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German Pages 46 [48] Year 1928
PLATONS SELBSTBIOGRAPHIE VON
H. GOMPERZ
1928 BERLIN UND
LEIPZIG
VERLAG W A L T E R D E G R U Y T E R & CO
MEINER L I E B E N M U T T E R
ELISE GOMPERZ ZU IHREM 80. G E B U R T S T A G DEM 12. S E P T E M B E R 1928 ZUGEEIGNET
Vorbemerkung Dieses Schriftchen gibt einen V o r t r a g wieder, den ich am 13. J ä n ner 1928 in der „Philosophischen G e s e l l s c h a f t " an d e r W i e n e r Universität gehalten habe. Bei der A u s a r b e i t u n g f ü r den D r u c k h a t t e ich mich d e r wertvollen U n t e r s t ü t z u n g F r a n z E g e r m a n n s zu e r f r e u e n , auf dessen A n r e g u n g die jetzige F a s s u n g etlicher Stellen z u r ü c k g e h t . I n d e m ich die S c h r i f t a l s selbständige Veröffentlichung ausgehen lasse, möchte ich vor allem „ P i a t o n s Selbstbiographie" allen F r e u n d e n Piatons, j a des griechischen A l t e r t u m s ü b e r h a u p t , zugänglich machen. Überdies a b e r ist sie als eine A r t von Prolegomenon zu einer ausgef ü h r t e r e n D a r s t e l l u n g : „ P i a t o n s philosophisches S y s t e m " zu betrachten, mit der ich in nicht a l l z u f e r n e r Z u k u n f t hervortreten zu können hoffe. W i e n , im A u g u s t 1928
H. G o m p e r z
Auch unter jenen Freunden des klassischen Altertums, die nicht gerade Piatonforscher sind, dürfte es noch immer nicht allgemein bekannt sein, daß wir so glücklich sind, eine Darstellung von Piatons Leben von seiner eigenen Hand zu besitzen — freilich eine Darstellung, die von einem bestimmten Gesichtspunkte aus entworfen ist und einem bestimmten Zwecke dient, die auch sehr zahlreiche Fragen, die wir heute vor allem aufwerfen möchten, unbeantwortet läßt und insbesondere zwei inhaltsreiche Jahrzehnte in Piatons Leben, die Zeit von seinem 40. bis zu seinem 60. Lebensjahre, ganz und gar mit Stillschweigen übergeht. Die Echtheit der unter Piatons Namen überlieferten Briefe und darunter auch des Siebenten, der eben die hier gemeinte autobiographische Darstellung enthält, ist schon im 18. Jahrhundert von Collins (1713) und Meiners (1782) angezweifelt worden und im 19. ist dann dieser Zweifel geradezu zur Herrschaft gelangt: in Deutschland wenigstens ist diesen Briefen nach Schleiermacher und vor Blaß kaum ein namhafter Verteidiger entstanden (in England trat jedenfalls Grote für ihre Echtheit ein), während Ast, Socher, K. Fr. Hermann, Karsten, Steinhardt, Zeller sie als unecht verwarfen, Socher und Hermami freilich mit der Einschränkung, daß sie den Siebenten Brief doch einem Zeitgenossen Piatons zuschreiben wollten. Erst in unserem Jahrhundert hat das Urteil der Sachkenner entschieden umgeschlagen: Eduard Meyer, Hans Raeder, Otto Apelt sind für die Echtheit fast sämtlicher Briefe eingetreten, was aber insbesondere den Sechsten, den Siebenten 5
und den Achten Brief betrifft, so hat wohl vielen unter uns U. v. Wilamowitz für ihre Echtheit die Augen geöffnet, indem er im II. Bande seines „Piaton" unverkennbare und unnachahmliche Kennzeichen von Piatons Altersstil in ihnen nachwies. Auch der scheinbar so wundersame, ja willkürliche Gedankengang des Siebenten Briefes wird demjenigen nicht mehr als Anzeichen seiner Unechtheit erscheinen, der einmal darauf geachtet hat, daß auch der ^Timaios" und die „Gesetze" ganz ähnliche Bizarrerien und Künstlichkeiten des Gedankenfortschritts aufweisen und die letzten Zweifel an der Echtheit des Siebenten Briefes räumt wohl die soeben erschienene Untersuchung eines jüngeren Forschers aus der Schule Hans v. Arnims, Franz Egermanns, hinweg, der den Nachweis erbracht hat, daß jener Brief genau in eine bestimmte geschichtliche Lage paßt, ja sich auf Grund dieser Lage fast bis auf den Monat genau datieren läßt2. Piatons Briefe sind oft übersetzt worden, ins Deutsche zuletzt von Otto Apelt (1918) und von Ernst Howald (1923), ins Englische von L.A.Post (1925). Wer also den Inhalt des Siebenten Briefes allgemeiner bekanntmachen möchte, der brauchte — so scheint es zunächst — nur auf diese Uebersetzungen aufmerksam zu machen. Doch dem ist, wie ich meine, nicht so. Als Piaton das merkwürdige Schriftchen, von dem ich sprechen will, verfaßte, stand er im 75. Lebensjahr und schrieb eine eigentümlich gekünstelte und verschnörkelte, durch Einschaltungen und Einschränkungen die Uebersichtlichkeit des Satzbaues wie des Gedankens trübende Prosa. Eine Uebersetzung, die den Brief samt dieser seiner sprachlichen Eigenart wiedergeben, ja die auch nur dem vollen Windungsreich1 Innerhalb jenes Abschnittes, in dem Piaton seinen „ R a t " erteilt, ist es ganz offenkundig die tiefe persönliche Erregung, die seine Gedanken immer wieder zu gewissen trüben Erfahrungen und versäumten Gelegenheiten zurückführt und ihn daher diese auch immer wieder zur Sprache bringen läßt. 2 Franz Egermann, Die platonischen Briefe VII und VIII. Berliner Dissertation 1928, Sonderdruck aus Opuscula Philologa Heft I I I des kathol.-akad. Philologenvereins an der Universität Wien.
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tum seiner Gedankenverkettung folgen will, lenkt daher notwendig die Aufmerksamkeit von der Hauptsache, dem überaus merkwürdigen Inhalt des Werkes, ab. Um diesen zugänglich zu machen, scheint sich demnach jenes Auskunftsmittel ganz besonders zu empfehlen, das Constantin Ritter und neuerdings Carl Vering mit so großem Erfolg bei der Wiedergabe des „ S t a a t e s " und der „Gesetze", Ritter überdies auch bei jener der übrigen Alterswerke Piatons, ergriffen haben, indem sie an die Stelle einer förmlichen Uebertragung eine kürzende, den Inhalt deutlicher gliedernde, das Wesentliche schärfer hervorhebende „Inhaltsdarstellung" setzten. Eine solche versuche ich denn hier auch von Piatons Siebentem Brief zu liefern — eine Inhaltsdarstellung freilich, die an gewissen, besonders merkwürdigen Stellen ausführlicher wird und sich einer wörtlichen Uebertragung nähert, wenngleich sie, wie durchweg, so auch hier, die Verständlichkeit der Wörtlichkeit voranstellt 1 . Um eben dieser Verständlichkeit willen aber ist es auch nötig, der Inhaltsdarstellung noch ein paar Sätze voranzuschicken, die dem Leser die Hauptereignisse in Piatons äußerem Lebensgang ins Gedächtnis rufen und ihm insbesondere gestatten sollen, die Entwicklung seines Verhältnisses zum Hofe von Syrakus, auf das ja Piaton in seinem Lebensabriß vor allem Bezug nimmt, zu überblicken. Piaton ist 428/427 v. Chr. geboren und verbrachte seine Jugend in Athen. Mit 23—24 Jahren erlebt er die Herrschaft der „30 Tyrannen" (404—403). In den letzten Jahren des Sokrates gehört er zu dessen vertrautem Jüngerkreise. In dem Jahrzehnt nach dessen Hinrichtung (399) ist er viel auf Reisen und kommt da u. a. auch nach Tarent, wo er sich dem bedeutenden Denker und Staatsmann Archytas eng befreundet. 388/387 besucht er zum erstenmal Sizilien, und zwar Syrakus, wo er am Hofe Dionysios L dessen jugendlichen Schwager und nachmaligen Schwie1 An zwei oder drei Stellen wurde, um deni Zusammenhang der Gedanken schärfer hervortreten zu lassen, die Reihenfolge, in der Piaton sie äußert, etwas verändert.
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g e r s o h n Dion k e n n e n l e r n t , der sich ihm f ü r den Rest seines L e b e n s mit l e i d e n s c h a f t l i c h e r B e g e i s t e r u n g anschloß. Auch P i a t o n s c h ä t z t e Dion als C h a r a k t e r wie als J ü n g e r ü b e r a u s hoch u n d sah in ihm den M a n n , d e r w i r k s a m e r als alle übrigen dazu beitragen konnte, P i a t o n s s t a a t s p h i l o s o p h i s c h e E n t w ü r f e und Ideale zu W i r k l i c h k e i t w e r d e n zu lassen. Überdies a b e r scheint er ihn auch, im eigentlichsten Sinne dieses W o r t e s , leidenschaftlich geliebt zu haben. W e n i g s t e n s bezeugt er d a s selbst in einem gleich mitzuteilendem Gedicht auf Dions T o d , d a s ich mit T h . G o m p e r z u n d U. v. W i l a m o w i t z f ü r echt halte, schon darum, weil kein a n d e r e s Z e u g n i s des A l t e r t u m s von einer solchen Liebe spricht, zu einer F ä l s c h u n g somit keinerlei A n l a ß u n d A n r e i z vorgelegen h ä t t e . Bald nach P i a t o n s R ü c k k e h r nach A t h e n soll dieser d a n n d e r U e b e r l i e f e r u n g zufolge n ä c h s t der nach A k a d e m o s b e n a n n t e n T u r n s c h u l e seine L e h r a n s t a l t b e g r ü n d e t haben. E t w a 20 J a h r e s p ä t e r , 367/366, s t a r b Dionysios I. u n d sein jugendlicher Sohn, Dionysios II., f o l g t e ihm als H e r r s c h e r . D i e s e r w a r d von seinem Oheim u n d S c h w a g e r Dion v e r a n l a ß t , P i a t o n nach S y r a k u s einzuladen. P i a t o n folgte der E i n l a d u n g und gew a n n , m i n d e s t e n s f ü r einige Zeit, w i r k l i c h ansehnlichen E i n f l u ß auf den j u n g e n F ü r s t e n . Bald a b e r t r a t zwischen diesem u n d seinem Oheim ein Z e r w ü r f n i s ein. Dion w a r d des L a n d e s v e r w i e s e n u n d nicht lange d a n a c h k e h r t e auch P i a t o n nach A t h e n z u r ü c k . Einige J a h r e darauf jedoch, 361 360, b e w o g Dionysios II. durch d a s V e r s p r e c h e n , bald auch Dion z u r ü c k z u b e r u f e n , P i a t o n dazu, sich ein d r i t t e s u n d letztes M a l nach S y r a k u s zu begeben. Allein er hielt j e n e Z u s a g e nicht ein, v e r s c h ä r f t e vielmehr noch die gegen Dion e r g r i f f e n e n M a ß r e g e l n : er b e r a u b t e ihn z u n ä c h s t sein e r E i n k ü n f t e , w e i t e r h i n auch seines V e r m ö g e n s u n d t r a t auch gegen seine F r e u n d e feindselig auf. D a d u r c h w u r d e auch sein V e r h ä l t n i s zu P i a t o n vollends v e r b i t t e r t : n u r m i t M ü h e e r l a n g t e d i e s e r die Erlaubnis, a b z u r e i s e n und nach A t h e n z u r ü c k z u k e h r e n . D r e i J a h r e darauf schritt Dion zum A n g r i f f . E r s a m m e l t e eine S c h a r von A n h ä n g e r n , unt e r ihnen auch m e h r e r e J ü n g e r P i a t o n s , zu denen, w i e es scheint, auch j e n e r A t h e n e r K a l l i p p o s gehörte, in dessen 8
H a u s e Dion, a l s er in A t h e n weilte, a b g e s t i e g e n w a r und d e r nun mit seinem B r u d e r a n Dions U n t e r n e h m e n teiln a h m . Dion l a n d e t e 357/356 in Sizilien, e s gelang ihm. Dionysios II. zu v e r t r e i b e n u n d S y r a k u s einzunehmen, u n d schon schien ihm d a u e r n d e r E r f o l g gewiß, als er 354/353 von K a l l i p p o s e r m o r d e t w u r d e . D a m a l s h a t Piat o n s t i e f e B e w e g u n g in j e n e n vorhin e r w ä h n t e n V e r s e n A u s d r u c k g e f u n d e n , die ich hier n a c h z u d i c h t e n versuche, o h n e zu verkennen, d a ß sich b e s o n d e r s die e n t s c h e i d e n d e letzte Zeile in der S p r a c h e u n s e r e r Z e i t k a u m angemessen wiedergeben läßt: H e k a b e u n d ihren F r a u e n W a r seit ihrer Kindheit T a g e n Vorbestimmt durch Götterwillen T r a u e r n , J a m m e r n , W e i n e n , Klagen. Eben diese G ö t t e r h a t t e n , Da sie dich zum Sieg geleitet, Dion, j e d e h ö c h s t e H o f f n u n g O f f e n vor dir a u s g e b r e i t e t . — Dennoch w a r d s t du vor der Zeit nun, Allverehrt, ins G r a b gelegt, Dion, du, zu dem so s t ü r m i s c h Liebe s o n s t mein H e r z b e w e g t ! K a l l i p p o s r i ß selbst die H e r r s c h a f t a n sich, w a r d jedoch schon nach 13 M o n a t e n von den A n h ä n g e r n Dions v e r j a g t ; 348/347 s t a r b d a n n P i a t o n . 347/346 k e h r t e Dionysios II. noch einmal nach S y r a k u s z u r ü c k , w a r d indes schon 345/344, u n d z w a r diesmal endgültig, von d e m Korinther Timoleon vertrieben. Er weilte fortan als Verb a n n t e r in K o r i n t h u n d soll d o r t sein Leben als Schulmeister gefristet haben. Nach Dions E r m o r d u n g , u n d z w a r , w i e E g e r m a n n gezeigt hat, f a s t u n m i t t e l b a r nach diesem Ereignis, h a t Piaton n u n auch die F l u g s c h r i f t v e r f a ß t , die u n s als d e r Sieb e n t e seiner Briefe ü b e r l i e f e r t u n d d e r e n Inhalt n u n m e h r
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darzustellen ist 1 . Ihre Ueberschrift lautet: „Piaton an Dions Angehörige und Parteigänger". Diesen sollen die Ziele vor Augen gestellt werden, f ü r die Dion gelebt hat und gefallen ist und die somit auch f ü r seinen Sohn Hipparinos sowie f ü r seine Anhänger überhaupt M a ß geben sollen. Zugleich will aber Piaton ohne Zweifel durch eine ausführliche Darstellung seines Anteils an all den Ereignissen, die endlich zu Dions Unternehmen und dessen verhängnisvollem Ausgang geführt haben, auch den zahlreichen Mißverständnissen, V o r w ü r f e n und Angriffen entgegentreten, denen er aus diesem Anlasse ausgesetzt war. Diese beiden Absichten vor Augen, beginnt Piaton seine Auseinandersetzung folgendermaßen: Ihr versichert mich, daß euch dieselbe Gesinnung erfülle, die Dion erfüllte, und bittet mich, ich möge auch euch mit Rat und T a t nach meinen K r ä f t e n beistehen. Das werde ich denn auch tun, wenn ihr euch wirklich zu seiner Grundüberzeugung und zu seinem Ziel bekennt. Ich meine damit die Ueberzeugung, der er unverbrüchlich anhing, seit ich ihn kennenlernte, als ich, etwa 40 J a h r e alt, zuerst nach Syrakus k a m : die Ueberzeugung, Syrakus solle, von jeder Gewaltherrschaft frei, sich der besten Gesetze erfreuen. Vielleicht erweckt also ein Gott auch in Hipparinos, der ja jetzt so alt ist, wie Dion damals war, eben diese Gesinnung. W i e aber diese in Dion (und in mir) erwachsen war, das zu vernehmen, d ü r f t e f ü r einen jungen Mann, aber freilich auch f ü r einen älteren, nicht unwichtig sein. Als ich jung war, gedachte ich, wie so viele andere, sobald ich selbständig wäre, mich den öffentlichen Angelegenheiten zu widmen. Allein eben damals t r a t infolge der allgemeinen Unzufriedenheit in Athen eine Staatsum1
Sie ist also 354/353 entstanden. 353 aber veröffentlichte Isokrates seine Rede „Ueber den Vermögenstausch", die Misch (Geschichte der Autobiographie I 95) die „erste Autobiographie der europäischen Literatur" nennt. Man darf also sagen, ein und dasselbe Jahr habe die b e i d e n ersten Selbstbiographien des Abendlandes hervorgebracht.
