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German Pages 296 [304] Year 1973
Gottfried Martin • Piatons Ideenlehre
Gottfried Martin
Piatons Ideenlehre
W DE
G
1973
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Gottfried Martin starb nach Abschluß der Textkorrekturen am 20. Oktober 1972. Die Erstellung des Anhangs basiert auf den Notizen des Autors und entspricht seinen Vorschlägen. Eduard und Helga Gerresheim
ISBN 3 11 004135 9 Library of Congress Catalog Card Number 72-81562 © 1973 by Walter de G r u y t e r 8c Co., vormals G. T. GÖschen'sdie Verlagshandlung • J . G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • K a r l J. Trübner • Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Obersetzung in f r e m d e Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf p h o t o mechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Salaaruck, Berlin 36
Inhaltsverzeichnis Einleitung § § § § § § § §
1 2 3 4 5 6 7 8
§ 9 § 10 §11 §12 §13 §14 §15 §16 §17 §18 §19 § 20 § 21 § 22 § 23 § 24
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Teil I: Die Ideenlehre Sokrates Die großen Ideendialoge Die Grundbegriffe der Ideenlehre Die Begründung der Ideenlehre Die Gesamtheit der Ideen Die Zweiweltentheorie Personifizierung und Hypostasierung Logos und Mythos
5 14 37 47 69 85 96 110
Teil I I : Die Reflexion auf die Ideenlehre Was ist eine Idee? Aristoteles und Piaton Der Dialog Parmenides Der Dialog Sophistes Der Chorismos Die Methexis Der Tritos Anthropos Die Ousia Das Sein Die eleatische Disjunktion Nochmals Aristoteles und Piaton Die Ideen und der Nous Die Ideen und die Physis Die Schwierigkeiten und Philosophie Piaton und die Wissenschaften der Neuzeit Piaton morgen
127 133 144 152 157 169 174 187 201 221 226 233 239 245 252 268
Quellenverzeichnis
273
Abkürzungen
285
Verzeichnis der zitierten Platon-Stellen
286
Namensverzeichnis
290
Sadiverzeidinis
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Einleitung Wer könnte über Piaton schreiben wollen, ohne diese Worte lange bei sich zu erwägen: „Soviel kann ich aber über alle, welche geschrieben haben oder noch schreiben werden . . . sagen, daß sie meiner Meinung nach nichts von der Sache verstehen" (341 B). Dies schreibt Piaton im siebten Brief im hohen Alter, auf den Ertrag seines philosophischen Lebens, aber auch auf die Trümmer seiner politischen Hoffnungen zurückblickend. Gilt dies nicht von jedem, der in einer schier unendlichen Reihe über Piaton geschrieben hat, gilt dies nicht von jedem, der von neuem wagt, über Piaton zu schreiben? Freilich ist es merkwürdig, daß sich Piaton auch gegen seine eignen Werke wendet: „Von mir selbst wenigstens gibt es keine Schrift über diese Gegenstände, noch dürfte eine erscheinen" (341 C). Es ist also auch nichts mit den platonischen Dialogen, die zu den kostbarsten Werken des griechischen Denkens, ja des Denkens überhaupt gehören. Aber was sind dann die platonischen Dialoge? Sind sie alle nur ein bloßes Spiel? Sind sie eine bloße Unterhaltung für die allzuvielen, die die eigentliche Philosophie doch nicht würden verstehen können? Kann man annehmen, daß die Dialoge nur eine Popularphilosophie sind, daß Piaton seine eigentliche Philosophie nur in einem kleinen Kreise, der Akademie, und nur in mündlicher Form vorgetragen hat? Eine solche Auffassung würde sich auf die Unterscheidung zwischen exoterischer und esoterischer Philosophie stützen, von der wir in der Tat durch Aristoteles Nachrichten haben. Dann liegt der Versuch nahe, die esoterische, also die eigentliche Philosophie Piatons, wiederherzustellen. Ein solcher Versuch ist von Konrad Gaiser und Hans Joachim Krämer unternommen worden. Er enthält aber, wie ich glaube, einen unüberwindlichen Widerspruch in sich. Die Dialoge, so wird hier überlegt, sind nicht die eigentliche Philosophie Piatons, weil die eigentliche Philosophie Piatons nicht niedergeschrieben werden
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Einleitung
kann. Dann aber kann diese nicht niederschreibbare eigentliche Philosophie auch nicht im zwanzigsten Jahrhundert niedergeschrieben werden. Wenn dies für Piaton nicht möglich war, weil es in sich selbst unmöglich ist, dann ist schwerlich zu erwarten, daß es im zwanzigsten Jahrhundert möglich geworden wäre. Es handelt sich vielmehr, wie ich später im einzelnen darlegen werde, nicht um eine Schwierigkeit, die das Niederschreiben betrifft, sondern um Schwierigkeiten der Philosophie ganz allgemein. Man muß daher eine Interpretation suchen, die den von Piaton klar gesehenen allgemeinen Schwierigkeiten der Philosophie Rechnung trägt. Dafür gibt Piaton selbst einen Hinweis: „ . . . von den übrigen aber würde es die einen, wie es nidit sollte, mit einer keineswegs angemessenen Geringschätzung erfüllen, die andern aber mit einem hochfliegenden und törichten Dünkel, als haben sie irgendwelche erhabene Wahrheiten begriffen" (341 E). So hat Piaton zwei Parteien gesehen: auf der einen Seite die allzu unbekümmerten Gegner, die die Philosophie Piatons mit Geringschätzung beiseite schieben, auf der anderen Seite die allzu schülerhaften Schüler, die sich im Besitz der Wahrheit selbst dünken. Blickt man auf zwei Jahrtausende des Ringens um den Sinn der Philosophie Piatons zurück, dann ist es freilich noch ärger gekommen. Dann sieht man zwei Parteien: sie marschieren festgeschlossen hinter zwei Bannern. Das eine trägt die Inschrift: Für Piaton, das andere die Inschrift: Gegen Piaton. Ich kann die Hoffnung nicht aufgeben, daß die beiden Parteien, die diesen Streit fechten, dennoch guten Willens sind. So mag denn eine neue Interpretation einen Sinn haben für diejenigen, die guten Willens sind. Sie kann, wie ich hoffe, denjenigen, die die Wahrheit in Händen zu halten glauben, den Weg zeigen zu den Problemen, die Piaton selbst bedrängt haben, und sie kann, wie ich hoffe, denjenigen, die den Sinn der Ideenlehre nicht zu sehen vermögen, den Weg öffnen zu den Gründen, die Piaton selbst zur Ideenlehre geführt haben. Ischia, Oktober 1971
Gottfried Martin
TEIL I
Die Ideenlehre
§ 1 Sokrates Im platonischen Dialog Theaitetos sagt Sokrates von sich selbst: „Da es nun die Leute nicht wissen: so sagen sie mir auch dieses zwar nicht nach, wohl aber, daß ich der wunderlichste aller Menschen wäre und alle in Verwirrung brächte" (149 A). Es ist Piaton, der dies Wort niedergeschrieben hat. Spricht Piaton damit von sich selbst oder spricht er von Sokrates? Nun erzählt Sokrates an dieser Stelle des Dialogs, daß er der Sohn einer Hebamme ist. Dies kann nur von Sokrates zutreffen, auf keinen Fall aber von Piaton. So dürfen wir auch das eben zitierte Wort auf Sokrates beziehen. Darüberhinaus dürfen wir glauben, daß Sokrates selbst diese Charakterisierung geprägt hat, mag auch Piaton sie zu dieser meisterhaften Schärfe zugeschliffen haben. Eine Übersetzung ist nicht leicht. Den Kern bilden zwei Worte: ATOPOTATOS und APOREIN. Den Stamm von ATOPOTATOS bildet TOPOS, der Ort, der Platz. Davor steht ein Alpha privativum, die Endung bringt den Superlativ zum Ausdruck. In der Paraphrase würde man sagen: Es gibt keinen Platz, an den man mich hinstellen kann, es gibt keinen Ort, an dem man midi unterbringen kann. Man würde versuchen, den räumlich-anschaulichen Kern in der Ubersetzung zu erhalten und könnte dann sagen: Ich bin der undurchsichtigste aller Menschen. Nicht weniger leicht ist der Ausdruck APOREIN zu übersetzen. POROS bedeutet die Furt durch einen Fluß, den Pfad über ein Gebirge, die Fahrt über ein Meer. Auch hier steht wieder ein Alpha privativum. So könnte man auch hier wieder in der Paraphrase sagen: Ich bringe es dahin, daß die Menschen keinen Weg mehr vor sich sehen. Wenn man auch hier wieder den räumlich-anschaulichen Kern erhalten wollte, so könnte man in einer schon gegen die Paraphrase gehenden Ubersetzung sagen: Ich bin der undurchsichtigste aller Menschen, und ich bringe sie alle dahin, daß sie nicht mehr aus und ein wissen.
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Teil I: Die Ideenlehre
Nimmt man an, daß Sokrates von Piaton mit diesem Wort richtig charakterisiert worden ist, oder nimmt man an, was idi für besser halte, daß Sokrates selbst sich in dieser Weise richtig charakterisiert hat, dann muß jede Interpretation des Sokrates bald an Grenzen stoßen. Wie kann eine Interpretation einen Menschen durchsichtig werden lassen, der sich selbst als undurchsichtig versteht? Hier kann eine Interpretation schwerlich etwas anderes wollen, als diese Undurchsichtigkeit selbst sichtbar zu machen. Wir haben soeben ein Wort des Sokrates aus einem platonischen Dialog als ein historisches Zeugnis betrachtet. Sieht man sich nach weiteren Zeugnissen um, dann erkennt man bald, daß der Sokrates der platonischen Dialoge oft für den historischen Sokrates steht, daß er aber auch ebenso oft derjenige ist, durch den Piaton seine eigne Philosophie ausspricht. So ist der Sokrates der Politeia, wenn man vom ersten Buch absieht, gewiß nicht der historische Sokrates. Ein langes Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften wird dort gefordert, dann noch ein langes Studium der Philosophie. Das ist nicht das Leben des Sokrates, der auf dem Markt und auf dem Sportplatz philosophiert. Das ist Piaton, der Kenner der Wissenschaften, der Leiter der Akademie. Dann wird eine Unterscheidung zwischen dem historischen Sokrates notwendig und demjenigen Sokrates, der für die Philosophie Piatons spricht. Eine solche Unterscheidung hat bereits Schleiermacher1 gefordert. Sie ist vielleicht nicht unmöglich, ist aber bis jetzt noch niemals wirklich durchgeführt worden. Gleichwohl kann sie heute schon auf allgemeine Zustimmung rechnen, wenigstens dann, wenn sie auf extreme Positionen beschränkt wird. Ich wähle den frühen Dialog Ladies und betrachte ihn im wesentlichen als ein historisches Zeugnis. Der Ladies ist ein Gespräch zwischen Sokrates und zwei berühmten athenischen Generälen, Ladies und Nikias. Sie müssen wissen, was die Tapferkeit ist, und sie sind auch überzeugt, daß sie es wissen. So kommt auf die Frage des Sokrates: Was ist die Tapferkeit? (190 D ) sofort die Antwort: Standhalten und seinen Platz in der Schlachtreihe nicht verlassen (190 E). Aber als Sokrates die Antwort nachprüft, zeigt sich bald, daß sie so nicht richtig sein kann. Dies ist die Tapferkeit der Hopliten; aber es gibt doch auch die Tapferkeit der Reiter, und es gibt eine Tapferkeit in der Krankheit, und es gibt auch
§ 1 Sokrates
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eine Tapferkeit in der Politik, oder es sollte doch wenigstens auch in der Politik eine Tapferkeit geben. Es muß also eine bessere Antwort gesucht werden. Aber auch die neue Antwort hält der Nachprüfung durch Sokrates nicht stand, und jede Antwort, die gegeben wird, erweist sich als unzureichend. So endet der Dialog mit der resignierten Feststellung: Wir haben nicht gefunden, was die Tapferkeit ist (199 E). Dieser Wechsel von Frage und Antwort, von Bestimmung und Nachprüfung ist als ein glänzendes Spiel aufgebaut, und sdion immer ist gerade dieser Dialog mit der attischen Komödie verglichen worden. Man kann dabei durchaus einräumen, daß die dichterische Gestaltungskraft Piatons an der uns vorliegenden Form einen wesentlichen Anteil hat, man muß die uns vorliegende Form nicht als eine Art Stenogramm auffassen. So pointenreich, so flüssig, so konsequent kann ein wirkliches Gespräch schwerlich ablaufen, selbst wenn man alle Freude der Griechen an einem Gespräch als einem Abenteuer mit einrechnen würde. Man kann vielmehr annehmen, daß die dichterische Gestaltung durch Piaton den Sinn des Gesprächs erst eigentlich sichtbar gemacht hat. Aber was ist der Sinn des Gespräches? Vom systematischen Standpunkt aus enthält der Dialog zwei fundamentale Probleme. Die Frage: Was ist die Tapferkeit? und die aporetische Festeilung: Wir haben nicht gefunden, was die Tapferkeit ist. Erwägen wir zunächst die Frage: Was ist die Tapferkeit?, so ist es für uns fast unmöglich, uns vorzustellen, daß es eine solche Frage vor Sokrates noch nicht gegeben haben soll, daß Sokrates der erste war, der so gefragt hat. Aber wer könnte eigentlich vorher eine solche Frage gefragt haben? Die Dichter gewiß nicht. Aber auch nicht die Philosophen, nicht die Mathematiker, nicht die Naturwissenschaftler. Thaies fragt nicht: Was ist das Wasser? Pythagoras fragt nicht: Was ist die Zahl? Parmenides fragt nicht: Was ist das Sein? Sie haben nicht so gefragt und sie konnten auch nicht so fragen. Aristoteles hat als erster das hier liegende Problem erkannt. Er hat gesehen, daß, abgesehen von einigen Versuchen der Ärzte und wohl auch der Mathematiker, Sokrates der erste gewesen ist, der in dieser Weise gefragt hat 2 . Diese Feststellung des Aristoteles läßt sich nachprüfen und als richtig erweisen. Bedeutsamer noch als die Frage ist die Antwort. Welche Antwort erwartet Sokrates auf die Frage: Was ist die Tapferkeit? Sagt man,
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Teil I: Die Ideenlehre
er erwartet eine Definition der Tapferkeit, so ist dies nicht ganz unrichtig, es ist aber aus der späteren Entwicklung der Logik, es ist von Aristoteles her formuliert. Man würde einen Stand der Logik voraussetzen, der für Sokrates noch nicht gegeben war. Man muß daher nach einer Formulierung suchen, die noch vor der Entwicklung der Logik zu einer ausgebildeten Disziplin liegt. Vielleicht könnte man sagen: Sokrates erwartet eine logische Bestimmung der Tapferkeit. Aber auch dies wäre der Entwicklung noch vorgegriffen, und so sollte man vielleicht sagen: Sokrates erwartet eine nachprüfbare Bestimmung der Tapferkeit. Dies allerdings war die Meinung des Sokrates. Die Antworten auf die Frage: Was ist die Tapferkeit? können nachgeprüft werden und müssen nachgeprüft werden. Wenn diese Frage eine so große Bedeutung hat, wie soll man es verstehen, daß Sokrates am Ende resignierend sagt: Wir haben nicht gefunden, was die Tapferkeit ist? — Die Pädagogik kennt eine sokratische Methode. Nach ihr soll der Lehrer nicht das fertige Ergebnis vortragen. Er soll vielmehr den Schüler fragen und es dahin bringen, daß der Schüler das Ergebnis in eigner Spontaneität selbst findet. Diese sokratische Methode der Pädagogik setzt freilich voraus, daß der Lehrer das Ergebnis kennt. Als Beispiel für diese Methode gilt immer der platonische Dialog Menon. Dort entlockt Sokrates durch sein Fragen einem der Mathematik völlig unkundigen Sklaven einen der wichtigsten Sätze der damaligen Mathematik: daß die Diagonale des Quadrates inkommensurabel ist mit der Seite, oder arithmetisch gesprochen: daß die Wurzel aus Zwei irrational ist (82 B). Man kann es dahingestellt sein lassen, ob diese Episode des Menon wirklich ein gutes Beispiel der pädagogischen sokratischen Methode ist. Im Laches muß es sich um etwas anderes handeln, im Laches wird kein Ergebnis gewonnen, weder durch Sokrates, noch durch die befragten Generäle. Viele Interpreten, ich nenne etwa H. Maier 3 und A. E. Taylor 4 , wollen sich damit nicht zufriedengeben. Wenn ein so eindringliches Fragen keine Antwort ergibt, so können sie darin keinen Sinn sehen. Sie setzen voraus, daß es einen positiven Sinn geben muß. Sie glauben daher, daß es sich um eine sokratische Methode in einem subtileren Sinn handelt. Für diese Interpreten hat das Gespräch nur dann einen Sinn, wenn Sokrates die Antwort kennt. Durch das Gespräch will dann Sokrates die Partner in die Methoden der Fragen und in
§ 1 Sokrates
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die Methoden der Nachprüfung der Antworten einführen. Dann ist zu erwarten, daß die Gesprächspartner nach dieser Zurüstung die Antwort in eigner Spontaneität finden werden. Diese Interpretation kann in dem Gespräch nur dann einen Sinn sehen, wenn es auf eine richtige Antwort hinführt, und dies setzt voraus, daß es eine richtige Antwort gibt, und daß Sokrates die richtige Antwort kennt. Aber ist eine solche Interpretation die einzig mögliche? Wäre es nicht möglich, daß auch Sokrates eine absolute und endgültige Antwort nicht kennt und daß dennoch diese Gespräche einen Sinn haben? Ich will den Sinn einer solchen Interpretation an einem späteren Dialog erläutern. Im Dialog Theaitetos stellt Sokrates die Frage: Was ist die Wissenschaft? (146 C). So jedenfalls kann man das hier stehende Wort EPISTEME auch übersetzen. Nun muß man freilich annehmen, daß in diesem Dialog Sokrates für Piaton spricht. Der Dialog beginnt mit einem Beispiel, das eine gerade in dieser Zeit gelungene große Entdeckung der griechischen Mathematik behandelt, nämlich den Satz, daß eine Quadratwurzel aus einer ganzen Zahl, wenn sie nicht selbst eine ganze Zahl ist, auch kein Bruch sein kann. Theodoros hat den ursprünglich vermutlich von Pythagoras selber für die Zahl Zwei gefundenen Satz bis zur Zahl Siebzehn bewiesen (147 D), und Theaitetos, der Freund und Schüler Piatons, konnte ihn dann für alle natürlichen Zahlen beweisen (147 E). Der allgemeine Satz des Theaitetos und sein Beweis setzen eine wohlgeübte mathematische Abstraktion voraus. Es handelt sich um eine der großen Leistungen der griechischen Mathematik. Nichts spricht dafür, daß Sokrates so weitreichende mathematische Kenntnisse besaß, daß er die Bedeutung dieses Satzes erkennen, oder daß er auch nur den Satz selbst verstehen konnte. Dies ist Piaton und ganz Piaton. Gewiß baut die platonische Frage: Was ist die Wissenschaft? auf die alten somatischen Fragen auf und gewiß führt sie diese weiter. Allein die platonische Frage des Theaitetos hat nur dann einen Sinn, wenn die Wissenschaft als solche zum großen Ziel erhoben wird, und wiederum spricht nichts dafür, daß Sokrates dies getan hätte. Piaton ist es gewesen, der die Wissenschaft als die große Aufgabe erkannt hat. Nun kann aber die Wissenschaft nur dann existieren, wenn sie beständig auf sich selbst reflektiert, und damit wird die Frage: Was ist die Wissenschaft? zu einer beständig zu stellenden Frage. Hier wird
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Teil I: Die Ideenlehre
deutlich, daß die Frage notwendig ist, obwohl eine absolute und endgültige Antwort nicht erwartet werden kann. Allzu viele haben zwar schon mit absoluter Sicherheit gewußt, was die Wissenschaft ist, aber keine dieser Behauptungen hat standgehalten. Die Wissenschaft ist ein Prozeß und in diesem Prozeß hebt sie jede Antwort, mag sie auch mit einer gewissen Annäherung richtig gewesen sein, doch wieder auf. Wenn die Wissenschaft auf sich selbst reflektiert, so erfüllt sie damit eine Aufgabe, die nicht abgeschlossen werden kann und die nicht abgeschlossen werden darf. Von hier aus läßt sich einsehen, daß es Fragen gibt, die nicht abschließbar sind. Es wird ratsam sein, diese Interpretation an einem dritten Dialog nachzuprüfen. Ich wähle dafür den Dialog Euthyphron. Euthyphron, nach dem der Dialog den Titel hat, ist ein Priester. Sokrates trifft ihn frühmorgens auf der Agora, als er auf dem Weg zum Gericht ist, um sich gegen die Anklage der Gottlosigkeit zu verteidigen. Euthyphron selbst hat seinen Vater wegen eines Totschlages verklagt. Sokrates beginnt das gewohnte Gespräch und stellt sofort die Frage: Was ist die Frömmigkeit? (5 C). Gerade an diesem Tage wäre es für Sokrates gut, dies genau zu wissen, denn er muß sich gegen die Anklage der Gottlosigkeit verteidigen. Euthyphron ist gewiß der Mann, die rechte Antwort zu geben. Als Priester muß er wissen, was die Frömmigkeit ist, und er ist auch fest überzeugt, es zu wissen. Er würde nicht gegen seinen eignen Vater klagen, wenn er nicht sicher wüßte, daß es einem frommen Manne zukommt, bei einem Totschlag selbst den eignen Vater zu verklagen. Auf die Frage des Sokrates: Was ist die Frömmigkeit? antwortet Euthyphron daher ohne Zögern: Fromm ist, was ich jetzt tue, die Übeltäter zu verfolgen (5 D). Sokrates kann leicht zeigen, daß diese Antwort nicht allgemein genug ist. Euthyphron gibt unbedenklich eine zweite Antwort: Fromm ist, was den Göttern lieb ist (7 A). Aber auch diese zweite Antwort erliegt den Bedenken des Sokrates, und so geht es mit jeder Antwort, die Euthyphron vorbringt. Schließlich entzieht er sich der weiteren Untersuchung, indem er vorschützt, er müsse eiligst gehen (15 E). So endet auch dieser Dialog negativ, es hat sich nicht finden lassen, was die Frömmigkeit ist. So treffen wir auch in diesem Dialog auf die beiden fundamentalen Momente: die Frage des Sokrates und das Ausbleiben einer stichhaltigen Antwort. Es liegt wohl am Thema des Gespräches, daß beide
§ 1 Sokrates
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Momente hier eine besondere Deutlichkeit haben. Hegel hat gezeigt 5 , daß in der sokratischen Forderung nach einer stichhaltigen Bestimmung der Tapferkeit ebenso wie der Frömmigkeit das Individuum aufsteht gegen die Ordnungen der Polis. Bis dahin hatte die Polis bestimmt, was die Tapferkeit ist, was die Frömmigkeit ist, und der einzelne hatte diese Bestimmungen widerspruchslos hingenommen. In den Fragen des Sokrates zieht das Individuum diese Bestimmungen der Polis vor den Richterstuhl seines eignen Denkens, nur das kann noch gelten, was vor der Einsicht des Individuums besteht. Dieser Zusammenstoß des Individuums mit der Polis kommt im Euthyphron in dramatischer Form zum Ausdruck: „Auch Krieg, glaubst du also wirklich, daß die Götter haben gegeneinander und gewaltige Feindschaften und Schlachten und viel anderes dergleichen, wie es von den Dichtern erzählt wird, und wie es teils an andern heiligen Orten von guten Malern abgebildet ist, teils audi der Teppich voll ist von solchen Abbildungen, der an den großen Panathenäen in die Akropolis hinaufgetragen wird? Dies alles wollen wir für wahr erklären, Euthyphron?" (6 B). Ist das alles wirklich wahr, dies ist die Frage des Sokrates, was der Mythos der Polis erzählt und damit jedem einzelnen vorschreibt? Aber Euthyphron antwortete, ohne sich zu bedenken, ganz im Sinne der Polis: „Nicht nur dieses, sondern noch vieles andere" (6 C). Hier vollzieht sich der Zusammenstoß mit unausweichlicher Schärfe. Das Individuum fragt: Ist das wirklich wahr? Die Polis antwortet durch den Priester: Dies ist alles wirklich wahr und noch viel mehr. Aber auch der negative Ausgang des Dialoges wird verständlich. Wer wollte sich wirklich unterfangen, mit absoluter Sicherheit zu sagen, was die Frömmigkeit ist. Hier wird deutlich, daß die bohrende Nachprüfung des Sokrates auch die Aufgabe hat, falsche Sicherheiten zu zerstören, selbstgefällige Gewißheiten, wie sie bei der Frömmigkeit nur allzuoft angetroffen werden, zu entlarven. So wird sowohl die Frage als auch das Ausbleiben der Antwort verständlich. Wir suchen eine aporetische Interpretation, also eine Interpretation, die mit dem Ausbleiben der Antwort Ernst macht. Eine solche Interpretation widerspricht freilich durchaus den Ansätzen etwa von Maier und Taylor, sie ist aber in den letzten Jahrzehnten immer wieder erstrebt worden; ich darf etwa auf Kuhn 6 verweisen. Eine
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Teil I: Die Ideenlehre
solche Interpretation der frühen platonischen Dialoge als aporetischer sokratischer Gespräche kann nun durch eine Heranziehung der Apologie gestützt werden. Für die Apologie ist der Charakter eines historischen Zeugnisses sicherer zu entscheiden als für die frühen platonischen Dialoge. Es steht außer Zweifel, daß Sokrates im Jahre 399 angeklagt, verurteilt und hingerichtet worden ist. Es ist also außer Zweifel, daß Sokrates sich gegen diese Anklage verteidigt hat. Daß Piaton bei dem Prozeß zugegen war, wird ausdrücklich gesagt (38 B) und dürfte auch ohnehin als selbstverständlich betrachtet werden. Dabei ist es keineswegs notwendig, daß die Apologie, wie Piaton sie niedergeschrieben hat, Wort für Wort der Verteidigungsrede des Sokrates entspricht. Man weiß nicht genau, wann die Apologie geschrieben wurde, es dürfte wohl einige Jahre nach dem Prozeß gewesen sein. Dann muß Piaton die Verteidigungsrede noch gut in der Erinnerung gehabt haben. Es mag durchaus sein, daß Piaton sie noch einmal durchgeformt hat, es mag durchaus sein, daß er in der schriftlichen Wiedergabe die entscheidenden Momente noch präziser herausgearbeitet hat, als Sokrates selbst dies in der entscheidenden Stunde des Jahres 399 getan hat. Selbst wenn die Apologie, wie sie Piaton uns gegeben hat, das Wesentliche schärfer herausgearbeitet hat, so bleibt sie gerade deshalb ein historisches Zeugnis. In der Apologie spielt in dem Selbstverständnis des Sokrates das Nichtwissen eine entscheidende Rolle. Sokrates erzählt von einem Orakelspruch. Chairephon, sein Freund, war nicht lange vor dem Prozeß gestorben, der Bruder lebt noch und ist anwesend. Chairephon hat das Orakel in Delphi gefragt, ob jemand weiser sei als Sokrates. Das Orakel antwortet, niemand ist weiser (21 A). Dies ist merkwürdig und doch glaubhaft. Ich darf midi dafür auf Wilamowitz-Möllendorff, diesen besten Kenner Griechenlands, berufen7. Die Antwort des Orakels ist merkwürdig, und auch Sokrates hat sie merkwürdig gefunden. So hat er sie immer wieder nachgeprüft, in Gesprächen mit Staatsmännern, mit Dichtern, mit Handwerkern. In allen diesen Gesprächen findet Sokrates, daß die anderen etwas zu wissen glauben, es aber nicht wirklich wissen. Sokrates selbst weiß es zwar audi nicht, er glaubt es aber auch nicht zu wissen, er weiß vielmehr, daß er es nicht weiß (21 D). In dieser seiner Verteidigungsrede sagt Sokrates etwas, das ein Licht auf die sokratischen Gespräche
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und ihre mögliche Interpretation wirft: „Es glauben nämlidi jedesmal die Anwesenden, ich verstände midi selbst auf das, worin ich einen andern zuschanden mache" (23 A). Aber Sokrates nimmt dies ihm zugeschobene Wissen gar nidit in Ansprudi, er weiß, daß er es nicht weiß. Von dieser Selbstinterpretation des Sokrates in der Apologie aus muß man meines Erachtens den Text des Ladies und der anderen sokratisdien Dialoge so lesen, wie er dasteht. Man hat kein Recht, etwas zu substituieren, was nidit dasteht, im Gespräch wird wirklich nicht gefunden, was die Tapferkeit ist. Will man die sokratischen Gespräche verstehen und will man aus ihnen heraus Sokrates verstehen, soweit der Unverstehbare sich verstehen läßt, dann muß man diese beiden Grundmomente zusammensehen. Dann wird man eine Entscheidung zwischen den beiden Interpretationsmöglichkeiten treffen können, die sich herausgeschält haben: die positive Interpretation, für die die Ergebnislosigkeit des Dialogs bloß vorläufig ist. Der Dialog gibt die methodisdien Möglichkeiten für eine Antwort, er soll den Hörer und Leser in den Stand setzen, die Antwort in eigner Denkarbeit zu gewinnen. Die aporetisdie Interpretation dagegen hält sidi an den Text, die Antwort wurde nicht gefunden, und niemals wird eine absolute und endgültige Antwort gefunden werden. Die Selbstinterpretation des Sokrates im Theaitetos und in der Apologie sprechen für eine aporetisdie Interpretation, für die auch wir uns entscheiden. Der Prozeß der kritisdien Nachprüfung, der sidi in einem soldien Gespräch vollzieht, erhält erst dann seine eigentliche Bedeutung, wenn er nidit in einer absoluten Antwort zu Ende kommt, sondern wenn er ein Prozeß bleibt. Aber die Tatsache, daß keine Antwort absolut standhält, darf nie und nimmer in einen Skeptizismus führen, einen Skeptizismus, der die Suche nach der Wahrheit aufgeben würde. Auf die Erkenntnis: Wir haben nicht gefunden, was die Tapferkeit ist, muß der Entschluß folgen, mit dem das sokratische Gespräch schließt: Morgen werden wir weiter suchen.
