from the universal flux of refugees. Following these first attempts, the need for a more systematic and professional activity in relation with something that became Europe’s (and the world’s) primary concern, was imminent. Blinken OSA launched its Archives and Refugees Program24 the next year, which kick-started with a couple of academic events25 attempting to establish the role of recordkeeping and human rights archives vis-àvis refugees and asylum-seekers, as referred to in the introductory chapter of this paper. In 2017, Blinken OSA became one of the hosts of an international internship program26 organized by George Mason University, whose interns started systematically revisiting the archival collections from a refugee perspective. Work started in the Film Library27, which includes over 5,500 titles, mostly archived view copies of Verzio submissions, of which around 600 deal with the global refugee crisis to date (the number is growing annually). This selection of films is re-catalogued by recording enhanced metadata, which puts the country of origin, and thus the personal experience to the forefront of this archival approach, while temporal coverage and specific keywords from UNHCR’s controlled vocabulary on refugees are also added. The result will be a map based (fig. 3), geo-tagged, visual catalogue of refugee movies entitled Refugee DocsMap, which was launched online in early 2019. Concurrently, relevant online projects28 dealing with the travel, asylum seeking procedure, settlement or return of refugees, as well as professional literature on refugees’ and asylum-seekers’ rights and needs in records, recordkeeping

23 http://www.verzio.org/en/2015/film-program/Screening-the-Refugee-Crisis (Accessed: 29 January 2019). 24 http://www.osaarchivum.org/blog/Human-rights-archives-and-global-refugee-experience (Accessed: 29 January 2019). 25 http://www.osaarchivum.org/events/37th-Annual-Meeting-European-CoordinationCommittee-Human-Rights-Documentation (Accessed: 29 January 2019), and www.osaarchivum. org/events/“There-always-and-after”-documentation-archives-and-global-refugee-crisis (Accessed: 29 January 2019). 26 The four-month internship is part of a study abroad program entitled the Budapest Semester-New Borders in a Borderless Europe: Refugees, Minorities, and National Identity. 27 http://www.osaarchivum.org/content/Film-Library (Accessed: 30 January 2019). 28 Examples include Volunteers on the Rise, The Refugee Project, Humans of New York, or the Noncitizen Archive

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Fig: 3: Csaba Szilagyi: Visual geographic catalog of documentary films dealing with the global experience of forcibly displaced people, 13. February 2019, screenshot, Film Library of the Vera and Donald Blinken Open Society Archives (Published with permission, https://refugeedocsmap.osaarchivum.org/).

systems, archives, ICT and related policies are collected and stored in an exponentially growing database. To make use of archival sources, methods and experience related to refugees in teaching, Blinken OSA volunteered to join CEU’s pioneering Open Learning Initiative Program29, which offered higher education to registered refugees and asylum-seekers. As part of the program’s non-degree University Preparatory chapter, the Archival and Documentary Practices course introduced by the Archives in 2017, proposed to explore with the students the representation of the refugee experience in contemporary archives; develop archival research strategies for finding and evaluating vital information and other (online) sources for refugees; create human rights narratives based on these source; conduct group exercises in Visible Thinking30 practice in a Cold War and human rights archival context; and elaborate creative alternatives to digital storytelling and memory practices, where students could present and share their own refugee experiences.

29 https://olive.ceu.edu/about-olive (Accessed: 30 January 2019). 30 http://www.osaarchivum.org/blog/Visible-Thinking-Archives (Accessed: 30 January 2019).

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4 Assessing the Future In terms of enriching existing holdings with current imprints of refugee movements, Blinken OSA plans to work more closely with refugees, agencies and NGOs providing legal aid and protection to asylum seekers and refugees, to be able to archive personal stories of migration and diasporic experience collected by them. This cooperation could possibly result in the inclusion of unconventional archival formats, such as personal effects, and outputs of social media platforms and remote sensing devices (satellites, radars, GPS, heat cameras or radios). These latter could be especially important and sensitive sources of information, as the Mediterranean route remains a lethal crossing to Europe (with still over 2,000 deaths occurred in 2018).31 Another ‘irregular’ and vital source of information to consider for inclusion, as some recent literature suggests, are the refugees themselves, especially after they are administered by a country’s immigration system: records taken on the refugees’ living or health conditions in various collection, detention or distribution centers, in other words their bodily signs talk volumes about their chances of survival and violations of their human rights.32 Developing digital storytelling (blogs, photo-essays, and podcasts) and archiving platforms33 in cooperation with refugees and asylum-seekers would allow them to publish and publicly process their unique, personal or collective experiences, and reinforce their identities by cultural self-representation. These online platforms could function as “cyber-villages: a metaphor around which narratives of belonging and memories of home are constructed and performed.”34 Such cooperation would be beneficial for both parties, as it would result in the inclusion of document formats not necessarily preserved in institutional archives (such as personal memorabilia) or typically not in the possession of refugees (such as records of NGOs dealing with them). The joint digital curation of such platforms would empower refugees, who could make their voice heard and interpret what being a refugee, asylum-seeker or a stateless person meant to them. In

31 UNHCR Desperate Journeys: Refugees and migrants arriving in Europe and at Europe’s borders, https://www.unhcr.org/desperatejourneys/ (Accessed: 1 February 2019). 32 See for example Sherene H. Razack: Human waste and the border. A vignette. In: Law, Culture and the Humanities I-13 (2017), pp. 1–13. 33 For a detailed conceptual model of such platforms see Csaba Szilagyi: Re-archiving mass atrocity records by involving affected communities in postwar Bosnia and Herzegovina. In: Monroe Price and Sandra Ristovska (eds.): Visual imagery and human rights practice. Cham/Switzerland 2018, pp. 131–152. 34 Hariz Halilovich: Reclaiming erased lives. Archives, records, and memories in post-war Bosnia and the Bosnian diaspora. In: Archival Science 14 (2014), pp. 231–247.

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increasingly hostile social environments, where the terminology used with regard to and the public image of the refugees is generally negative, dehumanizing and adverse35, these platforms could have an impact on restoring a balanced public discourse on refugees, as able tools for fighting prejudice, xenophobia and misrepresentation. Public exhibitions on the refugee experience could have the same impact, as individual narratives of migration, involving protagonists with names, faces, ethnic and religious affiliation, and personal stories constructed with the help of archival documents would allow visitors to approach them with affect, emotions and imagination. As in the past36, Blinken OSA will continue to cooperate with relevant agencies or work on its own on producing further public exhibitions presenting the refugee movement “as an individual experience and as part of the collective conscience of the peoples of Europe.”37 Finally, as the most important professional affiliation in this regard, Blinken OSA is part of and will continue working in an international working group consisting of archives and information management scholars and professionals, whose aim is to create a network dealing with archives, refugees and human rights in and to records in the information age. The network, initiated at two subsequent meetings within the Archival Education and Research Institute38 in Toronto in 2017, and the Community Informatics Research Network39 in Prato in 2018, will review existing theoretical frameworks and professional practices of archiving and recordkeeping, vis-à-vis legal and administrative policies and systems, as well as technological infrastructures in relation with the global refugee crisis. It will identify problems, promote relevant research and propose necessary changes in archiving and recordkeeping procedures and policies, so that vulnerable groups pushed at the margins of societies, who are most dependent of these systems, would also benefit from and make use of them.40

35 Bernáth, Messing: Infiltration of political meaning-production. 36 See for example Blinken OSA’s contribution to the exhibit Outcast Europe, realized by IOM, Hungary in May 2018, www.iom.hu/sites/default/files/untitled folder/Outcast/Outcast Europe catalogue_FINAL.compressed.pdf (Accessed: 1 February 2019). 37 Outcast Europe. Memories of displacement and movement, exh. cat. Inter Alia, Athens 2018. 38 http://aeri2017.org/2017/05/07/diasporas-and-archival-grand-challenges/ (Accessed: 1 February 2019). 39 https://sites.google.com/monash.edu/cirnprato2018/home/human-right-and-recordworkshop (Accessed: 1 February 2019). 40 Disclaimer: Blinken OSA’s plans are envisaged for times of normality, when such activities are considered important and of deeply humanist nature. When projects of this kind are welcomed by democratic governments and the majority of the society. However, currently this is not the

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 Csaba Szilagyi

Bibliography Bernáth, Gábor and Vera Messing: Infiltration of political meaning-production. Security threat or humanitarian crisis? 2016, https://cmds.ceu.edu/sites/cmcs.ceu.hu/files/attachment/ article/1041/infiltrationofpoliticalmeaning.pdf (Accessed: 29 January 2019). Gilliland, Anne and Hariz Halolovich: Migrating memories. Transdisciplinary pedagogical approaches to teaching about diasporic memory, identity and human rights in archival studies. In: Archival Science 17 (2017), pp. 79–96. Halilovich, Hariz: Reclaiming erased lives. Archives, records, and memories in post-war Bosnia and the Bosnian diaspora. In: Archival Science 14 (2014), pp. 231–247. Harris, Verne: Antonyms of our remembering. In: Archival Science 14 (2014), pp. 215–229. Heller, Charles and Lorenzo Pezzani (Forensic Oceanography): Liquid Traces – The Left-to-Die Boat Case, https://vimeo.com/89790770 (Accessed: 22 January 2019). Outcast Europe. Exhibition about Hungary and migration, ed. by International Organization for Migration (IOM), exh. cat. IOM, Hungary, Budapest 2018, www.iom.hu/sites/default/files/ untitled%20folder/Outcast/Outcast%20Europe%20catalogue_FINAL.compressed.pdf (Accessed: 1 February 2019). Outcast Europe. Memories of displacement and movement, exh. cat. Inter Alia, Athens 2018. Razack, Sherene H.: Human waste and the border. A vignette. In: Law, Culture and the Humanities I-13 (2017), pp. 1–13. Refugees Rights in Records Symposium: Summary Report and Research and Development Questions Arising, 2018, http://www.osaarchivum.org/files/Final-Report_Symposium-onRefugee-Rights-in-Records.pdf (Accessed: 22 January 2019). Székely, Iván: The Recovering Identity Program. In: Leszek Pudłowski and Iván Székely (eds.): Open Society Archives. Budapest 1999, pp. 145–147, http://w3.osaarchivum.org/images/ stories/pdfs/publications/white-book.pdf (Accessed: 24 January 2019). Szilagyi, Csaba: Re-archiving mass atrocity records by involving affected communities in postwar Bosnia and Herzegovina. In: Monroe Price and Sandra Ristovska (Eds.): Visual imagery and human rights practice. Cham/Switzerland 2018, pp. 131–152. UNHCR Desperate Journeys: Refugees and migrants arriving in Europe and at Europe’s borders, https://www.unhcr.org/desperatejourneys/ (Accessed: 1 February 2019). UNHCR Global Trends: Forced Displacement in 2017, https://www.unhcr.org/globaltrends2017/ (Accessed: 29 January 2019).

case. As it is known, the Archives’ mother institution, CEU is being expelled from Hungary at the time of writing of this paper, exactly because devising and implementing such projects, and is set to open a new campus in Vienna. Although Blinken OSA is determined to stay in Budapest and continue its work, it is yet to be seen how much of these endeavors will be possible to continue in the near future.

Michaela Ullmann

Exilwissenschaften im Unterricht der Universität von Südkalifornien und Aktives Lernen an der Feuchtwanger Memorial Library Der folgende Aufsatz beginnt mit einem Überblick über die Geschichte und den Bestand der Feuchtwanger Memorial Library (FML) an der Universität von Südkalifornien, oder University of Southern California (USC), Los Angeles. Im Hauptteil des Aufsatzes wird dann auf die praktischen Anwendungen der an der USC befindlichen Sammlungen zum deutschsprachigen Exil eingegangen, insbesondere auf deren Nutzung in der Lehre. Dabei sollen auch die Voraussetzungen beleuchtet werden, die für die erfolgreiche Integration der Sammlungen und des Themas Exil in den Unterricht förderlich waren.

1 Geschichte und Bestandsübersicht der ­Feuchtwanger Memorial Library Nach dem Tod des Schriftstellers Lion Feuchtwanger am 21. Dezember 1958 vermachte seine Witwe, Marta Feuchtwanger, seinen gesamten Nachlass inklusive des Hauses 520 Paseo Miramar, der Rechte für Lion Feuchtwangers Werke, seine über 30.000 Bände umfassende Bibliothek, sowie seinen persönlichen und beruflichen Nachlass der USC (Abb.  1). Marta Feuchtwanger wurde von der Universität als „Feuchtwanger Curator“ angestellt und erhielt lebenslanges Wohnrecht in dem Haus, welches heute unter dem Namen Villa Aurora bekannt ist. Hilde Waldo, Feuchtwangers langjährige Sekretärin, absolvierte eine Ausbildung zur Bibliothekarin und arbeitete forthin für Marta Feuchtwanger, um Lion Feuchtwangers Vermächtnis als Autor historischer Romane, Exilant und Bibliophiler zu erhalten. Gemeinsam sortierten die beiden Frauen den Nachlass und die Bibliothek, vergaben Rechte für Neuausgaben von Feuchtwangers Werken und assistierten Forschern der Germanistik und Exilwissenschaften. (Abb. 2). Nach dem Tod Marta Feuchtwangers 1987 wurde ihr langjähriger Vertrauter und Nachlassverwalter, der Leiter des Deutsch-Studiengangs an der USC, Harold von Hofe, zum „Feuchtwanger Curator“. Aufgrund der grossen räumlichen Distanz zwischen USC und Villa Aurora sowie der schlechten Bedingungen zur Lagerung der antiquarischen, wertvolhttps://doi.org/10.1515/9783110542103-010

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 Michaela Ullmann

Abb. 1: Ein kleiner Einblick in die Bibliothek Lion Feuchtwangers, die mehr als 30.000 Bände umfasst, 2019 (Foto: USC Libraries).

len Bücher und Feuchtwangers persönlichem Nachlass in dem 1928 erbauten Haus nahe des Pazifiks entschloss sich die USC 1989 schliesslich zum Verkauf des Hauses. In Deutschland gründete sich der Kreis der Freunde und Förderer der Villa Aurora e.V., welcher das Haus erwarb. Aus dem Erlös des Hausverkaufs errichtete die USC die Feuchtwanger Memorial Library auf dem Campus der Universität, im zweiten Stock der 1933 erbauten Doheny Memorial Library (Abb. 3). Die FML bildet heute das Herzstück der Abteilung Sammlungen (Special Collections) der USC Libraries. Die Villa Aurora wurde von dem Architekten Frank Dimster restauriert und gegen Erdrutsche und Erdbeben gesichert. 1995 öffnete die Villa Aurora ihre Türen als Künstlerresidenz. Ein Großteil der Original Feuchtwanger-Möbel sowie rund 20.000 Bücher aus seiner umfangreichen Bibliothek und originale Kunstwerke verblieben bis heute in der Villa Aurora als Dauerleihgabe der USC. Hierdurch sowie durch die jährliche gemeinsame Vergabe des Feuchtwanger-Fellowships kooperieren die beiden Institutionen eng miteinander und fungieren als wichtige Erinnerungsinstitutionen des deutschsprachigen Exils in Los Angeles. 1989 kam Marje Schuetze-Coburn, die heutige Feuchtwanger Bibliothekarin, an die USC und begann ihre Arbeit unter Harold von Hofe. Zunächst ar-

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Abb. 2: Feuchtwangers Werke wurden weltweit in viele Sprachen übersetzt (Foto: USC Libraries).

beitete Schuetze-Coburn an der Katalogisierung von Feuchtwangers Bibliothek, ab 1996 und nach der Emeritierung von Hofes, übernahm sie die Leitung der FML (bis 2006 unter dem Titel „Feuchtwanger Curator“ und ab 2006 als „Feuchtwanger Librarian“). Im Oktober 2006 folgte ihr Michaela Ullmann als „Feuchtwanger Curator“ nach, da Schuetze-Coburns Verantwortungen sich zunehmend auf leitende Tätigkeiten der gesamten Bibliotheken der USC ausgeweitet hatten. Seit 2010 ist Michaela Ullmann als „Exile Studies Librarian“ für die FML und alle Exil-Sammlungen in enger Zusammenarbeit mit Marje Schuetze-Coburn tätig.

2 Der Bestand der FML und der Exil-Sammlungen an der USC Der Kernbestand der FML besteht aus den Sammlungen, die gemeinsam mit der Schenkung durch Marta Feuchtwanger an die USC gelangten. Dies sind natürlich die Nachlässe Lion und Marta Feuchtwangers, aber auch die Teilnachlässe Hanns

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 Michaela Ullmann

Abb. 3: Die heutige Feuchtwanger Memorial Library auf dem Campus der USC. Hier finden auch alle Klassenbesuche statt, 2019 (Foto: USC Libraries).

Eislers und Heinrich Manns aus dem kalifornischen Exil. Hanns Eisler hatte seinen Teilnachlass in der Obhut der Feuchtwangers gelassen, als er 1947 in der McCarthy-Ära die USA verlassen musste. Den Teilnachlass Heinrich Manns hatten die Feuchtwangers entweder bereits vor oder kurz nach dem Tod Heinrich Manns an sich genommen, um ihn zu sichern (Abb. 4). Unter den weiteren Exil-Sammlungen, welche die USC entweder durch Schenkung oder Ankauf über die Jahre hinzufügen konnte, sind der Nachlass des Literaturagenten und Mitbegründers der Pazifischen Presse, Felix Guggenheim, der kalifornische Nachlass des Philosophen Ludwig Marcuse, ein Teilnachlass des österreichischen Schauspielers Oskar Homolka, die Nachlässe des Choreografen Ernst Matray und der Schauspielerin Grete Mosheim, der Nachlass des Komponisten Ingolf Dahl und des Schriftstellers Julius Berstl. Die Nachlässe Harold von Hofes sowie der bekannten Exilforscherin Marta Mierendorff können ebenfalls zu den Exil-Sammlungen gezählt werden. Besonders in den vergangenen Jahren wurden darüber hinaus weitere Nachlässe von deutschsprachigen Exilanten in den USA angekauft, die das Exil in anderen Berufssparten, also nicht das der Akademiker, Künstler, oder Intellektuellen beleuchtet. Unter diesen Nachlässen befinden sich, unter anderen, die

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Abb. 4: Ein Auszug aus der Korrespondenz zwischen Lion und Marta Feuchtwanger und Charles und Oona Chaplin (1950er Jahre), welche sich in den Lion Feuchtwanger Papers befindet (Foto: USC Libraries).

Schnurrmann Papers, die Paul Kiess Papers und die Reich and Hayman Family Papers.1 Ergänzt werden diese Nachlässe, die alle in der Abteilung Special Collections verwaltet werden, durch weitere Ressourcen auf dem Campus der USC, wie etwa dem USC Shoah Foundation Visual History Archive (Video Interviews mit Holocaust Überlebenden und Überlebenden anderer Genozide, etwa in Guatemala, Armenien, Ruanda), der Holocaust und Genozid Bibliothek und dem Warner Brothers Archive.

1 Findbücher aller sich an den USC Libraries befindlichen Sammlungen können unter https:// archives.usc.edu/ eingesehen und durchsucht werden.

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 Michaela Ullmann

3 Praktische Anwendungen der Exil-Sammlungen im Unterricht Besondere Herausforderungen bei der Integration der Exil-Sammlungen in den Unterricht an der USC waren vor allem die Auflösung des Lehrstuhls für Germanistik im Hauptfach (ab 2008) sowie die geringe Zahl von Studierenden, die deutsche Sprachkenntnisse besitzen. Um den Herausforderungen entgegenzuarbeiten, wurde der Fokus zunächst auf drei Gebiete gelegt: Vermehrte Veranstaltungen und Outreach, die die Exil-Sammlungen bekannter bei den Studierenden und Lehrenden der USC machen, die Akquise von Unterrichtsmaterialien zum Exil in englischer Sprache sowie von visuellen Materialien und die Identifikation von Kursen außerhalb der Germanistik, in welchen die Exilthematik integriert werden und ausgebaut werden kann. Um Feuchtwanger zunächst allgemein bekannter auf dem Campus der USC zu machen, wurde 2010 sein einziges autobiografisches Werk Der Teufel in Frankreich für eine USC-interne Neuauflage ausgewählt. Es lag bereits eine recht gute englischsprachige Übersetzung des Werkes vor, die allerdings nur noch antiquarisch erhältlich war. Der Teufel in Frankreich eignete sich aufgrund seines Themas, Feuchtwangers Internierung und Flucht aus der französischen Gefangenschaft, besonders dazu, Synergieeffekte durch die Zusammenarbeit mit Lehrenden zu erzielen, die den Holocaust, Jüdische Geschichte und Exilthematiken unterrichteten. Auch wurde das Werk von den Herausgebern als gut lesbar und für ein breites Publikum geeignet sowie als gute Einstiegslektüre zu Feuchtwanger und zur Exilthematik eingeschätzt. Ergänzt durch eine Zeitlinie der historischen Begebenheiten, eine Karte Europas zur Zeit von Feuchtwangers Internierung (ca. 1938–1940), sowie durch ein Essay von Marta Feuchtwanger, in welchem sie später weitere Fakten und Details zu ihrer Flucht verraten konnte,2 wurde die Ausgabe unter dem englischen Titel The Devil in France3 in einer Auflage von 30.000 Exemplaren gedruckt. Auch ein E-Book4 wurde erstellt. Dank eines Grants konnten ebenfalls zwei die Veröffentlichung begleitende Veranstaltungen organisiert werden: Eine Panel Diskussion zum Thema Zensur und Verfolgung von Schriftstellern und eine

2 Marta Feuchtwanger: The Escape. In: Lion Feuchtwanger: The Devil in France. My Encounter with Him in The Summer of 1940, hg. von Bill Dotson, Marje Schuetze-Coburn und Michaela Ullmann. Los Angeles/CA 2010, S. 265–276. 3 Lion Feuchtwanger: The Devil in France. My Encounter with Him in The Sumer of 1940, hg. von Bill Dotson, Marje Schuetze-Coburn und Michaela Ullmann. Los Angeles/CA 2010. 4 Feuchtwanger: The Devil in France, https://libraries.usc.edu/sites/default/files/devilin francelibrary.pdf (Zugriff: 5. 1. 2019).

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Führung durch die Villa Aurora mit einer dort stattfindenden Lesung aus Briefen Marta und Lion Feuchtwangers aus den Jahren des französischen Exils. Darüber hinaus wurde das E-Book an alle neuen Studenten und Studentinnen der USC versandt. Die Druckauflage des Buches wurde an den verschiedenen Bibliotheksstandorten des Universitätscampus sowie während der Orientierungsveranstaltungen für neue oder transferierende Studenten und Studentinnen verteilt. Nach dem Erscheinen der USC-internen Ausgabe von The Devil in France und nach den erfolgreich abgeschlossenen Begleitveranstaltungen lag der Fokus in den Jahren nach 2010 verstärkt darauf, die Exil-Sammlungen besser in das Kursangebot der USC zu integrieren. Rückblickend konnten einige Faktoren identifiziert werden, die die erfolgreiche Nutzung der Exil-Sammlungen in zahlreichen Kursen verschiedener Disziplinen begünstigten. So war es etwa ausschlaggebend, dass in den vorangegangenen Jahren die Findbücher aller Exil-Sammlungen überarbeitet und ergänzt wurden, dass Findbücher für Sammlungen, die bisher unerschlossen waren, erstellt wurden, und dass die Findbücher aller Sammlungen der USC Libraries Special Collections schließlich in ein einheitliches System5 übertragen wurden, welches es den Nutzern ermöglichte, über die Website der Bibliothek online auf die Findbücher zuzugreifen. Ein weiterer begünstigender Faktor war, dass Sammlungen an Universitäten in den USA traditionell für Unterrichtsbesuche benutzt wurden. Besonders in den frühen 2000er Jahren begann eine Entwicklung dahin, dass Special Collections Abteilungen vermehrt Klassenund Kursbesuche ermöglichten und förderten. Mit dieser Entwicklung ging auch einher, dass Bibliothekare in Special Collections ihren Unterricht weniger nach dem „Show & Tell“6-Prinzip gestalteten, sondern mehr „Active Learning“ integrierten. Durch diese praktische Heranführung der Studierenden an Archivmaterialien und antiquarische Bücher avancierten die Sammlungen an universitären Einrichtungen schnell zu „Laboratorien der Geisteswissenschaften“. Seit dem Beginn dieser Entwicklung hat sich an Akademischen Bibliotheken in den USA viel getan. Heute werden zahlreiche Fortbildungsmaßnahmen zum Thema „Teaching with Rare Materials“ für Bibliothekare und Bibliothekarinnen angeboten. Viele Universitäten haben Bibliothekare und Bibliothekarinnen eingestellt, die auf das Unterrichten mit Archiven und antiquarischen Büchern spezialisiert sind. Im Juni 2018 wurden die „Guidelines for Primary Source Lite-

5 Zunächst wurde Archivists’ Toolkit genutzt. In späteren Jahren wechselten die USC Libraries zu Archives’ Space. 6 Show & Tell: Der Bibliothekar oder die Bibliothekarin zeigt die Archivmaterialien oder Bücher und spricht dabei über deren Besonderheiten.

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racy“7 durch die RBMS8 und SAA9, die zwei wichtigsten Fachorganisationen für Bibliothekare und Bibliothekarinnen für Special Collections veröffentlicht. Die Guidelines stellen erstmals ein Rahmenwerk für das Unterrichten im Bereich der Sammlungen auf und etablieren eine Auswahl von möglichen Lernzielen. Allein die Existenz der Guidelines zeugt von der Bedeutung, die das Unterrichten in Special Collections Abteilungen in den USA mittlerweile erreicht hat. Doch wie sieht der Unterricht und die Integration der Exil-Sammlungen in den Unterricht konkret aus? 2009 begann eine erste, wichtige Kollaboration zwischen der Exile Studies Bibliothekarin Michaela Ullmann und Wolf Gruner, Shapell-Guerin Chair in Jewish Studies und Professor of History an der USC seit 2008. Gruner besuchte mit seinen Klassen „The Holocaust in 20th Century Europe“ (Spring Semester 2009) und „The Holocaust in Literature and Film“ (Fall Semester 2009) die Feuchtwanger Memorial Library zum ersten Mal. Während des Besuchs in der Sammlung erhielten die Studenten und Studentinnen eine Einführung in die Benutzung des Bibliothekskatalogs und die Findbücher, einen Überblick der Sammlungen sowie eine Präsentation zur Geschichte und zum Bestand der Feuchtwanger Memorial Library und der Exil-Sammlungen der USC. Im Anschluss wurden die Studenten und Studentinnen durch die in der Bibliothek ausgelegten ausgewählten Archivalien zum Thema Exil und Holocaust geführt. Die Besuche in der FML waren so erfolgreich, dass Wolf Gruner auch in den folgenden Jahren mit seinen Klassen zurückkehrte und sich eine enge Zusammenarbeit entwickelte. Angeregt durch diesen Erfolg wurde im Kurskatalog nach weiteren Klassen recherchiert, in welche die Exil-Sammlungen integriert werden konnten. So kamen über die nächsten Jahre weitere Klassen hinzu, zum Beispiel Nick Strimples Seminar „The Holocaust and the Creative Impulse“ oder Yaffa Weismans Seminar „Literature of Resistance“. Aufgrund der bereits erwähnten Bewegung hin zum „Active Learning“ entwickelte sich das Konzept der Klassenbesuche ab ca. 2011 insgesamt hin zur aktiven Partizipation der Studenten und Studentinnen. Anstelle der Führung durch ausgewählte Archivalien nach der Einführungspräsentation wurden die Studenten und Studentinnen nun in Gruppen aufgeteilt. Jeder Gruppe wurde eine zuvor sorgfältig ausgewählte kleine Anzahl von Archivmaterialien zugeteilt. Diese bestanden, je nach Thema und Kenntnisstand der Studenten, zum Beispiel aus Zeitungsartikeln von deutsch-

7 SAA und ACRL/RBMS (Hg.): Guidelines for Primary Source Literacy, https://www2.archivists. org/sites/all/files/Guidelines%20for%20Primary%20Souce%20Literacy_AsApproved062018_1. pdf (Zugriff: 5. 1. 2019). 8 Rare Books and Manuscripts Section, American Library Association. 9 Society of American Archivists.

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Abb. 5: Studenten und Studentinnen in der Feuchtwanger Memorial Library beim Active Learning (Foto: USC Libraries).

sprachigen Exilanten, aus Reden im PEN Club oder im amerikanischen Radio, aus Nazi Propaganda gegen die exilierten Intellektuellen, Ausweis- und Einreisepapieren, Fotos und Korrespondenz mit ausländischen Behörden, Freunden, Kollegen, Verlegern oder Verwandten. Die Studenten und Studentinnen erhielten ein Arbeitsblatt, welches einen kurzen Fragenkatalog enthielt und anhand dessen sie die ihnen vorliegenden Materialien analysieren sollten. Dabei kam es nicht primär auf die Suche nach konkreten Antworten an, sondern darauf, dass die Studenten und Studentinnen lernten, wie man sich Primärquellen nähert, welche Herausforderungen es dabei gibt, und dass sie bereits zu Beginn ihres Studiums an die Archivrecherche herangeführt wurden. Natürlich lernten sie durch die intensive Auseinandersetzung mit den Materialien auch viel über das deutschsprachige Exil in Kalifornien. Nachdem die Studenten und Studentinnen die Materialien ausgiebig untersucht und miteinander diskutiert hatten, präsentierte jede Gruppe ihre Erkenntnisse. Herausforderungen, die sich ergaben,

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Erkenntnisse über das deutschsprachige Exil in Kalifornien und weiterhin offene Fragen wurden besprochen (Abb. 5). Da die Möglichkeiten des Lernens über das Exil und über die Benutzung der Sammlungen in einem einmaligen Besuch sehr begrenzt blieben, wurde ab 2011 ein „Extra Credit Assignment“ eingeführt, welches es Professoren und Professorinnen ermöglichte, dass ihre Studenten und Studentinnen zusätzliche Punkte erhalten konnten, um ihre Noten zu verbessern oder Defizite auszugleichen. Dazu mussten sie eine von den Bibliothekarinnen konzipierte Übung ausführen und einreichen. Die Übung basierte auf einer Auswahl von verschiedenen Zeitungsartikeln und Essays Feuchtwangers aus der Sammlung der USC. Nachdem sich die Teilnehmenden für eines der Dokumente entschieden hatten, mussten sie es im Findbuch lokalisieren und anfordern, um es dann im Lesesaal einzusehen. In einem kurzen Aufsatz galt es dann, sich mit dem Stück zu befassen und dabei auch darzustellen, wie sie das Arbeiten mit Primärquellen empfanden. Diese „Extra Credit Assignments“ wurden von vielen Professoren und Professorinnen angenommen. In den persönlichen Stellungnahmen der Studenten und Studentinnen zum Arbeiten mit Primärquellen stellte sich heraus, dass diese Übungen von den Studenten und Studentinnen als sehr positiv bewertet wurden, da sie sie an das Arbeiten im Lesesaal heranführten und es ihnen erlaubten, sich den Primärquellen direkt und unmittelbar zu nähern. Über die nächsten Jahre bis zum heutigen Tag nahm die Anzahl der Seminare, die die Exil-Sammlungen besuchen und in den Unterricht integrieren, um ein Vielfaches zu (Abb. 6). Auch kamen zahlreiche weitere Seminare hinzu, die insbesondere die Exil-Sammlungen nutzen. Im Frühjahr 2015 konzipierte und unterrichtete Britta Bothe vom Department for German Studies10 seit vielen Jahren oder vielmehr Jahrzehnten das erste Seminar über das deutschsprachige Exil in Kalifornien, „The German Exile Experience“. Die Studenten und Studentinnen ihres Seminars besuchten die FML und die Exil-Sammlungen mehrmals während des Semesters. Jede/r von ihnen befasste sich in der Abschlussarbeit mit einem Exilanten oder einer Exilantin und recherchierte zu dieser Person im Archiv. Zusätzlich ermöglichte Britta Bothe in Kooperation mit der Exile Studies Bibliothekarin und dem damaligen GIS Bibliothekar Andrzej Rutkowski eine digitale Präsentation der studentischen Arbeiten über die Plattform ArcGIS. Auf der Plattform wurden zum Ende des Semesters ein Einführungstext, die Arbeiten der Studenten und Studentinnen zu den jeweiligen Exilanten und Exilantinnen sowie eine digitale Weltkarte, die ihre Wege ins Exil nachzeichnet, veröffentlicht.

10 Nach der Schließung des Hauptfachstudiums wird Deutsch weiterhin als Nebenfach unterrichtet.

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Abb. 6: Studenten und Studentinnen des German Departments der California State University Long Beach in der Feuchtwanger Memorial Library (Foto: Josephine Claus).

In den darauffolgenden Jahren folgten weitere Seminare, die dem deutschsprachigen Exil gewidmet waren, so etwa ein Seminar unterrichtet von Sean Nye in der Thornton School of Music der USC. Auch diese Seminare banden die ExilSammlungen in den Unterricht ein und die Studenten und Studentinnen nutzen die Primärquellen intensiv für ihre Forschung. Das Konzept der Besuche der Sammlung hat sich über Jahre hinweg erhalten, es wurde allerdings weiter ausgebaut. So ergab eine 2013 durchgeführte Umfrage unter Studenten und Studentinnen, dass sie sich auch nach dem Besuch in der Sammlung noch nicht ausreichend in der Lage fühlten, ein Findbuch zu lokalisieren und entsprechende Dokumente zu finden und zu bestellen. Heute beinhaltet das Arbeitsblatt, mit dem die Studenten und Studentinnen arbeiten, daher eine Übung, in welcher sie das Findbuch benutzen müssen. Eine weitere Ergänzung ist die Diskussion von „Archival Silences“. Als „Archival Silences“ werden Auslassungen in einer Sammlung bezeichnet. Diese können beabsichtigt sein, zum Beispiel aufgrund von Privileg, gesellschaftlichem Status, Fokus oder schlichtweg Ausgrenzung, oder sie können zufällig oder materialbedingt entstehen. Durch die Diskussion werden die Studenten und Studentinnen dazu angeleitet, darüber nachzudenken, dass Sammlungen nicht Geschichte real widerspiegeln, sondern dass es in Ergänzung zu der Erforschung der überlieferten Archivalien genauso so wichtig ist danach

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zu fragen, welche Perspektiven oder Ereignisse nicht im Archiv repräsentiert sind, und welche Gründe diesen „Archival Silences“ zugrunde liegen. Diese Thematik erfährt besonders bei Studenten und Studentinnen in den USA im Zeitalter der „Women’s Marches“, der Trump-Ära, der „Fake News“, und der „#MeToo“-Bewegung großes Interesse. Während des Unterrichts mit den Exil-Sammlungen kommt es daher häufig vor, dass Studenten und Studentinnen Parallelen zwischen der Einschränkung der Pressefreiheit in einigen Ländern und der Degradierung seriöser Medien als „Fake News“ heute und in der Zeit 1933–1945 ziehen. Auch sprechen Studenten und Studentinnen häufig die Parallelen zwischen der Internierung von Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis oder die Ausgrenzung bestimmter Religionen oder Herkunftsländer durch den „Muslim-Ban“11 in den USA heute und der Judenverfolgung in Deutschland 1933–1945 an. Über den klassischen Unterricht hinaus gibt es weitere Möglichkeiten, die Exil-Sammlungen auch in den kreativen Fächern in den Unterricht zu integrieren. Eine interessante und fruchtbare Zusammenarbeit hat sich mit der USC School of Dramatic Arts ergeben. Diese soll hier erläutert werden, da sie die Möglichkeit der Integration von Exil-Sammlungen in die Lehre in einer eher unkonventionellen Art darlegt. Nach der Veröffentlichung der USC-internen Ausgabe von Feuchtwangers The Devil in France wurde Oliver Mayer von der USC School of Dramatic Arts auf Feuchtwanger und die Exil-Sammlungen an der USC aufmerksam. Schnell entstand die Idee, dass der von ihm geleitete Western Edge Playwrights Salon, ein regelmäßiges, von ihm geleitetes Zusammentreffen junger Dramatiker und Dramatikerinnen, sich Feuchtwanger widmen solle. Marje Schuetze-Coburn und Michaela Ullmann, die Bibliothekarinnen an der Feuchtwanger Memorial Library, wurden eingeladen und hielten eine Präsentation für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die einen Einstieg in Feuchtwangers Leben und Werk bot. Begleitet wurde die Präsentation der Digitalisate von in der Sammlung befindlichen Dokumenten und Fotos. Am Ende der Präsentation und der darauf-

11 Im Januar 2017 unterzeichnete Präsident Trump eine „Executive Order“, welche Staatsangehörigen von Ländern mit muslimischen Majoritäten die Einreise in die USA für eine Dauer von 90 Tagen untersagen, die Einreise aller Flüchtlinge für mindestens 120 Tage verbieten und Syrern die Einreise in die USA auf unbestimmte Zeit verwehren sollte. Nach mehreren Gerichtsverhandlungen, in welchen Trumps Entscheidung angefochten wurde, trat der dritte „Muslim Ban“ in Kraft, nach welchem Staatsangehörigen der Länder Tschad, Iran, Lybien, Somalia, Syrien und Jemen Visaanträge verweigert werden können. Dieser Bann kann ebenfalls auf Verwandte von US-Staatsangehörigen und Inhabern einer US-Greencard, welche ursprünglich aus diesen Ländern stammen, angewandt werden.

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folgenden Diskussion und Beantwortung von Fragen zog jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin des „Western Edge Playwright Salons“ einen Zettel. Die Zettel waren zuvor von Mayer, Schuetze-Coburn und Ullmann vorbereitet worden und enthielten verschiedene, sehr knappe Auszüge aus The Devil in France. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen hatten nun einige Wochen Zeit, auf dem gezogenen Auszug basierend je ein sehr kurzes, etwa 3-minütiges Theaterstück zu schreiben. Dabei war es ihnen völlig frei überlassen, ob sie eng am Originaltext und Kontext bleiben wollten oder ihn lediglich als Inspiration für eine sonst nicht in direktem Zusammenhang zur Thematik stehenden Arbeit nutzen wollten. Einige der Teilnehmenden besuchten das Archiv für weitere Recherchen oder kontaktierten die Bibliothekarinnen für weitergehende Informationen. Mayer betreute sie während des Schreibens und leitete sie in ihren Revisionen der Stücke. Für die Aufführung der Stücke wurden Schauspiel-Studierende der School of Dramatic Arts rekrutiert, welche die kurzen Theaterstücke im Rahmen eines „Stage Readings“ in der Villa Aurora inszenierten. Die Vorstellung wurde zu einem großen Erfolg. Nicht nur war die Qualität der Stücke sehr gut, auch hatten sich die Studierenden eng mit dem Inhalt der ihnen ausgehändigten Auszüge und dem Thema Verfolgung, Internierung und Exil auseinandergesetzt. Während einige Stücke eng am Thema blieben und Lion und Marta Feuchtwanger als Protagonisten benutzen, versetzten andere Stücke die Zuschauer und Zuschauerinnen etwa in die Zukunft oder in die Gegenwart, so zum Beispiel in ein Auffanglager für syrische Flüchtlinge. Die Kollaboration wurde von den Bibliothekarinnen und Oliver Mayer als so erfolgreich beurteilt, dass man beschloss, sie im Rahmen einer Serie unter dem Titel „Feuchtwanger Refreshed“ weiterzuführen. 2015 folgte „Feuchtwanger Refreshed #2“ und dieses Mal erhielten die teilnehmenden Studenten und Studentinnen auf Englisch übersetzte Synopsen oder Notizen für Kurzgeschichten, die Feuchtwanger beachsichtigt hatte zu schreiben, aber nie vollendete. Aufgabe war es diesmal, die unvollendeten Geschichten auf der Basis der vorliegenden Angaben Feuchtwangers als kurze Theaterstücke zu vollenden. Wieder wurden die fertiggestellten Stücke in der Villa Aurora unter großem Applaus als „Stage Readings“ inszeniert. 2016 folgte „Feuchtwanger Refreshed #3“. Die Vorgabe diesmal: Auszüge aus Feuchtwangers offenem Brief an den Bewohner seines Hauses, Mahlerstrasse 812. Dieses Mal wurden die Inszenierungen sogar live über Facebook übertragen. Für das Frühjahr 2019 ist „Feuchtwanger Refreshed #4“ geplant. Die Inspiration für die Stücke werden diesmal Briefe und Dokumente von Exilanten und Exilantinnen sein, die im Rahmen der Wanderausstellung Exile.

12 Lion Feuchtwanger: Offener Brief an den Bewohner meines Hauses Mahlerstrasse 8 in Berlin. 20. März 1935. USC Libraries, Lion Feuchtwanger Papers, Box D8a, Folder 68.

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 Michaela Ullmann

Experience and Testimony des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt an der USC ausgestellt sein werden. Die Stücke werden während der Ausstellungseröffnung und inmitten der Ausstellung aufgeführt werden. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Studierenden, die an den Programmen „Feuchtwanger Refreshed“ teilnahmen, über die Jahre hinweg zu Kennern und Kennerinnen Feuchtwangers geworden sind und sich über den kreativen Umgang mit den ausgewählten Texten und Dokumenten dem Thema Exil näherten. Gleichzeitig entstanden, basierend auf den Sammlungsmaterialien, neue und inspirierende künstlerische Werke zum Thema Exil, welche durch die Kollaborationen ein neues Publikum erreichten. Eine Ausgabe mit allen Stücken der Serie „Feuchtwanger Refreshed“ ist in Planung.

4 Abschluss Mit der erfolgreichen Integration der Exil-Sammlungen in den Unterricht an der USC hoffen die Bibliothekarinnen an der FML, einen Beitrag dazu zu leisten, dass Studenten und Studentinnen verschiedenster Disziplinen an das Thema Exil herangeführt werden können. Dabei sollten neben den klassischen Methoden und Kursen ebenfalls unkonventionelle oder neuartige Wege, wie zum Beispiel die Serie „Feuchtwanger Refreshed“ und auch Digital-Scholarship-Projekte, erprobt werden. Projekte solcher Art, die die Studierenden dazu einladen, die Archivmaterialien als Grundlage für neue, oftmals auch kreative Arbeiten zu nutzen, erweitern das Archiv über den historischen Kontext und die klassische Nutzung hinaus. Sie tragen dazu bei, dass das Archiv durch diese Arbeiten nachfolgender Generationen erweitert, kommentiert, und ergänzt wird. Der vorliegende Beitrag hofft dazu anzuregen, auch an anderen Institutionen die Suche nach interdisziplinären Kollaborationspartnern und neuen, auch kreativen Projekten auszubauen und Studenten und Studentinnen frühzeitig an die Arbeit im Archiv und mit Primärquellen heranzuführen.

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Literaturverzeichnis Feuchtwanger, Lion: The Devil in France. My Encounter with Him in The Sumer of 1940, hg. von Bill Dotson, Marje Schuetze-Coburn und Michaela Ullmann. Los Angeles, CA 2010. Feuchtwanger, Marta: The Escape. In: Lion Feuchtwanger: The Devil in France. My Encounter with Him in The Summer of 1940, hg. von Bill Dotson, Marje Schuetze-Coburn und Michaela Ullmann. Los Angeles 2010, S. 265–276. SAA und ACRL/RBMS (Hg.): Guidelines for Primary Source Literacy, https://www2.archivists. org/sites/all/files/Guidelines%20for%20Primary%20Souce%20Literacy_AsApproved 062018_1.pdf (Zugriff: 5. 1. 2019).

Sonja Arnold, Lydia Schmuck

Globale Archive / Globale Überlieferung. Exilliteratur und weltliterarische Netzwerke 1 Einführung „[…] aus den Städten, den Institutionen, den Signalen aus Archiven und aus den Korrespondenzen mit der Mitwelt lassen sich Verbindungen und Beziehungen erkennen, von denen wir noch nichts oder nur wenig wußten.“1 So beschreibt der Romanist Karlheinz Barck die Funktionsweise eines komplexen Netzwerkes, das sich – hier bezogen auf den in der Türkei und später in den USA exilierten Romanisten und Literaturtheoretiker Erich Auerbach  – aus den Erfahrungen des Exils speist. Damit adressiert er zwei wichtige Punkte, die in den aktuellen theoretischen Debatten um globale Literaturen und Weltliteratur(en)2 eine entscheidende Rolle spielen: Das Exil ist kein nationales oder binationales Phänomen, sondern vielmehr ein transnationales oder sogar globales. Zu vielfältig sind allein die Transitwege, die meist mehrere Stationen und kulturelle Einflüsse beinhalteten. In den (temporären) Zufluchtsländern entstehen binnen kürzester Zeit komplexe Netzwerke, die ebenso von Austauschwirkungen zwischen verschiedenen Sprach- und Kulturräumen zeugen wie von bestehenden Gruppen, denen sich Exilant/innen aus unterschiedlichen Herkunftsländern

1 Karlheinz Barck: Erich Auerbach in Berlin. Spurensicherung und ein Porträt. In: Karlheinz Barck und Martin Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen. Berlin 2007, S. 195–214, hier S. 195. 2 Vittoria Borsò: Europäische Literaturen versus Weltliteratur – Zur Zukunft von Nationalliteratur. In: Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (2004), S. 233–250. Vittoria Borsò: Lateinamerika anders denken. Literatur Macht Raum. Düsseldorf 2015. Ottmar Ette: TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte. Berlin, Boston 2012. Ottmar Ette: WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart 2017. B. Venkat Mani: Recoding World Literature. Libraries, Print Culture, and Germany’s Pact with Books. New York 2016, Kap. 1: Introduction: World Literatur as a Pact with Books, S. 9–48. Gesine Müller: Literaturen der Amerikas und ihre Rezeption in Deutschland. Weltliteratur als globales Verflechtungsprinzip. In: Gesine Müller (Hg.): Verlag Macht Weltliteratur. Lateinamerikanisch-deutsche Kulturtransfers zwischen internationalem Literaturbetrieb und Übersetzungspolitik. Berlin 2014, S. 117–132. Gesine Müller, Jorge Locane und Benjamin Loy (Hg.): Re-Mapping World Literature. Writing, Book Markets, and Epistemologies between Latin America and the Global South. Berlin, Boston 2018. Sandra Richter: Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. München 2017. https://doi.org/10.1515/9783110542103-011

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anschlossen, oder auch neuen Gruppierungen, in denen sie sich zusammenfanden. Vor diesem Hintergrund muss für die Archive des Exils, so die zentrale These des Beitrags, das Konzept „globaler Archive“ zugrunde gelegt werden und zwar für die „zwei Körper des Archivs“3 nach Knut Ebeling und Stephan Günzel: Zum einen müssen – auf institutioneller Ebene – die Sammelstätten, die Dokumente aus Exilkontexten aufbewahren, sich selbst in einem globalen Kontext begreifen und ihre zentralen Funktionen darauf ausrichten, d. h., sie müssen ihre Sammlungs-, Erschließungs- und Präsentationsstrategien jenseits nationaler Interessen auf inhaltliche, forschungsbezogene Aspekte ausrichten und ihre Bestände etwa durch digitale Vernetzung global sichtbar machen und weltweite Zugänglichkeit ermöglichen. Zum anderen muss – auf konzeptioneller Ebene – der Begriff eines globalen Archivs entwickelt werden, der die nationale Archiv- und Geschichtslogik aufbricht und den Blick für transnationale Fragestellungen öffnet. Nur so kann etwa auf Basis von Exildokumenten eine Literatur- und Kulturgeschichte jenseits nationaler Grenzen geschrieben werden. Am Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) wurden in den letzten Jahren zwei zentrale Projekte gestartet, mit denen auf Basis des Konzepts „globaler Archive“ Dokumente aus Exil- und Migrationskontexten erschlossen und erforscht werden. Dabei wird die traditionelle, nationale Sicht zugunsten einer transnationalen, globalen Perspektive aufgebrochen. Diese beiden Projekte und deren theoretische Implikationen für die Verbindung zwischen Exilliteratur und globalen Literaturen sind Gegenstand dieses Beitrags: Mit der Initiative „Global Archives“4 (gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, dem Auswärtigen Amt und der Gerda Henkel Stiftung) wurde ein Konzept zur forschungsgeleiteten Erschließung deutschsprachiger Dokumente aus dem Kontext von Flucht und Exil in weltweiten Archiven entwickelt. Mit dem Internationalen Archivforschungsprojekt „1968. Ideenkonflikte in globalen Archiven“5 (gefördert von der VolkswagenStiftung) wurde der Ansatz auf die ideengeschichtliche Forschung übertragen: Das Projekt nimmt die globalen Linien der Bestände des DLA in Bezug auf die Ideengeschichte von „1968“ in den

3 Knut Ebeling und Stephan Günzel: Archivologie. Berlin 2009, S. 10. Zum Verhältnis der Institution Archiv und Archivtheorie bzw. Wissenskonstitution vgl. Knut Ebeling: Wilde Archäologien 2. Begriffe der Materialität der Zeit  – von Archiv bis Zerstörung. Berlin 2016, Kap.  1: Archive/ Wissen, S. 31–70. 4 https://www.global-archives.de/ (Zugriff: 22. 1. 2019). Vgl. zur Konzeption auch Marcel Lepper: Critical Response. Against Cultural Nationalism: Reply to Zachary Leader. In: Critical Inquiry 41 (2014). S. 153–159. 5 http://www.literaturarchiv1968.de/ (Zugriff: 22. 1. 2019).

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Blick und zeigt damit zugleich die Geschichte der daran beteiligten Exilant/innen und die Wege der materiellen Güter auf.

2 „Global Archives“ Die Initiative „Global Archives“ am DLA Marbach ergänzt die Tendenz einer auf Zentralisierung ausgerichteten Gründungslogik moderner Archive durch eine auf Dezentralität und Digitalisierung zielende globale Archivform. In der forschungsbezogenen Erschließung von deutsch- und mehrsprachigen Dokumenten in internationalen Archiven sowie durch eine Vernetzung internationaler (digitaler) Archive auf globaler Ebene werden die Wege der Exilant/innen und ihre materialen Spuren sowie die Verschmelzung unterschiedlicher kultureller und sprachlicher Horizonte sichtbar gemacht.6 Im Fokus der Initiative stehen deutsch- und mehrsprachige Bestände von Exilautor/innen in internationalen Archiven, bislang vor allem in Israel (gefördert vom Auswärtigen Amt und der Gerda Henkel Stiftung), Lateinamerika (Argentinien, Brasilien, Uruguay), Großbritannien, der Türkei, Griechenland und China (gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg). Forschung und Erschließung sind dabei eng verzahnt; die Ergebnisse (Findbücher, Forschungsbeiträge und nach Möglichkeit Digitalisate) werden online zur Verfügung gestellt und ermöglichen somit den Zugang zu bislang unbekannten und unerforschten Teilen der Exilgeschichte. In einigen Projekten wurden am DLA in den letzten Jahren solche Länder, Sprachen und Kulturen kreuzende Bestände erschlossen und erforscht. Dazu gehören beispielsweise die Erschließung von Stefan Zweigs Bibliothek im brasilianischen Petrópolis,7 die Ermöglichung der Zugänglichkeit der deutschsprachigen Dokumente im Lasar Segall Museum in São Paulo für portugiesischsprachige Forscher/innen8 sowie Forschungsarbeiten zu Thomas

6 Vgl. Lydia Schmuck: „Global Archives“ als neues Forschungs- und Erschließungskonzept: ein Projektbericht. In: Wolfgang Trautwein und Ulrike Horstenkamp (Hg.): Kulturinstitute im Horizontwandel: 50 Jahre AsKI e.V. Bonn 2018, S. 184–195. Sonja Arnold: Von deutsch-brasilianischer Literatur zur Transkultur. Weltliteratur, Exil und Globale Archive. In: Germanistische Mitteilungen 44 (2018), H. 1, S. 79–94. 7 https://www.global-archives.de/erschliessung/petropolis-brasilien-stefan-zweigs-brasilia nische-bibliothek/ (Zugriff: 22. 1. 2019). 8 https://www.global-archives.de/erschliessung/sao-paulo-brasilien-deutschsprachigedokumente-des-lasar-segall-nachlasses/ (Zugriff: 22. 1. 2019).

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Manns Bibliothek in den USA und Kanada,9 zum Exil in Argentinien, Griechenland,10 Großbritannien11 und Uruguay.12 Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts kamen zahlreiche deutschsprachige Emigrant/innen und Exilant/innen aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen nach Lateinamerika – vor allem nach Brasilien, Argentinien, Uruguay und Mexiko – und fanden dort Zuflucht vor Krieg und Vertreibung oder vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten.13 Ihre Nachlässe sind oftmals zerstreut oder werden in lateinamerikanischen Archiven, teilweise unerschlossen, aufbewahrt, wo sie der internationalen Öffentlichkeit unbekannt sind. Am Beispiel des jüdischen Intellektuellen Herbert Caro, dessen Nachlass im brasilianischen Porto Alegre im Zuge der Initiative „Global Archives“ neu geordnet und neu katalogisiert wurde,14 werden im Folgenden die Funktionsweise eines globalen Archivs, dessen transkulturelle Dimensionen sowie die Wichtigkeit von intellektuellen Exilant/innen-Netzwerken exemplarisch beleuchtet. Der jüdische Intellektuelle Herbert Caro wurde 1906 in Berlin geboren und floh 1935 vor dem nationalsozialistischen Regime über Frankreich nach Brasilien. Im

9 https://www.global-archives.de/forschung/thomas-manns-nachlassbibliothek-in-den-usaund-kanada/ (Zugriff: 22. 1. 2019). 10 https://www.global-archives.de/forschung/griechenland-forschungsueberblick-zumdeutschsprachigen-exil-in-griechenland/ (Zugriff: 22. 1. 2019). 11 https://www.global-archives.de/ueber-das-projekt/grossbritannien (Zugriff: 22. 1. 2019). 12 https://www.global-archives.de/forschung/uruguay-forschungsueberblick-zum-deutsch sprachigen-exil-leticia-hornos-weisz/ (Zugriff: 22. 1. 2019). 13 Zu den deutschsprachigen Exilant/innen in Lateinamerika vgl.: Sonja Arnold und Lydia Schmuck (Hg.): Romanisch-Germanische ZwischenWelten. Exilliteratur als Zeugnis und Motor einer vernetzten Welt [erscheint 2019]. „… mehr vorwärts als rückwärts schauen …“. Das deutschsprachige Exil in Brasilien 1933–1945 / “… olhando mais para frente do que para trás …”. O exílio de língua alemã no Brasil, hg. von Sylvia Asmus und Marlen Eckl, Begleitbuch zur Ausst. Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, Frankfurt a. M. Berlin 2013. Marlen Eckl: „Das Paradies ist überall verloren.“ Das Brasilienbild von Flüchtlingen des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2010. Karl Kohut und Patrik von zur Mühlen (Hg.): Alternative Lateinamerika. Das deutsche Exil in der Zeit des Nationalsozialismus [Akten des Internationalen Symposiums: „Exil in Spanien, Portugal und Lateinamerika“ vom 30. September bis 2. Oktober 1991 am Ibero-Amerikanischen Institut Preußischer Kulturbesitz]. Frankfurt a. M. 1994. Izabela Maria Furtado Kestler: Die Exilliteratur und das Exil der deutschsprachigen Schriftsteller und Publizisten in Brasilien. Frankfurt a. M. 1992. Hans-Bernhard Moeller (Hg.): Latin America and the Literature of Exile. A Comparative View of the 20th Century European Refugee Writers in the New World. Heidelberg 1983. Sonja Wegner: Zuflucht in einem fremden Land. Exil in Uruguay 1933–1945. Berlin, Hamburg 2013. 14 https://www.global-archives.de/erschliessung/porto-alegre-brasilien-nachlass-herbertmoritz-caro/ (Zugriff: 22. 1. 2019).

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südbrasilianischen Porto Alegre fand er Zuflucht und wurde aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde. Caro übersetzte mehrere Romane Thomas Manns (Abb. 1),15 Werke von Elias Canetti, Hermann Broch, Lion Feuchtwanger und Max Frisch ins brasilianische Portugiesisch sowie brasilianische Autoren vom Portugiesischen ins Deutsche. Der Nachlass dieses in Deutschland nahezu unbekannten kulturellen Mittlers wird im jüdischen Kulturinstitut Instituto Cultural Judaico Marc Chagall (ICJMC) in Porto Alegre aufbewahrt. Am Beispiel von Caros Thomas-Mann-Rezeption lassen sich die Grundzüge eines globalen Archivs im Kontext der Exilforschung verdeutlichen. Dieses basiert (1) auf den soziokulturellen Gegebenheiten, aus denen sich die Exilant/innenNetzwerke ergaben, (2) auf kulturpolitischer Mittlerarbeit zwischen den Sprachen und Kulturen und (3) auf einem Verständnis des Übersetzungsprozesses als literarischer Schöpfungsakt. (1) Der südlichste brasilianische Bundesstaat Rio Grande do Sul und dessen Hauptstadt Porto Alegre wiesen aufgrund mehrerer Auswanderungsbewegungen im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert einen hohen Anteil deutschsprachiger Bevölkerung auf.16 Die Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache und Kultur in Begegnung mit der brasilianischen stießen somit einerseits auf fruchtbaren Boden; andererseits waren gerade die Vermittlung eines modernen und aktuellen Deutschlandbilds sowie der Widerstand gegen den Nationalsozialismus ein wichtiges und schwieriges Unterfangen. So waren Herbert Caro und seine Ehefrau Nina Caro17 zwar nicht explizit politisch engagiert; auf dem Feld kultureller Vermittlung leisteten sie aber ihre Form des Widerstands: Herbert Caro war 1936 Begründer der Sociedade Israelita do Brasil (SIBRA) (Israelische Gesellschaft Brasiliens), die jüdische Emigrant/innen bei der Flucht und der anschließenden Integration in die brasilianische Gesellschaft unterstützte. Nina Caro war

15 Dazu gehören Thomas Manns Werke Doktor Faustus, Der Zauberberg, Die vertauschten Köpfe, Buddenbrooks, Der Tod in Venedig und Tristan. Caros Thomas Mann-Übersetzungen ins brasilianische Portugiesisch werden bis heute verwendet; auf Basis seiner Übersetzungen hat der Verlag Companhia das Letras in den letzten Jahren eine Neuausgabe aller sechs Werke herausgegeben. 16 Zum historischen Hintergrund vgl. Débora Bendocchi Alves: Das Brasilienbild der deutschen Auswanderungswerbung im 19. Jahrhundert. Berlin 2000. Gerson Roberto Neumann: „Brasilien ist nicht weit von hier!“. Die Thematik der deutschen Auswanderung nach Brasilien in der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert (1800–1871). Frankfurt a. M. 2005. Frederik Schulze: Auswanderung als nationalistisches Projekt. ‚Deutschtum‘ und Kolonialdiskurse im südlichen Brasilien (1824–1941). Köln 2016. 17 Die Dokumente von Nina Caro (Persönliche Dokumente, Korrespondenzen, Unterrichtsmaterialien) werden ebenfalls im Instituto Cultural Marc Chagall aufbewahrt. Vgl. zu Nina Caro: Anita Brumer und Ieda Gutfreind: Nina Caro, uma mulher de destaque. In: Revista Contingentia 2 (2007), S. 36–43.

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Abb. 1: Herbert Caro: Übersetzungsmanuskript zu Thomas Mann: Die vertauschten Köpfe [As cabeças trocadas], s.  d., Instituto Cultural Judaico Marc Chagall, Porto Alegre, Brasilien (Mit freundlicher Genehmigung des Instituto Cultural Judaico Marc Chagall).