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wälzung ein: die Volksherrschaft wurde gestürzt und 30 Männer wurden als Herrscher eingesetzt. Unter diesen nun war ich mehreren verwandt oder doch bekannt, und diese forderten mich ohne weiteres auf, mich ihnen anzuschließen. Allein während ich gehofft hatte, die Dreißig würden im Gegensatz zu der früheren Rechtlosigkeit eine Herrschaft des Rechtes aufrichten, sah ich bald, daß vielmehr, mit der Zeit ihrer Herrschaft verglichen, der frühere Zustand wie ein goldenes Zeitalter erschien. Ganz besonders empörte es mich, daß sie Sokrates, einen mir teuren Mann in vorgerückten Jahren, den ich mich fast getrauen möchte, den rechtschaffensten Mann seiner Zeit zu nennen, in ihr Unternehmen zu verwickeln suchten, indem sie ihm auftrugen, zusammen mit anderen einen Bürger gesetzwidrig festzunehmen und zur Hinrichtung einzuliefern. Er nun verweigerte auf jede Gefahr hin den Gehorsam, ich aber zog mich, als ich dies und anderes dergleichen beobachtete, von ihrem Treiben angewidert, gänzlich davon zurück. Bald darauf wurde die Herrschaft der Dreißig gestürzt. Und da kam mich denn allmählich auch wieder die Lust an, mich am öffentlichen Leben zu beteiligen'. Natürlich geschah auch in dieser unruhigen Zeit so manches, was einen anwidern konnte, und in einigen Fällen schoß die Vergeltung an den politischen Gegnern übers Ziel; doch übte die damals herrschende Partei im ganzen sichtliche Zurückhältung. Allein unglückseligerweise strengten einige ihrer Führer gerade gegen unseren Sokrates ein Verfahren an, und zwar unter einem Vorwande, der auf Sokrates in keiner Weise zutraf: er wurde nämlich wegen Gottlosigkeit angeklagt, verurteilt und hingerichtet — er, der doch damals, als seine jetzigen Ankläger in der Verbannung weilten, die Teilnahme an jenem gehässigen Anschlag auf einen ihrer Freunde abgelehnt hatte! Nach dieser Erfahrung nun und je genauer ich das Wesen der herrschenden Zustände und den Charakter der Politiker kennen lernte und je reifer ich wurde, desto zweifelhafter wurde es mir, ob es unter diesen Verhält11
nissen überhaupt möglich sei, Politik zu betreiben, wie sie allein des Betreibens wert wäre. Dazu hätte man sich vor allem auf treue und verläßliche Freunde stützen müssen; wo aber gab es die? Lebten wir doch nicht mehr in der guten alten Zeit unserer Väter! Und welche Aufgabe, solche erst heranbilden zu müssen! Verschlechterte sich doch der Zustand der Gesetzgebung und der öffentlichen Sittlichkeit von J a h r zu J a h r ! So verrauchte denn allmählich mein Drang, auf die öffentlichen Angelegenheiten selbst Einfluß zu nehmen, ja beim Anblick des planlosen Durcheinander, in dem diese sich bewegten, erfaßte mich förmlich ein Schwindel, und ich hörte zwar nicht auf, darüber nachzudenken, wie eine Besserung dieser Verhältnisse denkbar wäre, allein mein tätiges Eingreifen schob ich immer wieder hinaus. Endlich aber setzte sich in mir die Ueberzeugung fest, daß gegenwärtig die Verfassungen sämtlicher Staaten schlecht sind. Denn ihre Gesetze liegen so im argen, daß höchstens noch von einem ganz wunderbaren Glücksfall eine Besserung erwartet werden könnte. Und so sah ich mich denn schließlich genötigt, meine ganze Hoffnung auf die recht betriebene Wahrheitsforschung zu setzen und es auszusprechen, daß nur sie die Einsicht in das Recht erschließt, im öffentlichen wie im bürgerlichen Leben, und daß darum die Menschheit aus ihrem Elend nicht eher gerettet werden kann, ehe nicht entweder Wahrheitsforscher zur Herrschaft im Staate gelangen oder aber mit Gottes Hilfe die Staatslenker zu Wahrheitsforschcrn werden. Von dieser Ueberzeugung durchdrungen kam ich zum ersten Male nach Unteritalien und Sizilien. Hier nun mißfiel mir die allgemein verbreitete Schlemmerei und Zuchtlosigkeit höchlich und es wurde mir klar, daß ein solches Leben nicht nur den Einzelnen verhindert, sich Verständigkeit und Selbstbeherrschung anzueignen, sondern auch ein gedeihliches öffentliches Leben unmöglich macht. Denn in einem Land, wo niemand etwas anderes im Sinn hat als Luxus und Vergnügen und wo niemand sparen und arbeiten will — in einem solchen Lande mögen die Gesetze lauten, wie sie wollen, sie werden doch nie 12
zu e t w a s a n d e r e m f ü h r e n als zu einem b e s t ä n d i g e n W e c h s e l von D i k t a t u r , Kliquen- u n d M a s s e n h e r r s c h a f t , von R e c h t u n d von Gleichheit vor dem Gesetz d a g e g e n k a n n d o r t niemals auch n u r die R e d e s e i n ! Um diese Einsicht reicher nun k a m ich (zum e r s t e n M a l e ) nach S y r a k u s , und j e t z t w e n i g s t e n s sieht es so aus, als h ä t t e irgendein h ö h e r e s W e s e n , indem es mich d a h i n f ü h r t e , all die E r e i g n i s s e einleiten wollen, die sich s e i t h e r z u g e t r a g e n haben. Ich traf nämlich d o r t mit D i o n z u s a m men, s e t z t e ihm meine A n s i c h t e n d a r ü b e r , wie d e r M e n s c h leben soll, a u s e i n a n d e r u n d r i e t ihm auch, diesen Ansichten nachzuleben — w a h r l i c h ohne eine A h n u n g davon zu haben, d a ß a u s meinen G e s p r ä c h e n mit diesem j u n g e n M a n n d e r e i n s t d e r S t u r z eines T y r a n n e n h e r v o r g e h e n s o l l t e ! Dion nämlich f a ß t e ü b e r h a u p t leicht u n d r a s c h , b e s o n d e r s auf meine damaligen A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n aber ging er mit einem F e u e r e i f e r ein, wie er mir s o n s t bei keinem J ü n g l i n g begegnet ist. Und so e n t s c h l o ß er sich denn ein f ü r allemal, ein von dem in s e i n e r H e i m a t üblichen ganz a b w e i c h e n d e s Leben zu beginnen, nämlich ein Leben nicht des V e r g n ü g e n s , vielmehr ein solches voll tüchtiger L e i s t u n g e n . U n d so w a r er denn auch schon, als Dionysios (I.) noch lebte, bei all denen h ö c h s t unbeliebt, d e r e n L e b e n s w e i s e die an einem T y r a n n e n h o f e übliche w a r . Nach dem T o d e dieses H e r r s c h e r s aber b e d a c h t e er, d a ß doch nicht n u r er allein solcher G e s i n n u n g f ä h i g sei u n d so f a ß t e er die H o f f n u n g , mit Hilfe der G ö t t e r möglicherweise auch den ( j ü n g e r e n ) Dionysios, (den Nachfolger des ä l t e r e n ) , f ü r sie zu g e w i n n e n ; d a r a u s aber m ü ß t e n sich, nicht n u r f ü r Dionysios selbst, vielmehr auch f ü r ganz S y r a k u s segensreiche W i r k u n g e n von unabsehb a r e r B e d e u t u n g ergeben. N i c h t s aber, so d a c h t e er nicht mit U n r e c h t , k ö n n t e hierzu soviel beitragen, als w e n n ich w i e d e r nach S y r a k u s k ä m e . D e n n so wie es mir ehemals leicht gelungen sei, in ihm d a s V e r l a n g e n nach einem w a h r h a f t sittlichen und b e f r i e d i g e n d e n Leben zu e n t f l a m m e n , so, h o f f t e er, w e r d e d e r s e l b e E r f o l g nun auch bei Dionysios 13
eintreten und dadurch würde auch das ganze Land einem glücklichen, wahrhaft lebenswürdigen Leben zugeführt werden. Aus diesen Gründen also veranlaßte Dion den Dionysios, mich nach Syrakus einzuladen, und forderte mich auch selbst dringend auf, dieser Einladung sobald als möglich Folge zu leisten. DieseAufforderung aber begründete er mit folgenden Erwägungen, die ich einigermaßen eingehend wiedergeben muß. Er stellte mir vor, welche Bedeutung Syrakus auf Sizilien sowie in Unteritalien zukomme und wie mächtig sein eigener Einfluß in Syrakus sei. Er hob die Beeinflußbarkeit des jugendlichen Dionysios hervor, rühmte mir dessen Wissens- und Bildungsdrang, legte mir dar, daß er auf Dionysios nicht nur unmittelbar Einfluß habe, vielmehr auch durch Vermittlung seiner Neffen und anderer (junger) Verwandter, die sich meinen Ideen leicht zugänglich erweisen würden und die zugleich äußerst geeignet seien, ihrerseits auf Dionysios einzuwirken. Unsere ganze Hoffnung bestehe aber doch darin, den Herrscher einer großen Stadt für die Wahrheitsforschung zu gewinnen. „Hier nun, wenn irgendwo, so meinte er, wird sich diese Hoffnung verwirklichen lassen. L a s s e n wir diese, uns von den Göttern entgegengebrachte Gelegenheit vorübergehen, auf welche andere und größere wollen wir warten?" So stand ich vor einer schweren Entscheidung. Ich sollte meine Studien unterbrechen, die doch des Reizes keineswegs entbehrten, mich auf eine lange Reise einlassen, mich an den Hof eines Gewaltherrschers begeben, was doch zuletzt meinem Wesen und dem meiner Grundsätze zu widerstreiten schien, und dies alles eines jungen Menschen wegen, der — das konnte ich mir nicht verhehlen —, gerade weil jung, vermutlich auch wankelmütig war. Demgegenüber schienen mir aber nun doch folgende Erwägungen den Ausschlag zu geben. Vor allem hatte ich zu Dions Reife und Beständigkeit volles Vertrauen. Sodann sagte ich mir, daß hier doch in der T a t eine einzigartige Gelegenheit vorliege, meine Gedanken über Gesetzgebung und Verfassung in die Wirklichkeit umsusetzen, 14
denn ich brauchte ja nur einen einzigen jungen Mann für sie zu gewinnen, um sie ein für allemal zum Siege zu führen. Und mehr als alles andere fürchtete ich, wenn ich jetzt zu Hause bliebe, eines T a g e s vor mir selbst als ein Mann dazustehen, der lediglich zum Denken taugt, vor jedem Versuch aber, dem Gedanken auch die T a t folgen zu lassen, zurückscheut. Ueberdies aber konnte ich mich auch nicht dazu entschließen, meine Freundespflicht gegen Dion zu verletzen und ihn in so gefährdeter Lage im Stiche zu lassen. (Denn er hätte ja doch versucht, Dionysios für seine Pläne zu gewinnen), wie leicht aber konnte ihm dabei etwas zustoßen, zumindest aber lief er Gefahr, des Landes verwiesen zu werden. Und dann hätte er mir mit Recht vorhalten können, ich sei an seinem Mißerfolge schuld; denn wäre er durch meine Gabe, junge Leute für das Gute und Rechte zu begeistern und sie dadurch einander näherzubringen, unterstützt worden, dann wäre ihm sein Vorhaben vermutlich gelungen. Mit noch größerem Recht aber hätte er mir dann vorwerfen können, ich hätte meine Pflicht gegen die Wahrheitsforschung verletzt, denn immer klagte ich, die Menschen dächten von ihr nicht hoch genug. „Und nach Megara, so könnte er sprechen, wärest du ja auch gegangen, um mir und der Sache der Wahrheitsforschung zu Hilfe zu kommen, weil sichs aber um die weite Reise nach Syrakus und die damit verbundenen Mühen gehandelt hat, glaubst du, dich mit der Berufung auf sie entschuldigen und so dem Vorwurf der Unmännlichkeit entrinnen zu können?" Hätte mir Dion (nach einem etwaigen Mißerfolg) dies vorgehalten, was hätte ich ihm erwidern können? Nichts! Und so entschloß ich mich denn nach reiflicher Ueberlegung und mit gutem Gewissen, zu reisen. Als ich nun aber nach Syrakus kam, fand ich dort den Hof in Parteien zerklüftet und alles voll von Verleumdungen, die ihre Spitze gegen Dion kehrten. Und diesen Ausstreuungen suchte ich wohl entgegenzutreten, jedoch mit wenig Erfolg. Und etwa im vierten Monat (nach meiner Ankunft) ließ Dionysios den Dion unter der Beschuldigung, er plane seinen Sturz, auf ein Schiff bringen und 15
außer Landes führen. Und wir alle, die wir Dions Freunde waren, waren darauf gefaßt, er werde nun auch uns der Mitschuld an Dions (angeblichem) Anschlag zeihen und sich an uns rächen; ja von mir hieß es sogar, er habe mich hinrichten lassen. Dionysios aber, in der Besorgnis, gerade wenn er sich bedroht fühle, möchte sich einer von uns zu einem verzweifelten Schritte hinreißen lassen, kam uns allen mit großer Liebenswürdigkeit entgegen und da ich ihm, wenn ich ihn jetzt verlassen hätte, damit gewiß keine gute Nachrede gemacht hätte, so bestand er, w a s mich betrifft, durchaus darauf, daß ich in S y r a k u s bleiben müsse. Ja, er blieb nicht bei Bitten stehen, sondern wies mir kurzerhand eine W o h n u n g in der Burg an und versetzte mich so in die Unmöglichkeit, abzureisen; denn niemand hätte es gewagt, einen Gast des Herrschers ohne dessen ausdrücklichen Befehl außer Landes zu führen. Und am wenigsten in meinem Falle, da ich jetzt wieder als ein besonderer Günstling des Fürsten galt. Damit aber verhielt sichs in W a h r h e i t folgendermaßen. Allerdings f a ß t e er eine desto größere Zuneigung zu mir, je näher er mein W e s e n kennenlernte; dabei aber wollte er durchaus, daß ich ihn höherstellen solle als Dion und mich mehr als seinen denn als Dions Freund betrachten möge. Nun hätte er das, wenn überhaupt, doch nur dadurch erreichen können, daß er meinen Auseinandersetzungen über W a h r heitsforschung (noch eifriger als Dion) gefolgt w ä r e und sich mir dadurch (noch enger) angeschlossen hätte. Davor aber scheute er zurück, denn er fürchtete, man w ü r d e dann von ihm denken, er habe sich übertölpeln lassen und Dion habe nun doch alles, w a s er wollte, erreicht. Ich aber kümmerte mich hierum nicht, sondern richtete mein Augenmerk nach wie vor nur darauf, in Dionysios doch endlich das Verlangen nach einem den Grundsätzen der Wahrheitsforschung gemäßen Leben zu erwecken. Sein W i d e r s t a n d hiergegen freilich erwies sich als unüberwindlich. So also begann mein damaliger Aufenthalt in Sizilien. Freilich bin ich später noch einmal dahin zurückgekehrt. In welcher Absicht und mit welchem Erfolg, dar16