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Teil I: Die Ideenlehre
§ 2 Die großen Ideendialoge Wir fassen den Phaidon, die Politeia, den Phaidros und das Symposion als die großen Ideendialoge zusammen. Die Dialoge gehören zeitlich nahe zusammen, ihre absolute Reihenfolge erscheint uns unter unseren Fragestellungen als ein Problem zweiten Ranges. Im Phaidon trägt Sokrates die Ideenlehre als etwas Bekanntes vor, als etwas, das seinen Freunden völlig vertraut ist. In diesem Sinn spricht er von der großen Ideentrias: „Sagen wir, daß das Gerechte selbst etwas sei oder nichts? — Wir behaupten es ja freilich beim Zeus. — U n d nicht auch das Schöne und Gute? — Wie sollte es nicht?" (65 D). Hier tritt sofort die große Ideentrias auf, das Schöne, das Gute, das Gerechte, die ein Zentrum der Ideenlehre bildet. So spricht Sokrates, wenn er ein Beispiel braucht, gern von dem Schönen an sich und den schönen Dingen: den schönen Menschen, den schönen Pferden, den schönen Kleidern (78 D). Dies ist in der Tat das einsichtigste Beispiel für die Grundunterscheidung der Ideenlehre, das Schöne an sich auf der einen Seite, die schönen Dinge auf der anderen Seite. Man könnte diese Ideen die ethisch-ästhetischen Ideen nennen, es sind diejenigen Begriffe, um die es auch Sokrates in seinen Gesprächen schon immer ging. Zu ihnen tritt in immer steigendem Maße eine Gruppe von Ideen, die man die logisch-mathematischen nennen könnte. Eine wichtige Rolle spielt im Phaidon bei der Einführung der Ideenlehre die Idee der Gleichheit: „Wir nennen doch etwas gleich — ich meine nicht ein Holz dem andern oder einen Stein dem andern noch irgend etwas dergleichen, sondern außer diesem allen etwas anderes, das Gleiche selbst; sagen wir, daß das etwas ist oder nichts?" (74 A). Zu den logischen Ideen treten dann mathematische Ideen, die Idee der Drei (104 D), die Ideen der geraden und der ungeraden Zahl (104 E). Diese Ideenlehre der Zahlen enthält manche Schwierigkeiten. Zunächst kann es sich nur um Ideen von natürlichen Zahlen handeln. Die Brüche wurden von den Griechen nicht als Zahlen, sondern als Verhältnisse natürlicher Zahlen betrachtet, und das, was wir heute Irrationalzahlen nennen, wurde von den Griechen überhaupt nicht als Zahl angesehen 1 . Gibt es zu jeder natürlichen Zahl eine Idee? AristoPhaidon 65 D 4>ct[tsv xt slvai Sbtaiov avxo fj ovbev; — i a ^ v (iivroi, vf) Aia. — Kai au xaXöv yk ti xal ayaftöv; — neos 6'oii;
§ 2 Die großen Ideendialoge
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teles berichtet, Piaton habe nur von den zehn ersten Zahlen Ideen angenommen 2 . Das würde einen starken pythagoräischen Einfluß bedeuten. Für die Pythagoräer hatten, wie uns in einem Fragment von Philolaos erhalten ist3, die ersten zehn Zahlen eine besondere Bedeutung, und die Zehn selbst wiederum hatte eine ausgezeichnete Bedeutung. Für Piaton ist die Frage nicht leicht zu entscheiden. Würde er zu jeder natürlichen Zahl eine Idee angenommen haben, dann würde er unendlich viele Ideen erhalten haben, und dies wäre für Piaton, zum mindesten in der Zeit der großen Ideendialoge, eine hödist unerwünschte Konsequenz gewesen. In den platonischen Texten selbst werden öfter Ideen von Zahlen genannt, aber niemals von größeren Zahlen als Zehn. Allerdings findet sich in den Texten auch keine Stelle, an der die Ideen ausdrücklich auf die ersten zehn Zahlen beschränkt werden. So muß die Frage offen bleiben, idi selbst finde den Bericht des Aristoteles glaubhaft. Nicht weniger schwierig liegt das Problem bei dem allgemeinen Begriff der natürlichen Zahl, für die Griechen also bei dem allgemeinen Begriff von Zahl überhaupt. Eine solche Idee von Zahl überhaupt findet sich nicht in den Texten, und so darf man vermuten, daß Piaton angenommen hat, daß es eine allgemeine Idee von Zahl überhaupt nicht gibt 4 . Im ganzen finden wir im Phaidon zwei Gruppen von Ideen, die ethisch-ästhetischen und die logisch-mathematischen. Bei den ethischästhetischen Ideen steht die Ideentrias des Schönen, Guten und Gerechten voran, bei den logisdi-mathematisdien Ideen die Idee der Gleichheit. Diese beiden Gruppen von Ideen bilden den Kern der Ideenlehre und bleiben es auch bis zu Piatons letzten Dialogen. Ich darf einige besondere Probleme des Phaidon zur Sprache bringen. Zunächst erscheint es auffallend, daß Piaton die Einführung der Ideenlehre an der Idee der Gleichheit vornimmt und nicht etwa an der Idee der Schönheit oder der Gerechtigkeit. Hier läßt sich zunächst ein logischer Grund denken. Die Begrifflichkeit der Gleichheit ist naturgemäß größer als die der Schönheit. Der ontologisdie Grund dürfte bedeutsamer sein. Bei der Idee der Schönheit ist die Gefahr nicht weit, die Idee der Schönheit zu hypostasieren, sie zu vergöttlichen. Wie hätte der Grieche bei der Idee der Schönheit nicht daran denken sollen, daß der Mythos in der Gestalt der Aphrodite die Schönheit vergöttlicht. Bei den logisch-mathematischen Ideen ist dies
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Teil I: Die Ideenlehre
keineswegs ganz ausgeschlossen, wie das Beispiel der Pythagoräer zeigt. Aber wenn eine solche Gefahr bei der Idee der Drei oder bei der Idee der Zehn noch in einem gewissen Ausmaß vorhanden ist, so dürfte sie bei der Idee der Gleichheit doch nur noch ganz gering sein. Dies Problem wird uns am Ende dieses ersten Teiles noch ausdrücklich beschäftigen. Der Dialog gibt uns wichtige Aufschlüsse über die Situation der Ideenlehre, es sei nun an dem Tag des Jahres 399, der im Dialog beschrieben wird, es sei die Zeit, in der der Dialog geschrieben wurde. Die Entscheidung darüber stelle ich zunächst noch zurück. Die Ideenlehre ist allen bekannt und wird von allen anerkannt. Sokrates spricht von ihr als etwas, das „wir immer im Munde führen" (76 D). Er bezeichnet die Ideenlehre als etwas, „was wir immer wieder herumdrehen" (100 B). Audi über die Form dieser Gespräche erhalten wir einige Auskunft. Sie sind ein Wechselspiel von Frage und Antwort: „Jenes Wesen selbst, welchem wir das eigentliche Sein zuschreiben in unsern Fragen und Antworten" (78 D). In diesen Fragen und Antworten werden Gründe gefordert und gegeben. Es handelt sich nicht um eine feierliche Verkündigung; Gründe angeben, das L O G O N D I D O N A I , das ist die Methode, die gefordert und die geübt wird (95 D ) . Diese Gespräche müssen mit einer großen Intensität geführt worden sein, und es müssen dabei schon die ersten Schwierigkeiten der Ideenlehre aufgetreten sein. Sokrates sagt, und er muß dies wohl öfter gesagt haben: „ . . . und komme wiederum auf jenes Abgedroschene zurück und fange davon an, daß ich voraussetze, es gebe ein Schönes an und für sich, und ein Gutes und Großes . . . " (100 B). Dann muß sich freilich die Frage stellen, und sie ist offenbar in diesen Gesprächen schon gestellt worden, wie sich denn die Idee der Schönheit zu den schönen Dingen verhalte. Vielleicht ist dies eine Anwesenheit der Idee der Schönheit in den schönen Dingen, vielleicht ist es eine Gemeinschaft der Idee der Schönheit mit den schönen Dingen. Auf solche zweifelnden Fragen will Sokrates sich nicht einlassen, er wehrt sie ausdrücklich ab, mag diese Abwehr auch als altväterlich erscheinen: „ . . . und halte mich ganz einfach und kunstlos und vielleicht einfältig Phaidon 78 D
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§ 2 Die großen Ideendialoge
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bei mir selbst daran" (100 D). Sokrates besteht vielmehr darauf, daß „vermöge des Schönen die schönen Dinge schön sind" (100 E). Die Frage, wie die Idee sich zu den Dingen verhalte, die unter ihr stehen, ist also bereits lebendig geworden, sie wird zu einem Grundproblem der Ideenlehre werden. Wann ist die hier zum Ausdruck kommende Situation anzunehmen? Dies führt auf ein vieldiskutiertes Problem der Ideenlehre. Es ist Sokrates, der im Phaidon die Ideenlehre als etwas Bekanntes vorträgt. Unzweifelhaft ist der Phaidon in wichtigen Stücken ein historisches Dokument. Es steht außer Zweifel, daß Sokrates im Jahre 399 angeklagt, verurteilt und hingerichtet worden ist. Man braucht auch nicht daran zu zweifeln, daß die Freunde ihn am Todestag besucht, daß die Freunde den Todestag in Gesprächen mit ihm verbracht haben. Wenn der Phaidon insoweit ein historisches Dokument ist, ist er dann audi ein historisdies Dokument in bezug auf die Ideenlehre? Das würde bedeuten, daß nicht Piaton der Urheber der Ideenlehre ist, sondern Sokrates. Wir haben den Ladies als ein historisches Dokument betrachtet. Muß man dies nicht auch beim Phaidon, und zwar gerade in bezug auf die Ideenlehre tun? Beste Kenner Piatons und der griechischen Philosophie, Burnet 5 und Taylor®, haben dies getan. Nun ist in der Tat der Phaidon von einer solchen Geschlossenheit, daß vieles für eine solche Annahme spricht. Mir selbst scheinen die Bedenken gegen einen solchen Schluß ein großes Gewicht zu haben. Die Interpretationen von Burnet und Taylor gehen von der Annahme aus, daß alles, was Sokrates in den platonischen Dialogen sagt, als ein Bericht Piatons über die Philosophie des Sokrates betrachtet werden muß. Aber was bleibt dann eigentlich für Piaton selbst übrig? Es gibt nur wenige und späte Dialoge, in denen Sokrates nicht als Sprecher auftritt. Das wäre dann alles, was Piaton selbst zuzurechnen wäre. Dies ist, wie mir scheint, unmöglich. Aber es ergeben sich weitere Unmöglichkeiten. Die Konsequenz verlangt, daß auch der Dialog Parmenides ein historischer Bericht ist, Phaidon 100 D toöto bk äjtA.cög xal dtexvcoc; xal ioco; ewiftcog exco nag' ¿|xauxcü, öxi otSx äXKo xi Jtoiei aüxd xaXöv fj f| ixeivou xoü xaXoO elxe napotiaia eixs xoivama elxe Sitfl 8^1 xal öitco; n(joaYEvo|i£vT) • oü yaQ HTI xoCxo öuaxuQi^ojxai, &XK' 8xi x(p xaXcß jtdvxa xa xaXa [ylvvexai] xaMi.
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und Taylor ist vor dieser Konsequenz nicht zurückgewichen7. Ich werde auf diese Frage später eingehen. Ich will jetzt nur soviel sagen, daß der Dialog Parmenides ein Gespräch zwischen dem sechzigjährigen Parmenides, dem vierzigjährigen Zenon und dem jungen Sokrates ist (127 B). Nach diesen Altersangaben müßte das Gespräch etwa im Jahre 450 geführt worden sein. Das Gespräch setzt eine vollkommene Beherrschung der Ideenlehre und ihrer ontologischen Probleme voraus. Wie kann man annehmen, daß der junge Sokrates im Alter von vielleicht neunzehn Jahren dies alles schon vor Augen gehabt hätte. Wir haben auch kein Zeugnis, daß es so früh schon eine Ideenlehre gegeben hat, nicht in unseren philosophischen Zeugnissen, nicht in den „Wolken" des Aristophanes, dieser bitteren Komödie aus dem Jahr 423, nicht in der Selbstinterpretation des Sokrates in der Apologie aus dem Jahr 399. Nicht anders liegt es in den frühen Dialogen, im Ion, im Ladies, im Lysis, im Charmides. In ihnen ist eine Ideenlehre nicht zu finden. Man müßte also annehmen, daß Piaton in den Jahren vor 399 die Ideenlehre durch Sokrates kennengelernt hätte. Dann hätte er die frühen Dialoge geschrieben und in ihnen auch die leiseste Anspielung auf die Ideenlehre vermieden. Erst nach einer längeren Zeit, etwa ein Jahrzehnt nach dem Tode des Sokrates, hätte er von dessen Ideenlehre berichtet, zum ersten Mal ausführlich im Phaidon. Dies ist eine innere Unmöglichkeit, die sich nicht wirklich vorstellen läßt. Es kommt hinzu, daß Aristoteles die Ideenlehre ausdrücklich dem Piaton und nicht dem Sokrates zusdireibt. Dieses Zeugnis des Aristoteles verdient durchaus Glauben. Aristoteles ist zwanzig Jahre lang der Schüler Piatons gewesen8 und also etwa 368/367 in die Akademie gekommen. Er hat den Ursprung der Ideenlehre nicht nur von Piaton selbst erfahren können, sondern, als er in die Akademie eintrat, müssen in der Akademie und in Athen noch viele gelebt haben, die Sokrates noch persönlich gekannt haben und deren Berichte über das, was Sokrates gesagt und getan hatte, nodi auf eigner Kenntnis beruhten. Es kommt hinzu, daß diese Angabe des Aristoteles nicht irgendwo in einer Randbemerkung steht. Sie steht vielmehr in einer Geschichte der griechischen Philosophie, die den wesentlichen Teil des ersten Buches der Metaphysik ausmacht und die in den beiden letzten Büchern der Metaphysik wiederholt und erweitert wird. Um Sokra-
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tes zum Urheber der Ideenlehre machen zu können, muß man dieses ausdrückliche Zeugnis des Aristoteles beiseite schieben, und das ist nicht möglich. Man kann der Konsequenz nicht ausweichen, daß Piaton der Urheber der Ideenlehre ist. Aber es ist doch Sokrates, der die Ideenlehre ausspricht, nicht nur im Phaidon, sondern in allen großen Dialogen der Ideenlehre, dem Phaidros, dem Symposion, der Politeia. Auf Grund unserer Auffassung ist dann in diesen Dialogen Sokrates der Sprecher für die Philosophie Piatons. Dann ergibt sich eine Notwendigkeit, die schon Schleiermacher gesehen hat und die wir schon berührt haben. Man muß unterscheiden zwischen dem historischen Sokrates, wie er besonders in den frühen Dialogen auftritt und dem Sokrates der mittleren und der späten Dialoge, der dann ein Sprecher für die Philosophie Piatons und besonders für die Ideenlehre ist. Diese Unterscheidung ist freilich schwierig und noch keineswegs befriedigend durchgeführt. Sie erscheint mir aber nicht unmöglich, und es scheint mir auch nicht unmöglich zu sein, einen Sinn zu finden, in dem Piaton die eigne Ideenlehre durch Sokrates aussprechen läßt. Freilich würde eine solche Unterscheidung zwischen dem historischen Sokrates und dem Sokrates als Sprecher für die Philosophie Piatons gerade im Phaidon besondere Schwierigkeit machen. Ist die Ideenlehre die Philosophie Piatons und nicht die des Sokrates, dann müssen wir uns den Todestag und seine Gespräche ohne die Ideenlehre denken, wir müssen uns gewissermaßen einen Phaidon ohne Ideenlehre vorstellen. N u n ist aber der Phaidon eine so meisterhafte Einheit, daß dies schwer vorstellbar ist. Obwohl ich auf einen in dieser Weise gemachten Einwand nicht zu antworten weiß, halte ich doch daran fest, daß der Satz: Ich weiß, daß ich nichts weiß, das Wesen des Sokrates ausmacht und daß im Gegensatz dazu die Ideenlehre das Wesen und der Kern der Philosophie Piatons ist. Von hier aus lassen sich einige Erwägungen darüber anstellen, wann der Phaidon geschrieben ist. Hier sind zwei Momente zu unterscheiden: die relative Reihenfolge der Dialoge und der absolute Zeitpunkt ihrer jeweiligen Entstehung. Das neunzehnte Jahrhundert hat auf beide Fragen eine sehr große, freilich so gut wie ergebnislose Arbeit verwandt. Heute darf die relative Reihenfolge durch die sprachstatistischen Untersuchungen als geklärt angesehen werden. Einige Teil-
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fragen werden sich vielleicht niemals ganz klären lassen, sie sind auch von geringem philosophischen Interesse. In der Frage der absoluten Entstehungszeit sieht es schlecht aus. Einen Anhaltspunkt haben wir, was die wichtigen Dialoge angeht, eigentlich nur beim Theaitetos. In der Rahmenerzählung wird gesagt, daß Theaitetos tödlich verwundet von Korinth nach dem Piräus gebracht worden ist (142 A), und es kann sich schwerlich um etwas anderes handeln als um das Jahr 369 9 . Der Dialog ist zu Ehren von Theaitetos geschrieben und dürfte also schwerlich sehr lange nach seinem Tode geschrieben worden sein. Das ist zunächst alles, was wir an zuverlässigen Angaben in der Hand haben. Was nun den Phaidon anbetrifft, so haben wir die Situation herausgestellt, auf die der Dialog Bezug nimmt. Von den Ideen wird immer wieder gesprochen, nach dem Sein der Ideen wird im Wechselspiel von Frage und Antwort gesucht. Es liegt nahe, hier an die Akademie zu denken, und ohne Zweifel haben solche Gespräche, denen wir auch in der Politeia wieder begegnen werden, einen wesentlichen Teil des Lebens in der Akademie ausgemacht. Es braucht nicht unbedingt schon selbst die Akademie zu sein. Diogenes Laertios berichtet, daß Piaton schon vor der Gründung der Akademie einen Kreis von Schülern um sich geschart habe 10 , und zwar nahe bei der Akademie in einem Gymnasium, das heute wieder freigelegt ist. Mir scheint es am natürlichsten, an die Akademie zu denken. Dann kommt es auf die Gründungszeit der Akademie an, für die wir auch noch keine Sicherheit haben. Einen weiteren Anhaltspunkt gibt die erste sizilische Reise. Piaton sagt im Anfang des siebten Briefes (324 A), er sei vierzig Jahre alt gewesen, als er diese Reise unternahm. Damit kommen wir also etwa in die Jahre 389 bis 387. Ist die Akademie vor oder nach der ersten sizilischen Reise begründet? Die bessere Annahme erscheint die Gründung nach der ersten sizilischen Reise, wofür sich auch Taylor 11 und Ross 12 entscheiden. Bezieht man den Phaidon auf die Gespräche in der Akademie, so kommt man auf die Reihenfolge: erste sizilische Reise, Gründung der Akademie, Niederschrift des Phaidon. Dies trifft gut damit zusammen, daß sich im Phaidon eine Anspielung auf die Lavaströme des Aetna findet (111 E), den Piaton auf dieser ersten sizilischen Reise gesehen haben dürfte. Dann dürfte der Phaidon etwa um das Jahr 385 geschrieben worden sein, vielleicht ein bis zwei Jahre früher, vielleicht ein bis zwei Jahre später.
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Ich will diese allzu kurze Analyse des Phaidon nicht schließen, ohne auf die große Weite des Dialoges hinzuweisen. Der Logos hat eine fundamentale Bedeutung. Die Ideenlehre wird durch einen intensiven Bezug auf die Idee der Gleichheit eingeführt. Das LOGON DIDON A I wird nachdrücklich gefordert. Die Frage des Verhältnisses der Idee zu den unter ihr stehenden Dingen wird zur Diskussion gestellt. Das Verhältnis der Ideen des Geraden und des Ungeraden zu den unter ihr stehenden Zahlen, hier besonders die Ideen der Zwei und der Drei, wird untersucht. So wird es verständlich und ist wohl berechtigt, wenn Natorp sich für seine extrem logische Interpretation wesentlich auf den Phaidon stützt 13 . Freilich ist von vornherein zu erwarten, daß in den Gesprächen des Todestages der Mythos vom Leben nach dem Tode und also auch vom Leben vor dem Tode eine wichtige Rolle spielt, und das tut er auch. So erscheinen schon im Phaidon Logos und Mythos in einem gewissen Gleichgewicht, das uns immer wieder begegnen wird und das unsere Aufmerksamkeit noch intensiv in Anspruch nehmen wird. Das Symposion, das in der Geschichte des Piatonismus eine so große Rolle gespielt hat, wird gern vernachlässigt, wenn man die Ideenlehre unter rein philosophischen Gesichtspunkten betrachtet. Der Grund ist leicht verständlich. Sokrates feiert die Idee des Schönen in enthusiastischer Weise, und dieser Enthusiasmus ist, wie Ross hervorgehoben hat, von einer starken Transzendenzvorstellung bestimmt 14 . Wir meinen nicht, daß man die Darstellung der Ideenlehre im Symposion aus diesem Grund vernachlässigen sollte, man sollte sie erst recht prüfen. Agathon, der Tragödiendichter, gibt das Gastmahl zur Feier seines ersten Sieges im Wettbewerb der Tragödiendichter (173 A). Die Flötenspielerin wird weggeschickt, es wird beschlossen, daß reihum jeder eine Rede auf den Eros halten soll. Phaidros beginnt, es folgen die Reden des Pausanias, des Eryximachos, des Aristophanes und des Agathon. Zum Schluß kommt die Reihe an Sokrates, der in gewohnter Weise prüft, wer denn der Eros eigentlich ist, und der dann seine Rede auf den Eros als die Wiedergabe dessen bezeichnet, was er von Diotima gehört hat (201 D). Dann bricht Alkibiades ein, trunken, mit Kränzen und Bändern geschmückt (212 D). Der Anblick des geliebten Sokrates ernüchtert ihn auf der Stelle, und so schließt das Symposion mit einer Lobrede des Alkibiades nicht auf den Eros, son-
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dem auf Sokrates (215 A). Man mag wohl im Zweifel sein, ob die Huldigung Piatons an den sterbenden Sokrates im Phaidon oder die Huldigung Piatons an den lebenden Sokrates im Symposion hinreißender ist. Wer die Wirkung der beiden Dialoge nicht voll in sich aufzunehmen vermag, der ist nur zu bedauern. Das Symposion mag zwischen 385 und 380 geschrieben worden sein15, als Piaton von den Erfolgen der ersten glücklichen Jahre in der Akademie beflügelt war. Auch hier ist es Sokrates, der die Ideenlehre vorträgt, sie ist allerdings als eine Lehre der Diotima bezeichnet. Man hat gemeint, durch diesen Bezug auf Diotima wolle sich Piaton von der Ideenlehre distanzieren, ich glaube aber nicht, daß eine soldie Interpretation notwendig ist. Der Liebhaber des Schönen beginnt mit der Liebe zu dem schönen Geliebten. Aber bald wird er erkennen, daß die Schönheit in dem einen schönen Körper der Schönheit in jedem anderen schönen Körper versdiwistert ist (210 B), und so wird er erkennen, daß die Schönheit in allen Körpern ein und dieselbe ist (210 B). Bald wird er auf das Schöne im tätigen Leben und in den Gesetzen achten (210 C). Aber auch dabei darf er nicht stehenbleiben. Hinaus soll er auf das weite Meer des Schönen, und in seinem Anblick viele schöne und herrliche Reden und Gedanken erzeugen (210 D). Dann aber wird er zu dem Ziel seines Weges aufsteigen und das Schöne selbst erblicken als ein ewig Seiendes, rein für sidi und ewig in seiner Gestalt (210 E, 211 A). In diesem Ziel erkennt er es als das, was das Sdiöne wirklidi ist (211 C), er erkennt es als das Göttlich Schöne (211 E); jetzt ist es ihm beschieden, selbst ein Gottgeliebter zu werden (212 A). Niemand wird in dieser begeisterten Schilderung die anschaulichen Bilder verkennen können, das Aufsteigen zu der dort oben stehenden göttlichen Schönheit, das Erschauen der göttlichen Schönheit selbst. Setzt man diese begeisterte Schilderung in die graue Wirklichkeit der ontologischen Reflexion um, dann bedeutet sie allerdings eine starke Transzendenz der Idee der Schönheit, die dort oben thront, weit über den sdiönen Dingen hier unten. Im Phaidros wird Sokrates in einer ganz ungewöhnlichen Art geschildert. Sokrates und Phaidros plätschern vergnügt durch den Symposion 211 D
oröxö tö xaX6v
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Iiissos, barfuß, was zum mindesten für Sokrates keine Schwierigkeiten gemacht haben kann, da er fast immer barfuß zu gehen pflegte. Sie kommen zum Heiligtum des Pan und lagern dort unter einer Platane. Diese Iiissosgegend ist heute durch die wachsende Großstadt Athen sehr verwüstet, aber es kann schwerlich ein Zweifel sein, daß eine kleine Kapelle am Iiissos die Stelle des alten Heiligtums erhalten und weitergeführt hat. Sokrates wundert sich selbst über diese ihm ungewohnte Idylle und spricht die für ihn charakteristischen Worte „ . . . Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen . . . " (230 D). Es ist fast eine Entschuldigung für ihn, der so selten die Stadt verläßt. Das Gespräch beginnt mit der Frage, wie man am besten über die Liebe zu reden habe (230 E). Es wendet sich dann der Frage zu, wie überhaupt eine gute Rede aussehen muß (259 D). Im ersten Teil finden wir den berühmten Mythos über die Schau der Ideen. Die Seele verlangt danach, mit ihrem Gefieder die Schwere zu überwinden und sich hinauszuschwingen „wo das Geschlecht der Götter wohnt" (246 D). Dort führt Zeus den Zug der Götter an. Die Götter und Halbgötter folgen ihm, in zwölf Zügen geordnet. Die gefiederte Seele folgt dem Zug mit großer Mühe. Die Götter und die ihnen folgende Seele erreichen den äußersten Rand des Himmels, schwingen sich hinaus und schauen, was außerhalb des Himmels ist. An diesem überhimmlischen Ort (247 C) erblicken sie die Ideen, das wahrhaft seiende Sein (247 C). Alle freuen sich, „das Seiende wieder einmal zu erblicken" (247 D). Dann werden einige Ideen genannt und unmißverständlich gekennzeichnet: „In diesem Umlauf nun erblicken sie die Gerechtigkeit selbst, erblicken sie auch die Besonnenheit und die Wissenschaft, nicht die, welche eine Entstehung hat, noch welche eine andere ist in einem anderen von den Dingen, die wir jetzt seiend nennen, sondern die in dem, was wahrhaft ist, wahrhaft befindliche Wissenschaft; und so auch von dem andern das wahrhaft Seiende erblickt die Seele" (247 D). Es kann kein Zweifel sein, daß Piaton in diesem Phaidrosmythos eine extreme Zweiweltentheorie vorträgt. Dort oben im überhimmlischen Ort stehen die Ideen in ihrem wahrhaft seiendem Sein, dort oben erblickt die Seele die Ideen selbst. Diese mit einer sinnlichen Phaidros 247 C ovoia övxcug oiaa
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Anschauung gesättigte Zweiweltentheorie ist gewiß nicht das letzte Wort Piatons, aber sie ist ein Wort Piatons, und man darf sie nicht übersehen. Die meisten Interpreten sind, was die Ideenlehre anbetrifft, dem Phaidros gegenüber ebenso zurückhaltend wie gegenüber dem Symposion. Man sagt, Piaton spreche hier in Mythen 16 , oder noch schärfer, Piaton falle hier in alte Mythen zurück 17 . Selbst wenn dies der Fall wäre — und es ist ja tatsächlich der Fall — so wäre es merkwürdig und einer aufmerksamen Betrachtung wert, daß Piaton über die Ideenlehre in Mythen spricht, daß er über die Ideenlehre zum mindesten auch in Mythen spricht. Die Politeia ist die Mitte der Philosophie Piatons. Sie ist mit aller griechischen Freude an Formung und Gestaltung aufgebaut, und die Mitte des großen Werkes ist die Ideenlehre, die Mitte, gesehen auf den Inhalt, und die Mitte, gesehen auf die literarische Form. So ist es verständlich, daß Hegel in der Geschichte der Philosophie zur Einführung in die Ideenlehre Piatons ein Zitat aus der Politeia wählt, obwohl es keine reine Übersetzung ist, sondern stellenweise eine Paraphrase und eine Interpretation darstellt. „Näher bestimmte Plato die Philosophen als diejenigen, ,welche die Wahrheit zu schauen begierig sind. — Dies ist richtig; aber wie erläuterst du es? — Sokrates: Ich sage dies nicht jedem; du wirst aber darin mit mir übereinstimmend sein. — Worin? — Daß, da das Gerechte dem Ungerechten entgegengesetzt ist, es zwei sind. — Warum nicht? — Ebenso das Schöne dem Häßlichen, das Gute und Böse, und ebenso jedes andere E I D O S entgegengesetzt sei, jedes dieser aber für sich Eines sei. Dagegen, durch die Gemeinschaft mit den Handlungen oder Körpern, und mit der Gegenseitigkeit der Beziehung beider aufeinander allenthalben, erscheint ( P H A N T A Z O M E N A ) jedes als ein Vieles. — Du sagst recht. — Ich unterscheide nun hiernach einerseits die Schaulustigen und Künstelustigen und praktischen Menschen, andererseits die, von denen die Rede ist, welche man richtig allein Philosophen nennt. — Wie meinst du das? — Nämlich solche, die gern schauen und hören ( P H I L O T H E A M O N E S K A I P H I L E K O O I ) , lieben, schöne Stimmen und Farben und Gestalten zu sehen und zu hören, und alles, was aus dergleichen besteht; aber des Schönen Natur selbst ist ihr Gedanke unfähig zu sehen und zu lieben. — So verhält es sich. — Die aber