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als Lehrerin für deutsche Sprache am heutigen Goethe-Institut (Instituto Cultural Brasileiro-Alemão) tätig und entwickelte und publizierte zahlreiche Unterrichtsmaterialien für den Unterricht des Deutschen als Fremdsprache. Beide standen in engem Kontakt zum südbrasilianischen Autor Érico Veríssimo, Autor des Romans O Tempo e o Vento (Die Zeit und der Wind) und Leiter des renommierten Verlags Livraria do Globo, der in jener Zeit für die Publikation der Werke Thomas Manns, Virginia Woolfs oder William Faulkners verantwortlich zeichnete18 und als erster brasilianischer Verlag ein weltliterarisches Programm vertrat. Im legendär gewordenen „Sala dos tradutores“19 wurden diese Werke der Weltliteratur und deren Übersetzungen diskutiert. Caro, der ab 1939 im Verlag arbeitete, war sowohl übersetzerisch als auch kulturpolitisch tätig und stand dem Verlag bei verlegerischen Entscheidungen beratend zur Seite. Veríssimo, der ein großer Verehrer Thomas Manns war und ihn 1941 in Denver persönlich traf,20 diskutierte und korrespondierte über viele Jahre hinweg mit Herbert Caro.21 Aus dieser Verbindung ergab sich die Basis für ein über das binäre deutsch-brasilianische Begriffspaar hinausreichendes Exilantennetzwerk, das für die brasilianische Rezeption Thomas Manns von entscheidender Bedeutung war. (2) Insbesondere die Rezeption der Werke Thomas Manns in Brasilien hat Herbert Caro auf entscheidende Weise geprägt. Neben seinen Übersetzungen trug er durch journalistische Texte in den Feuilletons (süd)brasilianischer Zeitungen (u.  a. als Beiträger in den Cadernos de Sábado, einer Beilage der Zeitung Correio do Povo) zur Bekanntheit der Figur Thomas Mann und seiner literarischen Werke bei. Dabei standen einmal mehr die deutsch-brasilianischen Beziehungen im Vordergrund. Im Beitrag „A mãe brasileira de Thomas Mann“22 [Thomas Manns brasilianische Mutter], der am 24. Januar 1976 – und damit 35 Jahre nach Caros Übersetzung der Buddenbrooks – in der portoalegrensischen Zeitung Correio do

18 Zur ausführlichen Darstellung der Rolle des Verlags Livraria do Globo vgl. Paula Ramos: A Modernidade Impressa. Artistas Ilustradores da Livraria do Globo – Porto Alegre. Porto Alegre 2016. 19 Wörtlich: Übersetzersalon. In Anlehnung an die literarischen Salons trafen sich dort Lektor/ innen, Übersetzer/innen und andere Mitarbeiter/innen, um aktuelle verlegerische Fragen und Übersetzungen zu diskutieren. 20 Vgl. Paulo Soethe: Eine Begegnung in Denver: Thomas Mann, Érico Veríssimo – und Herbert Caro als Überbringer. In: Gesine Müller (Hg.): Verlag Macht Weltliteratur. Lateinamerikanischdeutsche Kulturtransfers zwischen internationalem Literaturbetrieb und Übersetzungspolitik. Berlin 2014, S. 133–145. 21 Caro übermittelt in einem seiner Briefe an Thomas Mann Grüße von Veríssimo. Vgl. Maria da Glória Bordini: Herbert Caro nas cartas de Érico Veríssimo. In: Revista Contingentia 2 (2007), S. 15–22. 22 Herbert Caro: A mãe brasileira de Thomas Mann. In: Humboldt 15 (1975), H. 57, S. 16–23.

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Povo erschien, zeichnet Caro nicht nur die biografischen Ursprünge der Familie Mann nach, die nach Brasilien führen, sondern auch die Spuren, die sich vor diesem Hintergrund im Werk ergeben. Thomas Manns Mutter, geborene Júlia da Silva Bruhns, später Julia Mann, verbrachte als Tochter eines deutschen Kaufmanns und einer Brasilianerin die ersten Jahre der Kindheit im Bundesstaat Rio de Janeiro.23 Die Spuren dieser Jahre thematisiert sie in ihrem autobiografischen Bericht Aus Dodos Kindheit. Sie spiegeln sich darüber hinaus in den Geschichten wider, die Julia Mann ihren Kindern erzählte,24 und lassen sich auch in den literarischen Werken nachzeichnen. In Caros Beitrag werden vor allem Parallelen zur Figur Lola aus Heinrich Manns Zwischen den Rassen, zu Gerda Arnoldsen aus den Buddenbrooks sowie zu Tonio Krögers Mutter Consuelo gezogen. (3) Neben der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Leben und Werk Thomas Manns, deren Ergebnisse Caro einer breiten Bevölkerungsschicht in den brasilianischen Feuilletons zugänglich machte, war es vor allem die Propagierung der literarischen Übersetzung als selbstständiger Akt, die Caro im Exil vorantrieb. Er übersetzte von seiner Muttersprache in eine Fremdsprache und thematisierte den Übersetzungsprozess u.  a. in seinem Beitrag „Traduzir é conviver“,25 in dem er Einblicke in seine Übersetzungspraxis anhand der translatorischen Arbeit mit den Werken Thomas und Klaus Manns gab. Mit den von ihm übersetzten Autoren unterhielt er Briefwechsel und ließ diese aktiv am Übersetzungs- und Vermarktungsprozess teilhaben. Davon zeugen beispielsweise die Briefe zwischen Thomas Mann und Herbert Caro, die sie zwischen Caros Exil im brasilianischen Porto Alegre und Manns Exil in Pacific Pallisades wechselten.26 Die Herausarbeitung

23 Vgl. zu den brasilianischen Spuren in Leben und Werk Thomas und Heinrich Manns Karljosef Kuschel, Frido Mann und Paulo Soethe: Mutterland – die Familie Mann und Brasilien. Düsseldorf 2009. Gerson Roberto Neumann: Conhecendo Herbert Caro. In: Revista Contingentia 2 (2007), S. 23–28. Sibele Paulino und Paulo Soethe: Thomas Mann e a cena intelectual no Brasil. Encontros e desencontros. In: Pandaemonium Germanicum 14 (2009), H. 2, S. 28–53, und Soethe: Begegnung. 24 Vgl. Viktor Mann: Wir waren fünf. Bildnis der Familie Mann. Konstanz 2017. 25 Herbert Caro: Traduzir é conviver. In: Trad. & Comun. (1985), S. 149–154. Vgl. zur ausführlichen Analyse Sonja Arnold: German Literature in Brazil. Writing and Translating between Two Worlds. In: Cadernos de Tradução. Special Issue: Moving Bodies across Transland 37 (2017), H. 1, S. 188–207, und Joachim Born: Thomas Mann in Brasilien. Die Übersetzungen Herbert Caros ins Portugiesische. In: Wolfgang Dahmen et al. (Hg.): Schreiben in einer anderen Sprache. Zur Internationalität romanischer Sprachen und Literaturen. Romanistisches Kolloquium XXIII, Tübingen 2000, S. 305–321. Den Übersetzungsprozess bei Caro thematisiert außerdem Michael Korfmann: Herbert Caro ou o tradutor como lenda. In: Revista Contingentia 2 (2007), S. 29–35. 26 Vgl. für eine ausführlich Analyse Arnold: Von deutsch-brasilianischer Literatur und Sonja Arnold: Deutschsprachige Literaturen in südbrasilianischen Archiven. In: Sonja Arnold und

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der deutsch-brasilianischen Beziehungen in Leben und Werk der Familie Mann in den brasilianischen Feuilletons sowie die Übersetzung mehrerer Romane Thomas Manns und die Thematisierung eben dieser Übersetzung als wissenschaftliche Tätigkeit sind wesentliche Verdienste Caros, der damit die Rezeption der Werke Thomas Manns in Brasilien aktiv steuerte. Die Funktionsweise dieser Prozesse lässt sich nur gewinnbringend entschlüsseln, wenn sie als Teil eines globalen Archivs berücksichtigt werden: Caros Nachlassdokumente im brasilianischen Porto Alegre, seine weitreichenden Netzwerke und Briefwechsel, u.  a. mit Thomas Mann und Érico Veríssimo, seine Arbeit als kultureller Mittler sowie die Bedeutung des Übersetzungsprozesses.

3 „1968. Ideenkonflikte in globalen Archiven“ Aufbauend auf der Initiative „Global Archives“ wird mit dem Internationalen Archivforschungsprojekt „1968. Ideenkonflikte in globalen Archiven“ das Konzept „globaler Archive“ auf ideengeschichtliche Forschung übertragen. Ausgangspunkt des Projekts ist die erstaunliche Beobachtung, dass „1968“ – verstanden als eine Chiffre, die weniger ein konkretes Jahr als vielmehr ein Ensemble an sozialen, politischen und kulturellen Ereignissen bezeichnet – bisher aus nationaler oder vergleichenden nationalen Perspektiven untersucht wurde. Die Rekonstruktion der Ideengeschichte von „1968“ anhand von Archivmaterialien ermöglicht einen Blickwechsel: von einer personen- oder nationenbasierten Heuristik zu einer Heuristik der Orte, der Zirkulation der Begriffe und Ideen sowie der unabhängig von nationalen Grenzen bestehenden Netzwerke oder auch der Ideenkonflikte. Das Projekt nimmt gezielt die den Beständen inhärenten globalen Achsen der Ideengeschichte von „1968“ in den Blick, um die eurozentrische, von der Idee des „westlichen Intellektuellen“ geprägte Perspektive aufzubrechen und Ideenkonflikte und Verbindungslinien sichtbar zu machen, die bisher unberücksichtigt geblieben sind. Dabei werden Anregungen aus der Cambridge School,27 der Intellectual History28 und der französischen Intellek-

Lydia Schmuck (Hg.): Romanisch-Germanische ZwischenWelten. Exilliteratur als Zeugnis und Motor einer vernetzten Welt [erscheint 2019]. 27 Zum Überblick: Martin Mulsow und Andreas Mahler (Hg.): Texte zur Theorie der Ideengeschichte. Stuttgart 2014. Martin Mulsow (Hg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Frankfurt a. M. 2010. 28 Darrin M. McMahon und Samuel Moyn. Introduction: Interim Intellectual History. In: Darrin M. McMahon und Samuel Moyn (Hg.): Rethinking Modern European Intellectual History. Ox-

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tuellengeschichte29 aufgegriffen. Das Interesse gilt den internationalen, ideengeschichtlichen Konfliktlinien, die hinter den Ereignissen von „1968“ liegen und quer zu den nationalen und regionalen Kontexten verlaufen.30 Um die globalen Linien der für die Ideengeschichte von „1968“ relevanten Bestände zeitnah einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und für Forschende sichtbar zu machen, wurde ein Forschungsportal eingerichtet, auf dem regelmäßig Funde aus dem DLA und weiteren, weltweiten Archiven präsentiert und von internationalen Forscher/innen mit einem Kommentar kritisch beleuchtet werden.31 Das Projekt setzt sich aus zwei Forschungsmodulen zusammen: Modul 1 nimmt die Ideenkonflikte um „1968“ zwischen Europa und den USA in den Blick, Modul 2 richtet den Fokus auf die Konfliktlinien zwischen Europa und dem Südatlantik: Lateinamerika und die Karibik. Betrachtet man die Ideengeschichte von „1968“ zwischen Europa und Latein­ amerika sowie der Karibik, fällt vor allem die Ungleichzeitigkeit der Diktatur- und Exilerfahrung auf: In Lateinamerika finden die Studentenrevolten größtenteils im Kontext von Militärregimen statt und gehen mit extremen Repressionsmaßnahmen einher, wie dem Cordobazo am 29./30.  Mai 1969 in Argentinien und dem Massaker von Tlatelolco am 2.  Oktober 1968 in Mexiko. Während einige Exilant/innen des Nationalsozialismus – wie beispielsweise Adorno und Horkheimer  – nach Europa zurückkehren, gehen viele Lateinamerikaner auf der Flucht vor den Militärdiktaturen ins Exil nach Europa oder kommen im Kontext der Kubanischen Revolution nach Europa, vor allem nach Paris, wo sie Zeugen und Akteure des Pariser Mai 1968 werden und sich den dortigen Intellektuellengruppen anschließen. Im Folgenden werden zentrale Konflikt- und Verbindungslinien für die Ideengeschichte von „1968“ im lateinamerikanischen/karibischen Kontext aufgezeigt, die nur auf Basis des Konzepts globaler Vernetzung und unter Einbezie­hung globaler Archivdokumente sichtbar werden: (1) Transnationale Verflechtung von Ideentransfer, Literaturtransfer und Verlagspolitik, (2) Bedeutung

ford 2014. Jens Hacke: Politische Ideengeschichte und die Ideologien des 20. Jahrhunderts. Im Spannungsfeld historischer und politiktheoretisch geleiteter Absichten. In: Matthias Pohlig und Jens Hacke (Hg.): Theorie in der Geschichtswissenschaft. Einblicke in die Praxis des historischen Forschens. Frankfurt a. M. 2008, S. 147–170. 29 Christophe Charle, Jürgen Schriewer und Peter Wagner: Transnational Intellectual Networks: Forms of Academic Knowledge and the Search for Cultural Identities. Frankfurt a. M., New York 2004. 30 Vgl. etwa: Samuel Salzborn: Kampf der Ideen: die Geschichte politischer Theorien im Kontext. Baden-Baden 2015. 31 http://www.literaturarchiv1968.de/funde/ (Zugriff: 23. 1. 2019).

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der Pariser Intellektuellengruppen: „1968“ zwischen Dadaismus, Surrealismus und (Post-)Strukturalismus. (1) Transnationale Verflechtung von Ideentransfer, Literaturtransfer und Verlagspolitik Der kubanische Schriftsteller Severo Sarduy, der kurz nach der Kubanischen Revolution nach Paris gekommen war, schrieb 1968 an den Suhrkamp-Lektor Walter Boehlich, um sich für die Publikation seines Werkes Gestos zu bedanken, das 1968 unter dem Titel Bewegungen. Erzählung bei Suhrkamp erstmals auf Deutsch erschien.32 In dem Brief bittet Sarduy den Verlagslektor, dafür zu sorgen, dass irgendetwas passiert („que pase ALGO“) – gemeint ist, dass das Buch vom deutschen Publikum wahrgenommen wird  – und verspricht ihm, wenn er das schafft, bei seiner Rückkehr nach Paris eine schöne, gut brennende Barrikade (“Si así lo logra, cuando vuelva a Paris, le prometo una bella barricada bien ardiente para usted.”).33 Der Brief spiegelt zweierlei wider: die Rolle von Paris als zentraler Ort der Vermittlung für die Ideengeschichte von „1968“ im lateinamerikanischen/karibischen Kontext und die enge Bindung des Ideentransfers an den Literaturtransfer und die Verlagspolitik aufgrund der umfangreichen Übersetzungen lateinamerikanischer und kubanischer Autoren seit den späten 60er Jahren, des sogenannten „lateinamerikanischen Boom“, bei dem in Deutschland der Suhrkamp Verlag34 mit seinem „Lateinamerika“-Programm eine zentrale Rolle einnahm. Auch die späteren „Vorzeige-Autoren“ der Programmlinie – Octavio Paz, Julio Cortázar und Alejo Carpentier  – hielten sich mehrfach in Paris auf.35 Der Reisebericht des Verlagschefs Siegfried Unseld und der Literaturagentin, Lektorin und Übersetzerin Mechthild (Michi) Strausfeld zur Reise nach Paris vom 20. bis 22. Mai 1979 (Abb. 2) dokumentiert, dass eine Reise genügte für ein Treffen mit allen drei Autoren: „Als Kennenlernen mit Octavio Paz, als Abendessen mit ihm

32 Severo Sarduy: Bewegungen. Erzählung [Gestos. 1963], a. d. Span. v. Helmut Frielinghaus. Frankfurt a. M. 1968. 33 Severo Sarduy an Walter Boehlich, 1. August 1968, DLA Marbach. Vgl. hierzu: http://www. literaturarchiv1968.de/content/sarduy-an-boehlich/ (Zugriff: 2. 2. 2019). 34 Zu den Verlagsarchiven von Suhrkamp und Insel am DLA Marbach, vgl. Jan Bürger: „Aber unsere große Entdeckung … war Siegfried Unseld“. Ein erster Blick auf das Archiv der Verlage Suhrkamp und Insel. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für Neuere Deutsche Literatur 15 (2010), S. 15–20. 35 Julio Cortázar emigrierte 1951 nach Paris und lebte dort bis zu seinem Tod 1984. Alejo Carpentier war während der 1920er/30er Jahre im Exil in Paris und kehrte dann über verschiedene Stationen 1966 als Kulturattaché der kubanischen Regierung nach Paris zurück, wo er bis zu seinem Lebensende blieb. Auch Octavio Paz lebte zweimal für längere Zeit in Paris: von 1946 bis 1951 und von 1958 bis 1962, auch danach kehrte er regelmäßig nach Paris zurück.

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war die Reise geplant. Dann brachte es Michi Strausfeld fertig, auch noch Julio Cortázar und Alejo Carpentier besuchs- und gesprächsbereit zu machen.“36 Die Korrespondenzen zwischen Siegfried Unseld und den lateinamerikanischen Autoren belegen das freundschaftliche Verhältnis, das der Verlagschef mit den Autoren pflegte.37 Dieses enge Verhältnis, das der Verlagspolitik Unselds entsprach, ein Verleger für Autoren und nicht für Werke zu sein,38 wurde wesentlich durch die Treffen begünstigt. Den Ausdruck „Suhrkamp Autor“ verwendete Unseld – wie im obigen Reisebericht unter dem Eintrag zu Julio Cortázar – fast als eine Art Zertifikat. Im Verlagsarchiv findet sich auch der enge Zeitplan des Deutschland-Besuchs von Octavio Paz,39 der nach dem Muster des Besuchs von Alejo Carpentier geplant wurde und auch Julio Cortázar war in Frankfurt am Main, wie sich ebenfalls dem Reisebericht entnehmen lässt. Im Reisebericht ist außerdem von einem Treffen mit Ugné Karvelis die Rede. Die aus Litauen stammende Übersetzerin und Schriftstellerin war nach der russischen Okkupation mit ihrer Familie zunächst nach Deutschland emigriert und ging dann nach Paris, wo sie später bei Gallimard vor allem für lateinamerikanische und osteuropäische Literatur zuständig war und zu einer zentralen Kontaktperson des Suhrkamp Verlags wurde, die „Aktivitäten der Büros Gallimard und Suhrkamp“ wurden tatsächlich „verstärk[t]“, wie im Reisebericht angedacht. Da Ugné Karvelis von 1967 bis 1970 mit Julio Cortázar verheiratet war, übersetzte sie zudem einige an ihn gerichtete Korrespondenzen des Suhrkamp Verlags, vor allem, wenn es galt, heikle Nachrichten zu übermitteln, wie etwa die Verzögerung einer Publikation, wie aus dem Verlagsarchiv hervorgeht. Wie Gesine Müller für die spanischsprachigen und Sonja Arnold später für die brasilianischen Autor/innen des „Lateinamerika“-Programms zeigt, fungierten die beiden Pole „Exotismus“ und „Universalismus“ als implizite Auswahlkriterien für die Aufnahme eines Werkes in das Programm, sodass der „magische Realismus“ als Marke für die gemeinsame Vermarktung der lateinamerikanischen Autor/innen geprägt wurde.40 Beide Pole bedienen zudem das mit den 1968er

36 Reisebericht Siegfried Unseld, Paris 20. bis 22. Mai 1979 [Auszug, Hervorhebung im Original], DLA Marbach, S. 1. 37 Octavio Paz wird mit „Dear Octavio“ (Siegfried Unseld an Octavio Paz, 8. Februar 1980, DLA Marbach) angeredet und Julio Cortázar spricht Unseld mit „Cher Ami Unseld“ (Julio Cortázar an Siegfried Unseld, 10. September 1981, DLA Marbach) an. 38 Siegfried Unseld: Der Autor und sein Verleger. Vorlesungen in Mainz und Austin. Frankfurt a. M. 1978, Kap. 1: Die Aufgabe des literarischen Verlegers, S. 9–64. 39 Siegfried Unseld an Octavio Paz, 8. Februar 1980, DLA Marbach. 40 Müller: Literaturen der Amerikas, S.  117–132. Sonja Arnold: Brasilianische Literatur in Deutschland. Materialien zu ihrer Publikationsgeschichte und Rezeption: Eine Spurensuche mit-

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Abb. 2: Siegfried Unseld: Reisebericht, Paris 20. bis 22. Mai 1979 [Auszug], DLA Marbach.

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Revolten aufgekommene Verlangen nach universell gültigen Menschenrechten, wie vor allem Gleichberechtigung und Demokratie, einerseits und das Interesse an fernen, weitestgehend unbekannten, „exotischen“ Ländern, das sowohl aus der Solidarisierung mit der Dritten Welt als auch aus dem Bedürfnis nach einer Projektionsfläche für die neuen Freiheitsideale gespeist wurde. Umgekehrt stilisieren die lateinamerikanischen Autor/innen in ihren Texten die Ereignisse der Studentenrevolten in Lateinamerika oder Paris als zentrale Momente der Herausbildung einer gemeinsamen „lateinamerikanischen“ oder auch einer transatlantischen „hispanoamerikanischen“ Identität. So beschreibt etwa Carlos Fuentes, der sich in den 1960er Jahren ebenfalls in Paris aufhielt, die gemeinsame Teilnahme der lateinamerikanischen, spanischen und portugiesischen Emigrant/ innen an den Pariser Mai-Demonstrationen später als einen Gründungsmoment für eine „hispanoamerikanische“ Identität, verstanden als eine transatlantische Gemeinschaft, die nicht nur die süd- und mittelamerikanischen Länder, sondern auch Spanien und Portugal einschließt, wie er sie später beispielsweise in seinem Essay El esepjo enterrado [Der vergrabene Spiegel] beschreibt.41 Diese Tendenz begünstigte wiederum die Verlagspolitik einer gemeinsamen Vermarktung der lateinamerikanischen Autor/innen. (2) Bedeutung der Pariser Intellektuellengruppen: „1968“ zwischen Dadaismus, Surrealismus und (Post-)Strukturalismus Betrachtet man die lateinamerikanischen und kubanischen Exilant/innen in Paris in Hinblick auf ihre Bedeutung für die Ideengeschichte von „1968“, so fällt zum einen der Einfluss der Gruppe der Dadaisten und Surrealisten um André Breton und Antonin Artaud auf. Viele der lateinamerikanischen und kubanischen Exilant/innen und Migrant/innen, die nach Paris kamen, schlossen sich den regelmäßigen Treffen an oder waren zumindest von ihren Werken geprägt. Der Slogan des Pariser Mai 1968 „Imagination au pouvoir“, als „Phantasie an die

hilfe von Archivalien aus dem Lateinamerikabestand des Siegfried-Unseld-Archivs. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 60 (2016), S. 501–531. 41 “En Paris, en las barricadas, en las manifestaciones, en el diálogo maravilloso que ha sido el triunfo mayor de la revolución, nos hemos encontrado y nos hemos reconocido: chilenos y españoles, argentinos y mexicanos, brasileños y peruanos, portugueses y centroamericanos …” [In Paris, auf den Barrikaden, bei den Demonstrationen und bei dem wundervollen Dialog, der der größte Sieg der Revolution gewesen ist, haben wir uns getroffen und wiedererkannt: Chilenen und Spanier, Argentinier und Mexikaner, Brasilianer und Peruaner, Portugiesen und Zentralamerikaner …] (Carlos Fuentes: Los 68. Paris, Praga, México. Buenos Aires 2005, S. 101). Vgl. hierzu: Lydia Schmuck: Cómo se hace una biografía cultural. La dimensión transatlántica en El espejo enterrado de Carlos Fuentes. In: Reindert Dhondt und Dagmar Vandebosch (Hg.): Transnacionalidad e hibridez en el ensayo hispánico. Un género sin orillas. Amsterdam 2016, S. 153–171.

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Macht“ ins Deutsche übernommen,42 ging mit dem Wiederaufleben des Dadaismus und Surrealismus einher. Octavio Paz und Alejo Carpentier, die sich schon in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Paris aufhielten, nahmen an den Treffen der Surrealisten teil und vor allem Octavio Paz entwickelte eine enge Freundschaft zu André Breton und Benjamin Péret. Aber auch in den Werken Julio Cortázars finden sich zahlreiche implizite und explizite Bezüge zu Artaud und Breton, vor allem in dem Almanach-Buch La vuelta al día en 80 mundos [Reise um den Tag in 80 Welten]. Das Buch wird erstmals 1967 in Mexiko publiziert (1968 in Argentinien, 1970 in Spanien) und schließlich 1980 in Deutschland, bei Suhrkamp, was Cortázars Aussage verdeutlicht, dass nicht er, sondern sein Publikum im Exil ist, da seine Bücher nachdem sie in Argentinien verboten wurden, zuerst im Ausland erschienen. Der Almanach La vuelta al día en 80 mundos wurde in den 1960er Jahren von Julio Cortázar und dem später ebenfalls in Paris lebenden argentinischen Maler Julio Silva konzipiert und angefertigt. Schaut man sich die Briefwechsel zwischen Cortázar und Silva im Kontext der Arbeit an dem Buch an, der in der Houghton Library an der Harvard University aufbewahrt wird, zeigt sich zum einen die kritische Auseinandersetzung mit der politischen Situation in Argentinien: In einem Brief an Julio Silva äußert er sich bereits kurz nach dem Putsch am 28. Juni 1966, der Juan Carlos Onganía an die Macht brachte, besorgt über die politische Lage in Argentinien und fragt verwundert: „¿te parece poco lo que están aguantando con Onganía? [Es erscheint Dir wenig, was sie mit Onganía durchmachen?]“.43 Tatsächlich markierte der Machtwechsel den Anfang eines autoritären Militärregimes, das zu einer harten Unterdrückung der studentischen Proteste und schließlich 1969 zum Cordobazo führte, dem gewaltsamen Vorgehen gegen die Demonstranten mit mehreren Toten. Cortázar erkannte die Gefahr des Militärregimes offenbar sehr früh. Nimmt man diese Dokumente und seine private Bibliothek in der Fundación March in Madrid in den Blick, zeigt sich ein ganz anderes Bild des Phantastischen bei Cortázar als das im Suhrkamp Verlag vermittelte Bild des „magischen Realismus“, von dem sich Cortázar auch explizit distanzierte. Das Phantastische ist bei Cortázar in erster Linie Mittel der Erkenntnis: eine Möglichkeit, aus der durch das Diktaturregime oder den positivistischen Wissenschaftsglauben vermittelten Vorstellung einer absoluten Wirklichkeit auszubrechen. Statt „Magie“ drückt es in erster Linie einen kritischen Abstand zur

42 Vgl. hierzu: Ingrid Gilcher-Holthey: „Die Phantasie an die Macht“ – Mai 68 in Frankreich. Frankfurt a. M. 1995. 43 Julio Cortázar an Julio Silva, 6. September 1966, MS Span 152 (3) Houghton Library. Harvard University.

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absoluten Wirklichkeit aus.44 Dabei zeigt sich die Nähe zu Breton oder auch zu Antonin Artauds Konzept des Theaters der Grausamkeit, wie es im ersten Manifest beschrieben wird.45 Eine weitere zentrale Intellektuellengruppe war die Tel Quel-Gruppe um ­Philippe Sollers, der auch Roland Barthes und Julia Kristeva angehörten und mit der Severo Sarduy in Kontakt stand. Obwohl er in der Gruppe eine eher marginale Rolle spielte, verdeutlicht das im Historischen Archiv des SWR in Stuttgart aufbewahrte Skript zu dem Hörspiel Strand [im span. Original: La Playa], das am 14.  Mai 1969 im SDR als Ursendung ausgestrahlt wurde, den engen Austausch zwischen Sarduy und der Tel Quel-Gruppe.46 Das Stück kann als erste literarische Adaption und Fortführung der (post-)strukturalistischen theoretischen Konzepte von Roland Barthes verstanden werden, vor allem seiner kurz zuvor erschienenen Werke Critique et vérité [Kritik und Wahrheit] (1966) und La mort de l’auteur [Der Tod des Autors] (1968).47 Somit bringt das Historische Archiv des SWR eine weitere Konfliktlinie zum Vorschein: Während Severo Sarduy bei Suhrkamp nur eine unwesentliche Rolle spielte, weil er offenbar nicht in das stark an die Idee des „Westlichen Intellektuellen“ angelehnte Bild Siegfried Unselds von einem Suhrkamp-Autor passte, zeigt sich im Spiegel des SWR-Archivs ein anderes Bild. Damit wird deutlich, dass sich die Ideengeschichte von „1968“ im lateinamerikanischen und kubanischen Kontext nur durch Einbeziehung weiterer nationaler und internationaler Archive (wie z.  B. das Historische Archiv des SWR, Stuttgart; die Houghton Library, Harvard University; die Fundación March, Madrid) rekon-

44 Ein Abdruck des Briefes und eine erste Analyse findet sich in: Sonja Arnold, Lydia Schmuck und Robert Zwarg: Internationales Archivforschungsprojekt: 1968. Ideenkonflikte in globalen Archiven. In: Passim 21 (2018), S. 5–7. 45 „Das Theater muss mit anderen Worten, durch alle Mittel ein Infragestellen nicht nur aller Aspekte der objektiven und deskriptiven Außenwelt erstreben, sondern der inneren Welt, das heißt des Menschen in metaphysischer Hinsicht. Nur auf diese Weise […] wird man auf dem Theater wieder von den Rechten der Imagination sprechen können“ (Antonin Artaud: Das Theater und sein Double: das Théâtre de Séraphin. Frankfurt a. M. 1983, Das Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest), S. 95–108). 46 Die ebenfalls im Historischen Archiv des SDR aufbewahrten Korrespondenzen mit Severo Sarduy machen deutlich, dass der Kontakt zu dem kubanischen Schriftsteller über eine Empfehlung der in Paris lebenden Schriftstellerin Nathalie Sarraute zustandegekommen war (Werner Spies an Jochen Schale, 25. Juni 1963). 47 Für eine ausführliche Analyse vgl. Lydia Schmuck: Una “fiesta feliz del lenguaje”: La playa de Severo Sarduy como escenificación del postestructuralismo de Roland Barthes y de las ideas del 68. In: Peter Birle, Enrique Fernández und Clara Ruvituso (Hg.): Las izquierdas latinoamericanas y europeas: Idearios, praxis y sus circulaciones transregionales en la larga década del sesenta [erscheint 2019].

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struieren lässt; nur so zeigt sich die enge Verflechtung mit der Literatur- und Verlagsgeschichte einerseits und dem Pariser Dadaismus, Surrealismus und (Post-) Strukturalismus andererseits. Vor diesem Hintergrund muss umgekehrt auch der Surrealismus und (Post-)Strukturalismus viel stärker transnational gedacht und rekonstruiert werden.

4 Schlussbetrachtung: Möglichkeiten und Grenzen globaler Archive Wie die Beispiele aus den beiden Projektinitiativen des Deutschen Literaturarchivs gezeigt haben, ist vor allem für die Exilforschung die Umsetzung der Idee globaler Archive auf konzeptioneller und institutioneller Ebene unerlässlich. Die mit dem Exil einhergehende globale Überlieferung von Gütern und Ideen erfordert ein Archivkonzept, das es ermöglicht, Wissenstransfer und Wissensspeicherung jenseits nationaler Grenzen zu begreifen. So kann etwa die Rolle Herbert Caros für den Literatur- und Kulturtransfer nur aus transnationaler Perspektive, mit Blick auf die globalen Überlieferungs- und Übersetzungsprozesse verstanden werden. Ebenso wenig kann die Ideengeschichte von „1968“ aus nationaler oder Nationen vergleichender Perspektive erforscht werden, sondern muss als ein per se transnationaler und transkontinentaler Prozess begriffen werden: Die lateinamerikanischen und kubanischen Exilant/innen und Migrant/innen in Paris und ihre Einbindung in verschiedene Netzwerke zeigt die komplexe, weltweite Verflechtung von Ideengeschichte, Literaturgeschichte und Verlagspolitik. Auch Ideenkonflikte, konvergierende Wissenskonzeptionen, gefestigte Konzepte können nur im Spiegel globaler Archive sichtbar gemacht und hinterfragt werden. Nur so lassen sich im Sinne Karlheinz Barcks „Verbindungen und Beziehungen erkennen, von denen wir noch nichts oder nur wenig wußten“. Eine derartige globale Perspektive ist jedoch nur auf Basis institutioneller Archivstrukturen möglich, die Informationen zu den Beständen weltweit zugänglich machen und derart vernetzen, dass sie für die jeweiligen Forscher/innen auffindbar sind.

Literaturverzeichnis Arnold, Sonja: Brasilianische Literatur in Deutschland. Materialien zu ihrer Publikationsgeschichte und Rezeption: Eine Spurensuche mithilfe von Archivalien aus dem Lateinamerikabestand des Siegfried-Unseld-Archivs. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 60 (2016), S. 501–531.

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Sibylle Schönborn

„Freunde, in alle Welt zerstreut, denken an Sie.“ Zu einer digitalen Edition der Briefe an Max Herrmann-Neiße ins Londoner Exil „Zerstreutes“ zu sammeln und wieder in seinen ursprünglichen Entstehungszusammenhang einzustellen, ist Aufgabe von analogen Briefeditionen; „Zerstreutes“ zu sammeln und weitere Zusammenhänge und Kontexte den Nutzerinnen und Nutzern zu erschließen, in die Texte eingestellt werden können, ist Aufgabe von digitalen Briefeditionen. Ein umfangreicher, bisher unpublizierter Teilnachlass des Autors Max Herrmann-Neiße in der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne besteht aus Briefen, die zwischen 1908 und 1941 an ihn adressiert wurden und damit das gesamte Leben des Dichters seit seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr bis zu seinem Tod dokumentieren. Dieser Herner Teilnachlass, der mit 511 Briefzeugnissen1 gegenüber dem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach zwar wesentlich kleiner, aber keineswegs unbedeutender ist, umfasst insbesondere eine beachtliche Sammlung von Briefen an den Autor aus der Zeit seines Exils, in das er 1933 unmittelbar nach dem Reichstagsbrand aufbrach. Während seiner Exiljahre steht Max Herrmann-Neiße mit zentralen Protagonistinnen und Protagonisten der deutschen Literatur und Kultur in einem regen brieflichen Austausch, darunter Max Brod, Lion Feuchtwanger, Paul Graetz, Walter Hasenclever, Hermann Hesse, Kurt Hiller, Franz Jung, Erwin Kalser, Liesl Karlstadt, Ulrich Becher, Alfred Kerr, Hermann Kesten, Jürgen Kuczynski, Alma Mahler-Werfel, Heinrich Mann, Klaus Mann, Thomas Mann, Peter und Hilde (Spiel)-Mendelssohn, Robert Neumann, Rudolf Olden, Otto Pick, Klaus Pinkus, Willi Schaeffers, Hans Siemsen, Ernst Toller, Miguka Tonda, Berthold Viertel, Karl Valentin, Franz Werfel, Stefan Zweig und Paul Zech.

1 Siehe unter: http://kat.martin-opitz-bibliothek.de/vufind/Record/arc000007. Auch einzeln verzeichnet mit Inhaltsangaben unter: http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/de/search. html?q=Briefe+an+Max+Herrmann-Nei%C3%9Fe (Zugriff: 1. 5. 2019). https://doi.org/10.1515/9783110542103-012

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 Sibylle Schönborn

1 Exilbriefe als historische Dokumente und literarische Form Der Exilbrief als besondere Erscheinungsform der Gattung wird nach Hermann Kestens Edition von Briefen europäischer Autorinnen und Autoren im Exil2 seit den späten 1960er Jahren3 als eigenständiger Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung vor allem in vielen Untersuchungen zu Einzelkorrespondenzen wahrgenommen, die entweder im Umfeld von Briefeditionen entstehen oder unpublizierte Briefwechsel aus Archiven zum Gegenstand haben. Neben Heike Klapdors Sammeledition von Exilbriefen stehen neuere Sammelbände zu Exilbriefwechseln von Hiltrud Häntzschel, Sylvia Asmus, Germaine Goetzinger, Inge Hansen-Schaberg und von Primus-Heinz Kucher, Johannes F. Evelein, Helga Schreckenberger zur Verfügung, die in einleitenden Essays eine theoretische Positionsbestimmung vornehmen und Einzelkorrespondenzen würdigen. Der Klappentext der ersten Auswahledition von Exilbriefen kündigt diese mit dem Versprechen auf schonungslose Offenheit und unmittelbare Authentizität dieser historischen Zeugen an: „Dieser Briefband, von weit über hundert weltbekannten Autoren mitverfasst, erzählt die intime Geschichte der deutschen Literatur im Exil von 1933 bis 1949.“4 Ihr Herausgeber Hermann Kesten folgt dem Ziel, die Situation des Exils all denjenigen unmittelbar erfahrbar zu machen, die diese nicht am eigenen Leib erlebt hatten oder jemals erleben werden. „Die Auswahl dieser Briefe soll jenen, die nicht im Exil waren, eine Vorstellung davon vermitteln, was es heißt, ein deutscher Dichter im Exil zu sein.“5 Das Kriterium für die Selektion

2 Hermann Kesten (Hg.): Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933–1949. Frankfurt a. M. 1973. 3 Gustav Hillard: Vom Wandel und Verfall des Briefes. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 23 (1969), H. 252, S. 342–351. Außerdem: Frank Wende: Briefe aus dem Exil. 1933–1945. In: Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, hg. von Klaus Beyrer und Hans-Christian Täubrich, Ausst.-Kat. Museum für Post und Kommunikation, Frankfurt a. M. 1996, S. 172–183. Guy Stern: Vorwort und Heike Klapdor: Briefe aus dem Exil. In: Heike Klapdor (Hg.): Ich bin ein unheilbarer Europäer. Briefe aus dem Exil. Berlin 2007, S. 7–10 u. S. 11– 32. Primus-Heinz Kucher, Johannes F. Evelein und Helga Schreckenberger: Einleitung. In: dies. (Hg.): Erste Briefe aus dem Exil 1945–1950. München 2011, S. 9–14. Burcu Dogramaci und Karin Wimmer: Vorwort. In: dies. (Hg.): Netzwerke des Exils. Berlin 2011, S. 9–11. Hiltrud Häntzschel, Sylvia Asmus, Germaine Goetzinger und Inge Hansen-Schaberg: Auf unsicherem Terrain – Briefeschreiben im Exil. In: dies. (Hg.): Auf unsicherem Terrain. Briefeschreiben im Exil. München 2013, S. 11–19. 4 Kesten (Hg.): Literatur, Text auf Buchrückseite. 5 Kesten (Hg.): Literatur, S. 17.

„Freunde, in alle Welt zerstreut, denken an Sie.“  

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der publizierten Briefe benennt Kesten mit ihrer vermittelnden Zeugenschaft und damit ihrer Fähigkeit, „am anschaulichsten das Schicksal der deutschen Literatur […], ihre Ideale, ihre Konflikte, ihre Leiden, ihre Triumphe“6 repräsentieren zu können. Wie Kesten lesen daher auch die meisten Herausgeberinnen und Herausgeber von Exilbriefen oder Aufsatzsammlungen diese zunächst als bedeutende biographische und historische Zeugnisse. Guy Stern bezeichnet Briefe in seinem Vorwort zu Klapdors Briefedition als „Zeitzeugen par excellence“: Kein anderes Kommunikationsmedium als eben der Brief zeugte so unmittelbar, wenn auch oft verschlüsselt, von den Ungeheuerlichkeiten im Hitlerstaat, von der Suche nach Rettung, von gelungenen und mißlungenen Auswanderungsversuchen, von der Größe und dem Elend des Exils.7

Folgerichtig liest er diese Briefe denn auch als subjektiven Ausdruck der Befindlichkeit ihrer Schreiber. Evelein annonciert den Exilbrief in seiner Einleitung ein weiteres Mal als „höchst persönliches, differenziertes und unmittelbares Bild der Exilerfahrung“, kurz als „Zeugenaussage“8 und sieht in dessen Publikation sogar so etwas wie eine Verletzung des Briefgeheimnisses.9 Zudem weist er auf den Tatbestand einer wahren Briefflut, einer „Briefschreibwiederbelebung“10 unter den Bedingungen von Flucht, Verfolgung und Internierung hin. Klapdor qualifiziert Exilbriefe als „authentische[.], historische[.] und repräsentative[.] Dokumente“11 und damit als „Porträt der Epoche.“12 Eine systematische, theoriegeleitete Forschung zum Exilbrief als spezifische Erscheinungsform der Gattung gibt es bisher allerdings noch nicht. Nur Hiltrud Häntzschel und Marion Hussong haben sich bisher an einer „Phänomenologie“ der „Schriftstellerkorrespondenz im Exil“ versucht. So begreift Häntzschel Exilbriefe als „nichtfiktionale Texte“13 und konstatiert, dass es sich bei Exilbriefen

6 Kesten (Hg.): Literatur, S. 16. 7 Stern: Vorwort, S. 7. 8 Johannes Evelein: Briefkultur im Exil. In: Primus-Heinz Kucher, Johannes Evelein, Helga Schreckenberger (Hg.): Erste Briefe aus dem Exil 1945–1950. München 2011, S. 15–31, hier S. 28. 9 Vgl. Evelein: Briefkultur, S. 23. 10 Evelein: Briefkultur, S. 29. 11 Klapdor: Briefe, S. 13. 12 Klapdor: Briefe, S. 31. 13 Hiltrud Häntzschel: Der Brief – Lebenszeichen, Liebespfand, Medium und Kassiber. In: Hiltrud Häntzschel, Sylvia Asmus, Germaine Goetzinger und Inge Hansen-Schaberg (Hg.): Auf unsicherem Terrain – Briefeschreiben im Exil. München 2013, S. 19–32, hier S. 21.

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um eine „besondere Gattung“14 handele, da sie anderen Produktions- wie Rezeptionsbedingungen unterworfen seien als konventionelle Briefe. Aus der Situation der Bedrohung und Unfreiheit, in der sie entstehen und rezipiert werden, leitet Häntzschel ihre existenzielle Bedeutung ab. Sie weist darüber hinaus auf die materielle Dimension des Briefs als Substitut für die abwesenden Gesprächspartner mit Fetischcharakter für seine Adressatinnen und Adressaten hin, der in nicht wenigen Fällen zum letzten materiellen Zeugen oder Vermächtnis seiner Schreiberinnen und Schreiber wird. Hussong begreift den Exilbrief darüber hinaus als „ästhetisches Konglomerat der Zeit“ und dessen Sammlungen als „Collage[n] aus Sprachkunstwerken, Realien, Geschichtsdokumenten und Bekenntnissen“15. Zurecht heben alle bisherigen Studien zum Exilbrief seine Funktion als historisches Dokument der Zeitzeugenschaft für das Exil hervor und begreifen den Brief damit als nicht-fiktionale Gattung. Allerdings sollte bei dieser eindeutigen Zuordnung des Exilbriefs zu Formen des faktualen Erzählens und Berichtens nicht aus dem Auge verloren werden, dass auch der Exilbrief überlieferten gattungsspezifischen Konventionen, Strategien und Modellen des Erzählens sowie rhetorischen Formen folgt und so per se immer auch schon ein mehr oder weniger ausgeprägtes Maß an Fiktionalität und Poetizität auf sich vereint. So räumt Klapdor gleichzeitig ein, dass auch Exilbriefe nicht losgelöst von der gattungsgeschichtlichen Tradition, von einem „Repertoire tradierter brieflicher Topoi, rhetorischer Strategien“16 und narrativer Muster entstehen. Dazu kommt, dass die Wahrnehmung der Briefzeugnisse als unmittelbarer, authentischer Ausdruck seiner Schreiberindividualitäten insofern eingeschränkt werden muss, als auch hier von den jedem individuellen Selbstausdruck zugrundeliegenden literarischen Mustern der Selbstdarstellung und von bewussten und sehr gezielten (literarischen) Inszenierungen von Subjektivität sowie performativen Strategien der Selbstdarstellung ausgegangen werden muss. Auf diesem Hintergrund wäre nach typischen Entwürfen von Exilidentitäten in der epistolaren Kommunikation und deren Reflexion im Briefverkehr zu fragen; mehr noch: Der Exilbrief wäre als Produktions- und Austragungsort von Entwürfen exilantischer Identitäten zu begreifen. Briefe sind daher neben biographischen und zeitgeschichtlichen Dokumenten immer auch literarische Artefakte, die eigenen gattungspoetischen Konventionen folgen. Jochen Golz spricht in diesem Zusammenhang vom „Dop-

14 Häntzschel: Brief, S. 20. 15 Marion Hussong: „Falls also inzwischen die Welt nicht untergeht, werden wir uns wohl bald wiedersehen.“ Schriftstellerbriefe aus dem Exil 1938–1945. In: Glossen 4 (1998), unter: http:// www2.dickinson.edu/glossen/heft4/hussong.html (Zugriff: 27. 5. 2018). 16 Klapdor: Briefe, S. 14.

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pelcharakter des Briefes als historisch-biographische Textform und literarisches Genre“17 und Marie Isabel Matthews-Schlinzig und Caroline Socha von der „problematischen Grenzziehung“18 zwischen den Wesensbestimmungen des Briefs. Neuere Brieftheorien verlagern den Schwerpunkt von der pragmatischen realitätsgesättigten Kommunikationsfunktion des Briefs auf sein „inszenatorisch-fiktionale[s] Potential“19, das Vellusig wiederum mit dem dokumentarischen Charakter des Briefs versöhnt, indem er auf das Dokumentarische von literarischen Subjektinszenierungen hinweist: Sofern unter dem „dokumentarischen Charakter“ des Briefes nicht gemeint ist, dass Briefe Informationen liefern, die sich dazu eignen, biographische Sachverhalte zu rekonstruieren, haben Briefe dokumentarischen Charakter, gerade weil sie Kommunikationsformen sind, in denen sich eine Person schreibend darstellt, d. h. als Person zu Geltung bringt.20

Briefe und damit auch Briefe aus dem Exil können daher vielfältige Rezeptionsinteressen befriedigen, indem sie Einblicke in den Entwurf, die Diskursivierung und Inszenierung von exilantischen Identitätskonzepten und deren Entwicklung ebenso wie in die Reflexion dieser Prozesse eröffnen. So als literarische Zeugnisse gelesen, vermitteln Briefe Einsichten in Semantiken und Poetiken exilantischer Subjektivität sowie in die untrennbare Verknüpfung von Faktualität und Fiktionalität innerhalb der Gattung, die die Briefschreiber nicht selten in ihren Briefen selbst reflektieren.

17 Jochen Golz: Brief. In: Klaus Weimar u.  a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 251–255, hier S. 251. 18 Marie Isabel Matthews-Schlinzig und Caroline Socha: Von einfachen Fragen: Ein Brief zur Einführung. In: dies. (Hg.): Was ist ein Brief? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur. What is a letter? Essays on epistolary theory and culture. Würzburg 2018, S. 9–17, hier S. 11. 19 Jörg Schuster und Jochen Strobel: Briefe und Interpretationen. Über Ansätze zu einer Geschichte der Briefkultur und über die Möglichkeit kulturhistorischer Skizzen mittels Brieflektüren. In: dies. (Hg.): Briefkultur. Texte und Interpretationen – Von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Berlin, New York 2012, S. XI–XXIV, hier S. XIII. 20 Robert Vellusig: Die Poesie des Briefes. Eine literaturanthropologische Skizze. In: Marie Isabel Matthews-Schlinzig und Caroline Socha (Hg.): Was ist ein Brief? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur. What is a letter? Essays on epistolary theory and culture. Würzburg 2018, S. 57–75, hier S. 63.

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2 Max Herrmann-Neiße als Adressat im Netzwerk Exil Während des Exils im Nationalsozialismus stellt der Brief das zentrale, unersetzliche Kommunikationsmedium unter den räumlich weit verstreuten Exilierten dar, mit dem sie ihre Beziehungen aufrechterhalten oder neue stiften und Kooperationen wie die Beteiligung an Exilzeitschriften, die (gemeinsame) Publikation in Exilverlagen oder die Organisation von politischen und kulturellen Veranstaltungen und Aktionen entwerfen, kommunizieren und realisieren können. Briefe, die im Exil gewechselt werden, stellen häufig die einzige und letzte Möglichkeit dar, den Kontakt innerhalb einer zerschlagenen Gemeinschaft von Künstlerinnen und Künstlern und Autorinnen und Autoren aufrechtzuerhalten. Haarmann behauptet sogar, dass „unter diesem Aspekt […] Briefen eine überlebenswichtige Funktion zu[wächst]. Sie bieten sozusagen einen Schutzraum, sie sind ein Sicherungsverfahren, das trotz der Tatsache des Verstoßenseins aus der alten und des Fremdseins in der neuen Heimat Halt verspricht.“21 Er formuliert im Zusammenhang mit Brechts Exilkorrespondenz knapp und treffend: „Zusammenzuhalten, in Kontakt zu bleiben, sich auszutauschen, mit- und untereinander zu kommunizieren ist das Gebot der Stunde.“22 Als zentrale Themen der Exilkorrespondenzen benennt Hussong die „Suche nach Arbeit“ und Fragen der „persönliche[n] Sicherheit und kollektive[n] Verantwortung.“23 Und Evelein weist darauf hin, dass der Brief unter den Bedingungen von Zensur, Publikationsverbot und Verfolgung zu einem zentralen und exklusiven Medium der Kommunikation mit Gleichgesinnten wird. Die Besonderheit von Exilbriefwechseln besteht darin, dass sie nicht nur die Kommunikation zwischen zwei Briefpartnern über eine mehr oder weniger große räumliche Distanz hinweg ermöglichen, wie dies für den Brief ganz allgemein gilt, sondern dass sie darüber hinaus die Kommunikation zwischen mehreren Gesprächspartnern, einer Gruppe oder Gemeinschaft, ersetzen müssen. Exilbriefwechsel stehen daher vor der Aufgabe, transnationale Vernetzungen in einem zum Teil globalen Ausmaß herzustellen und so Möglichkeiten einer Kommunikation zwischen mehreren untereinander räumlich weit entfernten Kommunikationspartnerinnen und -partnern zu ermöglichen. Jeder Korrespondent produziert so ein eigenes Netzwerk brieflicher Kommunikation,

21 Hermann Haarmann: „Dear Bertie!“ – Briefe an Bertolt Brecht im Exil, 1933–1949. Einleitung. In: Hermann Haarmann und Christoph Hesse (Hg.): Briefe an Bertolt Brecht im Exil (1933–1949). Bd. I: 1933–1936. Berlin, Boston 2014, S. VII–LIX, hier S. XVI. 22 Haarmann: Einleitung, S. XV. 23 Hussong: Schriftstellerbriefe.

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das von den individuellen Netzwerken seiner Korrespondenzpartnerinnen und -partner wiederum überlagert wird, so dass eine dichte Netzstruktur von ineinander verflochtenen Kommunikationen entsteht. Exilbriefwechsel konstituieren daher eine Landkarte des Exils, auf der Literatur, Kunst und Kultur über weite geographische Räume und Kulturen hinweg verknüpft sind. Über ihre schreibenden Protagonistinnen und Protagonisten haben Exilbriefwechsel zur Entstehung einer Weltliteratur und -kultur beigetragen, wie Dogramaci24 und Wimmer in ihrem Sammelband zu Exil-Netzwerken für die darstellenden Künste zeigen.25 Max Herrmann-Neiße steht im Zentrum eines solchen weitverzweigten Netzwerks der epistolaren Kommunikation während seines Londoner Exils zwischen 1933 und 1941. Als historische Dokumente gelesen, geben die Briefe an ihn z.  B. Auskunft von der schwierigen Suche nach und der Vermittlung von Publikationsmöglichkeiten, bei der zwischen 1933 und 1935 Klaus Mann als Herausgeber der Zeitschrift Die Sammlung eine große Rolle spielt. Daneben bilden die Gründung von Organisationen für exilierte Intellektuelle wie der American Guild for German Cultural Freedom um Hubert Prinz zu Löwenstein26 und des Deutschen PEN-Clubs in London27 einen weiteren Schwerpunkt der brieflichen Kommunikation. Max Herrmann-Neiße tritt hier als engagierter Mitinitiator und wichtiger Akteur zur Rettung gefährdeter Kulturschaffender sowie Vermittler bei der Planung und Durchführung von kulturellen Veranstaltungen und Versammlungen auf. Der Briefwechsel mit dem Prinzen stellt ein wichtiges Dokument zur Arbeit der American Guild dar, die im ersten Halbjahr 1938 für insgesamt 220.000 Francs so genannte Arbeitsbeihilfen für ein Vierteljahr in Höhe von 30 Dollar monatlich an exilierte Autorinnen und Autoren vergab. Hermann-Neiße gehörte zu den korrespondierenden Mitgliedern der American Guild, die über die Anträge zur Vergabe der Arbeitsbeihilfen mit ihren Gutachten entschieden. Im ersten Halbjahr 1938

24 Burcu Dogramaci: Netzwerke des künstlerischen Exils als Forschungsgegenstand – zur Einführung. In: Burcu Dogramaci und Karin Wimmer (Hg.): Netzwerke des Exils. Berlin 2011, S. 13– 28, hier S. 22. 25 Vgl. dazu auch: Theresia Biehl, Anne Lorenz und Dirk Osierenski: Exilnetz33. Ein Forschungsportal als Such- und Visualisierungsinstrument. In: Constanze Baum und Thomas Stäcker (Hg.): Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities. 2015, unter: http://zfdg.de/sb001_011 (DOI: 10.17175/sb001_011) (Zugriff: 1. 5. 2019). 26 Vgl. dazu: Deutsche Intellektuelle im Exil: ihre Akademie und die „American Guild for German Cultural Freedom“, hg. von Werner Berthold, Brita Eckert und Frank Wende, Ausst.-Kat. Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Bibliothek, Frankfurt a. Main, München 1993. 27 Vgl. dazu: Wende: Briefe, S. 176–178.

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konnten 54 Personen unterstützt werden, wie aus dem Bericht von Löwenstein vom 7. Juni 1938 hervorgeht. So bittet Volkmar Zühlsdorff Max Herrmann-Neiße in einem Brief vom 24. Juli 1938 um ein Gutachten für Arcadi Masloff: Der Prinz ist für ein paar Tage in Paris, um als Vertreter der Guild und der Akademie am Kongress gegen den Rassenwahn und am Weltfriedenskongress teilzunehmen, und so darf ich Sie um ein Gutachten bitten. Es handelt sich um Herrn Arcadi Masloff, 5 Avenue Lowendal, Paris VIIe, der sich um eine Beihilfe bewirbt und auch Sie als Mitglied nennt, das finanziell und literarisch ein Urteil über ihn abgeben könnte.28

Eine andere Reihe von Briefen befasst sich mit der Regelung des Aufenthaltsstatus bzw. der Einbürgerung des Autors und seiner Freunde. Diese Gruppe von Briefen stellt eine wichtige Quelle für die Erforschung der materiellen Existenzbedingungen des Exils und die Selbstorganisation der Exilanten in Schriftstellerund Künstlergruppen dar. Die Briefe, die Max Herrmann-Neiße in seinem Exil empfängt, enthalten aber weitaus mehr als reine Informationen zu den Lebensbedingungen im Exil im gesellschaftspolitischen Kontext des jeweiligen Exillandes. Sie sind zugleich – und dies in einem weitaus bedeutenderen Umfang  – Selbstvergewisserungen und Selbstpositionierungen als Reaktion auf die biographischen Brüche unter instabilen, ungesicherten Lebensverhältnissen, die das Exil in den meisten Fällen bedeutet. So entstehen Entwürfe von Exilidentitäten und deren Diskursivierung zu einem ganz maßgeblichen Teil im Briefverkehr unter Exilanten, die im Dialog mit Gleichgesinnten verhandelt werden. Neben der performativen Inszenierung eines epistolaren Ichs spielt die Verortung innerhalb des äußerst heterogenen Kollektivs der Exilanten eine nicht weniger bedeutende Rolle. Im Briefverkehr zwischen den Exilanten werden neue Beziehungsstrukturen ausgebildet und Gemeinschaften konstituiert. Der Exilbrief wird zu einem zentralen Medium der Beziehungsstiftung und Zuweisung von Zugehörigkeiten oder auch von deren Entzug. Im Exil werden neue Allianzen geschmiedet und Grenzen innerhalb der großen Gruppe der Vertriebenen gezogen. Ein entscheidendes Medium dieser Prozesse des Einschließens und des Ausschließens aus sich konstituierenden Kleingruppen ist der Brief. Darüber hinaus lassen sich in den zahlreichen, kontinuierlich geführten Korrespondenzen wie z.  B. mit Hermann Hesse, Stefan Zweig, Paul Zech oder auch Paul Graetz enge personale Bindungen zu Max Herrmann-Neiße ausmachen.

28 Volkmar Zühlsdorff an Max Herrmann-Neiße, 24. 7. 1938. Martin-Opitz-Bibliothek Herne. Teilnachlass Max Herrmann-Neiße. Signatur: TS 001 / K 0007; 2, Blatt 118–119, hier: Blatt 118.

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Abb. 1: Ulrich Becher an Max Herrmann-Neiße. Locarno 17. 1. 1940 (Postkarte). Martin-OpitzBibliothek Herne, Signatur: TS 001 / K 0006, Mappe 1, Blatt 22–23 (Copyright: Martin Roda Becher).

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So knüpft z.  B. Ulrich Becher auf einer Postkarte aus dem Januar 194029 an die vertraute mündliche Kommunikationssituation der gemeinsamen Kabarett- und Kneipenbesuche in Berlin an, um eine Erinnerung an bessere Zeiten heraufzubeschwören und damit eine Kontinuität in der personalen Beziehung zu stiften, die den Realitätsbrüchen entgegensteht (Abb. 1). Insbesondere die Briefe Stefan Zweigs werden zu engagierten Versuchen, die eigene Situation beschreibend auszuloten und im Dialog mit dem Briefpartner sich eine vorläufige, instabile, aber in sich stimmige Identität zu entwerfen. So nimmt Zweig, sich mit Max Herrmann-Neiße im Einverständnis wissend, anlässlich des Kriegsausbruchs die Position eines kompromisslosen Pazifisten ein: Mein lieber Macke, wie gut wäre es jetzt mit Dir ein redliches Gespräch zu haben; von Anfang an haben wir einander immer in allen entscheidenden Dingen verstanden. Mein Herz ist schwer. Ich kann nicht mitjubeln, dass es jetzt endlich gegen die Nazis „losgeht“. Gewiss, ich verstehe, nostra res agitur und wenn die Bestie jetzt erledigt wird, so werden deine Verse wieder in Deutschland leben […] aber, mein Lieber, ich mag keine Vorteile, die andere mit Bauchschüssen und Gasvergiftungen bezahlen. […] Mein Lieber, ich glaube, Du bist einer der ganz Wenigen, mit denen ich jetzt sprechen kann. Von den wilden „Activisten“ hat sich gewiss kein Einziger an die Front gemeldet nur alle ins Propagandatross. Wir, die Friedliebenden, haben im letzten immer mehr Mut gehabt als all die Schreier – den Mut, uns zum Abscheu vor allen Gewaltsamkeiten zu bekennen. Bleiben wir fest, selbst in unserer Trauer!30

In der Korrespondenz wird darüber hinaus ein engagierter Diskurs über zentrale Themen des Exils wie über die Definition der eigenen Exilsituation geführt, die Analyse der politischen Lage und die daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten und -strategien des Einzelnen werden kontrovers reflektiert und diskutiert.