auf w e r d e ich w e i t e r h i n noch z u r ü c k k o m m e n , einstweilen aber will ich es doch nicht l ä n g e r hinausschieben, euch d e n e r b e t e n e n R a t zu erteilen, d e n n dieser, u n d nicht meine persönlichen Erlebnisse, ist ja doch die eigentliche H a u p t sache. R a t s c h l ä g e setzen die Bereitwilligkeit des B e r a t e n e n voraus, sich d e r b e s s e r n Einsicht d e s B e r a t e r s u n t e r z u o r d n e n . D e n n Z w a n g darf m a n n u r gegen S k l a v e n anw e n d e n . L e b e n meine E l t e r n ein Leben, d a s ich mißbillige, d a s ihnen a b e r zusagt, so w e r d e ich mich nicht d u r c h une r b e t e n e u n d z w e c k l o s e R a t s c h l ä g e bei ihnen v e r h a ß t m a c h e n u n d noch w e n i g e r w e r d e ich sie zu ihrem Hei] zu z w i n g e n suchen, vielmehr w e r d e ich einfach schweigen. E b e n s o w i r d d e r V e r s t ä n d i g e der v e r k e h r t e n F ü h r u n g d e r S t a a t s g e s c h ä f t e in seiner V a t e r s t a d t schon mit W o r t e n n u r i n s o w e i t e n t g e g e n t r e t e n , als er nicht von vorneherein von d e r N u t z l o s i g k e i t oder g a r G e f ä h r l i c h k e i t dieser seiner R e d e n ü b e r z e u g t ist, k e i n e s f a l l s a b e r w i r d es ihm einfallen, eine v e r k e h r t e S t a a t s o r d n u n g g e w a l t s a m umzustürzen, vielmehr w i r d er auf ihre V e r v o l l k o m m n u n g verzichten, s o w e i t sie sich n u r d u r c h B ü r g e r a u s t r e i b u n g und B l u t v e r g i e ß e n b e w e r k s t e l l i g e n ließe. In d i e s e m S i n n e also k a n n ich euch n u r denselben R a t geben, den Dion u n d ich auch schon dem ( j ü n g e r e n ) Dionysios g a b e n : er möge sich s e l b s t b e h e r r s c h e n l e r n e n ; n u r d a n n w e r d e er sich auch solche verläßliche F r e u n d e und A n h ä n g e r e r w e r b e n , ohne die sich k e i n S t a a t regieren l ä ß t . D a s h a t t e j a schon sein V a t e r , (der ä l t e r e Dionysios), erf a h r e n , (dem seines C h a r a k t e r s wegen kein Mensch t r a u t e ) u n d d e r d a r u m in k e i n e d e r von den K a r t h a g e r n z e r s t ö r t e n u n d von ihm w i e d e r b e s i e d e l t e n sizilischen S t ä d t e einen zuverlässigen S t a t t h a l t e r setzen konnte, nicht einmal einen seiner eigenen B r ü d e r , w ä h r e n d doch seinerzeit d e r P e r s e r k ö n i g D a r e i o s sich auf seine S a t r a p e n , m i t denen er nicht einmal v e r w a n d t w a r , u n b e d i n g t verl a s s e n k o n n t e , wie ja auch die A t h e n e r in den siebzig J a h r e n i h r e r S e e h e r r s c h a f t in j e d e r d e r ihnen v e r b ü n d e t e n S t ä d t e auf z u v e r l ä s s i g e A n h ä n g e r rechnen k o n n t e n . In diesem S i n n e also w o l l t e n w i r d e n ( j ü n g e r e n ) Dionysios 17
b e e i n f l u s s e n , sagten ihm aber all d a s nicht g e r a d e z u i n s Gesicht — denn d a s w ä r e zu g e w a g t g e w e s e n —, bew e g t e n u n s vielmehr in A n d e u t u n g e n u n d k a m e n i m m e r w i e d e r darauf zurück, d a ß n u r solche G r u n d s ä t z e einem F ü r s t e n u n d zugleich seinen U n t e r t a n e n zum Heile gereichen, w ä h r e n d alle a n d e r e n zu seinem V e r d e r b e n ausschlagen m ü s s e n . Beschreite er nun diesen, ihm von u n s g e w i e s e n e n W e g u n d e r w e r b e sich s e l b s t die F ä h i g k e i t v e r s t ä n d i g e r S e l b s t b e h e r r s c h u n g , besiedle er d a n n die von den K a r t h a g e r n v e r w ü s t e t e n sizilischen G r i e c h e n s t ä d t e , verleihe ihnen eine f r e i s t a a t l i c h e V e r f a s s u n g , s t i f t e z w i s c h e n ihnen ein Bündnis gegen die A n g r i f f e d e r K a r t h a g e r u n d t r e t e selbst an dessen Spitze, d a n n w e r d e seine M a c h t eine unvergleichlich h ö h e r e sein, als es die seines V a t e r s w a r , ja die L a g e d e r Griechen den K a r t h a g e r n geg e n ü b e r w ü r d e d a n n noch viel g ü n s t i g e r sein, als sie e s selbst zu Gelons Zeiten g e w e s e n sei. D a s also w a r die S u m m e u n s e r e r Ratschläge, u n d dabei b e h a u p t e t e m a n von uns, w i r w o l l t e n Dionysios seiner M a c h t b e r a u b e n . J a , diese V e r d ä c h t i g u n g f a n d ja endlich s o g a r bei Dionysios s e l b s t E i n g a n g u n d b r a c h t e ihn dahin, Dion zu v e r b a n n e n , u n s a b e r in die g r ö ß t e Besorgnis zu versetzen. Freilich h a t ihn ja Dion, als er viel s p ä t e r a u s d e m P e l o p o n n e s u n d a u s A t h e n z u r ü c k k e h r t e , h i e r f ü r verdient e r m a ß e n gezüchtigt u n d so S y r a k u s b e f r e i t . N u r d a ß da die S y r a k u s a n e r derselben V e r l e u m d u n g gegen Dion Glaubenschenkten,, wie vordem Dionysios. D i e s e r h a t t e sich d a v o n ü b e r z e u g e n lassen, Dion s t r e b e in W a h r h e i t nach d e r T y r a n n i s : d u r c h die w i s s e n s c h a f t l i c h e Bildung, die er Dionysios a u f d r ä n g e , wolle er n u r d e s s e n A u f m e r k s a m k e i t von d e n S t a a t s g e s c h ä f t e n ablenken, auf d a ß er s e l b s t die M a c h t ergreifen u n d den Dionysios vom T h r o n e s t o ß e n könne. U n d jener selben Beschuldigung s c h e n k t e n n u n auch die S y r a k u s a n e r Glauben. (Es spielten a b e r auch in beiden F ä l l e n A t h e n e r eine verhängnisvolle Rolle.) D a s e r s t e m a l w a r ich es, der a l s Dions F r e u n d g e k o m m e n w a r , u m zwischen diesem u n d Dionysios F r i e d e n zu s t i f t e n u n d der jenen V e r l e u m d u n g e n immer w i e d e r , w e n n auch ohne Erfolg, entg e g e n t r a t und, als mir Dionysios E h r e n u n d R e i c h t ü m e r an18
bot, wenn ich nur auf seine Seite treten und die Verbannung Dions für berechtigt erklären wolle, mich all solchen Anmutungen gegenüber völlig unzugänglich erwies. Allein auch das zweite Mal, als Dion nach Syrakus zurückkehrte (und denDionysios vertrieb), waren zwei Athener in seinem Gefolge (nämlich Kallippos und dessen Bruder), ihm indes nicht etwa durch gemeinsame Wahrheitsforschung freundschaftlich verbunden, vielmehr nur durch eine Freundschaft im alltäglichen Sinne, wie sie eben durch Gastfreundschaft und Patenschaft bei irgendwelchen Mysterien bedingt zu werden pflegt, ihm aber überdies empfohlen durch ihren Beistand bei der Vorbereitung seines Zuges. Allein als nun in Sizilien die Verleumdung gegen Dion ausgestreut wurde, er strebe im Grunde nur nach der Alleinherrschaft, da verrieten sie ihn und wurden so gut wie eigenhändig zu seinen Mördern; denn sie waren, selbst bewaffnet, zugegen, wie er niedergemacht wurde und nahmen seine Mörder in Schutz. Und daß dies ein scheußliches Verbrechen war, leugne ich gewiß nicht und finde kein Wort zu seiner Entschuldigung. S a g t man aber, daß dadurch Athen entehrt wurde, so muß ich dem entgegenhalten, daß doch auch jener andere ein Athener war, der Dion auch für die größten Reichtümer und Ehren nicht verraten wollte, denn seine Freundschaft für ihn ruhte nicht auf Erwägungen gemeiner Nützlichkeit, vielmehr auf der Bildungsgemeinschaft freier Männer, und diese allein ist es, der der Verständige vertraut, weit mehr als der leiblichen und seelichen Verwandtschaft! Doch auch abgesehen von diesen Ermahnungen (mehr sittlicher Art) kann ich (auch w a s die Gestaltung des öffentlichen Lebens angeht) nur das wiederholen, was ich auch schon Dion und Dionysios vorgestellt habe und nun zum dritten Mal euch vorstelle: daß ihr nämlich in Syrakus wie auch sonst überall an Stelle einer Gewaltherrschaft vielmehr eine Herrschaft des Gesetzes aufrichten möget, denn das Verlangen, andere Menschen zu knechten, bezeichnet stets eine kleinliche und knechtische Gemütsart. Dionysios nun konnte sich hiervon nicht überzeugen, führt aber nun auch (in der Verbannung) ein elendes Da19
sein; Dion dagegen hat sich diese Lehre zu eigen gemacht und hat darum auch ein gutes Ende genommen. Denn w a s immer der Mensch, f ü r sich und sein Land nach dem Höchsten strebend, erleiden mag, ist recht und gut. Ist doch sein Leib auf keinen Fall unsterblich; Gutes und Uebles kann nur der Seele widerfahren, der verkörperten oder der entkörperten. Und da soll man der alten Ueberlieferung Glauben schenken, daß die Seele unsterblich ist und im Jenseits gerichtet wird und S t r a f e erleidet und daß es darum ein viel geringeres Uebel ist, viel Unrecht zu leiden, als es zu tun. Durch solche Vorstellungen hatte ich auch Dion f ü r meine Lehre gewonnen und eben darum betrachte ich seine Ermordung als ein ebenso großes Unglück f ü r mich und die Menschheit wie die Unbelehrbarkeit des Dionysios. Dieser ließ die Gelegenheit ungenützt, seine unvergleichliche Machtstellung in den Dienst der Wahrheitsforschung zu stellen und so ein weithin leuchtendes Beispiel d a f ü r zu geben, daß w a h r e s Glück unter Menschen und Staaten nur jenen zuteil wird, in denen auch V e r n u n f t und Rechtschaffenheit herrscht, mögen sie sich diese nun selbst erworben oder mögen verehrungswürdige Männer sie dazu angeleitet haben. Dion aber hätte, hätte er seine Pläne ausführen können, diese selbe Ueberzeugung dadurch unter den Menschen ausgebreitet, daß er der Gewaltherrschaft in S y r a k u s ein Ende gemacht und dieser seiner V a t e r s t a d t eine treffliche Verfassung gegeben, dann aber ganz Sizilien frisch besiedelt und von dem Joch der Barbaren befreit hätte, die teils unterworfen, teils ganz und gar von der Insel vertrieben worden wären. All diesen Aussichten aber hat nun ein unglückseliges Geschick ein zweites Mal ein Ende gemacht, wobei es sich der Gesetzesverachtung und der Gottlosigkeit bediente, vor allem aber des Frevelmuts der Unwissenheit, die ja zuletzt die tiefste W u r z e l alles Unheils ist! So bleibt denn nur übrig, denselben Versuch ein drittes Mal zu unternehmen. Haltet euch also an Dions Vorbild, besonders seiner Vaterlandsliebe und seiner Mäßigkeit eifert nach! Zählt auf keinen, dem die schlichte Lebensweise nicht genügt und der sich, wie Dions Mörder, der sizilischen Ueppig20
keit ergibt! Alle andern dagegen rufet auf, euch beizustehen bei der Besiedelung ganz Siziliens und bei der Herstellung der Gleichheit vor dem Gesetz, mögen sie nun aus Sizilien selbst stammen oder aus dem Peloponnes, aber auch aus Athen, denn auch dort gibt es Männer, die durch ihre Tüchtigkeit hervorragen und den Tod hassen! Für die Zukunft also möge dies euer Ziel sein! Augenblicklich aber bedrängen euch ja wohl die Nöte des Bürgerkrieges. Aus diesen aber, das sollte jedermann klar sein, gibt es zuletzt nur e i n e Rettung: es muß der jeweils siegreiche Teil darauf verzichten, seinen Sieg auszunützen und muß, statt sich an denGegnern zu rächen und die eigene Herrschaft aufzurichten, eine allen Teilen gegenüber gerechte Ordnung begründen. Dazu ist es notwendig, aus allen griechischen Städten die vertrauenswürdigsten Männer kommen zu lassen und ihnen die Ausarbeitung einer neuen Verfassung zu übertragen: es sollen bejahrte Leute sein, aus angesehenen und wohlhabenden Familien, und für eine Stadt von 10 000 Bürgern mögen 50 genügen. Und sie müssen sich eidlich verpflichten, durch ihre Beschlüsse keine Partei zu begünstigen, vielmehr ausschließlich das Wohl der ganzen Stadt ins Auge zu fassen. Liegt aber dann die neue Verfassung vor, dann muß sie unbedingt geachtet werden, und damit sollen die Sieger den Besiegten das Beispiel geben. Wollt ihr das nicht, dann hat es überhaupt keinen Zweck, mich oder sonst wen um Rat zu fragen! Dies also ist der Rat, den ich erteilen kann. Ueber meine erste Fahrt zu (dem jüngeren) Dionysios aber hab' ich schon berichtet. So bleibt mir nur übrig, über die zweite zu sprechen und darzulegen, daß auch sie das Ergebnis reiflicher und sorgfältiger Ueberlegung war. Mein erster Aufenthalt an seinem Hofe nämlich endete damit, daß es mir, wenn auch mit Mühe, gelang, mir von ihm die Erlaubnis zur Abreise zu erwirken, wobei zwischen uns folgende Abrede zustande kam: nach Beendigung des damals in Sizilien herrschenden Kriegszustandes werde Dionysios sowohl Dion als mich nach Syrakus zurückberufen, (schon jetzt) aber möge Dion seinen Aufenthalt in 21
der Fremde nicht als Exil, vielmehr als einen Urlaub betrachten. Unter solchen Umständen w ü r d e ich seinerzeit der neuerlich an mich ergehenden Einladung Folge leisten. Als nun der Friede hergestellt war, lud mich Dionysios wirklich dringend wieder ein; Dion freilich möge sich noch ein J a h r gedulden. Dion nun bestand darauf, ich möge dieser Einladung folgen; denn es hatte sich die Nachricht verbreitet, Dionysios lege nunmehr ein ganz erstaunliches Interesse f ü r die Wahrheitsforschung an den Tag. Mir aber war zwar wohlbekannt, daß ein derartiger Umschwung zugunsten der Wahrheitsforschung bei jungen Leuten nicht selten vorkommt, allein es schien mir doch bei weitem rätlicher, mich in die Sache nicht nochmals hineinziehen zu lassen und so lehnte ich zum großen Verd r u ß des Dion sowohl wie des Dionysios des letzteren Einladung ab, indem ich mich auf mein hohes Alter berief sowie darauf, daß ja der seinerzeit vorgesehene Fall nicht eingetreten sei. (Allein folgende Umstände trafen zusammen, um den Dionysios in seinem Wunsche, mich abermals bei sich zu sehen, zu bestärken.) Ich h a t t e noch vor meiner Abreise aus Syrakus zwischen Dionysios einerseits, Archytas und den Tarentinern andererseits ein freundschaftliches Verhältnis hergestellt. Bald nach meiner Absage nun scheint Archytas den Dionysios aufgesucht zu haben; es befanden sich aber an seinem Hof auch noch andere (die sich mit Fragen der Wahrheitsforschung beschäftigten) : einerseits solche, die wirklich von Dion darüber (mancherlei) gehört hatten, andererseits solche, deren Geist mit gewissen, von ihnen nebenbei aufgerafften Einzelheiten aus dem Gebiete der Wahrheitsforschung erfüllt war. Diese alle nun gingen bei ihren Gesprächen mit Dionysios von der Voraussetzung aus, er sei über den gesamten Inhalt meiner Lehre unterrichtet. Und Dionysios fehlt es ja keineswegs an natürlicher Auffassungsgabe, überdies aber ist sein Ehrgeiz außergewöhnlich groß. Einerseits nun mögen ihm jene (abgerissenen) Andeutungen wirklich Lust gemacht haben, sich über den Gegenstand gründlicher unterrichten zu lassen, andererseits war es ihm außerordentlich pein22