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vermögen, auf das Schöne selbst zu gehen, und es für sich (KATH H A U T O ) zu sehen, sind diese nicht selten? — Ja wohl. — Wer nun die schönen Dinge' oder gerechten Handlungen ,für schön hält, nicht aber die Schönheit' und die Gerechtigkeit .selbst erfaßt, auch sie nicht dafür hält (NOMIZON), noch wenn jemand ihn auf die Erkenntnis (GNOSIN, Gedanken) derselben führt, folgen kann, — meinst du, daß er das Leben in einem wachen oder einem Traumzustande zubringe.' So sind sie, die Nichtphilosophen, sie gleichen Träumenden. ,Sieh nämlich. Träumen, ist es nicht dies, wenn einer im Schlaf oder auch im Wachen das mit einer Sache', dem Schönen oder Gerechten, ,nur Ähnliche, nicht für etwas ihm Ähnliches, sondern für die Sache selbst hält, der es gleicht? — Ich würde allerdings von einem solchen sagen, daß er träume. — So ist der Wachende dagegen, welcher das Schöne' oder Gerechte .selbst für das Seiende hält, es zu unterscheiden weiß und dasjenige, was nur teil daran hat (METECHONTA), und sie nicht miteinander verwechselt'" 18 . Das erste Buch der Politeia hat praktisch die Form eines somatischen Dialoges. Man kann daher annehmen, daß es früh als selbständiger Dialog geschrieben worden ist 19 . Das braucht nicht auszuschließen, daß Piaton später den frühen Dialog dem Gesamtplan des Werkes angeglichen hat. Das erste Buch stellt im Sinne des Sokrates die Frage: Was ist die Gerechtigkeit? (331 C). Die Bücher 2 bis 10 nehmen diese Frage auf und führen sie weiter. Sie entfalten das Staatsideal Piatons, sein Erziehungsideal und sein Wissenschaftsideal und gründen alles auf eine voll ausgebildete Ideenlehre. Versucht man sich über die Entstehungszeit der Politeia ein Bild zu machen, so kann natürlich ein so umfangreidies Werk nicht in kurzer Zeit geschrieben worden sein. Ich vermag daher Taylor nicht zu folgen, der die Reihenfolge annimmt: Phaidon, Politeia, Gründung der Akademie 20 . Ich folge vielmehr der weitaus größten Zahl der Interpreten, besonders Natorp 2 1 , Ross 22 , Friedländer 23 , Gauss24 und nehme die folgende Reihenfolge an: erste sizilische Reise, Gründung der Akademie, Phaidon, Politeia. Dann käme man für die Abfassungszeit der Politeia etwa in die Jahre 385 bis 380. Die Ideenlehre wird in aller Form ausgesprochen, eine der wichtigsten Stellen habe ich soeben im Hegeischen Zitat wiedergegeben, weitere Stellen werde ich in den folgenden Untersuchungen heran-
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ziehen. In der Darstellung der Ideenlehre spielen die berühmten drei Gleichnisse eine wichtige Rolle. Die Sonne, so sagt das Sonnengleichnis, macht alles Sichtbare in seinem Sein erst möglich, sie macht aber auch alles Sehen allererst möglich. So ist es die Idee des Guten als die höchste Idee, die allen Ideen als dem wahren Sein dies wahre Sein verleiht, die aber auch alles Erkennen der Ideen als das Erkennen des wahren Seins möglich macht (508 E). Es folgt das Liniengleichnis (509 D). Die Gesamtheit des Seins besteht aus zwei ungleichen Teilen, den Ideen und den Dingen. Um dies darzustellen, kann man eine Linie in zwei ungleiche Teile teilen. Den unteren Bereich kann man wiederum in zwei ungleiche Teile teilen. Dann bilden den untersten Bereich die Schatten und die Spiegelbilder, etwa im Wasser oder in den eigentlichen Spiegeln. Den zweiten Bereich bilden dann die Dinge. Den oberen Abschnitt der Linie kann man in demselben Verhältnis ebenfalls in zwei Abschnitte teilen. Dann erhält man als den dritten Bereich die Gegenstände der Mathematik und schließlich als den obersten, den vierten Bereich, die Ideen selbst. Uber den Sinn dieses Liniengleichnisses ist viel verhandelt worden. Es ist besonders fraglich geblieben, wie das Verhältnis des obersten Bereiches, also der Ideen zu dem folgenden Bereich, also den Gegenständen der Mathematik, verstanden werden soll. Handelt es sich um zwei verschiedene Seinsbereiche, so wie die Idee und die Dinge zwei verschiedene Seinsbereiche darstellen? Muß man annehmen, daß es in dieser Gliederung, um ein Beispiel zu geben, die Zwei und die Drei sowohl als Ideen im obersten Bereich, als auch als Gegenstände der Mathematik, also im zweiten Bereich, gibt? Dann gäbe es für diese als Beispiele genannten Zahlen, die Zwei und die Drei, zwei Seinsweisen: die Zwei und die Drei als Ideen und die Zwei und die Drei als Gegenstände der Mathematik. Oder gibt es nur ein ideales Sein, und sind die hier auftretenden Unterschiede nur Unterschiede der Betrachtungsweise? Aristoteles berichtet, Piaton habe den mathematischen Gegenständen ein mittleres Sein zwischen den Ideen und den Sinnendingen zugewiesen 25 , vermutlich hat er sich dabei auf das Liniengleichnis gestützt und dies Gleichnis so verstanden, daß es sich bei der Teilung in Ideen und Gegenstände der MathePoliteia 5 1 1 C
xai xsXevxq. e'15 elör)
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matik um eine Teilung in zwei Seinsbereiche handelt26. Man muß freilich zugeben, daß sich im Liniengleichnis eine klare Entscheidung nicht finden läßt, und so bleibt die Diskrepanz der Interpretationen verständlich. Das Höhlengleichnis, mit dem das siebte Buch beginnt (514 A), ist sorgsam in den Einzelheiten ausgeführt, und es hat eine besondere Beachtung gefunden. Piaton erzählt von Menschen, die in einer dunklen Höhle angeschmiedet sind, so daß sie nur Schatten sehen können. Sie müssen befreit und aus der Höhle nach oben geführt werden. Dort werden sie die Sonne sehen und statt der Schatten die Dinge selbst im Sonnenlicht. So müssen die Menschen, die hier in der Welt des Vergänglichen und des Schattenhaften leben, umgewandt und nach oben geführt werden. Dort werden sie die Ideen schauen, über allen die Idee des Guten; dort werden sie das wahre Sein schauen. Die Bedeutung des Höhlengleichnisses für die Ideenlehre faßt Piaton kurz darauf noch einmal zusammen: „Dieses ganze Bild nun, sagte ich, lieber Glaukon, mußt du mit dem früher Gesagten verbinden, die durch das Gesicht uns erscheinende Region der Wohnung im Gefängnisse gleichsetzen und den Schein von dem Feuer darin der Kraft der Sonne; und wenn du nun das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge setzt als den Aufschwung der Seele in die Region der Erkenntnis, so wird dir nicht entgehen, was mein Glaube ist, da du doch dieses zu wissen begehrst" (517 B). Das Höhlengleichnis ist immer wieder auf seinen pädagogischen Gehalt hin interpretiert worden. Für uns ist seine Bedeutung für die Ideenlehre wichtiger, und wir folgen damit der eben zitierten Anweisung von Piaton selbst. Es folgen im siebten Buch die Darlegungen über die Erziehung und den Unterricht, die offenbar von der Akademie her gedacht sind. Auf die musische, sportliche und waffenmäßige Erziehung, wie sie der vornehmen Jugend Athens teilzuwerden pflegte, folgt für eine Elite die wissenschaftliche Ausbildung. Sie umfaßt eine zehnjährige Ausbildung in der Mathematik und den Naturwissenschaften (537 B) und führt dann wiederum für eine Elite zu einer fünfjährigen Ausbildung in der Dialektik, das heißt hier in der Philosophie (539 E). So werden die Philosophen herangezogen, von denen das berühmte Wort gesagt wird: „Wenn nicht, sprach ich, entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Ge-
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walthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie... gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten, lieber Glaukon, und ich denke auch nicht für das menschliche G e s c h l e c h t . . ( 4 7 3 C). Nun ist es zwar immer Sokrates, der dies sagt, aber wie weit sind wir von der Welt des Sokrates entfernt. Wie weit war die Jugend des Sokrates, des Sohnes eines Steinmetzen und einer Hebamme, von der Erziehung der vornehmen Jugend Athens entfernt. Nichts spricht dafür, daß Sokrates ein zehnjähriges Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften absolviert habe, und es ist undenkbar, sich Sokrates in einem vierjährigen Kurs der Philosophie vorzustellen. Ebensoweit ist Sokrates von dem Ideal der Philosophenkönige entfernt. Er sagt in der Apologie im Gegenteil ausdrücklich, daß er sich um die staatlichen Dinge nicht kümmern will (31 C). Dieser Studiengang der Politeia, das ist nicht Sokrates, das ist Piaton. Wenn gleichwohl Sokrates es ist, der dies alles ausspricht, so spricht Sokrates nicht mehr für sich selbst, sondern er spricht für Piaton. Hier ist ein Bereich, in dem die geforderte Unterscheidung zwischen dem historischen Sokrates und dem Sokrates als dem Sprecher für die Philosophie Piatons sich als möglich erweist. In den weitgespannten Darlegungen der Politeia über die Ideenlehre findet sich die These, daß die Idee des Guten die höchste Idee ist (509 B). Diese These ist für das Verständnis der Ideenlehre von großer Bedeutung. Mir selbst bleibt es freilich zweifelhaft, ob dies das letzte und das endgültige Wort Piatons in dieser Frage ist, und im folgenden wird die Frage thematisch diskutiert werden müssen. Im zehnten Buch der Politeia, dem letzten Buch, kommt Piaton noch einmal ausführlich auf die Ideenlehre zurück. Dabei vertritt er eine besonders weitreichende These über das Verhältnis von Wort und Idee. Auch diese These läßt sich in der im zehnten Buch gegebenen Form schwerlich halten, auch diese These der Politeia werden wir im folgenden ausdrücklich untersuchen müssen. Blickt man auf die Politeia im Ganzen zurück, dann sieht man, daß hier Logos und Mythos zu einem großen Reichtum verbunden sind. Logische Untersuchungen — logisch im weitesten Sinne verstanden — nehmen einen breiten Raum ein. Die logischen und ontologischen Probleme der Ideenlehre sind ausführlich behandelt. Wissenschaftstheo-
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retische Untersuchungen zur Mathematik und zu den Naturwissenschaften, hier besonders zur Astronomie, werden eingehend durchgeführt. Im Verhältnis zum Logos erscheint die Bedeutung des Mythos sorgsam ausgewogen. Von den drei Gleichnissen aus der Mitte des Werkes mag das Liniengleichnis mit seinen wissenschaftstheoretischen Erörterungen über die Mathematik nicht schon als Mythos, sondern eher als Parabel bestimmt werden. Aber im umfangreichsten Gleichnis, dem Höhlengleichnis, kann das mythische Element schwerlich übersehen werden. Es ist aber gewiß kein Zufall, sondern eine wohlüberlegte Absicht, wenn das zehnte Buch, und damit die Politeia im Ganzen, in den großen Mythos vom Leben nach dem Tode einmündet und damit den Abschluß und die Vollendung des großen Werkes erreicht. Von der Ideenlehre her erscheinen die vier Dialoge: Phaidon, Phaidros, Symposion und Politeia als zusammengehörig. Dabei ist sicher, daß der Phaidon zuerst geschrieben wurde und daß die Abfassung der Politeia sich über einen längeren Zeitraum hingezogen haben muß. Wann in diesem Zeitraum der Phaidros und das Symposion geschrieben wurden, wird sich mit absoluter Sicherheit schwerlich feststellen lassen, ist auch philosophisch von geringem Interesse. Ich folge also den Ansätzen von Ross27, der annimmt, daß die vier Dialoge nach der Gründung der Akademie geschrieben wurden und daß sie in vielen Einzelheiten das Leben der Akademie widerspiegeln. Auch für die Gründung der Akademie folge ich Ross, der annimmt, daß die Akademie nach der ersten sizilischen Reise gegründet worden ist. Die Jahre, in denen diese Dialoge geschrieben wurden, müssen für Piaton glückliche Jahre gewesen sein; wenn man Jahreszahlen nennen soll, so dürfte etwa an die Jahre von 386 bis 380 zu denken sein. Die dann folgenden Dialoge bilden, von der Ideenlehre her gesehen, 3 Gruppen, ohne daß die Einteilung absolut scharf getroffen werden kann: die erste Gruppe bilden Parmenides und Sophistes, die zweite Gruppe Politikos, Theaitetos, Philebos und Nomoi, die dritte Gruppe schließlich bilden Timaios, Kritias und siebter Brief. Der Dialog Parmenides ist von Piaton als ein Gespräch zwischen dem sechzigjährigen Parmenides, dem vierzigjährigen Zenon und dem jungen Sokrates konzipiert (127 B). Stellt man sich vor, daß damit Sokrates als etwa neunzehnjähriger gemeint wäre, so käme man etwa
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in das Jahr 450 als die Zeit, in der sich Piaton das Gespräch vorgestellt haben könnte. Der Dialog besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil bringt eine kritische Auseinandersetzung mit der Ideenlehre, der zweite Teil behandelt die Dialektik von Sein und Einheit. Der zweite Teil, die von Hegel besonders geschätzte Dialektik 28 , bietet dem Verständnis Schwierigkeiten, für die bis jetzt eine einsichtige und allgemein anerkannte Interpretation nidit gefunden werden konnte. Uns kommt es auf die Kritik der Ideenlehre im ersten Teil an. Es ist viel darüber gestritten worden, wer mit der im ersten Teil kritisierten!' Ideenlehre gemeint sein könnte; vielleicht die Megariker, vielleicht die Pythagoräer, vielleicht Schüler Piatons, die ihren Lehrer mißverstanden hätten, vielleicht Piaton selbst in seiner eignen Ideenlehre. Ich werde im zweiten Teil begründen, weshalb ich mit vielen Interpreten, besonders der Gegenwart, der Meinung bin, daß die im ersten Teil des Parmenides kritisierte Ideenlehre die von Piaton selbst in den großen Ideendialogen vorgetragene Ideenlehre ist und daß also Piaton sich kritisch mit seiner eignen Ideenlehre auseinandersetzt. Besonders wichtig ist es für unsere Betrachtung, daß diese kritische Auseinandersetzung mit der eignen Ideenlehre keine Ablehnung bedeutet. Aller von ihm selbst gesehenen Schwierigkeiten ungeachtet hält Piaton an der Ideenlehre fest. Am Schluß des ersten Teiles sagt er ausdrücklich: Wer „nicht eine Idee für jegliches Seiende zuläßt, die immer dieselbe bleibt", wird „das Vermögen der Dialektik gänzlich aufheben" (135 C). Dies erscheint auch sachlich gerechtfertigt. Eine kritische Reflexion auf die Ideenlehre darf die Ideenlehre nicht verwerfen, wenn sie wirklich eine kritische Reflexion sein will. Im Gegenteil, sie muß das, worüber sie reflektieren will, allererst und dann aber auch allerletzt anerkennen. Ähnlich liegt es im Sophistes. Für die Ideenlehre handelt es sich besonders um zwei Abschnitte, um den Abschnitt über die Ideenfreunde und um den Abschnitt über die höchsten Gattungen. In eine Auseinandersetzung mit den ihm vorausgehenden Philosophen, die ganz besonders eine Auseinandersetzung mit Parmenides und Heraklit ist, hat Piaton eine Auseinandersetzung mit den Ideenfreunden eingebaut (248 A). Auch hier hat man lange diskutiert, wer gemeint sein könnte: eine andere Philosophenschule mit einer Ideenlehre, etwa wie die Megariker oder die Pythagoräer, oder mißverstehende Pia-
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tonschüler. Auch hier entscheide idi mich mit vielen Interpreten der Gegenwart dafür, daß Piaton mit den Ideenfreunden sich selbst, seine Freunde und seine eigentlichen Schüler gemeint hat. Auch dies wird besonders zu begründen sein, wobei es dahingestellt bleiben muß, ob überhaupt irgendwann einmal eine allgemein anerkannte Interpretation zu erreichen ist. Im Fortgang bringt der Sophistes die Lehre von den fünf obersten Gattungen: Sein, Identität, Verschiedenheit, Bewegung und Ruhe. Hier stellt sich besonders die Frage, ob diese fünf obersten Gattungen Ideen sind. Betrachtet man sie als Ideen, dann ist diese Lehre von den fünf obersten Ideen mit der Lehre der Politeia von der Idee des Guten als der einen obersten Idee nicht in Einklang zu bringen. Da aber Piaton ausdrücklich von einer Idee des Seins (254 A) und auch ebenso ausdrücklich von einer Idee der Verschiedenheit (255 E) spricht, entscheide ich mich auch hier in Übereinstimmung mit vielen Interpreten der Gegenwart dafür, daß es sich bei den fünf obersten Gattungen um Ideen handelt. Dann müssen wir freilich im zweiten Teil auch hier in eine Untersuchung darüber eintreten, wie die Lehre des Sophistes von den fünf obersten Gattungen sich zur Lehre der Politeia von der Idee des Guten als der höchsten Idee verhalten könnte. Bei den hier getroffenen Interpretationsentscheidungen bleibt die Ideenlehre für diese erste Gruppe der späten Dialoge, für Parmenides und Sophistes, der Hintergrund und weithin sogar das eigentliche Thema der Untersuchung. Wenn man zur zweiten Gruppe der späteren Dialoge übergeht, so trifft man oft auf die Auffassung, in den späteren Dialogen habe Piaton sich von der Ideenlehre abgewandt; ich darf etwa auf Kucharski29 und auf Wolff 30 verweisen. Die Auffassung geht davon aus, daß die Kritik an der Ideenlehre im Parmenides und Sophistes als eine Widerlegung der Ideenlehre aufgefaßt werden müsse. Sie nimmt ferner an, daß Piaton im Theaitetos und im Philebos nicht von der Ideenlehre spricht, und zwar deshalb, weil er sich bereits von der Ideenlehre abgewandt habe. Ich werde im zweiten Teil ausführlich zu begründen haben, daß die kritische Reflexion auf die Ideenlehre im Parmenides und im Sophistes keine Ablehnung darstellt. Aber es ist auch nicht richtig, daß Piaton in diesen späten Dialogen nicht mehr von der Ideenlehre spricht. So findet sich im Theaitetos die folgende
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Stelle: „Sokrates: Zu welchem von beiden rechnest du nun das Sein? Denn dies ist es doch, was am meisten bei allem vorkommt? — Theai^ tetos: Zu dem, was die Seele selbst durch sich selbst aufsucht. — Sokrates: Wohl auch so die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, das Einerleisein und das Verschiedensein? — Theaitetos: J a . — Sokrates: Und wie das Schöne und das Schlechte, das Gute und Böse?" (186 A). Hier spricht Piaton doch offenbar von Ideen. Natorp 3 1 und Ross 32 fassen diese und andere Aussagen meiner Meinung nach mit Recht als Aussagen über die Ideenlehre auf. Taylor meint zwar, daß Piaton im Theaitetos nicht von der Ideenlehre spricht, daß er aber in diesem Dialog an der Ideenlehre festhält 33 . Nicht anders liegt es im Philebos. Der Dialog stellt die Frage, was das Gute ist. Philebos vertritt die These, daß die Lust das Gute ist. Sokrates bestreitet dies mit Entschiedenheit, er vertritt vielmehr die Gegenthese, daß das Denken und das Erkennen das Gute ist (11 B). Bald darauf tritt die Ideenlehre als die Lehre von der Einheit auf: „Wenn aber jemand den Mensdien als Einen setzt, und den Ochsen als Einen, und das Schöne als Eins, und das Gute als E i n s . . . " (15 A) Zwar spricht hier Piaton nicht ausdrücklich von der Idee des Schönen und von der Idee des Guten, aber es gibt eben bei Piaton keine starre Terminologie. Piaton spricht vielmehr von den Ideen stets in einer sehr beweglichen und geschmeidigen Form. Ich stimme daher auch hier Natorp 3 4 und Ross 3 5 zu, wenn sie diese Stelle ausdrücklich für die Ideenlehre in Anspruch nehmen. Es besagt in der Tat nichts, wenn Piaton hier nicht von Ideen spricht, sondern von Monaden (15 B). Das Schöne als Einheit und als das wahrhaft Seiende, was ist das anderes als die Idee? Wenn hier eine Änderung vorliegen sollte, dann höchstens eine Änderung in der Terminologie. Daß aber eine planmäßige Änderung der Terminologie vorliegt, ist bis jetzt nicht bewiesen worden und wird schwerlich jemals bewiesen werden können. Die Ideenlehre tritt noch einmal gegen Ende des Dialoges auf. Sokrates will die Wissenschaften in ihrem Verhältnis zueinander charakterisieren. Als die höchste erweist sich die Dialektik, „die sich mit dem wahrhaft Seienden und immer auf gleidie Weise Gearteten beschäftigt" (58 A). Dies ist die Ideenlehre, die auch in der Politeia (532 A) in derselben Weise charakterisiert wird und in derselben Weise, so wie überall in der Politeia, als Dialektik bezeichnet wird.
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Dabei braucht man nicht zu leugnen, daß im Philebos die Ideenlehre nicht in der terminologischen Festigkeit und in der nahezu, prophetischen Form auftritt wie etwa im Phaidon. Man wird dies am besten verstehen, wenn man davon ausgeht, daß Piaton hier die Ideenlehre als eine anerkannte Lehre betrachtet, so daß er nicht mehr genötigt ist, sie einzuführen oder zu propagieren. Man kann eine ähnliche Erscheinung bei Kant finden. Hier ist das synthetisdie Urteil einer der Grundbegriffe der Philosophie. So tritt das synthetische Urteil sachlich und terminologisch in den drei Kritiken mit großer Häufigkeit auf. In den späteren Schriften wird die Erwähnung des synthetischen Urteils immer seltener36. Das bedeutet gewiß nicht, daß Kant die Lehre vom synthetischen Urteil aufgegeben hat. Er kann sich vielmehr mit Hinweisen begnügen, er braucht die Lehre vom synthetischen Urteil nicht immer wieder neu zu begründen. So ist auch für Piaton in den späten Dialogen die Ideenlehre zu einer anerkannten Lehre geworden, es genügt ihm, wenn er auf sie hinweist. In aller Ausdrücklidikeit wird die Ideenlehre wieder im Timaios aufgenommen. Diejenigen, die meinen, Piaton habe sich in den späten Dialogen von der Ideenlehre abgewandt, können unmöglich den Timaios richtig gelesen haben, oder sie müssen mit verzweifelten Interpretationskunststücken das hinweginterpretieren, was mit klarem Wort im Text steht. Im Timaios gibt Piaton seine Kosmologie und die damit verbundene Lehre von der Welt und ihren wesentlichen Strukturen. Sprecher im Hauptteil ist nicht Sokrates, der anwesend ist und nur zu Beginn spricht. Sprecher ist vielmehr Timaios, ein Pythagoräer aus Lokris (20 A) in Unteritalien. Die Dialogform ist fast aufgegeben, die Darstellung wird nicht als absolut sicher sondern bloß als wahrscheinlich bezeichnet. Diese Kosmologie des Timaios ist unmittelbar auf die Ideenlehre gegründet. Es ist notwendig, so sagt Piaton, zwischen den gewordenen und vergänglichen Dingen und den ungewordenen und unvergänglichen Ideen zu unterscheiden (27 D). Auf die Ideen hinblickend erschafft der Demiurg die Welt (28 A). Die Ideenlehre wird noch einmal besonders wirksam bei der Lehre von den Elementen. Piaton Timaios 51 B Äpa SOTIV
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Teil I: Die Ideenlehre
findet die Lehre von den vier Elementen vor: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Zu ihnen tritt als fünftes Element der Äther. Piaton ist überzeugt, daß die Fünfzahl der Elemente nicht zufällig ist, sondern daß sie — wie wir heute sagen würden — auf apriorischen Strukturen beruht. Aus diesen apriorischen Strukturen kann sie deduziert werden. Als Ausgangspunkt für eine solche Deduktion der Zahl der Elemente benutzt er die Lehre von den fünf regulären Körpern (53 C), eine der großen Leistungen der griechischen Mathematik, die auch von Euklid im Aufbau seiner systematischen Darstellung der Mathematik als die Vollendung der griechischen Mathematik herausgestellt wird. In dieser Deduktion tritt die Ideenlehre auf, und Piaton spricht ausdrücklich von der Idee des Feuers (51 B). Wer also behaupten will, daß der späte Piaton die Ideenlehre aufgegeben habe, muß den Timaios zu den mittleren Dialogen vorverschieben. Dies ist aber aus formalen, inhaltlichen und stilistischen Gründen nicht möglich. Es muß dabei bleiben, daß der Timaios einer der spätesten Dialoge ist und daß in diesem Dialog die Ideenlehre ausdrücklich und in aller Form auftritt. Zu demselben Ergebnis, daß nämlich Piaton immer an der Ideenlehre festgehalten hat, kommt man, wenn man den siebten Brief betrachtet. Über die Echtheit gerade des siebten Briefes ist viel gestritten worden. Das neunzehnte Jahrhundert hat ihn im allgemeinen als unecht betrachtet. In unserem Jahrhundert haben die meisten Interpreten sich für die Echtheit entschieden. Diesen Wandel hat vor allen Dingen Wilamowitz-Möllendorff herbeigeführt 37 . Auch Taylor 38 und Ross39 treten für die Echtheit ein. Vor kurzem hat Levison sprachstatistische Untersuchungen mit elektronischen Methoden durchgeführt 40 . Nun bin ich stets für die Bedeutung der sprachstatistischen Untersuchungen eingetreten. Es ist freilich zu erwarten, daß bei einem über eine so lange Zeit sich erstreckenden literarischen Werk wie dem Piatons — es dürfte sich doch über ungefähr 50 Jahre erstreckt haben — stilistische Veränderungen eintreten. Diese sind ja bereits in den mit der Hand durchgeführten sprachstatistischen Untersuchungen von Lutoslawski 41 festgestellt worden. Eine andere Frage ist aber, ob man von Differenzen im Stil auf die Verschiedenheit des Autors schließen darf. Hier wissen wir einfach noch nicht genug. Wie groß sind eigentlich die stilistischen Differenzen bei anderen Autoren,
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die über eine lange Zeit geschrieben haben? Wie groß sind sie etwa bei Kant oder bei Goethe? Mir scheinen also die sprachstatistischen Untersuchungen im höchsten Maße begrüßenswert, aber für die daraus gezogenen Folgerungen reichen meiner Meinung nach unsere heutigen Kenntnisse noch nicht aus. Im übrigen hängt die These, die ich jetzt vertreten will, daß nämlich Piaton immer an der Ideenlehre festgehalten hat, keineswegs von der Echtheit des siebten Briefes ab, sie ist vielmehr durch das Festhalten Piatons an der Ideenlehre im Theaitetos, im Philebos und im Timaios genügend gesichert. Bei der Interpretation jedenfalls, die ich vertreten möchte, spricht auch der siebte Brief für ein Festhalten Piatons an der Ideenlehre. Seine Abfassungszeit kann einigermaßen genau bestimmt werden. Piaton spricht von der Ermordung Dions (334 A), und der Ton des Briefes läßt darauf schließen, daß der Brief nicht allzu lange nach diesem für Piaton so überaus schmerzlichen Ereignis geschrieben worden ist. Auf jeden Fall wäre der Tod Piatons im Jahre 348/347 das absolut späteste Datum. Im siebten Brief spricht Piaton über die Unmöglichkeit, das, worum es ihm eigentlich geht, darzustellen. Ich habe die Stelle diesem Buch als Motto vorausgesetzt. Die Stelle ist von großer Wichtigkeit für die Untersuchungen von Krämer 42 und Gaiser 43 gewesen. Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist freilich noch lebhaft umstritten. Wenn diese Untersuchungen davon ausgehen, daß es bei Piaton eine esoterische und eine exoterische Philosophie gibt, und wenn sie dann zu dem Ergebnis kommen, daß die Ideenlehre zu der exoterischen Philosophie Piatons gehört und daß, im Gegensatz dazu, die esoterische Philosophie Piatons nicht in den Dialogen zum Ausdruck gekommen ist, so erscheint es mir zweifelhaft, selbst wenn es so gewesen wäre, ob die esoterische Philosophie Piatons, die dann über die Ideenlehre hinausliegen müßte, aus anderen Quellen wiederhergestellt werden kann. Mir scheint nicht, daß eine solche Wiederherstellung gelungen ist, noch, daß sie überhaupt jemals gelingen kann. Auf jeden Fall müßte für eine solche Unterscheidung zwischen der esoterischen und der exoterischen Philosophie Piatons sowie für die Einreihung der Ideenlehre in die exoterische Philosophie Piatons der Sinn der Ideenlehre deutlich sein. Die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung, den Sinn der Ideenlehre deutlich zu machen, wird von dieser Problematik nicht berührt.