3 Exilbriefe als Artefakte Robert Vellusig unterscheidet zwischen dem Brief als Medium, d. h. als „Ereignis und Objekt“31 und dem Brief als Text. Diese Definition rückt die Materia-

29 Ulrich Becher an Max Herrmann-Neiße, 15. 1. 1940–17. 1. 1940. Martin-Opitz-Bibliothek Herne. Teilnachlass Max Herrmann-Neiße. Signatur: TS 001 / K 0006, Mappe 1, Blatt 22–23. 30 Stefan Zweig an Max Herrmann-Neiße, 22. 9. 1939. Martin-Opitz-Bibliothek Herne. Teilnachlass Max Herrmann-Neiße. Signatur: TS 001 / K 0008, Mappe 3, Blatt 253–256, hier: Blatt 255–256, hier: Blatt 255–256. 31 Vellusig: Poesie, S. 58.

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lität des Briefs ins Zentrum der Betrachtung. Denn Briefe gehen nicht in ihrer reinen Informations- und Mitteilungsfunktion auf, sondern sind als bewusst gestaltete oder der Not abgerungene Botschaften auf einem Trägermedium zu sehen, die als materielles, selbst bedeutungstragendes Substrat seiner Senderin oder seines Senders zu begreifen sind. Über die Bedeutung von Schriftträgern, Schreibwerkzeugen, Briefbeigaben, Schriften, Zeichnungen usw. ist in der Briefforschung32 ausführlich reflektiert worden. Was für den Brief ganz allgemein gilt, gilt für den Exilbrief im Besonderen, da er in einem ganz besonderen Maße Botschafter seiner Schreiberinnen und Schreiber wird, indem er sie selbst in seiner neuen Lebensumwelt ganz materialiter repräsentiert. So zeugen geöffnete und gekennzeichnete Briefumschläge von der Zensurpraxis zu Zeiten des Exils. Auch ist es nicht unbedeutend, ob ein Brief auf hochwertigem Briefpapier mit Wasserzeichen und eigenem Briefkopf mit der Schreibmaschine oder auf dem Briefpapier einer Luxusresidenz33 (Abb. 2) verfasst wird, mit dem die angenehmen Seiten des Transitären der Exilantenexistenz, die einige wenige Privilegierte sich leisten konnten, sichtbar werden oder ob auf dickem, billigem Packpapier, dünnem Linien- oder Durchschlagpapier mit Füllfeder, einem Kugelschreiber oder gar einem ungespitzten dicken Kopier- oder Bleistift geschrieben wird. Neben den vielen Postkarten an Max Herrmann-Neiße, bei denen die Hochglanzvorderseite berühmter Badeorte an der Côte d’Azur oder von Luftkurorten in den Schweizer Alpen in einem eigenartigen Spannungsverhältnis zu den Mitteilungen auf der Rückseite stehen, sind auch Weihnachtskarten zu erwähnen, die Max Herrmann-Neiße regelmäßig zum Fest erreichten. Eine englischsprachige Schmuckkarte34 mit Weihnachtsgrüßen etwa, die Christiane und Ernst Toller an den Autor schicken, versucht gegenüber einer aus den Fugen geratenen Welt so etwas wie Normalität zu behaupten, indem ihre Absender einem Ritual aus besseren Tagen folgen (Abb. 3). In diesem Sinne sind sie als Zeugnisse des Widerstands ihrer Schreiber gegen den Versuch der Nationalsozialisten zu verstehen, ihre Widersacher zu brechen und ihnen ihre Menschlichkeit zu rauben. Die vielen Postkarten im Nachlass, die bereits auf der Überfahrt ins amerikanische Exil entstehen oder nach der Ankunft im Exilland die neue Lebenswelt plakativ bebildern, wären einer eigenen Untersuchung wert. Paul Graetz versucht mit

32 Der Brief. Ereignis und Objekt, hg. von Anne Bohnenkamp und Waltraud Wiethölter, Ausst.Kat. Freies Deutsches Hochstift. Frankfurter Goethe-Museum, Basel, Frankfurt a. M. 2008. 33 Ernst Toller an Max Herrmann-Neiße, 12. 5. 1937. Martin-Opitz-Bibliothek Herne. Teilnachlass Max Herrmann-Neiße. Signatur: TS 001 / K 0008, Mappe 3, Blatt 126–127; Blatt 126. 34 Ernst und Christiane Toller an Max Herrmann, o.O, o.D. Martin-Opitz-Bibliothek Herne. Teilnachlass Max Herrmann-Neiße. Signatur: TS 001 / K 0008, Mappe 3, Blatt 121–122.

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Abb. 2: Ernst Toller an Max Herrmann-Neiße. Santa Monica, California 12. Mai 1937. Martin-Opitz-Bibliothek Herne, Signatur: TS 001 / K 0008, Mappe 3, Blatt 126–127 (Copyright: gemeinfrei).

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Abb. 3: Ernst und Christiane Toller. Ohne Datum, ohne Ort. Martin-Opitz-Bibliothek Herne, Signatur: TS 001 / K 0008, Mappe 3, Blatt 121–122 (Copyright: gemeinfrei).

einer Postkarte35 von einer nächtlichen Szenerie vor einem Kabaretttheater in der kalifornischen Grenzstadt Tijuana einen Brückenschlag zwischen der verlorenen gemeinsamen alten Lebenswelt der Berliner Kabaretts und der neuen Umgebung herzustellen. (Abb. 4) Nicht zuletzt stellen viele dieser Briefe selbst künstlerische Artefakte dar, die literarische Arbeiten – wie z.  B. persönlich adressierte Gedichte – transportieren oder häufig explizit künstlerisch, z.  B. durch kleine Zeichnungen, ausgestaltet werden. Ein prominentes Beispiel für eine künstlerisch-literarische Korrespondenz stellen die vielen Briefe Hermann Hesses an den Adressaten dar, in denen der Schriftsteller seine Gedichte mit schwarzer Tinte in Schönschrift oder mit einer besonderen Type seiner Schreibmaschine an den Freund sendet, die, mit kleinen bunten Tuschezeichnungen mediterraner Landschaftsidyllen als Titelvi-

35 Paul Graetz an Max Herrmann-Neiße, 20. 3. 1936. Martin-Opitz-Bibliothek Herne. Teilnachlass Max Hermann-Neiße. Signatur TS 001 / K 0006, Mappe 1, Blatt 243–244.

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Abb. 4: Paul Graetz an Max Herrmann-Neiße. Calexico, Cal. 20. Mar[ch] 1936. Martin-OpitzBibliothek Herne, Signatur: TS 001 / K 0006, Mappe 1, Blatt 243–244 (Copyright: gemeinfrei).

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gnetten versehen, Hesses Schweizer Wohnsitz im Tessin als Sehnsuchtsort einer besseren Welt imaginieren. Im Exilbrief etabliert sich so eine eigene mediale Form der Vermittlung und Kommunikation von künstlerischen Arbeiten in kleinen, postalisch begrenzten Leserkreisen, die aufgrund von fehlenden Publikationsmöglichkeiten häufig die einzig verbliebene Möglichkeit darstellen, eine begrenzte kleine Leseröffentlichkeit zu konstituieren. Der Brief wird zum Medium der Verbreitung und Diskussion literarischer Arbeiten – allen voran von Gedichten – innerhalb einer begrenzten, exklusiven Lesergemeinschaft, die unmittelbar und persönlich auf die literarischen Gaben reagiert und dem Verfasser nicht nur ihre Leseerfahrungen, sondern auch die existenzielle Bedeutung dieser Form literarischer Kommunikation in der Exilsituation übermittelt. Max Hermann-Neißes Gedichte, die er an seine Dichterkollegen und Freunde ins Exil verschickt, werden von den Adressaten als Verarbeitung des Exils mit poetischen Mitteln begriffen. Die Gedichte aus dem Exil zirkulieren als Kassiber unter den Exilanten, die sich in einer identifikatorischen Lektüre als Gleichgesinnte und damit als Gemeinschaft erfahren. Das Gedicht wird zu ihrem Sprachrohr und Medium der Verständigung, es spendet Trost, indem das Einzelschicksal als ein kollektives begriffen und so eine kollektive Identität unter den Exilanten gestiftet werden kann. Die Wirkung der Gedichte beschreibt z.  B. Martin Bloch auf einer Postkarte im Telegrammstil aus Dänemark über seine Situation, bei der die Gedichte Max Herrmann-Neißes eine zentrale Rolle spielen: Lieber Max Herrmann, wir danken wieder mal schön für Nat. Zeitungen, die uns not taten, denn aus den dänischen lesen wir immer die fantastischsten Dinge heraus. Auf alle Fälle, schön ist es nicht, was jetzt drinsteht. Wir sind über das fröhliche Morden i. d. Welt verzweifelt. Unsere letzten Wochen hier sind herrlich. Wundervolle Stille u. farbige Tage. Nachdem ich mich erst ausgeruht habe u, dabei mit Mass ein paar Leutchen belehrt, arbeite ich jetzt sehr ein paar Bilder zu Ende zu bringen. Dass Karin Ihre Gedichte sehr liebt, schrieb ich Ihnen. Aber auch Brecht, er hat uns neulich mit Genuss ein paar vorgelesen. Man denke ein Lyrikus den anderen!36

Auch Stefan Zweig äußert sich zu Wirkung und Bedeutung lyrischer Briefbeigaben des Adressaten und reflektiert zugleich über die mögliche Funktion dieser Lyrik über die begrenzte personale Kommunikationssituation des Exilbriefwechsels hinaus:

36 Martin Bloch an Max Herrmann-Neiße, 28. 8. 1936. Martin-Opitz-Bibliothek Herne. Teilnachlass Max Herrmann-Neiße. Signatur: TS 001 / K 0006, Mappe 1, Blatt 164–165, hier: Blatt 165.

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Deine Gedichte haben mich tief ergriffen. Welcher Trost ist Dir gegeben, das Unmittelbare gleichsam entkleidet seiner Gemeinheit darzustellen. Selten hast Du schönere Strophen geschrieben und auch wenn sie jetzt nicht erscheinen, möchte ich doch Deiner stillen Tat einmal öffentlich gedenken – bisher erschienen sie mir als das reinste dichterische Document dieser Zeit. Wäre die „Propaganda“ hier nicht so gottverlassen, man müsste sie Dich deutlich im Radio lesen lassen statt der durchsichtig – dummen Hinterfrontmeldungen. Nur so können wir auf die Deutschen wirken, wenn sie fühlen, dass wir, die Ausgestossenen, menschlicher sind als ihre Führer und Verführer.37

4 Zu einer digitalen Edition der Briefe Die Publikation von Briefen, meist sogar des gesamten Briefwechsels einer Autorin oder eines Autors, gehört seit langem zum Grundbestand großer Werkeditionen. Neben diesen an eine Werkausgabe angeschlossenen Briefeditionen stehen einzelne Briefwechsel wie z.  B. zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig38 oder die vielfältigen Korrespondenzen des Dichters Paul Celan, dessen Briefverkehr mit seiner Ehefrau Gisèle Celan-Lestrange, den Schriftstellerinnen Ingeborg Bachmann und Nelly Sachs oder Klaus und Nani Demus jeweils getrennt ediert wurde. Dem Brief-Nachlass Max Herrmann-Neißes in der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne am ehesten – wenn auch nicht im Umfang – vergleichbar sind die von Hermann Haarmann und Christoph Hesse herausgegebenen Briefe an Bertolt Brecht39 aus der Exilzeit. Die umfangreiche, zweibändige Edition der Briefe Max Herrmann-Neißes, die Klaus Völker und Michael Prinz40 2012 veranstaltet haben, stützt sich ausschließlich auf den Marbacher Nachlass, der vor allem Briefe von Max Herrmann-Neiße enthält. Die Briefe von Max Herrmann-Neiße liegen damit zwar nahezu vollständig publiziert vor, auf die Edition der Briefe an den Schriftsteller wurde jedoch verzichtet. Da einer separaten, auf Vollständigkeit abzielenden Edition der an den Autor adressierten Briefe umfangreiche Recherchen in den zahllosen, verstreuten Nachlässen seiner Korrespondentinnen und Korrespondenten vorausgehen müsste, scheint es sinnvoll, zunächst das größte zusammenhängende Korpus der Briefe an den Autor aus der Martin-Opitz-Bibliothek

37 Stefan Zweig an Max Herrmann-Neiße, 25. 9. 1939. Martin-Opitz-Bibliothek Herne. Teilnachlass Max Herrmann-Neiße. Signatur: TS 001 / K 0008, Mappe 3, Blatt 235–236, hier: Blatt 235–236. 38 Madeleine Rietra (Hg.): „Jede Freundschaft mit mir ist verderblich“. Joseph Roth und Stefan Zweig im Briefwechsel 1927–1938. Göttingen 2011. 39 Haarmann/Hesse (Hg.): Briefe. 40 Max Herrmann-Neiße: Briefe I. 1906–1928 und Briefe II. 1929–1941, hg. von Klaus Völker und Michael Prinz. Berlin 2012.

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in seinem Gesamtzusammenhang an einem Ort für eine allgemeine Leserschaft zugänglich zu machen. Dies soll mit der geplanten digitalen Edition der Briefe an Max Herrmann-Neiße realisiert werden, die gegenüber einer Printausgabe den Vorzug hat, dass sie nicht nur in Open Access jedem Interessierten kostenfrei zur Verfügung steht, sondern auch jederzeit um neu aufgefundene Briefe an den Autor im Nachlass der Briefpartnerinnen und Briefpartner erweitert werden kann. An dieser Stelle greift der für Briefeditionen besonders wirksame Vorzug ihrer Erweiterungsmöglichkeit, so dass es denkbar und wünschenswert ist, über das bisher verfügbare Briefmaterial hinaus weitere verstreut überlieferte Briefzeugen aus unterschiedlichen Dichternachlässen sukzessive in die Edition aufzunehmen. Briefwechsel eignen sich auf der Editorenseite wegen ihrer Unabschließbarkeit aufgrund zumeist unvollständiger, ständig auf Erweiterung angelegter Textkorpora und ihrer netzartigen Verflechtung untereinander sowie spezifischer, äußerst diverser Rezeptionsinteressen auf der Nutzerseite in idealer Weise für digitale Editionen, wie bereits mehrfach dargelegt wurde.41 Die digitale Edition der Briefe an Max Herrmann-Neiße versteht sich daher als Projekt einer nutzerorientierten Präsentationsmöglichkeit der Briefe als Objekte und Texte zuzüglich einer Tiefenerschließung über Registerfunktionen und Verlinkungsmöglichkeiten mit anderen digitalen Exilbriefeditionen, bei der der abwesende Adressat als Zentrum und Knotenpunkt in einem ausgedehnten Netzwerk verschiedener Korrespondenzen erkennbar wird. Dass Max Herrmann-Neiße in der Tat eine zentrale Figur innerhalb des räumlich weit ausgedehnten literarischen und kulturellen Feldes zu Zeiten des Exils gewesen ist, in dem er verschiedenste Rollen vom genauen (Selbst)Beobachter, Zeugen und Archivar bis zum Akteur der Zeitgeschichte wahrgenommen hat, belegen die Briefe an ihn. Mit der digitalen Edition, die mit anderen digitalen Briefeditionen verknüpft werden kann, und an die weitere Exilkorrespondenzen anschlussfähig sind, können sich überlagernde und eng miteinander verknüpfte Netzwerke epistolarer Kommunikationen während des Exils mit jeweils wechselnden Zentren und Knotenpunkten dargestellt werden. Ohne die grundsätzlichen Probleme digitaler Editionen als Teil einer digitalen Geistes- und Kulturwissenschaft42, die insbesondere in der Langzeitspeiche-

41 Vgl. Jochen Strobel: Der Brief als Prozess. Entwurf und Konzept in der digitalen Edition. In: Anne Bohnenkamp-Renken und Elke Richter (Hg.): Brief-Editionen im digitalen Zeitalter. Berlin, Boston 2013, S. 133–146, hier S. 136. 42 Roland S. Kamzelak entwirft in seinem grundlegenden Beitrag zur Entwicklung der digitalen Geisteswissenschaften einen ganzen Fragenkatalog. Roland S. Kamzelak: Von der Raupe zum Schmetterling oder Wie fliegen lernen – Editionsphilologie zwischen Infrastruktur und Semantic Web. In: Roland S. Kamzelak und Timo Steyer (Hg.): Digitale Metamorphose: Digital Huma-

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rung43, dauerhaften Betreuung und Aktualisierung, d. h. der Wartung der Inhalte bestehen44, zu leugnen, sollen hier die erheblichen qualitativen Vorzüge einer digitalen Edition von Briefkonvoluten, die zuletzt umfassend von Jochen Strobel45 beschrieben wurden, kurz für das vorliegende Material benannt werden. Ein zentraler Vorteil der digitalen Briefedition besteht darin, dass die Briefe, Telegramme und Postkarten in ihrer Materialität zwar nicht vollständig zugänglich, aber doch visuell dargestellt werden können. Damit kommt der digitalen Edition eine archivarische und museale Funktion zu, die die Exponate in ihrer originären Beschaffenheit, zu der der Schriftträger, das Schreibwerkzeug, die Gestaltung sowie die postalische Sendung und deren Spuren gehören, für den Betrachter möglichst authentisch rezipierbar macht, so dass sie als Artefakte sichtbar werden. Digitale Briefeditionen präsentieren neben dem visuellen Abbild des Originalbriefs46 eine leicht lesbare textkritische Transkription, so dass Probleme der Lesbarkeit aufgrund flüchtiger Handschriften, verdorbener Textträger oder Schriften sowie alte Schriftarten (z.  B. Sütterlin) keine Rezeptionshürde darstellen müssen. Ein weiteres Argument für digitale Briefeditionen besteht in der spezifischen Rezeption von Briefkorpora. So gehören Briefe weniger zu den Texten, die vollständig in ihrem Gesamtzusammenhang, mithin in ihrer chronologischen Abfolge rezipiert werden. Vielmehr folgt die Lektüre von Briefen unterschiedlichsten Interessen und Fragestellungen, die über die Möglichkeit der Volltextsuche und viel-

nities und Editionswissenschaft. 2018, unter: http://www.zfdg.de/sb002_004 (DOI: 10.17175/ sb002_004) (Zugriff: 1. 5. 2019). 43 Kastberger gibt unter dem Stichwort „Datenverlust“ zu bedenken: „Einiges wird aufgrund der Redundanz überleben, weil es zigmal irgendwo vorhanden und auch zufällig noch benutzbar ist, oder weil irgendjemand noch alte Browserversionen hat. Aber wenn dann nicht tatsächlich auch investiert wird in die Langzeitarchivierung, dann werden Dinge nicht überleben.“ Julian Ausserhofer, Konstanze Fliedl, Bettina Kann, Klaus Kastberger, Gerhard Ruiss und Franz Schuh: Lexikon einer Podiumsdiskussion – Dokumentation einer Kontroverse. In: Susanne Eichhorn, Bernhard Oberreither, Marina Rauchenbacher, Isabella Schwentner und Katharina Serles (Hg.): Aufgehoben? Speicherorte, -diskurse und -medien von Literatur. Würzburg 2017, S. 283–300, hier S. 285. 44 Vgl. Jochen Strobel: Welchen Erkenntnisgewinn versprechen digitale Briefeditionen? In: Marie Isabel Matthews-Schlinzig und Caroline Socha (Hg.): Was ist ein Brief? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur. What is a letter? Essays on epistolary theory and culture. Würzburg 2018, S. 91–105, hier S. 93, 99 und Klaus Kastberger unter dem Stichwort „Vergreisung, digitale“ in einer Diskussion über Vorzüge und Nachteile wissenschaftlicher Digitalisierungsprojekte: „Es stirbt nichts so schnell wie im Internet. Man nimmt im Internet kein Projekt mehr ernst, wo man weiß, das ist fünf oder zehn Jahre nicht betreut. Die Nachhaltigkeit von Projekten – ich rede jetzt von Wissenschaftsprojekten – im Internet ist eine ganz große Frage und ein ganz, ganz großes Problem.“ Ausserhofer/Fliedl/Kann/Kastberger/Ruiss/Schuh: Lexikon, S. 283–300, hier S. 295. 45 Vgl. Strobel: Brief als Prozess. 46 Vgl. Strobel: Erkenntnisgewinn, S. 96.

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fältiger Sortierungen des Textmaterials über Register befriedigt werden können.47 Digitale Editionen kommen so den individuellen Nutzungsinteressen in idealer Weise entgegen.48 Dazu zeichnen sich Briefe aufgrund ihrer Einbindung in eine situative und personale Kommunikation durch einen hohen Kommentierungsbedarf aus. Über den klassischen Einzelstellenkommentar von Printeditionen hinaus ergeben sich hier vielfältige Möglichkeiten der Verlinkung mit anderen Editionen, wissenschaftlichen Portalen, z.  B. für Personen mit der Gemeinsamen Normdatei (GND), der Deutschen Biographie (DB) oder der Georeferenzialisierung. Neben deren passiver Nutzung über Links bietet die digitale Edition die Möglichkeit, ihrerseits Daten für die GND und die DB zu erzeugen und diese zu beliefern. Eine weitere Aufgabe von digitalen (Brief-)Editionen besteht in der Überwindung der isolierten Existenz einzelner Datenbanken. So beliefert Jochen Strobel mit seiner richtungsweisenden Edition der Briefe A. W. Schlegels das Informationssystem für Nachlässe und Autographen Kalliope mit Daten nach standardisierten Erschließungsregeln.49 Auf die Vorzüge und die Notwendigkeit einer solchen normierten Erzeugung und Zusammenführung von Daten für die Gattung des Briefs weist Strobel hin: Wenn Metadaten normiert sind und wenn zu vielen Briefen Metadaten bereitstehen, aber auch zumindest Images der Handschriften, vielleicht additiv Transkriptionen oder edierte Texte – dann können sich wissenschaftliche Nutzer zunehmend mit ihren ganz individuellen Forschungsfragen einem riesigen Korpus zuwenden, dessen Elemente eine wesentliche Gemeinsamkeit haben: Es sind Briefe. Die Netzwerkmetapher, mit der Briekorpora gern bedacht werden, kann dann erst so recht ermessen werden.50

Auch Jutta Weber empfiehlt für Nachlasseditionen insbesondere von Briefkonvoluten eine solche Kooperation mit Kalliope, die diese mit „Metadaten und unter Verwendung von Normdaten in Kalliope“51 erschließt, um dann in der jeweiligen

47 Vgl. Biehl/Lorenz/Osierenski: Exilnetz33. 48 Vgl. dazu Jochen Strobel: „Die digitale Edition verzichtet auf eine bestimmte lineare Anordnung und sie kann sich vom Paradigma der Autorschaft entfernen, muss also nicht um einen Schreiber oder Adressaten herum konzentriert sein. Mehr noch als mittels herkömmlicher Register kann auf eine lineare Lektüre umfangreicher Briefbände nun verzichtet werden.“ Strobel: Erkenntnisgewinn, S. 96. 49 Siehe unter: http://kalliope-verbund.info/_Resources/Persistent/442a360d0a1961bcd884315 0f2bca0a15996581e/RNA-R2015-20151013.pdf 50 Strobel: Erkenntnisgewinn, S. 101. 51 Jutta Weber: Briefnachlässe auf dem Wege zur elektronischen Publikation. Stationen neuer Beziehungen. In: Anne Bohnenkamp-Renken und Elke Richter (Hg.): Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Berlin 2013, S. 25–34, hier S. 32.

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Edition durch die Herausgeberinnen und Herausgeber mit weiteren Daten angereichert und verlinkt zu werden. An dieser Stelle müssen allerdings Lösungen für die Zukunft erst noch entwickelt werden, wie Strobel zu bedenken gibt: „Ein utopisches Fernziel wäre eine über einen Bibliotheks- und Archivkatalog nutzbare universale Briefedition – ein schöner Traum, von dessen Realisierung wir mit den gegenwärtig greifbaren Editions- und Katalogtools noch weit entfernt sind.“52 Kamzelak fordert diesbezüglich eine grundsätzliche Vernetzung von normierten Daten. Bisher liegt dazu ein erster Lösungsansatz mit CorrespSearch53 vor, einem Webservice, der die Metadaten verschiedener digitaler Briefeditionen durchsuchbar macht. Grundsätzlich aber ist es gerade für die Gattung Brief von größter Bedeutung, die Möglichkeiten der digitalen Erschließung von großen Textkorpora und der Verknüpfung einzelner Editionsprojekte qualitativ zu nutzen, da nur so Netzwerke von Korrespondenzen darstellbar werden, indem vielfältige Einzelkorrespondenzen in eine Struktur sich mehrfach überschneidender, vermischender und überlagernder Kommunikationen eingetragen werden können, was in Bezug auf die Briefe aus dem Exil 1933 bis 1945 von unmittelbarer Evidenz und ganz besonderem Interesse ist. Konkret könnte z.  B. schon jetzt die digitale Edition der Toller-Briefe54 mit der der Briefe an Max Herrmann-Neiße verlinkt werden, so dass Toller-Briefe im Hermann-Neiße-Nachlass über einen Link zur digitalen Edition der Briefe an Hermann-Neiße aufgerufen werden können. Langfristig ist die Vernetzung von einzelnen nach standardisierten Erschließungsregeln entstandenen digitalen Editionen von Exilkorrespondenzen über gemeinsame Schnittstellen wünschenswert, um auf der Basis von „Vernetzte Korrespondenzen | Exilnetz33. Erforschung und Visualisierung sozialer, räumlicher, zeitlicher und thematischer Netze in Briefkorpora“55 von Vera Hildenbrandt56 und Roland S. Kamzelak und in Kooperation mit dem Deutschen Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, dem Virtuellen Museum „Künste im Exil“ sowie Kalliope eine permanent erweiterbare Plattform anbieten zu können, auf der nach internationalen Standards für digitale Editionen alle bisher verfügbaren Briefe aus dem Exil, von bereits digitalisierten Briefwechseln über Briefe aus Printausgaben bis hin zu dem größten Teil der bisher noch in Archiven oder in Privatbesitz verstreut

52 Strobel: Brief als Prozess, S. 138. 53 Siehe unter: https://correspsearch.net/index.xql?l=de [Zugriff: 14. 3. 2019]. 54 Siehe unter: http://www.tolleredition.de/ [Zugriff: 14. 3. 2019]. 55 Siehe unter: http://exilnetz33.de/de/ [Zugriff: 14. 3. 2019]. 56 Der fachlichen Expertise Vera Hildenbrandts verdanke ich wesentliche Hinweise und Anregungen in diesem Kapitel. Ihr sei an dieser Stelle dafür herzlich gedankt.

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vorhandenen Exilbriefen, Aufnahme finden bzw. zusammengeführt werden können. Eine ideale Basis bietet dafür das Projekt „Exilnetz 33“. Dieses Projekt hat sich zur Aufgabe gemacht, verschiedene Exilbriefsammlungen aus den Archiven in Marbach, der Monacensia im Hildebrandhaus in München und der National Library of Israel in Jerusalem in einem Forschungsportal zusammenzuführen, zu digitalisieren, über Register zu erschließen und mit einem Exilthesaurus zu versehen, um Exilbriefwechsel in ihren vielfältigen Verknüpfungen lesbar und nutzbar zu machen. Ziel ist die „Entwicklung eines internetbasierten, generischen Forschungsportals für Briefkorpora […] mit unterschiedlichen Suchund Visualisierungsinstrumente[n]“57, an das weitere digitale Briefeditionen anschließbar sind. Die Netzwerkstruktur verschiedener digitalisierter Exilkorrespondenzen kann hier in Zukunft über graphische Benutzerschnittstellen darstellbar werden. Für die Exilkorrespondenzen ist eine offene digitale Plattform zur Aufnahme und Erschließung einer unbegrenzten miteinander verknüpften Zahl von Exilkorrespondenzen 1933 bis 1945 von immenser Bedeutung, auf der nicht nur ein museales Archiv von Exilkorrespondenzen als sichtbares Zeugnis für die historisch gewordene Form brieflicher Kommunikation geschaffen, sondern auch der Erforschung des Exilbriefs als bedeutender Teil der Gattung essentielles Grundlagenmaterial zur Verfügung gestellt und dieses mit in die Diskussion um eine Theorie der Gattung eingebracht werden kann.

Literaturverzeichnis Ausserhofer, Julian, Konstanze Fliedl, Bettina Kann, Klaus Kastberger, Gerhard Ruiss und Franz Schuh: Lexikon einer Podiumsdiskussion – Dokumentation einer Kontroverse. In: Susanne Eichhorn, Bernhard Oberreither, Marina Rauchenbacher, Isabella Schwentner und Katharina Serles (Hg.): Aufgehoben? Speicherorte, -diskurse und -medien von Literatur. Würzburg 2017, S. 283–300. Biehl, Theresia, Anne Lorenz und Dirk Osierenski: Exilnetz33. Ein Forschungsportal als Suchund Visualisierungsinstrument. In: Constanze Baum und Thomas Stäcker (Hg.): Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities. 2015, unter: http://zfdg.de/sb001_011 (DOI: 10.17175/sb001_011) (Zugriff: 1. 5. 2019). Der Brief. Ereignis und Objekt, hg. von Anne Bohnenkamp und Waltraud Wiethölter, Ausst.-Kat. Freies Deutsches Hochstift. Frankfurter Goethe-Museum, Basel, Frankfurt a. M. 2008. https://correspsearch.net/index.xql?l=de (Zugriff: 14. 3. 2019). Deutsche Intellektuelle im Exil: ihre Akademie und die „American Guild for German Cultural Freedom“, hg. von Werner Berthold, Brita Eckert und Frank Wende, Ausst.-Kat. Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Bibliothek, Frankfurt a. Main, München 1993.

57 Siehe unter: http://exilnetz33.de/de/ [Zugriff: 14. 3. 2019].

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Dogramaci, Burcu und Karin Wimmer: Vorwort. In: dies. (Hg.): Netzwerke des Exils. Berlin 2011, S. 9–11. Dogramaci, Burcu: Netzwerke des künstlerischen Exils als Forschungsgegenstand – zur Einführung. In: Burcu Dogramaci und Karin Wimmer (Hg.): Netzwerke des Exils. Berlin 2011, S. 13–28. Evelein, Johannes: Briefkultur im Exil. In: Primus-Heinz Kucher, Johannes Evelein und Helga Schreckenberger (Hg.): Erste Briefe aus dem Exil 1945–1950. München 2011, S. 15–31. http://exilnetz33.de/de/ (Zugriff: 14. 3. 2019). Golz, Jochen: Brief. In: Klaus Weimar u.  a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 251–255. Haarmann, Hermann: „Dear Bertie!“ – Briefe an Bertolt Brecht im Exil, 1933–1949. Einleitung. In: Hermann Haarmann und Christoph Hesse (Hg.): Briefe an Bertolt Brecht im Exil (1933–1949). Bd. I: 1933–1936. Berlin, Boston 2014, S. VII–LIX. Häntzschel, Hiltrud, Sylvia Asmus, Germaine Goetzinger und Inge Hansen-Schaberg: Auf unsicherem Terrain – Briefeschreiben im Exil. In: dies. (Hg.): Auf unsicherem Terrain. Briefeschreiben im Exil. München 2013, S. 11–19. Häntzschel, Hiltrud: Der Brief – Lebenszeichen, Liebespfand, Medium und Kassiber. In: Hiltrud Häntzschel, Sylvia Asmus, Germaine Goetzinger und Inge Hansen-Schaberg (Hg.): Auf unsicherem Terrain – Briefeschreiben im Exil. München 2013, S. 19–32. Herrmann-Neiße, Max: Briefe I. 1906–1928 und Briefe II. 1929–1941, hg. von Klaus Völker und Michael Prinz. Berlin 2012. Hillard, Gustav: Vom Wandel und Verfall des Briefes. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 23 (1969), H. 252, S. 342–351. Hussong, Marion: „Falls also inzwischen die Welt nicht untergeht, werden wir uns wohl bald wiedersehen.“ Schriftstellerbriefe aus dem Exil 1938–1945. In: Glossen 4 (1998), unter: http://www2.dickinson.edu/glossen/heft4/hussong.html (Zugriff: 27. 5. 2018). http://kalliope-verbund.info/_Resources/Persistent/442a360d0a1961bcd8843150f2bca0a15 996581e/RNA-R2015-20151013.pdf Kamzelak, Roland S.: Von der Raupe zum Schmetterling oder Wie fliegen lernen – Editionsphilologie zwischen Infrastruktur und Semantic Web. In: Roland S. Kamzelak und Timo Steyer (Hg.): Digitale Metamorphose: Digital Humanities und Editionswissenschaft. 2018, unter: http://www.zfdg.de/sb002_004 (DOI: 10.17175/sb002_004) (Zugriff: 1. 5. 2019). Kesten, Hermann (Hg.): Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933–1949. Frankfurt a. M. 1973. Klapdor, Heike: Briefe aus dem Exil. In: dies. (Hg.): Ich bin ein unheilbarer Europäer. Briefe aus dem Exil. Berlin 2007, S. 11–32. Kucher, Primus-Heinz, Johannes F. Evelein und Helga Schreckenberger: Einleitung. In: dies. (Hg.): Erste Briefe aus dem Exil 1945–1950. München 2011, S. 9–14. Matthews-Schlinzig, Marie Isabel und Caroline Socha: Von einfachen Fragen: Ein Brief zur Einführung. In: dies. (Hg.): Was ist ein Brief? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur. What is a letter? Essays on epistolary theory and culture. Würzburg 2018, S. 9–17. Rietra, Madeleine (Hg.): „Jede Freundschaft mit mir ist verderblich“. Joseph Roth und Stefan Zweig im Briefwechsel 1927–1938. Göttingen 2011. Schuster, Jörg und Jochen Strobel: Briefe und Interpretationen. Über Ansätze zu einer Geschichte der Briefkultur und über die Möglichkeit kulturhistorischer Skizzen mittels Brieflektüren. In: dies. (Hg.): Briefkultur. Texte und Interpretationen – Von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Berlin, Boston 2012, S. XI–XXIV.

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Stern, Guy: Vorwort. In: Heike Klapdor (Hg.): Ich bin ein unheilbarer Europäer. Briefe aus dem Exil. Berlin 2007, S. 7–10. Strobel, Jochen: Welchen Erkenntnisgewinn versprechen digitale Briefeditionen? In: Marie Isabel Matthews-Schlinzig und Caroline Socha (Hg.): Was ist ein Brief? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur. What is a letter? Essays on epistolary theory and culture. Würzburg 2018, S. 91–105. Strobel, Jochen: Der Brief als Prozess. Entwurf und Konzept in der digitalen Edition. In: Anne Bohnenkamp-Renken und Elke Richter (Hg.): Brief-Editionen im digitalen Zeitalter. Berlin, Boston 2013, S. 133–146. Vellusig, Robert: Die Poesie des Briefes. Eine literaturanthropologische Skizze. In: Marie Isabel Matthews-Schlinzig und Caroline Socha (Hg.): Was ist ein Brief? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur. What is a letter? Essays on epistolary theory and culture. Würzburg 2018, S. 57–75. Weber, Jutta: Briefnachlässe auf dem Wege zur elektronischen Publikation. Stationen neuer Beziehungen. In: Anne Bohnenkamp-Renken und Elke Richter (Hg.): Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Berlin, Boston 2013, S. 25–34. Wende, Frank: Briefe aus dem Exil. 1933–1945. In: Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, hg. von Klaus Beyrer und Hans-Christian Täubrich, Ausst.-Kat. Museum für Post und Kommunikation, Frankfurt a. M., 1996, S. 172–183.

Imme Klages, Alexandra Schneider

„Mapping German Film Migration“ – digitale Filmgeschichtsschreibung am Beispiel des Nachlasses von Günter Peter Straschek „Was in Deutschland weggeworfen, ausgesondert und gering geschätzt wird, hat Günter Peter Straschek stets mehr interessiert als das, was zu Ehren kommt.“ (Volker Pantenburg)

1 Zum Nachlass Günter Peter Strascheks Filmemigration aus Nazideutschland (1975) war der Titel einer fünfteiligen Fernsehsendereihe, die Günter Peter Straschek für den WDR realisiert hat; es sollte seine letzte Film- und Fernseharbeit bleiben. Straschek lässt damit also „Werkabsichten“ hinter sich, wie es im Grußwort des Katalogs zur Ausstellung Günter Peter Straschek: Emigration – Film – Politik im Jahr 2018 im Museum Ludwig heißt, „nicht aber den deutschen Film, dessen Emigrationsgeschichte er jahrzehntelang ebenso minutiös wie monumental zu rekonstruieren fortsetzt – Fall um Fall, Stimme um Stimme“1. 1976, sozusagen im Nachgang zu seinem Fernsehprojekt, bewarb sich Straschek mit Erfolg um die Förderung eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes zur Filmemigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Das Projekt mit dem Titel „Geschichte der deutschsprachigen Filmemigration 1933 – 1945 (bis Gegenwart), dargestellt am Werk und Schicksal der (rund 900) exilierten Filmschaffenden“ bzw. in Kurzform „Geschichte der deutschsprachigen Filmemigration“ wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zwischen 1976 und 1982 mehrfach unterstützt. Die einzige Veröffentlichung, die aus dem mehrjährigen Projekt hervorging, ist eine 1987 im Kontext der Ausstellung Von Babelsberg nach Hollywood. Filmemigranten aus Nazideutschland publizierte Namensliste2, die 1532 Filmemigrant/innen verzeichnet.

1 Hortensia Völckers und Alexander Farenholtz: Grußwort der Bundeskulturstiftung. In: Günter Peter Straschek. Emigration – Film – Politik, hg. von Julia Friedrich, Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln 2018, S. 24. 2 Filmemigranten aus Nazideutschland. In: Von Babelsberg nach Hollywood. Filmemigranten aus Nazideutschland, hg. vom Deutschen Filmmuseum Frankfurt am Main, Exponatenverzeichnis. Frankfurt a. M. 1987, S. 8–22. https://doi.org/10.1515/9783110542103-013

„Mapping German Film Migration“ 

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Diese Namensliste basiert auf dem von Straschek bis zu seinem Lebensende 2009, also weit über den Förderzeitraum hinaus weitergeführten Forschungsprojekt zum Filmexil, welches er unter der formalen Leitung des Filmwissenschaftlers Thomas Koebner im Schwerpunktprogramm Exilforschung der DFG durchgeführt hat. Dieses Schwerpunktprogramm umfasste in dem Zeitraum von 1973 bis 1984 insgesamt vierzig Projekte. Straschek nutzte eine aus seiner WDR-Sendereihe resultierende Liste mit Kontaktdaten von Exilant/innen, um systematisch umfangreiche Fragebögen für sein Forschungsprojekt auszusenden. Abgefragt wurden Lebensdaten, Angaben zu Familienangehörigen, zum Lebenslauf, zur Fluchtgeschichte und zur Berufstätigkeit im Exil. Detailfragen richteten sich beispielsweise auf die Arbeitserlaubnis im Ausland, Gewerkschaftszugehörigkeit, Künstleragenturen, Schwierigkeiten im Kontext der Anhörungen des House Un-American Activities Committee (HUAC) und die Erfahrung mit Hilfsorganisationen.3 Nach Karin Rausch, der Lebensgefährtin Strascheks, die mehrere Jahre an dem Projekt mitarbeitete und dieses nach 1983 durch ihre Tätigkeit als Übersetzerin auch mitfinanzierte, funktionierte die Personensuche wie ein Schneeballsystem.4 Das Archiv von Straschek enthält aber nicht nur Akten zu den 1532 veröffentlichten Namen, sondern geht weit darüber hinaus. Im Laufe der Jahre hat Straschek die Namen von über dreitausend Personen zusammengetragen. Allerdings dokumentieren viele der überlieferten Personenakten nur Suchverläufe nach Personen, die entweder nie gefunden wurden oder zu denen nur entfernte Verwandte Auskunft geben konnten. Zu diesen Personen gibt es entweder einen Eintrag im Bühnenverzeichnis der 1930er Jahre oder sie wurden in einem Filmabbzw. Vorspann oder in einem der tausend Briefe erwähnt, die das Straschek-Archiv umfasst. Der Bezug zur Filmindustrie bleibt allerdings bei vielen Personen unklar. Das Vorgehen, Daten von Personen bis in die Eltern-, teilweise sogar GroßelternGeneration zu erfassen und somit auch die Verfolgung von Jüdinnen und Juden zu dokumentieren, die teilweise seit mehreren Generationen in Deutschland lebten, zeugt von einem Vorhaben, das eines ungleich größeren Forschungsteams bedurft hätte, als Günter Peter Straschek und Karin Rausch es darstellten. Als Ergebnis der Forschung war ein dreibändiges Lexikon geplant: Band I sollte alle relevanten Themen des Exils behandeln („Flucht, Leben, Arbeit“), etwa die verschiedenen

3 Der Fragebogen ist einsehbar im Archiv von Günter Peter Straschek im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main. 4 Vgl. Imme Klages: „Abgemeldet nach Theresienstadt“. Karin Rausch über ihre Zusammenarbeit mit Günter Peter Straschek. In: Günter Peter Straschek. Emigration – Film – Politik, hg. von Julia Friedrich, Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln 2018, S. 262–266.

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 Imme Klages, Alexandra Schneider

Exilländer, die Berufsgruppen, aber auch die Rückkehr und die geplante „Wiedergutmachung“ nach 1945. Ein Teil darin war für das Thema „Faschismus und Film“ vorgesehen. Die Bände II und III waren als Personenlexika angelegt, sie sollten auch ausführliche Filmografien zu den einzelnen Filmschaffenden enthalten. Dieses Vorhaben konnte nicht zum Abschluss gebracht werde. Strascheks Filmexilforschung weitete sich zu einer Erforschung der Verfolgung und Vernichtung ganzer Familienzweige aus, die Gegenstand der Interviews und persönlichen Briefe und Korrespondenzen waren. Bis Ende der 1970er Jahre wurden die Informationen während Telefongesprächen auf Zetteln notiert und bis in die späten 1990er Jahre erfolgte das Sammeln von Informationen über Korrespondenzen. In langen persönlichen Gesprächen wurden Lebensgeschichten teilweise stenografisch erfasst.5 Diese Lebensgeschichten zeugen von der unfassbar grausamen Erfahrung der Flucht, vom Zurücklassen allen Hab und Guts und vieler geliebter Menschen. Für Straschek wurde es immer schwieriger, am Ende gar unmöglich diese Geschichten in einem Lexikon zu erfassen. Außerdem fehlten viele Lebensdaten, besonders zur Elterngeneration, aber auch bei den recherchierten Personen aus der Filmbranche konnte er nicht immer einen Nachweis für Geburtsort und -datum auffinden. Diese Lücken blieben bis in die letzten Entwürfe für die Lexikoneinträge als Fragezeichen bestehen. Viele der gesuchten Personen waren in den 1970er/80er Jahren schon verstorben, und es lebten auch keine Verwandten, die Daten verifizieren konnten. In einem Interview beschreibt Karin Rausch die Probleme des Projektes wie folgt: Es gibt viele Gründe, warum Günter nicht fertig geworden ist, aber drei sind entscheidend: erstens die Datenschwemme. Wir sind ohnehin in Daten buchstäblich ertrunken, täglich kamen neue Informationen herein, von Personen, von Archiven, Behörden  – und dann kam die Öffnung des Ostens. Da waren plötzlich Hunderte von Archiven zugänglich, und Günter war zu dem Zeitpunkt nicht in der Lage, nach den vielen Recherchen einen Schnitt zu machen. Zweitens der Computer: Ende der 1980er-Jahre hat Günter mit dem Computer angefangen, aber 20  Jahre Recherche auf den Computer zu übertragen, war unmöglich alleine zu bewältigen. Nicht zu vergessen das Internet, wodurch sich die Datenmenge nochmal vervielfacht hat. Drittens Günters Akribie.6

5 Im Arbeitsbericht für die DFG von 1979 heißt es: „Interviews von G. P. Straschek und Dr. Karin Rausch zwischen Januar und Oktober 1979 in Wien, Berlin (West), Berlin (DDR), London, Denham, Frankfurt am Main, Kronberg i. T., Düsseldorf, Pforzheim, Stuttgart, München, Starnberg, Rottach-Egern, Findon, Churchdown mit: Siegfried Lubliner, Dr. Matityahu Kranz, […].“ Es folgen 64 Namen. Akte Koebner Ko 453/10 Bundesarchiv B227I/021586 fol.1. 6 Klages: Karin Rausch über ihre Zusammenarbeit, S. 264.

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Der Filmwissenschaftler Thomas Koebner, der die Forschungsanträge bei der DFG gestellt hatte, erklärt in einem Beitrag die Gründe, weshalb die Projektunterlagen nach dem Tode von Günter Peter Straschek nicht an ein Filmarchiv, sondern nach Frankfurt in das Deutsche Exilarchiv 1933–1945 gingen, wie folgt: Das Personenlexikon zu den von ihm ausgewählten Emigranten hat Straschek im Rückblick erkennen lassen, dass er eher einen Beitrag zum jüdischen Exil geleistet hat (über Menschen, die näher oder entfernter mit dem Filmmetier verbunden waren oder sich zur Familie von Filmleuten rechneten) als eine Rekonstruktion des ausgewanderten Filmmilieus. Daher wünschte er auch testamentarisch, sein Opus magnum solle einem Archiv für Exilforschung überantwortet werden und nicht primär einem Filmmuseum.7

Dass das Archiv von Günter Peter Straschek vom Deutschen Exilarchiv 1933–1945 angekauft wurde und die umfangreichen Recherchen zu diesem Projekt damit seit 2009 in einem öffentlichen Archiv lagern, ist im Grunde ein Glücksfall. Denn im Unterschied zu anderen Ländern gehören in Deutschland aufgrund der verfassungsrechtlich gewährten Wissenschaftsfreiheit Forschungsdaten zunächst den forschenden Hochschullehrer/innen: „Sie sind daher grundsätzlich nicht verpflichtet, dem Dienstherren ihre Forschungsergebnisse zur Verfügung zu stellen.“8 Dadurch stehen viele Forschungsdaten bislang nicht für die Re-Evaluation durch eine neue Generation von Forschenden zur Verfügung. Gleichwohl bieten solche Datenbestände aus heutiger Sicht ein großes Potential für die Zukunft: So könnten solche Daten, die von vorherigen Generationen von Filmhistoriker/innen so aufwendig und sorgfältig gesammelt wurden, analysiert und unter verschiedenen neuen Fragestellungen an die Filmgeschichte neu ausgewertet werden.9 Im Fall der von Straschek erhobenen Daten sind die digital erfassten Informationen wohl leider verloren gegangen, aber das umfangreiche Papierarchiv ist für die Forschung zugänglich. Allerdings wäre es aus diversen Gründen wenig zielführend, würde ein neues auf dem Archiv von Günter Peter Straschek aufsetzendes Projekt versuchen, die angefangene Arbeit auf vergleichbare Weise weiter-

7 Thomas Koebner: Günter Peter Straschek. In: film-dienst 1 (2001), S. 16. 8 Linda Kuschel: Wem „gehören“ Forschungsdaten?, unter: forschung-und-lehre.de/wemgehoeren-forschungsdaten-1013/ (Zugriff: 20. 1. 2019). 9 Die Arbeiten von Helmut G. Asper, Christopher Horak, Marta Mierendorff, Maria Hilchenbach, Heike Klapdor, Barbara Steinbauer-Grötsch, Christian Cargnelli, Tim Bergfelder, die Veröffentlichungen von Synema Wien und von Michael Omasta und Brigitte Mayr, die vielen Artikel der Zeitschrift Filmexil und die unzähligen Monografien zu einzelnen Filmschaffenden im Exil sind unschätzbar wichtige und im Gegensatz zu Straschek auch publizierte Forschungsarbeiten zum Filmexil, die sich hier kaum zusammenfassen lassen, sie bleiben die grundlegende Forschungsliteratur und Voraussetzung für ein digitales Projekt.

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bzw. sogar zu Ende zu führen. Die vollständige Erschließung und Rekonstruktion des Lexikonvorhabens kann entsprechend nicht Gegenstand eines neuen Projekts sein. Zwar sind die bekannteren Persönlichkeiten der Filmbranche, darunter insbesondere die Filmmusiker, online gut erschlossen. Helmut G. Asper hat mit der Publikation „Etwas Besseres als den Tod …“. Filmexil in Hollywood einen Überblick über die verschiedenen Berufssparten der Filmbranche im Exil mit Kurzbiografien im Fließtext und weiterführender Literatur vorgelegt.10 575 Künstler und Künstlerinnen führt Kay Weniger in seinem Lexikon emigrierter Filmschaffender 1933 bis 1945 auf, wobei er die Personenauswahl streng auf diese Zeitspanne eingrenzt.11 Jedoch fehlt bis heute ein umfassendes Nachschlagewerk zum Filmexil, so wie es für die Literatur-, Musik-, und die Theaterwissenschaft vorliegt. Was deutlich wird: Die erste Hürde für ein neues Projekt liegt bei den Daten. Im Unterschied zur Musikwissenschaft12 fehlt der Filmwissenschaft eine Datenbank mit verifizierten Daten zum Filmexil. Wie wichtig eine solche Datenbank ist, wird deutlich, wenn man sich die existierenden Datenbanken zur deutschen Filmgeschichte genauer ansieht. So führt etwa das Filmportal, die Internetplattform zum deutschen Film, meist nur die bekannteren Namen der Straschek-Liste auf: 978 von mindestens zweitausend Personen mit verifizierbaren Filmcredits. Gleichzeitig ist das Filmportal per Definition als die Filmografie einer nationalen Kinematographie aufgesetzt, das heißt, die Einträge sind beschränkt auf die deutschen Produktionen von deutschen Filmemachern und enthalten somit, mit einigen Ausnahmen, kaum Exilproduktionen. Zum Wirken des Kameramanns Willy Goldberger z.  B. weist die Internetplattform Filmportal eine filmografische Lücke von siebzehn Jahren auf, in denen Goldberger etliche Filme drehte. Auf der anderen Seite enthält die Datenbank des American Film Institutes (AFI) nur die amerikanischen Produktionen der exilierten Filmemacher, die in den USA arbeiten durften. Hier werden zwei Filmtitel für Willy Goldberger (beim AFI als

10 Helmut G. Asper: „Etwas Besseres als den Tod …“. Filmexil in Hollywood. Porträts, Filme, Dokumente. Marburg 2002. 11 Kay Weniger: „Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben  …“. Lexikon der aus Deutschland und Österreich emigrierten Filmschaffenden 1933 bis 1945. Eine Gesamtübersicht. Hamburg 2011. Siehe auch Kay Weniger: Zwischen Bühne und Baracke: Lexikon der verfolgten Theater-, Film- und Musikkünstler 1933 bis 1945. Berlin 2008. 12 Der Anspruch von Straschek an die Daten gleicht dem des Lexikons verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM). Bei Straschek sind die Lebensdaten oft belegt durch kopierte oder originale Geburts- und Sterbeurkunden. Die Berufe/Tätigkeiten, die Verfolgungsgeschichte (hier recherchierte Straschek erheblich mehr zu der Familie), die Frage der Remigration, ein Werkverzeichnis/Filmografie und publizierte Dokumente sowie Literatur zu der und über die Person wurden von Straschek gesammelt.

„Mapping German Film Migration“ 

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„Willi“ erfasst) geführt. Was nun für das von uns angestoßene Projekt mit dem Arbeitstitel „Mapping German Film Migration“ nötig wäre13, ist eine Datenbank, welche die historischen Filmproduktionen global aggregiert. Zurzeit erreicht dies nur die International Movie Database (IMDb), die allerdings 1998 von Amazon gekauft wurde und seitdem kommerziell geführt wird. Sie erlaubt die Nutzung der Daten für wissenschaftliche Zwecke nur in einem sehr begrenzten Rahmen. Dort aber sind die über sechzig Filmtitel überwiegend spanischsprachiger Produktion von Willy Goldberger verzeichnet, die dem Filmportal fehlen. Der Personeneintrag enthält zudem eine Biografie, die auch Goldbergers vermeintliche Fluchtroute aufzeigt. Cinematographer Wilhelm Goldberger had already gained a foothold in the film business in 1915 […]. His life was turned upside down when as a Jew he had to leave Germany after the takeover of the National Socialists. In the next years he lived and worked in numerous European countries but had the luck to be able to got many engagements as a cinematographer again. When Austria also did no longer offer a secure existence he went via Sweden and Portugal to Spain where he could continue his film career again with no problems. Together with the also emigrated cinematographer Heinrich Gärtner he ran a school for cinematographers and they impressed the next generation of Spanish film workers behind the camera. On some Spanish films he is credited as Guillermo Goldberger. When Wilhelm Goldberger retired from his professional life his traces went lost. His year of death is unknown so far.14

Das Datum seines Todes 1961 in Madrid wiederum und präzise Angaben zum Fluchtweg sind bislang nur in den Straschek-Akten zu finden. Sie sind in kurzen, der Stenografie ähnlichen Notizen teilweise auf der Rückseite des unbeantworteten Fragebogens von Willy Goldberger notiert: Begann 1915 bei Joe May Film als Ph. 1917/18 in K.K.Armee, bis 1933 in Berlin Ph., zuletzt 15 Filme bei Super-Film, von April 33 bis März 38 in A(Wien), März 38 nach Paris bis Einmarsch Dt. Truppen (Arbeitsverbot in F), nach Biarritz, von dort nach E, Ph in Madrid, 1953 „Hochzeit auf Reisen“ für Interglobal-Produktion, 1941 Umzugsgut in Wien von Gestapo beschlagnahmt, WG als PH 1500–1800 RM pro Woche. In E während WW2 ohne Arbeit – unterstützt vom joint. Dann in E 2000 Pesetas pro Woche. In BRD 2 Filme „Hochzeit auf Reisen“ und „Ein Haus voll Liebe“, 55–59 nicht mehr Ph. Zuwendung von To, die Kunstgewerblerin ist. 1961 reicht Rechtsanwalt Einverständnis von WG zur Rente ein (vorher Wiedergutmachungszahlung eingereicht).15

13 Das Projekt befindet sich in der Planungsphase. 14 Ungezeichneter Eintrag auf IMDb zu Willy Goldbergers Biografie www.imdb.com/name/ nm0005724/bio?ref_=nm_ov_bio_sm (Zugriff: 20. 1. 2019). 15 Nachlass Günter Peter Straschek im Deutschen Exilarchiv 1933–1945, Konvolut an Unterlagen zu Willy Goldberger, EB 2012/153-D.01.1042.

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Der hier erfasste Fluchtweg unterscheidet sich von dem auf IMDb.com veröffentlichten. Straschek konnte nicht auf ein persönliches Gespräch mit Willy Goldberger zurückgreifen, da dieser bereits 1961 verstorben war (das wiederum geht aus der Akte von Goldbergers Bruder Isidor Goldberger hervor), seine Informationen entnahm er vermutlich den Wiedergutmachungsakten, die er in diesem Fall eingesehen hatte. An diesem Beispiel wird deutlich, wie schwierig die Ermittlung von Filmexildaten von Anfang an war.

2 Entwicklung eines digitalen Verfahrens zum Erhalt der Straschek Daten Anstatt also die Arbeit zu Ende zu führen, nimmt „Mapping German Film Migration“ die von Straschek gesammelten Personendaten zum Ausgangspunkt, um neue Zugänge zum deutschen Filmexil zu erarbeiten. An der Schnittstelle von Filmwissenschaft, Exilforschung und Informatik zielt das Projekt auch auf die Anwendung und Weiterentwicklung computerbasierter Filmhistoriographie. Nach Eric Hoyt, Kit Hughes und Charles R. Acland können mindestens drei Felder der digitalen Filmgeschichte oder Data Driven Media History ausgemacht werden16: 1. Digitalisierung von Quellen und digitale Editionen: Dazu gehören digital restaurierte Filmversionen, digitalisierte audiovisuelle Quellen17 und digitalisierte Papierquellen18, das digitale Repositorium für medienwissenschaftliche Publikationen „Mediarep“ (mediarep.org/) oder für den Kontext der Filmexilforschung „Exilpresse digital“19 um nur ein paar Beispiele zu nennen.20 2. Die textuelle Analyse von Medieninhalten, meist modelliert als distant reading: Die Methode zielt auf das Erkennen von Mustern und Strukturen, wie z.  B. Stil-Analysen, die auf Big Data beruhen. Dazu gehört etwa die von Yuri Tsivian entwickelte Software Cinemetrics, welche die durchschnittliche Länge der Einstellungen zählt und dadurch aufzuzeigen versucht, wo die Spannung in einem Film ansteigt (cinemetrics.lv/database. php (Zugriff: 9. 1. 2019). Ebenso zählt die BMBF-Nachwuchsgruppe „Affektrhetoriken des

16 Vgl. Eric Hoyt, Kit Hughes und Charles R. Acland (Hg.): The Arclight Guidebook to Media History and the Digital Humanities. Falmer 2016, unter: projectarclight.org/wp-content/uploads/ ArclightGuidebook.pdf (Zugriff: 21. 1. 2019), S. 2–6. 17 Beispielsweise die Prelinger Archives (archive.org/details/prelinger/) 18 Beispielsweise die Media History Digital Library (mediahistoryproject.org) 19 https://www.dnb.de/exilpressedigital 20 Ein weiteres Beispiel wäre die von Barbara Flückiger kuratierte „Timeline of Historical Film Colors“ (zauberklang.ch/filmcolors/), auf der u.  a. digitalisierte Filmstills zu finden sind.

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Audiovisuellen“ zu diesem Feld, die z.  B. anhand von eMAEX (electronically based media analysis of expressive movements) filmische Ausdrucksqualitäten systematisch zu analysieren versucht (ada.cinepoetics.fu-berlin.de/).21 3. Im weitesten Sinne sozial und kulturhistorische Projekte zur Produktion, Distribution und Rezeption von Bewegtbildern22: Dazu zählen die Untersuchungen der australischen Filmwissenschaftlerin Deb Verhoeven mit Kinomatics23, in der globale Distributionsströme der Industrie und Gender Ungleichheiten in der Filmwirtschaft visualisiert werden. Ein weiteres wäre auch die 3D Visualisierung eines Amsterdamer Kinos24 unter der Leitung von Julia Noordegraaf.25

Grundsätzlich würden sich alle drei Felder für Projekte zu einer digitalen Filmgeschichte des deutschen Filmexils anbieten, wobei das Straschek-Archiv in erster Linie Daten für das dritte Feld bereitstellt. Das schließt eine Digitalisierung des umfangreichen Aktenbestandes – im Sinne des ersten Feldes – nicht grundsätzlich aus. Jedoch wäre, abgesehen von Problemen mit dem Persönlichkeitsrecht, auch der ökonomische Aufwand kaum zu legitimieren, zumal damit noch keine moderierten Zugänge zum Material gegeben wären. Für das Forschungsprojekt wurde entschieden, zunächst die auf den „Deckblättern“ des StraschekArchivs verzeichneten personenbezogenen Daten zu erfassen. Zu einem späteren

21 Jan-Hendrik Bakels: Audiovisuelle Rhythmen. Filmmusik, Bewegungskomposition und die dynamische Affizierung des Zuschauers. Berlin, Boston 2017, S. 70. 22 Seit den 1990er Jahren wurden Datenbankprojekte in diesem Bereich vorangetrieben, dazu gehören etwa das an der Columbia University entwickelte „Women Film Pioneer Project“ (wfpp. cdrs.columbia.edu/), das europäische „HoMER Netzwerk History of Moviegoing, Exhibition and Reception“ (homernetwork.org/digital-homer/), die niederländische Online Datenbank „Cinema Context“ (cinemacontext.nl, europeancinemaaudiences.org/) und Giovanna Fossatis, Eef Massons und Christian G. Olesens Forschungsprojekt „The Sensory Moving Image Archive“ (SEMIA): Boosting Creative Reuse for Artistic Practice and Research, u. v.  a. 23 Deb Verhoeven, Kate Bowles, Colin Arrowsmith: Mapping the Movies. Reflections on the Use of Geospatial Technologies for Historical Cinema Audience Research. In: Michael Ross, Manfred Grauer und Bernd Freisleben (Hg.): Digital Tools in Media Studies. Analysis and Research. An Overview. Bielefeld 2009, S. 69–81 und „Kinomatics: The industrial geometry of culture“, unter: kinomatics.com/ (Zugriff: 19. 1. 2019). 24 Julia Noordegraaf, Loes Opgenhaffen und Norbert Bakker: Cinema Parisien 3D: 3D Visualisation as a Tool for the History of Cinemagoing. In: Alphaville: Journal of Film and Screen Media 11 (2016), S.  45–61, unter: alphavillejournal.com/Issue11/ArticleNoordegraaf_ OpgenhaffenandBakker.pdf (Zugriff: 29. 1. 2019). 25 An Julia Noordegraafs Lehrstuhl für digitales Erbe und digitale Kultur an der Universität Amsterdam wurde etwa das „Digital Heritage Lab“ entwickelt; dort sind weitere Forschungsprojekte etwa zur Konservierung von digitaler Kunst (Horizon 2020 Projekt „NACCA“) und zur Wiederverwendung von digitalem Erbe in der von Daten betriebenen historischen Recherche („ACHI’s CREATE und Perspectives on Data Quality“) angesiedelt.