lieh, daß es nun an den T a g kam, d a ß er während meiner Anwesenheit in Syrakus nichts von mir gelernt hatte. Als ich aber nun überdies seine Einladung ablehnte, da mag es Dionysios wohl geradezu als Ehrensache betrachtet haben, dagegen anzukämpfen, daß bei irgendwem der Eindruck entstehen könnte, der Grund meiner Absage liege darin, daß ich von ihm gering dächte: als ob ich nämlich seine Begabung unterschätzte und mich auch durch seine Lebensweise abgestoßen fühlte. So lud er mich denn ein drittes Mal zu sich ein, und um mir die Reise bequem zu machen, sandte er gleich ein eigenes Kriegsschiff, mit dem auch einige meiner sizilischen Bekannten eintrafen, darunter vor allem Archedemos, ein Mann aus dem Kreise des Archytas, von dem Dionysios mit Recht annahm, daß ich ihn unter meinen syrakusanischen Freunden am höchsten stellte. Diese berichteten mir einstimmig, daß des Dionysios Sinn f ü r die Wahrheitsforschung sich ganz erstaunlich entwickelt habe. Aber auch er selbst schrieb mir einen langen Brief, dessen Absicht es war, die Gesinnung, die ich Dion entgegenbrachte, sowie dessen Bereitwilligkeit, mir zur Rückkehr nach S y r a k u s zu raten, in den Dienst seines W u n s c h e s zu stellen. Gleich nach der Ueberschrift und den üblichen Einleitungswendungen nämlich schrieb er etwa das folgende: „Kommst du nach Sizilien, so werde ich, w a s Dion betrifft, alle deine W ü n s c h e erfüllen, denn Unbilliges, d a s weiß ich, w i r s t du nicht verlangen; wenn aber nicht, dann w i r d sich, w a s ihn selbst wie auch seine Angelegenheiten angeht, alles ganz gegen deine W ü n s c h e ereignen". Zugleich aber kamen mir auch Briefe von Archytas und den Tarentinern zu, worin gleichfalls des Dionysios Interesse f ü r die Wahrheitsforschung gerühmt, mir aber überdies vorgestellt wurde, meine Ablehnung w ü r d e d a s von mir gestiftete und politisch hochwichtige freundschaftliche Verhältnis zwischen ihnen und Dionysios (also zwischen T a r e n t und Syrakus) aufs äußerste gefährden. So also w u r d e ich von Sizilien und Unteritalien aus förmlich nach Syrakus hinübergezogen, aber auch die athenischen Freunde halfen mit ihren Bitten nach, ja drängten 23
mich gewissermaßen aus der Stadt hinaus, und auch diesmal hieß es wieder, ich dürfe doch die Interessen Dions sowie die meiner tarentinischen Gastfreunde und Gesinnungsgenossen nicht preisgeben. Doch auch in mir selbst machte sich die Erwägung geltend, daß es ja nichts gar so Erstaunliches wäre, wenn in einem jungen Menschen von rascher Auffassung dadurch, daß er von ernsten und würdigen Lebenszielen eine, wenngleich nur unvollständige Kenntnis erhält, ein leidenschaftliches Verlangen nach wahrer Sittlichkeit entzündet würde. Ob es sich nun (in diesem Falle) wirklich so verhalte oder nicht — das nicht zu untersuchen, w ä r e doch eine unverantwortliche Unterlassung. Ganz und gar von diesen Gedanken beherrscht nun, wenn auch begreiflicherweise von lebhaften Besorgnissen erfüllt und nicht viel Gutes ahnend, t r a t ich die Reise an und kam heil ans Ziel, w a s ich nächst Gott dem Dionysios zu danken habe; denn dies Zeugnis m u ß ich ihm ausstellen, daß er in einem Augenblick, wo viele mich beseitigen wollten, sie daran verhindert und sich damals mir gegenüber einwandfrei verhalten hat. In Syrakus angelangt, wollte ich mich nun vor allem überzeugen, ob Dionysios wirklich von so brennendem Interesse f ü r die Wahrheitsforschung beseelt sei? Hierzu empfiehlt sich nun in solchen Fällen — nämlich bei jungen Leuten von geringer Ausdauer, mit üppigen Lebensgewohnheiten, besonders aber bei fürstlichen Personen, vor allem, wenn sie über die Fragen der Wahrheitsforschung schon allerlei gehört haben, wie das ja gerade f ü r Dionysios zutraf — folgendes Verfahren. Man setzt ihnen das W e s e n und die Eigenart des ganzen Gebietes auseinander, ferner die Untersuchungen, die es erfordert, sowie die Schwierigkeiten, mit denen diese verbunden sind. Ist nun ein Jüngling wirklich von Liebe zur W a h r h e i t erfüllt, dem Gegenstande innerlich verwandt und seiner würdig, wei] etwas Göttliches in ihm wohnt, dann gelangt er zu der Ueberzeugung, d a ß allein die Wahrheitsforschung d a s Leben lebenswert macht, und er f a ß t den festen Vorsatz, alle K r a f t zusammenzunehmen und der Führung des Lehr e r s solange zu folgen, bis er sich entweder des ganzen 24
Gebietes b e m ä c h t i g t h a t oder doch auf einen P u n k t gelangt ist, von dem a u s e r d a n n seinen W e g a u c h allein zu finden weiß. A e u ß e r e r W i r k s a m k e i t b r a u c h t ein solcher d e s w e gen nicht zu entsagen, b e f a ß t sich indes d a n e b e n auch weit e r u n e n t w e g t m i t d e r W a h r h e i t s f o r s c h u n g u n d h ü t e t sich ängstlich vor allen Z e r s t r e u u n g e n u n d A u s s c h w e i f u n g e n , die seine A u f f a s s u n g , sein G e d ä c h t n i s oder sein n ü c h t e r n e s Urteil beeinträchtigen k ö n n t e n . Diejenigen dagegen, die es nach der W a h r h e i t nicht w a h r h a f t verlangt, auf die vielmehr die L e h r e n d e r W a h r h e i t s f o r s c h u n g n u r obenhin a b g e f ä r b t haben, l a s s e n sich, sowie sie sehen, wieviel sie lernen m ü ß t e n , w e l c h e A n s t r e n g u n g d a s e r f o r d e r n w ü r d e , u n d wie n u r ein d u r c h a u s g e o r d n e t e s Leben dem Gegens t a n d e a n g e m e s s e n ist, vom S t u d i u m a b s c h r e c k e n , u n d einige r e d e n sich d a n n ein, sie h ä t t e n ja nun ohnehin schon alles g e h ö r t u n d k ö n n t e n sich d a r u m j e d e w e i t e r e A r b e i t e r s p a r e n . Und der g r o ß e V o r t e i l dieses V e r f a h r e n s b e s t e h t darin, d a ß die S c h u l d an einem e t w a i g e n M i ß e r f o l g nie den L e h r e r b e l a s t e n k a n n , vielmehr offensichtlich an d e r mangelnden Ausdauer des Schülers haftet. G a n z in diesem S i n n e w a r n u n auch die einleitende U e b e r s i c h t gehalten, die ich Dionysios v o r t r u g . N u r d a ß ich nicht auf alles einging ( w a s ich s o n s t bei solchen Anl ä s s e n zu b e r ü h r e n p f l e g e ) . U n d Dionysios f r a g t e auch g a r nicht danach, d e n n er b e h a u p t e t e , ü b e r zahlreiche u n d g e r a d e ü b e r die w i c h t i g s t e n P u n k t e meiner L e h r e ohnehin schon h i n r e i c h e n d u n t e r r i c h t e t zu sein, wobei ihm d a s j e nige im Sinn lag, w a s ihm gelegentlich a n d e r e d a r ü b e r zug e t r a g e n h a t t e n . J a , seither soll er ja, wie ich g e h ö r t habe, ü b e r das, w a s er d a m a l s von mir hörte, s e l b s t g e s c h r i e b e n haben, u n d z w a r so, a l s w ä r e es ein von ihm v e r f a ß t e s Lehrbuch, nicht die W i e d e r g a b e dessen, w a s e r d a m a l s von mir h ö r t e ; freilich k e n n e ich nichts davon. A n d e r e f r e i lich k e n n e ich, die ü b e r diesen G e g e n s t a n d g e s c h r i e b e n haben, w a s d a s a b e r f ü r L e u t e sind, — d a s w i s s e n sie wohl selbst n i c h t ! Soviel a b e r w e i ß i c h : w e r i m m e r ein Buch geschrieben h a t oder noch s c h r e i b e n w i r d u n d d a r i n meine L e h r e ü b e r j e n e P u n k t e w i e d e r z u g e b e n b e h a u p t e t , die mir am m e i s t e n a m H e r z e n liegen, m a g e r n u n d a r ü b e r e t w a s 25
von mir gehört haben oder von anderen oder selbst darauf verfallen sein, — der versteht von der Sache schlechterdings gar nichts! Darum gibt es ja auch von mir selbst über diese Punkte keine Schrift und wird auch nie eine geben. Denn dies Wissen läßt sich nicht übermitteln wie ein anderer Lehrsatz, vielmehr geht der Seele erst nach langdauernder Beschäftigung und auf Grund inniger Vertrautheit mit dem Gegenstande plötzlich, wie durch Funkenschlag entzündet, ein Licht auf und brennt dann, ohne von außen genährt zu werden, rein durch sich selbst fort. An einem läßt sich doch nicht zweifeln: ließen sich diese Dinge überhaupt niederschreiben, so müßte ich sie doch am besten niederschreiben können, sowie ja auch ich am meisten unter ihrer verkehrten Darstellung leide. W ä r e ich also der Meinung, sie ließen sich überhaupt auf zufriedenstellende Art der großen Menge mündlich oder schriftlich auseinandersetzen, welch schönere Aufgabe hätte ich mir im Leben stellen können als die, durch meine Schriften den Menschen eine so große Förderung zuteil werden und die Wahrheit vor aller Augen erglänzen zu lassen? Allein in Wirklichkeit wäre eben ein solches Unternehmen für die Menschen kein Segen, ausgenommen jene wenigen, die (auch jetzt schon), sobald sie dazu nur ein wenig angeleitet werden, die Lösung selbst zu finden wissen; allen andern würde es nur zum Anlaß werden — den einen dazu, sich (über unverstandene Lehren) ganz ohne Berechtigung lustig zu machen, den andern dazu, sich auf ihr angebliches Verständnis dieser Lehren weiß Gott wieviel einzubilden! Ich möchte mich aber hierüber noch etwas deutlicher erklären. Denn für die in jeder schriftlichen Behandlung dieses Gegenstandes gelegene Verkehrtheit gibt es einen förmlichen Beweis, und diesen, den ich ja schon oft dargelegt habe, scheint es mir geboten, auch jetzt zu entwickeln. Die Erkenntnis jedes Gegenstandes setzt dreierlei voraus. Das erste ist sein Name, z. B. das W o r t „Kreis". Das zweite seine Erklärung, z. B. die aus Haupt- und Zeitwörtern zusammengesetzte Bestimmung: „dasjenige, dessen Umfang an jedem Punkte gleich weit von einem und demsel26
ben M i t t e l p u n k t e n t f e r n t i s t " . D a s d r i t t e ist d a s Bild, z. B. d e r Kreis, d e r gezeichnet u n d w i e d e r w e g g e w i s c h t , ged r e c h s e l t u n d w i e d e r v e r n i c h t e t w i r d : eben d a r a u s , d a ß dieses alles dem K r e i s s e l b s t unmöglich begegnen k a n n , erhellt, d a ß d e r Kreis, dem es w i d e r f ä h r t , e t w a s von ,,dem K r e i s s e l b s t " V e r s c h i e d e n e s ist. Z u diesen drei S t ü c k e n t r i t t nun als viertes die E r k e n n t n i s selbst, die Einsicht sowie d a s richtige U r t e i l ü b e r die S a c h e ; d e n n diese alle bilden eine Einheit, i n s o f e r n ihre S t ä t t e die Seele ist, w o d u r c h sie sich eben e i n e r s e i t s vom W e s e n des K r e i s e s selbst, a n d e r e r s e i t s a b e r auch von Name, E r k l ä r u n g u n d Bild u n t e r s c h e i d e n , die j a teils dem Gebiet d e r S p r a c h l a u t e , teils j e n e m d e r k ö r p e r l i c h e n G e s t a l t e n zugeh ö r e n . D a s f ü n f t e S t ü c k ist d a n n die Sache, z. B. der Kreis, selbst, d a s , w a s d e r eigentliche G e g e n s t a n d der E r k e n n t n i s u n d d a s w a h r h a f t W i r k l i c h e ist. Diesem ist von den vier a n d e r e n S t ü c k e n die Einsicht d a s ähnlichste u n d v e r w a n d t e s t e u n d k o m m t ihm d a h e r a m nächsten, Name, E r k l ä r u n g u n d Bild dagegen s t e h e n ihm f e r n e r . All d a s G e s a g t e nun gilt ebenso von ( j e d e r ) g e r a d linigen oder g e k r ü m m t e n F i g u r s o w i e von ( j e d e r ) F a r b e , f e r n e r vom Guten, Löblichen u n d Rechten, von j e d e r A r t k ü n s t l i c h e r oder n a t ü r l i c h e r G e g e n s t ä n d e , von Feuer, W a s s e r u n d allen a n d e r e n ( S t o f f e n ) , endlich von allen A r t e n von L e b e w e s e n u n d seelischen Beschaffenheiten, mög e n sie sich n u n a u f s T u n beziehen oder a u f s Leiden. D e n n auch f ü r sie alle gilt, d a ß eine volle E r k e n n t n i s i h r e s W e s e n s unmöglich ist, solange u n s ihr Name, ihre E r k l ä r u n g , ihr Bild u n d u n s e r W i s s e n ü b e r sie nicht zu Hilfe k o m m e n . (Freilich erhellt auch schon a u s d e m Gesagten, d a ß auch all dies j e n e volle K e n n t n i s noch nicht a u s m a c h t . ) Dazu k o m m t a b e r noch, d a ß j e n e vier E r k e n n t n i s m i t t e l nicht m i n d e r d a n a c h streben, die so o d e r so b e s c h a f f e n e (sinnliche E r s c h e i n u n g ) 1 j e d e s E r k e n n t n i s g e g e n s t a n d e s an den T a g zu b r i n g e n als sein W e s e n , u n d hieran ist (zumeist) die Unzulänglichkeit des s p r a c h l i c h e n A u s d r u c k s schuld. 1
So gebe ich -owv Tt wieder auf Grund von Kratylos 432 b und von Staat IV, 437e—439a.