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Betrachtet man den siebten Brief als echt, dann hat Piaton bis zuletzt an der Ideenlehre festgehalten. Unmittelbar auf die von uns zum Motto gewählte Stelle läßt Piaton eine Darstellung der Ideenlehre folgen. Als Beispiel wählt er den Kreis (342 A). Es kann also kein Zweifel sein, daß Piaton noch bis hierher an der Ideenlehre festgehalten hat. Überblickt man die platonischen Dialoge im Hinblick auf die Ideenlehre, so kann man sechs Gruppen unterscheiden. Die erste umfaßt die frühen Dialoge, die reine Darstellungen sokratischer Gespräche sind. In ihnen kommt die Ideenlehre noch nicht vor. Als Beispiele nenne ich den Ion und den Ladies. Als zweite Gruppe kann man eine Reihe von Dialogen zusammenfassen, in denen die Ideenlehre in gewissen Anfängen auftritt. Als Beispiele wären hier der Menon und der Gorgias zu nennen, in gewissem Sinne auch der Euthyphron. Wer eine Entwicklungsgeschichte des Denkens Piatons für möglich und fruchtbar hält, wird hier mancherlei Material finden. Ich selbst habe eine soldie Entwicklungsgeschichte nicht für meine Aufgabe gehalten. Die Mitte des opus platonicum bilden zeitlich und sachlich die vier großen Ideendialoge: Phaidon, Phaidros, Symposion und Politeia. Hier ist die Bedeutung des Phaidon außer jedem Streit. Phaidros und Symposion werden wegen ihres mythologischen Gehaltes in den Darstellungen der Ideenlehre gern etwas beiseitegesetzt. Ich halte dies nicht für richtig. Idi glaube vielmehr, daß für ein Verständnis der Ideenlehre auch das Verständnis des in seinen Darstellungen auftretenden Mythos notwendig ist. Als vierte Gruppe kann man den Parmenides und den Sophistes betrachten. Sie stellen sidi dann als eine kritische Auseinandersetzung mit der in den vier großen Ideendialogen dargestellten Ideenlehre dar. Eine fünfte Gruppe würden dann Theaitetos und Philebos bilden. In ihnen ist ein Bezug auf die Ideenlehre verhältnismäßig selten, nicht, weil Piaton die Ideenlehre aufgegeben hätte, sondern weil er sie jetzt als eine Selbstverständlichkeit betrachtet. Schließlich bildeten der Timaios und der siebte Brief eine sediste Gruppe, weil in diesen Schriften die Ideenlehre noch einmal ausdrücklich und in aller Form auftritt. Diese Auffassung kommt also zu einer fortwährenden Geltung der Ideenlehre von den großen Ideendialogen an bis zu den spätesten Schriften. Das besondere Anlie-
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gen der hier vorgelegten Interpretation ist es, die Bedeutung der im Parmenides und im Sophistes auftretenden Reflexion deutlich zu madien. Diese Interpretation will, auf viele Vorgänger zurückgreifend, in vollem Umfang zeigen, daß Piaton die Ideenlehre nicht nur gelehrt, sondern daß er selbst über den Sinn und die Bedeutung der Ideenlehre reflektiert hat. In der Herausarbeitung dieser Reflexion liegt die besondere Aufgabe dieser Interpretation.
§ 3 Die Grundbegriffe der Ideenlehre Die Ideenlehre setzt im Phaidon ein mit der Grundunterscheidung: zwei Weisen des Seins (79 A). Das hier Gesagte ist freilich nicht leicht zu übersetzen. Piaton benutzt das Wort EIDOS, das meistens die Idee bezeichnet, oft aber auch die Gattung, die Art. Hier kann es nur die letztere Bedeutung haben. Dann müßte man also übersetzen: zwei Gattungen des Seins, zwei Arten des Seins. Nun steht aber noch dahin, ob das Sein ein Allgemeinbegriff ist, der so in zwei Gattungen oder in zwei Arten zerfällt wie der Allgemeinbegriff „natürliche Zahl" in die geraden und in die ungeraden Zahlen. Es scheint daher angebracht, in einer vorsichtigen Übersetzung diese Implikation zu vermeiden. Man könnte sagen: zwei Modi des Seins. Man würde dann auf den lateinischen Terminus „modus" ausweichen, auf den schon das Mittelalter ausgewichen ist, wenn es darum ging, einen neutralen Terminus zu finden. Dieser lateinische Terminus „modus" würde dann durch den deutschen Terminus „Weise" wiedergegeben, um auch im Deutschen einen Terminus zu finden, der möglichst wenig ontologische Implikationen enthält. Noch schwieriger ist die Übersetzung des Genitivs: T O N O N T O N . E r ist der Genitiv des partizipium pluralis TA ONTA, die Seienden. Nun kann das Griechische mit großer Leichtigkeit von dem Wort „Sein" sowohl den substantivierten Infinitiv T O E I N A I als auch das Partizip T O O N verwenden. Dies verhält sich in den einzelnen Sprachen ganz verschieden. In einigen wird der substantivierte Infinitiv von Sein als sprachlich schlecht empfunden, in anderen das PartiPhaidon 79 A
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zip. Bei der Ubersetzung vom Griechischen ins Deutsche macht der Plural des Neutrums besondere Schwierigkeiten, und zwar nicht nur, wie hier, beim Partizip, sondern beim Adjektiv überhaupt. Das beste Beispiel ist der Plural des Neutrums von schön. Die Griechen können hier mit der größten Leichtigkeit sagen: T A K A L A . Der Plural „die Schönen" bezeichnet im Deutschen in dezidierter Weise das schönere Geschlecht, meint also den Plural des Femininums. Im Deutschen müßte man eine Ergänzung hinzufügen, man müßte etwa sagen: die schönen Dinge. So versuchen die meisten Ubersetzer sich zu helfen. Man bringt dann aber eine Dinglichkeit hinein, die nicht gewollt ist, die im Griechischen nicht gewollt ist, die von Piaton an unserer Stelle schon ganz und gar nicht gewollt ist. Im Phaidon gibt Piaton das Beispiel: schöne Menschen, schöne Pferde, schöne Kleider (78 D). Hier könnte man die schönen Kleider unter die schönen Dinge rechnen, aber doch nicht mehr die schönen Pferde und schon ganz und gar nicht die schönen Menschen. So bleibt nichts anderes übrig als elastische Formen der Ubersetzung zu suchen. Im Deutschen empfiehlt es sich oft, auf den Singular zurückzugreifen; man kann dann sagen: das viele Schöne. In der deutschen Sprache ist das Partizip des Wortes Sein ungebräuchlich: im Singular selten und im Plural ganz ungewöhnlich. So dürfte die Übersetzung: zwei Weisen der Seienden als sehr hart, wenn nicht sogar als ausgesprochen schlechtes Deutsch empfunden werden. Wenn kein Mißverständnis zu befürchten ist, greift man am besten auf den substantivierten Infinitiv zurück und sagt: zwei Weisen des Seins. Allerdings gründet Heidegger auf den Unterschied zwischen dem substantivierten Infinitiv und dem Partizip beim Wort „Sein" die Lehre von der ontologischen Differenz 1 . Es bleibt zweifelhaft, ob in der Sprache ein solcher Unterschied angelegt ist, jedenfalls nicht im Deutschen und auch nicht im Griechischen. Heidegger hat auch bei den griechischen Philosophen einen solchen Unterschied nicht aufgezeigt, weder bei Parmenides, noch bei Piaton, noch bei Aristoteles. Mit dieser Unterscheidung zwischen den zwei Weisen des Seins unterscheidet Piaton zwischen den Sinnendingen, wie man in der Regel sagt, und den Ideen. Mir scheint, man kann sagen, Piaton unterscheidet zwischen den Ideen und den Dingen. In dieser Weise unterscheidet Piaton an vielen Stellen. Am eindrucksvollsten ist mir
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immer das Liniengleichnis erschienen, das am Ende des sechsten Buches der Politeia das mittlere der drei großen Gleichnisse bildet. Auch hier setzt Piaton mit der ausdrücklichen Formulierung ein: zwei Weisen (509 D). Diese Teilung des Seins wird im Vergleich dargestellt durch die Teilung einer Linie in zwei übrigens ungleiche Teile. Den größeren Teil machen die Ideen aus, die die eigentlichen Ideen und die Gegenstände der Mathematik umfassen, den anderen, den kleineren Teil, bilden die Dinge, zunächst die eigentlichen Dinge und dann die Spiegelbilder und Schatten. Diese Unterscheidung in die zwei Weisen des Seins, in die Ideen und in die Dinge, ist die Grundthese aber auch zugleich die Grundschwierigkeit der Philosophie Piatons. Wir wenden uns zunächst den terminologischen Fragen in bezug auf die Ideen zu. Hier stoßen wir sofort auf die Schwierigkeit, daß die Spradie Piatons außerordentlich beweglich ist. Es sind nicht nur stilistische, sondern es sind auch systematische Gründe, die Piaton davon abgehalten haben, für die Bezeichnung der Idee einen ständig aufzuwendenden festen Terminus einzuführen, und dabei dürften die systematischen Gründe das eigentlich entscheidende Gewicht haben. Im allgemeinen benutzt Piaton das Adjektiv: das Schöne, das Gerechte in der Regel mit einer Beifügung, etwa: das Schöne an sich (Symp. 211 B). Dieser Ausgang vom Adjektiv wird für die Ideenlehre weitreichende Konsequenzen haben. Freilich finden wir auch das Substantiv, auch hier in der Regel mit einer Hinzufügung, die Gerechtigkeit selbst (Phaidros 247 D). Auch für die Idee des Schönen findet sich das Substantiv (Politeia 479 A), wenn auch vielleicht etwas seltener als bei der Gerechtigkeit. Als weiterer Ausdruck findet sich dann die im Deutschen fast ausschließlich üblich gewordene Bezeichnung als Idee, etwa die Idee der Drei (Theaitetos 143 D). Als ausdrücklichen Terminus für die Idee als solche verwendet Piaton sowohl EIDOS als auch IDEA. Es ist viel darüber gestritten worden, ob zwischen diesen beiden Termini ein Unterschied besteht. Ritter hat eine ausführliche und vollständige Untersuchung aller Stellen vorgelegt2. Ich schließe mich dem vorsichtigen Ergebnis Ritters an, daß ein fester Unterschied zwischen den beiden Termini nicht endgültig nachgewiesen werden kann. Dies ist bei der beweglichen Sprache Piatons auch gar nicht zu erwarten. Es finden sich auch andere Termini, etwa PHYSIS (Pol. 501 B). Eine umfassende Untersuchung
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ist bis jetzt nodi nicht vorgelegt worden, vielleicht ist sie auch gar nicht möglich. Die Terminologie für die Dinge ist noch beweglicher. Der Ausgangspunkt ist auch hier das Adjektiv. Hier steht im allgemeinen der Singular des Neutrums gegen den Plural des Neutrums, und so unterscheidet dann Piaton die Idee des Schönen als das Schöne selbst gegen die vielen schönen Dinge (Pol. 507 B). Von hier aus kann Piaton ganz allgemein das Eine und die Vielen unterscheiden (Parm. 130 B). Dann finden sich Termini, die von den Eigenschaften der Dinge ausgehen, die sichtbaren Dinge, die erscheinenden Dinge. Wir werden diese Gruppe sofort besonders behandeln. Schließlich benutzt die Terminologie eine räumliche Entgegensetzung: die Dinge hier unten (Pol. 527 B), die Dinge bei uns (Parm. 130 B). Wir werden diese Termini im folgenden in Zusammenhang mit der Zweiweltentheorie erörtern. Auf die Unterscheidung der zwei Weisen des Seins im Phaidon läßt Piaton unmittelbar die Kriterien dieser Unterscheidung folgen, soweit er sie gefunden hat: „Sollen wir also, sprach er, zwei Arten des Seienden setzen, sichtbar die eine und die andere unsichtbar? — Das wollen wir, sprach er. — Und die unsichtbare als immer auf gleiche Weise sich verhaltend, die sichtbare aber niemals gleich? — Auch das, sagte er, wollen wir setzen" (79 A). Hier zeigen sich also zwei Kriterien des Unterschiedes zwischen den Ideen und den Dingen. Das eine besteht darin, daß sie in verschiedener Weise erfaßt werden, das andere darin, daß sie in verschiedener Weise sind. Wenn wir zunächst auf den Unterschied des Erfassens eingehen, so unterscheidet Piaton die sichtbaren Dinge von den unsichtbaren Ideen. Hier steht das Sehen als die vornehmste sinnliche Wahrnehmung für die sinnliche Wahrnehmung überhaupt. Es findet sich auch der allgemeine Ausdruck des sinnlich Wahrnehmbaren (Pol. 507 C), aber man wird sagen können, daß Piaton den konkreteren Ausdruck des Sichtbaren bei weitem vorzieht. Erst Aristoteles braucht in der Regel den allgemeineren Ausdruck des sinnlich Wahrnehmbaren8. An diese Unterscheidung der Ideenlehre — die Dinge sind das Sichtbare, die Ideen sind das Unsichtbare, das nur Denkbare — hat sich schon früh die polemische Auseinandersetzung mit der Ideenlehre
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gehalten. Diogenes Laertios berichtet, daß es eine solche Auseinandersetzung schon zu Lebzeiten Piatons gegeben habe, und daß schon Diogenes Piaton entgegengehalten habe, als dieser von der Tisdiheit und der Becherheit redete: „Was mich anlangt, Piaton, so sehe ich wohl einen Tisch und einen Becher, aber eine Tisdiheit und Becherheit nun und nimmermehr" 4 . Piaton hat sich mit dieser Polemik schon früh auseinandergesetzt. Im Sophistes sagt er von den Materialisten: „Die einen ziehen alles aus dem Himmel und dem Unsichtbaren auf die Erde herab, mit ihren Händen buchstäblich Felsen und Eichen umklammernd. Denn an alles dergleidien halten sie sich und behaupten, das allein sei, woran man sich stoßen und was man betasten könne, indem sie Körper und Sein für einerlei erklären; und wenn von den andern einer sagt, es sei auch etwas, was keinen Leib habe, achten sie darauf ganz und gar nidit und wollen nichts anderes hören" (246 A). Im Verfolg dieser platonischen Bestimmung wird die Unterscheidung zwischen den intelligibilia und den sensibilia, zwischen dem mundus sensibilis und dem mundus intelligibilis zu einem der großen Themen der abendländischen Philosophie. Nachdem Piaton Ideen und Dinge von ihrer Erfahrbarkeit her unterschieden hat, unterscheidet er sie weiter vom Sein her. Die Ideen sind unvergänglich, die Dinge sind einem beständigen Wandel unterworfen. Diese Unterscheidung findet sich an vielen Stellen. In der Phaidon-Stelle, die wir schon zitiert haben, sagt Piaton von den Arten des Seienden weiter: „ . . . die unsichtbare als immer auf gleiche Weise sich verhaltend, die sichtbare aber niemals gleich?" (79 A). Kurz vorher hatte Piaton gesagt: „Jenes Wesen [Ousia] selbst..., verhält sich dies wohl immer auf gleiche Weise, oder bald so, bald anders?" (78 D). Die Antwort ist hier selbstverständlich. Die Idee — Piaton bezieht sich hier auf die Idee des Gleichen ebenso wie auf die Idee des Schönen — nimmt niemals eine Veränderung an, sie verhält sich als einartiges Sein immer auf dieselbe Weise (78 D). Die schönen Dinge dagegen — Piaton nennt als Beispiel schöne Menschen, schöne Pferde, schöne Kleider — sind niemals sich selbst gleich (78 E). Sie verändern sich immer, sie sind, wenn sie sind, schon immer im Vergehen. So wird die unaufhörliche Veränderung, eine Vorstellung, die Piaton zweifellos von Heraklit übernommen hat, das Kennzeichen der Dinge, und
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Platon kommt darauf immer wieder zurück. Dabei kann das ImmerSein einfach die Idee als solche bezeichnen, ohne daß der Terminus" der Idee selbst auftritt. So sagt Platon im Philebos von der Dialektik, daß sie sidh „mit dem wahrhaft Seienden und immer auf gleiche Weise Gearteten beschäftigt" (58 A), und er will damit nichts anderes sagen, als daß die Dialektik sich mit den Ideen besdiäftigt. O f t stehen das Seiende als solches und die Ousia als solche schlechthin für die Idee. O f t finden sidi allerdings auch Beifügungen, die den Sinn ganz deutlich machen sollen, das seiend Seiende (Phaidros 247 E), das wahrhaft Seiende (Soph. 240 B) und ebenso die seiende Ousia (Soph. 248 A), die wahrhafte Ousia (Soph. 246 B). Aber an anderen Stellen bezeichnen Sein und Ousia (Soph. 249 D) einfach und schlechthin die Ideen. Hier liegt, wie wir im zweiten Teil unserer Untersuchungen zeigen wollen, die eleatische Disjunktion zugrunde. Hegel hat diese Seinsauffassung besonders klar erkannt. Wenn das Sein der Ideen das Sein schlechthin ist, so hat freilich Platon bereits selbst gesehen, daß dann die Frage nach dem Sein der Sinnendinge unabweisbar ist. In einem merkwürdigen Gegensatz steht, daß Platon im Sophistes den Ideen Bewegung zuschreibt. Bewegung, so sagt Platon an dieser Stelle, die wir später eingehend diskutieren müssen, ist das Kennzeichen des wahren Seins. Was keine Bewegung hat, hat auch kein Sein. Daraus folgt, daß auch den Ideen Bewegung zukommen muß (248/249). Freilich ist dies eine weitverbreitete griechische Meinung, worauf ich vorgreifend hinweisen darf. Sie wird besonders deutlich bei der griechischen Auffassung von den Göttern. Die griechischen Götter wohnen im Olymp, sie eilen auf die Erde, sie nehmen die Gestalt von Menschen oder von Tieren an. Platon selbst erzählt im Phaidros den Mythos vom Götterzug, der von der Erde zum Himmel hinaufführt. So sind die Götter in Bewegung, und so sind auch — wenigstens im Sophistes — die Ideen in Bewegung. Wie immer man diese Aussagen des Sophistes mit den Aussagen des Phaidon und der Politeia vereinigen möge — vielleicht ist eine wirkliche Vereinigung gar nicht möglich —, an der Grundthese der Ideenlehre kann kein Zweifel sein: Die Ideen sind unveränderlich, die Ideen sind das Immer-Seiende, die Ideen sind ewig. Nun kommt es gewiß darauf an, diese Grundthese der Ideenlehre deutlich zu madien und in ihrer Bedeutung auszumessen. Gleichwohl
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glaube ich nicht, daß Interpretationen, die sich fast ausschließlich von diesen Bestimmungen leiten lassen, in dieser Ausschließlichkeit die Gesamtheit des Denkens Piatons und schon gar nicht die Gesamtheit des Denkens der Griechen erfassen. Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff charakterisiert die Ideenlehre als die Lehre vom Ewigen im Menschen5. Nun ist es gewiß richtig, daß Piaton an vielen Stellen den Ideen eine theologisdbie Bedeutung beimißt, daß er an vielen Stellen die Ideen als göttlich bezeichnet. Allein in einer fast ausschließlichen Betonung des theologischen Moments der Ideenlehre kommt ihre wissenschaftstheoretische Bedeutung zu kurz. Die Bedeutung der Ideenlehre für die Entstehung und für die Entwicklung der Wissenschaften ebenso wie für das Selbstverständnis der Wissenschaften wird dann viel zuwenig berücksichtigt. O f t wird die Meinung vertreten, daß f ü r die Griechen das ImmerSein das Sein schlechthin ist. Nun kann gewiß nicht geleugnet werden, daß auch für die Griechen die Götter die Immer-Seienden sind. Es kann auch nicht geleugnet werden, daß für Piaton die Ideen in einem analogen Sinne die Immer-Seienden sind. Es kann wiederum nicht geleugnet werden, daß Piaton hier in echter Weise auf Parmenides zurückgeht, für den jedes Werden und jede Veränderung schlechthin ein Nicht-Sein ist. Aber wenn auch die Griechen eine gewisse Neigung zum Immer-Sein haben, so darf dies nicht so weit verallgemeinert werden, wie dies oft geschieht. Man darf doch nicht übersehen, daß Parmenides nicht das Ganze der griechischen Philosophie darstellt, nicht einmal zu seiner Zeit, daß ihm vielmehr Heraklit entschieden entgegensteht. Heraklit aber betrachtet das Unveränderliche als das Tote, als das Nicht-Seiende. Für ihn ist nur das sich stetig Verändernde, das immer Werdende eigentliches Sein. Wenn Piaton auch den Ideen Bewegung zuschreibt, so kann man das von hier aus so verstehen, daß er nicht nur von Parmenides, sondern daß er auch von Heraklit her denken will, und er sagt dies im Sophistes auch ausdrücklich (249 C). Aber wie Piaton die beiden durchaus einander entgegengesetzten Grundauffassungen von Parmenides und Heraklit miteinander vereinigen will, das ist schwer zu begreifen, und auch Piaton hat nicht sagen können, in welcher Richtung eine solche Vereinigung erwartet werden könnte.
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Geschichtlich ist die Unterscheidung zwischen den Ideen und den Dingen als Noumenon und Phaenomenon von besonderer Wirksamkeit geworden. Die Ideen sind die Noumena, die Dinge sind die Phänomena, die Ideen sind an sich, die Dinge sind bloße Erscheinungen. Diese Unterscheidung zwischen Sein und Erscheinen hat ihre Wurzel in alten Vorstellungen des griechischen Lebens, und sie ist oft von den Dichtern ausgesprochen worden. Es ist schwerlich ein Zufall, wenn Piaton im zweiten Buch der Politeia ausdrücklich Aischylos zitiert, der in seiner Tragödie „Die Sieben gegen Theben" den Boten sagen läßt: Denn nicht der beste scheinen, nein, er will es sein6. Piaton übernimmt dies ausdrücklich: „Denn die höchste Ungerechtigkeit ist, daß man gerecht scheine, ohne es zu sein" (361 A). Ganz das Gegenteil muß der Gerechte sein: Ein schlichter und biederer „Mann nach Aischylos, der nicht gut scheinen will, sondern sein" (361B). Allerdings steht bei dem Dichter wie bei Piaton selbst an dieser Stelle das Verbum D O K E I N zusammen mit dem Substantiv D O X A , und erst allmählich tritt, vermutlich unter dem Einfluß der philosophischen Reflexion, für dies Bedeutungsfeld das Verbum P H A I N O MAI auf. Das Verbum PHAINOMAI, das zu einem der wichtigsten Termini der Ideenlehre besonders in ihrer späteren Entwicklung wird, hat schon früh zwei Bedeutungen. Es ist gewiß kein Zufall, daß sich dieselbe Bedeutungsentfaltung auch bei dem deutschen Wort „scheinen" findet. Sowohl das griechische als auch das deutsche Wort bedeuten im positiven Sinne das Erscheinen als Aufgehen, als Sichzeigen. Sie bedeuten aber auch im negativen Sinne das bloße Scheinen. So spricht Homer in der Ilias von dem strahlenden Schein der Sterne7. Ebenso bedeutet es das Erscheinen der Morgenröte wie das Erscheinen der Sonne. „Als nun die Frühe sich zeigte, Eos mit rosigen Fingern" 8 , erhebt sich Telemachos vom Lager. P H A I N O M A I hat aber auch schon früh die Bedeutung des bloßen Scheins. Hierzu sagt Passow: „Aber T O P H A I N O M E N O N ist auch das, was nur scheint oder dünkt, im Gegensatz dessen was ist" 9 . In demselben Sinne haben die deutschen Worte „scheinen" und „erscheinen" eine positive und eine negative Bedeutung. Die Sonne
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scheint herrlich, wie am ersten Tage; im Gegensatz dazu aber: Es scheint nur so. Ebenso hat „erscheinen" diese zwei Bedeutungen. Das Erscheinen des Frühlings steht gegen die bloßen Erscheinungen. Ich habe es immer für merkwürdig gehalten, daß Husserl in der terminologischen Fixierung der Phänomenologie sich lediglich an die positive Bedeutung gehalten hat. In Sein und Zeit reflektiert Heidegger ausdrücklich auf diese Bedeutungsvielheit. Er unterscheidet die beiden Bedeutungen: das Phänomenon als das sich Zeigende und das Phänomenon als der bloße Schein10. Aber der Nachdruck liegt bei ihm auf der positiven Bedeutung. „Die Phainomena (Phänomene) sind dann die Gesamtheit dessen, was am Tage liegt oder ans Licht gebracht werden kann, was die Griechen zuweilen einfach mit TA ONTA (das Seiende) identifizierten" 11 . Allerdings gibt Heidegger eine Stelle, an der im Griechischen diese Identifizierung zum Ausdruck gekommen wäre, nicht ausdrücklich an, und es scheint mir zweifelhaft, ob sich eine wirklich beweiskräftige Stelle finden läßt. Im allgemeinen dürfte dieses Problem des Phänomens zu den schwächsten Stellen der methodischen Reflexion sowohl bei Husserl als auch bei Heidegger gehören. Kant warnt eindringlich davor, Erscheinung und Schein zu verwechseln. „Es wäre meine eigene Schuld, wenn ich aus dem, was ich zur Erscheinung zählen sollte, bloßen Schein machte" 12 . Diese beiden Bedeutungen von P H A I N O M A I finden sich natürlich auch bei Piaton. In der Kosmologie des Timaios entzündet der Weltenschöpfer die Sonne, damit sie möglichst dem ganzen Himmel scheine (39 B). In der gleichen Bedeutung beginnt der Protagoras mit der Frage: „Woher erscheinst du uns, Sokrates?" (309 A). Von der negativen Bedeutung von PHAINOMAI wird man sagen können, daß sie zuerst in den mittleren Dialogen auftritt und dann in den späten Dialogen an Häufigkeit noch zunimmt, obwohl genauere Untersuchungen noch fehlen. Einen Ubergang zur negativen Bedeutung bildet eine Stelle im 7. Buch der Politeia: „Offenbar, sagte er, meinst du, was sich nur von ferne zeigt und was nadi Licht und Schatten gezeichnet ist" (523 B). Hier ist gemeint, daß das, was aus der Ferne gesehen wird, oft so undeutlich gesehen wird, daß es zur Täuschung verführt. Hier sind das Sichzeigen und das täuschende Scheinen unmittelbar miteinander verbunden.