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Zeitpunkt kann zum Zweck einer Visualisierung des Archivs eine punktuelle Digitalisierung von Dokumenten (als Bild oder OCR-lesbare Datei) hinzukommen. Für alle der drei genannten Felder stehen verschiedene digitale Werkzeuge zur Verfügung, um digitale Daten zu analysieren und oder zu visualisieren.26 Der Bogen spannt sich von durch Algorithmen gesteuerte Methoden wie die Netzwerkanalyse über kartographische oder Mapping-Verfahren bis hin zum digitalen Story-telling auf crossmedialen Plattformen.27 Im Folgenden sollen einige ausgewählte Fragestellungen in Verbindung mit möglichen digitalen Tools vorgestellt werden, die dazu dienen könnten, das Straschek-Archiv als Ausgangspunkt für eine neue digital unterstützte Geschichte des deutschen Filmexils zu nutzen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass nicht die bekannten Filmschaffenden des Filmexils, sondern gerade diejenigen Berufssparten primär in den Blick genommen werden sollen, denen von der filmhistorischen Forschung bislang wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde, wie etwa die Kameramänner.

2.1 Fallstudie Mapping von strukturierten und angereicherten Daten aus dem Straschek-Archiv Für eine Fallstudie, die sich mit dem Berufsfeld der Kameramänner beschäftigt, wurde probeweise zunächst ein einfaches Mapping der Biografien einiger Kameramänner und ihrer Fluchtrouten vorgenommen. In einem zweiten Schritt wurden sodann die Filme, an denen sie arbeiteten, digital sortiert, um zu erfahren, an welchen Projekten und in welchen Kooperationen sie arbeiteten. Auf der nachfolgenden Darstellung (Abb. 1a–d) sind die Personendaten von acht Kameramännern (Straschek zählte den Fotografen Hans Casparius zu den Kameramännern) verzeichnet: ihre Geburtsorte und auf den folgenden Karten das erste, zweite und dritte Land ihrer Migration. Mithilfe einer konventionellen Excel-Tabelle (Abb. 2) wurden die Namen und Lebensdaten der Kameramänner aus dem Straschek-Archiv gesammelt.28 Wie

26 Zum Beispiel das Searchtool „Lantern“ (lantern.mediahist.org/) oder das Visualisierungstool „Project Arclight“ (search.projectarclight.org/). 27 Siehe dazu: Hoyt/Hughes/Acland (Hg.): Guidebook, S. 30  ff; Michael Ross, Manfred Grauer und Bernd Freisleben (Hg.): Digital Tools in Media Studies. Analysis and Research. An Overview. Bielefeld 2009. 28 Dies geschah allerdings nur bis zu dem Buchstaben „L“, die weiteren Namen (nach „L“) stammen aus der Namensliste der Ausstellung von 1987 (siehe Anm. 2) kombiniert mit den Berufsbezeichnungen aus dem Filmportal.

„Mapping German Film Migration“ 

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Abb. 1a: Karte Migrationsrouten Kameramänner (Exilland I–III).

oben bereits vermerkt, stellen die IMDb-Daten momentan die verlässlichste und bislang vollständigste digitale Datenbank für filmografische Informationen zum Filmexil dar. Allerdings ist die Zuverlässigkeit der Daten nicht zu überprüfen, da es keine Angaben zur Provenienz gibt. Der Zugriff auf die Daten ist zudem offiziell stark eingeschränkt, auch nach mehrmaligen Anfragen wurden nur die öffentlichen csv-files der Datenbank freigegeben. In diesen Files werden jeweils die vier angeblich wichtigsten Filmtitel einer Person aufgeführt – vier aus einem Gesamtwerk von teilweise über sechzig Filmen, wobei es keine Informationen gibt, nach welchen Kriterien diese Titel ausgewählt wurden.29 Für jeden Namen steht sodann 29 In einer Quelle der IMDb hieß es: nach der „Beliebtheit“ der Filme. Doch wie bewertet IMDb Beliebtheit? Zu vermuten ist, dass diese Bewertung nach den Suchanfragen vorgenommen wird, was filmhistorisch erstmal irrelevant ist. Weitere Daten müssten händisch extrahiert werden.

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Abb. 1b: Karte Migrationsroute Edmund Gerard (1910 * Berlin, gest. 1983 in Great Neck, USA).

ein so genannter IMDb-Namen-Identifier und der Eintrag zum Berufszweig (teilweise mehrere Berufszweige Cinematographer und camera_department) zur Verfügung. Die Filmtitel haben ebenfalls jeweils einen IMDb-Filmtitel-Identifier. Ein entsprechender Datenvergleich zeigt, dass am Film Die Frau im Mond (1929) Curt Courant und Otto Kanturek, zwei später exilierte Kameramänner, zusammenarbeiteten, wie auch Friedrich Dalsheim und Hans Scheib am Dokumentarfilm The wedding of Palo (1934). Explorativ können diese Datensätze einige interessante Zusammenhänge aufzeigen, z.  B. wer wann mit wem zusammenarbeitete und an welchen Filmen. Diese  – wie dargestellt nur in Auszügen veröffentlichten  – Daten sind jedoch bei weitem nicht ausreichend, um einen umfassenden Überblick (schon allein nur für die Kameramänner) zu erhalten. Dieser Identifier-Vergleich ist

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Abb. 1c: Karte Migrationsroute Isidor Goldberger (1892 * Berlin, gest. 1987 Barcelona, Spanien).

nur ein Schritt auf dem Weg zu einer erweiterten Aussage zum Filmexil. Für Kautschuk (1938), eine UFA-Produktion, führt IMDb die Brüder Franz und Edgar Eichhorn für die Kameraarbeit an. Mit Hilfe der Namensliste von Straschek ist festzustellen, dass beide Brüder Eichhorn nach Brasilien ins Exil gingen, Franz Eichhorn starb in Rio de Janeiro und sein jüngerer Bruder Edgar in Petropolis in den 1980er Jahren. Jedoch sind keine Informationen über ihre Arbeitsmigration und Exilgeschichte auf Filmportal, IMDb oder in anderen Online-Datenbanken zu finden. Die digitalen Methoden sind bislang noch nicht auf den Gesamtbestand angewendet worden. Das Mapping in Abb.  1a–d wurde manuell erstellt und auch der Abgleich der Straschek-Liste mit der IMDb-Datei in Abb. 2 wurde nicht systematisch programmiert. Um nicht nur einige der Kameramänner und deren

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Abb. 1d: Karte Migrationsroute Edgar Eichhorn (1905 * Ansbach, gest. 1980 Rio de Janeiro, Brasilien).

Fluchtrouten in dieser Form zu untersuchen, sondern die siebzig bis achtzig Kameramänner, die in der Straschek-Sammlung geführt werden, wird zurzeit an der Aggregation von Daten gearbeitet. Eine solche könnte mit einem umfassenden Zugriff auf die filmografischen Daten auf IMDb sinnvoll modelliert werden. Insbesondere die Daten über die Produktionsländer sowie alle Filmtitel einer Person sind notwendig für eine Untersuchung der Fluchtrouten und der verschiedenen Arbeitsstationen.

„Mapping German Film Migration“ 

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Abb. 2: Matching Straschek-Namensliste mit IMDb_name_basics_tsv.

2.2 Fallstudie Netzwerkvisualisierung Ein Datengraph Modell30 könnte sodann sinnvoll eine Netzwerk-Analyse befördern. Ein komplexer Graph zeigt über die Entstehungsdaten und -orte die Beziehungen zwischen Filmen sowie die Beteiligung von Exilant/innen an. Über die Arbeits- und Transitorte kann die Beziehung zwischen den Filmschaffenden dargestellt werden. Durch die Möglichkeit der eigenen Zuordnung der Daten wird der Graph sehr variabel und viele Knotenpunkte müssen genau definiert und geplant werden. Nach eigenen, in der Folge stets zu berücksichtigenden Regeln wird ein neues digitales Universum erfunden. Auf Basis eines Datengraphen mit verlinkten Daten wäre es möglich, Fragen zum deutschen Filmexil zu formulieren, die sowohl das transnationale Ausmaß und die Netzwerke des Exils sowie die vielen zerstörten Karrieren der dreitausend Filmschaffenden der kreativen Industrie vor, während und nach dem Nationalsozialismus abbilden könnten. Filmexilant/innen und ihre Arbeit in teilweise fünf verschiedenen Filmindustrien mit verschiedenen Traditionen des Filmemachens könnten sichtbar gemacht werden. Die Produktivität der exilierten Filmschaffenden würde über die Grenzen national angelegter Datenbanken hinaus erkennbar. In diesen ist die Exilgeschichte nur über die Sterbeorte in einzelnen Personendaten verankert und damit nur für diejenigen erkennbar, die sich mit dieser Thematik beschäftigt haben. Eine Neu-

30 In einem Datengraphen werden die Daten entweder als Knoten, Kanten oder Attribute gespeichert. Jeder Knoten hat eine beliebige Anzahl von Attributen, so dass eine Person/Exilant/in mit mehreren Attributen ausgestattet werden kann. Ein Exilant oder eine Exilantin (Knoten) wird mit dem Attribut „arbeitete als“, oder „emigrierte nach“ versehen (Kanten); dies sind Beziehungen, die der Datengraph beschreiben kann. Später kann der Graph Personengruppen heraussuchen, indem z.  B. nach einer Berufsgruppe gefragt wird; zugleich wird das Beziehungsgeflecht der Person aufgezeigt.

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gestaltung digitaler Online-Datenbanken könnte das Filmexil angemessen würdigen und für nachfolgende Generationen nachvollziehbar machen.

3 Mind the gap Digitale Verfahren liefen besonders in der Anfangsphase der digitalen Geisteswissenschaften oftmals Gefahr, in statistischen Zahlen- und Visualisierungsmodellen aufzugehen, die wenig neue Erkenntnisse für den Forschungsbereich brachten.31 Andreas Fickers schlägt für die Überbrückung der alten zur neuen „user Generation“ vor: […] future historians cannot escape the productive confrontation with the new technical, economic and social realities of the digital culture. Instead of digital escapism and methodological conventionalism the discipline of history is rather in need of a new digital historicism. This digital historicism should be characterized by collaboration between archivists, computer scientists, historians and the public, with the aim of developing tools for a new digital source criticism.32

Isidor Goldberger, der Bruder des oben erwähnten Willy Goldberger, beschreibt sein Unbehagen an der Statistik als Antwort auf Strascheks Fragebogen am 21. Juli 1980 wie folgt: Erhielt dankend Ihre Zuschrift v. 20. Mai 1980, durch laengere Abwesenheit von Barcelona, komme ich jetzt erst dazu Ihnen zu antworten. Ich bin doch wirklich eine ganz unwichtige Person, was zu sagen war, abgesehen von einem Irrtum in der Angabe der Geburtsjahre meiner Eltern, ein Versehen, dass mir heute unerklaerlich ist, wen koennte es noch interessieren etwas ueber meine Verwandten zu erfahren, die, wie ich im Oktober 1933 Berlin verliess alle lebend wusste und spaeter durch Briefe und auf Umwege erfuhr, dass es einigen unter groessten Schwierigkeiten gelang, Palästina, Holland, England, Amerika zu erreichen, einige aus Konzentrationslagern gerettet wurden, ein Onkel in Warschau erfror und andere wie meine arme Schwester mit ihrem Mann und den zwei Kindern vernichtet wurden, was in Auschwitz geschah. Wen sollte das noch heute beeindrucken und wozu die Statistik.

31 Julia Noordegraaf et al. warnt ebenso wie Johanna Drucker und Deb Verhoeven vor der Vereinnahmung der Forschungsfrage durch die Methoden. Vgl. Julia Noordegraaf, Kathleen Lotze und Jaap Boter: Writing Cinema Histories with Digital Databases: The Case of Cinema Context. In: Tijdschrift voor Mediageschiedenis 21 (2018), H. 2, S. 106–107. 32 Andreas Fickers: Towards a New Digital Historicism? Doing History in the Age of Abundance. In: VIEW Journal of European Television History and Culture 1 (2012), H. 1, S. 19–26, unter: orbilu. uni.lu/bitstream/10993/7615/1/4-4-1-PB.pdf (Zugriff: 29. 1. 2019).

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Wozu die Statistik? Statistik kann kein Leid vergleichbar machen, und sie kann und soll dieses auch nicht einordnen. Doch kann ein Projekt, das sich der von Straschek über Jahre gesammelten Informationen annimmt, Wissenslücken aufzeigen und diese zumindest ansatzweise schließen. Dass es dabei nicht nur um das Zählen, sondern vor allem auch das Erzählen gehen muss, verstehen wir dabei als forschungsethische Bedingung für ein Projekt, dass sich mit der Geschichte des deutschen Filmexils befassen will.

Literaturverzeichnis Asper, Helmut G.: „Etwas Besseres als den Tod …“. Filmexil in Hollywood. Porträts, Filme, Dokumente. Marburg 2002. Bakels, Jan-Hendrik: Audiovisuelle Rhythmen. Filmmusik, Bewegungskomposition und die dynamische Affizierung des Zuschauers. Berlin, Boston 2017. Fickers, Andreas: Towards a New Digital Historicism? Doing History in the Age of Abundance. In: VIEW Journal of European Television History and Culture 1 (2012), H. 1, S. 19–26, unter: orbilu.uni.lu/bitstream/10993/7615/1/4-4-1-PB.pdf (Zugriff: 29. 1. 2019). Filmemigranten aus Nazideutschland. In: Von Babelsberg nach Hollywood. Filmemigranten aus Nazideutschland, hg. vom Deutschen Filmmuseum Frankfurt am Main, Exponatenverzeichnis. Frankfurt a. M. 1987, S. 8–22. Hoyt, Eric, Kit Hughes und Charles R. Acland (Hg.): The Arclight Guidebook to Media History and the Digital Humanities. Falmer 2016, unter: projectarclight.org/wp-content/uploads/ ArclightGuidebook.pdf (Zugriff: 21. 1. 2019). Klages, Imme: „Abgemeldet nach Theresienstadt“. Karin Rausch über ihre Zusammenarbeit mit Günter Peter Straschek. In: Günter Peter Straschek. Emigration – Film – Politik, hg. von Julia Friedrich, Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln 2018, S. 262–266. Koebner, Thomas: Günter Peter Straschek. In: film-dienst 1 (2001), S. 16. Kuschel, Linda: Wem „gehören“ Forschungsdaten?, unter: forschung-und-lehre.de/wemgehoeren-forschungsdaten-1013/ (Zugriff: 20. 1. 2019). Noordegraaf, Julia, Kathleen Lotze und Jaap Boter: Writing Cinema Histories with Digital Databases: The Case of Cinema Context. In: Tijdschrift voor Mediageschiedenis 21 (2018), H. 2, S. 106–107. Noordegraaf, Julia, Loes Opgenhaffen und Norbert Bakker: Cinema Parisien 3D: 3D Visualisation as a Tool for the History of Cinemagoing. In: Alphaville: Journal of Film and Screen Media 11 (2016), S. 45–61, alphavillejournal.com/Issue11/ArticleNoordegraaf_ OpgenhaffenandBakker.pdf (Zugriff: 29. 1. 2019). Ross, Michael, Manfred Grauer und Bernd Freisleben (Hg.): Digital Tools in Media Studies. Analysis and Research. An Overview. Bielefeld 2009. Verhoeven, Deb, Kate Bowles und Colin Arrowsmith: Mapping the Movies. Reflections on the Use of Geospatial Technologies for Historical Cinema Audience Research. In: Michael Ross, Manfred Grauer und Bernd Freisleben (Hg.): Digital Tools in Media Studies. Analysis and Research. An Overview. Bielefeld 2009, S. 69–81.

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Völckers, Hortensia und Alexander Farenholtz: Grußwort der Bundeskulturstiftung. In: Günter Peter Straschek. Emigration – Film – Politik, hg. von Julia Friedrich, Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln 2018, S. 24. Weniger, Kay: Zwischen Bühne und Baracke: Lexikon der verfolgten Theater-, Film- und Musikkünstler 1933 bis 1945. Berlin 2008. Weniger, Kay: „Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben …“. Lexikon der aus Deutschland und Österreich emigrierten Filmschaffenden 1933 bis 1945. Eine Gesamtübersicht. Hamburg 2011.

III Museen, Sammlungen und Ausstellungen zum Exil

Sylvia Asmus

Exil. Erfahrung und Zeugnis. Zur Dauerausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek Verändert sich die Bedeutung und Wahrnehmung analoger Überlieferungen in einer zunehmend digitalen Welt? Sind sie verzichtbar? Verstärkt sich ihre Wirkung gar? Verändert die starke kulturwissenschaftliche Hinwendung zur Materialität kultureller Bestände, der sogenannte material turn, die Wahrnehmung anhaltend? Und können Archivdinge zum Sprechen gebracht werden? Solche und viele weitere Fragen stellten sich während der konzeptionellen Arbeit an der Ausstellung Exil. Erfahrung und Zeugnis. Als Dauerausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 orientiert sich die Schau in der Exponateauswahl am Zuschnitt der Sammlung. Das gab Anlass, einen kritischen Blick auf die eigene Einrichtung zu werfen. Mit dem Blick auf Sammelkriterien und Zuordnungen wurden Konzepte für die Ausstellung erarbeitet und wieder verworfen, der „ausstellerische Sprechakt“1, das Sprechen und Argumentieren durch die Exponate und mit ihnen, wurde kritisch reflektiert, Exponate wurden aus der Perspektive der heutigen Lebenswirklichkeit und vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungslage neu befragt. Die Gegenstände sind, wenn sie im Archiv eintreffen, zunächst funktionslos, sie sind „übriggeblieben“. Es sind viele merkwürdige Dinge darunter. In den Nachlässen, die im Exilarchiv verwahrt werden, sind Objekte überliefert, die nicht Eingang finden würden in Auktionskataloge oder andere Angebote, weil sich ihr Potential nicht ohne weiteres erschließt. Nach vielen dieser Dinge könnte man auch nicht suchen, weil gänzlich unbekannte oder in Vergessenheit geratene Personen sie hinterlassen haben oder weil die Objektform keine erwartete ist. Erst durch das Auffinden, Auswählen, Anschauen, Befragen und Kontextualisieren ermöglichen sie Aussagen. Auch das ist Teil der Ausstellung Exil. Erfahrung und Zeugnis. 250 Exponate, zu denen mehr als 300 Exilpublikationen hinzukommen, wurden für die Präsentation in der Ausstellung ausgewählt. Es sind sehr unterschiedliche Stücke: Fahrkarten, Andenken, Briefe, Tage- und Notizbücher, Fotografien, Koffer, textile Objekte und Audioexponate. Die Exponate werden in der Ausstellung unterschiedlich kontextualisiert und stiften selbst verschiedene

1 Joachim Baur: Die Musealisierung der Migration. Bielefeld 2009, S. 32. https://doi.org/10.1515/9783110542103-014

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 Sylvia Asmus

Zusammenhänge. Ihnen allen ist jedoch gemeinsam, dass sie für eine individuelle historische Erfahrung stehen. So wird ein multiperspektivischer Blick auf das historische Exil aus dem Machtbereich der nationalsozialistischen Diktatur möglich. Die Exponate werden in der Ausstellung Exil. Erfahrung und Zeugnis im Original präsentiert. Dies stellt besondere und aufwändige Anforderungen an die räumlichen Gegebenheiten. Was spricht also dafür, Originale zu präsentieren? Die originalen Zeugnisse können mehr leisten, als nur Speicher faktischer Informationen zu sein. Jedes einzelne Exponat hat die Fähigkeit, Empfindungen auszulösen: es kann Betroffenheit, Entsetzen, Bewunderung, Verwunderung, Ehrfurcht auslösen, es kann Neugierde wecken oder auch Gleichgültigkeit und Ablehnung hervorrufen und es kann, wenn Besucherinnen und Besucher sich darauf einlassen, die eigene Lebenswirklichkeit mit vergangenen Wirklichkeiten und mit Zukunft verbinden. Für die Ausstellung Exil. Erfahrung und Zeugnis wurden die Ausstellungsstücke aus Sammlungszusammenhängen gelöst, in neue Kontexte gebracht und zueinander und räumlich angeordnet. Materiell bleiben die Exponate unverändert, aber ihre Zeugenschaft wird sichtbarer, vielleicht zum ersten Mal wahrnehmbar. Den Exponaten ist eine über die Informationsebene hinausreichende Geschichtlichkeit eigen, die Besucherinnen und Besucher in der Ausstellung erfahren können. Eine Ausstellung ist eine visuelle und zugleich auch eine emotionale Erfahrung. Die Begegnung mit den Exponaten kann dazu anregen, eigene Vorstellungswelten zu hinterfragen. Dabei muss aber bewusst sein, dass die Wirkmacht des authentischen Exponats entscheidend vom Narrativ der Ausstellung und der geschaffenen Begegnungssituation abhängt. In einer Ausstellung werden die Exponate in besonderer Weise inszeniert, Bedeutung und zugleich Bedeutungszuschreibung werden erkennbar.2 Die Exponate der Ausstellung Exil. Erfahrung und Zeugnis verweisen auf das historische Exil aus dem Machtbereich der NS-Diktatur, denn das ist der Gegenstand der Sammlung des Deutschen Exilarchivs. Dennoch berühren sie die Gegenwart des Betrachtenden. Viele Themen des historischen Exils verweisen auf eine aktuelle Entsprechung: alleinreisende Jugendliche, Flucht über die grüne Grenze, falsche Papiere, Familientrennung und -zusammenführung, Anerkennung von Ausbildung, Sprachwechsel, Sprachbarrieren. Auch wenn die Rahmenbedingungen abweichen, bleiben Muster deutlich erkennbar. Die Ausstellung Exil. Erfahrung und Zeugnis ist thematisch organisiert. Eingebettet in einen Prolog und einen Epilog gliedert sich die zweisprachige Aus-

2 S. dazu: Stefan Burmeister: Der schöne Schein. Aura und Authentizität im Museum. In: Martin Fitzenreiter (Hg.): Authentizität. Artefakt und Versprechen in der Archäologie (= InternetBeiträge zur Ägyptologie und Sudanarchäologie Vol. XV). London 2014, S. 99–108, hier S. 104.

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stellung in drei Hauptkapitel: „Auf der Flucht“ – „Im Exil“ – „Nach dem Exil“. Jedes dieser Kapitel ist weiter untergliedert: Fluchtwellen, Fluchtwege, Hilfe  – Alltag, Familie, Arbeit und Beruf, Sprache und Kultur, Formen des Widerstands – Remigration, Nachleben des Exils und Debatten über das Exil. Auch unterhalb dieser Ebene erfolgen weitere Bündelungen. Die jeweiligen Kapiteltexte dienen der Aneignung von Wissen, denn auch dies ist ein Anliegen der Ausstellung: den Besucherinnen und Besuchern in knappen Texten Kenntnisse über das deutschsprachige Exil 1933–1945 zu vermitteln. Denn dieses Exil aus dem Machtbereich der NS-Diktatur ist – wenn überhaupt – nur als Randthema Teil der deutschen Erinnerungskultur, auch wenn es intensiv erforscht ist. Auch in Schulbüchern und Kerncurricula wird das Thema meist anhand von Exilliteratur oder im Kontext des Themas politischer Widerstand oder Shoah behandelt. Die Erfahrungen des Exils, Alltag im Exil werden kaum thematisiert. Das erste Kapitel der Ausstellung „Auf der Flucht“ stellt die unterschiedlichen Fluchtbewegungen, Fluchtrouten und die Formen der Hilfe in den Fokus. Welche Ereignisse und Erfahrungen zwangen Menschen zur Flucht? Wie fanden sie Zufluchtsorte und neue Perspektiven? Wie gestaltete sich ihr Weg dorthin und wer half? Die Exponate dieses Kapitels zeugen oft von einem besonderen Status des „Dazwischen“  – Entlassungsschreiben, ein Vertretungsverbot oder Androhung von Gewalt beenden die Perspektiven im Herkunftsland, ein neues Ziel ist aber entweder noch nicht gefunden oder noch nicht erreicht worden. Die Exponate machen Stationen dieses Prozesses zwischen Abreise und Ankunft sichtbar. Sie zeugen von Identitätskrisen, von Zwischenaufenthalten, von Passagen zwischen Reise und Exil, von dem Zustand zwischen Entscheidung und Umsetzung. Sie stehen für die unterschiedlichen Wege und Ziele, die von der überstürzten Flucht zu Fuß über die grüne Grenze ins Nachbarland bis zur geplanten legalen oder illegalen Ausreise per Schiff und den Wechsel des Kontinents reichen. Und sie bezeugen unterschiedliche Formen der Unterstützung und Solidarität: institutionelle Hilfe, Unterstützung durch Freunde und Familie, legale und illegale Maßnahmen. Ein Fahrplan der Luxus-Expresslinie Italien–Indien–Ostasien aus dem Jahr 1939 gibt Auskunft über die Ausreise der Familie Zernik nach Shanghai (Abb. 1). Helmut Zernik war am 10. November 1938 in Frankfurt am Main verhaftet und im Konzentrationslager Dachau inhaftiert worden. Seine Mutter organisierte die Auswanderung nach Shanghai, wodurch er nach dreimonatiger Haft freikam. Im März 1939 verließ er Deutschland. Monatlich fuhren Linienschiffe von Italien aus nach Shanghai. Die Route seiner Emigration markierte Helmut Zernik im Fahrplan. Anders verlief die Fahrt auf der Parita, einem umgebauten Frachtschiff, auf dem mehr als 800  Geflüchtete unter unwürdigen Bedingungen nach Palästina unterwegs waren. Nach mehreren gescheiterten Anlandungsversuchen setzten

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Abb. 1: Fahrplan der Luxus-Expresslinie Italien–Indien–Ostasien von Helmut Zernik, 1939, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, SplNL Helmut Zernik EB 96/106, Exponatnummer 28.

die Flüchtlinge die Mannschaft vor den Hoheitsgewässern in einem Rettungsboot aus und fuhren das Schiff vor dem Strand von Tel Aviv auf Sand. Der nach Palästina ausgewanderte Journalist und Fotograf Walter Zadek hat die Anlandung der Parita fotografisch festgehalten (Abb. 2). So unterschiedlich die Zeugnisse sind, beide bezeugen als zeitgenössische Stücke die jeweilige Situation und sind bis heute überliefert. Nicht immer sind aber die Fluchtwege durch solche Unterlagen belegt. Das gilt gerade für Exilbestände. Eine eidesstattliche Erklärung von Margarete Buber-Neumann über ihre Ausweisung aus der Sowjetunion aus der Zeit nach 1945 beispielsweise gibt nur indirekt über ihren Weg ins sowjetische Exil Auskunft (Abb. 3). Durch ihre Lagerhaft und ihre Ausweisung an das Deutsche Reich sind solche Dokumente im schriftlichen Nachlass Margarete Buber-Neumanns nicht überliefert. Das verloren gegangene – oder zumindest unserem Zugriff entzogene – Material ist hier mitzudenken und wird durch diese eidesstattliche Erklärung mitrepräsentiert. Der Hauptraum der Ausstellung ist dem Thema „Im Exil“ gewidmet. Wie gestaltete sich der Alltag im Exilland? Ließ sich an Bekanntes und Eingeübtes anknüpfen? Wie konnte man über die Distanzen des Exils Kontakt zu Freunden und Familie halten? Welche Formen der Kommunikation wurden gewählt? Welche Netzwerke bestanden noch? Wie kommunizierten Eltern mit ihren Kindern über Landesgrenzen und Kontinente hinweg? Wie gelang es, sich trotz Zensur mitzu­

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Abb. 2: Die Landung der Parita vor Tel Aviv am 22. August 1939, Fotografie von Walter Zadek, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, NL Walter Zadek EB 87/089 (© Alain Roth, jewishimages.com), Exponatnummer 29.

teilen? Die Exponate reichen von einem Säckchen mit Erde vom Grab seiner Mutter, das der Rechtsanwalt Walter Zweig mit ins kenianische Exil genommen hatte, weil auch Orte des Gedenkens zurückgelassen werden mussten, über die Collage „So weit weg oder son langer Weg“ des Juristen Adolf Moritz Steinschneider, mit der er versuchte, seine Exilsituation für seine 7-jährige Tochter begreifbar zu machen und den Versuch des jugendlichen Ernst Loewy, seinen Eltern die neue Lebensumgebung Palästina in Briefen nahezubringen bis zu einem Schreiben Emma Raphaels an ihren Mann Max, der das Potenzial der Exponate in besonderer Weise sichtbar macht. Emma Raphael hat den Brief aus dem unbesetzten Teil Frankreichs an ihren im US-amerikanischen Exil lebenden Mann, den Kunsthistoriker und Philosophen Max Raphael am 2. September 1942 begonnen (Abb. 4). An ihr eigenes Schreiben hat sie einen kleinen Ausschnitt aus einem anderen Schriftstück angeheftet. „Lieber Max, ich sende dir allerherzlichste Abschiedsgrüsse. Alles weitere schreibt dir Emmi, mir fällt es zu schwer. Innig, dein Karl. Grüsse alle Lieben, besonders Tante Röschen. Sie mögen mich nicht vergessen“, ist auf dem zweizei-

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Abb. 3: Margarete Buber-Neumanns eidesstattliche Erklärung über ihre Ausweisung aus der Sowjetunion, [nach 1945], Deutsches Exilarchiv 1933–1945, NL Margarete Buber-Neumann, EB 89/193, Exponatnummer 33.

ligen Ausschnitt zu lesen. Offenbar war es Karl Raphael wichtig, seinem Bruder einen handschriftlichen letzten Gruß zu hinterlassen. „Alles weitere“, wie er es nennt, hatte er Emma Raphael in einem Brief mitgeteilt und sie damit vor die Aufgabe gestellt, ihren Mann über die Lage seines Bruders zu informieren. Wie überbringt man einen letzten Gruß und wie die Nachricht von der bevorstehenden Deportation? Emma Raphael hat in ihrem Brief Auszüge aus dem Schreiben ihres Schwagers für ihren Mann wörtlich zitiert und kommentiert, auch den direkt an diesen gerichteten letzten Gruß. Zusätzlich hat sie aber diese beiden handschriftlichen Zeilen ausgeschnitten und im Original mitgeschickt. Das Zitat allein schien ihr offenbar nicht ausreichend. Der Brief Emma Raphaels ist an mehreren Stellen, die sich auf Karls Schicksal beziehen, mit rotem Farbstift markiert. „Deportiert“ und „Letzte Worte Karls vor der Deportation“ wurde am Rand in anderer Schrift notiert. In dem Dokument verbinden sich damit unterschiedliche Stimmen: Karls eigene Schilderung durch die wörtlichen Zitate und die beiden handschriftlichen Zeilen, die Aussagen Emma Raphaels zur Situation ihres Schwagers aus dem Jahr 1942 und eine zeitlich versetzte Perspektive, die den Brief mit dem Wissen um Karls Deportation von Drancy nach Auschwitz kommentiert. Im Kapitel „Arbeit und Beruf“ zeugen die präsentierten Exponate von der Fortsetzung des Berufes unter veränderten Bedingungen, von Neuanfängen und Brüchen. So blickt der österreichische Schriftsteller Leo Perutz, der im Brotberuf

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Abb. 4: Emma Raphaels Brief an ihren Mann Max Raphael in New York, Marseille 2. September 1942, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, TNL Emma Raphael EB 99/112, Exponatnummer 108.

Versicherungsmathematiker war, in einer Tabelle auf die Rezeption seines schriftstellerischen Werks. Ausgerechnet in der Zeile für Palästina, wo Perutz seit 1938 lebte, konnte er außer einem Zeitungsabdruck seines Romans Zwischen neun und neun nichts eintragen. In seinem Aufnahmeland konnte er an seine literarischen Erfolge vor 1938 nicht mehr anknüpfen. Zwei Fotografien des Instituts für Sozial­ forschung in Frankfurt und New York dagegen stehen für einen gelungenen Transfer und die erfolgreiche Fortsetzung der wissenschaftlichen Arbeit. Mit dem Institut für Sozialforschung verlegte ein ganzes Forschungsinstitut seinen Sitz ins Exil. Über eine Zwischenstation in Genf siedelte es unter der Leitung von Max Horkheimer 1934 nach New York über. Dort stießen auch zahlreiche ehemalige Frankfurter Institutsangehörige wieder hinzu. Unter der Überschrift „Sprache und Kultur“ stehen Sprachverlust und Spracherwerb, künstlerische Produktion und Rezeption von Kultur im Fokus. Dort werden in unmittelbarer Nachbarschaft beispielsweise das Vokabelheft des Vorsitzenden der Exil-SPD Hans Vogel und ein Schreiben des Malers Georg Grosz an den Schriftsteller Ulrich Becher präsentiert. Beide verwenden eine selbsterdachte

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Lautschrift für die Aussprache des Englischen. Vogels Vokabelheft ist Zeugnis eines ernsthaften und mühsamen, aber letztlich gescheiterten Versuchs des Spracherwerbs, während Georg Grosz’ Verlautschriftlichung seinen ironischen, bisweilen zynischen Blick auf sein neues kulturelles Umfeld freigibt, dessen sprachliche Floskeln er in endloser Reihung in seinen Brief einstreut: Lieber Ulli, alte Küchenschwabe … how are’ye? hau are things anyway? … da ich gerade die Post für die kommende Saison erledige […] … well Ulli da dachte ich eben auch an Dich … Jesus (Tschiisös) haben ja langlange nichts voneinander vernom-men  … kein Wörtchen. Was treibst Du so?  … […] Die Dinge sehen etwas besser aus  … right now.  … see  … hatte eine ganz schöne Exhibition in der berühmten Stieglitz galerie „an american place“ und es gelang mir auch einige ganz nette Verkäufe zu machen … see. […] Klar, dasz man sich nicht auf den gepflückten leicht verwelkten europäischen Lorbeeren hat ausruhen können. No Söhr … das geht hier nunmal schlecht.3

Das Kapitel „Formen des Widerstands“ wird eingeleitet von der handschriftlich überlieferten, im Radio offenbar aber nie ausgestrahlten „Rede an Deutschland“ des Dirigenten und Komponisten Bruno Walters. Der Text entstand im Herbst 1940, wohl unter dem Eindruck der ersten Rundfunkrede Thomas Manns. Er belegt die Vorstellungen, die sich der Dirigent von seinen eigenen musikalischen Wirkmöglichkeiten für die Unterstützung eines Widerstands in Deutschland machte. Mit weiteren Exponaten, darunter eine als Puddingpulver getarnte verbotene Schrift, das Gründungsschreiben des Exil-PEN und Guy Sterns Side Cap aus seiner Zeit bei den Ritchie Boys gibt das Kapitel Einblick in den publizistischen und journalistischen, kulturellen und militärischen Widerstand. Das letzte Hauptkapitel der Ausstellung widmet sich der Zeit nach 1945. Endet das Exil mit dem Ende der politischen Verhältnisse, durch die es erzwungen wurde? Hat es überhaupt ein Ende? War Rückkehr nach Deutschland oder Österreich eine Option? Konnten Mehrfachloyalitäten gelingen? Wie gingen BRD und DDR mit dem Thema um, welche Debatten wurden ausgetragen, wann setzte die Erforschung des Exils ein? Schließlich verweist ein Regal mit 300 Exilpublikationen und Objekten auf die Entstehung und Entwicklung der Sammlung des Deutschen Exilarchivs 1933– 1945 der Deutschen Nationalbibliothek. Dieser Epilog der Ausstellung fragt nach der Überlieferungsgeschichte der Objekte, nach ihrem Weg ins Archiv und nach Zerstreuung von Beständen. Der Epilog bietet auch Anlass, über Einordnungen und Zuschreibungen nachzudenken. Wann gilt ein Werk als Exilpublikation? Wer

3 George Grosz an Ulrich Becher, Mai 1935, Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen ­Nationalbibliothek, TNL Ulrich Becher, EB 85/147, Exponatnummer 112.

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definiert die Kriterien? Wer ist verantwortlich für die Bedeutungszuschreibung und Überlieferung von Exilzeugnissen? Die thematische Struktur der Ausstellung wird von biografischen Einstiegen gekreuzt. Die 250 Exponate, die in der Ausstellung gezeigt werden, sind so ausgewählt, dass sie einen Einblick in möglichst viele unterschiedliche Biografien erlauben. Dabei kommt wiederum der Sammlungszuschnitt des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 zum Tragen. Denn die im Archiv aufbewahrten Nachlässe sind nicht nach Biografiewürdigkeit der Person, einem bedeutenden Werk oder wirkmächtigem Handeln gewichtet. Sie fanden Eingang ins Archiv, weil die darin enthaltenen Dokumente in der Lage sind, die Erfahrung des Exils auf breiter Ebene zu dokumentieren und so zu einem multiperspektivischen Blick auf das Exil beizutragen. Es ist das Anliegen der Dauerausstellung, neben den Exponaten und ihren Geschichten auch diese unterschiedlich verlaufenen Biografien sichtbar zu machen. Mehr als 200 kurze biografische Texte sind auf den Tablet-PCs in den Lesebereichen der Ausstellung nachzulesen. An den Kurzbiografien lässt sich erfahren, welchen Zwängen und Einschränkungen, aber auch neuen Chancen die Exilierten begegneten und welche Handlungsoptionen sie für sich sahen. Acht Biografien werden in der Ausstellung ausführlicher dargestellt. Sie begleiten die Besucherinnen und Besucher in Form von jeweils mehreren (farbig gekennzeichneten) Exponaten durch alle Kapitel der Dauerausstellung. Ihre Auswahl steht stellvertretend für die zahllosen unterschiedlichen Exil-Erfahrungen. Es sind Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene, Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Berufe und Disziplinen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in verschiedene Länder flohen. Besucherinnen und Besucher können anhand der farbig markierten Karten einer Person durch die Ausstellung folgen.4 Eine besondere Rolle bei der Einführung dieser acht Begleitbiografien kommt dem Zeitstrahl zu. Auf ihm werden einerseits wichtige zeitgeschichtliche Ereignisse und Begriffe dargestellt. Andererseits sind darauf auch die acht Begleitbiografien, jeweils in mehreren Einträgen über die Jahre hinweg, nachzulesen. Das Zusammentreffen der zeitgeschichtlichen Einträge mit den konkreten biografischen Details vermittelt einen Eindruck davon, wie die historischen Ereignisse in Lebensläufe eingriffen, wo sich Exilbiografien und Herrschaftsgeschichte voneinander entfernen, und wo sie, wie in vielen Exilverläufen in Europa während der Zeit des Zweiten Weltkriegs, auch wieder miteinander verflochten sind. Mit dem Zeitstrahl korrespondiert in der Ausstellung eine Weltkarte, die deutlich macht, dass dieses Exil fast die ganze Welt umspannte.

4 Zu den Biografien s. Sylvia Asmus und Kathrin Massar: Biografien des Exils. In: Dialog mit Bibliotheken 30 (2018), H. 2, S. 27–30.

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Die Ausstellungsgestaltung wurde gemeinsam mit dem Architekturbüro Iglhaut & von Grote, Berlin, entwickelt. Beide Themen, Exil und Archiv, sollten in der Gestaltung Ausdruck finden. Die Ausstellung greift mit Elementen wie Schubladen und Regalen die Formensprache des Archivs auf. Die Farbgestaltung der Ausstellung wurde einerseits aus den präsentierten Originalobjekten, andererseits aus der Farbwelt der Archive abgeleitet: „Wolkenmarmor“, der Bezugstoff unserer Archivschachteln, hat die Materialität und Farbigkeit der Ausstellungsbauten mitbestimmt. Auch die Ausstellungsarchitektur greift die Thematik der Kapitel auf. Während die Vitrinen im Kapitel „Auf der Flucht“ hoch und eng gestellt sind und damit Bewegungsspielräume eingrenzen und eine Richtung vorgeben, weitet sich der Raum zum Kapitel „Im Exil“. Damit wird nicht nur der Vielfalt der dort behandelten Themen mehr Platz gegeben, sondern die Anordnung der Vitrinen und Unterkapitel verdeutlicht auch die Diskontinuität des Exils und die Orientierungslosigkeit, die sich einstellen konnte. Das Kapitel „Nach dem Exil“ wird auf einer Galerie präsentiert, die den Blick auf das Zurückliegende freigibt. Deutlich fokussiert die Ausstellung auch in der Gestaltung auf die Präsentation der Originalzeugnisse. Trotz der besonderen konservatorischen Anforderungen an die Präsentation der Originale fiel die Entscheidung, den Ausstellungsraum nicht wie üblich von der Außenwelt durch Sichtblenden abzutrennen, sondern Licht und Strahlung durch raumhohe, halbtransparente Stoffe zu filtern, so dass Außen und Innen in Verbindung bleiben. Bedruckt mit großformatigen Porträts und Dokumentausschnitten sind die Stoffe Teil der Bildsprache der Ausstellung, die den thematischen und biografischen Einstieg zusammenführt. Die Originalexponate werden zwar hinter Glas präsentiert und sind damit vom Betrachter getrennt. Über faksimilierte Blätterbücher in Schubladen können aber ausgewählte Exponate erfahren werden, Transkriptionen helfen, handschriftliche Zeugnisse lesbar zu machen. Bei der Gestaltung wurde auf Barrierefreiheit, z.  B. auf die Unterfahrbarkeit der Vitrinen, geachtet. Weitere barrierefreie Möglichkeiten bietet aber die virtuelle Version der Ausstellung im Netz5, die insgesamt Interessierten, die die Ausstellung nicht vor Ort besuchen können, Zugang zu vielen der ausgestellten Exponate gewährt. In die faktische Ausstellung sind digitale Angebote nur sehr moderat eingebunden. Zum Konzept der Ausstellungsarbeit des Deutschen Exilarchivs gehört auch, dass ein Wechselausstellungsbereich gleicher Fläche angeschlossen ist. Dort können Ausstellungen anderer Institutionen zum Thema präsentiert, Themen der Dauerausstellung vertieft und um Präsentationen zu gegenwärtigen Migrations-

5 Siehe unter: exilarchiv.dnb.de (Zugriff: 13. 5. 2019)

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bewegungen erweitert werden. Kooperationen mit anderen Institutionen, wie sie auch in der unter Federführung des Deutschen Exilarchiv stehenden virtuellen Ausstellung Künste im Exil6 verfolgt werden, oder andere Zugänge zum Thema können dort erprobt werden. Gleichzeitig werden Auszüge aus der Dauerausstellung in anderen Ländern präsentiert. Eine faksimilierte Version mit Fokus auf dem Exil in den USA wurde in unterschiedlichen US-amerikanischen Städten präsentiert mit dem Ziel, die sicherlich auch national geprägte Perspektive auf den Gegenstand anderen Kontexten auszusetzen. Die Ausstellungen werden gerahmt von einem Vermittlungsprogramm, das aktuell Formate persönlicher Vermittlung und Workshops umfasst. Bestehende Kooperationen mit Universitäten und Schulen werden im Zuge der Konzeption eines pädagogischen Programms ausgebaut. Es gibt viele unterschiedliche Ausgestaltungen der sogenannten Erinnerungskultur. Sicher aber ist, dass die Ära der Zeitzeugen zu Ende geht und wir uns entscheiden müssen, woran und wie wir erinnern wollen.7 In der Sammlung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek werden Exilzeugnisse auf Dauer gesichert. Mit der Präsentation ausgewählter Zeugnisse in der Dauerausstellung Exil. Erfahrung und Zeugnis hat dieser Auftrag eine Erweiterung erfahren. Die Exponate werden auf bestimmte Weise reaktiviert, sie erinnern an die individuellen Erfahrungen des deutschsprachigen Exils 1933–1945 und ziehen im Sinne einer auf historische Verantwortung zielenden Erinnerungskultur Verbindungslinien in unsere Gegenwart.8 Anmerkung: Der Beitrag basiert auf der Publikation: Sylvia Asmus: Exil. Erfahrung und Zeugnis. In: Exil. Erfahrung und Zeugnis | Exile. Experience and Testimony. Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, hg. von Sylvia Asmus im Auftrag der Deutschen Nationalbibliothek, Ausst.-Kat. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M., Göttingen 2019, S. 32–49.

6 Siehe unter: kuenste-im-exil.de (Zugriff: 13. 5. 2019) 7 S. dazu: Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. München 2016, S. 17. 8 S. dazu: Assmann: Unbehagen, besonders S. 204  ff.

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Literaturverzeichnis Asmus, Sylvia: Exil. Erfahrung und Zeugnis. In: Exil. Erfahrung und Zeugnis | Exile. Experience and Testimony. Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, hg. von Sylvia Asmus im Auftrag der Deutschen Nationalbibliothek, Ausst.-Kat. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M., Göttingen 2019, S. 32–49. Asmus, Sylvia und Kathrin Massar: Biografien des Exils. In: Dialog mit Bibliotheken 30 (2018), H. 2, S. 27–30. Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. München 2016, S. 17. Baur, Joachim: Die Musealisierung der Migration. Bielefeld 2009, S. 32. Burmeister, Stefan: Der schöne Schein. Aura und Authentizität im Museum. In: Martin Fitzenreiter (Hg.): Authentizität. Artefakt und Versprechen in der Archäologie (= InternetBeiträge zur Ägyptologie und Sudanarchäologie Vol. XV). London 2014, S. 99–108.

Heike Klapdor

Das Archiv lesen. Die Bedeutung der Sammlung Paul Kohner Agency für die Exilforschung Im Basement der Paul Kohner Agency, einem hellen Art-Deco Building am 9169, Sunset Boulevard, Los Angeles, ist es dunkel. Eine nackte Glühbirne leuchtet kaum den Kellerraum aus, in dem das Gedächtnis des Film-Exils aufbewahrt ist. Es lagert in amerikanischen Metallschubschränken. Sie versiegeln das Erbe, Wasserschäden haben die Archivschränke zu verrosteten Metallkästen verschlossen. Um sie zu öffnen, benötigt Gero Gandert 1988 einen Vorschlaghammer. Während zweier Aufenthalte sichtet der Kustos der Deutschen Kinemathek, Berlin, wie in einem archäologischen Echoraum des Exils über mehrere Wochen das Material, das die Abwesenheit repräsentiert – Korrespondenzen, Manuskripte, Filmscripts, Fotos, Verträge und die Interoffice Communication, nichts ist verloren gegangen, alles fällt Gandert und zwei Mitarbeitern der Agentur, die ihm helfen, entgegen. Am Ende, als sie nur noch drei Tage Zeit dafür haben, das Material in die bereitstehenden Bankers Boxes zu packen, greifen sie zu Schaufeln.

1 Das Konvolut Seit 1987 hatte Gero Gandert im Auftrag der Stiftung Deutsche Kinemathek um das Archiv der Paul Kohner Agency geworben. Unterstützt von Billy Wilder und Harold Nebenzal, zwei der engsten Freunde Paul Kohners, konnte sich die Kinemathek gegen konkurrierende amerikanische Universitäten und Archive1 behaupten und im Dezember 1987 kurz vor dem Tod Paul Kohners mit Mitteln der Deutschen Klassenlotterie, der Pressestiftung Tagesspiegel und der Preußischen Seehandlung die Firmenakten der Filmagentur Paul Kohner Inc., Los Angeles erwerben. Es handelt sich dabei um den größten Teil des Firmenarchivs der Agentur. Er konnte

1 Darunter die University of California Los Angeles (UCLA), die University of Southern California (USC), das American Film Institute, Washington, die Academy of Motion Picture Arts and Sciences, Los Angeles (AMPAS). Die Margaret Herrick Library der AMPAS besitzt mit den „Paul Kohner Records“ eine Teilsammlung, die Korrespondenzen, Verträge und Akten zu produzierten und nicht produzierten Filmprojekten aus dem Zeitraum 1935–1988 umfasst. https://doi.org/10.1515/9783110542103-015

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1989 durch den Ankauf weiteren Materials, das bis in die 1970er Jahre reicht, komplettiert werden. Fast 90 Kisten kommen per Luftfracht aus Los Angeles in Frankfurt am Main an. 15 Zentner Papier weisen Schimmel und Rost auf und müssen deswegen, bevor das Material nach Berlin geliefert werden darf, „begast“ werden, das von einer auf „Schädlingsbekämpfung“ spezialisierten Firma eingesetzte „Gift“ Ethylenoxid tötet „Ungeziefer“. Toxische Sprachkapseln aus dem „Wörterbuch des Unmenschen“. Dem Material widerfährt physisch das, wovor diejenigen, die es repräsentiert, entkamen. Mehrere Gründe haben die Deutsche Kinemathek für die Übernahme des Nachlasses qualifiziert: Die Aufgabe der Stiftung ist es, das deutsche Filmerbe zu sichern und „die dazu dienenden Materialien […] zu sammeln, zu pflegen und […] zugänglich zu machen“2. Sie hat die filmhistorische Kompetenz, Sammlungen zu erschließen, und sie besitzt korrespondierende Sammlungen, etwa die Nachlässe von Kurt (Curtis) Bernhardt, Wilhelm (William) Dieterle, Regisseuren des Weimarer Films, oder des Fotografen Hans Casparius. Vor allem aber ihr geschichtskritisch motiviertes Engagement, die filmhistorische Verantwortung für die Aufarbeitung der Vertreibung und Ermordung der jüdischen Filmkünstler und der medialen Avantgarde der Weimarer Republik3 zu übernehmen, gab den Ausschlag dafür, das Firmenarchiv der Paul Kohner Agency nach Berlin zu geben. Es handelt sich dabei um die umfangreichste und zugleich zusammenhängende Sammlung von Dokumenten und Materialien zur deutschsprachigen und europäischen Filmemigration in die USA nach 1933. Sie präsentiert zugleich zahlreiche und aufschlussreiche Verknüpfungen mit der literarischen, künstlerischen und akademischen Emigration und kann also insgesamt als wertvolle Quelle für die Erforschung des Exils angesehen werden. Der Nachlass umfasst 155.000 Blatt Korrespondenz, Verträge, Skripte, Fotos und so genanntes ‚graues‘ Material und erfasst einen Zeitraum von 1937 bis 1977. Darüber hinaus gibt es eine Reihe privater und beruflicher Dokumente früheren Datums (1920–1937) vor Kohners Tätigkeit als Agent. Der Nachlass enthält über 5.000 Konvolute. Mit ca. 100.000 Blatt bildet die Abteilung der ca. 4.000 KlientenAkten (Personal Files) die umfangreichste Gruppe. Weitere Gruppen bilden die Akten zu Filmprojekten (157 Project Files), 600 Script Files versammeln Drehbü-

2 Stiftungsurkunde vom 26. März 1971, § (1), Abs. a). 3 Die filmhistorische Retrospektive der 33. Internationalen Filmfestspiele Berlin 1983 war dem Thema „Exil“ gewidmet; vgl. die von Helga Belach betreute Publikation Exil. Sechs Schauspieler aus Deutschland (Berlin 1983). Die von der Deutschen Kinemathek konzipierten werkbiografischen Retrospektiven fokussierten stets auf den Kontext von Emigration / Exil.

Das Archiv lesen 

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cher, Filmvorschläge, Treatments, Synopsen und Lektorengutachten, bürointerne Mitteilungen (Green Sheets der Interoffice Communication) sind zusätzlich zu ihrer Integration in die jeweiligen Files in 23 Konvoluten abgelegt, in 480 Konvoluten sind ca. 5.000 Fotos (Szenen-, Werk- und Klientenaufnahmen) hinterlegt. In einem aufgelassenen, historisch kontaminierten Fabrikgelände im Berliner Stadtteil Spandau hat die Deutsche Kinemathek ein Außenlager eingerichtet. Vor dem Zweiten Weltkrieg produzierte die Firma Siemens hier Kommunikationstechnik für Flugzeuge. Nach 1945 lag die Yacht des britischen Stadtkommandanten in einem Schuppen. Auf dem Außengelände lagerte West-Berlin Kohle als Senatsreserve. In einer der Fabriketagen hatte die Kinemathek die überdimensionale Engel-Figur aus Wim Wenders’ Film Der Himmel über Berlin eingelagert. Sie blickte dort mit leeren Augen über die aschgraue, vom Krieg gezeichnete Stadt. Die 90 Bankers Boxes aus Los Angeles füllen Metallregale, die in einer leeren Fabrikhalle aufgestellt sind. Die Fenster sind blind, auf den Fensterbänken liegt zentimeterhoch Staub. Ein Filmset für Andrej Tarkowskij. Mit Mundschutz und Handschuhen kaum geschützt vor dem Staub und den Rückständen der Reinigung, öffne ich Kiste nach Kiste, breite das Material auf den Tapetentischen aus, die an der Fensterwand entlang aufgereiht sind. The exiles return.

2 Die Struktur – Akteure, Strategien, Netzwerke 2.1 Die Absender Die Klientenakten (Personal Files) bilden institutionenspezifisch den überwiegenden Teil des Firmennachlasses. Die herausragende Bedeutung dieses Materials verdankt sich der Eigenschaft des Nachlassgebers, ein wichtiger Korrespondenzpartner einer Vielzahl von aus Deutschland und Europa vertriebenen und in den USA Zuflucht suchenden Emigranten gewesen zu sein. Zu ihnen gehören Schriftsteller, Drehbuchautoren und Kritiker wie Alfred Polgar, Joseph Roth, Carl Zuckmayer oder Hans Sahl, Alfred Neumann, Georg (George) Froeschel und Hans Kafka, Vicki Baum, Salka Viertel und Irmgard von Cube, die Mann-Familie ist prominent vertreten. Mit Kohner korrespondieren und verhandeln die Regisseure Max Ophüls, Kurt (Curtis) Bernhardt, Billy Wilder, Ernst Lubitsch, Max und Gottfried Reinhardt und Joe May, die Schauspieler Felix Bressart, Alexander Granach und Fritz Kortner und die Schauspielerinnen Marlene Dietrich, Lucie Mannheim und Luise Rainer, die Kameramänner Eugen Schüfftan und Franz Planer, die Produzenten Carl Laemmle, Rudolf Loewenthal und Gregor Rabinowitsch, die Komponisten Ralph Benatzky, Kurt Weill, Paul Dessau, Hanns Eisler und Erich

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Wolfgang Korngold. Außer den Namhaften wenden sich Unbekannte oder inzwischen Vergessene an Kohner wie der Regisseur Richard Loewenstein alias Richard Royce, den ein Lageraufenthalt in Frankreich physisch gebrochen hat. Dazu gehören nicht professionell, sondern freundschaftlich verbundene wie der aus Lettland stammende Jurist Joseph Himmelhoch, oder aus familiären oder regionalen europäischen Kontexten heraus Migrationsnetzwerke ansteuernde Flüchtlinge. Alle diese Akteure hoffen auf finanziellen und administrativen Support, auf eine Unterstützung der Einreise in die USA und auf die Vermittlung der dafür notwendigen Affidavits und Arbeitsverträge. Hiermit verbundene Materialien wie Korrespondenzen mit amerikanischen Filmfirmen, mit potentiellen Bürgen, mit Hilfsorganisationen wie dem European Film Fund (EFF), dem International Rescue Committee (IRC), der Hebrew Sheltering and Immigration Aid Society (HIAS) oder dem in Genf sitzenden Comité International pour le Placement des Intellectuels Réfugiés, das sich 1938 für den Filmaufnahmeleiter, Kameramann, Fotografen und Redakteur Hans Taussig verwendet,4 geben Auskunft über das Procedere und über Erfolg und Scheitern. Jenseits von professionellem, gesellschaftlichem und ökonomischem Status verbindet alle diese Akteure eine existentielle Gefährdung und die darin motivierte aktive Initiative auf Rettung. Die Sammlung Paul Kohner Agency ist eine wesentliche ergänzende Quelle für die Exilphase von Biografien. Im Falle von Hans Taussigs gescheiterter Emigration in die USA füllt sie die Lücke zwischen dem prekären Aufenthalt in der Schweiz 1938 und den späteren Stationen in British India 1945 und Australien, wohin der sich nun Hans John Carlsson-Taussig nennende Filmautor 1947 geht und dort 1989 stirbt. Die Sammlung Paul Kohner Agency ist eine repräsentative und exemplarische Quelle für die sozial- und politikgeschichtliche Exilforschung zu Filmschaffenden und Intellektuellen.

4 Comité International pour le Placement des Intellectuels Réfugiès, Genf, an Paul Kohner, 25. September 1938: „[…] Sie würden damit [mit affidavits für Hans Taussig und seine jüdische Frau / hk] zwei jungen Menschen, die andernfalls, wie die Verhältnisse jetzt hier liegen, zum Untergang verurteilt wären, buchstäblich das Leben retten.“ In: File Hans Taussig, Sammlung Paul Kohner Agency. Die bisher nicht publizierten Dokumente informieren etwa über die späteren Filmerzählungen, unter denen mit Wither, Barbara ein Anti-Nazi-Sujet ist, dem Kohner 1945 wenig Aussicht attestiert: „For the time being War stories and Nazi stories are ruled out […]“ (Paul Kohner an Hans John Carlsson Taussig, Dehra Dun, British India, 29. November 1945). Sein Archiv mit 20.000 Filmfotografien des frühen deutschen und europäischen Films, das er in einem Brief an Kohner vom 14. Oktober 1938 amerikanischen Filminstituten anbietet und sich selbst als „die notwendige Ergänzung zu dieser Sammlung“, hat Hans John Carlsson Taussig dem National Film and Sound Archive of Australia vermacht.