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Daher wird denn auch kein vernünftiger Mensch daran denken, das von ihm Eingesehene eben dieser Unzulänglichkeit anzuvertrauen, und am wenigsten, wenn diese mit Unabänderlichkeit sich paart, wie das von allen schriftlichen Aufzeichnungen gilt. Näher erkläre ich dies so. Keinem Ding ist sein Name unabänderlich zugeordnet, und nichts könnte uns daran hindern, das, w a s jetzt krumm heißt, „gerade" zu nennen, und das, w a s jetzt gerade heißt, „krumm", und diese ins Gegenteil verkehrte Bezeichnung w ü r d e ebenso unabänderlich scheinen wie die jetzt gebräuchliche. Und von den Erklärungen gilt offenbar dasselbe, da sie ja nur aus Haupt- und Zeitwörtern bestehen. W a s aber die gezeichneten und gedrechselten Kreise betrifft, so durchdringt sie das Gegenteil der Kreisform ganz und g a r ; denn in jedem ihrer Punkte fallen sie mit einer Geraden zusammen, während doch „der Kreis selbst" von dem ihm entgegengesetzten Prinzip auch nicht das allermindeste in sich aufnehmen kann. Doch des Redens w ä r e kein Ende, wollte ich die Unsicherheit eines jeden jener vier Erkenntnismittel im einzelnen darlegen: die Hauptsache bleibt, w a s ich f r ü h e r andeutete. W e s e n und Erscheinung sind zweierlei. Die Seele aber verlangt es nach dem W e s e n , nicht nach der Erscheinung. Die vier Erkenntnismittel jedoch weisen, mit W o r t e n und an den Sachen, der Seele gerade das auf, wonach es sie nicht verlangt. Dadurch aber erscheint nun das jeweils gemeinte oder dargelegte W e s e n als ein solches, das durch die sinnliche W a h r n e h m u n g leicht zu widerlegen ist, und so wird sozusagen der Geist jedes Hörers oder Lesers von jeglicher A r t von Unsicherheit und Unklarheit erfüllt. W o wir nun infolge fehlerhafter Ausbildung das wahre W e s e n gar nicht zu suchen pflegen, uns vielmehr mit der aufgewiesenen Bildlichkeit zufrieden geben, da machen wir uns nicht leicht lächerlich, selbst wenn der, der uns ausfragt, zur Erschütterung und Widerlegung der vier Erkenntnismittel befähigt ist. W o wir dagegen einen zwingen, über das W e s e n (einer Sache) A u s k u n f t zu geben und es zu offenbaren, da behält jeder beliebige, der sich auf die Kunst der Widerlegung versteht, die Oberhand und stellt 28
den, der j e n e s W e s e n e r k l ä r t , es sei n u n in mündlichem V o r t r a g , in s c h r i f t l i c h e r D a r l e g u n g o d e r d u r c h B e a n t w o r t u n g von F r a g e n , vor d e r M e n g e d e r Z u h ö r e r als einen solchen hin, der von dem, w o r ü b e r e r zu s p r e c h e n oder zu s c h r e i b e n w a g t , n i c h t s v e r s t e h t . D e n n d a s w i s s e n ja diese Z u h ö r e r g a r h ä u f i g nicht, d a ß auf solche A r t g a r nicht die eigentliche M e i n u n g des R e d n e r s oder S c h r i f t s t e l l e r s widerlegt, vielmehr n u r die w e s e n h a f t e U n z u l ä n g l i c h k e i t d e r vier E r k e n n t n i s m i t t e l d a r g e t a n w i r d . K a u m d a ß die lange B e s c h ä f t i g u n g mit ihnen allen, die sich i m m e r w i e d e r von einem z u m a n d e r e n w e n d e t , in einem d e s w ü r d i g e n Geg e n s t a n d e s w ü r d i g e n Geist w a h r e E r k e n n t n i s z e u g t ; w e r d a g e g e n seiner u n w ü r d i g ist, w i e es ja die m e i s t e n sind, da ihr V e r s t a n d u n d ihr C h a r a k t e r teils von v o r n h e r e i n mind e r w e r t i g , teils n a c h t r ä g l i c h v e r d e r b t ist, d e m v e r m ö c h t e a u c h d e r s c h a r f s i n n i g e L y n k e u s s e l b s t d a s A u g e nicht zu ö f f n e n . M i t einem W o r t , es ö f f n e t sich n u r jenem, d e r dem G e g e n s t a n d innerlich v e r w a n d t i s t ; ohne solche V e r w a n d t s c h a f t gibt es auch w e d e r r a s c h e A u f f a s s u n g noch Gedächtnis, d e n n in einem w i d e r s t r e b e n d e n G e m ü t e schlägt d e r G e g e n s t a n d von vornherein nicht W u r z e l . W e r e t w a d e m R e c h t u n d allem a n d e r e n , w a s löblich ist, nicht von N a t u r geneigt u n d v e r w a n d t ist, d e r w i r d (auch w e n n e r s o n s t leicht f a ß t u n d g u t behält), d e n n einer f a ß t u n d beh ä l t eines, ein a n d e r e r a n d e r e s , in d e r E r k e n n t n i s des wahr e n W e s e n s von T u g e n d u n d L a s t e r nie so w e i t vorschreiten, a l s dies M e n s c h e n ü b e r h a u p t möglich ist, — a b e r freilich auch j e n e r nicht, d e r z w a r dem R e c h t v e r w a n d t ist, d e m e s a b e r a n F a s s u n g s k r a f t u n d G e d ä c h t n i s gebricht. T u g e n d u n d L a s t e r , sage ich, denn diese beiden k ö n n e n n u r z u s a m m e n e r f a ß t w e r d e n , und ebenso d a s W a h r e und d a s F a l s c h e in betreff alles Seins, u n d n u r nach vieler U e b u n g in l a n g e r A r b e i t , wie ich schon s a g t e : k a u m d a ß N a m e u n d E r k l ä r u n g , Bild u n d E m p f i n d u n g , eins am a n d e r n g e p r ü f t 1 u n d ( d u r c h d a s a n d e r e w i d e r l e g t ) , jedoch ohne R e c h t h a b e r e i u n d ohne d a ß M i ß g u n s t d a s F r a g e n u n d Antw o r t e n m i ß b r a u c h t e — k a u m d a ß d a n n ein w a h r e s Be1
Wörtlich: eins am anderen gerieben; Piaton denkt an die zum Zünden verwendeten Reibhölzer wie Staat IV, 435 a.
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greifen des Gegenstandes aufblitzt und Einsicht, die das höchste leistet, w a s menschliche K r a f t vermag. (Wie könnte man nun ein solches Verfahren durch das bloße Aufzeichnen seiner Ergebnisse ersetzen?) Daher wird jeder w a h r h a f t bedeutende Mann weit davon entfernt sein, das w a h r h a f t Bedeutende aufzuzeichnen und es damit der Mißgunst und Verständnislosigkeit der Menschen preiszugeben. So ergibt sich denn hieraus, mit einem W o r t , das folgende. W o eine schriftliche Aufzeichnung vorliegt, seien es nun die Gesetze eines Gesetzgebers oder irgendwelche anderen Schriften, da enthalten sie, wenn anders sie von einem bedeutenden Manne abgefaßt sind, nicht das, was diesem als das Bedeutendste galt, sondern dies ruht dann vielmehr wohlverwahrt in dem höchsten der Bezirke seines (Geistes). Hat er aber das, w a s ihm als w a h r h a f t bedeutend galt, schriftlich aufgezeichnet, dann betörten ihm wahrlich, zwar nicht Götter (wie der Dichter sagt), wohl aber die Menschen den Sinn! W e r nun dieser weit ausholenden Darlegung gefolgt ist, wird sich davon überzeugt haben, daß meiner Auffassung zufolge Dionysios wie auch jeder andere, der über die höchsten und letzten Gründe des Daseins schreibt, in die Lehre, die er wiedergibt, keine wirklich haltbare Einsicht besitzen kann. W ä r e er doch sonst um sie ebenso besorgt gewesen wie ich selbst und hätte sichs nicht beifallen lassen, sie der W i l l k ü r und Ungebühr (jedes beliebigen Lesers) auszusetzen. Bloß um sie sich zu merken, hat er sie ja gewiß nicht aufgezeichnet; denn f ü r den, dessen Seele diese Lehre einmal gefaßt hat, besteht keine Gefahr, d a ß er sie je wieder vergessen könnte; handelt sichs doch dabei um ein paar ganz kurze Formeln. Hat er also diese Lehre aufgezeichnet, so kann es nur aus üblem Ehrgeiz geschehen sein; er wollte entweder als ihr Entdecker erscheinen oder doch als ein in sie Eingeweihter — und doch w a r er solcher Einweihung (schon) darum nicht wert, weil es ihm (gar nicht um wirkliche Einweihung, vielmehr bloß) um den Schein einer solchen zu tun w a r . Wirkliches W i s s e n könnte er sich ja nur in jenem einen Gespräch mit mir angeeignet haben. Doch wie er es 30
e r w o r b e n h a b e n will, d a s m a g G o t t w i s s e n . Denn d a s ist g e w i ß , d a ß ich ihm n u r soviel mitteilte, als ich vorhin angab, u n d n u r ein einziges Mal, nach diesem aber nie w i e d e r . W a r u m aber haben w i r diese Dinge nicht auch ein z w e i t e s u n d d r i t t e s M a l d u r c h g e s p r o c h e n ? (Dionysios s e l b s t h a t d a r n a c h nicht v e r l a n g t ) . G l a u b t e er meine L e h r e gleich j e n e s e r s t e M a l e r f a ß t zu h a b e n u n d h a t sie in der T a t z u r G e n ü g e inne, sei es, d a ß er (den Sinn d e s G e h ö r t e n ) selbst e n t d e c k t e , sei es, d a ß er schon v o r h e r von a n d e r e n d a r ü b e r b e l e h r t w o r d e n w a r ? O d e r hielt e r d a s von mir D a r g e l e g t e f ü r w e r t l o s ? O d e r endlich h a t er e s s e l b s t g e f ü h l t , d a ß es f ü r ihn zu hoch u n d d a ß e r nicht d e r M a n n ist, sich in seiner L e b e n s f ü h r u n g nach den G r u n d s ä t z e n d e r V e r n u n f t u n d T r e f f l i c h k e i t zu r i c h t e n ? ( O f f e n b a r dies letztere.) Denn d a ß meine L e h r e w e r t l o s sein k ö n n t e , d e m w i d e r s p r i c h t d a s Z e u g n i s g a r vieler, die, h i e r ü b e r zu urteilen, w e i t b e r u f e n e r sind a l s Dionysios. ( V e r l a n g t e er a b e r nach w e i t e r e r B e l e h r u n g n u r d a r u m nicht), weil er die L e h r e schon s e l b s t g e f u n d e n oder von a n d e r e n e r l e r n t h a t t e , e r k a n n t e a b e r ihre Eignung an, d a s G e m ü t f r e i e r M ä n n e r zu bilden, wie k o n n t e er dann, w e n n a n d e r s er kein N a r r ist, ihren U r h e b e r u n d M e i s t e r leichten H e r z e n s so u n w ü r d i g b e h a n d e l n ? W i e e r mich a b e r (weiterhin) behandelte, dies will ich n u n berichten. Nicht lange nach (meiner A n k u n f t ) s p e r r t e Dionysios d e m Dion die E r t r ä g n i s s e seines V e r m ö g e n s , die ihm bis dahin in d e n P e l o p o n n e s n a c h g e s a n d t w o r d e n w a r e n , u n t e r d e m V o r w a n d e , dies V e r m ö g e n g e h ö r e eigentlich des Dion m i n d e r j ä h r i g e m Sohn, d e s s e n gesetzlicher V o r m u n d e r a l s sein O n k e l s e l b s t sei. U n d da w a r d mir d e n n k l a r , w a s es m i t d e m I n t e r e s s e d e s Dionysios f ü r die W a h r h e i t s f o r s c h u n g auf sich h a t t e , und sein V o r g e h e n e m p ö r t e mich, ich m o c h t e wollen oder nicht. Doch s a g t e ich mir, ich sollte w e n i g e r d e m Dionysios z ü r n e n als mir selbst u n d denen, die mich zu dieser d r i t t e n Reise n a c h Sizilien genötigt h a t t e n . I m m e r h i n e r k l ä r t e ich d e m Dionysios, da er m i t solcher R ü c k s i c h t s l o s i g k e i t gegen Dion v e r f a h r e , k ö n n e ich unmöglich länger sein G a s t bleiben. Es w a r nämlich S o m m e r , die Zeit, w o die H a n d e l s s c h i f f e aus31
laufen, u n d a u f g e b r a c h t , wie ich w a r , g e d a c h t e ich mit einem d e r s e l b e n abzureisen, auf die G e f a h r hin, d a ß ich d a r a n g e h i n d e r t u n d w e i ß G o t t wie schlecht b e h a n d e l t w ü r d e ; denn d a n n w ü r d e es ja s o n n e n k l a r sein, d a ß mich keine S c h u l d t r a f , d a ß vielmehr mir U n r e c h t geschah. Dionysios aber w a r d e r Meinung, es w ü r d e ihm S c h a n d e bringen, w e n n sein V o r g e h e n alsbald d u r c h mich b e k a n n t w ü r d e , u n d d a r u m s u c h t e er mich zu b e r u h i g e n u n d b a t mich zu bleiben, u n d als er damit nicht zum Ziel kam, s a g t e e r mir zu, selbst f ü r meine H e i m r e i s e S o r g e zu t r a g e n . A l s er jedoch b e m e r k t e , d a ß ich keine L u s t h a t t e , dies abzuw a r t e n , verfiel er, um mich an d e r A u s n ü t z u n g d e r Reisezeit zu h i n d e r n , auf ein a n d e r e s M i t t e l . S c h o n am nächsten T a g erschien er bei mir mit d e m folgenden, anscheinend s e h r e r n s t gemeinten V o r s c h l a g : „Dion u n d seine Angelegenheiten sollen u n s nicht immer w i e d e r entzweien. Dah e r will ich ihm u m deinetwillen auf f o l g e n d e A r t entgeg e n k o m m e n . Sein ganzes V e r m ö g e n soll ihm z u r ü c k g e stellt w e r d e n . D a f ü r verlange ich nur, d a ß er sich w e i t e r im P e l o p o n n e s a u f h ä l t . A b e r nicht als V e r b a n n t e r . Denn auch seiner R ü c k k e h r nach S y r a k u s soll nichts im W e g e s t e h e n , s o b a l d w i r alle, er, ich, s o w i e d u u n d die Deinen, den richtigen A u g e n b l i c k f ü r g e k o m m e n erachten. V o r a u s s e t z u n g ist dabei, d a ß er nichts gegen mich u n t e r n i m m t . D a f ü r a b e r b ü r g s t du mir mit deinen Angehörigen, s o w i e auch Dions A n g e h ö r i g e hier d a f ü r b ü r g e n . E u r e S a c h e ist es, euch w i e d e r ihm gegenüber sicher zu stellen. Sein V e r m ö g e n w i r d im P e l o p o n n e s und in A t h e n bei von euch zu b e s t i m m e n d e n V e r t r a u e n s l e u t e n h i n t e r l e g t . Dion bezieht d a s E r t r ä g n i s , soll aber nicht b e f u g t sein, ohne e u r e Z u s t i m m u n g über d a s K a p i t a l zu v e r f ü g e n . D e n n ich h a b e nicht d a s volle V e r t r a u e n , d a ß er mit seinem g r o ß e n V e r mögen nichts gegen mich u n t e r n i m m t ; euch dagegen vert r a u e ich. Bist du nun hiermit e i n v e r s t a n d e n , so bleibe noch bis zum F r ü h j a h r h i e r ; d a n n r e i s e a b u n d nimm D i o n s V e r m ö g e n m i t : er w i r d dir d a f ü r g e w i ß d a n k b a r seini." Dies zu h ö r e n v e r d r o ß mich nun sehr, um a b e r Bedenkzeit zu g e w i n n e n , v e r s p r a c h ich, auf d e n V o r s c h l a g am n ä c h s t e n T a g A n t w o r t zu geben, u n d d a b e i blieb es. 32