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In der Zusammenfassung des Höhlengleidinisses sagt Piaton: „ . . . die durch das Gesicht uns erscheinende Region [mußt du] der Wohnung im Gefängnisse gleichsetzen . . . " (517 B). Piaton betrachtet also die Dinge, die wir hier oben sehen, ebenso als Schein wie Schatten, die die Gefesselten unten in der Höhle sehen. Erscheinung als Schein tritt nun in aller Form in den Erörterungen über die Ideenlehre im zehnten Buch der Politeia auf. Piaton unterscheidet dort drei Weisen des Seins und gibt als Beispiel das Bett: Erstens die Idee des Bettes, zweitens das vom Schreiner gemachte Bett, drittens das vom Maler gemalte Bett. Von dem dritten sagt er: „Über den Nachbildner also sind wir eins; sage mir aber vom Maler noch dieses. Dünkt er dich darauf auszugehen, von jeglichem jenes eine selbst in der Natur nachzubilden oder die Werke der zweiten Bildner? — Die der Werkbildner, sagte er. — Und wie sie sind, oder wie sie erscheinen? Denn auch dieses unterscheide mir noch. — Wie meinst du? sagte er. — So: ein Bettgestell, wenn man es von der Seite sieht oder von gerade gegenüber oder wie sonst, ist es deshalb von sich selbst verschieden oder das zwar gar nicht, es erscheint aber anders? Und mit allem andern ebenso? — So ist es, sagt er; es erscheint anders, ist aber nicht verschieden. — Nun betrachte mir eben dieses. Auf welches von beiden geht die Malerei bei jedem? Das Seiende nachzubilden, wie es sich verhält, oder das Erscheinende, wie es erscheint, als eine Nachbildnerei der Erscheinung oder der Wahrheit?" (597 E). Kurz vorher hatte Piaton in demselben Sinne gesagt, daß die Maler alle Dinge machen können, aber nur dem Scheine, nidit der Wirklichkeit nach (596 E). Allerdings enthalten diese beiden Stellen eine Schwierigkeit. TA PHAINOMENA und TA ONTA werden hier klar einander entgegengesetzt. Aber die PHAINOMENA sind hier die Bilder der Maler und die ONTA sind die Dinge. Wenn wir also auf das Liniengleichnis zurückgreifen, so sind die Bilder und die Schatten des vierten Bereichs die PHAINOMENA, dagegen die Dinge hier unten, die Dinge des dritten Bereichs, sind die ONTA. Von der Ideenlehre her würde man Stellen wünschen, in denen die Ideen die ONTA sind und die Dinge die PHAINOMENA, in denen
Politeia 598 B
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also die Ideen das wirkliche Seiende sind und die Dinge der bloße Schein. Ich habe aber eine ausdrückliche Stelle in dieser Bedeutung nur in der eben zitierten Zusammenfassung des Höhlengleichnisses gesehen. In einem gewissen Sinne wären hier auch Erwägungen des Sophistes zu nennen. Die Sophisten scheinen aller Erkenntnisse kundig zu sein, sie sind es aber nicht wirklich (233 C). Piaton erläutert dies an der Malerei (235 B), die er ebenso auffaßt wie im zehnten Buch der Politeia. Auch der Maler erzeugt nur den Schein und nicht die Wirklichkeit. So kann Piaton zusammenfassend sagen: „In Wahrheit, du Guter, wir befinden uns in einer höchst schwierigen Untersuchung. Denn dieses Erscheinen und dieses Scheinen, ohne zu sein, und dies Sagen zwar, aber nicht Wahres, alles dies ist immer voll Bedenklichkeiten gewesen schon ehedem und auch jetzt" (236 D). So kann man nicht sagen, daß die Lehre vom noumenalen Sein der Ideen und vom phänomenalen Sein der Dinge bei Piaton schon in lehrbuchmäßiger Form vorhanden wäre. Eine lehrbuchmäßige Form würde auch den philosophischen Uberzeugungen Piatons widersprochen haben. Aber diese Lehre ist angelegt, man sieht sie in ihrem Entspringen.
§ 4 Die Begründung der Ideenlehre Es gibt einen Piatonismus, der das Wesen der Idee in einer reinen Schau sieht. Die Ideen werden nach dieser Auffassung intuitiv erschaut, und in dieser Schau wird zugleich ihre wirkliche Existenz erschaut. Wer diese Schau nicht hat, wird niemals sehen können, daß die Ideen sind und was die Ideen sind. Diese Auffassung stützt sich immer wieder auf das Sehen von Farben. So wie der Blinde, also derjenige, der die Farben nicht sehen kann, die Existenz von Farben weder behaupten noch bestreiten kann, da er sie ja gar nicht kennt, so kann nach dieser Auffassung derjenige, der die Ideen nicht sehen kann, die Existenz der Ideen weder behaupten noch bestreiten. Als besonders wichtig wird dann der zweite Teil dieser These betrachtet. Nach der Auffassung dieser Platoniker kann derjenige, der diese Ideenschau nicht hat, die Existenz der Ideen nicht einmal bestreiten.
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Beispiel für einen solchen Piatonismus kann man wohl aus jeder Zeit beibringen. Hier mögen als Beispiele Fr. L. Graf zu Stolberg 1 und Schlosser genügen2. Kant hat einen solchen Piatonismus besonders verdrießlich gefunden und ihn einfach als Schwärmerei bezeichnet3. Freilich finden sich für diesen Piatonismus, der sich uns als ein naiver Piatonismus darstellt, in den platonischen Dialogen nicht wenige Anhaltspunkte. In dem Aufstieg zur Idee des Schönen, wie ihn das Symposion schildert, wird die endgültige Erfahrung der Idee des Schönen ausdrücklidi als ein Schauen (211 B) bezeichnet. Auch der Philosoph, der im Phaidros dem Götterzug zum HYPEROURANIOS TOPOS folgt, schaut dort die Ideen (247 D). Zwar unterscheidet Piaton grundsätzlich die Einzeldinge als das Siditbare und nur durch das Sehen Erfahrbare von den Ideen, die unsichtbar sind und nur durch den NOUS erfahren werden können. Gleichwohl finden sich in den Dialogen, und zwar nicht nur an den beiden eben erwähnten Stellen, immer wieder Ausdrücke, die mit dem Sehen zusammenhängen, die ein Sehen (Symp. 211 D), ein Erblicken (Phaidros 247 E), ein Schauen (Symp. 211 D) bedeuten. Schließlich sind die beiden Haupttermini für die Ideen, EIDOS und IDEA, Worte, die vom Sehen herkommen. So liegt die Versuchung nahe, etymologische Erwägungen für das Verständnis der Ideenlehre einzusetzen. Solche Erwägungen sollte man keineswegs von vornherein ablehnen, aber man sollte doch immer im Auge behalten, daß in dieser Frage etymologische Erwägungen ihre Grenzen haben. Sich mit dem reinen Schauen zu begnügen, ist im Ganzen die Meinung Piatons freilich nicht. Im Ganzen gesehen hat für Piaton der Logos die entscheidende Bedeutung für die Ideenlehre. Alle die hier soeben angezogenen Ausdrücke, wie: sehen, erblicken, schauen haben eine fundamentale Bedeutung für den Mythos. Aber gerade dann, wenn man, wie wir in dieser Interpretation bemüht sind, die Bedeutung des Mythos für Piaton voll zu erkennen, ihn nicht als einen bedauerlichen Rückfall in ein bereits überwundenes mythologisches Denken abschiebt, gerade dann wird deutlich, daß für Piaton die Ideenlehre begründet werden muß, und daß dafür der Logos die entscheidende Bedeutung hat. Hier wird ein echtes Erbe des Sokrates wirksam. Sokrates war es gewesen, der immer wieder das „eine Begründung geben", das LOGON D I D O N A I gefordert hatte. Allé
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Forderungen, die sich daraus ergeben, aber auch alle Schwierigkeiten, die hier auftreten, sind für Piaton wirksam gewesen. Im Philebos spricht er von der unaufhörlichen und nie alternden Leidenschaft für den Logos (15 D). In der Politeia spricht er von der gewohnten Methode (596 A). Im Phaidon spricht Piaton ausdrücklich davon, daß „wir" in unseren Fragen und Antworten nach dem Sein der Ideen einen Logos verlangen und einen Logos geben (78 D). Freilich, so sagt Piaton in der Politeia, ist es der schwierigste Teil der Philosophie, der es mit dem Logos zu tun hat (498 A). Die hier auftretenden Schwierigkeiten werden uns im zweiten Teil ausdrücklich beschäftigen. Um einen ersten Zugang zu gewinnen, darf ich auf die Pythagoräer verweisen. Bei ihnen finden wir eine im Mythos wurzelnde Verehrung der Zahl. Glücklicherweise ist uns eine sehr charakteristische Stelle erhalten geblieben4, wir werden sie später zitieren. Allein diese fast kultische Verehrung der Zahl schließt die Forderung nach logischer Durchdringung nicht aus. Die Quadratwurzel aus Zwei kann kein Bruch sein, dies hatten schon die Pythagoräer erkannt. Piaton hatte im Theaitetos — wir haben schon darauf Bezug genommen — auf die Bedeutung der Verallgemeinerung durch Theodoros und Theaitetos hingewiesen. Nach der Tradition ist es Pythagoras selbst gewesen, der den ersten Satz bei der Zwei gefunden hat. Ich vermag nicht einzusehen, warum man diese erste Erkenntnis mit Gewalt auf eine spätere Zeit schieben will und warum man nicht der Tradition folgen soll, den ersten fundamentalen Satz dem Pythagoras selbst zuzuschreiben. Der Satz selbst verlangt eine hohe logische Abstraktion und gibt ein Beispiel dafür, daß die mythische Verehrung der Zahl ihre logische Durchdringung nicht ausschließt. Nun gibt es freilich in den platonischen Dialogen keine zusammenfassende Darstellung der logischen Begründung der Ideenlehre. Um einen Uberblick zu bekommen, geht man am besten von der Auseinandersetzung aus, die Aristoteles in der Metaphysik mit der Ideenlehre geführt hat. In dieser Auseinandersetzung sagt Aristoteles, daß die Beweise, mit denen „wir" beweisen, daß es die Ideen gibt, nicht schlüssig sind. Aus keinem dieser Beweise ergibt sich wirklich die Existenz der Ideen. Aus einigen Beweisen folgt die Existenz der Ideen nicht mit Notwendigkeit, andere Beweise beweisen zuviel. Aus ihnen würden sich Ideen ergeben, sagt Aristoteles, von denen wir nicht
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glauben, daß es solche Ideen gibt 6 . Die Beweise sind nach der Ansicht des Aristoteles von verschiedener logischer Qualität. Die genaueren Beweise faßt Aristoteles in drei Beweisgänge zusammen und kritisiert sie zugleich. Nach dem Beweis aus den Wissenschaften müßte es Ideen von allem geben, wovon es Wissenschaften gibt. Nach dem Beweis aus „Einheit über Vielheit" müßte es Ideen auch von negativen Begriffen geben. Nach dem Beweis, daß jedes Denken etwas denken muß, müßte es Ideen auch von vergänglichen Dingen geben. Aus dieser Stelle ergibt sich jedenfalls, daß zu der Zeit, als Aristoteles die Metaphysik schrieb, die Beweise zu schulmäßigen Formeln geworden waren, Aristoteles konnte voraussetzen, daß seine Hörer und Leser sie bereits in dieser schulmäßigen Form kannten. Wir können dies noch weiter zurückverfolgen; schon in der frühen Schrift des Aristoteles über die Ideen 6 lag praktisch dieselbe Situation vor. Stellt man die Frage, ob sich solche Beweise für die Ideenlehre schon in den Dialogen Piatons selbst finden, so ist offenbar, daß sie dort noch nicht die schulmäßige Form haben, in der sie Aristoteles vor sich hat. Der Sache nach sind sie aber da, und Piaton selbst war sich der Notwendigkeit einer logischen Begründung der Ideenlehre durchaus bewußt. Fragt man nun danach, wie die später schulmäßig gewordene und von Aristoteles schulmäßig vorgetragene Begründung der Ideenlehre aus den Wissenschaften in den Dialogen zum Ausdruck gekommen ist, dann findet man die wichtigsten Stellen in der Politeia. Dies ist verständlich. Die Politeia spiegelt die Akademie wieder, und in der Akademie spielten Mathematik und Naturwissenschaften eine wichtige Rolle, wenn auch noch nicht ganz in der Form, wie Piaton es in der Politeia selbst forderte: daß nämlich ein zehnjähriges Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften einem fünfjährigen Studium der Philosophie (537 B—E) vorauszugehen habe. In der Politeia darf die ausführliche Stelle, die Hegel zitiert und die wir in der Hegeischen Form wiedergegeben haben, als eine frühe Form der Begründung aus den Wissenschaften betrachtet werden. Dasselbe gilt von dem Ende desselben Buches, des fünften Buches der Politeia, das Ross ausdrücklich für eine solche Begründung aus den Wissenschaften heranzieht 7 . Dort sagt Piaton: „Die also viel Schönes beschauen, das Schöne selbst aber nicht sehen, noch einem andern, der sie dazu füh-
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ren will, zu folgen vermögen, und die vielerlei Gerechtes, das Gerechte selbst aber nicht, und so alles, diese, wollen wir sagen, stellen alles vor, erkennen aber von dem, was sie vorstellen, nichts. — Notwendig, sagte er. — Wie aber wiederum, die jegliches selbst, wie es sich immer gleichermaßen verhält, beschauen? Nicht daß die erkennen und nicht vorstellen? — Notwendig auch das. — Also werden wir auch sagen von diesen, daß sie dasjenige lieben und sich dazu neigen, wovon es Erkenntnis [GNOSIS] gibt, jene aber das, wovon Meinung und Vorstellung [DOXA] ? Oder erinnern wir uns nicht mehr, daß wir schon sagten, diese liebten schöne Töne und Farben und dergleichen und beschauten sie, das Schöne selbst aber ließen sie nicht einmal gelten als seiend? — Dessen erinnern wir uns. — Werden wir uns also vergehen, wenn wir sie mehr Meinungsliebende nennen als Weisheitliebende? Und werden sie uns wohl sehr zürnen, wenn wir so sagen? — Nicht, wenn sie mir folgen, sagte er; denn dem Wahren zu zürnen ist nicht recht. — Dagegen die jegliches Seiende selbst Liebenden muß man weisheitliebend und Philosophen nennen, nicht aber meinungsliebend. — Allerdings ja" (479 E). Hier wird also die Existenz der Ideen auf den Unterschied zwischen echtem Wissen — Piaton spricht hier verstärkend von G N O SIS — und bloßem Meinen gegründet. Weil es diesen Unterschied zwischen echtem Wissen und bloßer Meinung tatsächlich gibt, so müssen sich echtes Wissen und bloße Meinung auf verschiedene Bereiche beziehen. Das aber heißt, daß die Existenz echten Wissens die Existenz eines besonderen Bereiches, eben der Ideen, voraussetzt, so daß das echte Wissen sich auf die Ideen bezieht, das bloße Meinen aber auf die Dinge. Auf den Unterschied zwischen Wissen und Meinen gründet Piaton auch im Timaios die Existenz der Ideen. Die Unterscheidung zwischen Ideen und Dingen gibt Piaton sofort zu Beginn der von Timaios entwickelten Kosmologie. Dort sagt er: „Zuerst nun haben wir, meiner Meinung nach, dies zu unterscheiden: was ist das stets Seiende, das Entstehen nicht an sich hat, und was das stets Werdende, aber niemals Seiende; das eine, stets gemäß demselben Seiende ist durch Vernunft mit Denken zu erfassen, das andere dagegen durch Vorstellung vermittels vernunftloser Sinneswahrnehmung vorstellbar, als entstehend und vergehend, nie aber wirklich seiend" (27 D). Als
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Platon für seine Deduktion der Fünfzahl der Elemente noch einmal ausdrücklich auf die Ideenlehre zurückgreifen muß, formuliert er auch die Begründung noch einmal ausführlich: „Ich selbst gebe also meine Stimme folgendermaßen ab: Wenn Einsicht ( N O U S ) und richtige Meinung ( D O X A ) zwei verschiedene Gattungen bilden, dann sind auf alle Weise diese gemäß sich selbst als von uns nicht wahrnehmbare Gestaltungen, sondern allein gedachte; unterscheidet sich aber, der Ansicht einiger zufolge, richtige Meinung und Einsicht in nichts, dann müssen wir alles, was wir vermittels des Körpers wahrnehmen, als ganz feststehend ansetzen. Aber jene beiden sind als zwei zu bezeichnen, da sie abgesondert entstanden und von unähnlicher Beschaffenheit sind. Denn das eine erzeugt sich in uns durch Belehrung, das andere durch Überredung; das eine ist stets verbunden mit wahrer Begründung (LOGOS), das andere ist unbegründet" (51 D). Auch hier unterscheidet also Platon zwischen einer echten Erkenntnis ( N O U S ) und einer bloßen Meinung ( D O X A ) . Wenn auch einige eine wahre Meinung für dasselbe halten wie eine echte Erkenntnis, so betont Platon ausdrücklich, daß diese beiden durchaus verschieden sind. Aus ihrer Verschiedenheit muß dann aber auch notwendig die Verschiedenheit ihrer Gegenstandsbereiche folgen: Die echte Erkenntnis geht auf die Ideen, die bloße Meinung geht auf die Dinge. Daß Aristoteles auch den Timaios im Blick gehabt hat, ist ebenfalls die Meinung von Ross. Zu diesen beiden Stellen aus der Politeia und dem Timaios, die Aristoteles genau gekannt haben muß, tritt eine weitere Stelle aus dem Parmenides. Platon hat im ersten Teil des Dialoges eine Reihe von Schwierigkeiten entwickelt, ohne eine Lösung anbieten zu können. Wir werden uns im zweiten Teil unserer Untersuchungen eingehend damit beschäftigen müssen. Jetzt kommt es zunächst darauf an, daß Platon aus diesen Schwierigkeiten nicht die Konsequenzen zieht, die Ideenlehre aufzugeben, wie einige Interpreten fälschlicherweise angenommen haben. Aller Schwierigkeiten ungeachtet hält er vielmehr an der Ideenlehre ausdrücklich fest: „Dennoch aber, o Sokrates, sagte Parmenides, wenn jemand auf der andern Seite nicht zugeben will, daß Ideen Seiendes s i n d . . . , so wird er nicht haben, wohin er seinen Verstand wende, wenn er nicht eine Idee für jegliches Seiende zuläßt, die immer dieselbe bleibt, und so wird er das Vermögen der
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Dialektik [des wissenschaftlich miteinander Verhandeins] gänzlich aufheben" (135 B). Diese Gedankengänge der Dialoge sind dann offenbar zu schulmäßigen Formeln zusammengefaßt worden, so daß sie in dieser formelhaften Kürze von Aristoteles vorgetragen werden konnten. Man kann nicht daran zweifeln, daß Aristoteles in seinem formelmäßigen Vortrag in einem kontinuierlichen Zusammenhang mit den Dialogen Piatons steht. Ich darf mich dafür auf die Kommentare berufen, besonders auf den Kommentar von Ross, der seinerseits die Kommentare einer zweitausendjährigen Tradition zusammenfaßt. Ross stützt sich dabei auf die griechischen Kommentatoren, die noch die frühe Schrift des Aristoteles über die Ideen benutzen konnten, was besonders bei Alexander deutlich wird 8 . Faßt man zusammen, so ergeben sich als die Hauptstellen für den Beweis aus den Wissenschaften Politeia 479 E ff. und Timaios 51 D ff. Wir haben beide Stellen soeben ausführlich zitiert. Da Aristoteles diese beiden Dialoge in besonderer Weise kannte, was sich durch zahlreiche Zitate belegen läßt, so kann schwerlich ein Zweifel daran sein, daß für die formelmäßige Zusammenfassung des Beweises aus den Wissenschaften diese Stellen aus den beiden Dialogen zugrunde liegen. Diese Begründung aus den Wissenschaften bildet auch die Grundlage der Zusammenfassung, die Aristoteles von der Ideenlehre in Metaphysik I, 6 gibt. Aristoteles sieht dort die wesentlichen Voraussetzungen der Ideenlehre bei Heraklit und bei Sokrates; bei Heraklit im negativen Sinne, bei Sokrates im positiven Sinne. Von Heraklit hatte Piaton, vermutlich durch Heraklitschüler, gelernt, daß die Sinnendinge in einem beständigen Flusse sind. Von Sokrates hatte er gelernt, daß die EPISTEME sich auf das Allgemeine richten muß und daß sie auf begrifflichen Bestimmungen aufbaut. Sind die Sinnendinge aber, wie Heraklit gelehrt hatte, immer im Fluß, dann kann es von ihnen keine allgemeinen Bestimmungen geben. Piaton folgt dem Sokrates und nimmt an, daß es allgemeine Bestimmungen gibt. Diese hat er dann Ideen genannt und sie als neben und außer den Sinnendingen existierend betrachtet 9 . Auch in dieser äußersten Zusammenfassung der Ideenlehre durch Aristoteles wird die Ideenlehre auf die EPISTEME gegründet. Die Episteme ist nur möglich, wenn es nicht nur
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die Sinnendinge gibt, die immer im Fluß sind, sondern wenn es neben und außer den Sinnendingen auch noch die Ideen gibt. Man kann also sagen, daß die Begründung der Ideenlehre aus der EPISTEME das tragende Moment der aristotelischen Darstellung ist, und man kann eine solche Begründung der Ideenlehre als in den platonischen Dialogen wohl fundiert betrachten. Versucht man die Bedeutung des Argumentes aus den Wissenschaften systematisch zu würdigen, dann muß man sidi vor Augen halten, daß es zu Piatons Zeiten noch keine empirischen Wissenschaften in unserem Sinne gab und daß es ganz und gar nodi keine Geisteswissenschaften gab. Als Wissenschaften, nach dem Stande der damaligen Entwicklung geordnet, sind hier allein gemeint: die Geometrie, die Arithmetik, die Physik, wesentlich als Astronomie, die Logik in den ersten Anfängen. Am weitesten entwickelt ist die Geometrie. Die Geometrie nimmt noch in den Elementen Euklids einen sehr breiten Raum ein. In den Lehrbüchern der Mathematik, die es schon zu Piatons Zeiten gegeben hat, die aber samt und sonders verlorengegangen sind10, dürfte sie einen noch breiteren Raum eingenommen haben. Die größte Leistung der damaligen Geometrie, daß es fünf und nur fünf reguläre Körper gibt, hat jedenfalls Piaton tief beeindruckt (Timaios 53 C), und dies mit Recht. So muß sich von einer wohlentwickelten Wissenschaft her die Frage stellen: Wovon handelt die Geometrie? Piatons Antwort ist eindeutig: Die Geometrie handelt von Ideen und nicht von Sinnendingen (Pol. 527 B). Nun ist es zu allen Zeiten anerkannt worden, daß die Geometrie nicht direkt von den Dingen handeln kann. In den Dingen gibt es keine präzisen Punkte, keine präzise Gerade, keine präzise Ebene, keinen präzisen Kreis. Dieser Sachverhalt ist so eindeutig, daß er immer gesehen und niemals bestritten worden ist. Wer die Geometrie so wie jede Wissenschaft als eine Wissenschaft über die realen Dinge auffaßt, was an sich nicht unmöglich ist und was auch Aristoteles tut, muß zwischen die Dinge und die Geometrie einen Idealisierungsprozeß einschieben, was Aristoteles auch ausdrücklich tut. Von den wahrnehmbaren räumlichen Dingen zur Geometrie gelangt man in der Tat nur durch einen Idealisierungsprozeß. Vielleicht kann man darüber streiten, ob Piaton diesen Idealisierungsprozeß nicht zu weit getrieben hat, ob er sich nicht zu weit von den Dingen entfernt hat. Daß die Geometrie sich
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in irgendeiner Weise von den Dingen entfernen muß, darüber kann ein ernsthafter Zweifel nicht sein. In der Arithmetik scheinen die Dinge zunädist anders zu liegen. Daß das Rad der Lokomotive die Schiene nicht nur in einem Punkte* berührt, anders als der Kreis, der die Tangente nur in einem Punkt berührt, das wird jedermann zugeben. Aber die Gesetze der elementaren Arithmetik gelten von vielen Dingen, wie es scheint, absolut und nicht bloß annähernd. Sieben Groschen und fünf Groschen sind dodi wirklich und absolut genau zwölf Groschen, ebenso wie sieben und fünf gleidh zwölf ist. Ich habe lange gebraucht, bis ich die Behauptung von Whitehead verstanden habe, daß dies nicht der Fall ist. In der Tat, daß diese fünf Groschen und diese sieben Groschen genau zwölf Groschen sind, das gilt nur im Rahmen unserer Raumund Zeit-Dimensionen. Stellt man sich vor, daß unsere Maßstäbe wesentlich verändert würden, daß 100 000 Jahre für uns nur eine Sekunde wären und daß wir in bezug auf die räumliche Größe von der Größenordnung eines Atoms wären, dann wären für uns die Groschenstücke Wolken von Atomen, die schneller entstehen und schneller vergehen als für uns jetzt die Wolken am Frühlingshügel. Es ist schwerlich zu erwarten, daß in 100 000 Jahren auch nur noch eines dieser Groschenstücke existiert, sie werden für unseren hypothetisch angenommenen Zeitmaßstab schneller vergangen sein als eine Sekunde vergangen ist, und wir könnten jetzt eher die Wolken am Frühlingshügel zählen als in unseren neuen Zeitdimensionen die Groschenstücke. Die Anwendung der elementaren arithmetischen Gesetze auf die räumlidi-zeitlich existierenden Dinge verlangt deren Konstanz, und konstant sind die Groschenstücke zwar für unsere Raum- und Zeit-Dimensionen, aber nicht absolut. Zwischen der Gleichung 7 + 5 = 12 und den zwölf Groschenstücken besteht also ein ebensolcher Abstand wie zwischen dem Kreis und seiner Tangente auf der einen und dem Rad der Lokomotive und der Sdiiene auf der anderen Seite. Die elementaren Zahlformeln können also im absoluten Sinne ebensowenig von den räumlich-zeitlichen Dingen gelten wie die Tangentensätze. Audi zwischen der Arithmetik und den räumlich-zeitlichen Dingen liegt mindestens eine Idealisierung. Man kann vielleicht auch hier darüber streiten, ob Piaton den Sach-
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verhalt nicht überinterpretiert hat. Arithmetik und Geometrie können, wie allgemein anerkannt wird, nicht direkt auf die räumlich-zeitlidien Dinge gehen. Daß die Ideenlehre hier einen editen Tatbestand zum Ausdruck bringt, daran kann man nicht zweifeln. Die Frage bleibt nur, ob eine extreme Ideenlehre die einzig mögliche Lösung darstellt. Nicht anders liegt es bei der Physik, die für Piaton noch wesentlich Astronomie war, da zu dieser Zeit außer astronomischen Gesetzen eigentlich nur noch einige Gesetze der Akustik bekannt waren. In dem in der Politeia geforderten Studienplan handelt Piaton audi ausdrücklich von der Astronomie. Piaton betrachtet dort die jetzige Behandlungsweise der Astronomie (530 C), die die faktischen Bewegungen der Gestirne am Himmel behandelt, nicht anders, als wenn die Geometrie nur von materiellen Modellen handeln würde (Pol. 529 E). Der Himmel und was zu ihm gehört ist zwar von Gott so herrlich wie möglich gestaltet worden, da der Himmel aber aus körperlichen und sichtbaren Dingen besteht, muß er doch unvollkommen bleiben. Das zeigt sich darin, daß die durch die Umlaufzeiten gegebenen Verhältnisse des Tages zur Nacht so schwankend sind, ebenso wie die Verhältnisse der Tage zu den Monaten und der Monate zu den Jahren. Die wahre Astronomie muß sich von diesen faktischen Verhältnissen abwenden und von idealen Verhältnissen handeln. Es ist leicht, über diese konsequente Stellungnahme Piatons zu spotten. Man hat dies oft getan, und audi Aristoteles hat sich diesen naheliegenden Spott nicht versagen können 11 . Aber der Spott ist in dieser Form nicht berechtigt, die Erwägungen Piatons sind so übel nicht. Betrachtet man nämlich die Newtonsche Himmelsmechanik, also die Form, die die Probleme in der Neuzeit angenommen haben, dann sieht man, daß die Newtonsche Medianik eine ideale Wissenschaft ist. Das erste Newtonsche Axiom sagt, daß ein Körper seine Bewegung in derselben Richtung und mit derselben Geschwindigkeit fortsetzt, solange keine äußeren Kräfte auf ihn einwirken. Nun gibt es aber in dieser räumlich-zeitlichen Wirklichkeit keinen Körper, auf den nicht andere Kräfte einwirken, und es gibt also keinen Körper, der sich mit unveränderter Geschwindigkeit in unveränderter Richtung bewegt. Aber wovon handelt dann das erste Newtonsche Axiom? Dieser Tatbestand überträgt sich auf alle Gesetze der Newtonschen
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Mechanik. Im Zweikörperproblem beschreiben die Körper Ellipsen mit einem gemeinsamen Brennpunkt. Unter gewissen Größenverhältnissen, wie sie etwa zwischen Erde und Sonne bestehen, kann man dann sagen, daß die Erde eine Ellipse beschreibt, in deren Brennpunkt die Sonne näherungsweise angenommen werden kann. Aber dieser Satz gilt nur, wenn keine anderen Kräfte auf dieses System von zwei Körpern einwirken, und dies ist in der räumlich-zeitlichen Wirklichkeit niemals der Fall. In dieser Wirklichkeit kann also ein Körper niemals eine Ellipse beschreiben. Vielleicht wird dies noch deutlicher bei einem für die Newtonsche Mechanik fundamentalen Begriff, dem Begriff eines Massenpunktes, also eines Körpers, dessen Masse in seinem Massenmittelpunkt vereinigt gedacht wird. Dies ist vielleicht die handgreiflichste Idealisierung in der Newtonschen Mechanik. Man wird davon ausgehen können, daß jedes theoretische System auf einer Idealisierung beruht. Daß die Newtonsche Mechanik, wenn man auf die realen materiellen Körper sieht, eine weitgetriebene Idealisierung darstellt, daran kann schwerlich ein Zweifel sein. So ist denn auch die Newtonsche Mechanik einer rein mathematischen Theorie sehr nahe verwandt, und es ist kaum ein Zufall, daß diese Mechanik im neunzehnten Jahrhundert an vielen Stellen abwechselnd vom Physiker und vom Mathematiker gelesen wurde. Man wird sagen können, daß die Newtonsche Himmelsmechanik eine ideale Wissenschaft ist und daß von hier aus gesehen die Annahme Piatons, die Astronomie handele von Ideen, wohlbegründet ist. Denselben Sachverhalt treffen wir schließlich auch in der Logik an. N u n war zu Piatons Zeit die Logik noch keine selbständige Wissenschaft; dazu hat sie erst Aristoteles gemacht. Gleichwohl ist die Logik der Sache nach von Piaton gekannt und gehandhabt. Piaton kennt die Definition, und die Definition des Kreises, die er gibt, ist uns bereits begegnet. Piaton kennt den Syllogismus, wenn auch noch nicht in der ausgebildeten Form, die Aristoteles ihm gegeben hat 12 . Piaton kennt eine Reihe von Sätzen der allgemeinen Größenlehre, besonders von Sätzen der Gleichheit. Piaton kennt den kommutativen Charakter der Gleichheit und macht an mehreren Stellen davon Gebrauch. Die große Bedeutung der Gleichheit für Piaton, die sich besonders bei der Einführung der Ideenlehre im Phaidon zeigt, bleibt bemerkenswert und ist noch keineswegs verständlich gemacht. Bei