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2.2 Das Medium Das Generalthema der Flucht und die Hoffnung auf Rettung variieren in den sie vermittelnden rhetorischen Strategien. Ihr Medium ist der Brief. In den Gattungstraditionen des aristotelischen Konzeptes von Ethos, Logos und Pathos, des bürgerlichen Privatbriefes und der petitio, des Bittbriefs stehend, bilden die Briefe in den Klientenakten ein Spektrum appellativen Schreibens ab, mit dem die Absender die räumliche, soziale, politische, professionelle und mentalitätsspezifische Distanz zu überbrücken versuchen. Mit Briefen überwinden die zwischen Länder, Kulturen, Sprachen und Identitäten geworfenen Emigranten die Kluft. Sie lehnen sich gegen ihre Marginalisierung auf und vertrauen auf die Wirkungsmacht des Briefs, auf Sprache und Rhetorik als die ihnen gebliebene agency. So eint die Briefe ein illusionäres, vom Konjunktiv beherrschtes Denken und imaginäres Handeln. Bildung, Reputation und Repräsentanz schlagen sich gleichermaßen als Autorität und in Eloquenz nieder, aus denen heraus sich etwa Thomas Mann bei Paul Kohner für den Dramatiker Georg Kaiser einsetzt, der nach Amerika zu kommen beabsichtige,5 oder Heinrich Mann für den in Hollywood isolierten Rezitator Ludwig Hardt wirbt.6 Der 70-jährige Schauspieler Albert Bassermann, der 1939 in New York ankommt, verlangt in Verkennung des amerikanischen Filmbusiness: „Es müßte ein Film für mich verfaßt werden mit der führenden Rolle, die in Bezug auf ihre Umgebung Ausländer ist, wegen meines immerhin hörbaren Akzents.“7 Nahezu artistisch operieren die Briefautoren mit Haltungen und Maskeraden. Sarkasmus zähmt im Falle von Friedrich Torbergs Unzufriedenheit mit Kohners Vermittlung kaum die bittere Kritik,8 im Falle Erika Manns soll

5 Thomas Manns Engagement voraus gehen Vermittlungsbemühungen des Literatur-Agenten Julius Marx im Namen seines THEMA Filmstoff-Vertrieb in Zürich, zu dessen Klienten Georg Kaiser gehört. Vgl. die Briefwechsel von Julius Marx und Thomas Mann mit Paul Kohner in: Heike Klapdor (Hg.): Ich bin ein unheilbarer Europäer. Briefe aus dem Exil. Berlin 2007, S. 119  ff. Faksimile der Briefe von Thomas Mann, 5. Januar 1941 und 21. Januar 1941, in: Wolfgang Jacobsen, Hans Helmut Prinzler und Werner Sudendorf (Hg.): Filmmuseum Berlin. Berlin 2000, S. 229–230. 6 Heinrich Mann an Paul Kohner, 6. August 1941, zit. n.: Klapdor: Briefe, S. 236. 7 Albert Bassermann, New York, an Paul Kohner, 8. Mai 1939, zit. n.: Klapdor: Briefe, S. 177. Vgl. auch: Heike Klapdor: „Sein eigener Herr und Knecht“. Albert Bassermann im amerikanischen Exil. In: FilmExil 12 (Oktober 2000), S. 4–24. 8 Friedrich Torberg, Hollywood, an Paul Kohner, 16. Oktober 1941, zit. n.: Klapdor: Briefe, S. 214  f. Faksimile der Briefe von Friedrich Torberg, 5. März 1941, 16. und 17. Oktober 1941, in: Jacobsen, Prinzler, Sudendorf: Filmmuseum Berlin, S. 246–48.

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die Ironie den Agenten zu einem filmpolitischen Engagement verführen, vor das sie selber als Objekt der Begierde tritt.9 Auch individuelle Haltungen wie Hybris, Superiorität und Inferiorität, Affirmation und Aggression werden strategisch eingesetzt. Der Bittbrief des in Hollywood gescheiterten und Ende der 1940er Jahre gänzlich mittellosen Regisseurs Joe May suggeriert in der imaginierten Fallhöhe des mächtigen Meisterregisseurs und Filmproduzenten der deutschen Zwischenkriegszeit das Mitleid als condition humaine.10 Episodische Briefpassagen wollen den Adressaten unterhalten und ihn mit einer Art Brief-Geschenk einnehmen; erzählende Passagen etwa in den Briefen Joseph Himmelhochs aus Südfrankreich 1937/1938 geben dem Adressaten ein atmosphärisches Bild Europas.11 Sachlich informierende Passagen vermitteln nüchtern die Umstände der Verfolgung oder sie schildern, wie es eine Überlebende des Lagers Theresienstadt 1943 in einem mehrseitigen handgeschriebenen Bericht12 tut, die Ermordung der Kinder. Dieses „Zeugnis“ des Holocaust, das Kohner 1945 erreicht, erschüttert den Adressaten.13 Fakten und Briefbeilagen wie vorformulierte Bürgschaften und Geld, die zum Beispiel Hugo Sinaiberger, Redakteur der Prager Filmzeitschrift Internationale Filmschau Kohner 1940 zusendet,14 binden die Hilfsbereitschaft des Adressaten. Über ihren Quellenstatus als historisches oder biografisches Dokument15 hinaus also unterstreicht das umfangreiche Briefmaterial der Sammlung Paul Kohner Agency die Relevanz der Textsorte Brief für die Exilforschung. Insbesondere der Bittbrief bietet sich zu vergleichbaren, quellenkritischen und textanalytischen Studien an. Sie können mentalitätsspezifische und philologische

9 Erika Mann, New York, an Paul Kohner, 6. März 1939, 14. April 1939, zit. n.: Klapdor: Briefe, S. 266  ff. Faksimile des Briefes von Erika Mann, 14. April 1939, in: Jacobsen, Prinzler, Sudendorf: Filmmuseum Berlin, S. 249. 10 Joe May an Paul Kohner, 16. Mai 1948. In: Klapdor: Briefe, S. 245. Faksimile des Briefes in: Jacobsen, Prinzler, Sudendorf: Filmmuseum Berlin, S. 240–42. Vgl. auch: Heike Klapdor: „A man who has learned his lesson“. Joe May im amerikanischen Exil. In: Hans-Michael Bock und Claudia Lenssen (Hg.): Joe May. Regisseur und Produzent. München 1991, S. 115–124. 11 Joseph Himmelhoch, Montpellier, an Paul Kohner, 14. Februar 1938, 23. Oktober 1938, zit. n.: Klapdor: Briefe, S. 47  f., 51  f. 12 Lea Herrmann, Theresienstadt, Juni 1943, abgedruckt in: Klapdor: Briefe, S. 36–39. 13 Klapdor: Briefe, S. 41. 14 Hugo Sinaiberger an Paul Kohner, 5. Dezember 1940, in: Klapdor: Briefe, S. 115  f. Das Affidavit, das Kohner ausstellt, in: Klapdor: Briefe, S. 118. Faksimile in: Jacobsen, Prinzler, Sudendorf: Filmmuseum Berlin, S. 227. 15 Die erste Anthologie von Exilbriefen hatte 1964 Hermann Kesten in der Absicht zusammengestellt, „sich das Leben im Exil vorstellen [zu] können.“ Hermann Kesten (Hg.): Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933–1949. Wien, München, Basel 1964, S. 22.

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Erkenntnisse über die Funktion und die Rhetorik des Exilbriefs, etwa über die Argumentationsstrategien von Be- und Entlastung oder Strategien der Fiktionalisierung, weiterführen, die bisher zum Beispiel mit der Edition von „Briefen aus dem Exil“ (2007)16 oder dem „First Letters“-Projekt (2011, 2012)17 verfolgt wurden.

2.3 Der Adressat Der Adressat der Briefe gehört zur zweiten Generation der Brückenbauer des transatlantischen Filmgeschäfts zwischen Europa und Amerika. Der deutschamerikanische Filmproduzent Carl Laemmle, selbst ein Auswanderer aus Oberschwaben und Akteur der ersten Generation der deutsch-jüdischen Filmpioniere, hatte 1912 die Universal Studios an der Westküste gegründet. Er nimmt 1922 den 18-jährigen Paul Kohner, 1902 als Sohn eines Kinobesitzers im böhmischen Teplitz-Schönau geboren, mit in die USA. In New York und Hollywood lernt Kohner das Filmbusiness und steigt zum Produzenten und Werbeleiter auf. Anfang der 1930er Jahre kehrt der 1928 naturalisierte Amerikaner nach Europa zurück, um in Berlin die Auslandsproduktion der Deutschen Universal zu betreuen. Luis Trenkers Auswanderer-Drama Der verlorene Sohn ist der letzte Film, den Paul Kohner als Produzent betreut. Als der Film im Oktober 1934 in Berlin herauskommt, fehlt der Name des jüdischen Produzenten in den Credits. Kohner verlässt Deutschland zum zweiten Mal. Über Wien, Paris, Rom und London kehrt er 1935 in die Vereinigten Staaten zurück. Nach Auflösung der Universal und einem Zwischenspiel bei Metro Goldwyn Mayer eröffnet Kohner 1938 eine Agentur am Sunset Boulevard, die bis in die 1980er Jahre zu den bedeutenden Filmagenturen Hollywoods gehört. Über ihre professionelle Vermittlungstätigkeit hinaus wächst der Paul Kohner Agency eine biografisch und politisch-moralisch motivierte Aufgabe zu: Der Agent unterstützt die Einreise der Exilanten aus Europa in die Vereinigten

16 Der Brief-Band Ich bin ein unheilbarer Europäer. Briefe aus dem Exil (2007) kontextualisiert aus der epistemologischen und historischen Doppelperspektive ausgewählte Briefe und Briefwechsel aus dem Sammlung Paul Kohner Agency. 17 Primus-Heinz Kucher, Johannes F. Evelein und Helga Schreckenberger (Hg.): Erste Briefe / First Letters aus dem Exil 1945–1950. (Un)mögliche Gespräche. Fallbeispiele des literarischen und künstlerischen Exils. München 2011; Detlef Garz und David Kettler (Hg.): Nach dem Krieg! – Nach dem Exil? Erste Briefe / First Letters. Fallbeispiele aus dem sozialwissenschaftlichen und philosophischen Exil. München 2012. Die jüngste Publikation Deutschsprachige Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen. Texte – Kontexte – Netzwerke (München 2018), herausgegeben von Sabina Becker und Sonia Goldblum, bietet kein Kapitel zum Exil-Brief.

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Staaten: „Auf den Caféterrassen des damals unbesetzten Marseille hörte [man] manchen Schauspieler oder Writer glücksstrahlend verkünden: ‚Ich hab ein PaulKohner-Affidavit.’ Man träumte dort schlechtweg von einem ‚Kohner-Visum’.“18 Die Paul Kohner Agency wird zur Anlaufstelle der deutschsprachigen Filmemigration in die USA und zur Drehscheibe für ihre Arbeitsvermittlung. Ein Artikel in der Zeitschrift Aufbau über den Europäer in Hollywood hebt 1940 die Bedeutung des Agenten hervor: Der Weg ins Filmgeschäft […] führt über die Agenten. Wie in der literarischen Welt, stehen sie auch an der Pforte des Films. Soweit sie Persönlichkeiten von Bedeutung sind, sind sie gleichzeitig Fachleute allererster Art auf ihren Gebieten. Sie sind mit ihrem Beruf nicht nur durch ihre Wendigkeit und kaufmännische Begabung verbunden, sondern auch mit Herz und Geist. So bilden sie eine Art Wall um die Verlags- und Filmburgen, der diese vor der Erstürmung durch Dilettanten bewahrt. Sie nehmen die erste Siebung vor, diskutieren die Art und Weise, wie sich Autor oder Schauspieler zu verhalten, oder wie sie ihre Arbeit anzubieten haben. Kommt es nachher zum geschäftlichen Teil- oder Vertragsabschluss, so gelingt ihnen gewöhnlich, weit bessere Bedingungen für ihre Schützlinge herauszuholen, als dieser selbst in Unkenntnis von Maschinerie und Personen gewöhnlich zu erzielen imstande ist.19

Paul Kohner etabliert eine boutique talent agency, spezialisiert auf die Vermittlung deutscher bzw. europäischer Filmschaffender in das amerikanische Filmbusiness. Daraus gewinnt die relativ kleine Kohner Agency ihren Status in Holly­ wood.20 Kohner bietet den Script Departments der amerikanischen Filmfirmen

18 Paul Schiller: Ausländer-boom in Hollywood? In: Aufbau 8 (19. Februar 1943), S. 9. 19 Anonym: Was sucht der Film heute? Ein Besuch in der Agentur Kohner. In: Aufbau 40 (4. Oktober 1940), S. 11. Abgedruckt in: FilmExil 1 (1992), S. 9–10, hier S. 9. 20 Zu den international tätigen großen amerikanischen Agenturen gehören WMA oder ICM. Alexander Zons’ Referenz für den Vergleich ist die (von einem deutschen Auswanderer 1918 in New York gegründete) große William Morris Agency; vgl. Alexander Zons: Paul Kohner – Agent der Exillanten. In: exilograph. Newsletter der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur. Nr.  20: Exilfilm  – Filmexil. Historische, mediale und ästhetische Übersetzungen (Sommer 2013), S.  7–8. Zu den mit der Paul Kohner Agency kooperierenden Agenturen gehören neben George Marton’s Playmarket die vergleichbaren kleinen, spezialisierten Talent and Literary Agencies von Julius Marx, Robert Lantz und Elli Silman, deren Kapital die deutschen und europäischen Exilanten ausmachte. Der Schweizer Unternehmer Julius Marx hatte zusammen mit dem Journalisten der Frankfurter Zeitung Bernhard Diebold 1937 in Zürich den „Thema“-Filmstoff-Vertrieb gegründet. Der Berliner Dramaturg Robert Lantz begutachtete im englischen Exil deutschsprachiges Material für amerikanische Filmfirmen, darunter Texte deutschsprachiger Exilanten, und gründete 1950 in New York seine Literary Agency. Die Berlinerin Elly Silbermann, Produktionsassistentin der Ufa, gründete 1943 in Hollywood die Elli Silman Agency for Writers and Actors.

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literarische und journalistische Schriftsteller als Film-Autoren an.21 Der transatlantische Akteur ist sich der sprachlichen, ästhetischen und pragmatischen Transformationsprozesse bewusst und agiert als kultureller Vermittler zwischen der modernen und der „Welt von Gestern“, episch und musikalisch überlieferte Formen wie die Erzählung (Roman) oder die Operette (Oper) müssen in „Geschichten für Hollywood“22, in kompatible Formate wie Story oder Musical übersetzt werden. Die Briefwechsel mit Autoren, das Konvolut von Scripts – Exposés, Treatments, Filmerzählungen, Drehbuchentwürfe – und die dazu gehörigen Gutachten dokumentieren die gelungenen und gescheiterten medialen und professionalen Anpassungsprozesse. Das Scheitern deutscher Schriftsteller als Script Writer in Hollywood ist allerdings nicht in erster Linie einem mangelnden professionellen Adaptionsvermögen geschuldet, es war vielmehr kalkuliert als Teil einer Rettungsaktion der nach der deutschen Besetzung in Südfrankreich gefährdeten Schriftsteller. Kohner hatte Hollywoods Major Compagnies dafür gewonnen, 100-Dollar-Verträge für ein Jahr auszustellen, um die formalen Bedingungen für die Emergency Visa zu erfüllen. In den Script Departments erwartete niemand, dass „Outsiders“ wie Alfred Polgar oder Alfred Döblin Brauchbares lieferten, ihre Verträge hatten ihre Funktion erfüllt, sie wurden nur in Ausnahmen verlängert.23 In dem Agenten Paul Kohner präsentiert der Firmennachlass einen exemplarischen Akteur professionalisierter kultureller Beziehungen, in denen der Agent als Vermittler zugleich Mentor und „Ratgeber“24, Assistent, Türöffner und also

21 Vgl. hierzu: Helmut G. Asper: Filmexil in Hollywood. „Etwas Besseres als den Tod …“ – Porträts, Filme, Dokumente. Marburg 2002, S. 390  ff.; Juliane Scholz: Deutsche Drehbuchautoren in Hollywood (1933–1945). In: Isabella Löhr, Matthias Middell und Hannes Siegrist (Hg.): Kultur und Beruf in Europa. Stuttgart 2012, S. 61–67; Wolfgang Jacobsen und Heike Klapdor: „Das Leben ist erfinderischer als jeder Schreiber“. Eine Einführung. In: Wolfgang Jacobsen und Heike Klapdor (Hg.): In der Ferne das Glück. Geschichten für Hollywood. Berlin 2013, S. 7–22. 22 Die Edition von 25 aus dem Nachlass der Paul Kohner Agency gewählten nicht produzierten Filmentwürfen von Vicki Baum, Fritz Kortner, Joseph Roth, Heinrich und Klaus Mann u.  a. in dem Band In der Ferne das Glück. Geschichten für Hollywood (2013) kontextualisiert die Texte biografisch, thematisch, exil- und produktionsgeschichtlich. 23 Vgl. hierzu: Wolfgang D. Elfe: Das Emergency Rescue Committee. In: John Spalek und Joseph Strelka (Hg.): Deutsche Exilliteratur seit 1933, Bd. I: Kalifornien, Teil I. Bern, München 1976, S. 214–219; Helmut G. Asper: „Etwas Besseres als den Tod …“ (2002), S. 427; Frederick Kohner: Der Zauberer vom Sunset Boulevard. Ein Leben zwischen Film und Wirklichkeit. München, Zürich 1974, S. 188–192; Alfred Döblin: Schicksalsreise. Zweites Buch: Amerika. In: Alfred Döblin: Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen. Olten, Freiburg i. B. 1977, S. 341; Alfred Polgar: Ein Jahr im Studio (1948), zit. n.: Alfred Polgar: Kleine Schriften. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki und Ulrich Weinzierl, Bd. 3: Irrlicht. Reinbek bei Hamburg 1984, S. 395–400, hier S. 395; 24 Was sucht der Film heute? Ein Besuch in der Agentur Kohner (1940), S. 9.

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der „konstitutive[n] Dritte[n] im Dreieck der Beziehungen“25 ist: „Die Agenten verknüpfen die verschiedenen Akteure des Massenmediums Film. Ihre Macht ergibt sich aus dieser Schlüsselposition im Netzwerk Hollywoods. Sie suchen vor Ort. Sie pflegen ihre Kontakte und handeln mit Informationen, die sie genau diesen Kontakten verdanken.“26 Die Sammlung Paul Kohner Agency ermöglicht eine repräsentative Rekonstruktion kulturproduktiver Prozesse.

2.4 Das Netzwerk Wie jede Agentur ist die Paul Kohner Agency ein strategisches Netzwerk. Die Akteure interagieren mit ihren kommunikativen, sozialen und beruflichen Kompetenzen horizontal, vertikal und diagonal in einem intentionalen und synergetischen Handlungszusammenhang auf einem spezifischen Markt. Im Netzwerk der Kohner Agency verschränken sich allerdings Akteure, Profile, Kompetenzen und Intentionen aus zwei voneinander verschiedenen migrantischen und exilischen Kontexten, zwischen denen der Agent einen Transfer schaffen soll und will: Der politische, existentielle, passiv, unfreiwillig und unvorbereitet erfahrene Kontext von Flucht und Vertreibung indiziert Praktiken des Überlebens, der geplante und selbstbestimmt initiierte Kontext kultureller Produktion indiziert Gestaltungen der Profession. Der Agent Paul Kohner vermittelt also nicht nur einerseits Schauspieler, Regisseure, Filmautoren oder Komponisten mit den Filmproduktionsfirmen und andererseits die Emigranten aus dem nationalsozialistisch okkupierten Europa mit den Hilfsorganisationen und Behörden. Er macht die verschiedenen Netzwerke zugleich durchlässig für beide Interessengruppen. Er dynamisiert damit soziale, kulturelle, sprachliche und ökonomische Integrations- und Assimilationsprozesse. Der von Paul Kohner 1938 initiierte European Film Fund bildet eine Schnittstelle: Der Fonds unterstützte in die Vereinigten Staaten emigrierte

25 Alexander Zons: Beziehungsmakler in Hollywood: Zirkulation und Unterbrechung in Netzwerken. In: Maik Bierwirth, Oliver Leistert und Renate Wieser (Hg.): Ungeplante Strukturen. Tausch und Zirkulation. München 2010, S. 190–201, hier S. 191. 26 Zons: Beziehungsmakler in Hollywood, S.  191. Vgl. auch: Wiebke Skalicky: Literaturagenten in der literarischen Emigration 1933–1945. Beobachtungen zur Rolle und Wirkung. In: Ernst Fischer (Hg.): Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb? Wiesbaden 2001, S. 101–123; Alexander Zons: Der Bote. In: Eva Esslinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer und Alexander Zons (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Frankfurt a. M. 2010, S. 153–165.; Alexander Zons: Händler der Ungewissheit. Agenten in Hollywood. In: Margrit Frölich und Rembert Hüser (Hg.): Geld und Kino. Arnoldshainer Filmgespräche. Bd. 27. Marburg 2011, S. 27–39.

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europäische Filmschaffende, die sich in einer finanziellen Notlage befanden, mit Darlehen. Er finanzierte sich durch freiwillige Beiträge in Hollywood beschäftigter Filmleute, die aufgefordert waren, ein Prozent ihrer Gagen an den Fonds zu überweisen. Die Akten des EFF, der 1948 im European Relief Fund (ERF) aufging, befinden sich im Nachlass Paul Kohner Agency und geben präzise Auskunft über finanzielle Ressourcen, organisatorische Abläufe und exilbiografische Verhandlungen. Die im Nachlass liegenden Klientenverträge geben exakt Aufschluss über die Skalierung von Honoraren, Verpflichtungen und Befristungen und dokumentieren mit dazugehörigen Korrespondenzen Professionstransfers. Die Entscheidung des Regisseurs Joe May, ein Restaurant mit Wiener Küche zu eröffnen,27 oder Felix Bressarts Wechsel vom Schauspieler zum Physiotherapeuten28 leuchten die Spielarten auf diesem Feld aus. Paul Kohner repräsentiert den Professionstypus des Agenten, das Material der Kohner Agency ist eine wertvolle Quelle für eine transnationale, transkulturelle und transmediale Professionsforschung sowie eine institutionssoziologische Migrationsforschung. Die im Nachlass insgesamt dokumentierte Tätigkeit der Agentur Kohner bietet der Netzwerkforschung29 einen exemplarischen Fall.

3 Migration / Exil – Filmexil Das kulturelle Massenmedium Film entwickelt sich historisch von Beginn an in Europa und Amerika in internationalen Kooperationen und transnationalen Produktionsprozessen. Die Geschichte der transatlantischen Beziehungen verläuft in wechselseitigen Phasen: Deutsch-jüdische und europäische Auswanderer gründen die amerikanische Filmindustrie um 1900, sie profitiert von der technisch-ästhetischen Entwicklung des deutschen Stummfilms vor und nach dem Ersten Weltkrieg und zieht in den 1920er Jahren innovative Filmschaffende wie Paul Leni, Ernst Lubitsch und Henry (Heinz) Blanke an die Westküste. Carl Laemmle holt William (Willi) Wyler und Paul Kohner nach New York und dann

27 Mit finanzieller Hilfe von Otto Preminger, Walter Reisch, Robert Siodmak und anderen hatten Joe und Mia May im März 1949 das Restaurant „Blue Danube“ am 1904, Southern Robertson Boulevard eröffnet, es musste allerdings nach wenigen Wochen wieder schließen. 28 Vgl. hierzu: Heike Klapdor: They can’t censor our memories. Hommage für Felix Bressart. In: FilmExil 1 (1992), S. 39–48, hier S. 47. 29 Vgl. zur Einführung: Burcu Dogramaci: Netzwerke des künstlerischen Exils als Forschungsgegenstand. In: Burcu Dogramaci und Karin Wimmer (Hg.): Netzwerke des Exils. Künstlerische Verflechtungen, Austausch und Patronage nach 1933. Berlin 2011, S. 13–28.

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nach Hollywood, als größte funktionierende und für den Weltmarkt produzierende Filmindustrie das „transatlantische[s] Mekka des Weltkinos“30. Gleichzeitig installieren die amerikanischen Produktionsfirmen Niederlassungen in Paris oder Berlin und haben deutsche oder europäische Filmschaffende unter Vertrag. 1929, an der Wende zum Tonfilm, einer technisch-ästhetischen und ökonomischen Dynamisierung, die die Konkurrenten diesseits und jenseits des Atlantiks 1930 im Pariser Tonfilmabkommen regeln, kreuzen sich die Wege von Emil Jannings und Fred Zinnemann. Der Stummfilmstar kehrt nach Deutschland zurück, während der Kamera- und Regieassistent in Amerika eintrifft: „Hollywood ist ein fabelhaft schönes place.“31 William Dieterle und Marlene Dietrich treffen ein Jahr später ein. Die politisch motivierte Emigration nach 1933 macht faktisch Auswanderer zu Exilanten, beeinflusst aber auch das politische Selbstverständnis der – wie Paul Kohner – schon aus professionellen Motiven nach Amerika Ausgewanderten. Billy (Billie) Wilder und Fritz Lang treffen 1934 ein. Aus Exilanten werden Einwanderer. Als naturalisierte Amerikaner sehen Wilder, Marlene Dietrich oder Erich Pommer nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das zerstörte Deutschland wieder und wirken im Auftrag amerikanischer Institutionen am medialen Wiederaufbau mit. Fritz Lang, Joe May, Curt Bois oder Fritz Kortner kehren als Remigranten zurück, aus der desillusionierenden Remigration wird im Falle Peter Lorres eine zweite Emigration, er geht nach Hollywood zurück. Innerhalb kontinuierlicher medienspezifischer transnationaler Produktionsstrukturen also verantwortet die aus einem politischen Kontext hervorgehende Exilierung eine Diskontinuität. Das Exil stellt ein „Paradigma für das Verhältnis von Politik und Kunst dar.“32 Es erhellt den „Umschlag von Emigration in Exilierung innerhalb einer Biografie“33 und bietet den Schlüssel für den exilbedingten personellen Anteil an Filmproduktionen. Es bleibt aber im Fokus des Filmexils zu prüfen, inwieweit und wie sich professionell und politisch motivierte grenzübergreifende Bewegungen, also migrantische und exilische Prozesse überlagern, verschieben, ersetzen. Und es taugt nur bedingt für die Definition des Exilfilms. Die exilierten Filmschaffenden wirkten an nationalen Filmproduktionen mit, die auf das Publikum des Produktionslandes ausgerichtet sind. Sie waren an der

30 Gero Gandert: Transatlantische Miniaturen. In: Jacobsen, Prinzler, Sudendorf: Filmmuseum Berlin, S. 107–130, hier S. 108. 31 Fred Zinnemanns Brief an Herbert Rappaport vom 10. Dezember 1929, in: FilmExil 1 (1992), S. 49  f. 32 Heike Klapdor: Erforschung des Filmexils. In: Hans-Michael Bock und Wolfgang Jacobsen (Hg.): Recherche: Film. Quellen und Methoden der Filmforschung. München 1997, S. 37–46, hier S. 38. 33 Klapdor: Erforschung des Filmexils, S. 37.

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Entwicklung von Genres beteiligt – wie dem historischen Kostümfilm, dem Musikfilm, dem Gangsterfilm, dem dystopischen Gesellschaftsdrama oder dem politischen Propagandaspielfilm. Doch der Einfluss auf die Ästhetik des Film noir34 ist nicht exilspezifisch und der Anti-Nazi-Film ist kein Filmgenre der Exiliierten, sondern der amerikanischen und englischen Filmpropaganda, für die die Emigranten nicht selten als Nazis besetzt wurden.35 Obwohl also der „Exilfilm nicht als Genre zu verstehen [ist], weil ihm keine inhaltlichen oder stilistischen Merkmale eigen sind“, muss in den „politischen und wirtschaftlichen Produktionsbedingungen“36, die ihn in den Augen des Filmhistorikers Jan-Christopher Horak bestimmen, das Verhältnis von medienspezifischer Migration vor 1933 und zeitgeschichtlich spezifischem Exil nach 1933 sichtbar werden. Es ist konstitutiv für eine Theorie des Exilfilms / Filmexils. Die Produktionsunterlagen und das werkbiografische Material in den Klientenakten der Sammlung Paul Kohner Agency bieten sich dafür an.

4 Die Ordnung Der Firmennachlass Paul Kohner Agency ist in seiner systematischen Struktur überliefert worden, geordnet nach Gruppen und dort jeweils alphabetisch nach Namen oder Titeln und darin chronologisch. Das Ordnungskriterium der Chronologie führte die  – hand- und maschinenschriftlichen  – Korrespondenzen als Dialog vor Augen. Sie bildeten mit hybriden Elementen (interne handschriftliche Kommentierungen am Rand von Briefen), mit Verweisungsstrukturen durch eingeordnete vervielfältigte Dokumente (Durchschläge, Abschriften) aus anderen, thematisch zugehörigen Akten, Notizen der Interoffice Communication, und mit Materialien wie Zeitungsausschnitten oder Werbegrafiken zusammen-

34 Vgl. hierzu: Barbara Steinbauer-Grötsch: „Two shadowy figures framed á la Siodmak“. Der deutsche Stummfilm, die Filmexilanten und der amerikanische Film Noir. In: FilmExil 6 (Juli 1995), S.  53–71; Maja Figge: Heimat noir: Generische und rassisierte Überblendungen in Die Goldene Pest. In: Bastain Blachut, Imme Klages und Sebastian Kuhn (Hg.): Reflexionen des beschädigten Lebens? Nachkriegskino in Deutschland zwischen 1945 und 1962. München 2015, S. 205–230, hier S. 207. 35 Als Standardwerk zum Thema gilt: Jan-Christopher Horak: Anti-Nazi-Filme der deutschsprachigen Emigration von Hollywood 1939–1945. Münster 1985. 36 Jan-Christopher Horak: In der Fremde. Exilfilm 1933–1945. In: Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes und Hans Helmut Prinzler (Hg.): Geschichte des deutschen Films. Stuttgart, Weimar 1993, S. 101–118, hier S. 108. Vgl. Horaks Dokumentation zur Filmemigration nach 1933: Fluchtpunkt Hollywood (Münster 1986).

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hängende sukzessive und transparente Prozesse ab. Wie wenn es ein Drehbuch wäre, bilden sie mit Telegrammen, handschriftlichen Handlungsaufforderungen am Rand der Briefe und notierten Telefongesprächen den abenteuerlichen und atemlosen Verlauf der Flucht des Filmautors Paul Schiller und seiner Familie aus Südfrankreich über Spanien und Portugal nach Amerika ab, die dank Kohners Einsatz gelingt.37 Die Gründe, warum sie im Falle Charles Huszár-Puffys dagegen scheitert, treten aus dem Briefdialog des engagierten und immer dringlicher argumentierenden Kohner mit dem beharrlich sich weigernden ungarischen Schauspieler hervor, die geliebte Heimat zu verlassen; die Korrespondenz führt das tragische Zögern ebenso vor Augen wie sie die zunehmende Entrechtung des ungarischen Juden dokumentiert.38 Der Briefwechsel mit Alexander Roda Roda lässt die in die amerikanische Filmproduktion nicht vermittelbaren alt-österreichischen Sujets ebenso hervortreten wie Kohners rhetorisches Repertoire, aus dem er in diesem Fall liebenswürdige Höflichkeit à l’ancienne wählt, mit der er um die Einsicht des österreichischen Schriftstellers wirbt.39 Die Korrespondenz mit Albert Bassermann dokumentiert den schwerfälligen Mentalitätswandel eines auf deutschsprachigen Bühnen und Stummfilmsets berühmten deutschen Schauspielers, Kohners federnde rhetorische Strategie lässt ihn geschickt variieren zwischen dienender Unterwerfung und fordernder Souveränität, sie spiegelt darin vermeintliche Macht und tatsächliche Ohnmacht des Klienten und setzt ihn einem widerständigen Akkulturationsprozess aus. Der Briefwechsel mit Luis Trenker repräsentiert einen exemplarischen Dialog über Kunst und Politik, den Opportunismus und Engagement, Freundschaft und Entfremdung, Narzissmus und Empathie, Verleugnung und Vernichtung prägen.40 Alle Korrespondenzen fordern dazu heraus, das Exil als Zäsur zu identifizieren. Obwohl die Richtlinien der Handschriftenkatalogisierung der Deutschen Forschungsgemeinschaft vorsehen, „vorgefundene Ordnungen […] auf ihre Brauchbarkeit hin zu prüfen und gegebenenfalls unverändert […] zu übernehmen“41, wurde die zweijährige Förderung der archivalischen Erschließung des Nachlasses Paul Kohner Agency durch die DFG42 an die Auflösung der integralen zugunsten einer für Schriftgutarchive verbindlichen kategorialen Struktur gebunden.

37 Vgl. den Briefwechsel in: Klapdor: Briefe, S. 92–110. 38 Vgl. den Briefwechsel in: Klapdor: Briefe, S. 78–90. 39 Vgl. hierzu Jacobsen, Klapdor: Geschichten für Hollywood, S. 8–10. 40 Vgl. den Briefwechsel in: Klapdor: Briefe, S. 279–311. Vgl. hierzu auch: Eric Rentschler: The Trenker-Kohner Correspondence. In: FilmExil 1 (1992), S. 28–29. 41 Richtlinien der Handschriftenkatalogisierung der DFG. Bonn, Bad Godesberg 1992 (5. erw. Aufl.), S. 44. 42 Förderantrag vom 25. Oktober 1990, Bewilligung III N 2 – 565 59/91.

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Die integrale Ordnung bildete einen lebendigen und komplexen Prozess ab, der gleichzeitig auf den Ebenen der direkten, der an andere vermittelten und der kommentierten Korrespondenz lesbar war. Die zerstörte Ordnung hat die in den Konvoluten aufgehobene Unmittelbarkeit getilgt. Die kategoriale Ordnung verändert das Lesen. Was dekonstruiert wurde, müssen die Nutzer, indem sie das Material auswertend ‚ineinanderschieben‘, rekonstruieren. Der ursprüngliche integrale Zusammenhang allerdings ist etwa durch aus ihm entfernte Materialien ohne Datierung oder ohne offensichtlichen Kontext beschädigt. Die film- und exilhistorische Bedeutung des Nachlass Paul Kohner Agency ist ablesbar in einem auf die Nutzung orientierten Findbuch, sie wurde durch Veröffentlichungen in der Zeitschrift FilmExil (1992–2005) belegt, sichtbar in einem Dokumentarfilm43 und in einem dem Exil gewidmeten Raum der Dauerausstellung des Filmmuseums Deutsche Kinemathek Berlin.44 Dokumente aus dem Nachlass der Paul Kohner Agency fanden Eingang in die unter Leitung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, Frankfurt am Main entwickelte digitale Ausstellung Künste im Exil. Die Bedeutung des Bestandes hat sich in einer Briefedition und zahlreichen weiteren fachwissenschaftlichen Publikationen niedergeschlagen. Erschlossene werk- und exilbiografische Materialien gehören zu den Standards der Forschung. Der Nachlass kann als Referenz herangezogen werden für eine transnational und transhistorisch angelegte Korpus- und Kanonbildung des deutschen Filmerbes. Von den Filmhistorikern und Filmwissenschaftlern Jeanpaul Goergen, Helmut Herbst und Klaus Kreimeier im November 2013 angemahnt,45 finanzieren die Filmförderungsanstalt und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien seit 2015 ein Programm zur „Rettung des nationalen Filmerbes“46, dessen Epitheton ‚national‘ fragwürdig und mit Blick auf die Filmproduktion unter dem Vorzeichen des Exils kontraproduktiv ist. Die Kriterienbildung, die die Prämisse des Films als artifizielle Quelle für die Geschichts-, Medien- und Kulturwissenschaften nach sich zieht, muss das Quellenmaterial in der Sammlung Paul Kohner Agency heranziehen. Es unterstützt die Kontextualisierung der Filme,

43 Der Agent vom Sunset Boulevard. Paul Kohner und das amerikanische Filmexil. Reg. Jens-Peter Behrend, Aut. Heike Klapdor. ZDF / ARTE, 1996. 44 Vgl. die Spiegelung der Raumkonzeption in: Heike Klapdor: „Ein Exil soll das Land sein / Not a home, but an exile“. In: Jacobsen, Prinzler, Sudendorf: Filmmuseum Berlin, S. 221–262. 45 https://filmerbe-in-gefahr.de (Zugriff 15. 1. 2019). 46 Vgl. hierzu: Markus Tauschek: Kulturerbe. Eine Einführung. Berlin 2013; Rainer Rother: Nationales Filmerbe, nationale Aufgaben: Sammeln, Bewahren, Erschließen, Präsentieren, Vermitteln. In: Forum. Fachmagazin des Bundesarchivs: Filmarchivierung im digitalen Zeitalter (2016), S. 14–25.

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die bisher nur marginal recherchiert, gerettet und gesichert und zu einem noch geringeren Teil in dem eigentlichen Raum der Filmgeschichte gezeigt worden sind – im Kino. Das Archiv der Sammlung Paul Kohner Agency ist ein gerettetes Gedächtnis des Films und des Exils. Es hebt das Abwesende auf und entdeckt es als Benjaminsche „Spur“, als „Erscheinung einer Nähe, so fern sie sein mag, was sie hinterließ.“47. Die Frage der Wahrnehmbarkeit und Erkenntnis des Vergangenen rückt die Form und Struktur ihrer Aufbewahrung und damit die Evokation von Vergessen und Erinnern ins Zentrum. Der französische Künstler Christian Boltanski, für dessen Werk die Grundprinzipien von Archiven als „Spurensicherung“48 konstitutiv sind, hat von der „gleichzeitigen An- und Abwesenheit“ der Lebenszusammenhänge in Materialien gesprochen, die „sowohl Objekt als auch Erinnerung an ein Subjekt“49 sind. Die Rauminstallation „Archiv der Deutschen Abgeordneten“ (1999) (Abb. 1) im Untergeschoss des Deutschen Bundestages, des ehemaligen Reichstagsgebäudes in Berlin, präsentiert ca. 5000 Archivkästen, die mit den Namen der Abgeordneten beschriftet sind, die zwischen 1919 und 1999 auf der Grundlage demokratischer Wahlen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung von 1919/20, den Reichstagen der Weimarer Republik und dem Deutschen Bundestag angehörten. Die Archivkästen bilden zwei längliche, raumhohe, durch einen schmalen Gang getrennte Blöcke. Schwach erhellt durch Kohlefadenlampen, wirkt die Installation wie ein „vergessenes Kellerarchiv“50 und assoziiert sich jenem am Sunset Boulevard: Dort wie hier, am authentischen Ort und gegenüber einer artifiziellen Örtlichkeit, verweisen die Lichtmetaphorik des Ver/ Erkennens und die symbolische Praxis des Ver/Bergens auf die An/Abwesenheit von Geschichte und Subjekt. Die Evidenz, die Christian Boltanskis wirkungsästhetische Transformationen des Historischen besitzen, stellt sich für die, die das Archiv lesen, auf verwandte Weise her: Die Geschichte nicht als tote Vergan-

47 Walter Benjamin: Aufzeichnungen und Materialien, M 16 a, 4: der Flaneur. In: Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Bd. 1, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1983, S. 560. 48 „Spurensicherung. Archäologie und Erinnerung“. Titel der Ausstellung im Hamburger Kunstverein, 1974, mit Werken von Christian Boltanski. 49 Interview mit Christian Boltanski, zit. n.: Uwe M. Schneede: Die Mittel der Erinnerung. Anhand einiger Werke und einiger Äußerungen von Christian Boltanski. In: Christian Boltanski. Inventar, hg. von Uwe M. Schneede, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1991, S. 9–22, hier S. 14. 50 Andreas Kaernbach, Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages über Christian Boltanskis Installation Archiv der Deutschen Abgeordneten (1999). https://www.bundestag.de/ besuche/kunst/kuenstler/boltanski (Zugriff: 3. 5. 2019)

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Abb. 1: Christian Boltanski: Archiv der Deutschen Abgeordneten, 1999, Installation, Deutscher Bundestag, Berlin, Metallkästen mit Aufklebern, Kohlefadenlampe (© VG Bild-Kunst, Bonn 2019, © Deutscher Bundestag, Julia Nowak-Katz).

genheit, sondern als in die Gegenwart fließende Zeit und lebendige Erinnerung begreifen, das Überlieferte mittels Abstraktion und durch Erfahrung verstehen, dem Anderen als einem Ähnlichen begegnen, aus Distanz und Nähe.

Literaturverzeichnis Anonym: Was sucht der Film heute? Ein Besuch in der Agentur Kohner. In: Aufbau 40 (4. Oktober 1940), S. 11. Abgedruckt in: FilmExil 1 (1992), S. 9–10. Asper, Helmut G.: Filmexil in Hollywood. „Etwas Besseres als den Tod …“ – Porträts, Filme, Dokumente. Marburg 2002. Becker, Sabina und Sonia Goldblum (Hg.): Deutschsprachige Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen. Texte – Kontexte – Netzwerke. München 2018. Belach, Helga und Stiftung Deutsche Kinemathek (Hg.): Exil. Sechs Schauspieler aus Deutschland. Berlin 1983.

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Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Bd. 1, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1983, S. 560. Der Agent vom Sunset Boulevard. Paul Kohner und das amerikanische Filmexil. Reg. Jens-Peter Behrend, Aut. Heike Klapdor. ZDF / ARTE, 1996. Dogramaci, Burcu: Netzwerke des künstlerischen Exils als Forschungsgegenstand. In: Burcu Dogramaci und Karin Wimmer (Hg.): Netzwerke des Exils. Künstlerische Verflechtungen, Austausch und Patronage nach 1933. Berlin 2011, S. 13–28. Döblin, Alfred: Schicksalsreise. Zweites Buch: Amerika. In: ders.: Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen. Olten, Freiburg i. B. 1977, S. 340–366. Elfe, Wolfgang D.: Das Emergency Rescue Committee. In: John Spalek und Joseph Strelka (Hg.): Deutsche Exilliteratur seit 1933, Bd. I: Kalifornien, Teil I. Bern, München 1976, S. 214–219. Figge, Maja: Heimat noir: Generische und rassisierte Überblendungen in Die Goldene Pest. In: Bastain Blachut, Imme Klages und Sebastian Kuhn (Hg.): Reflexionen des beschädigten Lebens? Nachkriegskino in Deutschland zwischen 1945 und 1962. München 2015, S. 205–230. Gandert, Gero: Transatlantische Miniaturen. In: Wolfgang Jacobsen, Hans Helmut Prinzler und Werner Sudendorf (Hg.): Filmmuseum Berlin. Berlin 2000, S. 107–130. Garz, Detlef und David Kettler (Hg.): Nach dem Krieg! – Nach dem Exil? Erste Briefe / First Letters. Fallbeispiele aus dem sozialwissenschaftlichen und philosophischen Exil. München 2012. Horak, Jan-Christopher: Anti-Nazi-Filme der deutschsprachigen Emigration von Hollywood 1939–1945. Münster 1985. Horak, Jan-Christopher: In der Fremde. Exilfilm 1933–1945. In: Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes und Hans Helmut Prinzler (Hg.): Geschichte des deutschen Films. Stuttgart, Weimar 1993, S. 101–118. Jacobsen, Wolfgang, Hans Helmut Prinzler und Werner Sudendorf (Hg.): Filmmuseum Berlin. Berlin 2000. Jacobsen, Wolfgang und Heike Klapdor: „Das Leben ist erfinderischer als jeder Schreiber“. Eine Einführung. In: Wolfgang Jacobsen und Heike Klapdor (Hg.): In der Ferne das Glück. Geschichten für Hollywood. Berlin 2013, S. 7–22. Kesten, Hermann (Hg.): Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933–1949. Wien, München, Basel 1964. Klapdor, Heike: „A man who has learned his lesson“. Joe May im amerikanischen Exil. In: Hans-Michael Bock und Claudia Lenssen (Hg.): Joe May. Regisseur und Produzent. München 1991, S. 115–124. Klapdor, Heike: They can’t censor our memories. Hommage für Felix Bressart. In: FilmExil 1 (1992), S. 39–48. Klapdor, Heike: Erforschung des Filmexils. In: Hans-Michael Bock und Wolfgang Jacobsen (Hg.): Recherche: Film. Quellen und Methoden der Filmforschung. München 1997, S. 37–46. Klapdor, Heike: „Ein Exil soll das Land sein / Not a home, but an exile“. In: Wolfgang Jacobsen, Hans Helmut Prinzler und Werner Sudendorf (Hg.): Filmmuseum Berlin. Berlin 2000, S. 221–262. Klapdor, Heike: „Sein eigener Herr und Knecht“. Albert Bassermann im amerikanischen Exil. In: FilmExil 12 (Oktober 2000), S. 4–24. Klapdor, Heike (Hg.): Ich bin ein unheilbarer Europäer. Briefe aus dem Exil. Berlin 2007. Kohner, Frederick: Der Zauberer vom Sunset Boulevard. Ein Leben zwischen Film und Wirklichkeit. München, Zürich 1974.

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Kucher, Primus-Heinz, Johannes F. Evelein und Helga Schreckenberger (Hg.): Erste Briefe / First Letters aus dem Exil 1945–1950. (Un)mögliche Gespräche. Fallbeispiele des literarischen und künstlerischen Exils. München 2011. Polgar, Alfred: Ein Jahr im Studio (1948). In: ders.: Kleine Schriften. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki und Ulrich Weinzierl, Bd. 3: Irrlicht, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 395–400. Rentschler, Eric: The Trenker-Kohner Correspondence. In: FilmExil 1 (1992), S. 28–29. Richtlinien der Handschriftenkatalogisierung der DFG. Bonn-Bad Godesberg 1992 (5. erw. Aufl.). Rother, Rainer: Nationales Filmerbe, nationale Aufgaben: Sammeln, Bewahren, Erschließen, Präsentieren, Vermitteln. In: Forum. Fachmagazin des Bundesarchivs: Filmarchivierung im digitalen Zeitalter (2016), S. 14–25. Schiller, Paul: Hollywood: Ausländer-boom in Hollywood? In: Aufbau 8 (19. Februar 1943), S. 9. Schneede, Uwe M.: Die Mittel der Erinnerung. Anhand einiger Werke und einiger Äußerungen von Christian Boltanski. In: Christian Boltanski. Inventar, hg. von Uwe M. Schneede, Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1991, S. 9–22. Scholz, Juliane: Deutsche Drehbuchautoren in Hollywood (1933–1945). In: Isabella Löhr, Matthias Middell und Hannes Siegrist (Hg.): Kultur und Beruf in Europa. Stuttgart 2012, S. 61–67. Skalicky, Wiebke: Literaturagenten in der literarischen Emigration 1933–1945. Beobachtungen zur Rolle und Wirkung. In: Ernst Fischer (Hg.): Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb?. Wiesbaden 2001, S. 101–123. Steinbauer-Grötsch, Barbara: „Two shadowy figures framed á la Siodmak“. Der deutsche Stummfilm, die Filmexilanten und der amerikanische Film Noir. In: FilmExil 6 (Juli 1995), S. 53–71. Tauschek, Markus: Kulturerbe. Eine Einführung. Berlin 2013. Zons, Alexander: Beziehungsmakler in Hollywood: Zirkulation und Unterbrechung in Netzwerken. In: Maik Bierwirth, Oliver Leistert und Renate Wieser (Hg.): Ungeplante Strukturen. Tausch und Zirkulation. München 2010, S. 190–201. Zons, Alexander: Der Bote. In: Eva Esslinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer und Alexander Zons (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Frankfurt a. M. 2010, S. 153–165. Zons, Alexander: Händler der Ungewissheit. Agenten in Hollywood. In: Margrit Frölich und Rembert Hüser (Hg.): Geld und Kino. Arnoldshainer Filmgespräche. Bd. 27. Marburg 2011, S. 27–39. Zons, Alexander: Paul Kohner – Agent der Exillanten. In: exilograph. Newsletter der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur. Nr. 20: Exilfilm – Filmexil. Historische, mediale und ästhetische Übersetzungen (Sommer 2013), S. 7–8.

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Warum ein Exilmuseum? Vision und Hintergründe Wir sind die Letzten./ Fragt uns aus./ Wir sind zuständig./ Wir tragen den Zettelkasten/ mit den Steckbriefen unserer Freunde/ wie einen Bauchladen vor uns her./ Forschungsinstitute bewerben sich/ um die Wäscherechnungen Verschollener,/ Museen bewahren die Stichworte unserer Agonie/ wie Reliquien unter Glas auf./ Wir, die wir unsre Zeit vertrödelten,/ aus begreiflichen Gründen,/ sind zu Trödlern des Unbegreiflichen geworden./ Unser Schicksal steht unter Denkmalschutz./ Unser bester Kunde ist das/ schlechte Gewissen der Nachwelt./ Greift zu, bedient euch./ Wir sind die Letzten./ Fragt uns aus./ Wir sind zuständig.1 Hans Sahl, „Die Letzten“, 1973

Der ins Exil gezwungene Schriftsteller Hans Sahl (Abb. 1) wirft in seinem Gedicht entscheidende Fragen auf. Uns als kuratorisches Team des in Gründung befindlichen Exilmuseums in Berlin beschäftigen ähnliche Überlegungen: Welche ist die adäquate museale Herangehensweise an die Darstellung des „Unbegreiflichen“, an das große Thema Exil? Besteht diese im Ausstellen der materiellen Relikte? Und ist damit die historische und zugleich aktuelle Dimension des Themas erfasst? Wie kann es gelingen, die Lebendigkeit zu erhalten, auf die wir bei der Befragung der „Letzten“ stießen? Und wie kommen wir möglichst nah heran an deren Lebensgeschichten – und damit an die Erfahrung des Exils?

1 Den Inhalt des Wortes Exil begreifbar machen Das Exilmuseum Berlin basiert auf einer bürgerschaftlichen Initiative rund um die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und den Kunsthändler Bernd Schultz, der 2018 nicht nur die Stiftung Exilmuseum ins Leben rief, sondern durch Versteigerung seiner grafischen Sammlung auch die wesentliche Anschubfinanzierung für das Projekt bereitstellte. Herta Müller, Schirmherrin des Vorhabens, hatte bereits 2011 in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel angemahnt, dass ein solches Museum in Deutschland fehlt. In Reaktion darauf rief der damalige Kulturstaatsminister Bernd Neumann 2013 das digitale Netzwerkprojekt „Künste im Exil“ ins Leben. In einem Zeitungsinterview verwies Herta Müller 2016

1 Hans Sahl: Die Letzten [1973]. In: Michael Winkler (Hg.): Deutsche Literatur im Exil 1933–1945. Texte und Dokumente. Stuttgart 2009, S. 15. https://doi.org/10.1515/9783110542103-016

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Abb. 1: Stefan Moses: „Hans Sahl“, München 1982 (© Else Moses/ Stiftung Exilmuseum Berlin).

noch einmal auf die „Leerstelle in der Museumslandschaft“ und wiederholte ihre Forderung nach einem Ausstellungsort: Der Kern des Exilmuseums sollte das Exil im Nationalsozialismus sein. Diese beispiellose Katastrophe für die Verjagten, die alles verloren haben und die Katastrophe für Deutschland, das innerhalb kürzester Zeit seine wichtigsten Künstler, seine besten Wissenschaftler verstieß. Aber natürlich verweist diese Zeit ja auf die Flüchtlinge, die jetzt zu uns kommen. Umso wichtiger ist es ja, den Inhalt des Wortes Exil zu begreifen.2

2 Gabriela Walde und Susanne Leinemann: „Deutschland steht nicht gut da“, findet Herta Müller. In: Berliner Morgenpost, 20. 11. 2016, online unter: https://www.morgenpost.de/kultur/ article208752879/Deutschland-steht-nicht-gut-da-findet-Herta-Mueller.html (Zugriff: 23. 9. 2017).

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In der Tat hat das Thema Exil – bedingt durch die weltweit stark zunehmenden Flucht- und Migrationsbewegungen und die auch in Europa 2015 sprunghaft angestiegene Zahl von Geflüchteten – derzeit Konjunktur. Kein Tag vergeht, an dem nicht ausführliche Artikel zu diesem Thema in den Zeitungen erscheinen. Auch das historische Exil rückt damit wieder ins öffentliche Bewusstsein.3 Im Blick zurück nach vorn wird nach Antworten gesucht. Umso dringlicher scheint es, „den Inhalt des Wortes Exil“, wie Herta Müller formulierte, begreifbar zu machen. Genau dies hat sich das Exilmuseum zur Aufgabe gemacht, indem es im historischen Exempel nach den sich darin spiegelnden überzeitlichen Erfahrungen sucht.

2 Blick zurück … Das Thema Exil blieb in beiden Teilen Deutschlands lange Zeit unterbelichtet. In der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik wurden die nationalsozialistischen Verbrechen kollektiv beschwiegen: Erst in den 1960er Jahren rückten sie mit der ersten strafrechtlichen Verfolgung von NS-Tätern und der 1968er-Bewegung stärker ins öffentliche Bewusstsein. An der Staatsgründung der DDR waren zwar viele Remigrant/innen beteiligt, jedoch wurden vor allem sozialistische und kommunistische Verfolgte willkommen geheißen. Das zahlenmäßig weitaus größere jüdische Exil fand hingegen wenig Beachtung. Exilant/innen gelten in der öffentlichen Wahrnehmung bis heute nicht als typische NS-Opfer. Mit dem „Geschichtsboom“4 der 1980er Jahre entstanden  – oftmals aus bürgerschaftlichem Engagement heraus  – zahlreiche Holocaust-Gedenkstätten und jüdische Museen. Doch das Exil selbst blieb stets ein Nebenthema im Schatten der Erinnerung an den Holocaust. Wichtige Sonderaus-

3 Als Beispiele seien genannt: Deutschlandfunk am 11.  7. 2018: Carsten Dippel: Juden waren nirgends erwünscht, https:// www.deutschlandfunk.de/fluechtlingskonferenz-von-evian-1938-juden-waren-nirgends.886. de.html?dram:article_id=422511 (Zugriff: 21. 1. 2019). Die Zeit am 2. 7. 1998: Thomas Schmid und Susanne Heim: Wir sind kein Einwanderungsland, https://www.zeit.de/1998/28/Wir_sind_kein_Einwanderungsland (Zugriff: 21. 1. 2019). Süddeutsche Zeitung am 1.  2. 2018: Robert Probst: Zehn Tage im Hotel Royal, http://www. sueddeutsche.de/politik/konferenz-im-schweizer-vian-zehn-tage-im-hotel-royal-1.3843691-2 (Zugriff: 21. 1. 2019). 4 Ausgelöst wurde dieser u.  a. durch die 1979 in Deutschland ausgestrahlte Serie „Holocaust“ von Marvin Chomsky, die zu einem Medienereignis wurde und dem historischen Ereignis des Judenmords seinen heute gebräuchlichen Namen gab.

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stellungen wie „Exil – Flucht und Emigration europäischer Künstler 1933–1945“ in der Neuen Nationalgalerie Berlin 1997 oder „Heimat und Exil“ des Jüdischen Museums Berlin in Partnerschaft mit dem Haus der Geschichte Bonn 2006 konnten das nicht grundlegend ändern. Seit März 2018 gibt es endlich eine erste Dauerausstellung zum NS-Exil in den Räumlichkeiten der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt, die auf den reichen Schätzen des dort angesiedelten Exilarchivs basiert. Auffällig ist, dass hingegen bereits seit Mitte der 1960er Jahre ein dichtes Netzwerk an Forschungseinrichtungen und Archiven besteht, die sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzen. An vielen Orten der Welt wurden sie von (R)Emigrant/innen selbst ins Leben gerufen. Sammelnde und forschende Einrichtungen wie die Akademie der Künste Berlin, die Österreichische und Deutsche Nationalbibliothek, das Deutsche Literaturarchiv Marbach, die Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für Exilliteratur und zahlreiche weitere Archive im In- und Ausland schufen die Grundlagen für eine äußerst rege Exilforschung. Während anfangs vor allem die Erforschung der Exilliteratur im Mittelpunkt des Interesses stand, geht es inzwischen zunehmend auch darum, „die vielfältigen Formen von erzwungener Migration und Diaspora in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zu erfassen.“5

3 … nach vorn Angesichts all der erwähnten Initiativen ist sich das Gründungsteam des Exilmuseums bewusst, dass es ‚auf den Schultern von Riesen‘ steht. Jahrzehnte intensiver internationaler Exilforschung ermöglichen es, inhaltlich aus dem Vollen zu schöpfen. In den Archiven finden sich reichhaltige Sammlungen von Objekten – erfreulicherweise haben viele von ihnen schon ihre Bereitschaft signalisiert, das Projekt durch die großzügige Gewährung von Fachwissen, Leih-Objekten und Dokumenten zu unterstützen. Unser Fokus kann und sollte deshalb nicht darin bestehen, eine große eigene Sammlung aufzubauen. Vielmehr sehen wir die Chance der Privatinitiative darin, das Thema schnell auf breiter Ebene anzuschieben – als „Schaufenster“ in der Hauptstadt und in bewusster Partnerschaft mit vorhandenen sammelnden, forschenden und ausstellenden Einrichtungen

5 Inge Hansen-Schaberg: Exilforschung  – Stand und Perspektiven. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 (2014), H.  42, S.  3–9, hier S.  4, online unter: http://www.bpb.de/apuz/192561/ exilforschung-stand-und-perspektiven?p=all (Zugriff: 14.  10. 2017). Vergleiche auch: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 30 (2012): Exilforschungen im historischen Prozess.

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auf dem Gebiet der Exilgeschichte. Eine großzügige Wechselausstellungsfläche wird ihnen eine Plattform bieten, eigene bzw. gemeinsam mit dem Exilmuseum konzipierte Ausstellungen in der Hauptstadt zu zeigen. Zugleich möchte das Exilmuseum die wissenschaftlichen Narrative um eine weitere Perspektive ergänzen: die medial vermittelte Nahsicht auf das Thema. Entsprechend wird das Exilmuseum seinen Schwerpunkt auf die Präsentation von Bild-, Film- und Tonquellen legen. Es möchte audiovisuell in die Lebensgeschichten bekannter und unbekannter Exilant/innen eintauchen – sie selbst sind Akteur/innen und Träger/innen der Exilgeschichte. Mithilfe der medial und szenografisch gestalteten Erzählung soll den Besucher/innen ermöglicht werden, die Erfahrung des Exils grundlegend nachzuvollziehen. Zwar unterscheiden sich heutige Fluchtursachen zum Teil wesentlich von jenen des Exils aus dem Machtbereich der Nationalsozialisten. Die elementaren Erfahrungen, die sie auf dem Weg und im Aufnahmeland machen, können aber durchaus Gemeinsamkeiten haben. Diese Erfahrungen sind das übergeordnete Thema und sollen auch die Brücke zu heutigen Exil- und Fluchterfahrungen schlagen. Denn gerade jetzt, in einer Zeit, in der viele Geflüchtete in Deutschland Schutz suchen, wird es umso wichtiger, „den Inhalt des Wortes Exil begreifbar zu machen“ und ein Zeichen für Humanität und gegen Intoleranz zu setzen. Die Beschäftigung mit der Realität des Exils nach 1933 liefert Sichtweisen, die in der aktuellen Diskussion über die „Forderungen des Tages“ (Thomas Mann) der Emigrations- und Exilproblematik und darüber hinaus fruchtbar werden können. Die Beschäftigung mit dem deutschsprachigen Exil der NS-Zeit hat dabei Modellcharakter, nicht nur, „weil es uns die eigene Geschichte besser verstehen lehrt, sondern auch, weil es für alle Zukunft Licht auf die Geschichte und die Mechanismen der Wanderungen, der Fluchten, des Exils, der Emigration zu werfen vermag“.6

4 Ansatz und Vision Das Exilmuseum erzählt deshalb von den Schicksalen der deutschen Emigration 1933–1945 im Bewusstsein, dass das lange Jahrhundert des Exils noch immer kein Ende gefunden hat. Eine große filmische Erzählung stellt das Exil der NS-Zeit zu Beginn des Rundgangs in einen größeren, historischen Zusammenhang und

6 Wolfgang Frühwald: Die „gekannt sein wollen“. Prolegomena zu einer Theorie des Exils. In: Hermann Haarmann (Hg.): Innen-Leben. Ansichten aus dem Exil. Ein Berliner Symposium. Berlin 1995, S. 56–69, hier S. 67.