Als ich nun mit mir selbst allein w a r , ging ich mit mir zu R a t e . Ich f ü h l t e mich ganz v e r s t ö r t , f ü r meine Entscheidung a b e r w a r die f o l g e n d e E r w ä g u n g bestimmend. Ich s a g t e mir n ä m l i c h : „ W a h r s c h e i n l i c h h a t ja Dionysios g a r nicht die Absicht, e t w a s von dem, w a s e r jetzt verspricht, zu halten. Allein w e n n ich j e t z t abreise, w i r d er dem Dion die S a c h e so d a r s t e l l e n , a l s w ä r e e r zu einem A b k o m m e n bereit gewesen, dieses a b e r d a r a n gescheitert, d a ß ich es ablehnte, auf Dions I n t e r e s s e R ü c k sicht zu nehmen. A u ß e r d e m a b e r : w i r d mich d e n n Dionysios, w e n n ich seinen V o r s c h l a g ablehne, ü b e r h a u p t abreisen l a s s e n ? W e n n er die K a p i t ä n e w i s s e n läßt, d a ß es ihm nicht e r w ü n s c h t ist, d a ß ich f a h r e , w i r d e s irgendeiner wagen, mich, seinen G a s t , t r o t z d e m m i t z u n e h m e n ? J a , u m d a s U n g l ü c k voll zu machen, s t e h t ja d a s H a u s , d a s ich bewohne, im B u r g g a r t e n ; da w ü r d e mich w o h l die T o r w a c h e ohne b e s o n d e r e n A u f t r a g des F ü r s t e n g a r nicht h i n a u s l a s s e n . Bleibe ich d a g e g e n f r e i w i l l i g bis z u m nächsten J a h r , so k a n n ich Dion (auf j e d e n Fall) ü b e r d e n S t a n d der Angelegenheit u n t e r r i c h t e n . U n d h ä l t d a n n Dionysios e t w a s von dem, w a s er v e r s p r i c h t , so w e r d e ich doch e t w a s nicht g a n z U n b e t r ä c h t l i c h e s e r r e i c h t (nämlich d a s V e r m ö g e n d e s Dion ganz oder doch zum T e i l ger e t t e t ) haben, das, w e n n ich es richtig schätze, w o h l nicht w e n i g e r als 100 T a l e n t e b e t r ä g t . E r e i g n e t sich aber, w i e ich f a s t f ü r c h t e , d a s Gegenteil hiervon, d a n n w e i ß ich z w a r , w a s mich b e t r i f f t , nicht, w a s a u s mir w e r d e n soll, (aber Dionysios w i r d sich d a n n ) d u r c h sein V e r h a l t e n (selbst vor aller W e l t b l o ß s t e l l e n ) . Um seine R ä n k e zu d u r c h k r e u z e n , m u ß ich a l s o w o h l dies eine J a h r noch o p f e r n . " D a s also w a r d a s Ergebnis, zu dem ich gelangte, u n d so e r k l ä r t e ich d e m Dionysios a m a n d e r n T a g , ich h ä t t e mich entschlossen, zu bleiben. S e i n e n V o r s c h l a g endgültig anzunehmen, h ä t t e ich a l l e r d i n g s von Dion k e i n e Vollmacht. W i r m ü ß t e n ihm also diesen V o r s c h l a g sof o r t brieflich mitteilen u n d es ihm ü b e r l a s s e n , ob e r ihn annehmen oder eine A b ä n d e r u n g b e a n t r a g e n wolle. N u r d ü r f e Dionysios bis zum E i n t r e f f e n seiner A n t w o r t in Sachen Dions keine neuen V e r f ü g u n g e n t r e f f e n . So also 33
verlief u n s e r e V e r h a n d l u n g , so l a u t e t e u n s e r e Abmachung, f a s t w ö r t l i c h so, w i e ich sie hier w i e d e r g e g e b e n habe. U n d so f u h r e n denn die (letzten) S c h i f f e a u s (und n a h m e n die Briefe an Dion mit), mir aber w a r es nun nicht m e h r möglich, Sizilien zu verlassen. Da e r w ä h n t e Dionysios (eines T a g e s ) im G e s p r ä c h mit mir, d a ß eigentlich n u r die H ä l f t e des V e r m ö g e n s Dion gebühre, die and e r e H ä l f t e seinem S o h n ; er w e r d e d a h e r den ganzen Besitz v e r k a u f e n u n d den halben E r l ö s mir übergeben, auf d a ß ich ihn nach G r i e c h e n l a n d brächte, die a n d e r e H ä l f t e dagegen w e r d e er f ü r Dions S o h n z u r ü c k b e h a l t e n ; d a s w e r d e die richtigste L ö s u n g sein. D u r c h diese A e u ß e r u n g f ü h l t e ich mich w i e vor den Kopf g e s t o ß e n u n d ich sah w o h l ein, d a ß da j e d e r W i d e r s p r u c h vergeblich bleiben m ü s s e . Dennoch s a g t e ich, w i r m ü ß t e n v o r e r s t D i o n s A n t w o r t a b w a r t e n ; d a n n e r s t k ö n n e m a n ihm den neuen V o r schlag u n t e r b r e i t e n . Allein Dionysios v e r k a u f t e n u n m e h r Dions g a n z e n Besitz auf die l e i c h t f e r t i g s t e A r t , w a n n , w i e u n d an w e n es ihm beliebte, r e d e t e a b e r mit mir kein W o r t davon, w i e auch ich über Dions Angelegenheiten nie m e h r m i t ihm s p r a c h , da ich w u ß t e , d a ß d a s keinen Z w e c k m e h r h ä t t e . U n d bis zu diesem Z e i t p u n k t h a t t e mich d e r W u n s c h b e h e r r s c h t , d e r W a h r h e i t s f o r s c h u n g u n d meinen F r e u n d e n nützlich zu sein. Von jetzt a n dagegen f ü h l t e ich mich wie ein Vogel im Käfig, d e r keinen a n d e r n W u n s c h h a t a l s den, seine Freiheit w i e d e r zu erlangen. U n d so lebte ich neben Dionysios hin, d e r seinerseits n u r darauf sann, mich einzuschüchtern, um von Dions V e r mögen nichts h e r a u s g e b e n zu m ü s s e n . U n d dabei s p r a c h e n w i r ( g e r a d e d a m a l s ) vor ganz Sizilien von u n s e r e r F r e u n d schaft ! Um diese Z e i t ereignete sich a b e r folgendes. In S y r a k u s lag eine A b t e i l u n g b a r b a r i s c h e r S ö l d n e r . Um zu s p a r e n , w o l l t e Dionysios den S o l d der ä l t e r e n (und d a r u m w e n i g e r k r i e g s t ü c h t i g e n ) u n t e r ihnen h e r a b s e t z e n . D a e n t s t a n d eine G ä r u n g u n t e r d e r l e i c h t b e w a f f n e t e n ( G a r d e ) ; Dionysios schloß die T o r e der B u r g ; j e n e a b e r schickten sich an, die B u r g u n t e r b a r b a r i s c h e n Gesängen zu s t ü r men. Da e r s c h r a k Dionysios u n d g a b seine Absicht a u f , 34
ja gestand sogar eine Erhöhung des Soldes zu. Die Schuld an dem Aufstand aber schrieb das Gerücht (einem höherem Offizier), dem Herakleides, zu. Daher flüchtete dieser, Dionysios aber gab Befehl, ihn aufzugreifen. Und da dies nicht gleich gelang, befahl er Theodotes (den mit Dion befreundeten Onkel des Herakleides) zu sich in den Burggarten. In diesem aber erging auch ich mich gerade. Und ihr übriges Gespräch hörte ich nicht. Einmal aber wandte sich Theodotes im Beisein des Dionysios geradezu an mich mit folgenden Worten: „Piaton, ich bemühe mich gerade von Dionysios die Zusage zu erwirken, wenn es mir gelingt, den Herakleides dazu zu bringen, sich vor ihm zu rechtfertigen, so möge er ihm, falls er ihn schon hier im Lande nicht dulden will, doch gestatten, sich mit Weib und Kind in den Peloponnes zu begeben und dort von den Erträgnissen seines Vermögens zu leben. Ich habe denn auch den Herakleides bereits zur Rückkehr auffordern lassen und bin auch bereit, es nochmals zu tun, bedinge mir aber dafür von Dionysios aus, er möge über Herakleides, auch in dem Fall, daß seine Leute ihn greifen sollten, keine härtere S t r a f e als Landesverweisung auf unbestimmte Zeit verhängen". Und, sich an Dionysios wendend, fragte Theodotes: „ S a g s t du mir das z u ? " und dieser erwiderte: „Ich sage dirs zu . . .". Am nächsten Abend aber stürzten Theodotes und Eurybios ganz verstört zu mir herein, und Theodotes rief mir zu: „Piaton, warst du nicht gestern dabei, wie Dionysios mit dir (?) und mir des Herakleides wegen ein Abkommen t r a f ? " Natürlich, gab ich zur Antwort. „Und doch, fuhr er fort, sucht eben jetzt die Garde nach Herakleides. Und er muß hier irgendwo in der Nähe sein. Du mußt unbedingt mit uns zu Dionysios gehen." S o gingen wir also zu ihm. Theodotes und Eurybios nun weinten, ich aber sagte: „Diese Männer fürchten, du könntest etwas gegen die gestrige Abmachung tun; Herakleides soll nämlich irgendwo hier in der Nähe versteckt sein". Als Dionysios das hörte, fuhr er auf und spielte vor Zorn alle Farben. Theodotes aber fiel vor ihm nieder und flehte ihn unter Tränen an, dem Herakleides nichts zuleide zu tun. Ich aber tröstete ihn und sagte: „Keine Angst, Theo3-
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d o t e s ! Dionysios w i r d g e w i ß nicht s o w e i t gehen, e t w a s gegen die gestrige A b r e d e zu t u n " . Dionysios a b e r warf mir einen d r o h e n d e n Blick zu u n d s a g t e : „Dir, Piaton, h a b ' ich j e d e n f a l l s g a r nichts zugesagt, w e d e r viel noch w e n i g " . Ich a b e r v e r s e t z t e : „Doch, bei den G ö t t e r n , du h a s t es getan, u n d z w a r eben das, w o r u m dich d i e s e r j e t z t b i t t e t " , u n d nach diesen W o r t e n m a c h t e ich k e h r t u n d e n t f e r n t e mich. Dionysios a b e r m a c h t e z w a r auch w e i t e r noch J a g d auf H e r a k l e i d e s , doch g e l a n g es diesem, von T h e o d o t e s g e w a r n t , einen kleinen V o r s p r u n g vor seinen V e r f o l g e r n zu g e w i n n e n u n d in d a s Gebiet d e r K a r t h a g e r zu e n t k o m m e n . Von nun an s u c h t e Dionysios (einen Bruch zwischen u n s h e r b e i z u f ü h r e n ) , o f f e n b a r in d e r H o f f n u n g , es mit seiner F e i n d s e l i g k e i t gegen mich b e g r ü n d e n zu k ö n n e n , w e n n er, in V e r f o l g u n g seines alten P l a n e s , D i o n sein V e r m ö g e n nicht e r s t a t t e . U n d z u n ä c h s t e n t z o g e r m i r m e i n e alte W o h n u n g in d e r B u r g u n t e r dem V o r w a n d , d a ß die F r a u e n (seines H a u s h a l t s ) d e n G a r t e n zu einem zehntägigen O p f e r f e s t benötigten, u n d b r a c h t e mich e i n s t w e i l e n a u ß e r h a l b d e r B u r g bei A r c h e d e m o s u n t e r . W ä h r e n d ich a b e r d o r t w o h n t e , ließ mich T h e o d o t e s zu sich b i t t e n u n d s p r a c h sich mir gegenüber e r r e g t u n d scharf ü b e r d a s V o r gehen d e s D o n y s i o s aus. A l s n u n Dionysios von d i e s e m Besuch hörte, f a n d er hierin einen w e i t e r e n A n l a ß zu einem Z e r w ü r f n i s u n d ließ mich f r a g e n , ob ich m i t T h e o dotes w i r k l i c h z u s a m m e n g e k o m m e n s e i ? U n d a l s ich dies b e j a h t e , e r ö f f n e t e mir d e r Bote, e r h a b e f ü r diesen Fall d e n A u f t r a g , mir zu sagen, es sei nicht schön von mir, d a ß ich Dion und seine F r e u n d e so o f f e n k u n d i g d e m D i o n y s i o s vorzöge. U n d s e i t h e r beschied d i e s e r mich nie m e h r zu sich, indem er so tat, als w ä r e ich n u n o f f e n k u n d i g d e r F r e u n d des T h e o d o t e s u n d des H e r a k l e i d e s u n d sein F e i n d : er n a h m w o h l an, ich w o l l e ihm n u n nicht m e h r wohl, da ich mich davon ü b e r z e u g t h ä t t e , d a ß D i o n s V e r mögen f ü r diesen endgültig v e r l o r e n sei. So w o h n t e ich denn nun a u ß e r h a l b d e r B u r g im Söldnerviertel. (Aber auch d o r t w a r meines Bleibens nicht.) D e n n von einigen A t h e n e r n , die zur B e m a n n u n g 36
( d o r t ü b e r w i n t e r n d e r S c h i f f e ) gehörten, e r f u h r ich, d a ß die G a r d e gegen mich a u f g e h e t z t w u r d e (vermutlich, ind e m m a n j e n e g e p l a n t e K ü r z u n g i h r e s S o l d e s auf P i a t o n s E i n f l ü s t e r u n g e n z u r ü c k f ü h r t e ) u n d d a ß sie D r o h u n g e n a u s s t i e ß , mich umzubringen, w e n n sie meiner h a b h a f t w ü r d e . (In dieser Notlage n u n ) verfiel ich auf f o l g e n d e n A u s w e g . Ich s a n d t e B o t s c h a f t an A r c h y t a s u n d die übrig e n F r e u n d e in T a r e n t u n d legte ihnen meine L a g e d a r . Sie aber f a n d e n irgendeinen G r u n d , eine G e s a n d t s c h a f t n a c h S y r a k u s zu s e n d e n . So k a m denn einer von ihnen, L a m i s k o s , als G e s a n d t e r auf einem mit 50 R u d e r e r n bem a n n t e n S t a a t s s c h i f f , b r a c h t e bei Dionysios meinen dringenden W u n s c h , abzureisen, z u r S p r a c h e und b a t um d e s s e n G e w ä h r u n g . Dionysios e r k l ä r t e sich damit einvers t a n d e n , ließ mir d a s Reisegeld a u s z a h l e n u n d g a b mir die E r l a u b n i s a b z u r e i s e n . V o n Dions V e r m ö g e n a b e r w a r nicht m e h r die R e d e . Ich k a m d a n n in den P e l o p o n n e s u n d traf in Olympia mit Dion z u s a m m e n , der d o r t als Z u s c h a u e r den S p i e l e n b e i w o h n t e u n d d e m ich über meine E r l e b n i s s e berichtete. Dion geriet n u n ü b e r diese in h e f t i g e E r r e g u n g u n d f o r d e r t e mich s o w i e meine Angehörigen u n d F r e u n d e auf, m i t ihm z u s a m m e n einen S c h l a g gegen Dionysios vorzubereit e n : h ä t t e n w i r doch den Bruch d e r G a s t f r e u n d s c h a f t zu rächen, s o w i e er seine u n v e r d i e n t e V e r b a n n u n g . Ich a b e r gab ihm z u r A n t w o r t : „An meine F r e u n d e m a g s t d u dich w e n d e n ; es ist ihre Sache, ob sie dir folgen w o l l e n ; mich aber h a b t ihr f a s t mit G e w a l t gezwungen, (der G a s t d e s Dionysios zu w e r d e n ) , mit ihm Haus, T i s c h u n d Heiligt ü m e r zu t e i l e n ; u n d er, o b z w a r er j a vermutlich d e r V e r leumdung, ich sei mit dir gegen seine H e r r s c h a f t verr s c h w o r e n , w i r k l i c h g e g l a u b t hat, scheute doch davor zur ü c k , mich zu töten. (Daher will ich an einer g e w a l t s a m e n U n t e r n e h m u n g gegen ihn s c h l e c h t e r d i n g s nicht teilnehmen), z u m a l ich ja auch schon zu a l t bin, u m noch s e l b s t eine W a f f e zu f ü h r e n . A m b e s t e n w ä r ' es, es k ä m e zwischen dir u n d Dionysios eine f r e u n d s c h a f t l i c h e V e r s t ä n d i g u n g z u s t a n d e . Solltet ihr eine solche j e m a l s i n s A u g e f a s s e n , d a n n s t e h e ich euch a l s V e r m i t t l e r g e r n e 37