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Platon jedenfalls ist die Logik faktisch da, und ihre ontologisdien Probleme sind bei der Gleichheit besonders deutlich. Es macht wenig Unterschied, ob man die Gleichheit zur Logik im eigentlichen Sinne rechnet, oder ob man zwischen einer Logik im engeren Sinne und einer allgemeinen Größenlehre unterscheidet. Im letzteren Fall wäre die Gleichheit der allgemeinen Größenlehre zuzurechnen, und dies hat Leibniz getan 13 . Wie immer man sich entscheiden möge, immer trifft man auf den fundamentalen Tatbestand, daß die Gesetze der Gleichheit nicht adäquat von empirischen Tatbeständen gelten können, diesen Tatbestand, den Platon so nachdrücklich betont hat. So gilt zwar der Satz: Wenn a = b und wenn b = c ist, dann ist auch a = c, zwar absolut von der Gleichheit selbst, aber nicht immer im Empirischen. Im Empirischen kann man von der Gleichheit immer nur mit einer gewissen Fehlergrenze reden. Gehen dann die Abweichungen innerhalb der Fehlergrenzen zufällig alle nach derselben Richtung, dann kann der Fall eintreten, daß innerhalb der gegebenen Fehlergrenze zwar a und b ebenso wie b und c einander gleich sind, aber nicht mehr a und c. Daß zwischen der empirischen Gleichheit und der logisch-mathematischen Gleichheit keine Identität bestehen kann, sondern daß zwischen ihnen mindestens ein Idealisierungsprozeß liegen muß, daran wird schwerlich irgend jemand zweifeln, er müßte denn eine vorgefaßte Meinung mit einer solchen Verbohrtheit verteidigen wollen, wie dies nur ein Philosoph tun kann. Die systematische Frage geht eigentlich nur dahin, wie dieser Idealisierungsprozeß verstanden werden kann. Prüft man die großen Interpretationen, die man für die Gleichheit im besonderen und für die Logik im allgemeinen in der Neuzeit gegeben hat, so ist Leibniz besonders interessant. Für Leibniz beruht die Logik ebenso wie die allgemeine Größenlehre sowie dann auch die Mathematik im Ganzen allein auf dem Satz des Widerspruchs. Das bedeutet insbesonders, daß die Sätze über die Gleichheit allein aus der Definition der Gleichheit und aus dem Satz des Widerspruchs bewiesen werden können 14 . Man kann es dahingestellt sein lassen, ob die notwendigen Beweise allein mit Hilfe des Satzes vom Widerspruch erbracht werden können. Leibniz stößt auf zwei Probleme. Das erste ist in gewissem Sinne noch ein logisches. Wäre die Definition der Gleichheit — und eine Definition der Gleichheit ist für Leibniz unum-
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gänglich — in sich widerspruchsvoll, dann wäre es kein Wunder, daß man die Gleichheitssätze beweisen kann, da man aus einer widerspruchsvollen Definition jeden beliebigen Satz beweisen kann. Leibniz muß also für die Definition der Gleichheit ebenso wie für jede andere Definition, die er benötigt, die Widerspruchsfreiheit beweisen. Man wird immer wieder darüber staunen müssen, wie klar Leibniz dies gesehen hat. Freilich wird man auch sehen müssen, daß Leibniz einen solchen Beweis nicht gegeben hat und daß kein Weg zu sehen ist, auf dem ein solcher Beweis geführt werden könnte. Das zweite Problem ist für Leibniz das ontologische. Vorausgesetzt, Leibniz könnte die logischen Probleme der Gleichheit lösen, wie ist es mit den ontologischen Problemen? Wie ist das Sein der Gleichheit zu denken? Hier greift Leibniz auf die Ideenlehre von Piaton zurück, im wesentlichen in der Form, die Augustin der Ideenlehre gegeben hat. Leibniz tut dies bewußt, und unter seinen Voraussetzungen ist kaum ein anderer Weg denkbar. Jedenfalls hängen für Leibniz Logik und Mathematik allein von Definitionen und dem Satz des Widerspruchs ab. Sie sind also a priori, in der durch Kant üblich gewordenen Terminologie. Kant nimmt in bezug auf die Logik und auch in bezug auf die Gleichheit im wesentlichen den Standpunkt von Leibniz ein. Diese Sätze sind für Kant analytisch, sie beruhen auch für Kant nicht auf Axiomen, sondern allein auf dem Satz des Widerspruchs. Auch für Kant sind die Logik, die allgemeine Größenlehre und die Mathematik a priori15. In unserem Jahrhundert hat Wittgenstein in seinem Tractatus Logico-Philosophicus eine groß angelegte Interpretation der Logik gegeben. Gegen den üblidien Begriff der Gleichheit hat Wittgenstein hier freilich Bedenken. Er vermutet, daß die üblichen Sätze der Gleichheit Scheinsätze sind16. Derselben Kritik verfällt auch der Begriff der Identität 17 . Soweit echte Aussagen über Identität und Gleichheit übrigbleiben, sind sie der Logik im strengen Sinne zuzurechnen. Diese Logik im strengen Sinne besteht dann aus den sechzehn Aussagefunktionen, die für Wittgenstein samt und sonders Tautologien sind. Die Uberprüfung dieses Ansatzes durch Wittgenstein selbst und die über diesen Ansatz reflektierenden Logiker und Philosophen hat den im Tractatus zum Ausdruck kommenden Optimismus nicht gerecht-
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fertigt. Zunächst hat sich der intuitiv gebrauchte Begriff des sinnlosen Satzes nicht präzisieren lassen. Dann hat sich gezeigt, daß sich mit den im Tractatus gebrauchten Mitteln Aussagen über unendliche Bereiche nicht zuverlässig gewinnen lassen. Es ist daher verständlich, daß es Wittgenstein nicht gelungen ist, eine Interpretation der Mathematik zu erreichen, die allgemeine Anerkennung gefunden hätte. Schließlich hat sich gezeigt, daß im Tractatus implizite ontologische Voraussetzungen stecken, gegen die die Voraussetzungen des extremsten Dogmatismus, ja sogar die Voraussetzungen der dogmatischsten Theologie bescheiden anmuten. So ist es verständlich, daß Wittgenstein in seiner späteren Entwicklung weit vom Tractatus abgerückt ist. Man kann allerdings zweifeln, ob Wittgenstein in seiner Kritik an seinem frühen Werk nicht dodi zu weit gegangen ist. Eine ruhige Untersuchung des Tractatus könnte wichtige Ergebnisse über die mögliche Interpretation der Logik zutage fördern. Im Anschluß an Wittgenstein hat man, besonders in der angelsächsischen Philosophie, die Begründung der Logik auf die Sprache vorgeschlagen. Bei aller Bedeutung der Sprache für die Philosophie kann die extreme Form dieser Bewegung gleichwohl nur Staunen hervorrufen. Versteht man die Logik von der Sprache her, so heißt das, etwas sehr Unbekanntes, die Logik, durdi etwas vollkommen Unbekanntes, die Sprache, verstehen zu wollen. Wie man die Sprache so erkennen könnte, daß dies für den hier erstrebten Zweck ausreichte, das ist für die allzu Sprachgläubigen offenbar kein Problem. Die implizite Voraussetzung, daß jedermann die Sprache kennen muß, weil jedermann die Sprache spricht, ist doch von einer großen Naivität. Von dieser methodischen Schwierigkeit abgesehen läßt sich aber ein ontologisches Bedenken erheben. Es ist unzweifelhaft, daß die Menschen alle dieselbe Logik haben, obwohl sie tausende von Sprachen sprechen. Um also von den unzähligen Sprachen zu der einen Logik zu kommen, muß man also entweder voraussetzen, daß alle Sprachen einen gemeinsamen Kern haben, oder man muß, was mir wahrscheinlicher zu sein scheint, voraussetzen, daß es „die Sprache" gibt. Das ist aber ein naiver Piatonismus, der noch über die weitgehendsten Annahmen von Piaton hinausgeht. In unserer Zeit hat der Nominalismus von neuem eine große Bedeutung erlangt. Der Nominalist verneint die Existenz der Allgemein-
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begriffe, besonders also der platonischen Ideen, und läßt als existierend nur Einzeldinge zu. Das zieht die heute nachprüfbare logische Forderung nach sich, daß keine Sätze zugelassen werden dürfen, an deren Subjektstelle Allgemeinbegriffe stehen; alle diese Sätze müssen vielmehr in Sätze umgewandelt werden, an deren Subjektstelle Einzeldinge stehen. Nun hat zwar bis heute nicht bewiesen werden können, daß dies möglich oder unmöglich ist, und vielleicht ist dies überhaupt nicht zu beweisen. Aber man sieht doch heute, daß die vom Nominalismus geforderte Konsequenz so gut wie unmöglich ist. Die Gleichheit bietet ein instruktives Beispiel, etwa mit dem Satz: Die Gleichheit ist kommutativ. Dieser Satz müßte also in Sätze umgeformt werden, an deren Subjektstelle Einzeldinge stehen, und es ist schwerlich zu erwarten, daß dies möglich sein wird. Betrachtet man die Interpretationen der Logik, wie sie bis zu unserer Zeit vorgelegt worden sind, dann dürften die Interpretationen von Leibniz, die ihm folgende von Kant und die Interpretation von Wittgenstein, also insgesamt die Interpretation der Logik als eine Theorie a priori, den entschiedenen Vorzug verdienen. Diese Interpretationen sind in bezug auf die Apriorität mit der Interpretation von Piaton eng verwandt. Daß die Interpretation der Gleichheit als einer Idee und die daran sich anschließende Interpretation der Logik und der Mathematik große ontologische Schwierigkeiten bietet, dies hat Piaton als erster deutlich gesehen. Dieser Schwierigkeiten ungeachtet wird man einräumen müssen, daß die Interpretation Piatons gute Gründe in der Sache hat. Zwei Grundphänomene sind es, die die Interpretation der hier betrachteten vier Wissenschaften, der Logik, der Arithmetik, der Geometrie und der Physik bestimmen oder vielmehr, wenn man die faktischen Bestimmungen der Philosophie ansieht, bestimmen sollten: die Allgemeingültigkeit und die Allgemeinverbindlichkeit dieser Wissenschaften. Unter der Allgemeinverbindlichkeit will ich die Tatsache verstehen, daß diese Wissenschaften für alle Menschen in derselben Weise gültig sind. Leibniz sagt einmal: Die Geometrie ist für die Griedien, die Römer, die Deutschen dieselbe18. Diese von Leibniz so schlagend formulierte Allgemeinverbindlichkeit kann schlechterdings nicht bezweifelt werden und sie ist von keinem verständigen Menschen bezweifelt worden. Auch der Ansatz von Wittgenstein im
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Tractatus, die Logik durch die Tautologie zu verstehen, zieht eine Allgemeinverbindlichkeit nach, wie sie schwerlich stärker gedacht werden kann. Die Allgemeinverbindlidikeit der Logik setzt der Interpretation der Logik von der Sprache her ihre Grenzen. Begründet man die Logik auf der Sprache, dann bleibt völlig rätselhaft, daß die Menschen so viele Sprachen sprechen, aber nur eine Logik haben. Diese Allgemeinverbindlichkeit der Logik wird meiner Meinung nach auch nicht durch die Entdeckung der mehrwertigen Logiken und anderer nichtklassischer Logiken aufgehoben. Die Entwicklung von der Ausschließlichkeit der euklidischen Geometrie zur Vielheit der nichteuklidisdien Geometrien ist dieselbe für alle diejenigen, die diese Entwicklung verstehen können und verstehen wollen. Nicht anders liegt es bei dem Aufbau einer Quantenphysik neben der Newtonschen Physik. Auch hier trifft eine neue Physik für alle denkenden Menschen in der gleichen Weise zur Newtonschen Physik hinzu. Der Grundbestand der klassisdien Theorien und ihr Ausbau zu neuen, kühnen, nichtklassischen Theorien ist für alle denkenden Menschen derselbe. Eine nicht geringere Bedeutung für die Interpretation dieser Wissenschaften von der Ideenlehre her hat die Allgemeingültigkeit ihrer Gesetze. Der Osten und der Westen mögen noch so verschieden sein, sie mögen in noch so vielen Wissenschaften das Entgegengesetzte behaupten, die Satelliten fliegen nach denselben Gesetzen, sie mögen nun im Osten oder im Westen abgeschossen worden sein. Logik, Mathematik und Physik sind für den Osten und für den Westen dieselben. Die Allgemeinverbindlichkeit und die Allgemeingültigkeit dieser Wissenschaften lassen sich von der Ideenlehre her verstehen, von der Ideenlehre, die nicht zum wenigsten von diesen Wissenschaften her konzipiert und von diesen Wissenschaften her begründet worden ist. Die Ideenlehre hat gewiß ihre Schwierigkeiten, Piaton hat als erster diese Schwierigkeiten gesehen, und ein großer Teil unserer Untersuchungen wird sich mit diesen Schwierigkeiten zu beschäftigen haben. Aber auch die anderen Interpretationen dieser Wissenschaften, vom aristotelischen, vom kantischen, vom nominalistischen Standpunkt aus haben ihre Schwierigkeiten, und der Vergleich der Interpretation von der Ideenlehre mit den Interpretationen von den anderen Standpunkten her zeigt, daß die platonische Interpretation Wichtiges leistet.
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Man kommt zu dem Ergebnis, daß die Argumente aus den Wissenschaften für Piaton eine große Bedeutung gehabt haben. Vielleicht muß man sogar sagen, daß die zweitausendjährige logische, wissenschaftstheoretische und ontologische Analyse der Logik, der Mathematik und der Physik diese Bedeutung der Ideenlehre nicht vermindert, sondern eher noch verstärkt hat. Diese große Bedeutung von Allgemeingültigkeit und Allgemeinverbindlichkeit für die Ideenlehre zeigt sich auch bei den Ideen des Schönen und des Guten. Bei dem Schönen scheint der unleugbare große historische Wandel des Schönheitsideals gegen eine Idee des Schönen zu sprechen. Dies scheint durchaus gegen Piatons Meinung zu sein, daß das Schöne selbst allgemeingültig und allgemeinverbindlich ist. Freilich kommt es hier darauf an, was Piaton unter dem Schönen verstehen will. Faßt man die Meinung des neunzehnten Jahrhunderts dahingehend zusammen, daß das Schöne das schöne Bild eines sdiönen Gegenstandes ist, dann ist dies vermutlich nicht die Meinung Piatons gewesen. In dieser Auffassung scheint vielmehr das, was Piaton gewollt hat, allzu sehr eingeengt. Die eigentliche Meinung Piatons scheint vielmehr die einer echten Qualität zu sein. Der Begriff der Qualität jedenfalls, wenn dies die eigentliche Meinung Piatons gewesen sein sollte, ist dem geschichtlichen Wandel bei weitem nicht so weit unterworfen wie das Schönheitsideal des neunzehnten Jahrhunderts. Eine ähnliche Erwägung läßt sich bei der Idee des Guten anstellen. Audi hier ist der historische Wandel der ethischen Ideale unleugbar, er kann an vielen Beispielen aufgewiesen werden. Auch hier wird Piatons Meinung besonders deutlich, daß die Idee des Guten für alle Zeiten und für alle Länder gültig und daß sie für alle Menschen verbindlich ist. Auch hier darf man Piatons Meinung nicht allzu kurz interpretieren. Es kommt im wesentlichen auf die Unterscheidung zwischen formaler und materialer Ethik an. Prüft man Piatons Meinung von hier aus, dann sieht man, daß die Lehre von der Idee des Guten keineswegs eine materiale Wertethik im extremen Sinn sein will. Man braucht den historischen Wandel der ethischen Ideale nicht zu bestreiten, aber man kann doch zeigen, wie ich überzeugt bin, daß das Zusammenleben der Menschen unmöglich wird, wenn das Ideal des Guten nicht mehr existiert. Naheliegend ist der Vergleich mit den Verkehrsregeln. Unzweifelhaft können die Verkehrsregeln
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geändert werden, und sie werden audi oft geändert. Aber das formale Gesetz, daß es überhaupt Verkehrsregeln geben muß und daß ohne Verkehrsregeln, mögen sie auch in sidi veränderlich sein, ein Zusammenleben auf den Straßen unmöglich sein würde, das läßt sich einsehen. Wäre der eigentliche Sinn der Idee des Guten dieser formale Sinn, dann würde auch ihre Allgemeingültigkeit und ihre Allgemeinverbindlichkeit sichtbar. So haben und behalten die Argumente Piatons f ü r die logischmathematischen Ideen, in gewissem Sinne auch für die ethisch-ästhetischen Ideen ihre bleibende Bedeutung. Nicht ganz so stark sdieinen mir die Argumente Piatons aus den beiden anderen Argumentgruppen zu sein. Aristoteles nennt als zweite Argumentgruppe das Argument gemäß dem Einen über Vieles19. Gemeint ist, daß überall dort, wo viele Dinge oder viele Eigenschaften oder weldie Vielheit audi immer eine Einheit bilden, diese Einheit nur dadurch gewährleistet werden kann, daß je eine besondere Idee existiert. Die Vielheit der sdiönen Dinge kann nur dann die Einheit der Schönheit bilden, wenn eine besondere Idee der Schönheit existiert. Geht man zunächst von der aristotelischen Zusammenfassung auf die platonischen Dialoge zurück, so sucht man die Präposition EPI mit dem Genetiv in dieser Bedeutung vergebens, wenigstens soweit ich gesehen habe. In gewissem Sinn gehört eine Stelle aus dem Symposion hierher: die Schönheit bei allen Körpern (210 B). Allerdings steht EPI hier mit dem Dativ. Es fehlen aber noch genauere Untersuchungen, die vielleidit auch hier den terminologischen Anschluß bringen. D a ß der Anschluß der Sache nadi da ist, kann nicht bezweifelt werden. Die vielleicht prägnanteste Stelle findet sich im zehnten Buch der Politeia: „Nämlich einen Begriff pflegen wir dodi jedesmal aufzustellen für jegliches Viele, dem wir denselben Namen beilegen" (596 A). In seinem Metaphysikkommentar hat Ross diese Politeiastelle mit Recht als die wesentliche Quelle f ü r die Darstellung des Aristoteles angeführt 20 . Diese Stelle darf, wie dies auch Ross tut, zurückbezogen werden auf Phaidon 74, wo Piaton von dem Verhältnis der Idee der Gleichheit zu den vielen gleichen Dingen spricht. Piaton geht hier von der Sprache aus, von der Tatsache, daß wir viele Dinge schön nennen, daß wir also viele Dinge mit dem gleichen
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Wort „schön" bezeichnen. Piaton greift hier auf ein sokratisches Moment zurück. Wenn beispielsweise Sokrates im Laches danach fragt, was die Tapferkeit ist, so stützt er das Recht dieser seiner Frage auf die Tatsache, daß wir viele verschiedene Handlungen mit einem und demselben Wort „tapfer" bezeichnen. Dabei kann man es dahingestellt sein lassen, ob Sokrates diesen Zusammenhang mit der Sprache schon selbst in dieser Klarheit gesehen hat, oder ob erst Piaton in seiner Darstellung der sokratischen Gespräche zu dieser Klarheit gekommen ist. Tatsache ist, daß viele Worte der Sprache, wohl die meisten Worte, eine solche Funktion haben, und mit Recht zieht Ross diese Tatsache ausdrücklich heran. Fraglich bleibt nur, ob die Konsequenzen, die Piaton gezogen hat, schlüssig sind, ob Piaton nicht den Tatbestand überzogen hat. Piaton vertritt an dieser Politeiastelle die Auffassung, daß aus der Allgemeinheitsstruktur der Worte mit allgemeiner Bedeutung die Existenz je einer Idee notwendig folgt. Hier scheint die platonische Auffassung vor der entgegengesetzten nominalistischen Auffassung keinen entschiedenen Vorzug zu haben. Die nominalistische Auffassung geht implizit davon aus, daß wir die Möglichkeit haben, gewisse Gruppen von Dingen oder Eigenschaften willkürlich zusammenzufassen und ebenso willkürlich mit einem willkürlich gewählten Wort zu bezeichnen. Diese Auffassung muß freilich durch einen gewissen Konventionalismus ergänzt werden, weil dieser zunächst willkürlich erscheinende Sprachgebrauch allen denjenigen gemeinsam ist, die dieselbe Sprache sprechen. Die Schwäche des nominalistischen Arguments liegt in diesem notwendigen Rückgriff auf einen Konventionalismus, dessen Konsequenzen nicht leicht zu übersehen sind. Die Schwäche des platonischen Arguments liegt in seiner vermutlich zu großen Allgemeinheit. Dies hat bereits Piaton selbst erkannt. Er sagt im Politikos: „Dieses, wie wenn zum Beispiel jemand das menschliche Geschlecht in zwei Teile teilen wollte und täte es, wie hier bei uns die meisten zu unterscheiden pflegen, daß sie das Hellenische als eines von allen übrigen absondern für sich, alle andern unzähligen Geschlechter insgesamt aber, die gar nichts untereinander gemein haben und gar nicht übereinstimmen, mit einer einzigen Benennung Barbaren heißen und dann um dieser einen Benennung willen auch voraussetzen, daß sie ein Geschlecht seien" (262 C). Piaton geht hier davon aus, daß wir
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viele Menschen mit demselben Wort bezeidinen, nämlidi mit dem Wort Hellenen. Dabei setzen wir voraus, daß sie gleich sind, was hier besonders deutlich wird, weil zugleich gemeint ist, daß sie ein Geschlecht sind, weil sie alle von derselben Abstammung sind. Obwohl wir alle anderen Menschen ebenfalls mit einem eigenen Namen bezeichnen, eben mit dem Namen der Barbaren, fehlt hier eine echte Gemeinsamkeit. Es gibt nichts, das ihnen allen gemeinsam wäre, in dem sie alle übereinstimmten, und es kann schon ganz und gar nicht die Rede davon sein, daß sie alle von derselben Abstammung sind. Hier zeigt sich deutlich die Willkür der Wortbildung. Der Schluß von der Gemeinsamkeit des Wortes auf eine Gemeinsamkeit der Sache kann also nicht richtig sein, noch viel weniger der Schluß von der Gemeinsamkeit des Wortes auf die Existenz einer Idee. Übrigens müßte man aus dieser Stelle des Politikos schließen, daß es eine Idee der Hellenen gibt. Dies ist zwar nicht unwahrscheinlich, aber ausdrücklich von einer Idee der Hellenen spricht Piaton weder hier noch an einer anderen Stelle. Die hier auftauchende Frage, wovon es Ideen gibt, werden wir im nächsten Paragraphen diskutieren. Piaton macht die Willkür der Wortbildung im Politikos noch durch zwei weitere Überlegungen deutlich. Im unmittelbaren Anschluß an die eben zitierte Stelle gibt er zu erwägen, daß man die natürlichen Zahlen in gerade und ungerade Zahlen teilen kann. Dann handelt es sich um eine echte Teilung, der mit Recht besondere Worte entsprechen und der dann auch Ideen entsprechen müssen. Aber man kann doch aus der Zahlenreihe auf beliebige Weise 1000 Zahlen herausschneiden, dann zunächst diese beliebigen 1000 Zahlen mit einem beliebigen Wort bezeichnen und schließlich alle anderen Zahlen ebenfalls mit einem beliebigen Wort belegen (262 D). Dann wird in der Regel bei den beliebig herausgegriffenen Zahlen und ebensowenig bei dem Rest eine echte Gemeinsamkeit vorliegen, ungeachtet dessen, daß beide Mengen durch besondere Worte bezeichnet werden. Hier zeigt sich die Willkür der Mengenbildung ebenso wie der Wortbildung, die immer ein starkes Argument für den Nominalismus bleiben wird. Im Verfolg des Politikos bringt Piaton noch eine reizvolle Variation des Arguments. Man könnte doch annehmen, daß es noch eine andere Art des Lebendigen gibt, die denken kann, etwa die Kraniche. Dann würden diese Kraniche alles Lebendige einteilen in Kraniche
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und Nichtkraniche (263 D). Es müßte dann eine Idee der Kranidie geben, die es für Piaton wahrscheinlich gibt; es müßte aber auch eine Idee der Nidit-Kranidie geben, die es vermutlich für Piaton nicht geben kann. Erwägt man den Sachverhalt vom systematischen Standpunkt aus, dann sieht man bald, daß die Sprache so beweglich, so dynamisch ist, daß sie zu solchen Schlüssen nicht taugt. Ob für eine bestimmte Vielheit ein einheitliches Wort gebraucht oder gebildet wird, das hängt vielfach von praktischen Bedürfnissen ab. Es kann deshalb in den Sprachen verschiedener Berufe verschieden sein. So kennt die bäuerliche Sprache zwar Korn, Weizen, Hafer, Mais und andere Worte dieser Art, aber nicht das zusammenfassende Wort Getreide; wenigstens war dies so in ursprünglichen bäuerlichen Sprachgemeinschaften. Nicht anders liegt es, um ein modernes Beispiel zu gebrauchen, bei dem Wort Kraftfahrzeug. Die Umgangssprache kennt zwar Autos, Lastwagen, Motorräder, aber das zusammengreifende Wort Kraftfahrzeug ist doch wohl ein Begriff der Verkehrstechnik. Es ist auch schwer anzunehmen, daß die Umgangssprache das Fahrrad mit Hilfsmotor und den überschweren Zwanzigtonner durch ein übergreifendes Wort zu einer Einheit zusammenfassen wird. Hier ist offenbar die nominalistische Interpretation im Recht, wenn sie die große Willkür der BegrifFsbildungen ebenso wie der Wortbildungen hervorhebt. Wenn nun nicht zu jeder Vielheit ein zusammenfassendes Wort existiert, dann ist noch viel weniger zu erwarten, daß zu jeder Vielheit eine zusammenfassende Idee existiert. Piaton ist im Recht, wenn er zum Problem des Allgemeinen die Allgemeinheitsfunktion, der Sprache heranzieht, aber die These: Zu jedem allgemeinen Wort gehört notwendig eine allgemeine Idee, kann schwerlich als stichhaltig gelten. Am schwächsten scheinen die Argumente der dritten Gruppe zu sein, die dahin gehen, daß ein jeder Gedanke ein Etwas bezeichnen muß. Aristoteles spricht von dem Etwasdenken 21 und will damit sagen, daß nach der Auffassung von Piaton jedes Denken ein Denken von Etwas sein muß. Zu dieser dritten Argumentgruppe gibt Ross im Metaphysikkommentar zwar keine Platonstellen an, solche Stellen sind aber nicht schwer zu finden. In der Politeia sagt Piaton: „Also sage uns nur dieses: Der Erkennende, erkennt er etwas oder nichts?
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Du nämlich antworte mir nun an seiner Stelle. — Ich werde antworten, sagte er, daß er etwas erkennt. — Was ist, oder was nicht ist? — Was ist; denn wie könnte etwas, was ja nicht ist, erkannt werden?" (476 E). Im Sophistes sagt Piaton, daß das Nichtseiende auch nicht erkannt werden kann (238 C). Audi nach dem Parmenides muß jeder Gedanke ein Gedanke von Etwas sein, und zwar von etwas Seiendem (132 B). Hier meint Piaton, daß jedes Wort etwas bezeichnen muß. Also müssen auch solche Worte wie „schön", „gleich", „drei" ein bestimmtes Etwas bezeichnen, und dieses Etwas kann nur eine Idee sein. Hier dürfte Piaton einem naheliegenden und oft begangenen Irrtum unterlegen sein. In der Tat gibt es Worte, die schlechthin etwas in einfacher Weise bezeichnen, nämlich die Namen. So bezeichnet etwa der Name „Sokrates" eben diese bestimmte Person, und ein Name, der nicht eine bestimmte Person nennt, ist kein Name, funktioniert nidit als Name im eigentlichen Sinn. Schon das viele Fische bezeichnende Wort „Fisch" dürfte in anderer Weise funktionieren als das Wort „Sokrates". Schließlich kann die Bezeichnungsfunktion des Wortes noch viel komplexer sein, wie z. B. bei den Worten „und" oder „nicht". Wenn also Piaton alle Worte von der Namensfunktion her versteht, dann muß dieses Argument als unbefriedigend betrachtet werden. Merkwürdig erscheint, daß Aristoteles das besonders im Phaidon so stark verwendete Argument aus der Vollkommenheit nicht erwähnt. Nur die Idee des Kreises bietet einen vollkommenen Kreis, kein realer Kreis ist vollkommen. Nur die Idee der Gleichheit bietet eine vollkommene Gleichheit, zwei reale Dinge sind niemals vollkommen gleich. Nur die Idee der Schönheit bietet eine vollkommene Schönheit, ein wirklicher Mensch kann niemals vollkommen schön sein. Wenn Aristoteles dieses Argument nicht erwähnt, dann darf man wohl daraus schließen, daß in der schulmäßigen Ausbildung der Argumente das Argument aus der Vollkommenheit nicht sehr hoch eingeschätzt worden ist. Wir sind davon ausgegangen, daß Aristoteles die Argumente für die Existenz der Ideen in einer formelmäßigen Zusammenfassung bringt und haben angenommen, daß er damit eine gewisse bereits vorliegende Form der Auseinandersetzung über die Ideenlehre anwendet. Hier wird eine Begründung der Ideenlehre vorausgesetzt,
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und zwar eine Begründung in schulmäßig festen Formen. Wir haben diesen Gedanken einer Begründung der Ideenlehre in die platonischen Dialoge zurückverfolgt und sie im Anschluß an die Aristoteleskommentare, besonders an die dort zitierte frühe Schrift des Aristoteles über die Ideen, im einzelnen nachweisen können. Gegen eine solche Interpretation wird man schwerlidi Bedenken erheben. Bedenken wird man vermutlich dagegen erheben, daß wir die Argumente sofort systematisch nachprüfen und bewerten. Aber wir meinen, daß ein Gedankengang nur dann wirklich verstanden werden kann, wenn man prüft, ob er auch stichhaltig ist. Wir bezweifeln, ob eine Interpretation nur darin bestehen kann, zu zeigen, was Piaton gesagt hat. Wir meinen, daß das gar nicht möglich ist, wenn man nicht sofort fragt, ob das wahr ist, was Piaton gesagt hat. Unter dieser Voraussetzung erweisen sich die zweite und die dritte Argumentgruppe als schwach, als schwächste wohl die dritte Gruppe. Dagegen zeigen sich die Argumente aus den Wissenschaften als besonders bedeutungsvoll, damals wie heute. Es scheint uns wohlbegründet, daß in den platonischen Dialogen die Argumente aus den Wissenschaften einen breiten Raum einnehmen, mögen sie auch noch sehr weit von der schulmäßigen Form entfernt sein, in der Aristoteles sie bringt. Man darf wohl annehmen, daß auch Piaton selbst die Argumente aus den Wissenschaften für die wichtigsten gehalten hat.