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benennt die Ursachen und Folgen von Vertreibung, Emigration und Exil. Was hat sich im zwanzigsten Jahrhundert verändert, dass überhaupt von einem „Jahrhundert der Flüchtlinge“ oder gar einem „Jahrhundert des Exils“ gesprochen werden kann und Flucht und Entwurzelung zu zentralen Erfahrungen unserer Zeit wurden? Die filmische Erzählung zu diesem Thema bildet die Klammer für die gesamte Ausstellung. Die wichtigsten Elemente des Museums werden hier bereits eingeführt und ihre Inhalte z.  B. in Form von Filmbildern, Zitaten, Interviews, Schrift und Infografiken vorgestellt. Dies ermöglicht, im Anschluss daran motivisch und themenorientiert vorzugehen und so näher an das Thema heranzukommen. Die sich anschließenden Themenräume reichen von der „Momentaufnahme 1930“, die den Blick zurück auf die Kulturen der Herkunftsländer wirft, über „Die Vertreibung“, „Im Transit“ und der Frage nach dem „Wohin?“ bis zur Ankunft „In den Neuen Welten“ und schließlich der „Momentaufnahme 1955“, die das Thema der Remigration beleuchtet. Wichtig ist dabei, dass das Exilmuseum nicht nur von der „Krankheit Exil“ (Hilde Spiel) berichtet, sondern auch auf Erfolge vieler Exilant/innen hinweist. In den Aufnahmeländern kam es an vielen Stellen zu einem fruchtbaren wechselseitigen Ideentransfer: Durch Fluchten in die ganze Welt wurde ein globales Denken befördert und kulturelle Muster in bedeutsamer Weise verändert. Die historischen Reaktionen auf Seiten der Aufnahmeländer – Abschottung ebenso wie Öffnung – können für Aspekte der heutigen Exildebatte sensibilisieren. Darüber hinaus werden sich die Besucher/innen entlang eines motivischen Pfads durch die Ausstellung mit Erfahrungen und Herausforderungen des Exils befassen können, die es auch heute noch gibt. Anhand von Exiltexten und zurückhaltend szenografisch inszenierten Kabinetten zu Motiven wie „Warten“, „Pass“, „Identität“ etc. gehen sie so überzeitlichen Fragen nach: Wie ist es, die eigene Heimat zu verlassen? Welche Bedeutung bekommen Dinge, die zurückgelassen oder mitgenommen werden können? Wie fühlen sich Abschiede an, von denen man nicht weiß, ob sie für immer sind? Wie geht es einem an den Orten des Transits, in Bahnen, Schiffen und Cafés? Wie in den Mühlen der Bürokratie mit der bangen Hoffnung auf ein Visum? Wie beim Warten auf Pass und Arbeit? Wie fühlen sich Sprach- und Ortlosigkeit in der Fremde an? Wie ist es, anzukommen – oder auch niemals richtig anzukommen? Den Abschluss des Pfads bildet ein Diskurs- und Echoraum, in dem Zeitzeug/ innen, Historiker/innen, Philosoph/innen und Autor/innen der Gegenwart in filmischen Interviews das Exil der NS-Zeit reflektieren und es in einen perspektivischen Zusammenhang mit Exilerfahrungen heutiger Zeit stellen. Ein eigener Bereich zu „Exil heute“ rundet die Ausstellung ab. Er wird den Charakter eines offenen, partizipativen Labors haben, in dem die Themen des Museums von den

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Besucher/innen in die Zukunft gedacht werden können. Es wird in enger Zusammenarbeit mit Migrationsforscher/innen und zivilgesellschaftlichen Initiativen aus dem Bereich Flucht und Migration entwickelt, um sich sehr nah an der Realität heutiger Flucht zu bewegen. Das architektonische und inhaltliche Zentrum der Ausstellung aber wird ein Raum der Biografien sein: Nach derzeitigen Plänen soll er ein von allen Stockwerken aus zugängliches Rundkino sein, in dem  – gleich einer biografischen Schatzkammer – ausschließlich Lebensgeschichten „ausgestellt“ werden. Dabei sind unterschiedliche filmische Erzählformate denkbar: Vom autobiografischen Bericht über die biografische Erzählung bis hin zum „Tandem“-Interview, in dem Forscher/innen, interessante Persönlichkeiten, Berufskolleg/innen, Familienangehörige o.  ä. jeweils ein Exilschicksal vorstellen. In diesem „Bioskop“ (Arbeitstitel) möchte das Exilmuseum im Laufe der Jahre in Zusammenarbeit mit Gestalter/innen bzw. Dramaturg/innen einen spezifischen Erzählstil entwickeln. Für das gesamte Museum gilt, dass möglichst viele verschiedene Zugänge zu Einzelbiografien gefunden werden sollen. Diese können z.  B. über Motive, Themen, Originale, Gegenstände oder aber Interviews erfolgen. Dabei werden Biografien von bekannten ebenso wie unbekannten Persönlichkeiten vorgestellt, quer durch alle Berufe, politischen Orientierungen und gesellschaftlichen Gruppen. Und auch gescheiterte Fluchten werden ein Thema sein. Im Exilmuseum wird es im Laufe eines Jahresprogramms wechselnde Schwerpunktthemen geben, die es erlauben, einzelne Aspekte zu vertiefen oder zeitgenössische Künstler/innen in Dialog mit dem historischen Exil zu bringen.

5 Standort Ich wollte zum Anhalter Bahnhof. Der Zug in Richtung Stuttgart fuhr gegen zehn. Ich fand einen Schlafwagenplatz; das Billett habe ich während der ganzen zwölf Jahre Emigration in meiner Brieftasche mit mir herumgetragen […]. Alfred Döblin7

Der Schriftsteller Alfred Döblin war nicht der einzige, der vom Anhalter Bahnhof aus ins Exil fuhr: Für viele Emigrant/innen – darunter Bertolt Brecht, Heinrich Mann oder Max Reinhardt – war dieser Zentral-Bahnhof der letzte Ort, an dem sie Berliner Straßenpflaster unter den Sohlen spürten und von dem aus sie ins

7 Alfred Döblin: Abschied und Wiederkehr [1946]. In: Günter Grass: Alfred Döblin. Das Lesebuch. Frankfurt a. M. 2009, S. 486.

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Abb. 2: René Arnold: Fläche hinter der Portalruine des Anhalter Bahnhofs, 2018, Berlin (© Stiftung Exilmuseum Berlin).

Ungewisse aufbrachen. Als „Genius Loci“ spiegelt die Portalruine symbolisch diesen Zustand des Transits, des Einschnitts in Lebenswege, des Ab- und Aufbruchs wider. Die Freifläche hinter dem Portal (Abb. 2) hat sich daher zum Wunschstandort für das Exilmuseum entwickelt, und die Signale aus der Politik dazu sind durchgehend ermutigend. Die Wahl dieses Standorts ist von hohem Symbolgehalt für das Projekt, handelt es sich hier doch um einen authentischen Ort im Zusammenhang des NS-Exils. Somit trägt die Portalruine bereits selbst Gedenkstättencharakter. Der Tatsache, dass die Ruine dabei sowohl für das Überleben wie auch Deportation steht, möchte das Projekt mit einem eigenen Ausstellungsbereich zur Geschichte des Ortes gerecht werden. Der geplante Museumsstandort liegt inmitten einer Museums- und Kulturnachbarschaft, die auf lebendige Korrespondenzen hoffen lässt (Abb. 3): Quer über die Straße befindet sich ab 2019 das Dokumentationszentrum der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, die schwerpunktmäßig die Vertreibungsgeschichte der Deutschen aus Osteuropa aufbereitet, ohne expliziten Fokus auf dem Exil nach 1933. Ferner der Martin-Gropius-Bau als erfolgreiches Ausstellungshaus für Kunst und Geschichte, das mit seinen Ausstellungen zur

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Abb. 3: Büro Schindler Friede: Übersichtsplan Gelände Anhalter Bahnhof und umliegende Museen, 2019, Berlin (© Büro Schindler Friede).

Warum ein Exilmuseum? Vision und Hintergründe 

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Kulturgeschichte im Allgemeinen und zur jüdischen Geschichte im besonderen (z.  B. „Jüdische Lebenswelten“, 1992 oder „Die neuen Hebräer“, 2005) seit den 1980er Jahren einen wichtigen Beitrag zur Wiedergewinnung eines umfassenden Geschichtsbewusstseins geleistet hat. Und daneben die „Topographie des Terrors“, die davon erzählt, wovor die Exilant/innen flüchten mussten  – und vom Schicksal jener, denen die Flucht aus dem NS-Herrschaftsbereich nicht mehr gelang. Auch das Jüdische Museum Berlin befindet sich in der Nachbarschaft. Und noch auf dem Gelände des ehemaligen Anhalter Bahnhofes erstrecken sich die großzügigen Flächen des Technikmuseums Berlin, das einen bedeutenden Teil seiner Dauerausstellung dem Bahnhof widmet. Ein Exilmuseum am Anhalter Bahnhof wird die große Erzählung der Geschichtslandschaft Berlin-Kreuzberg sinnvoll ergänzen. Zugleich entsteht hier ein lebendiger Bezug zum Heute: Fast 70 % der Anwohner/innen rund um den Anhalter Bahnhof haben einen Migrationshintergrund. Hier ist die Migrationsgeschichte des späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts mit Händen greifbar. Das macht den für das Museum geplanten Standort und das zugehörige Veranstaltungsprogramm umso plausibler.

6 „Die Letzten“ Abschließend möchten wir den „Letzten“ aus dem eingangs zitierten Gedicht von Hans Sahl das Wort erteilen. Sie bringen in unseren Augen am besten auf den Punkt, um was es auch uns mit dem Exilmuseum geht. Äußerst beeindruckt waren wir von der großen Klarheit und Präzision, mit der der 1938 emigrierte und heute in Paris lebende Filmemacher und Journalist Georg Stefan Troller (Abb. 4) uns 2018 im Alter von 97 Jahren von der Erfahrung des Exils berichtete. Interviews mit ihm und anderen Zeitzeug/innen sind uns Ansporn, Inspiration und Mahnung zugleich, ihren Blickwinkel nicht aus den Augen zu verlieren und in ein passgenaues Besuchererlebnis zu übersetzen. Wann war eigentlich unsere Zeit? Als wir zu Hunderttausenden aus unseren Heimaten – den ursprünglichen und oft genug auch den angenommenen – vertrieben wurden? Da hat sich kaum ein Mensch, der nicht selber betroffen war, um uns geschert. Als wir dann, ich glaube, es war höchstens einer von zwanzig, zurückgekehrt sind … oder uns, zumindest beruflich oder sprachlich, wieder dem alten Kulturverein annäherten  …: Immer war uns bewusst, dass uns eigentlich niemand zurückgerufen oder zurückgewünscht hatte – und kaum einer uns danach befragt, wie es denn wirklich gewesen sei. Ja, die häufigste Frage bestand darin, warum wir eigentlich nicht ‚drüben‘ geblieben wären in den Ländern der Sieger bzw. der Verheißung? Was das Exil im Innersten bedeutet – und es ist ja letztlich so etwas wie der Verlust der Lebensmitte, des Lebenszusammenhangs –, das hat mich nie jemand gefragt

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 Christoph Stölzl, Cornelia Vossen

Abb. 4: René Arnold: Georg Stefan Troller (97) bei seinem Besuch in der Stiftung Exilmuseum Berlin, 2018, Berlin (© Stiftung Exilmuseum Berlin).

und auch kein Mensch je dafür entschuldigt. Nun soll endlich so ein Ort entstehen, wo diese Frage gefragt, diese Entschuldigungen ausgesprochen werden sollen. Wie schön, wenn ich es noch erleben könnte! Georg Stefan Troller, 2018

Mehr zum Fortgang des Projekts erfahren Sie unter www.stiftung-exilmuseum. berlin Mitarbeit: Dana Müller, Sarah Blendin.

Literaturverzeichnis Dippel, Carsten: Juden waren nirgends erwünscht, https://www.deutschlandfunk.de/ fluechtlingskonferenz-von-evian-1938-juden-waren-nirgends.886.de.html?dram:article_ id=422511 (Zugriff: 21. 1. 2019). Döblin, Alfred: Abschied und Wiederkehr [1946]. In: Günter Grass: Alfred Döblin. Das Lesebuch. Frankfurt a. M. 2009, S. 486.

Warum ein Exilmuseum? Vision und Hintergründe 

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Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 30 (2012): Exilforschungen im historischen Prozess. Frühwald, Wolfgang: Die „gekannt sein wollen“. Prolegomena zu einer Theorie des Exils. In: Hermann Haarmann (Hg.): Innen-Leben. Ansichten aus dem Exil. Ein Berliner Symposium. Berlin 1995, S. 56–69. Hansen-Schaberg, Inge: Exilforschung – Stand und Perspektiven. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 (2014), H. 42, S. 3–9, online unter: http://www.bpb.de/apuz/192561/ exilforschung-stand-und-perspektiven?p=all (Zugriff: 14. 10. 2017). Probst, Robert: Zehn Tage im Hotel Royal, http://www.sueddeutsche.de/politik/konferenz-imschweizer-vian-zehn-tage-im-hotel-royal-1.3843691-2 (Zugriff: 21. 1. 2019). Sahl, Hans: Die Letzten [1973]. In: Michael Winkler (Hg.): Deutsche Literatur im Exil 1933–1945. Texte und Dokumente. Stuttgart 2009, S. 15. Schmid, Thomas und Susanne Heim: Wir sind kein Einwanderungsland, https://www.zeit. de/1998/28/Wir_sind_kein_Einwanderungsland (Zugriff: 21. 1. 2019). Walde, Gabriela und Susanne Leinemann: „Deutschland steht nicht gut da“, findet Herta Müller. In: Berliner Morgenpost, 20. 11. 2016, online unter: https://www.morgenpost. de/kultur/article208752879/Deutschland-steht-nicht-gut-da-findet-Herta-Mueller.html (Zugriff: 23. 9. 2017).

Mirjam Wenzel

Emigration, Exil oder Diaspora – Perspektiven aus dem Jüdischen Museum Frankfurt Emigration, Exil oder Diaspora  – diese Begriffe sind nicht nur konstitutiv für die jüdische Geschichte. Mit den beiden lateinischen Worten „Emigration“ und „Exil“ sowie dem griechischen Begriff „Diaspora“ gehen auch unterschiedliche Vorstellungen davon einher, was den Raum auszeichnet, in den die Migration geführt hat, und welche Beziehung er zu dem Ort unterhält, an den sich nach dem erzwungenen Verlassen ein Gefühl von Zuhause-Sein, gar Heimat heftet. Mit der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem um 70 u. Z. verlor die antike Judenheit ihr Zentrum kultischen Handelns und lebte fortan im Nahen und Fernen Osten sowie im Mittelmeerraum in der Diaspora. Diesen Begriff hatte mehr als zweihundert Jahre zuvor die griechische Übersetzung der hebräisch verfassten Bibel, die Septuaginta, für die Verstreuung der zwölf israelitischen Stämme im Allgemeinen und die Zeit des so genannten babylonischen Exils im Besonderen geprägt. Er wurde zum Sinnbild der Lebenssituation, in der sich die vormaligen Bewohnerinnen und Bewohner des Königreichs Judäa in Folge der Expansion des Römischen Reichs, der Kämpfe gegen die römische Besatzung und des Verbots befanden, weiterhin in Jerusalem zu siedeln. Ihrer territorialen Souveränität und des Zentrums ihres Kults beraubt, galt das biblische Jerusalem, in dem der Tempel einst gestanden hatte, den weltweit zerstreuten Judenheiten fortan als eine imaginäre Heimat, die in den Schriften bezeugt, in deren Auslegung diskutiert und in der täglichen Gebetspraxis bestätigt wurde. Es entwickelte sich, in Worten Stefana Sabins, „ein Gewebe aus kultischen Bräuchen, sozialen Normen, kollektiven Erinnerungen und ständiger Reflexion darüber: ein exilisches Narrativ, das religiöse Tradition und nationale Geschichte verbindet“.1 Im zwanzigsten Jahrhundert änderte sich die Beziehung vieler Jüdinnen und Juden zu dem geographischen Raum um Jerusalem sowie zur biblischen Erzählung vom Gelobten Land. Mit der zionistischen Bewegung gelangten sie zu der Überzeugung, dass der Antisemitismus, mit dem sie sich vielerorts konfrontiert sahen, zum Wiederaufbau eines souveränen Gemeinwesens auf dem Territorium nötige, an dem ihre Vorfahren einst gesiedelt hatten. Ihre Einstellung spiegelte sich in der Entwicklung der neuhebräischen Sprache, die mit biblischen Sprach-

1 Stefana Sabin: Die Welt als Exil. Göttingen 2008, S. 6. https://doi.org/10.1515/9783110542103-017

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bildern wie „Kibbuz Galujot“ (hebräisch: Einsammlung der Exile) für eine „Alija“ (hebräisch: Aufstieg) ins Gelobte Land mobilisierte. Mit dem Zivilisationsbruch der Schoa verwandelte sich diese Einstellung sowie die vormalige Idee und Praxis der Einwanderung ins britische Mandatsgebiet Palästina in eine existentielle Überlebensfrage.2 Der deutsche Nationalsozialismus zwang nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch andere rassistisch verfolgte Minderheiten, politisch Andersdenkende, Künstlerinnen und Künstler in die Emigration. In der geistes- und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Jahren 1933–45 gewann daher der lateinische Begriff „Exil“ an Bedeutung, der die gewaltsame Ursache der erzwungenen Emigration in Erinnerung hält. Während der griechische Begriff „Diaspora“ im Zusammenhang mit der jüdischen Kulturgeschichte entstand und erst in den 1960er und 1970er Jahren auf Afroamerikanerinnen und -amerikaner und später auf andere migrantische Communities übertragen wurde, ist der lateinische Begriff „Exil“ zunächst an keine spezifische Gruppe, sondern im deutschen Sprachgebrauch vornehmlich an einen bestimmten Zeitraum, nämlich an die Jahre 1933–45 gebunden. Ein Exilant ist gemeinhin, wer in jenen Jahren den Sprach- und Kulturraum verlassen musste, an dem er oder sie zuvor zuhause war. In seiner Autobiographie Als wär’s ein Stück von mir reflektiert der Schriftsteller Carl Zuckmayer diese Situation mit den Worten: Die Fahrt ins Exil ist „the journey of no return“. Wer sie antritt und von der Heimkehr träumt, ist verloren. Er mag wiederkehren – aber der Ort, den er dann findet, ist nicht mehr der gleiche, den er verlassen hat, und er ist nicht mehr der gleiche, der fortgegangen ist. Er mag wiederkehren, zu Menschen, die er entbehren mußte, zu Stätten, die er liebte und nicht vergaß, in den Bereich der Sprache, die seine eigene ist. Aber er kehrt niemals heim.3

Während im Exil, ebenso wie in der Diaspora, die Erinnerung an den Ursprungsoder imaginären Heimatort und dessen Sprache aufrecht erhalten werden, unterhält der lateinische Begriff „Emigration“ keinerlei Konnotation, die den verlassenen Ort wach hält. Er meint lediglich Auswanderung. Eine Emigration kann – auch für Nichtjuden – ins Exil führen oder aber in die Ankunft in einem neuen Land. Wie im Folgenden anhand der Biografien von Ludwig Meidner und Jakob Nussbaum deutlich werden wird, deren Werke das Jüdische Museum

2 Zu dem eben skizzierten Zusammenhang siehe u.  a. Sidra DeKoven Ezrahi: Booking Passage: Exile and Homecoming in the Modern Jewish Imagination. Berkeley 2000. 3 Carl Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft. Frankfurt a. M. 1967, S. 461.

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 Mirjam Wenzel

Frankfurt sammelt und erforscht, führte deutsch-jüdische Emigration in den Jahren 1933–39 zu beidem.

1 Rituelle Formen der Erinnerung an den Tempel Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels um 70 u. Z. entwickelten Rabbiner eine kulturelle Praxis, die die Funktion des kultischen Zentrums in die gemeinsame Lektüre eines kanonischen Schriftzyklus und die Diskussion über deren Aus­ legung überführte. An die Stelle des Tempeldiensts und der Tempelwallfahrten traten ein kodifizierter Tages-, Jahres- und Lebensrhythmus, der tägliche Gottes­ dienst und das Studium von Tora und Talmud. Von dieser kulturellen Praxis zeugen die wertvollen hebräischen Handschriften und Bücher, die im Laufe der Jahrhunderte an verschiedenen Orten entstanden. Um die heilige Schrift der Tora zu schützen und zu ehren sowie die zeremoniellen Handlungen zu den einzelnen Festen zu unterstützen, entwickelte insbesondere die aschkenasische Judenheit in der frühen Neuzeit prächtige Ritualgegenstände, die sowohl in der Synagoge wie auch in privaten Haushalten zum Einsatz kamen oder zur Zierde aufgestellt wurden. Im zweiten Teil seiner neuen Dauerausstellung im Rothschild-Palais eröffnet das Jüdische Museum Frankfurt neue Perspektiven und Zugänge zur jüdischen Zeremonialkultur. Im Zentrum der Präsentation stehen dabei die Rückbezüge auf den antiken Tempel, „dieser letzten Gestalt in der Symbolik des Messias“, wie Hermann Cohen schreibt.4 In einer eigens entwickelten Raum-im-Raum-Konstruktion werden rituelle Gegenstände gezeigt, die in ihrer Form oder Funktion einzelne rituelle Handlungen aus der Tempelzeit fortschreiben oder in Erinnerung halten. Einige dieser Formen gehören bis heute eher dem Brauchtum an – insbesondere jene, bei denen die Zerstörung des Tempels selbst betont wird. Dies gilt zum Beispiel für das Zertreten eines Glases am Ende der Hochzeitszeremonie, das nicht etwa Glück bringen, als vielmehr daran erinnern soll, dass das Leben in der Diaspora fragil ist. Oder auch für das Abtrennen eines Stücks vom Brotteig für den Schabbat, der Challa im eigentlichen Sinne, die ursprünglich den Priestern im Tempel vorbehalten war und nunmehr verbrannt werden soll. Eine andere Form der Erinnerung an das einstige kultische Zentrum zeigt sich in den Motiven, die den Tora-Schmuck sowie den Tora-Vorhang zieren. Besonders

4 Vgl. Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Wiesbaden 2008, S. 502.

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häufig findet sich hier etwa das Bildelement zweier hoher Säulen wieder, das an das Eingangsportal des Tempels erinnert. Andere Bilder und Muster des ToraSchmucks stellen Reminiszenzen an die priesterliche Kleidung und die Innenausstattung des Tempels dar. Laut biblischer Überlieferung sollen die Tempelwände mit Palmen-Schnitzereien und die Priestergewänder mit Glöckchen und Granatäpfeln aus Stoff verziert gewesen sein. Dementsprechend oft sind Palmen und Granatäpfel auf Tora-Mänteln wie Tora-Vorhängen abgebildet und Tora-Aufsätze wie Tora-Schilder mit Glöckchen versehen.5 In diesen Formen und Motiven kommt die tiefe Verbundenheit des Tora-Schmucks mit dem einstigen kultischen Zentrum zum Ausdruck. Eine der bedeutendsten Textilien, die dem Jüdischen Museum Frankfurt von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt als Dauerleihgabe anvertraut wurde, ist ein prächtiger Tora-Vorhang aus dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert, der in rostrotem Samt gefertigt und mit Metallfädenstickereien, applizierten Pailletten und Brokatstoff verziert ist (Abb. 1).6 Der Vorhang umfasst mehrere Motive, die auf zentrale Elemente des Tempels verweisen: In der Mitte ist die Bundeslade zu sehen, in der die Gesetzestafeln verwahrt wurden. Links und rechts von ihr finden sich die beiden Säulen, die an das Eingangsportal des Tempels erinnern. Auf ihnen werden der siebenarmige Tempelleuchter, das historische Symbol des Judentums, und der Schaubrot-Tisch dargestellt, der zum vorgeschriebenen Inventar des Tempels gehörte. Die ebenfalls abgebildeten Palmblätter spielen auf die Palmendekoration im Tempel an. Die gesamte Komposition betont zudem die Verbindung zwischen dem einstigen kultischen Zentrum und der heiligen Schrift, der Tora. Über der Bundeslade ist eine Krone mit der Inschrift „Keter Tora“ (hebrä­ isch: „Krone der Tora“) angebracht. Die Erinnerung an den Tempel ist für eines der Feste des Jahreszyklus’, nämlich für Chanukka von zentraler Bedeutung. Mit dem Anzünden von ins­ gesamt acht Kerzen an acht aufeinanderfolgenden Tagen wird während des Lichterfests an die Geschichte des ersten Makkabäer-Buchs erinnert, derzufolge das geweihte Öl eines einzigen Fässchens reichte, um den Tempel wiedereinzuweihen und seinen Leuchter acht Tage lang brennen zu lassen. Der Zusammenhang zwischen dem achttägigen Fest des Lichtwunders und der Tempel-Menora kommt

5 Die Judaica-Sammlung des Jüdischen Museums Frankfurt gilt als eine der bedeutendsten Sammlungen jüdischer Zeremonialgegenstände in Europa und geht in Teilen auf die Sammlung des ersten Jüdischen Museums in Frankfurt, das 1922 eröffnete Museum jüdischer Altertümer zurück. Die Sammlung wird vorgestellt in dem Katalog Die Pracht der Gebote. Die Judaica-Sammlung des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, hg. von Georg Heuberger. Köln 2006. 6 Vgl. Heuberger (Hg.): Pracht, S. 114.

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 Mirjam Wenzel

Abb. 1: Tora-Vorhang aus rostrotem Samt mit Metallfadenstrickerei in Springtechnik, applizierten Pailletten und Brokatstoff, 1866, 285 cm x 196 cm, Leihgabe der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main K.d.Ö.R. an das Jüdische Museum Frankfurt.

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Abb. 2: Röttger Herfurth: Chanukka-Leuchter aus Silber, Frankfurt am Main 1765, 9,7 × 24 × 8 cm, Jüdisches Museum Frankfurt, Inv.-Nr. JMF1987-0075.

in der Form zum Ausdruck, in welcher die meisten Chanukka-Leuchter gefertigt sind. Im ersten Teil der neuen Dauerausstellung, die im Museum Judengasse präsentiert wird, ist nicht nur diese weit verbreitete Form einer achtarmigen Menora zu sehen, in deren Mitte der Lichtanzünder, Schamasch, angesiedelt ist. Hier wird auch ein Chanukka-Leuchter (Abb. 2) gezeigt, der eine ganz andere Form hat. Er besteht aus einer Bank, unter der sich acht Öllämpchen befinden und die von vier Sockeln mit Löwenmotiven getragen wird. Die Bank wird von einer reich verzierten Rückwand ergänzt, an deren rechter Seite ein großes weiteres Öllämpchen, der Schamasch (hebräisch: Diener) befestigt ist, mit dem die Lichter entzündet werden. Chanukka-Leuchter, die diese Form aufweisen, sind heute weltweit als Frankfurter Judaica bekannt. Sie werden auffällig häufig in den Haushalten von Familien genutzt, deren Vorfahren einst aus Frankfurt emigrierten.

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2 Frankfurter Exile Die bedeutende jüdische Tradition und Gelehrsamkeit, die die Frankfurter jüdische Gemeinde seit dem Mittelalter auszeichnete, kam während der nationalsozialistischen Herrschaft in dieser Stadt an ein gewaltsames Ende. Sie wurde aber sowohl in zeremonieller, wie auch in kultureller Hinsicht andernorts fortgesetzt. In der Geschichte und der neuen Dauerausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt spielen diese Frankfurter Exile eine bedeutende Rolle. Rabbiner wie etwa Caesar Seligmann, Georg Salzberger und Henrique (Heinrich) Lemle, die in der Israelitischen Gemeinde Frankfurts tätig waren, begründeten nach ihrer Flucht aus dem Deutschen Reich in London und Rio de Janeiro neue Gemeinden, denen vornehmlich deutsch-jüdische Emigranten angehörten. Diese Exilgemeinden führten die Frankfurter liberale Gottesdiensttradition fort, indem sie weiterhin die hebräisch-deutschen Gebetsbücher nutzten, die zumeist in der „Privilegierten orientalischen und occidentalischen Buchdruckerey“ von Wolf Heidenheim in Rödelheim, heute ein Stadtteil Frankfurts, gedruckt und von den Emigranten mit ins Exil genommen worden waren. Auch die neo-orthodoxe K’hal Adath Jeshurun in dem New Yorker Stadtteil Washington Heights knüpfte unmittelbar an Frankfurter Traditionen an. Ihr stand der Enkel von Samson Raphael Hirsch vor, der diese Strömung Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Abgrenzung zur mehrheitlich liberal gesinnten Israelitischen Gemeinde Frankfurts begründet hatte. Von Beginn an wollte Rabbiner Joseph Breuer, der zuvor in Frankfurt eine Jeschiwa geleitet hatte, den Mitgliedern seiner deutsch-jüdischen Exilgemeinde die Möglichkeit geben, die neo-orthodoxe Tradition zu pflegen und die religiösen Schriften zu studieren. Daher kümmerte er sich nicht nur um einen Ort für den täglichen Gottesdienst, sondern richtete auch eine benachbarte Jeschiwa ein. Letztere wurde 1944 nach seinem Großvater Samson Raphael Hirsch benannt. Die Gemeinde praktizierte im Gottesdienst den neo-orthodoxen Frankfurter Ritus und pflegte den Brauch, einzelne Passagen ausschließlich von Männern sprechen zu lassen, die entweder selbst oder deren Vorfahren aus Frankfurt emigriert waren. Bis heute setzt sie die aschkenasischen Traditionen der einstigen Israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt fort.7 In der neuen Dauerausstellung im Rothschild-Palais wird unter anderem ein Gedenkgebet zu sehen sein, das in der Gemeinde in den 1950er und 1960er Jahren zu Tischa beAw gesprochen wurde – jenem neunten Tag des Monats Aw, der an

7 In welchem Maße sich die K’hal Adath Jeshurun als Nachfolgegemeinde der Israelitischen Religionsgesellschaft versteht, verdeutlicht unter anderem auch die Online-Präsentation der eigenen Geschichte, vgl. unter: https://www.kajinc.org/about/history (Zugriff: 15. 1. 2019).

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die Zerstörung des Zweiten Tempels erinnert. Das auf Deutsch, Hebräisch und Englisch verfasste Gebet erinnert mit folgenden Worten an die Ermordeten: Er, der gedenkt, die Seiner gedenken, Seiner Heiligen in jedem Geschlecht – seitdem Du, o G’tt, uns erwaehlt – Er gedenke der Schmach, die unserem Geschlecht angetan – wehe, was uns geschehen! Die von Blutfluten hinweg geschwemmt, die ihr Leben hingaben, die in Traenentiefen versanken, Gedenke ihrer, o G’tt, im ewigen Leben, fuer immer werde ihr Gedaechtnis zum Segen.8

Weitere Passagen der Kina (hebräisch: Gedenkgebet), die der ebenfalls aus Frankfurt emigrierte zweite Gemeinderabbiner Shimon Schwab verfasste, evozieren eine eindringliche Vorstellung von dem Leiden in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern und unterstreichen die Dringlichkeit, an die Ermordeten zu erinnern. Das Gedenkgebet verdeutlicht, welche Bedeutung der Fastentag in dieser, wie auch anderen Exilgemeinden in den USA hatte: Tischa beAw war in US-amerikanischen Gemeinden lange Zeit der wichtigste Gedenktag an die Opfer der Schoa.

3 Exilkunst – Ludwig Meidners Werke in den Jahren 1939–1953 In welchem Maße das Leben europäischer Jüdinnen und Juden, die vor dem deutschen Nationalsozialismus fliehen konnten, im Exil von der Ahnung und dem späteren Wissen um den Massenmord geprägt war, verdeutlicht nicht nur das Gedenkgebet aus der neo-orthodoxen Exilgemeinde in Washington Heights. Viele bildnerische und literarische Darstellungen sowie die Tagebuchaufzeichnungen und Briefe sind von eben dieser Ahnung, der Sorge und Angst um die eigenen Angehörigen sowie den Traumata der Inhaftierungen gezeichnet, die dem Weg vieler Emigranten ins Exil vorangingen. Unter ihnen kommt dem gezeichneten Zyklus Leiden der Juden in Polen von Ludwig Meidner eine besondere Bedeutung zu, weil er noch während des Geschehens entstand (Abb. 3). Der bekannte expressionistische Maler, Schriftsteller und praktizierende Jude, dessen Werk von den Nationalsozialisten als „entartete Kunst“ gebrandmarkt und in der gleichnamigen Ausstellung gezeigt worden war,

8 Kina von Rabbiner Shimon Schwab zu Tischa beAw in der K’hal Adath Jeshurun, Sammlung des Jüdischen Museums Frankfurt, Inv.-Nr. JMF2018–0052.

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Abb. 3: Ludwig Meidner: Menschenzug; aus dem Zyklus Massacres in Poland, Kohle, 1942–45, 56,6 × 74,8 cm, Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum Frankfurt, Inv. Nr. JMF1994-0007 II-1028.

floh 1939 nach London. Dort wurde er 1941 als feindlicher Ausländer inhaftiert. Die Serie von Aquarellen Leiden der Juden in Polen, später in Massacres in Poland umbenannt, entstand unmittelbar nach seiner Freilassung in den Jahren 1943– 1945. Sie verdeutlicht nicht nur die Ahnungen des Flüchtlings von dem Massenmord, dem er entkommen war. Sie zeigt auch, welches Wissen der damaligen ­englischen Öffentlichkeit aufgrund von Augenzeugenberichten und Dokumenten aus den Lagern zur Verfügung stand.9 Meidner erwähnte seine Zeichnungen das erste Mal in einem Brief vom Januar 1943, in dem er ausführte:

9 Siehe dazu Shulamith Behr: Ludwig Meidner’s cycle Leiden der Juden in Polen (1942–45) and Holocaust Knowledge. Toward a Methodology. In: Erik Riedel und Mirjam Wenzel (Hg.): Ludwig Meidner: Expressionismus, Ekstase, Exil / Expressionism, Ecstasy, Exile. Berlin 2018, S. 279–297.

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Seit Wochen arbeite ich an einem Cyclus aquarellierter Zeichnungen „Leiden der Juden in Polen“. So, auf solche Weise bin ich genötigt, immerfort, immerfort an das Schicksal meiner Brüder zu denken. Die Blätter sollen anschaulich sein, deutlich, ohne Beschönigung, dennoch nicht sensationell oder übertrieben krass.10

Nachdem er kurz nach Kriegsende eine Ausstellung mit Fotografien aus den befreiten Konzentrationslagern Buchenwald und Bergen-Belsen besucht hatte, verabschiedete er sich von der Vorstellung, den Zyklus beenden zu können. Er schrieb in einem Brief: Hier in London herrscht seit 2  Wochen berechtigte Erregung über die Schreckenslager in Deutschland, von denen jetzt entsetzliche Photos öffentlich ausgestellt sind, solche, die meinen Cyclus „Massacres in Poland“, an dem ich seit 2 Jahren arbeite, völlig ad absurdum führen, weil diese meine Blätter völlig harmlos und ‚gemütlich‘ erscheinen mögen, neben jenen Dokumenten der grausigen Wirklichkeit.11

Die Konfrontation mit den dokumentarischen Fotografien verstärkte die existentielle Krise des Exils. Die erhaltenen 45 Blätter zeugen eindringlich von den Qualen, die Meidner die Ahnung von dem Massenmord bereitete, noch bevor er dessen Dokumentation in Bildern gesehen hatte. In dem Zyklus verwandelte er nicht nur seine Ahnung und die ersten Zeitungsberichte, sondern auch diese Qualen in Bilder. Die prekäre Situation, in der er sich in materieller wie sozialer Hinsicht während der Londoner Zeit befand, nahm bedrohliche Ausmaße an. Die Fremdheit, mit welcher er der englischen Gesellschaft und ihrer Sprache begegnete, verstärkte die Bedrängnisse und Ängste, die sein Leben im nationalsozialistischen Deutschland geprägt hatten und sich in London fortsetzten. Diese Erfahrung führte dazu, dass ihm, wie er es ausdrückte, die „seelische Heimat“12 abhanden kam.

10 Brief von Ludwig Meidner an Hilde und Walter Rosenbaum vom 13./20. Januar 1943. Institut Mathildenhöhe, Städtische Kunstsammlung Darmstadt, aufbewahrt im Stadtarchiv Darmstadt, ST  45  Meidner  1184, veröffentlicht unter: https://kuenste-im-exil.de/KIE/Web/DE/Navigation/ Sonderausstellungen/LudwigMeidner/08LeidenDerJudenInPolen/leiden_der_juden_in_polen. html (Zugriff: 13. 1. 2019). 11 Brief von Ludwig Meidner an Siegbert Prawer vom 3. Mai 1945. Jüdisches Museum Frankfurt, Ludwig Meidner Archiv, Dauerleihgabe von John Prawer, veröffentlicht unter: https://kuenste-imexil.de/KIE/Content/DE/Sonderausstellungen/LudwigMeidner/Themen/Einfuehrungstexte/09nachkriegsdepression.html (Zugriff: 13. 1. 2019). 12 Ludwig Meidner: Tagebuch 1947–52, Eintrag vom 30. August 1947. Institut Mathildenhöhe, ­Städtische Kunstsammlung Darmstadt, aufbewahrt im Stadtarchiv Darmstadt, ST  45  Meidner 1926.

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Die Zeichnungen und Aquarelle, die Ludwig Meidner in den 1930er und frühen 1950er Jahren anfertigte, spiegeln nicht nur die Sorgen und Nöte eines deutschen Juden und die Isolation des Exils, sondern auch die gewaltigen und gewalttätigen Umwälzungen jener Jahre. Zeitgleich entstehen etwa Albert Camus’ existentialistische Schlüsselwerke L‘étranger und Le mythe de Sisyphe (beide 1942), Samuel Becketts Theaterstück En attendant Godot (1948–52), René Magrittes bizarre Bilder der période vache (1948) oder George Grosz’ desillusionierter Painter of the hole (1950), die ebenfalls als Spiegel der Zeit zu verstehen sind. Den schmerzhaften Verzerrungen dieser Darstellungen vergleichbar, können das Moment der Fremdheit, der Einsamkeit und auch des Grotesken bei gleichzeitigem Versuch, weiterhin – auch im Motiv des Bildes – an der jüdischen Tradition festzuhalten, als zentrale Merkmale von Meidners Exilwerk bezeichnet werden.13 In welchem Maße seine Arbeiten während des Londoner Exils nicht nur die damalige Zeit, sondern auch seine persönliche Notlage widerspiegeln, wird erst im Unterschied zum Spätwerk deutlich. Nach seiner Remigration in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1953 gewinnt die Welt im Werk von Ludwig Meidner erkennbar an Form und Gestalt.14

4 Emigration oder Einwanderung – Jakob Nussbaums Umzug nach Kinnereth Für viele Künstlerinnen und Künstler, die vor den Nationalsozialisten fliehen mussten, wurde das Exil zu einem dramatischen Einschnitt in ihre künstlerische Laufbahn. Sie werden deshalb heute auch als Angehörige der verschollenen oder vergessenen Generation bezeichnet. Zu dieser Generation zählen deutsch-jüdische Künstlerinnen und Künstler, die vor dem Ersten Weltkrieg geboren wurden und sich in der Weimarer Republik einen Namen gemacht hatten, bevor sie von den Nationalsozialisten als „entartet“ stigmatisiert, systematisch aus dem Kunstbetrieb ausgeschlossen, verfolgt und häufig ermordet wurden. Auch das Werk der bekanntesten jüdischen Künstlerpersönlichkeit Frankfurts zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts, Jakob Nussbaum, ist infolge der nationalsozialistischen

13 Siehe dazu den Ausstellungskatalog Horcher in die Zeit. Ludwig Meidner im Exil, hg. vom Museum Giersch der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Ausst.-Kat. Museum Giersch der Goethe-Universität Frankfurt am Main, München 2016. 14 Siehe dazu u.  a. Eva Scheid (Hg.): Jugend und Alter: Ludwig Meidners Porträts aus den 1950er und 1960er Jahren. Hofheim am Taunus 2016.

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Abb. 4: Jakob Nussbaum: Landschaft (Kinnereth), 1925, 70x100cm, Öl auf Leinwand, Jüdisches Museum Frankfurt, Inv.-Nr. JMF2017-0010.

Herrschaft heute weitgehend in Vergessenheit geraten.15 Der Freund von Max Liebermann, dessen Gemälde bereits 1900 in der Berliner Galerie Bruno und Paul Cassirer zusammen mit den berühmten französischen Impressionisten Claude Monet, Camille Pissaro und Alfred Sisley zu sehen waren, galt seinerzeit als einer der erfolgreichsten deutschen Impressionisten. Nussbaum konnte von seinen Auftragsporträts und Gelegenheitsverkäufen an Sammler leben und engagierte sich als Mitglied in verschiedenen Logen für die Künstlerförderung in Frankfurt. Im Unterscheid zu anderen bekannten jüdischen Künstlern jener Jahre wie etwa Ludwig Meidner oder auch Lesser Ury, Hermann Struck und Jakob Steinhardt spielte die jüdische Tradition in der Motivwahl des orthodox aufgewachsenen Impressionisten keine Rolle. Im Gegenteil: Nussbaum verstand sich als Mitglied der Frankfurter Gesellschaft und wandte sich als begeisterter Freiluftmaler bevorzugt dem Motiv der Landschaft zu.

15 Zu Leben und Werk des Künstlers siehe Claudia Müller: Der Frankfurter Maler Jakob Nussbaum (1873 bis 1936). Biografie und Werkkatalog. Frankfurt a. M. 2002.

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Eben diese Hinwendung zur Landschaft kennzeichnet auch seine Bilder von der Stadt Frankfurt, deren industrielle wie auch städtebauliche Entwicklung er in einer Reihe von Stadtansichten festhielt. 1925 reiste der überzeugte Zionist ins Britische Mandatsgebiet Palästina und fertigte eine Mappe mit Radierungen von der Landschaft rund um den See Genezareth an (Abb. 4). Als Kunstprofessor infolge des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von der Kunst- und Gewerbeschule Städel entlassen, entschloss sich Nussbaum bereits 1933 zur Emigration nach Eretz Israel. Er ließ sich in Kinnereth, also jenem Ort nieder, den er wenige Jahre zuvor besucht und gemalt hatte. Die wenigen Zeichnungen und Aquarelle, die der Künstler hier anfertigte, bevor er 1936 starb, lassen allerdings vermuten, dass seine „Alija“ weniger ein Aufstieg, als vielmehr eine Emigration in ein mühseliges Leben war.

5 Remigration einer Familiensammlung – das Familie Frank Zentrum In welchem Maße Nussbaums Gemälde im Allgemeinen, insbesondere aber seine Stadtansichten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zum Inventar in den bürgerlichen Haushalten Frankfurts gehörten, verdeutlicht unter anderem der Nachlass der Familie Frank. Im Jahr 2012 überantwortete der Anne Frank Fonds in Basel unter Leitung des Schauspielers und Cousins von Anne Frank, Buddy Elias, Gegenstände und Dokumente, welche die aus Frankfurt stammenden Familien Frank und Stern in die Emigration nach Basel mitnehmen konnten, dem Jüdischen Museum Frankfurt als Dauerleihgabe. Dieses gründete daraufhin das Familie Frank Zentrum, das einen Teil dieses Nachlasses im letzten Raum der neuen Dauerausstellung im Rothschild-Palais präsentiert. Hier wird auch das Gemälde Frankfurter Opernplatz (1905) von Jakob Nussbaum zu sehen sein, das einen der beliebtesten Plätze Frankfurts zeigt. In der Nähe des Platzes vor der Alten Oper befand sich die Privatbank Michael Frank, in der viele Familienmitglieder arbeiteten. Die Frau des Bankgründers und Großmutter von Anne Frank, Alice Frank, nahm Nussbaums Gemälde 1933 mit in die Emigration nach Basel. Sie lebte fortan mit ihrer Tochter und deren Familie in einem Haus, in welches nach dem Zweiten Weltkrieg auch Otto Frank, der Vater von Anne, zog. In diesem Haus hing das Gemälde etwa 80  Jahre lang an zentraler Stelle im Wohnzimmer. Barbara Klemm hat das Arrangement dokumentiert (Abb. 5). Ihr Foto zeigt Buddy Elias mit seiner Frau Gerti Hand in Hand auf dem Sofa unter Nussbaums Opernplatz-Gemälde. Es verdeutlicht, von welch zentraler

Emigration, Exil oder Diaspora 

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Abb. 5: Barbara Klemm: Buddy und Gerti Elias in ihrem Haus in Basel, 2013, Jüdisches Museum Frankfurt, Inv.-Nr. JMF2013-0103-001.

Bedeutung die Erinnerung an Frankfurt in der Emigrantenfamilie Frank und Elias war.16 Flucht, Emigration und Exil haften in den Provenienzgeschichten und der persönlichen Patina von Gemälden, Dokumenten und Objekten, die das Jüdische Museum Frankfurt in seiner Sammlung bewahrt. Die entsprechenden Erzählungen und Darstellungen bilden einen roten Faden durch die neue Dauerausstellung, deren erster Teil im Museum Judengasse zu sehen ist und deren zweiter Teil demnächst auf drei Etagen des historischen Rothschild-Palais präsentiert wird. Die zweiteilige Ausstellung unterstreicht die Bedeutung Frankfurts als Zentrum jüdischer Kultur in Europa vom Mittelalter bis zur Vernichtung in der Schoa. Der Neubeginn und die Gegenwart jüdischen Lebens in Frankfurt bilden den Ausgangspunkt beider Ausstellungen. Im weiteren Verlauf betonen die beiden Präsentationen die Vielfalt jüdischer Kultur in der europäischen Diaspora und beleuchten die Migrationsbewegungen und Konfliktgeschichten, die sie geprägt

16 Siehe dazu auch Mirjam Pressler und Gerti Elias: „Grüße und Küsse an alle“. Die Geschichte der Familie von Anne Frank. Frankfurt a. M. 2009.

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haben und bis heute auszeichnen. Sie wenden sich damit insbesondere jenen Besucherinnen und Besuchern zu, deren familiäres Erbe ebenfalls von Migration gekennzeichnet ist, und ermuntern sie, ein selbstbewusstes Verständnis von einem Leben in der Diaspora zu entwickeln.17

Literaturverzeichnis Behr, Shulamith: Ludwig Meidner’s cycle Leiden der Juden in Polen (1942–45) and Holocaust Knowledge. Toward a Methodology. In: Erik Riedel und Mirjam Wenzel (Hg.): Ludwig Meidner: Expressionismus, Ekstase, Exil / Expressionism, Ecstasy, Exile. Berlin 2018, S. 279–297. Cohen, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Wiesbaden 2008. Ezrahi, Sidra DeKoven: Booking Passage: Exile and Homecoming in the Modern Jewish Imagination. Berkeley 2000. Hafeneger, Benno, Türkan Kanbicak und Mirjam Wenzel: Extremismusprävention durch kulturelle Bildung. Das Projekt „AntiAnti – Museum Goes School“ an berufsbildenden Schulen. Frankfurt a. M. 2018. Horcher in die Zeit. Ludwig Meidner im Exil, hg. vom Museum Giersch der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ausst.-Kat. Museum Giersch der Goethe-Universität Frankfurt am Main, München 2016. Müller, Claudia: Der Frankfurter Maler Jakob Nussbaum (1873 bis 1936). Biografie und Werkkatalog. Frankfurt a. M. 2002. Die Pracht der Gebote. Die Judaica-Sammlung des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, hg. von Georg Heuberger. Kat. Jüdisches Museum Frankfurt am Main. Köln 2006. Pressler, Mirjam und Gerti Elias:„Grüße und Küsse an alle“. Die Geschichte der Familie von Anne Frank. Frankfurt a. M. 2009. Scheid, Eva (Hg.): Jugend und Alter: Ludwig Meidners Porträts aus den 1950er und 1960er Jahren. Hofheim am Taunus 2016. Sabin, Stefana: Die Welt als Exil. Göttingen 2008. Zuckmayer, Carl: Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft. Frankfurt a. M. 1967.

17 Zur Bildungsprogrammatik des Jüdischen Museums Frankfurt siehe u.  a. Benno Hafeneger, Türkan Kanbicak und Mirjam Wenzel: Extremismusprävention durch kulturelle Bildung. Das Projekt „AntiAnti – Museum Goes School“ an berufsbildenden Schulen. Frankfurt a. M. 2018.

IV Rezensionen

Hans Albert Walters Monumentalwerk abgeschlossen Hans-Albert Walter: Deutsche Exilliteratur 1933–1950. Bd. 1: Die Vorgeschichte des Exils und seine erste Phase. Bd. 1.1: Die Mentalität der Weimardeutschen/ Die „Politisierung“ der Intellektuellen; Bd.  1.2: Weimarische Intellektuelle im Spannungsfeld von Aktionen und Repressionen. Stuttgart (J.B. Metzler) 2003 und 2017. 781 u. 755 S. Vorliegender Doppelband schließt das vierbändige, vor 40 Jahren (1978) begonnene Gesamt- und Lebenswerk Hans-Albert Walters ab. Der erste Teil des Doppelbandes kam zwar bereits 2003 heraus, er wird hier aber mit berücksichtigt, weil er thematisch den zweiten vorbereitet, der fast 15 Jahre später und mehr als ein Jahr nach dem Tode des Autors 2016 erschien. Der lange zeitliche Abstand zwischen diesen und den Publikationsdaten der älteren Bände wirft ein Licht auf den immensen Aufwand, der dieses Mammutunternehmen erzwang. Dabei ist ein spezieller Band zur Exilliteratur – deren Erforschung Walter immerhin mit angestoßen hat und der Gesamttitel nahelegt – noch nicht einmal entstanden. Geschuldet ist das der Tatsache, dass so ein Vorhaben von einem Autor allein nicht mehr zu bewältigen ist. Zumal in einer Phase, in der die Exilforschung, wenn nicht zur Großforschung, so doch zur organisierten Gruppenforschung mit breiterer Sicht geworden ist. Der Versuch des Autodidakten und wissenschaftlichen Solitärs Walter, diese Breite des Zugriffs dennoch zu wagen, ist bewunderungswürdig, sie akzentuiert allerdings Probleme, die sich gerade bei den vorliegenden Abschlussbänden zur Vorgeschichte des Exils in der Weimarer Republik zeigen. Kaum eine Phase der jüngeren deutschen Geschichte ist so gut, differenziert und dauerhaft erforscht worden wie die der Weimarer Republik; die Entstehung des Nationalsozialismus war dafür ein wichtiges, allerdings nicht das einzige Leitmotiv. Die Tatsache, dass Walter nur wenige ältere Gesamtwerke vor allem zur politischen Geschichte als Basisinformationen heranzog, darunter das bereits 1955 erschienene bahnbrechende und bis heute gültige Werk Karl Dietrich Brachers über Die Auflösung der Weimarer Republik, läßt erkennen, dass dieses Gebiet nicht sein Feld war. Die sozialgeschichtlich geprägte Weimar-Forschung seit den 1970er Jahren oder gar die kulturelle in den letzten Jahrzehnten werden von ihm kaum oder gar nicht zur Kenntnis genommen. So erzählen die Teilbände noch einmal in allzu großer Breite auf eng bedruckten Seiten die bekannten großen Rahmenereignisse der Weimarer Republik im positivistischen Detail. Originell sind allerdings die zahlreichen darauf reagierenden und kommentierenden Ego-Dokumente, Briefe und Tagebücher sowie Zeitschriften-Artikel der von Walter ausgewählten und später exilierten Schriftsteller und Journalisten. https://doi.org/10.1515/9783110542103-018

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Dem Anspruch, mit solchen Zeugnissen die „Mentalität der Weimardeutschen“ valide zu erhellen kommt der Autor damit nur bedingt näher, da er die Geschichte der Weimarer Republik lediglich als Fortsetzung des wilhelminischen autoritär-militaristischen Obrigkeitsstaates mit seinen Repressionen aller Lebenslagen und der „Entgeistung“ (I,1, 223) der Kultur betrachtet. Die Arbeiterbewegung und ihre Organisationen, deren politische Repräsentanten den demokratischen Prozess nach 1918 unter der neuen republikanischen Verfassung gegen den Widerstand der alten Eliten voranzubringen suchten, sind für den Autor nichts als hasenfüßige oder manipulierte Kleinbürger. Ebenso diagnostiziert Walter bei den mit ihr sympathisierenden linksintellektuellen Eliten – den Schlüsselfiguren seiner Texte – weitgehend fehlenden Durch- und Überblick. Am Beispiel des Feuilleton-Redakteurs der Frankfurter Zeitung Siegfried Kracauer wird das pointiert erkennbar. Die soziologische Kritik des gelernten Architekten etwa am ‚neuen Bauen’ wird von Walter missverstanden, da er Kracauers typische binäre Sicht auf die Moderne nicht begriffen hat, hier konkret auf die neuen Techniken der Typisierung und Rationalisierung, die einerseits neue Freiheiten schaffen, damit andererseits aber die Zurichtung des Menschen auf das Funktionieren im Wirtschaftssystem konditionieren. Auf mehreren Seiten arbeitet sich Walter daran ab, dem „revolutionär sich dünkenden Siegfried Kracauer … die rückwärtsgewandte Natur seiner Sehnsucht“ nachzuweisen (I,1, 235). Das eigenartige Verständnis des Autors offenbart ebenso sein Kapitel über die „volkvernichtende Weltstadt“ Berlin (I,1, 293  ff). Nicht die Modernitätsmaßstäbe setzende moderne Groß- und Industriestadt („Elektropolis“) thematisiert er, sondern deren Wahrnehmung durch die Brille antidemokratischer Reaktionäre, für die er ähnliche Belege bei fortschrittlicheren Schriftstellern findet. Daraus schließt er dann auf die Kollektivmentalitäten der Weimardeutschen. Die Großstadtanalysen des Soziologen Georg Simmel kennt er offenbar nicht, wie überhaupt das Schrifttum der gesellschaftswissenschaftlichen Avantgarde bis auf die gelegentliche Erwähnung Kracauers als Journalist Anathema ist. Band  I,2 präzisiert, was im vorangegangenen Teil abgesteckt worden ist. Gezeigt werden hier die Reaktionen der jetzt trennschärfer gefassten „literarischen Intelligenz“, d.  h. der Linksintellektuellen (s. Untertitel), die nach 1933 ins Exil gezwungen wurden. So ihre Darstellung der Niederlage 1918 und der Novemberrevolution, des Versailler Vertrages, ihre Haltung zur jungen Sowjetunion sowie zu der ebenfalls weit erforschten, auf dem rechten Auge blinden Weimarer Justiz etwa am Beispiel der Gotteslästerung (G. Grosz’ Mappe „Hintergrund“), schließlich der Beleidigungen des Reichspräsidenten sowie der Verächtlichmachung der Republik. Unter der Rubrik „Zerfall von Kulturbastionen“ werden die Erosionen und intellektuellen Selbstpreisgaben in den Theatern, Verlagen und

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Zeitungen während der Krise nach 1929 akzentuiert. Walters Referenzgruppe sind insgesamt 240 namentlich genannte Schriftsteller und Journalisten mit ihren parteipolitischen Präferenzen als jeweilige Mitglieder oder als Sympathisanten. Viele seiner Einlassungen sind überflüssig, weil bekannt; so die auf vielen Seiten ausgebreiteten destruktiven Dauertiraden Kurt Tucholskys. Überhaupt sind die Weltbühne und das Tagebuch Leopold Schwarzschilds die von ihm hauptsächlich herangezogenen Medien. Das alles ist viel zu breit und in der Wiederholung zu zäh, zumal Walter seinen Gewährsleuten bescheinigt, ihr Politikverständnis sei nur von beschränktem Sachverstand gewesen, weil sie von starren Ideologien, Vorurteilen und Gefühlen bestimmt worden seien. Ihre Berufung auf den „Geist“ sei tatsächlich Realitätsverweigerung und Geringschätzung der Weimarer Demokratie gewesen. Mit solchen Eliten habe die Republik keine Chance gehabt. Für Walter gibt es keine Unterschiede zwischen linken KPD-Sympathisanten und dem rechten Lager, beide forderten in rabiatem „Dezisionismus“ die Überwindung der angeblich unfähigen Weimarer Koalition (SPD, DDP, Zentrum) in den Anfangsjahren der Republik, als diese noch die Exekutive bestimmte. Gegen Ende der Republik mokiert er sich dann ebenso über deren erfolglosen „Aktionismus“. Mit zahllosen antifaschistischen Veranstaltungen suchten die Linksintellektuellen Aufmerksamkeit zu erzeugen, aber erkannten die Gefahr der Nazis nicht. Als weitere Facetten der „gefühlslinken“ Realitätsabstinenz stellt er die immer schärferen Fraktionierungen der linken Intelligenz mit ihren hermetischen Bunkermentalitäten heraus, wofür nicht nur die „Sozialfaschismusthese“ der KPD mit Bezug auf die SPD stand, auch innerhalb der KPD seien die Beziehungen von schroffem Freund-Feind-Denken geprägt worden. Mit seinen pauschalen, vielfach überspitzt formulierten Befunden mag Walter das pointieren, was in der Forschung seit langem zum „antidemokratischen Denken (Kurt Sontheimer, 1962) und zur „Republik der Außenseiter“ (Peter Gay, 1968) bekannt ist. Die Schwäche seines Konzepts aber besteht in der Selektivität seines Intellektuellenbegriffs. Es gab neben den von ihm ausgewählten und als unpolitisch beschriebenen Schriftstellern durchaus solche – und das waren nicht wenige  –, die als Wissenschaftler, kritische Juristen, sozial engagierte Theologen oder Künstler über mehr analytische Substanz verfügten. Sie lamentierten nicht nur, sondern lieferten bahnbrechende Beiträge zur Gestaltung der Republik, die kritisches auf Veränderung zielendes Bewusstsein und handlungspraktisches Eingreifen miteinander verbanden. Diese Segmente, die sich für die erste deutsche Demokratie in ihrem dauernden Krisenzustand aktiv engagierten und die ebenfalls fast alle 1933 in die Emigration gezwungen wurden, kommen bei Walter nicht vor. Insofern ist die Qualität seiner Befunde nur begrenzt. Wer aber erstaunliche und (selbst)entlarvende Zitate aus der Welt der von ihm heran-

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gezogenen Schriftsteller sucht, wird sehr schnell fündig werden. Sein immenser Text, quasi ein fluider Zettelkasten, bietet mithilfe des Registers dazu überquellende Informationen.