zur Verfügung. Solange ihr aber gegeneinander Uebles im Schilde führt, müßt ihr euch nach anderen Genossen umsehen!" Diese Stellung also nahm ich ein, denn all das Hin und Her und all die Mißerfolge in der sizilischen Sache waren mir nun schon höchlich zuwider. Allein meinem Rat, sich zu vertragen, folgten sie nicht und stürzten sich so beide selbst in ihr Verhängnis. Der eigentliche Ursprung desselben ist aber, soweit ein Mensch das beurteilen kann, doch darin zu suchen, daß Dionysios dem Dion sein Vermögen nicht ausfolgen oder, w a s noch besser gewesen wäre, sich mit ihm gänzlich aussöhnen wollte; denn dann hätte ich Dion leicht von jeder gewaltsamen Unternehmung zurückhalten können. So aber haben sie sich feindlich aufeinander gestürzt und dadurch unendliches Leid über alle gebracht! Dabei erstrebte aber Dion, wie es auch mir selbst richtig scheint und wohl auch jedem andern richtig Denkenden, Macht und Ehre nur, um in ihrem Besitz so segensreich als möglich zu wirken. Segensreich wirken bedeutet aber nicht etwa, sich und seine Freunde auf Kosten aller andern — die man dann Staatsfeinde nennt — bereichern, oder die Besitzenden zugunsten der Masse enteignen, oder unterworfene Städte zugunsten der herrschenden Stadt ausplündern! All das gereicht ja zuletzt dem, der es anordnet, und seinen Nachkommen zum Fluch, und auch Dion war weit davon entfernt. Sondern segensreich wirken heißt, die beste Verfassung aufrichten und die besten Gesetze geben, dabei aber alles Blutvergießen und jede Landesverweisung vermeiden. Das w a r auch die Aufgabe, die sich Dion gestellt hatte; denn er setzte sich lieber der Gefahr aus, selbst das Opfer einer Freveltat zu werden, als selbst Frevel zu üben, ohne es übrigens an der gebotenen Vorsicht fehlen zu lassen. W e n n er trotzdem auf der Höhe seiner Erfolge zu Falle kam, so nur darum, weil es ihm wie einem erfahrenen Seemann erging. W i e nämlich dieser zwar das Nahen des Sturmes vorhersieht, über dessen ganz außergewöhnliche Stärke sich indes doch einmal täuschen kann, so täuschte sich auch Dion keineswegs über die Nichtswürdigkeit der Verräter, allein die ganze Größe ihrer Verblendung, 38
Schlechtigkeit u n d M a c h t g i e r e r k a n n t e er freilich nicht. D a r a n ging er z u g r u n d e und t a u c h t e so Sizilien in unermeßliches W e h ! Meinen R a t nun, w a s in d e r j e t z t g e s c h a f f e n e n L a g e zu t u n sei, h a b ' ich euch ja schon gegeben. N u r g l a u b t e ich auch noch a u s f ü h r e n zu müssen, wie es zu meiner zweiten R e i s e an den Hof Dionysios (II.) ü b e r h a u p t gekommen ist, da die (mit dieser v e r k n ü p f t e n ) Ereignisse s o n s t leicht ganz u n v e r n ü n f t i g u n d u n v e r s t ä n d l i c h erscheinen k ö n n t e n . Sollte es mir a b e r gelungen sein, irgend j e m a n d zu einem b e s s e r e n V e r s t ä n d n i s dieser V o r g ä n g e zu verhelfen, d a n n h a b ' ich das, w a s ich wollte, erreicht. Die U r k u n d e , d e r e n G e d a n k e n g a n g ich soeben wiederzugeben suchte, ist sicherlich eine d e r m e r k w ü r d i g s t e n d e s A l t e r t u m s . W a s die T i e f e des Einblicks in die Bewegg r ü n d e s t a a t s m ä n n i s c h e n H a n d e l n s b e t r i f f t , den sie u n s erö f f n e t , steht sie im altgriechischen S c h r i f t t u m wohl einzig d a und ist in diesem B e t r a c h t auch Solons Gedichten, dem einzigen S t ü c k dieses S c h r i f t t u m s , d a s sich zum Vergleiche darbietet, weit überlegen. S i n d w i r a b e r nun einmal von ihrer Echtheit ü b e r z e u g t — und d e m f r ü h e r Ges a g t e n darf ich jetzt die F r a g e beifügen, wo im A l t e r t u m d e r S e e l e n k e n n e r w ä r e , der dazu f ä h i g w a r , sie zu erd i c h t e n ? —, d a n n gilt es auch, a u s ihr die F o l g e r u n g e n abzuleiten, die sie u n s zu ziehen g e s t a t t e t . V o n diesen Folg e r u n g e n möchte ich hier n u r jene, die P i a t o n s C h a r a k t e r b e t r e f f e n , k u r z b e r ü h r e n , auf die w e i t b e d e u t u n g s v o l l e r e n aber, die sich auf seine L e h r e beziehen, eben n u r hindeuten. W a s lernen w i r a u s dem S i e b e n t e n Brief über P i a t o n s persönliche E i g e n a r t ? D a r ü b e r h a b e ich mich an a n d e r e r Stelle mit f o l g e n d e n W o r t e n g e ä u ß e r t 1 : Diese „ k o s t b a r e U r k u n d e , die freilich P i a t o n s hohem Alter e n t s t a m m t , ist d u r c h s ä t t i g t von r e i f e r E r f a h r u n g , M e n s c h e n k e n n t n i s und L e b e n s w e i s h e i t ; sie zeigt u n s den Philosophen e r f ü l l t von 1 Die Lebensauffassung der griechischen Philosophen und das Ideal der inneren Freiheit, 3. Auflage, Jena 1927, S. 170.
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nie w a n k e n d e m G l a u b e n an die A l l e i n b e r e c h t i g u n g seiner Ideale und s t e t s bereit, ihrem D i e n s t alle a n d e r e n Rücksichten, auch die auf seine R u h e u n d Bequemlichkeit, aufz u o p f e r n , e r f ü l l t a b e r auch von einer s e h r hohen ( u n d zum g r ö ß t e n T e i l g e w i ß berechtigten) M e i n u n g von seiner eigenen B e d e u t u n g u n d W ü r d e sowie von d e r Unvergleichlichkeit seiner B e f ä h i g u n g zum L e h r e r u n d E r z i e h e r . Sie l ä ß t u n s u n v e r h o f f t e Blicke in P i a t o n s Seele t u n und d o r t ein t i e f e s G e f ü h l seiner V e r a n t w o r t u n g seiner Sache u n d seinen F r e u n d e n gegenüber w a h r n e h m e n , a b e r — mit diesem a u f s e n g s t e v e r b u n d e n — auch die s t e t s wiederk e h r e n d e Besorgnis, m a n k ö n n t e ihm die S c h u l d an deren M i ß e r f o l g e n zuschreiben, f ü r diese sein R u h e b e d ü r f n i s u n d seine allzu g r o ß e V o r s i c h t v e r a n t w o r t l i c h machen, u n d — d a s V e r h ä n g n i s v o l l s t e — die b e s t ä n d i g e A n g s t , vorsichtige Z u r ü c k h a l t u n g möchte ihn als bloßen, j e d e s tatkräftigen Entschlusses u n f ä h i g e n D e n k e r erscheinen lassen!" In der T a t k a n n es w o h l k a u m einem Leser u n s e r e r S c h r i f t entgehen, wie g e r a d e j e n e B e s o r g n i s u n d diese A n g s t es sind, die P i a t o n — seiner j e w e i l s e r s t e n R e g u n g u n d seinem w o h l b e r e c h t i g t e n G e f ü h l entgegen — i m m e r w i e d e r dahin bringen, d a s V e r k e h r t e zu t u n (der Einlad u n g des Dionysios zweimal Folge zu leisten und S y r a k u s nicht rechtzeitig zu v e r l a s s e n ) . W a r e n sie es indes allein, die ihn in diese R i c h t u n g d r ä n g t e n ? N i e m a n d k a n n verkennen, d a ß d a b e i z u m i n d e s t noch ein w e i t e r e r U m s t a n d entscheidend m i t w i r k t e : P i a t o n s U e b e r s c h ä t z u n g d e r Einw i r k u n g . die seine L e h r e auf einen C h a r a k t e r w i e den d e s j ü n g e r e n Dionysios üben k o n n t e . I m m e r w i e d e r — auch noch nach den e r s t e n E n t t ä u s c h u n g e n , die d e r j u n g e F ü r s t ihm b e r e i t e t h a t t e — „ w ü r d e er sich nicht w u n d e r n " , w e n n dieser sich doch noch zu seinem g e t r e u e n J ü n g e r e n t w i c k e l t e ! N u n m ö c h t e ich über Dionysios b l o ß auf G r u n d von P i a t o n s D a r s t e l l u n g nicht g e r a d e ein endgültiges U r t e i l f ä l l e n . Nicht immer, w e n n dies P i a t o n s o erschien, m u ß Dionysios g e r a d e z u sein W o r t g e b r o c h e n h a b e n . Vielleicht w a r e r auch im g a n z e n k e i n s c h l e c h t e r H e r r s c h e r , vielleicht s o g a r ein b e s s e r e r , als P i a t o n an
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seiner Stelle g e w o r d e n w ä r e . Eines a b e r scheint doch k l a r : d a ß ihn keinerlei sittliche B e d e n k e n hemmten, d a ß er, w e n n d a s seinen A b s i c h t e n oder auch n u r seinen L a u n e n dienlich schien, h e u t e u n g e s c h e u t d a s Blaue vom Himmel h e r a b v e r s p r a c h , um m o r g e n ebenso u n g e s c h e u t d a s g e r a d e Gegenteil zu t u n ! U n d g e r a d e diesen M a n n g l a u b t e P i a t o n so m ä c h t i g u n d n a c h h a l t i g b e e i n f l u s s e n zu k ö n n e n , d a ß von ihm die sittliche E r n e u e r u n g des S t a a t s l e b e n s in d e r ganzen W e l t sollte a u s g e h e n k ö n n e n ! Da w i r d m a n sich doch der E r k e n n t n i s k a u m verschließen d ü r f e n , d a ß P i a t o n g e r a d e d a s w a r , w a s er nicht sein w o l l t e : ein bloßer T h e o r e t i k e r ! Eines e r k l ä r e n d e n U m s t a n d e s ist h i e r wohl freilich noch zu g e d e n k e n : Dionysios w i r d eine persönlich übera u s l i e b e n s w ü r d i g e N a t u r g e w e s e n sein, d e r e n Z a u b e r sieb P i a t o n sichtlich n i e m a l s ganz u n d g a r zu entziehen vermocht h a t . W e n i g s t e n s m a c h t es diese A n n a h m e nicht n u r begreiflicher, d a ß P i a t o n an dem Plan, Dionysios f ü r sich zu gewinnen, so h a r t n ä c k i g f e s t h i e l t u n d sein Scheitern immer w i e d e r in e r r e g t e n W o r t e n b e k l a g t ; sie e r k l ä r t , w e n i g s t e n s bis zu einem g e w i s s e n G r a d e , auch die s e l t s a m s c h o n e n d e A r t , in d e r er über Dionysios auch noch a m S c h l ü s s e u n s e r e s B r i e f e s spricht, indes auch die noch ers t a u n l i c h e r e T a t s a c h e , d a ß er auch noch im Achten Brief, der, wie gleichfalls E g e r m a n n gezeigt hat, s p ä t e r v e r f a ß t ist als u n s e r S i e b e n t e r , die Möglichkeit zum m i n d e s t e n ernstlich e r w ä g t , Dionysios ncucrlich - - freilich nicht ihm allein, vielmehr ihm z u s a m m e n m i t seinem B r u d e r und Dions Sohn, u n d u n t e r gleichzeitiger E i n f ü h r u n g einer, d e r s p a r t a n i s c h e n nachgebildeten V e r f a s s u n g — die H e r r s c h a f t ü b e r S y r a k u s zu ü b e r t r a g e n , „ f a l l s er gewillt ist, sich mit d e r S t e l l u n g eines v e r f a s s u n g s m ä ß i g e n Königs abz u f i n d e n " — a l s ob eine d e r a r t i g e E r k l ä r u n g eines solchen M a n n e s i r g e n d e i n e n S c h l u ß auf sein k ü n f t i g e s V e r h a l t e n erlaubte! W i c h t i g e r f ü r u n s ist n a t ü r l i c h die Frage, w e l c h e S c h l ü s s e auf P i a t o n s L e h r e sich a u s u n s e r e r S c h r i f t ziehen lassen. W e r sich k l a r m a c h t , d a ß P i a t o n in seinen Ge41
sprächen — die „Gesetze" etwa ausgenommen — stets durch den Mund entweder des Sokrates oder aber eines Eleaten oder Pythagoreers zu uns redet, daß somit seine Briefe, soweit sie echt sind, die einzigen Urkunden darstellen, in denen er im eigenen Namen spricht, daß aber unter den nicht sehr zahlreichen lehrhaften Aeßerungen der Briefe diejenigen unseres Briefes weitaus die ausführlichsten sind, wird von vornherein dazu neigen, ihnen eine recht große Bedeutung beizumessen. Doch ehe ich, wenn auch ganz kurz, auf sie näher eingehe, sei erst noch eine allgemeinere Frage berührt. Nichts mag wohl den heutigen Leser des Siebenten Briefes fremdartiger anmuten, als der innige Zusammenhang, der f ü r Piaton offensichtlich zwischen dem Inhalt seiner Lehren und der von ihm geforderten Lebensgestaltung besteht: obwohl diese Lehren ganz gewiß in schwierigen Erkenntnissen gipfeln, so bilden sie doch zugleich, Piaton zufolge, die einzig tragfähige Grundlage verständiger, geordneter Lebensführung. Die „Wahrheitsforschung" 1 ist ihm zugleich die notwendige, indes auch die zureichende Bedingung wahrer Sittlichkeit. Ich glaube mich nicht weit in das Gebiet des Zweifelhaften vorzuwagen, wenn ich zur Verdeutlichung dieses Zusammenhanges darauf verweise, daß f ü r Piaton alles Erkennen, aber ebenso auch alles T u n in dem Begriff, in der Idee, des Guten seinen obersten Quellpunkt h a t : die höchste und letzte Erkenntnis hängt f ü r ihn gewiß mit der Erkenntnis des Guten zusammen; aber wie für alle Sokrates-Jünger, so heißt nun auch f ü r Piaton: das Gute tun, zuletzt n u r : von der Erkenntnis des Guten die Anwendung aufs Leben machen! Schon hieraus d ü r f t e man folgern, daß Piaton, als er den Siebenten Brief schrieb, sich zu einer ganz bestimmten Lehre bekannte: denn wie konnte er das einzig lebenswürdige Leben auf schwankende Meinungen und einander ablösende Denkmöglichkeiten gründen? In der T a t setzt 1
So glaubte ich die Bedeutung, die „Philosophie" bei Piaton hat, am zutreffendsten wiedergeben zu können.