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Es gibt die Ideen. Dies ist die Behauptung Piatons. Dann erhebt sich sofort die Frage: Wieviel Ideen gibt es und wie verhalten sie sich zueinander? Damit ist die Frage nach der Gesamtheit der Ideen gestellt. Es ist nicht leicht, einen Terminus für die Gesamtheit der Ideen zu finden, der nicht schon eine ontologische Implikation, besonders in der Richtung einer Zweiweltentheorie, enthält. Immerhin spricht Piaton selbst vom TOPOS der Ideen (Pol. 508 C), vom GENOS der Ideen (Pol. 509 D), vom Kosmos der Ideen (Pol. 500 C). Im Gang der Philosophie sind üblich geworden und finden sich besonders bei Leibniz: mundus intelligibilis1, regio idearum2 mit ihren französischen Formen: le monde intellectuel3, la region des idees4.
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Der Terminus mundus intelligibilis umfaßt nicht nur die Ideen, sondern audi Gott und die unsterblichen Seelen, er dürfte wesentlich auf Augustin zurückgehen. Im Englischen findet sich, besonders bei Whitehead, der Terminus realm5. Im Deutschen ist ein fester Terminus nicht üblich geworden. Der Terminus: Gesamtheit der Ideen ist von modernen Vorstellungen beeinflußt. Unter dem Einfluß der Tradition stehen mehr das Reich der Ideen, die Welt der Ideen. Nicolai Hartmann hat den sehr neutralen Ausdruck: ideale Sphäre gewählt6. Ich selbst wechsle zwanglos zwischen den verschiedenen deutschen Ausdrücken ab, da in den hier vorgelegten, wesentlich auf die ontologisdien Probleme der Ideenlehre gerichteten Untersuchungen die Versuchung zu Fehlinterpretationen von dem sprachlichen Ausdruck her gering sein dürfte. Es stellen sich zwei Fragen. Die erste ist: Welche Ideen gibt es? oder anders ausgedrückt: Wovon gibt es Ideen? Die zweite Frage ist: Wie hängen die Ideen zusammen? Gibt es eine Struktur dieses Reiches der Ideen und welche? Wenden wir uns zunächst der ersten Frage zu, dann ist es gewiß merkwürdig, daß in der unabsehbar großen Platonliteratur keine Untersuchung existiert, welche die bei Piaton vorkommenden Ideen wirklich erschöpfend aufzählt. Auch ich will diese Frage nach der Zahl der Ideen nicht beantworten, ich will mich vielmehr der hier auftauchenden methodischen Frage zuwenden und zeigen, daß es im Sinne Piatons eine erschöpfende Antwort nicht gibt, daß es im Sinne Piatons eine vollständige Liste der Ideen nicht geben kann. Von Piaton selbst finden wir die ausführlichste Untersuchung im ersten Teil des Parmenides. Dort unterscheidet Piaton vier Klassen von Ideen, genauer gesagt, von möglichen Ideen. Als erste Klasse nennt Piaton die logisch-mathematischen Ideen. Als Beispiel gibt er hier im Parmenides die Ähnlichkeit, die Einheit und die Vielheit (129 B). Beispiele für logisch-mathematische Ideen finden sich an vielen Stellen. Auf die Idee der Gleichheit stützt sich Piaton bei der Einführung der Ideenlehre im Phaidon (74 A). Im Sophistes spielen Identität (255 C) und Verschiedenheit (255 D) eine wichtige Rolle. An arithmetischen Ideen finden sich im Phaidon die Zwei (101 C), die Drei (104 D), die Acht (101 B) und die Zehn (101 B). An geometrischen Ideen finden sich im siebten Brief der Kreis (342 B), im
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Philebos die Kugel (62 A), in der Politeia das Quadrat (510 D) und die Diagonale (510 D). Überblickt man diese Beispiele, dann gewinnt man den Eindruck, daß die von Piaton ausdrücklich genannten logisch-mathematischen Ideen recht zufällig sind. Für die ethisdi-ästhetisdien Ideen, die Piaton als zweite Klasse nennt, gibt er im Parmenides ebenso wie an vielen anderen Stellen die große Ideentrias des Guten, Schönen und Gerechten (130 B). Die Idee des Schönen findet im Symposion ihre glanzvolle Darstellung, die Idee des Gerechten ist das Thema der Politeia und die Idee des Guten erhält ebenfalls in der Politeia den höchsten Rang über alle Ideen hinaus. Die dritte Klasse bilden die biologischen Ideen, die hier im Parmenides zum erstenmal ausdrücklich auftreten. Als Beispiel nennt Piaton die Idee des Menschen, die Idee des Feuers, die Idee des Wassers (130 C). Im Timaios gewinnen die biologischen Ideen eine große Bedeutung. Da ist zunächst die Idee des Lebewesens (39 E) und die damit zusammenhängenden Ideen, dann auch die Ideen der Elemente: des Feuers, der Luft, des Wassers und der Erde (51 A). Man darf diese Ideen der Elemente zu den biologischen Ideen rechnen. Den Griechen war unsere Unterscheidung zwischen dem Organischen und dem Anorganischen fremd. Ihnen waren die Elemente etwas Lebendiges, besonders das Feuer und das Wasser. Im Philebos finden wir die Ideen des Menschen (15 A) und des Ochsen (15 A). Aber schon von diesen biologischen Ideen sagt Piaton hier im Parmenides, er sei oft im Zweifel gewesen, ob es sie gibt (130 C). Schließlich stellt Piaton noch eine vierte Klasse von Ideen zur Diskussion. Als Beispiele nennt er Haare, Kot und Schmutz, und er fügt ausdrücklich hinzu: „ . . . und was sonst noch recht geringfügig und verächtlich ist" (130 C). Die Entscheidung ist schwierig. Der junge Sokrates, der hier gewiß für den Piaton der Akademie spricht, sagt: „Dann aber, wenn ich hier zu stehen komme, fliehe ich, aus Furcht, in eine bodenlose Albernheit versinkend umzukommen" (130 D). Aber Parmenides, der gewiß ebenso für Piaton spricht, sagt mahnend, Sokrates sei noch zu jung. Erst später werde er begreifen, daß man in der Philosophie nichts verächtlich finden darf, die grundsätzlichen Erwägungen der Philosophie müssen vielmehr überall zu dem gleichen Ergebnis führen (130 E).
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Man kann diese Stelle des Parmenides in verschiedener Weise verstehen7» 8 . Man kann die Stelle so auffassen, daß durch die Stellungnahme des Parmenides die durch Sokrates ausgesprochenen Zweifel gegen die Ideen von geringen Dingen behoben werden sollen, so daß die Stellungnahme des Parmenides die endgültige Meinung von Piaton wäre. Man kann die Stelle aber auch dahingehend verstehen, daß die Zweifel des Sokrates nicht abgewiesen werden sollen, daß vielmehr die Diskussion zwischen Sokrates und Parmenides die eigentlidie Meinung Piatons ist. Mir scheint die zweite Interpretation die bessere zu sein. Dann bliebe es allerdings offen, ob es von den geringen Dingen Ideen gibt, und es gäbe, allgemein gesprochen, Bereiche, in denen es offen bleiben muß, ob es hier Ideen gibt oder nicht. Einen gewissen Uberblick über die von Piaton angenommenen Ideen gibt auch der siebte Brief. Piaton spricht dort zunächst über die Möglichkeit der Darstellung der Philosophie. Wir haben die Stelle unseren Untersuchungen als Motto vorangestellt und sind in der Einleitung auf die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten eingegangen. Piaton spricht dann von der Idee des Kreises und fährt zusammenfassend fort: „Dasselbe gilt von dem Geraden und Umkreisenden, von Gestalt und Farbe, von dem Guten, Schönen und Gerechten, von jedem, ob nun durch Kunst erzeugten oder von Natur entstandenen Körper, von Feuer, Wasser und allem derartigen, von jedem Lebenden und der den Seelen innewohnenden Gesinnung und von dem gesamten Tun und Leiden" (342 D). Diese Stelle des siebten Briefs ist diejenige Stelle in den platonischen Schriften, in der die Ideenlehre den größten Umfang hat. Ideen der Farbe und Ideen des Tuns und Leidens sind sonst kaum anzutreffen. Da Piaton aber die große Ideentrias des Schönen, Guten und Gerechten ausdrücklich nennt, kann schwerlich ein Zweifel darüber sein, daß er hier über die Ideen sprechen will. Man wird Ross 9 Recht geben müssen, wenn er diese Stelle des siebten Briefs als eine der wichtigsten Stellen über den Umfang der Ideenlehre ansieht. Daß die Frage nach dem Umfang der Ideenlehre ausdrücklich gestellt wurde, bezeugt auch Aristoteles. In der Auseinandersetzung mit der Ideenlehre im ersten Buch der Metaphysik sagt er: „ . . . daß es nach den genaueren Begründungen für die Ideenlehre auch für solches Ideen geben müßte, von welchen wir nicht annehmen, daß es
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Ideen gibt"10. Die lapidare Kürze, mit der Aristoteles den Gedankengang nicht eigentlich vorträgt, sondern nur an ihn erinnert, zeigt deutlich, daß er voraussetzen konnte, daß seine Hörer und Leser mit der Frage, wovon es Ideen gibt, vertraut waren. Wenden wir uns zunächst den handwerklich hergestellten Dingen zu, so gibt es im Phaidon keine Ideen von handwerklich hergestellten Dingen. Im Symposion kann man sich schwer vorstellen, daß der Aufstieg zur Idee der Schönheit, der mit solcher Begeisterung geschildert wird, einem Aufstieg zu einer Idee des Tisches oder des Bettes entsprechen könnte. Auch der Philosoph, der im Phaidros dem Götterzug folgt und der dort oben im überhimmlischen Ort die Ideen schaut — schwer kann man sich vorstellen, daß er dort auch die Ideen des Tisches und des Bettes schaut. Schließlich finden wir auch in der Musterung der Ideen im Parmenides, die wir eben analysiert haben, keine Ideen von handwerklich hergestellten Dingen, obwohl Piaton hier doch wohl eine gewisse Vollständigkeit im Auge hat. Gleichwohl finden sich ausdrückliche Nennungen von Ideen von handwerklich hergestellten Dingen. Im Kratylos wird die Idee des Weberschiffchens genannt (389 B). In der Politeia nennt Piaton ausdrücklich die Idee des Tisches und die Idee des Bettes (596 B). Auch in der Zusammenfassung des siebten Briefs, die wir soeben herangezogen haben, spricht Piaton ausdrücklich von Ideen der handwerklich hergestellten Dinge (342 D)11. Wenn Aristoteles also sagt, daß „wir" keine Ideen von handwerklich hergestellten Dingen annehmen, so kann man dies doch wohl nur so verstehen, daß in der Akademie über die Frage gestritten wurde — vielleidit schon zu Piatons Zeiten — und daß jedenfalls zu der Zeit, als Aristoteles diese Kritik der Ideenlehre schrieb, zum mindesten gewisse Mitglieder der Akademie Ideen von handwerklich hergestellten Dingen abgelehnt haben. Wenn Aristoteles sagt, daß wir keine Ideen von Relationen annehmen12, so steht dies zunächst in offenem Widerspruch zu allen Dialogen. Im Phaidon spielt die Idee der Gleichheit eine wichtige Rolle bei der Einführung der Ideenlehre. Im Parmenides wird unter den logisch-mathematischen Ideen ausdrücklich die Idee der Ähnlichkeit genannt. Im Sophistes spricht Piaton ausdrücklich von der Idee der Verschiedenheit. Es ist nicht denkbar, daß Piaton eine so wichtige Gruppe von Ideen aufgegeben hätte. Die Kritik des Aristoteles kann
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also nicht so verstanden werden, daß es keine Ideen von Relationen gäbe, besonders keine Idee der Gleichheit. Eine wirklich befriedigende Interpretation der Aussage des Aristoteles ist bis jetzt nicht gegeben worden. Vielleicht kann man eine Andeutung verfolgen, die sich in den Kommentaren findet. Dann würde Aristoteles sagen wollen, daß es nicht solche Ideen gibt wie „schöner sein" und „größer sein". In der Tat gibt es bei Piaton eine Idee der Schönheit, aber nicht eine Idee des „Schöner-seins", eine Idee der Größe, aber nicht eine Idee des „Größer-seins". Freilich läßt sich bei der stenographischen Kürze der Aristotelesstelle eine bestimmte Interpretation nur vermuten, aber nicht wirklich belegen. Nicht weniger problematisch ist die Aussage des Aristoteles, daß es keine Ideen von Privationen gibt 13 . Allerdings ist der hier von Aristoteles gebrauchte Ausdruck APOPHASIS nicht leicht durch einen bestimmten deutschen oder lateinischen Ausdruck wiederzugeben. Negation ist zuviel, Privation ist zuwenig. Das ständige Beispiel des Aristoteles für eine APOPHASIS ist die Blindheit. Man kann schon zweifeln, ob es eine Idee des Sehens gibt, sie würde allerdings aus der Zusammenfassung des siebten Briefes folgen. Dagegen ist an eine Idee der Blindheit meines Erachtens nicht zu denken, und auch Aristoteles hat wohl nicht daran gedacht. Es handelt sich vielmehr, wenn ich Aristoteles recht verstehe, um solche Begriffe wie „häßlich sein" und „ungerecht sein". Es gibt eine Idee der Schönheit. Gibt es auch eine Idee der Häßlichkeit? Ein schönes Pferd ist schön, weil es an der Idee der Schönheit Anteil hat. Ist ein häßliches Pferd häßlich, weil es an der Idee der Häßlichkeit Anteil hat, oder ist es deshalb häßlich, weil ihm ein Anteil an der Idee der Schönheit mangelt? Ein anderes Beispiel für eine APOPHASIS in der hier zur Diskussion stehenden Frage wäre die Ungerechtigkeit. Es gibt die Idee der Gerechtigkeit. Gibt es auch die Idee der Ungerechtigkeit? Ist ein ungerechter Richter ungerecht, weil er an der Idee der Ungerechtigkeit Anteil hat, weil die Idee der Ungerechtigkeit ihn beherrscht, oder ist er ungerecht, weil er an der Idee der Gerechtigkeit keinen Anteil hat, weil ihm die Idee der Gerechtigkeit fehlt? Audi die Ungleichheit wäre hier heranzuziehen. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, welche Bedeutung die Idee der Gleichheit im Phaidon hat. Aber wie ist es mit der Ungleichheit? Zwei gleiche Bretter sind gleich
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durch die Idee der Gleichheit, wie immer man dies auch verstehen möge. Nun sind zwei gleiche Bretter niemals völlig einander gleich, sie sind also in einem gewissen Maß einander gleich, in einem gewissen Maß einander ungleich. Aber wie ist es mit dieser Ungleichheit? Kommt diese Ungleichheit daher, daß die beiden Bretter zwar an der Idee der Gleichheit Anteil haben, durch die Idee der Gleichheit aber nicht völlig bestimmt werden? Oder kommt diese Ungleichheit daher, daß die beiden Bretter nicht nur an der Idee der Gleichheit, sondern daß sie auch an der Idee der Ungleichheit Anteil haben? Prüft man die platonischen Texte in bezug auf diese Frage, so wird man nicht leugnen können, daß die positiven Ideen einen entschiedenen Vorrang haben. Dies gilt gewiß zunächst von der großen Ideentrias des Schönen, Guten und Gerechten. Die biologischen Ideen sind ihrer Natur nach insgesamt positive Ideen. Es gilt auch von vielen logisch-mathematischen Ideen. Die Idee der ungeraden Zahl ist nur dem Wort nach eine Negation. Audi die geometrischen Ideen sind ihrer Natur nach positive Ideen. Auf der anderen Seite hat man den Eindruck, daß Piaton bei dem Häßlichen und daß er besonders bei dem Ungerechten geschwankt hat. Eine besonders wichtige Stelle findet sich am Ende des vierten Buches der Politeia. Nachdem Piaton dort die Gerechtigkeit bestimmt hat, wendet er sich der Betrachtung der Ungerechtigkeit zu. Er erörtert zunächst einige mögliche Definitionen der Ungerechtigkeit und sagt dann: „Also ist nun auch, sprach ich, das Ungerechthandeln und Unrechttun und ebenso das Rechttun, alles dieses wohl schon ganz deutlich bestimmt, wenn ja auch Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit es sind" (444 C). Hier werden, wie übrigens auch an anderen Stellen der Politeia, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in einem solchen Maße parallel gesetzt, daß man entsprechend der Idee der Gerechtigkeit auch eine Idee der Ungerechtigkeit annehmen müßte. Freilich sagt Piaton in starkem Gegensatz hierzu kurz darauf: „Nämlich wie von einer Warte herab, sprach ich, zeigt sich mir nun, nachdem wir bis hierher in unserer Rede gestiegen sind, daß es nur eine Gestalt der Tugend gibt, unzählige aber der Schlechtigkeit, unter welchen sich jedoch gewiß vier auszeichnen als bemerkenswert" (445 C). Was hier von der Tugend und der Schlechtigkeit allgemein gesagt wird, gilt auch von der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit. Es gibt nur eine Art der Gerechtigkeit,
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aber unendlich viele Arten der Ungerechtigkeit. Daraus müßte man doch wohl folgern, daß es zwar eine Idee der Gerechtigkeit gibt, woran kein Zweifel sein kann, aber keine Idee der Ungerechtigkeit. Im ganzen wird man sagen können, daß es in den platonischen Texten, demgemäß auch bei den Interpreten, einander widersprechende Aussagen gibt; an einigen Stellen neigt Piaton zu einer Idee der Ungerechtigkeit, an anderer Stelle lehnt er eine solche Idee ab. Allerdings wird man sich vor Augen halten müssen, daß die terminologischen Formulierungen der Ideenlehre so flexibel sind, daß es keineswegs leicht ist, an jeder Stelle endgültig zu entscheiden, ob Piaton hier eine Idee des Häßlichen oder eine Idee des Ungerechten annimmt, oder ob er diese Idee in aller Form ablehnen will. Dabei dürfte es sich nicht nur um eine Frage des Stils handeln, vielmehr treten systematische Schwierigkeiten auf. Es scheint angebracht, diese Schwierigkeiten in zwei Schritten zu erörtern. Zunächst ist die Frage zu erwägen, welche Schwierigkeiten bei einer möglichen Idee der Ungerechtigkeit auftreten, um dann zu der allgemeinen Frage aufzusteigen, welche Schwierigkeiten bei der Frage einer möglichen Grenze des Ideenreiches auftreten. Prüfen wir zunächst die Gründe, die für eine Idee der Ungerechtigkeit sprechen. Im Phaidon wird die Existenz der Ideen aus dem „Schon-immer-haben" begründet. Um zwei gleiche Bretter als gleich bezeichnen zu können, muß ich dodi schon immer wissen, was gleich bedeutet. Eben dieselbe Argumentation kann man doch für „ungerecht" anstellen. Um etwas als ungerecht bezeichnen zu können, muß ich dodi schon immer wissen, was ungerecht ist. Es müßte also auch eine Idee der Ungerechtigkeit geben. Dasselbe würde auch aus der Stelle im zehnten Buch der Politeia folgen, die wir bereits bei unserer Untersuchung über die Begründung der Ideenlehre herangezogen haben. Dort sagt Piaton: „Nämlich einen Begriff pflegen wir doch jedesmal aufzustellen für jegliches Viele, dem wir denselben Namen beilegen" (596 A). Die Folgerung für unser Problem erscheint unumgänglich. Wir nennen vieles mit demselben Namen „gerecht" und müssen deshalb eine Idee der Gerechtigkeit setzen. Da wir nun vieles mit demselben Namen „ungerecht" nennen, so müssen wir doch offenbar, wenn wir dieser Stelle folgen, auch eine Idee der Ungerechtigkeit annehmen. Dann kommen wir auch wieder zu der vierten Klasse der Ideen im Parmenides. So
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wie wir vieles durch die einheitlichen Worte „schön" oder „gerecht" zusammenfassen, so fassen wir auch vieles durch die einheitlichen Namen „Haar" und „Schmutz" zusammen. Aber hier wird Sokrates hin- und hergerissen. Manchmal denkt er, daß es auch hier Ideen geben muß, manchmal sagt er sich, damit würde er in einen Abgrund der Lächerlichkeit fallen. Man sieht die Bedeutung der Frage, ob man das abschließende Wort des Parmenides als die endgültige Entscheidung betrachten soll, oder ob sowohl das, was Sokrates sagt als auch das, was Parmenides sagt, als erwägenswerte Standpunkte in einer offenen Diskussion zu nehmen sind. Auf der anderen Seite ist für die Frage, ob es eine Idee der Ungerechtigkeit gibt, eine Erwägung des Politikos heranzuziehen. Dort weist Piaton auf den Unterschied zwischen Griechen und Barbaren hin. Die Griechen bilden eine echte Einheit, sie bilden einen Stamm, man kann oder man könnte ihnen eine Idee zuordnen. Bei den Barbaren aber gibt es unzählig viele Stämme und Völker, eine echte Einheit ist bei ihnen nicht zu finden (262 D). Könnte es nicht auch mit dem Ungerechten ebenso sein? Auch hier könnte doch das Gerechte eine echte Einheit sein, auf die sich dann die Idee des Gerechten gründet. Beim Ungerechten dagegen könnte es unzählig Vieles geben, und hier würde dann keine echte Einheit und also auch keine Idee existieren. Wie mag Piaton in dieser Frage gedacht haben? Es existieren zwei Möglichkeiten. Die eine Möglichkeit wäre die, daß im Sachverhalt selbst eine echte Disjunktion existiert: Entweder gibt es eine Idee der Ungerechtigkeit oder es existiert keine Idee der Ungerechtigkeit. Die Schwierigkeiten entspringen dann daraus, daß wir eine Entscheidung nicht treffen können, weil uns zureichende Argumente für ein Ja oder ein Nein fehlen. Die andere Möglichkeit wäre die, daß es in der Sache selbst nicht feststeht, ob es eine Idee der Ungerechtigkeit gibt oder nicht. Meine Meinung geht dahin, daß man auch die zweite Möglichkeit ernsthaft in Erwägung ziehen muß und daß man wohl annehmen kann, daß auch Piaton selbst die zweite Möglichkeit in Erwägung gezogen hat. Hätte er dies nicht getan, so wären die Differenzen seiner Aussagen nicht leicht zu verstehen. In dieser Frage, ob es eine Idee der Ungerechtigkeit gibt oder nidit, taucht die allgemeine Frage nach den Grenzen des Ideenreiches auf.