Claus-Dieter Krohn

Analytischer vs. affirmativer Antifaschismus deutscher ­Emigranten Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933– 1944, neu hg. von Alfons Söllner und Michael Wildt. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt) 2018. 721 S. Otto Kirchheimer: Gesammelte Schriften, Bd.  2: Faschismus, Demokratie und Kapitalismus. Hg. von Hubertus Buchstein und Henning Hochstein. Baden-Baden (Nomos) 2018. 575 S. Das in der Selbstdefinition von deutschsprachigen Exilanten nach 1933 repräsentierte gute „Andere Deutschland“ bezog seine Identität weitgehend aus ihrem in politischen oder literarischen Verlautbarungen geäußerten Antifaschismus. Es sind Zeugnisse entlang der politischen Linien der 1920er Jahre oder Dokumente persönlicher Betroffenheit. Sie erheben den Anspruch auf geistige und moralische Führerschaft des Exils. Ihre Gesinnungen wollten mit Anschauungen aufklären, vermittelten dabei aber nur selten vertiefte Einsichten in die historischen Ursachen und strukturellen Zusammenhänge des Nationalsozialismus. Solche Analysen kamen ebenfalls aus der Feder deutscher Flüchtlinge, jedoch von jenen, die sich alsbald nicht mehr als „mit dem Gesicht nach Deutschland“ gerichtete »Exilanten« verstanden und auf die Selbstbefreiung vom Nationalsozialismus durch den inneren Widerstand hofften. Als vorzugsweise in den USA integrierte »Emigranten« verstanden sie ihre ebenfalls von persönlichen Erfahrungen geleiteten Studien neben der eigenen Selbstklärung von vornherein auch als strategische Angebote für vorbereitende und alsbald dann konkrete Kriegsplanungen ihres Zufluchtslandes. Das hervorragendste Beispiel dafür ist Franz Neumanns Behemoth, publiziert 1942 kurz nach dem Kriegseintritt der USA. Das Buch liefert die erste umfassende und systematische Gesamtdarstellung Nazi-Deutschlands, die nicht allein als https://doi.org/10.1515/9783110542103-019

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gesellschaftspolitischer „Klassiker“ beispielgebend für alle nachfolgenden einschlägigen Forschungen wurde. Sie kam exakt zur richtigen Zeit, als die damals isolationistischen USA nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor im Dezember 1941 unvorbereitet in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen worden waren, aber kaum über Kenntnisse ihrer Kriegsgegner Japan und Deutschland verfügten. In hektischer Eile mussten dafür die nötigen Informationen beschafft werden. Mit dem Office of Strategic Services bauten sich die USA dafür den ersten Geheimdienst ihrer Geschichte auf, der weniger mit Agenten und Spionen arbeitete, sondern ein hochkarätiges Forschungsunternehmen war, dessen Personal für den deutschen und europäischen Bereich zu einem großen Teil aus ehemaligen, inzwischen naturalisierten Emigranten bestand. Leiter der europäischen Abteilung wurde nicht von ungefähr mit seiner Buchexpertise und diversen anderen begleitenden Schriften Franz Neumann. Sein Behemoth bekam dabei schnell Handbuch-Charakter für den beginnenden war effort. Die außerordentliche Bedeutung des umfangreichen Textes beruht auf seiner Mehrdimensionalität. Er zeigt einleitend die machtpolitischen und antidemokratischen Kontinuitäten Deutschlands seit der Reichsgründung 1871 und liefert sodann auf der Basis eines Theoriemodells, das idealtypisch die Funktionen der Gesetzgebung im Dauerkonflikt zwischen Recht und Macht definiert, eine originelle Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Sie entfaltet den Zugriff eines Autors, der in der Weimarer Republik als Gewerkschaftsjurist und Syndikus des SPD-Parteivorstands nicht nur zu den prominenten Arbeitsrechtlern, sondern auch zu den exponierten Advokaten des Ausbaus der Weimarer Verfassung zum sozialen Rechtsstaat gehörte. Mit dem Aufstieg und der Machtübertragung an die Nationalsozialisten war allerdings dieser reformistische Optimismus Neumanns verflogen. Seine Hinwendung zur radikaleren marxistischen Gesellschaftsanalyse reduzierte sich jedoch nicht dogmatisch auf das dichotomische Verhältnis von Kapital und Arbeit, sondern wurde heuristisch von den Prinzipien des Rechtsstaats, der rule of law, geleitet, die er durch das dominanter werdende Primat der Ökonomie in der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg gefährdet sah. In drei großen Abschnitten analysiert Behemoth das politische System des Nationalsozialismus, die Organisation der Wirtschaft und die Sozialstruktur der neuen NS-Gesellschaft. Schwerpunkt ist dabei die weiter expandierende, von der NSDAP noch unterstützte Monopolwirtschaft, die bereits mit der Vertrustung der Großindustrie im „organisierten Kapitalismus“ (Rudolf Hilferding) während der Inflationsjahre 1918–1923 begonnen hatte. Der kulturelle „Überbau“ wird von Neumann nicht thematisiert. Mit der Anspielung auf das babylonische Judentum, für das Behemoth ein alles Menschliche zerstörendes mythisches Ungeheuer war, und den Staatstheoretiker Thomas Hobbes, der unter gleichem Titel

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eine Analyse des englischen Bürgerkriegs verfasst hatte (postum 1681), wird das Wesen des Nationalsozialismus entschlüsselt. Er sei die Herrschaft der Gesetzlosigkeit, dessen vier Machtzentren NSDAP, Wehrmacht, Ministerialbürokratie und Wirtschaft rivalisierende Instanzen zur Beherrschung der Bevölkerung darstellten. Vereint waren sie nur in der Verbreitung von Propaganda und Terror angesichts der Tatsache, dass der „alte sozialdemokratische Geist“ die Arbeiterbewegung in ihrer großen Mehrheit vom Überlaufen zu den Nazis abgehalten habe (265). Die Staatseigenschaft fehle diesem Gebilde, weil an die Stelle von Recht und Gesetz nur technische Regeln nach dem Prinzip der situativen Opportunität und Zweckmäßigkeit getreten seien (541). Über dieser chaotischen Organisation stehe Hitler wie der Anführer einer „Bande“, der die Mitglieder mit ihren Dauerdifferenzen zum Ausgleich zwinge (556). Verfassungsrechtlich sei er eine nicht beschreibbare Instanz (116), die einmal mehr diesen „Unstaat“ (16) kennzeichne. Die konkurrierenden, sich aber gegenseitig bedingenden vier Funktionseliten entfalteten eine enorme destruktive Dynamik, die durch die wachsende Verschmelzung von Politik und Wirtschaft im neu entstandenen System des „totalitären Monopolkapitalismus“ (313) systemstabilisierend kaschiert werde: „Die Praktiker der Gewalt werden mehr und mehr Unternehmer und die Unternehmer Praktiker der Gewalt“ (660), wie nicht nur die offiziellen Bereicherungen bei den Arisierungen jüdischer Unternehmen und dann die Raubzüge in den durch die Wehrmacht eroberten Gebieten zeigten, sondern auch der Aufbau eigener Wirtschaftsunternehmen der SS. Weiter zugespitzt werden diese Befunde in einer zweiten Auflage des Werks von 1944. Ein hundertseitiger Anhang dokumentiert Neumanns neueste Erkenntnisse als OSS-Mitarbeiter über die deutschen kriegswirtschaftlichen Entwicklungen. Zusammengefasst werden sie in der provozierenden Annahme, dass nach seinem viersäuligen Polykratie-Modell die ganze deutsche Gesellschaft für die Herrschaft und die Verbrechen des totalitären NS-Systems gleichermaßen verantwortlich sei. Daher sei auch bei der Verfolgung der Juden das ganze Volk in „kollektive Schuld“ verwickelt: „Die Teilnahme an einem so ungeheuren Verbrechen wie der Ausrottung der Juden in Osteuropa macht die deutsche Wehrmacht, das deutsche Beamtentum und breite Massen zu Mittätern und Helfern dieses Verbrechens und macht es ihnen daher unmöglich, das Naziboot zu verlassen“ (583). Vom Widerstandsgeist oder der passiven Resistenz der deutschen Arbeiterbewegung war jetzt keine Rede mehr. Kompetent und umsichtig wird die Neuedition von Alfons Söllner eingeführt, dem besten Kenner des Neumann-Œuvres und Herausgeber verschiedener seiner Werke. In seinem biografischen Überblick wird nicht nur der emigrationsgeschichtlich interessante Aspekt vertieft, dass es deutsche Juristen waren, die wie Neumann erst nach der Flucht angesichts der anderen angelsächsischen

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Rechtssysteme zu professionellen und recht bald zu international prominenten Politikwissenschaftlern wurden. Dafür stand vor allem die von ihnen entwickelte erfahrungswissenschaftlich konnotierte Totalitarismustheorie. Mit Bezug auf den Behemoth wirft Söllner auch die berechtigte Frage auf, warum die Shoah, die zwar noch nicht bei Erscheinen der ersten Auflage 1942, aber doch bei der zweiten 1944 in den USA bekannt war, von Neumann eher beiläufig auf wenigen Seiten angesprochen wird. Der Antisemitismus spielt im Behemoth nur als „Speerspitzen“-Theorem des allgemeinen NS-Terrors eine größere Rolle (582), wonach die Juden als „Versuchstiere“ benutzt wurden, um die Methoden weiterer Repressionen zu testen. Im Unterschied zu Hannah Arendt, die ihr Opus magnum The Origins of Totalitarianism von 1951 selbst ins Deutsche übersetzt und 1955 in der Bundesrepublik publiziert hat, sind von Neumann keine vergleichbaren Versuche überliefert, obwohl er seit den späten 1940er Jahren als Politikwissenschaftler an der New Yorker Columbia University enge Kontakte nach Berlin pflegte. Dort vermittelte er nicht nur amerikanische Fördergelder zum Aufbau der Freien Universität nach 1948, sondern hatte auch entscheidenden Einfluss auf die Institutionalisierung der Politikwissenschaften als Diplomstudiengang, der viele Jahre ein Alleinstellungsmerkmal der FU sein sollte. Bei der Suche nach Gründen für die Zurückhaltung Neumanns in eigener Sache ist man auf Spekulationen angewiesen, zumal er als knapp Fünfzigjähriger bereits 1954 bei einem Autounfall in der Schweiz ums Leben kam. Söllner deutet als plausible Gründe das Erschrecken des Sozialisten jüdischer Herkunft über das ihm nicht fassbare Ausmaß der Shoah an; Neumanns Schüler Raul Hilberg, der bekannte Holocaust-Forscher, äußerte sich ähnlich in seinen Erinnerungen schon vor Jahren. Vielleicht schien ihm auch eine Veröffentlichung seines marxistisch konnotierten Analyseansatzes in der Zeit des Kalten Krieges nicht mehr opportun gewesen zu sein. Denkbar wäre ebenfalls Neumanns Zögern aus Unsicherheit über die Reaktion der Deutschen auf die ihnen im Behemoth zugeschriebene Kollektivverantwortung für die NS-Verbrechen. Eine erste deutsche Übersetzung erschien erstaunlicherweise erst 1977; wegen ihrer gediegenen Qualität diente sie der jetzigen Neuerscheinung auch als Vorlage. Die damals ganz im Geist der 1968er-Aufbrüche stehende Aneignung verschütteter Texte der einstigen Weimarer Intellektuellen hatte den Neumann-Text als Schlüsselwerk im Rahmen der seinerzeit in Blüte stehenden marxistisch inspirierten Faschismustheorien interpretiert. Aus der heutigen, theorieskeptischen postmodernen Distanz erscheint diese Rezeption als recht weit entferntes Zeitgeistphänomen, ohne dass dabei Neumanns enorme, thesenstarke kapitalismuskritische Analyse in ihrer Plausibilität infrage steht. Immerhin fand dort eine Auseinandersetzung statt, im Unterschied zu den etablierten zeitgenössischen deutschen Sozialwissenschaften und der Historiografie. Letztere hat erst

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zögerlich in den 1970er die von Neumann herausgearbeitete NS-Herrschaftstechnik (Polykratie, Hitlers Stellung im Machtgefüge) zur Kenntnis genommen, wie Michael Wildt in seinem Nachwort skizziert. Im Vorwort zum Behemoth hatte Neumann einigen Freunden für Anregungen und Unterstützungen gedankt, unter anderem auch Otto Kirchheimer, einstiger Mitarbeiter seiner Berliner Rechtsanwaltspraxis. Mit ihm, dem seinerzeit radikalen Jungsozialisten, hatte Neumann schon in der Weimarer Republik vehemente publizistische Kontroversen ausgefochten, unter anderem über die erwähnte Ausgestaltung der Weimarer Verfassung zum sozialen Rechtsstaat. In der Emigration fanden sie wieder zusammen unter dem Dach des einstigen Frankfurter Instituts für Sozialforschung (IfS), das als Institute of Social Research an der Columbia University Zuflucht gefunden hatte. Als Mitarbeiter waren beide herausragend an den dort in den späten 1930er Jahren geführten Debatten um die Ursachen und das Wesen des Nationalsozialismus beteiligt. Der künftige OSS-Mitarbeiter Neumann sollte seinen Freund später ebenfalls dort unterbringen, der sich mit seiner Akkulturation in den USA offenbar schwer tat; eine feste Anstellung hatte Kirchheimer bis zu seinem Tode 1965 nie bekommen. Anders als Neumann legte Kirchheimer keine großen Texte vor, sondern diverse kleinere Einzelstudien, die ebenfalls den Nationalsozialismus als „Herrschaft mittels institutionalisierter Monopole“ (282) definierte, deren empirische Untersuchungsgrundlage jedoch enger auf die juristische Ebene beschränkt waren. Insofern sind diese Studien wichtige Ergänzungen zu Neumanns Arbeit, die die Monopolwirtschaft zum Schwerpunkt hatte, nicht aber die Justiz thematisierte. Einige der komplementär zur Neuauflage des Behemoth jetzt erschienenen Gesammelten Schriften Kirchheimers zwischen 1933 und 1945 sind wegen ihrer analytischen und politischen Klarheit ebenfalls schon in den Jahren nach 1968 erschienen, häufig in den Bänden der edition suhrkamp. Das erklärt ihren jetzigen Abdruck in deutscher Übersetzung, während andere Texte aus den amerikanischen Emigrationsjahren im englischen Original erscheinen; eigens für die vorliegende Veröffentlichung übersetzt sind lediglich einige französischsprachige Aufsätze, die Kirchheimer während seiner kurzen Exiljahre in Paris geschrieben hatte. Von den 25 Beiträgen des Kirchheimer’schen Bandes, davon 10 einschlägige Rezensionen, behandeln 5 transnationale Rechtsvergleiche oder –perspektiven, so u.  a. über die Geschichte des Obersten Gerichtshofs der USA oder die Theorie der Souveränität in Deutschland und Frankreich. Zwei sind Kommentare zur internen IfS-Debatte über den Nationalsozialismus, nämlich zu Max Horkheimers bekannten Aufsätzen über »Die Juden und Europa« und »Autoritärer Staat« von 1939/40, zwei weitere haben das Verhältnis von Nationalsozialismus und Katholizismus zum Gegenstand. Der Rest thematisiert das «Staatsgefüge und Recht

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des Dritten Reichs», so auch der griffige Titel eines Beitrags von 1935. Schärfer als Neumann und die anderen Diskutanten griff der „wilde Kirchheimer“ (63), so Theodor W. Adorno, in den Instrumentenkasten des historischen Materialismus, um sozial und ökonomisch die rücksichtslose Zerstörung der liberal-kapitalistischen Wirtschaftsordnung und des für sie typischen Individualismus durch den Monopolkapitalismus darzustellen und dies mit den Beiträgen des Rechts in den unterschiedlichen Bereichen zu belegen. Den Beginn des Prozesses diagnostiziert er wie Neumann bereits während der Inflationsjahre 1918 bis 1923, der durch den Nationalsozialismus aber erst seine systemverändernde Schubkraft bekam. Rechtspraktisch zeigte sich das sogleich nach der Machtübertragung in der Aufhebung des klassischen Grundsatzes nulla poena sine lege und des Verbots der Rückwirkung von Strafgesetzen, so bei der Todesstrafe für Marinus van der Lubbe im Reichstagsbrandprozess. Generalklauseln, die Einführung von Sondergerichten, etwa dem Volksgerichtshof, die Ausschaltung frei gewählter Anwälte in Strafverfahren und die Einführung eines „Willensstrafrechts“, das nicht auf nachweisbaren Taten, sondern auf Gesinnungen beruht, sind nur einige Beispiele der Entwicklung. Im Wirtschaftsleben zeigten die Arisierungen, wie die Ausrichtung der Justiz auf die „Ausrottung aller politischen Gegner“ (153) meist zugunsten größerer Wirtschaftseinheiten erfolgte. Zu Lasten des Mittelstandes, dem die Nazis zum großen Teil ihre Erfolge verdankten, gingen Einschränkungen des klassischen Vertragsrechts, die sich alsbald zur Ausschaltung der diversifizierten Konkurrenzwirtschaft durch die Monopolorganisationen mithilfe der Bürokratie auswuchsen. Das in der Weimarer Republik geschaffene moderne Arbeitsrecht war ohnehin sogleich zerstört und auf ein Dienstrecht der Betriebe reduziert worden, allerdings mit einer sozialen Ehrengerichtsbarkeit bewehrt, um die Betriebsführer zu zwingen, den „Volksgenossen“ im Betrieb „mit Achtung“ zu begegnen (175). Ergänzt werden diese Rechtsanalysen von einem umfangreichen, mehr als 150 Seiten starken Beitrag in der Orginalfassung, der unter dem Titel »The Fate of small Business in Nazi Germany« 1943 für den amerikanischen Senat zur vergleichenden Untersuchung der Situation des amerikanischen Kleingewerbes von Franz Neumann, Otto Kirchheimer sowie dem Sozialwissenschaftler und sozialdemokratischen Journalisten vor 1933 Arkadij Gurland verfasst wurde. Er dokumentiert den Wandel der Verhältnisse in Deutschland seit Anfang des 20. Jahrhunderts anhand der vorhandenen Wirtschaftsstatistiken. Für diese war Gurland verantwortlich, während sich Kirchheimers Beitrag auf die Untersuchungen des Mittelstandes in Weimar, seine Ängste und „frustrations“ (338) in der Weltwirtschaftskrise sowie seine Präferenzen für den Nationalsozialismus bezog. Das habe ihm jedoch nur wenig geholfen, da die auf Kriegsvorbereitungen orientierte NS-Wirtschaftspolitik auf industrielle Groß- und Massenproduktion orientiert war

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und durch den Vierjahresplan ab 1936 administrativ entsprechend gelenkt wurde. Die Studie war empirisch so korrekt und in ihren Schlussfolgerungen so überzeugend, dass ein amerikanisches Komitee-Mitglied aus Florida resümierend für die USA hervorhob; „First, fascism in any of its forms – whether of the Nazi type or of the domestic variety – is a deadly enemy of small business; second, we must all of us […] devote increased attention toward bringing small business more fully into all phases of the war effort and toward planning for a strengthened small business structure after the war“ (334). Welcher politische Kampfgeist den Kirchheimer’schen Analysen zugrunde lag, mag der genannte Beitrag von 1935 illustrieren. Er ist auch eine offene Abrechnung mit seinem ehemaligen Doktorvater Carl Schmitt, einem brillanten Juristen, der nie ein Freund des demokratischen Rechtsstaats war und sich unmittelbar nach Hitlers Machtantritt umso eifriger als Kronjurist des Dritten Reiches positionierte, um dem Rechts- und Verfassungswandel der Nazis mit seinen anbiedernden Schriften die intellektuelle Form zu geben. Unter dem Verfasser-Pseudonym Hermann Seitz erschien Kirchheimers Beitrag fingiert als Broschüre einer von Schmitt in Deutschland herausgegebenen juristischen Reihe. Durch den kommunistischen Informationsapparat Willi Münzenbergs wurde der Titel in größerer Auflage als Tarnschrift nach Deutschland geschmuggelt, woran sich auch Kirchheimers Frau, eine KP-Sympathisantin, clandestin beteiligte. Diese und andere Kontexte, so die kontroversen Dispute im IfS um die Bewertung des Nationalsozialismus, bei der Horkheimer und seine Freund Friedrich Pollock mit ihrer – von Neumann und Kirchheimer abgelehnten – Theorie des Staatskapitalismus die Gegenposition einnahmen, werden in einer ausführlichen Einleitung Hubertus Buchsteins übersichtlich dargestellt. Sie befördert zugleich das Verständnis bei den in Rechtsmaterien nicht so vertrauten Lesern im Umgang mit den gelegentlich etwas spröden Fachbeiträgen. Über den zeitgeschichtlichen Rahmen hinaus bleiben Neumanns und Kirchheimers Analysen der Verselbständigung von Macht und den damit verbundenen Techniken zur Aushöhlung des Rechts und der Zerstörung von Demokratie und Zivilisation aktuell. Die Neuerscheinung ihrer wichtigen Werke war ein Desiderat, da ihre Originalausgaben in deutschen Bibliotheken selten und die deutschen Übersetzungen seit den späten 1970er Jahren seit langem vergriffen sind. Ihre konzisen historisch-materialistischen Analysen dürften diejenigen interessieren, die sich für die Interpretation komplexer gesellschaftlicher Sachverhalte interessieren. Sie faszinieren darüber hinaus, weil sie zeigen, mit welcher Kreativität, Offenheit und der nötigen intellektuellen Skepsis – jenseits aller theoretischen Dogmatik – die Autoren ihren Gegenstand vorgestellt haben. Das gilt insbesondere für Neumanns Behemoth, in dem der Autor immer wieder auf die Vorläufigkeit seiner Befunde hinweist, weil die Destruktionskraft des Nationalsozialismus

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für ihn so erschreckend war, dass dafür die analytischen Instrumente seinerzeit nicht ausreichten.

Claus-Dieter Krohn

Roland Jaeger: Foto-Auge Fritz Block. Neue Fotografie – Moderne Farbdias. Zürich (Scheidegger & Spiess) 2018. 336 S. Erika Eschebach, Helena Weber (Hg.): Fred Stein. Dresden. Paris. New York. Dresden (Sandstein) 2018. 240 S. Alexander Atanassow (Hg.): Fred Stein. Kinder – Children. Paris – Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge – New York. Paris – Spanish Civil War Refugees – New York. Dresden (Kunstblatt-Verlag) 2019. 176 S. Eckhardt Köhn (Hg.): Yolla Niclas und Alfred Döblin. Lautertal (Edition Luchs) 2017. 140 S. Martien Frijns: Maria Austria  – Fotografe. Enschede/Doetinchem (AFdH Uitgevers) 2018. 784 S. Martien Frijns: Maria Austria – Fotografin. Enschede/Doetinchem (AFdH Uitgevers) 2018. 48 S. Michael Ruetz: Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge. Wädenswil (Nimbus) 2018. 156 S. August Sander. Verfolgte/Verfolger. Menschen des 20.  Jahrhunderts, hg. mit dem Mémorial de la Shoah, Paris und der August Sander Stiftung. Göttingen (Steidl) 2018. 240 S. Richard Bessel: Lee Miller. Deutschland 1945. Köln (Greven) 2018. 140 S. Als Medienmetropole inszeniert sich Hamburg regelmäßig als Stadt der Fotografie. Das geschieht allerdings höchst selektiv. Auch die jüngste der seit 1999 unter großer öffentlicher und internationaler Aufmerksamkeit stattfindenden „Triennale der Photographie“ spart die Fotogeschichte weitgehend aus. Die Bedeutung der Exil-Fotografie kommt daher hier nicht vor. Sie zu erhellen, bleibt die Aufgabe von Einzelgängern. Zu ihnen zählt beispielsweise der in Hamburg lebende Kunsthistoriker Roland Jaeger. Seit seiner Dissertation Block & Hochfeld. Die Architekten des Deutschlandhauses. Bauten und Projekte in Hamburg 1921–1938. Exil in Los Angeles (1996) beschäftigte er sich immer wieder mit dem Architekten Fritz Block (1889–1955). Block war nicht nur ein interessanter Vertreter des Neuen Bauens, sondern als umtriebiger Fotograf dem Stil der Neuen Sachlichkeit und des Neuen https://doi.org/10.1515/9783110542103-020

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Sehens verbunden. Parallel zu einer in der Handelskammer Hamburg gezeigten Präsentation von Originalabzügen, Farbvergrößerungen und Druckbelegen aus der Schaffenszeit von Fritz Block erschien 2018 die voluminöse Monografie zu dem fotografierenden Architekten. Block hatte nicht nur die Bauausführung und den -fortschritt, den Stahlskelettbau wie die Fassaden des von seinem Partner und ihm entworfenen Deutschlandhauses, einem Gebäudekomplexes mit Büros, Restaurants und dem damals größtem Kinosaal Europas, dem „Ufa-Palast“, fotografisch dokumentiert. Von ihm damals erstellte Bildstrecken erschienen in der illustrierten Presse und in Fachzeitschriften wie Die Form und Bauwelt. Breiten Raum in Jaegers reich illustrierter Darstellung nimmt Blocks Stadt- und Reisefotografie ein, die ihn schon vor 1933 nach Paris, Marseille, an die Côte d’Azur, nach Algerien und Tunesien führten. Rund 4.000 Aufnahmen entstanden allein während einer mehrwöchigen Reise durch die USA. Block nahm nicht nur markante architektonische Besonderheiten amerikanischer Metropolen in den Fokus. Die von ihm benutzen Leica-Kameras ermöglichten ihm zugleich unmittelbare wie humorvolle Aufnahmen von Alltags- und Straßenszenen, von Passanten und Kindern. Zahlreiche Fotografien erschienen auf Titeln und in doppelseitigen Reportagen des Hamburger Anzeigers, aber auch in Jahrbüchern zur Fotografie. Mit der Gleichschaltung der Presse nach 1933 endete für Block jede Möglichkeit, seine Fotografien zu veröffentlichen. Im Herbst 1933 erfolgte zudem der Ausschluss aus dem Bund Deutscher Architekten. Eine im Frühsommer 1938 unternommene Weltreise diente zur Vorbereitung der Emigration. Kurz nach der Pogromnacht gelang dem Ehepaar Block die Flucht in die USA. Dort wandte sich Block der Farbfotografie zu; fortan bezeichnete er sich als „color photographer“. Unterstützt von seiner Frau versandte die „Dr. Block Color Productions“ bis 1954 seine Farbdia-Serien zu Architektur, Kunst, Design und Technik. Eine insbesondere im Bereich der Exilfotografie einmalige Leistung! Grundlage für Jaegers aufwendig layoutete Monografie bildet der Nachlass des Fotografen, der sich sowohl im Besitz der University of California in Santa Barbara sowie im Familienbesitz befindet. Bleibt zu hoffen, dass die auch in englischer Fassung veröffentlichte komplexe wie vorbildliche Dokumentation von Leben und Werk Fritz Blocks trotz des hohen Preises zur bleibenden Erinnerung an den aus Deutschland vertriebenen Fotografen beiträgt. Dem Autor gebührt für seine umfassenden Recherchen und sein kontinuierliches Engagement Respekt! Wie Fritz Block war auch der in Dresden geborene Fred Stein (1909–1967) kein gelernter Fotograf. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtengesetz“ nahm das Nazi-Regime dem jungen Juristen die Möglichkeit, seine Dissertation wie das zweites Staatsexamen abzuschließen. Als Jude und Sozialist floh er gemeinsam mit seiner Frau im Herbst 1933 nach Paris. Wie Block gelangte

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er auf autodidaktischem Weg ins fotografische Handwerk. Wie er es selbst sagte: „Dresden vertrieb mich, so wurde ich Fotograf.“ Nach einer großen Präsentation der Fotoarbeiten Fred Steins im Jüdischen Museum Berlin vor sechs Jahren kehrte sein Werk postum nach Dresden zurück. Das dortige Stadtmuseum würdigte ihn von April bis Oktober 2018 in einer großen Retrospektive. Schon in Paris, Zufluchtsort deutscher und österreichischer Emigranten, hatte Stein Porträts von Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Alfred Kantorowicz, Arthur Koestler, Klaus Mann und Willi Münzenberg erstellt. Für Willy Brandt, mit dem Stein freundschaftlich verbunden war, war er rückblickend „sehr avantgardistisch, ein brillanter Fotograf, … ein echter Visionär, wie die Auswahl der Menschen und Motive, die er fotografierte, eindeutig beweist.“ Doch Stein schuf nicht nur beachtliche Porträts; seine Motive fand er – zuerst in Paris, später in New York  – in den Straßen dieser Metropolen. Dank seiner Warmherzigkeit, Zugewandtheit und Vertrauenswürdigkeit gelangen ihm wunderbare Fotos von Straßenarbeitern, Verkäufern und Musikanten, Passanten, vor allem aber von Kindern. Lange bevor sich der Begriff „street photography“ etablierte, schuf Fred Stein dank seiner Sensibilität gelungene Momentaufnahmen und Milieustudien. Nach Internierung in Frankreich und Flucht aus dem Lager flohen die Eheleute Stein gemeinsam mit ihrer Tochter 1941 in die USA. Auch dort erkundete und dokumentierte er mit der Kamera seine neue Heimat; seine Fotografien fanden ihren gedruckten Niederschlag in seinen New York abbildenden Fotokalendern, vor allem in seinem schon 1947 veröffentlichen Buch Fifth Avenue. Erst eine körperliche Einschränkung führte dazu, dass er sich wieder auf die Porträtfotografie konzentrierte. Kein Manko, denn dank seiner Vorbereitung und Gesprächsführung entstanden brillante Porträts von Martin Buber, Marlene Dietrich, Erwin Panofsky, Arnold Schönberg, Josef von Sternberg u.v.  a. Die von ihm ebenfalls porträtierte Hannah Arendt schrieb ihm 1964, er sei „einer der besten zeitgenössischen Portraitfotografen“. Ihr Porträt als auch ein ebenso gelungenes Porträt von Albert Einstein nutzte die Deutsche Post 2005 und 2006 als Motive bundesdeutscher Briefmarken. All dies, die Straßenfotografie wie die Porträts, beinhaltet das die Ausstellung begleitende Katalogbuch. Die vorzüglich gedruckten Schwarz-Weiß-Fotografien bestechen nicht nur durch ihre handwerkliche Qualität, sie überzeugen auch durch die von Humanität geprägte Sichtweise des Fotografen, der auch den unbekannten Porträtierten mit gleichem Respekt begegnete wie den zahlreichen Prominenten. Eine unbedingt empfehlenswerte deutsch-englische Veröffentlichung mit ansprechend illustrierter Biografie des Fotografen, einer mehrseitigen Lebensskizze der Frau an seiner Seite, einem persönlichen Blick des 74jährigen Sohnes Peter auf seinen Vater sowie dem lesenswerten Aufsatz „Fred Stein im Spiegel von Emigrationserfahrung und politischer Über-

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zeugung“ von Theresia Ziehe, die die Ausstellung im Jüdischen Museum in Berlin kuratierte. Ein besonderes Kapitel in Fred Steins fotografischem Schaffen nimmt das im Frühjahr 2019 erschienene Buch „Kinder – Children“ in den Blick. Es widmet sich schwerpunktmäßig seinen Fotografien von Flüchtlingskindern des Spanischen Bürgerkriegs in Frankreich. Noch vor der militärischen Niederlage der republikanischen Streitkräfte, als mit der „retirada“, dem Massenexodus mehr als eine halbe Million Menschen aus Spanien nach Frankreich flohen, waren zwischen 1936 und 1939 bereits rund 35.000 spanische Kinder nach Frankreich geschickt und dort in mehr als 150 Lagern untergebracht worden. Um die spanische Regierung in ihrem Bemühen zu unterstützen und die Betreuung der Kinder zu sichern, fotografierte Fred Stein in Bayonne, Colombes, Valence und andernorts. Hunderte von Aufnahmen entstanden. Wann und wo sie damals gezeigt und gedruckt wurden, ist bislang ungeklärt. Nunmehr liegt eine bestechende Auswahl von Motiven vor, eingebettet von weiteren Kinderfotografien Steins aus Paris und New York und kommentiert durch informative Essays der Dokumentarfilmerin Dawn Freer, des Kunsthistorikers Christian Joschke und des Journalisten Michel Lefebvre. Peter Stein, der Sohn des Fotografen, benennt in seinem einfühlsamen Vorwort den Status seines emigrierten Vaters als den eines „Außenseiters“. Er würdigt die Arbeit als eine Art „künstlerischer Anthropologie“. Das vorliegende Buch mit seinen tiefes Gerechtigkeitsempfinden, Toleranz und Humanität ausstrahlenden Fotografien dokumentiert ein jahrzehntelange unbelichtetes und beschwiegenes Kapitel europäischer Geschichte. Der Arzt und Schriftsteller, der Emigrant und Remigrant Alfred Döblin (1878– 1957) sollte allgemein bekannt sein. Weniger bekannt dürfte hingegen Yolla Niclas sein (1900–1977), die von der Literaturwissenschaft lediglich als „Langzeitgeliebte und Muse“ des Schriftstellers beschrieben wurde. Der Frankfurter Literaturwissenschaftler Eckhardt Köhn rekonstruierte mit seiner schon 2017 vorgelegten Veröffentlichung „Yolla Niclas und Alfred Döblin“ die Lebensgeschichte dieser Frau. Denn sie war natürlich nicht hauptberuflich Geliebte, sondern Fotografin. Ihre liberalen jüdischen Eltern ermöglichten ihr eine Ausbildung an der Photographischen Lehranstalt des Berliner Lette-Vereins. Zuerst als Standfotografin beim Film, sodann freiberuflich arbeitend, konnte sie Ende der zwanziger Jahre ein eigenes Atelier am Kurfürstendamm eröffnen. Niclas, die Alfred Döblin im Februar 1921 auf einem Kostümball kennengelernt hatte und mit ihm eine intensive, keineswegs problemfreie Liebesbeziehung eingegangen war, schuf in diesen Jahren zahlreiche Fotografien des Schriftstellers wie seiner Kinder, die auch Eingang in die 1928 erschienene Festschrift Alfred Döblin. Im Buch. Zu Haus. Auf der Straße fanden. Doch fungierte Niclas nicht allein als Döblinsche Hausfotografin, sondern veröffentlichte in den einschlägi-

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gen illustrierten Magazinen der Weimarer Republik. Ausführliches Lob erfuhr sie in der Gebrauchsgraphik vom November 1932. Nach dem Machantritt der Nationalsozialisten und angesichts einer Drangsalierung durch Studenten hatte sie sich zur Emigration entschlossen. In ihren Erinnerungen notierte sie: „Mit einer ganz geringen Summe Geldes … verließ ich für immer mein Elternhaus, das Land meiner Jugend und meiner Begegnung mit D. Aber ich will hier keine Biographe schreiben, obwohl ich glaube, dass sie, wie von fast allen Emigranten, interessant ist.“ Frankreich wurde ihr erstes Exilland, in Paris konnte sie erneut ein eigenes Studio eröffnen und ihren Lebensunterhalt mit Porträt- wie Reklamefotografie bestreiten. Auch sie nutzte das Leben auf der Straße für ihre Motivwahl: „In meiner freien Zeit machte ich Aufnahmen von Straßentypen, die großartig den ‚esprit‘ von Paris wiederspiegelten.“ Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges endete auch die zweite Karriere von Yolla Niclas. Nach Internierung und Flucht verließ sie mit ihrem Mann, dem ebenfalls aus Deutschland geflohenen Rechtsanwalt Rudolf Sachs, 1941 Frankreich und emigrierte in die USA. Nach anfänglichen Schwierigkeiten veröffentlichte Yolla Niclas ab Mitte der 50er Jahre unter ihrem Namen und mit ihren Fotografien illustrierte Kinderbücher. Alfred Döblin, mit dem sie auch in Paris in Verbindung gestanden hatte, sah sie erst unmittelbar vor dessen Remigration nach Europa im Oktober 1945 in New York wieder. Eckhardt Köhn erweist sich mit diesem in der Reihe edition Luchs herausgegebenen Buch erneut als Meister akribischer Spurensuche, so wie er es schon 2011 in seiner Monografie zu dem in Hamburg geborenen Fotografen Rolf Tietgens getan hat. Für Döblin-Forscher werden vor allem die seiner Darstellung vorangestellten Erinnerungen von Yolla Niclas an Alfred Döblin von großem Interesse sein, die das Literaturarchiv in Marbach mit der Auflage einer 25 Jahre währenden Sperrfrist archiviert hatte. Dass Köhn mit seiner sorgsam illustrierten Studie Yolla Niclas eine eigene Kontur verleiht, darf uneingeschränkt gelobt werden. Angekündigte Veröffentlichungen, z.  B. zu Nini und Carry Hess, versprechen dank seiner sorgfältigen Recherchen spannende Neuentdeckungen zu werden. Jenseits der wenigen Kundigen dürfte die Fotografin Maria Austria (1915–1975) für viele eine wahre Neuentdeckung sein. Zur Ausstellung „Maria Austria. Living for Photography“ im Joods Historisch Museum in Amsterdam von Januar bis September 2018 erschien ein umfassendes, in niederländischer Sprache verfasstes Katalogwerk mit dem Titel Maria Austria. Fotografe. Zur erneuten Eröffnung unter der Überschrift „Maria Austria 1915–1975. Eine Amsterdamer Fotografin des Neorealismus“, gezeigt im Verborgenen Museum in Berlin von Oktober 2018 bis März 2019, folgte eine auf 48 Seiten reduzierte, deutschsprachige Publikation. Beide Veröffentlichungen stammen von dem Autor und Verleger Martien Frijns, der die

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mehr als 700 schwarz-weißen wie farbigen Fotografien in enger Zusammenarbeit mit dem „Maria Austria Instituut“ (MAI) in Amsterdam chronologisch geordnet hat. Als Marie Oestreicher aus einer jüdischen Familie in Karlsbad stammend, studierte sie von 1933 bis 1936 Fotografie an der Graphischen Lehr-und Versuchsanstalt in Wien. Sie lernte, im Stil der Neuen Sachlichkeit zu fotografieren, in der Dunkelkammer zu arbeiten und eigene Fotoabzüge zu erstellen. Zugleich interessierte sie sich für Porträt-, Dokumentar- und Theaterfotografie. Noch vor dem „Anschluss“ Österreichs emigrierte sie nach Amsterdam, wo schon ihre Schwester Lisbeth lebte. Gemeinsam mit ihr, die am Bauhaus in Dessau Textilgestaltung studiert hat, betrieb sie ein kleines Unternehmen, dem sie den Namen „Model en Foto Austria“ gaben. Als freie Fotografin, seit 1939 unter dem Namen Maria Austria, erstellte sie Porträts. Ihre Fotos erschienen in Zeitschriften wie Libelle und Wij, sogar noch in den österreichischen Zeitschriften Die Bühne und Der Sonntag. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande konnte Maria Austria nicht mehr als Fotografin arbeiten. Beim Joodsche Raad in Amsterdam fand sie eine Beschäftigung. 1943 musste sie untertauchen. „Due to her professional skills she was able to fake identity cards and other documents, an activity of great importance for the resistance and which saved quite a number of lives.“ schrieben die aus Hamburg resp. Prag stammenden Ruth Liepman und Magda van Emde Boas, die sich wie Maria Austria am Widerstand gegen die deutschen Besatzer beteiligt hatten. Beide, Liepman wie Emde Boas, hatten das 1976 erschienene, schlicht Maria Austria betitelte Buch zu ihrer lebenslangen Freundin eingeleitet. In seinem nun vorgelegten, 784 Seiten zählenden Katalogbuch würdigt Martien Frijns sie als eine der bekanntesten niederländischen Fotografinnen. Das Buch präsentiert Aufnahmen aus Maria Austrias Versteck in Amsterdams Vondelstraat, wo sie gemeinsam mit Henk Jonker, ihrem späteren Mann, untergetaucht war und das zugleich als Fälscherwerkstatt diente. Nach der Befreiung der Niederlande hatte sie mit ihm und anderen gleichgesinnten Fotografen die Fotoagentur „Particam“ gegründet, eine Wortschöpfung aus Partisanen und Camera. Austrias Fotos dokumentieren die Not der Nachkriegsjahre, aber auch die Freude über den sozialen wie politischen Neuaufbruch, sie erfasst in ihren Aufnahmen Alltagsszenen auf Straßen, auf Märkten wie Spielplätzen. Eine bemerkenswerte Fotodokumentation entstand 1954. Beauftragt von Otto Frank dokumentierten Maria Austria und Henk Jonker in der Fotoserie „Het Achterhuis“ penibel und bis ins kleinste Detail das Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht, in dem die Familie Frank zwei Jahre versteckt lebte. Diese schlichten wie bedrückenden Fotos dienten als Grundlage für das Bühnenbild des Theaterstücks „The Diary of Anne Frank“, das 1955 in New

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York uraufgeführt wurde. Zudem dienten Maria Austrias Aufnahmen als Grundlage für die authentische Gestaltung des Anne-Frank-Hauses als Gedenkstätte. Neben unzähligen Porträts, z.  B. von Josephine Baker, James Baldwin, Benjamin Britten, Maria Callas, Norbert Elias, Erika und Thomas Mann, Bertrand Russell und Albert Schweitzer, widmete sich Maria Austria vor allem Musikveranstaltungen, Theater- und Operninszenierungen. Ihr Augenmerk galt besonders dem avantgardistischen Theater und Tanz; für das Mickery-Theater, einer wichtigen Bühne für freie Ensemble, arbeitet sie viele Jahre als „Hausfotografin“. Martin Frijns möge es mit seinem Buch gelingen, diese bis an ihr Lebensende engagierte Fotografin auch in Deutschland bekannt zu machen und ihr die gebührende Anerkennung in der Fotogeschichte zu verschaffen. Auf drei weitere Veröffentlichungen des letzten Jahres sei, auch wenn sie nicht unmittelbar mit der Exilforschung in Verbindung stehen, unbedingt hingewiesen. Zum 80. Jahrestag des Pogroms vom November 1938 legte der renommierte Fotograf Michael Ruetz eine beachtenswerte Foto- und Textdokumentation unter dem Titel Pogrom 1938 vor, die reichsweit durchgeführten Gewalttaten dokumentiert. Die Beate Klarsfeld gewidmete und von Christoph Stölzl eingeleitete Veröffentlichung entstand in Kooperation mit der Berliner Akademie der Künste. Dort wurde es in einer Gedenkveranstaltung am 9. 11. 2018, begleitet von einer Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und eines Vortrags des Historikers Wolfgang Benz, der Öffentlichkeit vorgestellt. Ruetz lenkt den Blick, wie es der Untertitel verspricht, auf das „Gesicht in der Menge“. Auf jene, die sich in Straßen und auf öffentlichen Plätze einfanden, um dem gewaltsamen Schauspiel beizuwohnen, neugierig wie schaulustig, hämisch wie schadenfroh, oder, gänzlich ungeniert und skrupellos, an den Plünderungen teilnehmend. Die von Ruetz und seiner Mitarbeiterin Astrid Köppe zusammengestellte Dokumentation belegt insbesondere durch die Vergrößerung von Bildausschnitten die fröhliche Teilhabe der deutschen Volksgemeinschaft an öffentlicher Diffamierung und organisiertem Zerstörungswerk. Das Buch belegt durch Fotos wie begleitende Augenzeugenberichte den, wie Ruetz es ausdrückt, „Landfriedensbruch im ganzen Land“, was 1938 vor aller Augen geschah. Parallel zu der von März bis November 2018 im Mémorial de la Shoah in Paris gezeigten Ausstellung erschien das dreisprachige Katalogbuch August Sander. Verfolger/Verfolgte. Menschen des 20. Jahrhunderts. Es kann nur auf den ersten Blick verwundern, dass Fotografien von August Sander (1876–1964) an diesem speziellen Ort gezeigt werden, der zentralen Gedenk- und Dokumentationsstätte zur Geschichte der Juden in Frankreich und ihrer Verfolgung. Doch gerade die Aufnahmen Sanders, in denen sich Porträt- und Dokumentarfotografie“ verbinden, liefern, wie es Sophie Nagiscarde, eine der Ausstellungsverantwortlichen, in ihrem Geleitwort schreibt, „einen unverstellten Blick auf die Geschichte“.

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Die nunmehr dank des nachdrücklichen Engagements des Enkels August Sanders erstmals öffentlich gezeigten Gesichter von Opfern wie Akteuren nationalsozialistischer Politik müssen dem vom Fotografen betitelten Langzeitprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ zugeordnet werden. Diese auf 45 Mappen mit jeweils 12 Tafeln konzipierte Dokumentation erschien 1929 in der von Alfred Döblin mit einem Vorwort versehenen, auf 60 Bildtafeln reduzierten Vorabpublikation Antlitz der Zeit, publiziert im Transmare/Kurt Wolff Verlag. Dieses heute zu den wichtigsten Fotobüchern des 20. Jahrhunderts zählende Buch wurde 1936 aus dem Handel gezogen und von der Gestapo beschlagnahmt; selbst die Druckplatten wurden zerstört. Schon 1947 arbeitete Sander wieder an seinem Großprojekt. In einem Brief an den Schriftsteller Sarnetzki hieß es: „Wir brachten die Judenmappe zu Papier. Es handelt sich hierbei um solche Personen, die entweder emigriert oder ihr Leben in den Gaskammern ausgehaucht haben; alles hervorragende Köpfe unpolitischer Menschen. Weiter eine Mappe mit politischen Gefangenen und eine dritte Mappe mit Fremdarbeitern“. Dank der Nachforschungen des NS-Dokumentationszentrums Köln konnten die von Sander erwähnten Porträts Kölner Juden mit Informationen zu ihren Lebens- und Leidenswegen versehen werden. Für die vertiefende Lektüre sei besonders auf die Beiträge des Enkels Gerhard Sander sowie von Werner Jung, dem Direktor des Kölner Dokumentationszentrums, hingewiesen. Jung beschreibt die Beziehung des Vaters zu seinem Sohn Erich Sander (1903–1944), der 1935 als Leiter der illegalen Kölner Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) und wegen seiner Beteiligung am Widerstand zu einer zehnjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden war. Auch dank der Unterstützung seiner Eltern konnte er in seiner Funktion als Zuchthausfotograf Aufnahmen politischer Gefangener machen und aus der Haftanstalt herausschmuggeln. All dies dokumentiert das nun vorgelegte Buch in detaillierter Form. Eine Ausstellung und ein Begleitbuch, die unsere Sicht auf den Fotografen August Sander und sein monumentales Werk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ um wichtige Facetten erweitert! Und auch die jüngste Veröffentlichung zur Fotografin und Reporterin Lee Miller (1907–1977) soll nicht unerwähnt bleiben. Denn das Buch Lee Miller. Deutschland 1945 mit seinen 160 schwarz-weiß Abbildungen, von dem amerikanischen Historiker Richard Bessel mit einer Schilderung des historischen Kontextes ihrer Entstehung versehen, liefert einen ungeschönten Blick auf das gerade durch amerikanische Truppen befreite Deutschland. Viele werden den Namen Lee Miller lediglich mit jenem Foto verbinden, das sie 1945 in Hitlers Badewanne in München zeigt. Doch sie auf diesen provokanten fotografischen Nebenschauplatz zu reduzieren, wäre oberflächlich. Denn seit Dezember 1942 war sie von der amerikanischen Armee als Korrespondentin der

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Zeitschrift Vogue akkreditiert; ab Mai 1944 arbeitete sie als Kriegsberichterstatterin für die Condé Nast Press. Seit Juli 1944 war sie den vorrückenden Truppen gefolgt, sie dokumentierte die Befreiung von Paris, besuchte das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof kurz nach dessen Befreiung im November 1944. Erste Aufnahmen auf deutschem Boden machte Lee Miller in den kriegszerstörten Städten Aachen und Köln. Ihre erste Reportage in Vogue trug den Titel „Germany … out of the German Prison“ und zeigt das zerstörte Gestapo-Gefängnis sowie zwei ehemalige Gefangene. Ihre Fotos aus Buchenwald und Dachau erschienen im Juni 1945 unter der Überschrift „Believe it. Lee Miller Cables from Germany.“ In ihrem Begleittext hieß es: „Deutschland ist eine schöne Landschaft, die mit Dörfern wie mit Schmuckstücken übersät ist, befleckt mit zerstörten Städten und von Schizophrenen bewohnt … Sie werden das Ende des Krieges und den Verlust des Krieges geheimnisvoll und unerklärlich finden. Das Einzige, was sie davon verstehen werden: die Verlustlisten und die massive Zerstörung ihrer Städte aus der Luft.“ Das Foto in Hitlers Badewanne kann als symbolische Reinigung verstanden werden; tags zuvor hatte Lee Miller Dachau besucht, Tote und Überlebende des Konzentrationslagers fotografiert. Es kann nicht verwundern, dass Lee Miller der deutschen Bevölkerung mit Vorbehalt und offener Ablehnung begegnete, deren Unterwürfigkeit und Liebenswürdigkeit sie als abstoßend empfand. Sie war jenem Nachkriegsdeutschland begegnet, das in seiner Majorität den Nationalsozialismus unterstützt hatte, jedoch umgehend dazu überging, Wissen und Verantwortung zu leugnen. Lee Millers Fotografien dienten übrigens 1999 als Illustration des Buches Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45 von Saul K. Padover. Sie wären für Hannah Arendts Bericht Besuch in Deutschland genauso nützlich gewesen, in dem die Autorin ein nicht nur äußerlich zerstörtes Deutschland beschrieb.

Wilfried Weinke

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Die Erfindung von Paris, hg. v. Susanne Brogi und Ellen Strittmatter. (= Marbacher Katalog 71). Marbach am Neckar (Deutsche Schillergesellschaft) 2018, 349 S.  [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne Marbach am Neckar]. Paris sei die „Heimat der Heimatlosen“, so Siegfried Kracauer, respektive „Heimat des Fremden“, wie Franz Hessel meinte, jedoch nicht als Asyl, setzte er fort, sondern als Spaziergänger erwerbe man dort ein eigenes „kleines Bürgerrecht“ (154). Die knappen Zeilen verdichten den Inhalt des wunderbaren Ausstellungsbandes, denn sie verweisen auf einen spezifischen Typus der Paris-Besucher, seine Wahrnehmung, die damit verbundenen Erwartungen sowie deren literarisch-künstlerische Verarbeitung. Bei allen ging es nicht allein um die französische Hauptstadt, die Zugehörigkeit verhieß, sondern auch um die Erfahrung der Großstadt als Verdichtung der Moderne, als Wiege der Revolution sowieso. Dass die meisten Zeugnisse von Exilanten stammen, insbesondere denen der 1930er Jahren, ist sekundär, denn die Autor*Innen waren alle zuvor bereits mehrfach in Paris gewesen, einige von ihnen längere Zeit als Journalisten, und Paris hatte sie als Intellektuelle bereits in jenen Jahren fasziniert, so dass ihre spätere Flucht dorthin quasi eine Rückkehr ins Vertraute war. Heinrich Heine wurde zum exilischen Wegbereiter der „Zauberstadt“ Paris als Anziehungspunkt und Projektionsfläche in der deutschsprachigen Literatur; auf sie beschränkt sich die Ausstellung und der Katalog nach den Beständen des Marbacher Literaturarchivs. Heines Nachfolger wurden Exilanten dagegen erst, als sie schon lange mit Paris vertraut waren. Er hatte ihnen den Weg zur Erkundung der urbanen Landschaft als Spaziergänger gewiesen. Walter Benjamin bot hierfür später in der Figur des Flaneurs die bekannteste theoretische Veredelung, stand damit aber nicht allein. Hugo von Hofmannsthal hatte bereits Anfang des Jahrhunderts dem Dichter die Aufgabe zugewiesen, das Leben von seinen Rändern und Unscheinbarkeiten her zu entdecken; er sei nichts als Auge und Ohr und der lautlose „Zuseher“ (151). Erfreulicherweise verzichten die Herausgeberinnen darauf, dieses literarisch häufig durchbuchstabierte Thema weiter zu pflegen, vielmehr differenzieren sie es bei der Gliederung des Bandes durch originelle Zuordnungen für die einzelnen Literaten. Der Ursprungsritus „Entdecken“ steht beispielsweise für das Kapitel zu Heine, das zu Walter Benjamin ist „Verirren“ überschreiben und zielt auf den Wust der Passagen-Exzerpte, „Spazieren“ gilt für Franz Hessels Glückszustand im dauernden Schauspiel auf der Straße, „Weiterziehen“ für den unsteten Joseph Roth, „Panoramieren“ für den breiten exterritorialen, literarisch erfahrenen Kamerablick Siegfried Kracauers, „Anbandeln“ für Kurt Tucholsky anhand seiner Liebesbriefe an die zurückgebliebene Freundin oder „Mäandern“ für Ernst Jünger, den Wehrmachtsoffizier und Flaneur. https://doi.org/10.1515/9783110542103-021

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Jünger und Felix Hartlaub werden als Kontrastfiguren der Exilanten genannt, an denen gezeigt wird, wie diese Repräsentanten der Nazi-Okkupation Frankreichs 1940 Zugang zu den französischen Intellektuellen fanden, während die seit langem mit Paris vertrauten Flüchtlinge dort in der Regel isoliert, einsam und materiell prekär ihr Dasein fristeten. Nicht zufällig beginnt der Band mit dem Hotel Lutetia, dem antiken Namen von Paris, das als Ort der gescheiterten Volksfront-Debatten des deutschen Exils steht, wenig später aber Sitz der deutschen Militärischen Abwehr und der Geheimen Feldpolizei wird und 1945 als Aufnahmelager für zurückgekehrte Deportierte diente. Das Personen-Tableau reicht darüber hinaus bis in die Gegenwart, über Paul Celan („Übersetzen“) unter anderem zu Heinz Czechowski („Vorfinden“), Peter Handke („Abweichen“) und Undine Gruenter („Weitergehen“). Da zur GroßstadtAneignung neue sachliche Ausdrucksformen gehören, welche die neuen Wahrnehmungen in Poesie umsetzen, werden dazu auch die fotografischen Blicke entdeckt, so u.  a. von Gisèle Freund, Germaine Krull, Georg Stefan Troller oder Barbara Klemm heute. Die Repräsentanten der ehemaligen DDR, der Lyriker und Lektor Heinz Czechowski und der Fotograf Roger Melis hatten bei den Vorbereitungen ihrer Paris-Bücher durchaus imaginäre exilische Funktionen, da ihre Zeugnisse über das „nichtsozialistische“ Ausland das Reisen ersetzen sollten, ohne die Reiselust zu wecken. Schlüsselfiguren für die anderen Spätgeborenen bleiben die Exilanten nach 1933. Peter Handke erklärt als Parisbewohner der 1970er Jahre für sich das „Ende des Flanierens“ und wendet sich mit seinem Umzug in einen Vorort dem raumoffenen „Gehen“ zu (240). Ulrike Gruenter, die mit ihrem Mann Karl-Heinz Bohrer Ende der 1980er Jahre nach Paris gegangen war, umschreibt diesen Schritt selbstironisch: „Nach Walter Benjamin nach Paris zu ziehen, ist schiere spätbourgeoise Epigonalität“ (255). Thematisch im Mittelpunkt des Bandes stehen die Literaten, die in der Zeit vor 1914 und vor allem in den Zwischenkriegsjahren Paris zum Ort der Imagination und Projektion der Moderne gemacht haben. Das begann mit Stefan Georges Übersetzungen Baudelaires, dem Erfinder des Großstadtgedichts, die dann von Benjamin fortgesetzt wurden; Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge schlossen ebenfalls daran an. Während hier neues Sehen und eine neue Sprache ausprobiert wurde, in Rilkes Roman ist Paris ein Ort der Morbidität und Bedrohung, verdichtet sich in Benjamins Tableaux parisiens und Kracauers Feuilletons die französische Hauptstadt zum positiven Symbol des Aufbruchs und auf Gegenwart und Vergangenheit zugleich verweisendes Vexierbild, oder – in Benjamin’scher Terminologie – als Denkbilder, mit denen die Faszination an der Verdichtung der Kultur Ausdruck findet. Für Kracauer ist Paris die „Stadt der Städte“, die je größer die Agonie der Weimarer Republik wurde, desto mehr zum positiven Gegenbild von Leichtigkeit und savoir vivre wird.

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Mit ihrem Exil nach 1933 in Paris ändert sich diese Perspektive allerdings. Die verstärkte Hinwendung auf das 19. Jahrhundert in Benjamins Passagen-Werk mit dem Gewährsmann Charles Baudelaire und in Kracauers Gesellschaftsbiografie des Operetten-Komponisten Jacques Offenbach macht die individuelle künstlerische Intelligenz zum Seismographen einstigen Zeitgeistes. Für die Herausgeberinnen sind das Indizien von Hilflosigkeit gegenüber der Wirklichkeit: „Diese abstruse Weltfremdheit vor dem politischen Tagesgeschehen gepaart mit einem irgendwie marxistisch legitimierten Verbalradikalismus“ (55), so ihr scharfes Fazit, habe zur Folge gehabt, dass ihnen und auch den anderen Emigranten in Zeiten der äußersten Bedrängnis das real politische Paris überhaupt nicht in den Blick geraten ist. Politische Realitäten hätten sie nicht wahrgenommen. Joseph Roths Alkohol-Delirium war ein Beispiel dafür; kurz vor seinem Tode konnte er nur noch den Abriß seiner traditionsreichen Hotel-Unterkunft beobachten, die einst schon Rilke und Hofmannsthal beherbergt hatte. Beigegeben sind den literarischen und fotografischen Artefakten kontrastierende Zeitzeugenberichte, u.  a. von Georges-Arthur Goldschmidt über seine erste Begegnung mit Paris nach der Befreiung aus seiner gefährdeten Schülerexistenz in Savoyen 1944 und ein Bericht über das Paris der 1980er Jahre im Zeichen der Postmoderne. Nun sogar als doppelter Sehnsuchtsort, einmal der nach wie vor traditionsbestimmten urbanen Erwartungen, zum anderen der Hoffnung, dass die dort längst untergegangene einst blühende intellektuelle Kultur einmal wiederkehren möge.

Max Stein

Max Beck und Nicholas Coormann (Hg.): Historische Erfahrung und begriffliche Transformation. Deutschsprachige Philosophie im Exil in den USA 1933–1945. Wien (LIT Verlag) 2018. 339 S. Anspruchsvoll nähert sich der Sammelband einem bisher defizitären Forschungsfeld, wobei zurecht auf die bisher begrenzte Reichweite einschlägiger Untersuchungen, etwa die zur Philosophie im Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945 verwiesen wird. Gegliedert in vier Sektionen werden verschiedene Schulen, so der Logische Positivismus und die Wissenschaftstheorie am Beispiel ihrer zentralen oder im Dunstkreis stehenden Vertreter Rudolf Carnap, Hans Reichenbach, Edgar Zilsel und Herbert Feigl vorgestellt. Kontrastierend dazu die https://doi.org/10.1515/9783110542103-022

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bereits breit beforschte Kritische Theorie, allerdings in ihrem Verhältnis zu jenen pragmatischen Strömungen, sowie schließlich einzelbiographische Beiträge unterschiedlicher Richtungen. So zu Ernst Bloch und der bereits intensiv untersuchten, aber hier noch einmal schlüssig interpretierten Hannah Arendt, vor allem aber über die nur eingeweihten Zirkeln bekannten Leo Strauss und seinen ehemaligen Doktorvater Ernst Cassirer. Weitere Beiträge werden dem Theologen Paul Tillich, dem Juristen Hans Kelsen und dem Literaturwissenschaftler Leo Löwenthal gewidmet. Auffallend ist, dass sich unter ihnen auch Autoren finden, die wie der Politikwissenschaftler Franz. L. Neumann und der Soziologe Siegfried Kracauer kaum als Philosophen tituliert werden können. Neumann wird diese Ehre offenbar zuteil, weil er seine bahnbrechende Studie Behemoth zum Herrschaftssystem des Nationalsozialismus nach einer alttestamentarischen Figur benannt hat (s. dazu die Besprechung oben), welche das eigentliche Thema dieses Beitrags ist, und für Kracauer spricht sein schon in den 1920er Jahren ausdifferenzierter Begriff der „Exterritorialität“, der Schlüsselkategorie fast aller Beiträge des Bandes ist und mit dem die Denk- und Schreibhaltung der vorgestellten Personen vorgestellt werden. Die Veränderungen ihrer Gedanken- und Theoriegebäude werden werkzentriert unter den Bedingungen des Exils und der Emigration herausgearbeitet. Ursprünglich waren das zumeist geschlossene und elitäre Weltsichten in idealistischer oder historistischer Tradition. Beispielhaft dafür sei Leo Strauss genannt, der seine Anschauungen vor 1933 als Mitarbeiter der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums im gesellschaftlichen und politischen Vakuum in bewusster Opposition zur Weimarer Republik positioniert hatte. Gesellschaftskritisch engagierte Intellektuelle waren für ihn nur bessere Vertreter des „Friseurgewerbes“ (220). Diese Haltung transformierte er in der amerikanischen Emigration zur eingreifenden Opposition gegen den Wertrelativismus der Aufklärung und des Liberalismus unter Rückgriffen auf das ursprüngliche „wahre“ platonische Naturrecht. Nicht erwähnt allerdings wird, dass Strauss mit dieser Haltung einen großen Schülerkreis gewann, den sogenannten „Straussians“, die seit der Reagan-Ära zu den Stichwortgebern und Wortführern der amerikanischen Neokonservativen wurden. Solche Beschränkung auf textimmanente hermeneutische Veränderungen durch die exterritorialen Exilerfahrungen reduziert die Emigranten auf isolierte Existenzen. Ausgeblendet bleiben dabei die für die Emigrationsforschung zentralen Aspekte des transatlantischen intellektuellen Transfers, dessen Wirkungen im Zufluchtsland und die damit verbundenen Hybridisierungsprozesse. Gern hätte der Leser zum Beispiel erfahren, ob und wie sich der Logische Positivismus mit dem amerikanischen Pragmatismus (John Dewey) vereinbaren ließ. Im Beitrag über Cassirer gründelt der Autor im ideengeschichtlichen Hermetismus

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von dessen philosophischer Anthropologie, wie sich die aber in seinem letzten Werk The Myth of the State (postum 1946) zur Analyse des Nationalsozialismus konkretisiert, wird nicht ausgeführt. Lediglich bei Hans Reichenbach – Vertreter des mehr psychologisch und soziologisch orientierten „Berliner Kreises“ der Logischen Empiristen, kontrastierend zum „Wiener Kreis“, der die Wissenschaftssprache analysierte – wird dessen großer Erfolg im Kontext der nach 1945 entstehenden analytischen Philosophie herausgearbeitet. Vielleicht sind diese reduktionistischen Ansätze darauf zurückzuführen, dass der Band überwiegend – aber nicht ausschließlich – von jungen Wissenschaftlern konzipiert wurde, deren Blick sich erst allmählich über ihre unmittelbare Beschäftigung hinaus zu weiten beginnt. Dann wären auch einige Widersprüche vermieden worden, etwa in einem Beitrag die Betonung des angeblich „antimarxistischen Klimas“ der Roosevelt-Ära (21) und in einem anschließenden die gegenteilige Sicht, die für diese Zeit einen „Boom sozialistischer, oft offen kommunistischer Denkweisen“ diagnostiziert (49).