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P i a t o n in dieser S c h r i f t den B e s t a n d solch einer f e s t e n L e h r e d u r c h w e g v o r a u s : s p r i c h t er doch s o g a r einmal von einigen k u r z e n Formeln, die die S u m m e seiner L e h r e in sich f a s s e n sollen. In noch h ö h e r e m G r a d e beweisend freilich als j e d e einzelne A e u ß e r u n g s o l c h e r A r t ist die g a n z e H a l t u n g d e s V e r f a s s e r s : vom e r s t e n bis zum letzten W o r t ist sie eine d u r c h a u s l e h r h a f t e . Z w a r l ä ß t sich die W a h r h e i t dem S c h ü l e r nicht einfach eingießen, ihre Aneignung erfordert seinerseits langjährige Uebung und tätige M i t a r b e i t ; aber doch h a n d e l t sichs eben um die Aneign u n g einer b e s t i m m t e n W a h r h e i t , u n d P i a t o n f ü h l t sich sicher in ihrem Besitz! G e w i ß ist d a s f ü r einen F ü n f u n d s i e b z i g j ä h r i g e n die n a t ü r l i c h e H a l t u n g . Allein ist es d e n k b a r , d a ß er diese H a l t u n g e r s t in o d e r k u r z vor seinem fünfundsiebzigsten J a h r e angenommen hätte? Das würde doch schon aller psychologischen W a h r s c h e i n l i c h k e i t h o h n s p r e c h e n ; allein P i a t o n s D a r s t e l l u n g w i d e r s t r e i t e t einer solchen A n n a h m e auch a u s d r ü c k l i c h . Sein z w e i t e r A u f e n t h a l t am H o f e des j ü n g e r e n Dionysios fällt ja sieben J a h r e , d e r e r s t e 13 J a h r e vor die A b f a s s u n g u n s e r e s B r i e f e s : mit 67 J a h r e n also h a t er d e m T y r a n n e n jenen übersichtlichen L e h r v o r t r a g gehalten, mit 61 h ä t t e er es g e r n e g e t a n ; zwischen seinem 62. u n d seinem 68. J a h r f e h l t e es in S y r a k u s nicht an M ä n n e r n , die von dem Inh a l t seiner L e h r e K e n n t n i s h a t t e n u n d solche K e n n t n i s auch bei Dionysios v o r a u s s e t z t e n ; keine A n d e u t u n g w e i s t darauf hin, ja keine W e n d u n g l ä ß t es auch n u r als möglich erscheinen, d a ß P i a t o n s L e h r e s e i t h e r eine w e s e n t liche A b ä n d e r u n g — ich sage n a t ü r l i c h n i c h t : keine Ergänzung und Ausgestaltung — erfahren haben könnte. Keine S p u r also zeigt sich hier, w e n i g s t e n s f ü r die letzten z w e i J a h r z e h n t e seines Lebens, von jenem Piaton, d e n u n s in n e u e s t e r Zeit g a r m a n c h e P l a t o n - E r k l ä r e r vor Augen g e f ü h r t haben, von einem Piaton, d e r seine M e i n u n g e n alle p a a r J a h r e a b ä n d e r t , von einem Piaton, d e s s e n Ueberzeugungen in j e d e m seiner W e r k e a n d e r s schillern u n d ü b e r dessen L e h r e w i r zuletzt n u r d a s eine s a g e n d ü r f t e n , d a ß er nämlich, als e r dies eine G e s p r ä c h schrieb, d i e s lehrte, als er a b e r j e n e s a n d e r e v e r f a ß t e , jenes, — so d a ß
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also von einer „Einheit in P i a t o n s D e n k e n " — u m den A u s d r u c k P a u l S h o r e y s zu g e b r a u c h e n — ü b e r h a u p t nicht die R e d e sein k ö n n t e . Doch m e h r a l s d a s ! Nicht nur, d a ß P i a t o n s H a l t u n g im S i e b e n t e n Brief sehr schlecht zu d e r V o r s t e l l u n g stimmt, als h ä t t e n die Lehren, von d e r e n W a h r h e i t er zu irgendeiner Z e i t seines L e b e n s ü b e r z e u g t w a r , s t e t s ihren vollständigen A u s d r u c k in den zu dieser Zeit v e r f a ß t e n G e s p r ä c h e n g e f u n d e n , — P i a t o n s a g t u n s in diesem Brief mit a u s d r ü c k l i c h e n W o r t e n , mit dem g r ö ß t e n N a c h d r u c k u n d mit a u s f ü h r l i c h e r B e g r ü n d u n g , d a ß er sich g e r a d e über jene P u n k t e seiner Lehre, die ihm als die bed e u t e n d s t e n galten, in keinem seiner G e s p r ä c h e ausges p r o c h e n hat. D a s k l i n g t ja dem G e s c h i c h t s s c h r e i b e r d e r Philosophie schmerzlich g e n u g : P i a t o n ist d e r e r s t e griechische D e n k e r , d e s s e n W e r k e u n s nicht b l o ß b r u c h s t ü c k w e i s e e r h a l t e n sind, u n d g e r a d e er soll in diesen seinen W e r k e n seine w i c h t i g s t e n L e h r e n nicht v o r g e t r a g e n h a b e n ! Allein d a s ist kein G r u n d , j e n e s u n z w e i d e u t i g e S e l b s t z e u g n i s anzuzweifeln, oder es u m z u d e u t e n . W i r h a b e n vielmehr seine V e r s i c h e r u n g h i n z u n e h m e n : die Lehren, die ihm in den letzten J a h r z e h n t e n seines L e b e n s a l s die w i c h t i g s t e n galten, d ü r f e n w i r nicht h o f f e n , a u s seinen G e s p r ä c h e n k e n n e n z u l e r n e n . I s t d a m i t auch gesagt, d a ß w i r ü b e r sie ü b e r h a u p t n i c h t s a u s s a g e n k ö n n e n ? Ich g l a u b e nicht. U e b e r die L e h r e eines D e n k e r s u n t e r r i c h t e n u n s ja nicht einzig u n d allein seine S c h r i f t e n . W i r h a b e n doch auch zu f r a g e n , ob u n s nicht N a c h r i c h t e n über V o r t r ä g e e r h a l t e n sind, die e r seinen S c h ü l e r n g e h a l t e n h a t ; w e l c h e s die L e h r e d i e s e r seiner S c h ü l e r s e l b s t w a r ; wie u r t e i l s f ä h i g e Z e i t g e n o s s e n seine L e h r e d a r g e s t e l l t h a b e n ; w e l c h e s ihr Inhalt g e w e s e n sein m u ß , w e n n u n s die A n g r i f f e seiner G e g n e r v e r s t ä n d lich w e r d e n sollen. All dieser Hilfsmittel n u n k ö n n e n w i r u n s auch im Falle P i a t o n s bedienen. S p e u s i p p , X e n o k r a t e s und Aristoteles haben Piatons Vorlesungen „über das G u t e " h e r a u s g e g e b e n u n d a u s diesen Quellen ist u n s wichtiges, wenngleich n u r w e n i g e s ü b e r ihren I n h a l t b e k a n n t . A u c h ü b e r die L e h r e n d e r n ä c h s t e n P l a t o n - S c h ü l e r , eines 44
Speusipp und Xenokrates, eines H e r m o d o r o s und Hestiaios wird uns mancherlei überliefert. Theophrast hat d a s W e s e n der p l a t o n i s c h e n P h i l o s o p h i e in k u r z e n , a b e r i n h a l t s s c h w e r e n S ä t z e n g e k e n n z e i c h n e t . A r i s t o t e l e s endlich w i d m e t f a s t zweieinhalb Bücher seiner M e t a p h y s i k d e r B e s t r e i t u n g p l a t o n i s c h e r Lehren, die sich in P i a t o n s G e s p r ä c h e n n u r teilweise a u s g e s p r o c h e n finden. U n d die B e r i c h t e all dieser Z e u g e n liefern ein in den H a u p t z ü g e n einheitliches Bild. In g e w i s s e m S i n n e ist dies alles l ä n g s t b e k a n n t . L ä n g s t h a t m a n auf G r u n d d i e s e r N a c h r i c h t e n eine F o r m d e r p l a t o n i s c h e n L e h r e w i e d e r h e r z u s t e l l e n gesucht, von d e r sich in P i a t o n s W e r k e n n u r einzelne S p u r e n f i n d e n . M a n bezeichnet diese L e h r f o r m m e i s t als P i a t o n s „pyt h a g o r e i s i e r e n d e Z a h l e n s p e k u l a t i o n " oder als die L e h r e von den „ I d e a l z a h l e n " . A m e i n g e h e n d s t e n h a t sie Léon R o b i n d a r g e s t e l l t in seinem W e r k e „La t h é o r i e platonicienne d e s idées et d e s n o m b r e s d ' a p r è s A r i s t o t e " , Par i s 1908. J ü n g s t sind Erich F r a n k ( P i a t o n u n d die sog e n a n n t e n P y t h a g o r e e r , Halle 1923) u n d J u l i u s S t e n z e l (Zahl u n d G e s t a l t bei P i a t o n u n d A r i s t o t e l e s , Berlin 1924) auf sie eingegangen. E r s t vor w e n i g e n M o n a t e n h a t A. E. T a y l o r ( F o r m s a n d N u m b e r s , a s t u d y in P i a t o n i c M e t a physics, M i n d 1926/1927) wichtige Beiträge zu ihrem V e r s t ä n d n i s geliefert. Im g a n z e n aber h a t m a n diese L e h r e n doch r e c h t s e h r beiseite liegen lassen, sie womöglich auch e r s t P i a t o n s allerletzten L e b e n s j a h r e n zugeschrieben. W a s u n s d e r S i e b e n t e Brief l e h r e n k a n n , ist n u n eben dies, d a ß sich diese A u f f a s s u n g ganz u n d g a r nicht a u f r e c h t h a l t e n l ä ß t . Z u den Lehren, die m a n als „ p y t h a g o r e i s i e r e n d e Z a h l e n s p e k u l a t i o n " zu bezeichnen pflegt, h a t sich P i a t o n zum a l l e r m i n d e s t e n die letzten z w a n z i g J a h r e seines L e b e n s b e k a n n t . Aller W a h r s c h e i n l i c h k e i t nach fallen in eben diese J a h r e auch die m e i s t e n von P i a t o n s A l t e r s w e r k e n : Parmenides und Theaitetos, Sophist und Staatsmann, Timaios, Philebos, Gesetze, Die P i a t o n f o r s c h u n g darf sich d e r A u f g a b e nicht länger entziehen, dem Sinn dieser Lehr e n ernstlich n a c h z u g e h e n u n d auch in den g e n a n n t e n W e r k e n ihre S p u r e n a u f z u w e i s e n . D a r a n w i r d sich d a n n die 45
weitere Untersuchung schließen, ob solche Spuren wirklich erst in diesen Werken kenntlich werden, ob sie sich nicht auch schon in früheren Gesprächen nachweisen lassen. W a s ich etwa zur Lösung dieser Aufgabe selbst glaube beitragen zu können, davon kann hier nicht mehr die Rede sein. Nur auf zwei Einzelheiten möchte ich noch hindeuten. Im Siebenten Brief erklärt es Piaton mit der Eigenart seiner Lehre, daß sie sich schriftlich nicht fortpflanzen läßt und fügt hinzu, die Begründung dafür habe er schon oftmals vorgetragen. In der T a t behauptet er dasselbe auch schon im Phaidros. Ist es nicht recht wahrscheinlich, daß er diese Behauptung auch schon damals ebenso hätte begründen können? — Im Siebenten Brief legt Piaton Gewicht darauf, daß nach langer Vorbereitung das Wesen der Dinge dem Geiste plötzlich aufleuchte. Aber auch schon im Gastmahl leuchtet, nach der rechten Vorbereitung, das Wesen des Schönen dem Geiste plötzlich auf. Liegt nicht vermutlich auch diesem Ausdruck schon eine ähnliche Vorstellung zugrunde? — Endgültig wird man aus zwei vereinzelten Beobachtungen nichts schließen dürfen. Auf den ersten Blick aber sieht es doch so aus, als ob es um die „Einheit in Piatons Denken" besser stünde, als viele unter den neueren Platonforschern angenommen haben.
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ALDUS DRUCK BERLIN