Claus-Dieter Krohn

Notker Hammerstein: Kurt Riezler. Der Kurator und seine Universität. (= Gründer, Gönner und Gelehrte. Biographienreihe der Goethe-Universität Frankfurt am Main). Frankfurt a. M. (Societäts Verlag) 2019. 220 S. Zeithistorikern ist Kurt Riezler, Legationsrat des Auswärtigen Amtes, als Berater des Reichskanzlers Theodor von Bethman-Hollweg bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs bekannt. Seine Tagebücher waren eine zentrale, umstrittene Quelle in der Kriegsschuldkontroverse der 1960er Jahre, die von dem Hamburger Historiker Fritz Fischer ausgelöst worden ist. Weniger bekannt dagegen ist die Rolle des promovierten Altphilologen Riezler als Kurator, einem Kanzler heute vergleichbar, und Honorarprofessor für Philosophie an der Stiftungsuniversität Frankfurt am Main ab 1928. In enger Kooperation mit dem preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker profilierte er die Universität durch geschickte Berufungspolitik gerade in den jungen Sozialwissenschaften, die der kurz vor dem Ersten Weltkrieg gegründeten, aber erst nach 1918 ihre Tore öffnenden Universität den größten Lehrkörper in diesen Disziplinen verschaffte und 1933 zur umfangreichsten Entlassung im Vergleich zu den anderen deutschen Hochschulen führte. Dafür stehen u.  a. Gelehrte wie die Religions- und Sozialphilosophen Paul Tillich und https://doi.org/10.1515/9783110542103-023

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Max Horkheimer, der Soziologe Karl Mannheim, der Wirtschaftswissenschaftler Adolf Löwe oder der Psychologe Max Wertheimer. Dazu gehören weiterhin die Juristen Hugo Sinzheimer und Hermann Heller, der Historiker Ernst Kantorowicz, der Theologe und Sozialpolitiker Karl Mennicke und andere. Wegen seiner progressiven Hochschulpolitik und verheiratet mit einer Jüdin, Tochter des Malers Max Liebermann, musste auch Riezler 1933 die Universität verlassen. Seiner Verhaftung am 1. April, dem Tage des Judenboykotts, konnte er nur durch Gesuch auf Beurlaubung entkommen. Zurückgezogen lebte er zunächst als Privatgelehrter im Hause seines Schwiegervaters Max Liebermann in Berlin, ehe er 1938 in die USA floh, wo er an der New School for Social Research und ihrer dort entstandenen University in Exile eine neue Betätigung als Philosoph fand. Eindrucksvoll beschreibt der Autor die ungewöhnliche, ja abenteuerliche Biografie Riezlers als Berater des kaiserlichen Reichskanzlers, nach dessen Entlassung Kontaktmann des Auswärtigen Amtes zur neuen bolschewistischen Revolutionsregierung in Russland – in Moskau erlebte er hautnah die Ermordung des deutschen Botschafters Graf Mirbach durch Gegner des Friedensvertrages von Brest-Litowsk–, persönlicher Berater des ersten Präsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert, nach dessen Tod Zeitschriftengründer und Journalist bis hin schließlich zum Hochschulpolitiker in Frankfurt. Entfaltet wird keine individuelle Lebensgeschichte, sondern mit Riezler im Zentrum das Gruppenporträt der jungen bürgerlichen Funktionselite der neuen Republik, deren Bewusstseinswandel bei der Überwindung der Normen des Kaiserreichs und ihrer anfänglichen Orientierungslosigkeit, ehe sie schließlich zu engagierten „Vernunftrepublikanern“ (F. Meinecke) wurden. Im Unterschied zu den staatlichen Universitäten bot die Stiftungsuniversität Frankfurt dafür ein einzigartiges Experimentierfeld. Ohne Traditionsbelastung mit ihren Verkrustungen wurden hier dank der Umtriebigkeit des mit Gott und der Welt bekannten und mit der preußischen Kultusbürokratie vernetzten Riezlers nicht nur Persönlichkeiten berufen, die mit gemeinsamen Grundüberzeugungen interdisziplinär nicht nur nach Antworten auf die ungelösten Fragen der Nachkriegszeit suchen, sondern zugleich zur Reform der Universitäten in ihrer damaligen Krisensituation beitragen sollten. D.h. Überwindung der bisherigen Bildungsschranken, der disziplinären Spezialisierung und Isolierung hin zur Berufsund Allgemeinbildung bzw. stärkeren Praxisorientierung. Auch Strukturreformen der Universität standen auf der Agenda, deren Entwicklung zur Massenuniversität mit damals 4.000 Studierenden (in einer Institution, die für 2.000 ausgelegt war) eine Unterteilung von Universität und Fachhochschule empfahlen. Am Beispiel etwa der widerstreitenden Soziologien Karl Mannheims und des Instituts für Sozialwissenschaften, des Juristen Hugo Sinzheimer, der in Frankfurt den ersten Lehrstuhl für Arbeitsrecht innehatte, scheinen die progressiven fachlichen Ansätze des akademischen Milieus in Frankfurt auf. In interdisziplinären

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Seminaren wurden die Reichweiten und Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Gebiete ausgetestet. Fotografisch überliefert sind diese Aktivitäten von der Mannheim-Studentin Gisela Freund, die ihre Dissertation zur Soziologie und Ästhetik der Fotografie erst im Exil in Paris Mitte der dreißiger Jahre abschließen konnte. Jene Lehrformen beruhten mit auf den vielfältigen politisch-sozialen Vernetzungen der Professoren. Der sogenannte Kairos-Kreis der religiösen Sozialisten um den Theologen Paul Tillich, der nach 1918 in Berlin entstanden war, ist nur ein Beispiel; er fand in Frankfurt dann mit Tillich, seinem Fachkollegen Karl Mennicke, der als Theologe zur Sozialarbeit gewechselt war, seinem persönlichen Freund, dem Wirtschaftswissenschaftler Adolf Löwe und anderen einen institutionellen Fokus. Aus der Sicht der Emigrationsforschung ist Hammersteins dichte Beschreibung der vom Kurator Riezler wesentlich gestalteten universitären Verhältnisse in Frankfurt ein treffendes Beispiel, dass Exil und Emigration keine Einzelschicksale waren, sondern im Wesentlichen von Netzwerk-Kontakten bestimmt und begünstigt wurden. Dieses einzigartige akademische Milieu Frankfurts ist, wie angedeutet, zum überwiegenden Teil nach 1933 aus Deutschland vertrieben worden. Diese Aspekte thematisiert die Riezler-Monografie allerdings nicht mehr. Der Machtwechsel zu den Nationalsozialisten 1933 wird nur in wenigen Worten, konzentriert auf die Hauptperson, kurz angesprochen.

Jakob Lehr

Anthony Grenville: Encounters with Albion. Britain and the British in Texts by Jewish Refugees from Nazism. Cambridge (Legenda) 2018, 185 S. Der Verfasser hat eine wichtige historische Untersuchung vorgelegt. Sie enthält reiches und interessantes Material zu den Begegnungen zwischen Flüchtlingen und Briten. In den ersten vier Kapiteln werden sehr einfühlsam und chronologisch die Erfahrungen der aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei Vertriebenen von ihrer Ankunft in den dreißiger Jahren bis 1960 untersucht. Besonders ergiebig sind die Kapitel über die Internierung der Flüchtlinge als feindliche Ausländer und (in Kap 6) über den Dienst bei den britischen Truppen (66–90). Bewegend ist die Perspektive auf die Kinder, die mit den Kindertransporten nach England kamen (130–149). Erstaunlich ist (in Kap.7) die Fülle der Memoiren, die nach 1990 erschienen sind (149–175). Ein Historiker findet Berichte https://doi.org/10.1515/9783110542103-024

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über die Deportation der Internierten. Am 2. Juli 1940 wurde z.  B. die „Arandora Star“ mit 1.678 Menschen an Bord auf die Fahrt nach Kanada geschickt; sie wurde von den Deutschen torpediert, viele Flüchtlinge, Deutsche und Italiener an Bord starben, auch Mitglieder der Besatzung (43). Von den Geretteten kamen manche schon eine Woche später wieder auf ein Schiff, die „Dunera“, die mit einem Zwangstransport von 2.542 Internierten an Bord nach Australien fuhr. Sie wurden geschlagen, beraubt, gedemütigt und beleidigt. Trotzdem waren später über zehntausend Flüchtlinge bereit, bei den britischen Truppen zu dienen. Eine Psychologie des Exils fände ausführlichen Stoff, wie schwer vielen das Eingewöhnen in England war. Der Komponist Hans Gál beispielsweise litt sehr unter der Sinnlosigkeit der Internierung, er beklagt die verweigerte Unterscheidung zwischen feindlichen Deutschen und jüdischen Flüchtlingen. Man merkte bald: die britischen Juden (viele waren Nachkommen derjenigen, fast eine Viertelmillion, die vor russischen Pogromen nach 1880 geflohen waren) waren oft stärker an ihre Religion gebunden als die Neuankömmlinge und schätzten diese genauso wenig wie damals in Deutschland die deutschen Juden die Ostjuden. Diejenigen, die noch nie im Haushalt gearbeitet hatten und jetzt durch Hausarbeit ihren Lebensunterhalt verdienen mussten litten unter der Tätigkeit und unter ihrem niedrigen Status. Traumatisch war die Situation für die Kindertransportkinder, die sich plötzlich ohne Eltern in der Fremde fanden, wenn ein Geschwisterkind mitfuhr, konnten sie ihr Schicksal leichter ertragen (Vera Gissing); viele versuchten durch Schulerfolge ihre Situation zu kompensieren, was ihnen oft gelang. Nicht wenige von ihnen erreichten nach 1945 in der britischen Gesellschaft sehr hohe Positionen. Irrtümer wären zu korrigieren: Hermann Sinsheimer sah sich nicht als „lifelong Freinsheimer“ (95). Kurz vor seinem Tod schrieb er aus Wiesbaden: „Meine pfälzische Heimat besuche ich nicht, da ich in London ein Gelübde getan habe, sie nicht mehr zu betreten, als ich erfuhr, dass die dortigen Nazis das jüdische Altersheim angezündet und die Insassen in den Wald gejagt haben, wo sie durch Mord, Selbstmord oder Entkräftung alle umgekommen sind.“ Und Elisabeth Castoniers fiktionale Texte können nicht als wahres Englandbild der Flüchtlinge bezeichnet werden (117–121). Sie schrieb das, womit sie das deutsche Nachkriegspublikum unterhalten und zum Kauf ihrer Bücher anregen konnte; Mill Farm (1959) zum Beispiel vermittelt ein sehr heiteres und gut verkäufliches Englandbild. Ihre „Autobiographie“ Stürmisch bis heiter (1964) enthält viel Erfundenes, so etwa eine französische und eine englische Großmutter, beide gab es nicht. Sie hatte drei jüdische Großeltern und einen russischen Großvater, aber der dänische Pass, den sie durch Heirat bekam, erleichterte ihr in England sehr vieles. Ihre Briefe sprechen eine ganz andere Sprache als ihre Bücher. Das aber schmälert

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nicht die Fülle, die dieses Buch über ein wichtiges Kapitel der britisch-kontinentalen Geschichte bietet.

Deborah Vietor-Engländer

Thomas Mann in Amerika, hg. von Ulrich Raulff und Ellen Strittmatter. (= Marbacher Magazin 163/164). Marbach am Neckar (Deutsche Schillergesellschaft) 2018. 241 S. Hans Rudolf Vaget hat mit seiner mächtigen Studie Thomas Mann, der Amerikaner von 2011 die zweite Lebenshälfte des Autors im Exil bereits mit prägnanten Details genauer ausgeleuchtet. Sie begann ab 1934 zunächst mit jährlichen Reisen aus dem Schweizer Exil in die USA, an die sich ab 1938 der 14jährige Daueraufenthalt der Familie anschloss. Der Meinungsterror und die Fremdenfeindlichkeit amerikanischer Nativisten und Isolationisten, die den Strukturwandel der vorangegangenen Roosevelt-Ära zurückzudrehen suchten und heute mit dem Namen des übel beleumdeten Senators Joseph McCarthy verbunden sind, ließen Thomas Mann, der 1944 eingebürgert worden war, seine Frau Katja und Tochter Erika fluchtartig das Land verlassen; öffentliche Denunziationen als Kommunistenfreund waren nur ein letzter Anlass. Der vorliegende Begleitband einer gleichnamigen Ausstellung im Literaturarchiv in Marbach nimmt diesen Faden in wünschenswerter Prägnanz auf; ein Nachteil gegenüber der Ausstellung allerdings ist, dass zahlreiche Faksimiles großformatiger Zeugnisse (Zeitungen) in der Oktavgröße das Katalogs nur durch ihren generellen Eindruck, nicht aber durch ihre Identifizierbarkeit wirken. Gezeigt wird der bemerkenswerte Akkulturationsprozess des Autors, u.  a. mithilfe mächtiger Multiplikatoren, etwa seines Verlegers Alfred A. Knopf, seiner Freundin und Mäzenin Agnes E. Meyer, Mitherausgeberin der Washington Post, und der einflussreichen Journalistin Dorothy Thompson, die aus Deutschland von den Nazis ausgewiesen worden war. Solchen Kontakten verdankte Mann auch mehrere Einladungen ins Weiße Haus. Alsbald war der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt für ihn wie wie auch andere Exilanten zur verehrten Lichtgestalt geworden. Mann glaubte gar, ihm verdanke er überhaupt das eigene Überleben, und das Roosevelt’sche New Deal-Amerika imaginierte er für die Nachkriegszeit als „Kornkammer der Welt“. Die amerikanischen Jahre wurden so zur Hochphase seines politischen Engagements gegen den Nationalsozialismus, das https://doi.org/10.1515/9783110542103-025

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ihn alsbald zum selbstverständlichen und anerkannten „Schutzherrn“ (Ludwig Marcuse) des deutschen Exils machte („Wo ich bin, ist Deutschland“). Seine Rundfunksendungen nach Deutschland sowie die zahllosen Vorträge in den USA mit großen Hörergemeinden einerseits und andererseits zahlreiche Bürgschaften (Affidavits) für die Schicksalsgenossen, u.  a. Siegfried Kracauer, Hermann Broch und Karl Wolfskehl im fernen Neuseeland, sind dafür nur einige Beispiele. Als einer der einführenden Beiträger skizziert Vaget die fremdelnde Annährung Manns an die USA, seine anfängliche Unkenntnis der amerikanischen Literatur, die sich ihm langsam über das neue Medium des Films erschloss. Manns Einfluss auf die jüngere Generation wird an den Beispielen Gore Vidal und Susan Sontag illustriert, wobei neue Archivfunde über den Besuch der letzteren als junge Studentin beim Autor des von ihr verklärten Magic Mountain in Pacific Palisades 1949 einige unbekannte Facetten beleuchten. Diese und einige andere solcher kleinen Aperçus, so etwa die Ankunft seines bürgerlichen Interieurs aus der Schweiz in Princeton, ohne dessen Umgebung Mann offenbar nicht die nötige Kreativität entwickelte, zeigen, dass der sattsam bekannten Biographie Manns immer wieder originelle Details abzugewinnen sind. Obwohl bekannt, gehören ebenso Manns Unbehagen über die USA zur Zeit der McCarthy-Jahre und dann bei Ausbruch des Korea-Krieges 1950 – ausführlich in den Tagebüchern reflektiert – und der darauf beruhenden resignierten Stimmung zu den lesenswerten Passsagen: „Warum soll ich nicht zugrunde gehen? Mein Leben ist ausgelebt. Angenehm war es nicht. Und K[atja] und Erika hängen, glaube ich, noch weniger am Leben, als ich“ (29. 11. 1950). Zu den dokumentierten Schwerpunkten des Bandes gehören weiterhin die in den USA entstandenen großen Romane, der letzte Band der Joseph-Tetralogie, der Doktor Faust oder Der Erwählte, deren Aktualitätsbezüge angesprochen werden. Den Abschluss des Bandes bilden Berichte über die wichtigsten Archive mit umfangreicheren Thomas Mann-Beständen, wobei die über die Mann-Sammlungen in den USA, insbesondere die in der Beinecke Rare Book Library an der Yale University vom Umfang und der Materialqualität her besonders substanziell sind.

Jakob Lehr

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Anat Feinberg: Wieder im Rampenlicht. Jüdische Rückkehrer in deutschen Theatern nach 1945. Göttingen (Wallstein) 2018. 336 S. Ohne Rückkehr  – ob erträumt, geplant, realisiert oder gescheitert  – ist Exil nicht zu denken. Wie sehr das Festhalten an der Idee einer Rückkehr das Exil von anderen Formen der Migration unterscheidet, hat niemand prägnanter formuliert als der (spätere) Rückkehrer Bertolt Brecht. In seinem Gedicht Über die Bezeichnung Emigranten schreibt er 1937 im dänischen Exil: „Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm. / Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen  / Wartend des Tags der Rückkehr“. Trotz dieser geradezu konstitutiven Rolle, die Rückkehr für ein exilisches Bewusstsein spielt, hat es lange gedauert, bis die deutsche Exilforschung den Blick auf die Zeit nach 1945 gerichtet und die Remigration in ihren historischen und soziologischen aber auch literarischen und anderweitig künstlerischen Dimensionen als integralen Bestandteil ihres Gegenstandes erkannt hat (vgl. Band 9/1991 dieses Jahrbuchs). In diesem sich sowohl durch Überblicksdarstellungen als auch diverse Einzelstudien insbesondere seit den 2000er Jahren immer stärker konturierendem Teilgebiet der Exilforschung platziert Anat Feinberg ihre aktuelle Studie zu jüdischen Rückkehrer*innen in deutschen Theatern nach 1945. Diese Gruppe stand – wie viele Arbeiten zum Exiltheater zu Genüge gezeigt haben – in einem berufsbedingt besonders innigen Verhältnis zur deutschen Sprache, sodass sich bei ihnen die Frage einer möglichst raschen Rückkehr an die deutschsprachigen Bühnen nach Kriegsende mit Nachdruck stellte. Zugleich standen sie, einmal zurückgekehrt, stärker im „Rampenlicht“ der öffentlichen Aufmerksamkeit als andere Remigrierte, wodurch auch das Verhältnis zu den ‚Dagebliebenen‘ besonders beleuchtet wird. Informationen über rund 200 remigrierte Theaterkünstler*innen, die sich größtenteils aus Primärquellen wie Nachlässen, Briefwechseln, zeitgenössischen Pressetexten und Autobiografien sowie Gesprächen mit einigen der Betroffenen speisen, bilden die Materialgrundlage von Feinbergs Herangehensweise, die dezidiert „die individual- mit der kollektivbiografischen Perspektive“ verbindet (8). Diesem Anspruch trägt die Studie gleich zu Beginn durch einige quantitative Aussagen zur deutschsprachigen jüdischen Theaterremigration Rechnung (14–15). Allerdings beschränkt sich die Untersuchung auf Personen, die bis 1933 im Gebiet des Deutschen Reiches am Theater tätig waren und nach 1945 in das Gebiet von BRD und DDR zurückkehrten (vgl. die „Kriterien“, 8–13). Auf die dahingehend klärende Einleitung folgt ein fast 100 Seiten umfassendes Überblickskapitel, das einen Bogen spannt von den ersten Aufrufen zur Rückkehr über die Herausforderungen der faktischen Rückkehr und die widersprüchliche Wiederbegegnung mit Deutschland auf und jenseits der Bühne bis https://doi.org/10.1515/9783110542103-026

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zur Erkenntnis, dass der Bruch im Leben der Exilierten auch durch eine vermeintlich erfolgreiche Rückkehr nie vollständig zu kitten ist. Viele bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten kommen hier zu Wort, darunter wiederholt der bereits umfangreich beforschte Fritz Kortner sowie der Schauspieler und (Opern-)Regisseur P. Walter Jacob, zu dessen Remigrationszeit ebenfalls 2018 im Verlag Waxmann eine umfangreiche Einzelstudie erschienen ist. Feinbergs Überblick zeichnet sich dadurch aus, dass er ein über die zur Debatte stehende, sehr spezielle Gruppe von Rückkehrer*innen weit hinausgehendes Bild der deutschen Nachkriegsgesellschaft zeigt und zahlreiche grundsätzliche, auf andere Bereiche des Kulturlebens übertragbare Fragen aufwirft. Hierzu gehören etwa die Instrumentalisierung der Zurückkehrenden als „Reklame-Juden“ (Walter Wicclair), die Wahrnehmung des zerstörten Deutschlands durch die ‚Heimkehrenden‘, der Umgang mit Schuld und Erinnerung sowie die Rolle jüdischer Figuren (Shylock, Nathan, Mamlock) auf deutschen Nachkriegsbühnen. In den sich anschließenden Fallstudien blickt Feinberg noch einmal etwas genauer auf vier bereits im ersten Kapitel häufiger auftretende Figuren: Ernst Deutsch, Steffie Spira, Herbert Grünbaum und Claudius Kraushaar. Dabei beleuchtet jeder Einzelfall nicht nur ein individuelles Rückkehr-Schicksal, sondern erörtert exemplarisch einen übergeordneten Aspekt: die problematische Verschmelzung von Person und Rolle beim „Film- und Bühnenjuden“ Deutsch, die Besonderheiten einer Rückkehr in die SBZ/DDR bei der „Volksschauspielerin“ Spira, die ideologischen Implikationen einer Abkehr vom Staat Israel beim „Jecken“ Grünbaum und zuletzt den mühsamen juristischen Kampf um Restitution beim einstigen „König des Theaters“ Kraushaar. Es sind vier Lebenswege von vielen, die deutlich zeigen, dass selbst unter Theaterkünstler*innen, die im Vergleich zu anderen Gruppen signifikant eher nach Deutschland zurückkehrten, die historische Zäsur 1945 noch lange nicht das ‚Ende des Exils‘ markiert. Von einem Brecht’schen „Du kehrst morgen zurück“ kann angesichts der zahlreichen Hürden auch nach Kriegsende allenfalls als motivierendem Wunschtraum die Rede sein. Ihrer konsequent durchgehaltenen Spannung zwischen den akribisch recherchierten Einzelfällen, all den individuellen Versuchen, den „Interimszustand“ (P. Walter Jacob) des Exils möglichst rasch zu beenden, auf der einen und den daran zutage tretenden allgemeinen Aspekten des Zurückkehrens auf der anderen Seite verdankt Feinbergs Studie sowohl ihre Lesbarkeit als auch ihre Anschlussfähigkeit. Indem sie der Kombination aus exemplarischen Einblicken und übergreifenden Fragestellungen den Vorzug vor einer allzu kleinteiligen, rein deskriptiven Dokumentation gibt, gewinnt die Studie an argumentativer Schärfe und lädt zudem zukünftige Forschungsprojekte zur Fortsetzung und Vertiefung des eingeschlagenen Weges ein. Die umfassende Liste von Kurz-

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biografien remigrierter jüdischer Theaterkünstler*innen im Anhang (307–326) mag hier ebenso als Wegweiser dienen wie die eingangs explizit ausgeschlossenen geo- und biografischen Parameter (z.  B. Österreich als ausschließlicher Wirkungsort).

Sebastian Schirrmeister

Ausgewiesen! Berlin, 28.  10. 1938. Die Geschichte der „Polenaktion“, hg. von Alina Bothe und Gertrud Pickhan unter Mitarbeit von Christine Meibeck. Berlin (Metropol) 2018, 296 S., zahlr. Abb. Als am 7. 11. 1938 Hermann (Herszel) Grünspan in Paris auf den Gesandschaftsrat vom Rath schoss, der am nächsten Tag den Verletzungen erlag, nutzte das Nazi-Regime in Deutschland diesen Vorfall, um jenen scheinbar spontanen „Volkszorn“ zu inszenieren, der als „Reichspogromnacht“ vom 9. November im Gedenken präsent ist. Selten wird erwähnt, weshalb Grünspan dieses Attentat verübte: wegen der Deportation seiner Eltern aus Hannover. Welche „Deportation“ damit gemeint war, wurde bisher noch zu selten einer genaueren Untersuchung unterzogen. Anlässlich einer Ausstellung im Berliner Centrum Judaicum geht erstmals ein deutsch-polnisches Projekt dieser „Polenaktion“ nach, bei der von den nationalsozialistischen Behörden 17.000 als „polnisch“ erklärte Juden aus Deutschland ausgewiesen wurden  – wie sich zeigen sollte, der Auftakt zu den späteren Deportationen des Holocaust. In Berlin wurden sie von Gestapo, Polizei und SS-Angehörigen mit Gewalt zum Alexanderplatz gebracht, von wo sie mit dem Zug an die damalige Grenze bei Neu-Bentschen (Zbąszyń) transportiert wurden. Die völlig überraschten polnischen Grenzbeamten wollten die etwa 7.000 Menschen nicht die Grenze überschreiten lassen, so dass die Ausgewiesenen zunächst im „Niemandsland“ kampieren mussten, bevor sie in den kleinen Ort gelassen wurden. Dort erfuhren sie Hilfe sowohl von der örtlichen Bevölkerung als auch von polnischen jüdischen Organisationen, die das JOINT (American Jewish Joint Distribution Committee) alarmiert hatten. Die Beiträge des Bandes machen auf zwei Textebenen die Hintergründe dieser „Polenaktion“ sichtbar: Aufsätze von Antony Polonsky und Włodzimierz Borodziej gehen detailliert der Lage der Juden in Polen nach, insbesondere ihrem rechtlichen Status, den Miriam Rürup durch Überlegungen zum Staatsbürgerdiskurs bezüglich der Juden in Deutschland ergänzt. Michal Frankl beschreibt https://doi.org/10.1515/9783110542103-027

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den Kontext der anderen „Niemandsländer“ in jener Zeit in Ostmitteleuropa, die durch den Anschluss Österreichs und andere Grenzverschiebungen (z.  B. Slowakei-Ungarn, Sudetenland) entstanden waren. Christine Fischer-Defoy hebt den bekanntesten Fall der Ausweisung hervor – den von Marcel Reich-Ranicki, Kristina Vagt macht auf die Unterschiede der Hamburger (dort wurden auch die Ehefrauen und Töchter deportiert) zu den Berliner Vorgängen aufmerksam, die weitere Forschungen notwendig machen. Wenig bekannt ist über den polnischen Konsul in Leipzig, der das Konsulatsgelände für über 1.000 Menschen öffnete, um sie vor der Deportation zu schützen. Die weiteren Beiträge von Wolf Gruner, Malte Beeker und Christoph Kreutzmüller, Chana Schütz, Akim Jah vertiefen den Blick auf die nationalsozialistischen Strategien zur Vertreibung und letztlichen Vernichtung der Juden in Deutschland. Ein Gespräch mit dem Fotografen Wojciech Olejniczak verdeutlicht die Präsenz der damaligen Ereignisse im heutigen Zbąszyń. Aus der wissenschaftlichen Darstellung wird deutlich, dass die unmittelbaren Voraussetzungen des Geschehens bis in den März 1938 reichen, als die polnische Regierung nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland ein Gesetz erließ, das alle BürgerInnen außerhalb des Landes zwang, sich innerhalb kurzer Zeit bei den polnischen Behörden zu melden, wenn sie ihre Staatsbürgerschaft nicht verlieren und staatenlos werden wollten. Das Gesetz trat erst im Oktober in Kraft und bot den Nazi-Behörden Gelegenheit, durch Ausweisung der vielfach längst gut situierten kleinen Geschäftsleute ihre Politik der Diskriminierung und Beraubung zu forcieren. Von Studierenden erarbeitete Fallbeschreibungen gehen auf der zweiten Ebene dem Schicksal einiger Berliner Familien im Detail nach. Daran lässt sich ablesen, dass wenig später in Polen viele der Ausgewiesenen vom Überfall der Wehrmacht überrascht wurden und nicht mehr den Mordplänen der Deutschen entkommen konnten. Diese 15 Detailschilderungen der Familienschicksale aus Berlin verdienen, besonders hervorgehoben zu werden. Ihr emphatischer Blick aufgrund der Kontaktaufnahme mit Nachkommen von Überlebenden und der Heranziehung bisher kaum ausgewerteter Akten der Entschädigungsverfahren in der BRD zeigt die unerträgliche Grausamkeit der deutschen Behörden und der Nazi-Schergen sowie die tiefe Prägung der Überlebenden durch das erlebte Geschehen.

Markus Bauer

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Jacques Semelin: Das Überleben von Juden in Frankreich 1940–1944. Vorwort von Serge Klarsfeld. Aus dem Französischen übersetzt von Susanne Wittek. Göttingen (Wallstein) 2018. 364 S. Nach Michael Marrus’ und Robert Paxtons Schlüsselwerk Vichy France and the Jews von 1983 war das 1940 von der deutschen Wehrmacht eroberte und in einen besetzten und einen unbesetzten Teil aufgeteilte Land stark antisemitisch geprägt. Die Autoren hatten ausgeführt, dass die Verfolgungen und Deportationen der jüdischen Bevölkerung weitgehend selbständig von der französischen Polizei auch in den unbesetzten Landstrichen unter der Präsidentschaft des greisen Marschalls Petain aus dem Ersten Weltkrieg und seiner Regierung in Vichy exekutiert worden waren. In seiner bahnbrechenden Detailstudie über Vichy – Auschwitz. Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich (1989) hatte wenig später Serge Klarsfeld die Frage aufgeworfen, warum in Frankreich im Verhältnis zu den anderen vom Deutschen Reich okkupierten Staaten die Zahl der Opfer dennoch vergleichsweise gering gewesen ist. Eine Antwort darauf gibt jetzt Jacques Semelin als Historiker und gelernter Psychologe mit überzeugender Klarheit anhand einer Unzahl dokumentarischer Belege, inzwischen vorliegender Detailforschungen sowie in den Text eingeschossener persönlicher Berichte von betroffenen Zeitzeugen. Von den 1940 in Frankreich lebenden ca. 330.000 Juden, davon 190.000 bis 200.000 einheimische und 130.000 bis 140.000 Ausländer, sind etwa 80.000 Opfer der Shoah geworden, das sind etwa 25 Prozent. Auffallend ist, dass unter der großen Mehrheit der Überlebenden 75 Prozent etwa 90 Prozent einheimische Juden gegenüber 60 Prozent der Ausländer waren. Sie gehörten zu der großen Zahl der nicht eingebürgerten Immigranten der 1920er Jahre aus den europäischen Ostgebieten und der 1930er Jahre aus dem NS-Herrschaftsbereich, die Frankreich vor Beginn des Zweiten Weltkriegs zum wichtigsten Zufluchtsland machten, umgeben von den drei faschistischen Staaten Deutschland, Italien und Spanien. Vor diesem Hintergrund erwies sich der für Frankreich typische traditionelle Antisemitismus (Affäre Dreyfus), so der Autor, in Vielem eher als Fremdenfeindlichkeit. Ohne die Verfolgungen, Deportationen, den ideologischen Antisemitismus oder die aus der Bevölkerung kommenden Denunziationen, diese allerdings vergleichsweise gering, zu beschönigen, interessieren Semelin allerdings mehr die gegenläufigen Tendenzen, denen die „nicht deportierten Juden“ ihr Leben verdanken; der Autor unterscheidet sie von den „Überlebenden“. Entscheidend dafür nennt er strukturell das Fortbestehen des Staates als Gegenmacht zur Besatzungsherrschaft, die ihre unterschiedlichen Anordnungen deshalb auch dilatorisch behandeln mussten. Kulturell spielte das republikanische Erbe mit seiner Alltagsethik sowie das Christentum trotz religiösem Antisemitismus im ländlichen Raum mit der Idee der Barmherzigkeit eine starke Rolle. Der Schock https://doi.org/10.1515/9783110542103-028

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im großen Teil der Bevölkerung über die Niederlage machte die Besatzer mit ihren Anordnungen zu Gegnern, die Verfolgungen unschuldiger Frauen und Kindern mobilisierte offene, mehr aber noch clandestine Widerstandsstrategien. Bischöfliche Hirtenbriefe verhallten nicht ungehört und die Angriffe auf Wehrlose aktivierten Mitleid und Anteilnahme in der Bevölkerung. Im ländlichen Raum der unbesetzten Zone fanden städtische Juden aus den besetzten nördlichen Gebieten in nicht geringem Umfang Unterschlupf, Kost und Logis wurden durch Mitarbeit in der Landwirtschaft verdient. All dies führte zur Auflösung mentaler oder emotionaler Fronten, wie der Autor am Beispiel zahlreicher von ihm sogenannter „kleinen Gesten“ belegt. Hervorstechendes Merkmal der Zwangssituationen sei eine ungeheure Mobilität gewesen, die etwa ein Drittel aller Franzosen ergriffen habe. Hierbei werden auch die nicht geringen Fluchtbewegungen in die Schweiz und nach Spanien beleuchtet. Mit einer Vielzahl von weiteren Reaktionen seitens der Betroffenen auf die Verfolgungen, etwa gewählter Illegalität, mit falschen Papieren oder Konversionen, ebenso Beispielen fremder Hilfen für die Verfolgten durch Schutzgewährung, sogar auch des staatlichen Handelns  – in der unbesetzten Zone ist das Tragen des Gelben Sterns seit Mai 1942 nicht angeordnet worden, jüdische Bankkonten wurden dort nicht gesperrt – entfaltet der Band ein eindrucksvolles Spektrum der vielschichtigen „sozialen Reaktivität“ der französischen Gesellschaft mit ihrer vielfach intakten Alltags-Zivilität und ihrem hilfsbereiten Sozialgefüge auf die Verfolgungen. Er nuanciert damit facettenreich die französischen Reaktionen auf die NS-Herrschaft. Zu erwähnen ist nicht zuletzt die umsichtige Übersetzung des Textes ins Deutsche.

Claus-Dieter Krohn

V Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren

Sonja Arnold, Dr. phil., Studium der Germanistik, Anglistik und Hispanistik in Freiburg i. Br.; Promotion 2011 mit einer Arbeit zum autobiografischen Gedächtnis im Prosawerk Max Frischs; Lektorin des DAAD an der Universidade Federal do Rio Grande do Sul in Porto Alegre, Brasilien; Postdoc-Projekt zur Rezeption brasilianischer Literatur in Deutschland; Mitarbeiterin an der Bergischen Universität Wuppertal. Aktuell wissenschaftliche Koordinatorin der Projekte „Global Archives“ und „1968: Ideenkonflikte in globalen Archiven“ am Deutschen Literaturarchiv Marbach. Arbeitsschwerpunkte sind: Gegenwartsliteratur, Autobiografik, Literatur und Recht, interkulturelle Literatur und Exilliteratur. Aktuelle Publikationen: Romanisch-Germa­ nische ZwischenWelten. Exilliteratur als Zeugnis und Motor einer vernetzten Welt, hg. mit Lydia Schmuck. Berlin 2019; Sich selbst erzählen. Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft, hg. mit Stephanie Catani, Anita Gröger, Christoph Jürgensen, Klaus Schenk und Martina Wagner-­ Egelhaaf. Kiel 2018. Sylvia Asmus, Dr. phil., Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Kunstpädagogik in Frankfurt a. M., Studium der Bibliothekswissenschaft in Berlin, 2010, Promotion. Seit 2011 Leiterin des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 und des Ausstellungsbereichs der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt a. M., in dieser Zuständigkeit verantwortlich für Publikationen und Ausstellungen zu Themen des Exils; Ausstellungen (in Auswahl): Exil. Erfahrung und Zeugnis. Dauerausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, 2018; „… mehr vorwärts als rückwärts schauen …“ – Das deutschsprachige Exil in Brasilien 1933–1945. Ausstellung in Kooperation mit Marlen Eckl, 2013; Fremd bin ich den Menschen dort. In Kooperation mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, 2012; Publikationen (Auswahl): Exil. Erfahrung und Zeugnis | Exile. Experience and Testimony. Deutsches Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek. Göttingen 2019; „… mehr vorwärts als rückwärts schauen …“ – Das deutschsprachige Exil in Brasilien 1933–1945, hg. mit Marlen Eckl. Berlin 2013; So wurde ihnen die Flucht zur Heimat. Soma Morgenstern und Joseph Roth, eine Freundschaft, hg. mit Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos. Bonn 2012; Rudolf Olden. Journalist gegen Hitler, Anwalt der Republik, hg. mit Brita Eckert. Frankfurt a. M. 2010. Kaya Behkalam, Ph.D., Studium der Medienkunst und der Visuellen Kommunikation an der Bauhaus Universität Weimar und der Universität der Künste Berlin. Promotion 2018 bei Knut Ebeling mit der künstlerisch-wissenschaftlichen Arbeit Seeing History – The Augmented Archive. Lebt als freier Künstler und Autor zwischen Kairo und Berlin. Von 2011 bis 2015 war er Professor für zeitgenössische Kunst an der American University in Cairo und Leiter der Sharjah Art Gallery. Er ist Mitherausgeber der Publikationsreihe AUC_LAB Notes on Practices im Revolver-Verlag über zeitgenössische Kunstpraxis in Kairo. Seine künstlerischen und filmischen Arbeiten wurden unter anderem im Haus der Kulturen der Welt gezeigt, der Berlinischen Galerie, Martin-Gropius-Bau in Berlin, Queens Museum New York, Reina Sofia Madrid, Kunstverein Heidelberg, 3. Guangzhou Triennial und IDFA Amsterdam. Nicolas Berg, Dr., Studium der Geschichte, Germanistik und Slawistik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Staatsexamen 1995; 2001 Promotion im Fach Neuere und Neueste Geschichte in Freiburg; seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow in Leipzig, seit 2003 in leitender Funktion. Er steht dem Forschungsressorts „Wissen“ vor und gehört dem Redaktionskreis von „Jüdische Geschichte & Kultur – Magazin des Dubnow-Instituts“ an. Gastprofessur für interdisziplinäre Holocaustforschung am Fritz Bauer Institut der Goethe-Universität in Frankfurt am Main (WS 2015/16). https://doi.org/10.1515/9783110542103-029

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 Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren

Publikationen u.  a.: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung. 3. Auflage, Göttingen 2004; Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. 2. Auflage, Göttingen 2014; Textgelehrte. Literaturwissenschaft und literarisches Wissen im Umkreis der Kritischen Theorie, hg. mit Dieter Burdorf. Göttingen, Bristol/Conn. 2014; Konstellationen. Über Geschichte, Erfahrung und Erkenntnis. Festschrift für Dan Diner zum 65. Geburtstag, hg. mit Omar Kamil, Markus Kirchhoff u.  a. Göttingen, Oakville/Conn. 2011; Kapitalismusdebatten um 1900. Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen (Hg.). Leipzig 2011; „Judenforschung“. Zwischen Wissenschaft und Ideologie, Schwerpunkt in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 5 (2006), hg. mit Dirk Rupnow, S. 257–598; Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst, hg. mit Jess Jochimsen und Bernd Stiegler. München 1996. Doerte Bischoff, Prof. Dr., Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Münster, Tübingen und St. Louis, Doktorandin am Graduiertenkolleg „Theorie der Literatur und Kommunikation“ in Konstanz, 1999 Promotion in Tübingen, 2009 Habilitation in Münster, 2010 Professur in Siegen, seit 2011 Professur in Hamburg mit Leitung der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, Mitherausgeberin des Jahrbuchs Exilforschung, Forschungsschwerpunkte: Literatur und Exil, Deutsch-jüdische Literatur, Shoah-Erinnerung, Literatur und materielle Kultur, Gender, Rhetorik; Aktuelle Publikationen: Handbuch Literatur & Transnationalität, hg. mit Susanne Komfort-Hein. Berlin 2019; Mobile Identitäten: Figurationen in der zeitgenössischen europäisch-jüdischen Literatur (Jahrbuch für europäisch-jüdische Literaturstudien), hg. mit Anja Tippner. Berlin 2018; Exilforschung 36 (2018): Ausgeschlossen. Staatsbürgerschaft, Staatenlosigkeit und Exil, hg. mit Miriam Rürup; Fluchtgeschichten. Narrative Grenzerkundungen angesichts von Emigration und Exil, hg. mit Johannes Evelein und Simona Leonardi, in: Akten des XIII. Internationalen Germanistenkongresses Shanghai 2015 – Germanistik zwischen Tradition und Innovation, hg. von Jianhua Zhu u.  a., Bd. 9, Frankfurt a. M. u.  a. 2017; Exil – Literatur – Judentum. München 2016; Literatur und Exil. Neue Perspektiven, hg. mit Susanne Komfort-Hein. Berlin, New York 2013; Exilforschung 32 (2014): Sprache(n) im Exil, hg. mit Christoph Gabriel und Esther Kilchmann; Exilforschung 31 (2013): Dinge des Exils, hg. mit Joachim Schlör. Rafael Cardoso, Prof. Dr., BA in Sociology from the Johns Hopkins University (1985), MA in Art History from Universidade Federal do Rio de Janeiro (1991), PhD in Art History from the Courtauld Institute of Art (1995). Assistant and associate professor successively at Universidade do Estado do Rio de Janeiro and Pontifícia Universidade Católica do Rio de Janeiro from 1996 to 2012. Presently, honorary professor at Universidade do Estado do Rio de Janeiro (Programa de Pós-Graduação em História da Arte) and research associate at Freie Universität Berlin (Lateinamerika-Institut). Author of numerous articles and books on the history of Brazilian art and design, 19th and 20th centuries. Also active as an independent curator and author of four works of fiction, of which two have been translated into German: Sechzehn Frauen (2013) and Das Vermächtnis der Seidenraupen (2016), both published by S. Fischer. Burcu Dogramaci, Prof. Dr., Studium der Kunstgeschichte und Germanistik in Hamburg. 2000 Promotion. 2005 Förderpreis des Aby M. Warburg-Preises. 2007 Habilitation. 2008 KurtHartwig-Siemers-Wissenschaftspreis. Seit 2009 Professorin für Kunstgeschichte an der LudwigMaximilians-Universität München. 2016 ERC Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrates. Mitherausgeberin des Jahrbuchs Exilforschung. Forschungen zu Exil und Migration, Stadt und Architektur, Fotografie, Skulptur, Mode. Aktuelle Publikationen: Handbook of Art

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and Global Migration. Theories, Practices, and Challenges, hg. mit Birgit Mersmann. Berlin, Boston 2019; A Home of One’s Own. Emigrierte Architekten und ihre Häuser 1920–1960. Émigré Architects and their Houses. 1920–1960, hg. mit Andreas Schätzke. Stuttgart 2019; Fotografie der Performance. Live Art im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit. Paderborn 2018; Passagen des Exils / Passages of Exile (Jahrbuch Exilforschung, 35), hg. mit Elizabeth Otto. München 2017; Heimat. Eine künstlerische Spurensuche. Köln 2016. Knut Ebeling, Prof. Dr., ist Professor für Medientheorie und Ästhetik an der weißensee kunsthochschule berlin. Studium der Philosophie, Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin und Paris, Arbeitsfelder: moderne und zeitgenössische Philosophie, ästhetische Theorien, Medien des kulturellen Gedächtnis (Archiv, Sammlung, Museum), Theorie, Ästhetik und Epistemologie der materiellen Kultur, Archäologie der zeitgenössischen Kunst. Publikationen: There Is No Now. An Archaeology of Contemporaneity. Berlin 2017; Wilde Archäologien 2. Begriffe der Materialität der Zeit von Archiv bis Zerstörung. Berlin 2016; Wilde Archäologien 1. Theorien materieller Kultur von Kant bis Kittler. Berlin 2012; Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, hg. mit Stephan Günzel. Berlin 2009; Das Archiv brennt (mit Georges Didi-Huberman). Berlin 2007; Die Aktualität des Archäologischen – in Wissenschaft, Medien und Künsten, hg. mit Stefan Altekamp. Frankfurt a. M. 2004. Natalie Eppelsheimer, Prof. Dr., Studium der Anglistik und Biologie in Bonn und Studium der Germanistik in Tucson und Irvine. Promotion 2008 an der University of California, Irvine. Seit 2008 ist sie am Middlebury College tätig, wo sie deutsche Sprache sowie Literatur- und Kulturkurse zu den Themen Exil, Flucht und Vertreibung und Holocaust-Erinnerung wie auch zum Thema Nachhaltigkeit unterrichtet. Aktuelle Publikationen: Roads Less Traveled: GermanJewish Exile Experiences in Kenya 1933–1947. Oxford 2019; „A World, Where Butchers Sing Like Angels“: German Poetry, Music, and (Counter)History in Louise Erdrich’s The Master Butchers Singing Club. In: SAIL-Studies in American Indian Literature, 27 (2015), H. 3; „Man ist, was man isst!“ Karen Duves Anständig Essen: Ein Selbstversuch im Kontext der Entwicklung von Umweltkompetenz. In: Almut Hille, Sabine Jambon und Marita Meyer (Hg): Globalisierung – Natur – Zukunft Erzählen: Aktuelle Deutschsprachige Literatur für die Internationale Germanistik und das Fach Deutsch als Fremdsprache. München 2015; Claiming the Language Ecotone: Translinguality, Resilience, and the Environmental Humanities (mit Uwe Küchler und Charlotte A. Melin). In: Resilience: A Journal of the Environmental Humanities 1 (2014), H. 3. Gesa Jeuthe, Jun.-Prof. Dr., Studium der Kunstgeschichte und Betriebswirtschaftslehre in Berlin. 2008 Promotion. Von 2008 bis 2016 wiss. Mitarbeiterin u.  a. bei der Arbeitsstelle für Provenienzrecherche/-forschung am Institut für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin, der Stiftung Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, und der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg. Seit 2017 Liebelt-Stiftungsprofessur für Provenienzforschung in Geschichte und Gegenwart an der Universität Hamburg. Forschungen zum Kunstmarkt, zur Aktion „Entartete Kunst“ und im Bereich Provenienzforschung. Publikationen u.  a.: „Es tut mir weh, mich so zu beschränken.“ Die Bedingungen für den Handel mit moderner Kunst im Nationalsozialismus am Beispiel der Galerie Alex Vömel in Düsseldorf. Berlin 2017; Kunstwerte im Wandel. Die Preisentwicklung der deutschen Moderne im nationalen und internationalen Kunstmarkt 1925 bis 1955. Berlin 2011; „… der arme Vincent!“ Van Goghs Selbstbildnis von 1888 und die „Verwertung“ der „entarteten“ Kunst. Berlin 2009.

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 Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren

Imme Klages, Dr. phil., Studium der Film-, Theater- und Geschichtswissenschaft an der Ruhr-Universität in Bochum. Promotion an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Filmwissenschaft am Institut für Film-, Theater-, Medien und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte im Bereich Film- und Mediengeschichte, Digitale Geisteswissenschaften, deutsches Filmexil 1933–1945. Publikationen u.  a.: I do not get rid of the ghosts. Zur Exilerfahrung in den Filmen Fred Zinnemanns: „The Search“ (1948), „The Nun’s Story“ (1959) und „Julia“ (1977). Marburg 2018; Reflexionen des beschädigten Lebens? Nachkriegskino in Deutschland zwischen 1945 und 1962, hg. mit Bastian Blachut und Sebastian Kuhn. München 2015. Heike Klapdor, Dr. phil., Studium der Germanistik, Politologie und Theaterwissenschaft in Tübingen und Berlin, 1983 Promotion mit einer Studie über Heldinnen im Drama des Exils. Freie wissenschaftliche Autorin, zahlreiche Publikationen zu den Themen Frauen, Exil, Film und Literatur, u.  a. im Internationalen Jahrbuch für Exilforschung (Bd. 3/1985, Bd. 11/1993, Bd. 21/2003), zuletzt: Automatenbüfetts. In: Veronika Zwerger, Ursula Seeber (Hg.): Küche der Erinnerung. Essen und Exil. Wien 2018; „Ein Traum, was sonst?“ Manfred Noas Lessing-Film Nathan der Weise (1922). In: Hans-Michael Bock u.  a. (Hg.): Gegenwart historisch gesehen. Kultur und Politik 1789–1848 filmisch reflektiert. München 2018; Mitherausgeberin der Zeitschrift FilmExil, zuletzt: Grenzüberschreitungen. Migrantinnen und Migranten als Akteure im 20. Jahrhundert. München 2019. 2016 Auszeichnung mit dem Reinhold Schünzel-Preis für Verdienste um das deutsche Filmerbe. Sebastian Schirrmeister, Dr. phil., Studium der Jüdischen Studien und Literaturwissenschaft (Germanistik) in Potsdam und Haifa. M.A. 2011; wiss. Mitarbeiter am Institut für Germanistik und der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur der Universität Hamburg 2011–2019; Joseph Carlebach-Preis für herausragende wissenschaftliche Beiträge zur jüdischen Geschichte, Religion und Kultur 2013; Doctoral Research Fellow am Rosenzweig-Center in Jerusalem 2014; Promotion in Hamburg 2017; Postdoc-Fellow für Modern Jewish Studies am Lichtenberg-Kolleg Göttingen ab 2019. Veröffentlichungen: Begegnung auf fremder Erde. Verschränkungen deutsch- und hebräischsprachiger Literatur in Palästina/ Israel nach 1933. Stuttgart u.  a. 2019; Das Gastspiel. Friedrich Lobe und das hebräische Theater 1933–1950. Berlin 2012; Aufsätze und Rezensionen u.  a. in Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, JUDAICA, Leo Baeck Institute Yearbook, Naharaim, PaRDeS, Trumah; Übersetzungen aus dem Hebräischen. Lydia Schmuck, Dr. phil. Studium der Soziologie, Germanistik und Portugiesischen Philologie in Trier und Lissabon. 2009 Promotion in Iberoromanistik an der Universität Basel mit einer Arbeit zur literarischen Konstruktion des Kulturkontakts und -konflikts auf der Iberischen Halbinsel. 2010 bis 2012 Mitarbeiterin im Kompetenzzentrum „Kulturelle Topographien“ der Universität Basel. 2012 bis 2015 DFG-Projekt zum Europabild im spanischen und portugiesischen Essay an der Universität Hamburg. Seit Juni 2016 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Literaturarchiv Marbach, zunächst als Koordinatorin des Projekts „Global Archives“, seit Mai 2017 als Postdoktorandin im Internationalen Archivforschungsprojekt „1968: Ideenkonflikte in globalen Archiven“. Bisherige Buch-Publikationen zum Exil: Europa im Spiegel von Migration und Exil: Projektionen – Imaginationen – Hybride Identitäten, hg. mit Marina Corrêa. Berlin 2015; Romanisch-Germanische ZwischenWelten. Exilliteratur als Zeugnis und Motor einer vernetzten Welt, hg. mit Sonja Arnold. Berlin 2019.

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Alexandra Schneider, Prof. Dr., Professorin für Filmwissenschaft mit Schwerpunkt Medien­ dramaturgie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte im Bereich Film- und Mediengeschichte, Medienarchäologie, digitales Erzählen, Amateurfilm und globale Medienindustrien. Publikationen u.  a. als Mitherausgeberin: iGEN CINEMA Moving Image Consumption and Production by Post-Millennials. In: Comunicazione sociali, 2 (Mailand 2018); Waste, necsus#4 (mit Wanda Strauven). In: European Journal of Media Studies 2 (2013), H. 2, http://www.necsus-ejms.org/portfolio/autumn-2013_waste. Sibylle Schönborn, Prof. Dr., ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Heinrich-­ Heine-Universität Düsseldorf und Leiterin des Max-Herrmann-Neiße-Instituts. In dieser Funktion gibt sie die Kritiken und Essays. Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften 1909–1941 von Max Herrmann-Neiße in der Printversion heraus und leitet das DFG-Projekt zur weiteren digitalen Erschließung der Texte. Darüber hinaus plant sie die digitale Edition der Briefe an Max Herrmann-Neiße. Zuletzt hat sie Aufsätze zu Arthur Silbergleit, Else Lasker-Schüler und Grete Weil publiziert. Christoph Stölzl, Prof. Dr., Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar und Gründungsdirektor des Exilmuseums Berlin. Der Kulturhistoriker und Kulturpolitiker war Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums in Berlin und hat viele große Ausstellungen zur europäischen Kultur- und Kunstgeschichte veranstaltet. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen zur Geschichte, Kultur und Kunst Europas findet sich auch das von Bernd Schultz neu aufgelegte Buch zu den Porträtfotos deutscher Emigrant/innen von Stefan Moses, erschienen 2013 im Nimbus Verlag. Es wurde zur Initialzündung für das Exilmuseum. Csaba Szilagyi, MA, Head of the Human Rights Program and Acting Chief Archivist at the Vera and Donald Blinken Open Society Archives at Central European University (CEU) in Budapest. He is a teaching fellow in the “Archives, Evidence and Human Rights” course, the “Archives and Evidentiary Practices Specialization”, and the “Open Learning Initiative Program”, which offers access to higher education for refugees and asylum seekers at CEU. He initiated the “Archives and Refugees Program” to provide archival and informational support to refugees and the creation of the “Refugee DocsMap”, an interactive visual catalog for documentary films on forcibly displaced people. His research interests lie at the intersection of human rights archiving, technology and memory. His latest publication is: Re-archiving mass atrocity records by involving affected communities in postwar Bosnia and Herzegovina. In: Sandra Ristovska, Monroe Price (eds.): Visual imagery and human rights practice. Cham, Switzerland 2018, pp. 131–152. Michaela Ullmann, M.A., Studium der Ethnologie mit besonderer Berücksichtigung der Altamerikanistik, Klassischen sowie Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie in Bonn und Studium der Bibliothekswissenschaften in San José, Kalifornien. Von 2006–2010 Feuchtwanger Kuratorin an der Bibliothek der Universität von Südkalifornien (USC). Seit Juli 2010 Bibliothekarin für Exilwissenschaften an der Bibliothek der USC (tenured seit 2017). Schatzmeisterin der Internationalen Feuchtwanger Gesellschaft (IFS) und Mitarbeit an dem Newsletter der IFS. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Exilanten in Los Angeles und in Südamerika, Integration von Archivrecherche und von Primärquellen in das Universitätsstudium. Mitherausgeberin: Lion Feuchtwanger. Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher. Berlin, 2018; The Devil in France: My Encounter with Him in the Summer of 1940. Los Angeles 2010; Against the Eternal Yesterday: Essays Commemorating the Legacy of Lion Feuchtwanger. Los Angeles 2009.

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 Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren

Weitere Veröffentlichungen: Kurt Enoch – Refugee and Paperback Pioneer (1895–1982), 2015, https://www.immigrantentrepreneurship.org/entry.php?rec=266; Felix Guggenheim: Life and Work on Two Continents. Frankfurt a. M. 2012. Cornelia Vossen, M.A., Kunsthistorikerin und Kuratorin des Exilmuseums Berlin. Gemeinsam mit Christoph Stölzl kuratierte sie 2016 die Ausstellung Harry Graf Kessler. Flaneur durch die Moderne im Max Liebermann Haus am Brandenburger Tor. Ihr Spezialgebiet sind Themenausstellungen und der Einsatz moderner Medien im Museum. Zu ihren Auftraggebern gehören Ausstellungsagenturen wie Triad, Milla & Partner und Tamschick Media + Space ebenso wie die Stiftung Brandenburger Tor, das Bauhaus-Archiv – Museum für Gestaltung oder die Akademie der Künste. Mehr zu ihren Projekten unter www.corneliavossen.de. Daniel Weidner, Prof. Dr., Komparatist und Germanist, Professor für Kulturforschung an der Humboldt-Universität Berlin und stellvertretender Direktor des Leibniz-Zentrums für Literaturund Kulturforschung Berlin, Gastprofessuren in Stanford, Gießen, Basel, Chicago, Zürich, Yale. Arbeitsschwerpunkte: Religion und Literatur, Literaturtheorie und Geschichte der Philologie, Deutsch-Jüdische Literatur. Publikationen u.  a.: Handbuch Literatur und Religion (Hg.). Stuttgart 2016; „Meine Sprache ist Deutsch“. Deutsche Sprachkultur von Juden und die Geisteswissenschaften 1870–1970, hg. mit Stefan Braese. Berlin 2015; Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. mit Robert Buch. Berlin 2014; Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in den Religionen, Wissenschaften und Künsten, hg. mit Stefan Willer. München 2013; Sakramentale Repräsentation. Substanz, Zeichen und Präsenz in der Frühen Neuzeit (mit Stefanie Ertz und Heike Schlie. München 2012; Bibel und Literatur um 1800. München 2011; Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung (Hg.). Frankfurt a. M. 2010; Bibel als Literatur. Eine Anthologie, hg. mit Hans-Peter Schmidt. München 2008; Gershom Scholem: Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben. München 2003. Mitherausgeber von Weimarer Beiträge und Naharaim. Zeitschrift für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte. Mirjam Wenzel, Prof. Dr., Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt und Honorarprofessorin an der Goethe-Universität Frankfurt. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Politik- und Theaterwissenschaft in Berlin und Tel Aviv; 2008 Promotion am Institut für Deutsche Philologie der Universität München. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen zur deutsch-jüdischen Kulturgeschichte, zur Kritischen Theorie und zur Holocaust-Repräsentation, u.  a.: Ludwig Meidner: Expressionismus, Ekstase, Exil – Expressionism, Ecstasy, Exile, hg. mit Erik Riedel. Berlin 2018; Die Frankfurter Judengasse: Geschichte, Politik, Kultur. Katalog zur neuen Dauerausstellung, hg. mit Fritz Backhaus, Raphael Gross, Sabine Kößling. München 2016; Gericht und Gedächtnis: Der deutschsprachige Holocaust-Diskurs der sechziger Jahre. Göttingen 2009; Wonderyears: Über die Rolle des Nationalsozialismus und der Shoah in der israelischen Gesellschaft – New Reflections on the Shoah and Nazism in Israel, hg. mit Tsafrir Cohen und Avi Pitchon. Berlin 2003.