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Ist das Ideenreich wohlbegrenzt und wohldefiniert, so daß von jeder Vielheit feststeht, ob dazu eine Idee existiert oder nicht, oder liegt beim Ideenreich eine solche wohldefinierte Umgrenzung nicht vor? Hier wiederholt sich in gewisser Weise die Grundfrage der Ideenlehre. Eine Idee ist ihrem Wesen nach die Einheit einer Vielheit. Im Aufbau der Ideenlehre zeigt sidi aber, daß es viele Ideen gibt. Wir fassen die vielen Ideen zunächst mit dem Namen und dem Begriff des Ideenreiches zusammen. Notwendig aber muß sich die Frage nach der Struktur dieser Vielheit, nach der Struktur des Ideenreiches stellen. Für die hier auftretenden Fragen ist diese Unterscheidung zwischen geraden und ungeraden Zahlen ein Leitbild gewesen. Die logische Bedeutung dieser Unterscheidung ist ebenso groß wie die mathematische. Wir haben zwei Vielheiten, in diesem Fall sogar unendliche Vielheiten, die geraden und die ungeraden Zahlen. Uber ihnen steht jedesmal ein einheitlicher Begriff, eben der Begriff „gerade Zahl" beziehungsweise „ungerade Zahl". Diesem Begriff entspricht jedesmal eine Idee, die Idee „gerade Zahl" und die Idee „ungerade Zahl". Darüber steht eine neue Einheit, die Zahl als solche. Daß sidi in den platonischen Texten eine Idee von Zahl überhaupt nicht finden läßt, wenigstens soweit man bis jetzt weiß, ist freilich merkwürdig. Aber von dieser besonderen Frage der Ideenlehre abgesehen, liegen hier klare logische Sachverhalte vor. Von jeder Zahl steht fest, welcher der beiden Gruppen, gerade und ungerade Zahl, sie angehört, und keine kann beiden Gruppen angehören. Aber es ist die Frage, ob jede Vielheit und jede dazugehörige Einheit mit den Untergliederungen von dieser präzisen logischen Struktur sein muß. Für uns ist dies jetzt die Frage nach der Menge aller Vielheiten und ihrem Verhältnis zu den Ideen. Müssen alle Vielheiten in zwei präzise disjunktive Gruppen zerfallen, in die Gruppe derjenigen Vielheiten, zu denen es eine Idee gibt, und in die Gruppe derjenigen Vielheiten, für die es eine Idee nicht gibt? Ist es so wie bei den Zahlen, daß jede Vielheit zu einer der beiden Gruppen gehört? Daß es also unmöglich ist, daß es Vielheiten gibt, die beiden Gruppen angehören, daß es aber ebenso unmöglich ist, daß es Vielheiten gibt, die keiner der beiden Gruppen angehören? Wie liegt es besonders bei der Vielheit: alle Ideen? Was ist das aber für eine Vielheit und welche Struktur hat sie? Für das griechische Denken waren die Verhältnisse bei den Zahlen
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das Leitbild. Die Logiker und die Philosophen gingen davon aus, daß das Verhältnis von Einheit und Vielheit überall dieselbe Struktur hat. Der Gang des Denkens in Philosophie und Logik ist diesem griechischen Ansatz im wesentlichen gefolgt. Erst in den Untersuchun-i gen der Neuzeit und der Gegenwart über die Grundlagen der Logik und der Mathematik sind andere Möglichkeiten sichtbar geworden. Den Anstoß gab der Begriff: „alle Mengen". Die hier auftretenden Paradoxien zeigen, daß diese Vielheit nicht die klassische Struktur haben kann. Solchen Mengen, beispielsweise der Menge aller Mengen, fehlt vermutlich die disjunktive Eindeutigkeit, die feststellt, was zu ihnen gehört und was nicht. Will man nicht unabsehbare Einschränkungen der Mathematik und Logik hinnehmen, dann muß man auch andere Vielheiten dieser Art zulassen, etwa die Menge aller Zahlen oder die Vielheit: „die Mathematik". Während bei den klassischen Vielheiten die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit eindeutig ist, braucht dies bei den inkonsistenten oder offenen Mengen nicht der Fall zu sein. Mit diesen Problemen der Grundlagenforschung ist nun ein Sachverhalt von sehr weiter Gültigkeit angeschnitten worden. Dies läßt sich sowohl aus allgemein logischen als auch aus spezifisch philo-> sophischen Erwägungen plausibel machen. Für die allgemein logischen Probleme verweise ich besonders auf den „Familienbegriff" bei Witt-» genstein. Wittgenstein will offenbar deutlich machen, daß es auch andere Einheiten und Vielheiten gibt, als in der klassischen Struktur angenommen wird. Was die besonderen philosophischen Probleme anbetrifft, so verweise ich zunächst auf die Schwierigkeiten der Leibnizischen Monadenlehre. Der Umfang des Begriffs „Monade" läßt sich offenbar nicht genau begrenzen. Es gibt einfache und immer einfachere Monaden. Aber hat dies eine Grenze nach unten, und wo liegt diese Grenze? Hegel war der Auffassung, daß im Sinne von Leibniz auch die Kristalle Monaden sind14. Aber mehrere Stellen bei Leibniz sprechen dagegen; hier ist die Monade immer etwas Lebendiges15. Aber liegt hier überhaupt eine klassische Struktur vor? Ist es für jede Vielheit eindeutig, ob zu ihr eine Monade gehört oder nicht gehört? Leibniz unterscheidet mindestens zwei Weisen der Vielheit, und er unterscheidet deshalb das unum in ein unum per se und in ein unum per accidens16. Aber liegt hier wirklich eine strenge Disjunktion vor, ist wirklich jedes unum entweder ein unum per se oder ein unum
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per accidens? Man beginnt zu zweifeln, ob hier wirklich eine strenge Disjunktion vorliegt. Nicht anders liegt es bei der Kantischen Unterscheidung zwischen a priori und a posteriori. An vielen Stellen bringt Kant seine Überzeugung zum Ausdruck, daß es eindeutig feststeht, ob ein bestimmter Satz a priori oder a posteriori ist. Dann kann man sich auf die Naturgesetze beschränken und bei jedem Naturgesetz fragen: Ist es a priori oder a posteriori? Die Schwierigkeiten sind bekannt und zum mindesten in der Spätzeit auch von Kant selbst gesehen worden. Man kann daraus dodi nur den Schluß ziehen, daß die Vielheit: alle Sätze, alle Sätze a priori, alle Sätze a posteriori nicht dieselbe Struk-» tur hat wie die Vielheit: alle natürlichen Zahlen, alle geraden Zahlen, alle ungeraden Zahlen. Es scheint mir nun, daß man eine solche Möglichkeit auch bei unserem Problem in Betracht ziehen muß. Es ist nicht unbedingt notwendig, daß die Vielheit: alle Vielheiten, alle Vielheiten zu denen eine Idee gehört, alle Vielheiten zu denen keine Idee gehört, die klassische Struktur hat. Keineswegs muß an sich feststehen, ob zu einer bestimmten Vielheit eine Idee gehört oder nicht; und noch weniger muß dies entscheidbar sein. Unter diesen Voraussetzungen muß die Frage, ob es eine Idee der Ungerechtigkeit gibt, offenbleiben. Die Vielheit der Ideen muß als eine offene Vielheit betrachtet werden, und es muß Piaton zum Lob angerechnet werden, daß er diese Frage offengelassen hat. Zu den Fragen, die offenbleiben, gehört auch die Frage, ob es Ideen von individuellen Dingen gibt. Plotin hat dies in einer besonderen Abhandlung erörtert 17 . Gibt es eine Idee „Goethe", um auf unsere Fragestellungen umzulegen? Der Grundgedanke für eine solche Annahme ist der, daß eine solche Idee als ein Leitbild erscheint, daß in der Tat Goethe sein Leben aus einem solchen Leitbild heraus verstanden hat und daß es möglich ist, daß wir Goethe aus einem solchen Leitbild heraus verstehen. Allerdings ist dies eine Frage, die erst in dem späteren Gang der Ideenlehre aufgetreten ist; für Piaton selbst dürfte eine Idee „Sokrates" oder eine Idee „Perikles" undenkbar gewesen sein. Eine besondere Frage in dem Problem der Gesamtheit der Ideen spielt die Frage nach der Einheit des Ideenreiches. Eine solche Frage nach der Einheit des Ideenreiches erscheint allerdings gerade für Pia-
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ton unabweisbar. Wenn es viele schöne Dinge gibt, dann fordert die Ideenlehre aus ihrem Grundprinzip heraus, daß es eine Idee der Schönheit geben muß, die die Einheit der vielen schönen Dinge begründet. Piaton kennt im ersten Ansatz der Ideenlehre verschiedene Ideen, also viele Ideen. Aber diese Verschiedenheit der Ideen, diese Vielheit der Ideen ist ihm offenbar erst allmählich bewußt geworden. Gibt es viele Ideen, dann muß es nach dem Grundansatz der Ideenlehre eine besondere Realität geben, die es macht, daß jede dieser vielen Ideen eben eine Idee ist und daß die Vielheit der Ideen eine Einheit bildet. Aber welchen Charakter hat diese Einheit der vielen Ideen? Wir werden im Verlauf unserer Untersuchungen sehen, daß es einen gewissen Atomismus der Ideenlehre gibt, daß Piaton von den Eleaten her besonders im Beginn der Ideenlehre jede Idee als etwas ganz für sich selbst Existierendes ansehen wollte. Aber auch Piaton hat schon früh gesehen, daß es Zusammenhänge zwischen den Ideen gibt und daß die Philosophie sich mit diesen Zusammenhängen auseinandersetzen muß. Im Phaidon wird das Verhältnis der Ideen der Zwei und der Drei zu den Ideen des Geraden und des Ungeraden erörtert. Auch die Ideen der Tapferkeit und der Gerechtigkeit können nicht ohne Zusammenhang mit der Idee des Guten sein. Ebenso müssen die Ideen des Menschen und des Ochsen mit der allgemeinen Idee des Lebewesens zusammenhängen. Vielleicht ist das Gewicht solcher Zusammenhänge für Piaton allmählich stärker geworden, daß er sie bereits im Phaidon gesehen hat, ist ohne Zweifel. Es liegt nahe, diesen Zusammenhang in dem logischen Zusammenhang der Begriffspyramide zu suchen. Dann gibt das Zerfallen der allgemeinen Gattung „Zahl" in die Arten „gerade Zahl" und „ungerade Zahl" und in das weitere Zerfallen in die einzelnen Zahlen „Zwei", „Drei" usw. das allgemeine Schema der Begriffspyramide und damit das allgemeine Schema des Zusammenhanges der Ideen. Man hat die Begriffspyramide schon früher beachtet und sie dann als Arbor Porphyriana terminologisch fixiert. Immer wieder ist die Begriffspyramide als die eigentliche Leistung der Philosophie Piatons und als ihr eigentlicher Höhepunkt betrachtet worden. Ich darf in unserem Jahrhundert etwa auf Leisegang verweisen18. Nun hat Piaton auf die Herausarbeitung solcher Zusammenhänge, die auf eine Begriffspyramide führen,
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eine große Mühe verwandt, eine große Mühe in den Dialogen, die wir haben, eine vermutlich noch größere Mühe in den Diskussionen der Akademie, die wir nur aus lückenhaften Berichten kennen. Was die Dialoge anbetrifft, so darf ich nur auf den Anfang des Sophistes verweisen, wo in einer unendlich mühsamen Begriffsspaltung nach der Definition des Sophisten gesucht wird (Soph. 221 ff.). Für die definitorische Begriffsspaltung in der Akademie besitzen wir ein köstlidies Zeugnis aus einer antiken Komödie. Herter berichtet: „Noch unmittelbarer führt uns die Schilderung eines Komikers, so karikiert sie auch ist, in den Schulbetrieb selbst hinein. Hier berichtet jemand, was die Jüngelchen in der Akademie getrieben hätten: ,über die Natur machten sie Definitionen und sonderten das Reich der Tiere und die Natur der Bäume und die Arten der Gemüse. Und das prüften sie denn auch, zu welcher Art der Kürbis gehört'. Einer bezeichnete ihn als rundes Gemüse, ein anderer als Kraut und ein dritter als Baum; da macht ein sizilisdier Arzt, der zuhört, seinem Ärger über dies Geschwätz in drastischer Weise Luft, aber die Schüler lassen sidi nicht stören, und Piaton selber wird nicht ungeduldig und gibt ihnen auf, von neuem zu definieren: ,sie aber teilten und teilten'" 19 . Eine wie große Mühe sich Piaton auch um das dichotomische Verfahren gegeben hat, er kann unmöglich übersehen haben, daß die Begriffspyramide absurd wird, wenn sie absolut gesetzt wird. Dies wird besonders sichtbar in der Geometrie und in der Arithmetik. Es ist nicht möglich, die geometrischen Figuren in ein dichotomisches Verfahren zu pressen, und ein dichotomisches Schema der Zahl ist vollends unmöglich. Aus den Berichten, die wir haben, läßt sich schließen, daß Piaton auch den Zahlen mit aller Gewalt das dichotomische Schema aufzwingen wollte. Aber wenn Piaton in den Dialogen nichts davon erwähnt, so ist auch der Schluß möglich, daß Piaton die tiefe Bedenklichkeit eines solchen Verfahrens bei den Zahlen erkannt oder doch wenigstens intuitiv gefühlt hat. Piaton wäre nicht Piaton gewesen, wenn er in den Gewaltsamkeiten und Absurditäten einer totalen Begriffspyramide den Gipfelpunkt seiner Philosophie gesehen hätte. Die Dialoge geben keinen Anlaß, dies von ihm zu glauben. In der Politeia gibt Piaton eine ausdrückliche Antwort auf unsere Frage: Es gibt eine höchste Idee und dies ist die Idee des Guten.
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„Ebenso nun sage auch, daß dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten komme, sondern auch das Sein und Wesen habe es von ihm, obwohl das Gute selbst nicht das Sein ist, sondern noch über das Sein an Würde und Kraft hinausragt" (509 B). Nun ist diese Stelle nidht leicht zu interpretieren. Daß eine bestimmte Idee, nämlich die Idee des Guten, die höchste Idee sein soll, daß sie gewissermaßen die Idee der Ideen sein soll, daß muß auf große Schwierigkeiten führen und ist mit den Grundprinzipien der Ideenlehre gar nicht zu vereinen. So wird es verständlich, daß die Idee des Guten als die höchste Idee immer wieder als Gott interpretiert worden ist. Die Interpretation hat sich nidit endgültig durchsetzen können, sie hat sich aber auch nicht endgültig widerlegen lassen. Nun liegt es freilich aus dem Text nahe, diese Lehre der Politeia von der Idee des Guten als das letzte Wort und als die endgültige Meinung Piatons in dieser Frage zu verstehen. Aber dagegen erheben sich doch schwere Bedenken. Das schwerste Bedenken liegt darin, daß dieser Gedanke der Politeia in den späteren Dialogen nicht wieder auftritt und daß im Gegenteil im Sophistes eine andere Möglichkeit des Zusammenhanges der Ideen entwickelt wird. Im Sophistes handelt Piaton von sehr allgemeinen Begriffen, die er ausdrücklich als oberste Begriffe bezeichnet: Sein, Identität, Verschiedenheit, Bewegung und Ruhe. Es ist viel über die Frage diskutiert worden, ob es sich hier um Ideen handelt, und die Entscheidung ist wegen der Geschmeidigkeit der platonischen Terminologie nicht leicht. Es handelt sich um Begriffe von höchster Allgemeinheit. Sind es Ideen, dann gibt es eine Idee der Verschiedenheit und eine Idee des Nichtseins; es gibt also im Gegensatz zur Darstellung des Aristoteles auch Ideen von Relationen und Privationen. Man ist zunächst geneigt, die Frage, ob diese fünf höchsten Begriffe Ideen sind, verneinend zu beantworten. In der Tat fällt es sofort auf, daß Piaton hier den Terminus EIDOS sehr zurückhaltend benutzt und daß er den Terminus GENOS vorzieht. Aber die Terminologie von Piaton ist so beweglich, daß dies nicht allein den Ausschlag geben kann. Zwei der obersten Begriffe bezeichnet er im Sophistes ausdrücklich als Ideen, die Idee des Seins (254 A) und die Idee der Verschiedenheit (255 E). Außerdem spricht Plato in der einleitenden Bemerkung zu unserem Abschnitt doch ausdrücklich von Ideen: „So laß uns nun das Weitere
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in unserer Rede so nachholen, daß wir nicht etwa an allen Ideen betrachten, damit wir nicht durch die Menge in Verwirrung geraten, sondern an einigen der wichtigsten vorzugsweise (254 C) a . In Übereinstimmung mit den meisten Interpreten, besonders mit Natorp 20 und Ross21, entscheide ich mich dahin, daß es sidi bei den fünf obersten Gattungen des Sophistes um Ideen handelt. Diese fünf obersten Ideen: Sein, Identität, Verschiedenheit, Bewegung und Ruhe können auf keinen Fall in eine dichotomische Begriffspyramide gepreßt werden, und im Text findet sich auch kein Anhalt dafür. Man bezeichnet ihren Zusammenhang am besten als ein Netz, und dieser auch von Piaton selbst gebrauchte Ausdruck (262 C) ist allgemein üblich geworden. Man darf dann allerdings nicht vergessen, daß auch der Ausdruck „Netz" nur ein räumliches Bild ist, das schwerlich den Zusammenhang der Ideen im allgemeinen und den der fünf obersten Ideen im besonderen genau und restlos charakterisiert. Die Schwierigkeit einer angemessenen Interpretation hat ihren Grund in der großen Allgemeinheit dieser fünf obersten Ideen. Daß hier die eigentliche Schwierigkeit, aber auch die eigentliche Bedeutsamkeit der fünf obersten Ideen liegt, hat Piaton bereits selbst erkannt. Das Sein hat selbst Sein, ist mit sidi selbst identisch und von jedem anderen verschieden. Dies gilt auch von der Identität und von der Verschiedenheit. Dagegen haben Bewegung und Ruhe nur eine disjunktive Allgemeinheit. Piaton beginnt hier ein Problem zu untersuchen, das später als das Problem der Transzendentalien ein Grundproblem der Philosophie geworden ist. Dieser Zusammenhang mit dem späteren Transzendentalienproblem ist auch von den Interpreten bereits deutlich herausgearbeitet worden, besonders deutlich von Natorp 22 und von Ross23. Es ist nicht zu übersehen, daß diese beiden Lehren von Piaton nicht miteinander übereinstimmen. In der Politeia ist die Idee des Guten die oberste Idee, im Sophistes gibt es fünf oberste Ideen. Obwohl man mit Sicherheit damit rechnen kann, daß der Sophistes später datiert als die Politeia, sollte man daraus nicht den Schluß ziehen, daß Piaton die frühere Lehre der Politeia aufgegeben und durch die spätere Lehre des Sophistes ersetzt hat. Wichtig ist, daß in den späteren Dia-» logen keine der beiden Lehren wiederholt wird. Piaton hat die Frage in den späteren Dialogen nicht wieder aufgegriffen; er hat also He-
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sonders zu dem Widerspruch zwischen der Politeia und dem Sophistes keine Stellung genommen. Man muß also versuchen, sich eine eigene systematische Auffassung zu bilden und von da aus eine Hypothese zu finden, wie Piaton über diese Diskrepanz gedacht haben könnte. Wenn man zunächst eine systematische Entscheidung versucht, dann sieht man bald, daß es eine oberste Idee nicht geben kann. Wir haben sdion von den Schwierigkeiten gesprochen, die sich ergeben, wenn man alle Zahlen in das Prokrustesbett einer Begriffspyramide pressen will. Noch viel weniger ist es möglich, die Gesamtheit aller Ideen in eine Begriffspyramide zu bekommen. So ist es denn auch verständlich, daß von den im Sophistes genannten fünf obersten Ideen sich zum mindesten drei, nämlich Sein, Identität und Verschiedenheit nicht in eine dichotomische Begriffsgliederung mit einem obersten Begriff bringen lassen. Auf der anderen Seite spricht für die Auffassung des Sophistes, daß sidi hier ein ursprünglicher Zusammenhang mit dem für die Geschichte der Philosophie so folgenreichen Transzendentalienproblem eröffnet. Ich glaube daher, daß systematische Gründe entschieden für die Auffassung des Sophistes und ebenso entschieden gegen die Auffassung der Politeia sprechen. Dennoch glaube ich nicht, daß Piaton selbst bis zu einer solchen Entscheidung gekommen ist, und ich will ihm durchaus nicht eine solche Entscheidung unterstellen. Der Meinung von Piaton selbst wird man wohl am besten gerecht werden, wenn man sich vorstellt, daß er selbst eine endgültige Entscheidung nicht getroffen hat, daß er sich vielmehr darauf beschränkt hat, die beiden großen Möglichkeiten aufzuzeigen. § 6 Die
Zweiweltentheorie
Der terminologisch streng bestimmte Ausdruck „Zweiweltentheorie" stammt in dieser Form von Emil Lask 1 , wenn er auch in der Sache sehr viel älter ist. Ehe ich midi der Analyse der Zweiweltentheorie bei Piaton zuwende, werfe ich einen kurzen Blick auf den Gang des Problems in der Geschichte der Philosophie. Es ist gewiß Augustin gewesen, der den stärksten Anstoß zur formellen Ausbildung einer Zweiweltentheorie gegeben hat. Sein großes Werk De civitate Dei zielt schon im Titel darauf, der die
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Gegenüberstellung der civitas Dei gegen die civitas mundi impliziert. Dabei werden zwei Gegensätze wirksam. Einmal ist es der Gegensatz der Christen gegen die Heiden; die Christen bilden die civitas Dei, die Heiden die civitas mundi 2 . Zum anderen ist es der Gegensatz der glaubenden Seele gegen den sündenbeladenen und sündenverlangenden Leib 3 . In diesen zweiten Gegensatz fließen starke neuplatonische, echt platonische und allgemein hellenische Gedankengänge ebenso ein wie Gedankengänge des alten und des neuen Testaments. Eine neue Form nimmt die Zweiweltentheorie bei Descartes an in dem Gegensatz zwischen res cogitans und res extensa, der offenbar den alten Gegensatz zwischen Leib und Seele in einer sehr extremen Form weiterführt. Nachdem Descartes den Körper und die Seele grundsätzlich und extrem getrennt hat, findet er freilich große Schwierigkeiten, sie wieder zusammenzubringen. Der offenbare Zusammenhang zwischen Leib und Seele in der Wahrnehmung zwingt Descartes zu recht künstlichen Konstruktionen, die schon immer Befremden erregt haben. Aber auch die ontologischen Grundbestimmungen, die Bestimmung der Substanz und die allgemeine Bestimmung des Seins werden durch diese Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa in eine falsche Richtung gedrängt. So ist es verständlich, daß die philosophische Kritik gerade hier ansetzt. Leibniz wendet sich ausdrücklich gegen die Art dieser Unterscheidung. Er erhebt den Vorwurf, daß Descartes dadurch zu einem falschen Begriff der Substanz geführt worden sei 4 . Die Auseinandersetzung von Kant mit Descartes muß weitgehend von hier aus verstanden werden. Whitehead ist es gewesen, der die Auseinandersetzung mit Descartes in aller Form aufgenommen hat. Er sieht bei Descartes eine Teilung der Welt, die er als bifurcation bezeichnet, und legt die philosophische Schwäche dieser Teilung eindrucksvoll bloß 5 . Es mag verführerisch sein, Descartes als den eigentlichen Repräsentanten der Neuzeit anzusehen, aber man darf nicht außer acht lassen, wie wenige ihm wirklich gefolgt sind. Bei Leibniz findet sich eine weitgehende Zweiweltentheorie, die in einem engen, von Leibniz selbst ausgesprochenen Zusammenhang mit Piaton und Augustin steht. Dabei wird die Form, die Augustin der Ideenlehre gegeben hat, auf Leibniz eine besonders starke Wirkung ausgeübt haben. Die civitas Dei mit Gott als dem Regenten und den
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unsterblichen Seelen als Mitgliedern dieses Gottesreiches ist für Leibniz ein fundamentaler Begriff gewesen. Leibniz benutzt, wie wir gesehen haben, die Termini „regio" und „mundus", beziehungsweise „règne" und „monde". So sagt er in der Monadologie: „Et les deux règnes . . ." 6 . Im Brief an Wagner spricht er vom Parallelismus „gratiae et naturae" 7 . Diese beiden Reiche, diese beiden Welten spielen verständlicherweise eine große Rolle in der Theodizee. Den Zusammenhang mit Piaton hat Leibniz ausdrücklich in einem Brief an Hansch berührt: „ . . . esse in divina mente mundum intelligibilem, quem ego quoque vocare soleo regionem idearum" 8 . Diese Zweiweltentheorie von Leibniz meint ontologisdi das substanzielle Sein der Monaden und das bloß relationale Sein der räumlich-zeitlichen Natur. Sie meint damit die ontologische Unterscheidung zwischen dem realen Sein der Monaden und dem phänomenalen Sein der Natur. Diese strenge Dichotomie zwischen realem Sein und phänomenalem Sein wird dann zu einer Seinsstufung weitergebildet, die im Ideal zu einer kontinuierlichen Seinsstufung führen würde. In meiner Leibnizdarstellung habe ich versucht, diese ursprüngliche Zweiweltentheorie und ihre Weiterbildung zu einer kontinuierlichen Seinsstufung zu analysieren 9 . Man kann sagen, daß bei Leibniz ein eigentümlicher Zwiespalt zu finden ist. Auf der einen Seite steht eine sehr traditionelle Zweiweltentheorie, auf der anderen Seite steht das Streben nach ihrer Verfeinerung, wenn nicht sogar nach ihrer Aufhebung. Es ist nicht schwer, denselben Zwiespalt auch bei Kant zu finden. Einen prägnanten Ausdruck einer Zweiweltentheorie stellt die Dissertation des Jahres 1770 dar. Er wird dort bereits im Titel ausgesprochen: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et prineipiis 10 . Die Dissertation ist noch in starkem Maße von Leibniz abhängig, die Phänomenalität des mundus sensibilis11 und die Realität des mundus intelligibilis12 nehmen die Unterscheidungen von Leibniz auf und führen sie weiter. In der Dissertation wird dieser Unterschied zwischen dem realen Sein und dem phänomenalen Sein, mag auch der Ausdruck „mundus" dem deutschen Ausdruck „Bereich" näher stehen als der Vorstellung von zwei Welten, geschweige denn der bildkräftigen Unterscheidung von Himmel und Hölle, dargelegt. Die noch von starken Anschauungen gesättigte Unterscheidung der Dissertation
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tritt in der Kritik der reinen Vernunft entsdiieden zurück, besonders in dem Kapitel über die Phänomena und Noumena, das die transzendentale Dialektik abschließt, indem sie die Unterscheidung zum Thema macht. Hier ist das Noumenon zu einem theoretischen Grenzbegriff geworden 13 . Begrifflich und anschaulich stärker wird der Unterschied wieder in der Kritik der praktischen Vernunft. Hier wird in der Nachwirkung Augustins die Gemeinschaft aller denkenden Wesen als das Reich Gottes mit Gott als dem obersten Regenten verstanden 14 . Einen entschiedenen Ausdruck findet die Zweiweltentheorie Kants in dem berühmten Schluß der Kritik der praktischen Vernunft. Die Unterscheidung wird zunächst verhältnismäßig neutral eingeführt: „ . . . der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir 15 ". Dann spricht Kant ausdrücklich von dem Platz, „den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme" 16 und schließlich in einer weiteren Steigerung von einem „von der ganzen Sinnenwelt" unabhängigen Leben, „von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstände spürbar ist" 17 . Man sieht, wie stark hier eine Zweiweltentheorie wirksam ist, man muß freilich auch sehen, wie sehr Kant im Ganzen bemüht ist, eine naive Zweiweltentheorie zu überwinden. Kant wendet sich stets gegen Descartes, wenn dieser den Menschen in zwei Substanzen trennt, in die res cogitans und in die res extensa. Dies lehnt Kant mit Entschiedenheit ab. Er ist vielmehr der Uberzeugung, daß ich als ebenderselbe beiden Welten angehöre. In diesem Sinne sagt er ausdrücklich: „ . . . ich sehe sie vor mir, und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz" 18 . So sind die beiden Welten verschieden, aber weil ich als ebenderselbe beiden angehöre, sie beide vor mir sehe, sie beide mit dem Bewußtsein meiner Existenz verknüpfe, gehören sie doch wieder zusammen. Die ontologische Bestimmung sowohl der Verschiedenheit als auch der. Zusammengehörigkeit der beiden Welten bringt Schwierigkeiten mit sich, die schwerlich vollkommen aufzulösen sind. Kant ist sich dieser Schwierigkeiten durchaus bewußt gewesen. Eine Zweiweltentheorie in einer freilich sehr abstrakten Form findet man auch bei Nicolai Hartmann. Sie tritt dort auf als die Unterscheidung zwischen der realen und der idealen Sphäre 19 . Nun ist zwar Hartmann bemüht, von dieser Unterscheidung jede anschauliche
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Zweiweltentheorie fernzuhalten, um so bemerkenswerter ist es, daß auch er für seine Unterscheidung der realen und idealen Sphäre auf anschauliche Mittel der Darstellung zurückgreifen muß, obwohl solche anschaulichen Mittel hier gar nicht auftreten dürften und von Hartmann gewiß nicht gewollt sind. Wir wenden uns nach diesem kurzen Exkurs Piaton selbst zu. Es ist unsere Absicht, die Zweiweltentheorie bei Piaton zunächst mit allem Nachdruck darzustellen. Die Frage, ob sie das letzte Wort von Piaton ist und ob Piaton sie im philosophischen Sinne überhaupt wirklich gewollt hat, behalten wir späteren Analysen vor. Unter diesem Gesichtspunkt kann nicht bestritten werden, daß der Mythos des Götterzuges im Phaidros eine so extreme Zweiweltentheorie darstellt, wie sie selbst bei Piaton selten zu finden ist. Der Philosoph folgt dem Zug der Götter, wenn auch nicht ohne Mühe. Als er mit diesem Zug um den obersten Rand des Himmels herumkommt, sieht er dort im überhimmlisdien Ort die Ideen stehen (247). Der Götterzug selbst ist eine der alten griechischen Mythen. Nicht zu verkennen ist der Anklang an die Fahrt des Philosophen, mit dem das Gedicht des Parmenides beginnt. Der Schluß des Mythos bringt ein kleines Satyrspiel. Nach der Rückkehr werden die Pferde des Philosophen ausgeschirrt und mit Nektar getränkt. Soll dieser Schluß den Ernst des Mythos etwas mildern? Die Transzendenzvorstellung ist so klar zum Ausdruck gebracht, daß eine Uminterpretation nicht möglich ist. So haben sich denn viele Interpreten damit begnügt, diesen Mythos des Phaidros als einen Rückfall in eine längst überwundene Mythologie abzutun. Wir glauben nicht, daß dies der richtige Weg ist. Wir glauben vielmehr, daß die Zweiweltentheorie hier von Piaton unmißverständlich zum Ausdruck gebracht worden ist und daß dies auch in der Interpretation zum Ausdruck kommen muß. Man muß davon ausgehen, daß jedes Denken und Sprechen von Ideen, daß jedes Denken und Sprechen von Allgemeinbegriffen überhaupt anschauliche Momente enthält und enthalten muß. Wenn dem so ist, so ist es verständlich, daß Piaton diese Notwendigkeit der anschaulichen Momente in der Ideenlehre voll ausschöpft. Dabei müssen Schwierigkeiten auftreten. Es wird ein wesentliches Ziel unserer Interpretation sein, zu zeigen, daß Piaton diese Schwierigkeiten bereits selbst erkannt hat. Das heißt für diese
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Frage, daß Piaton die Schwierigkeiten einer Zweiweltentheorie bereits selbst gesehen hat. Aber um diese Problematik Piatons zu verstehen, darf man die Schwierigkeiten nicht von vornherein abschieben. Das Ringen Piatons um eine Zweiweltentheorie und gegen eine Zweiweltentheorie kann nur dann richtig verstanden werden, wenn man sich deutlich macht, wie weit Piaton den Notwendigkeiten, aber audi den Verlockungen einer Zweiweltentheorie gefolgt ist. Von hier aus bekommt auch das Transzendenzproblem im Symposion eine neue Bedeutung. Begeistert spricht dort Piaton zunächst von dem Aufsteigen der Schönheit des einzig Geliebten zu der Schönheit aller schönen Menschen, von dem Aufsteigen zu der Schönheit der Gedanken und zuletzt von dem Aufsteigen zur Idee der Schönheit selbst. Auch hier steht die Schönheit selbst, die Idee der Schönheit weit über allen schönen Dingen, über allen schönen Menschen, über allen schönen Gedanken. Es ist wahr, daß Piaton nicht im strengen terminologischen Sinne von der Idee der Schönheit spricht. Aber Piaton spricht niemals die Sprache eines ontologischen Lehrbuches, und im Symposion könnte er sie am allerwenigsten sprechen. Auf keinen Fall sollte man hinweginterpretieren, was Piaton hier sagt. An Versuchen dazu fehlt es nicht. Man hat etwa darauf hingewiesen, daß im Grunde nicht einmal Sokrates selbst diesen Aufstieg schildert, sondern daß Sokrates nur das wiedergibt, was Diotima ihm erzählt hat (201 D). Würde man einen solchen Maßstab anlegen, dann bliebe von Piaton selbst freilich gar nichts übrig. Wenn alles, was Diotima sagt, was Timaios sagt, was Parmenides sagt, was Sokrates sagt, die Meinung dessen ist, der es in den platonischen Dialogen sagt, dann ist Piaton ein vorzüglicher Journalist, aber gewiß kein Philosoph. Man muß also, so möchte ich glauben, die im Aufstieg des Symposions allerdings sehr anschaulich vorgetragene Zweiweltentheorie zunächst gelten lassen, nicht um sie als das letzte Wort Piatons zu einem Dogma zu erheben, sondern um in ihr eine Möglichkeit, in einem gewissen Maße sogar eine Notwendigkeit des Denkens und seiner Darstellung zu erkennen. Daß der Transzendenzgedanke im Symposion eine besondere Stärke hat, darauf hat Ross ausdrücklich hingewiesen20. Daß auch der Phaidon durchgängig vom Mythos und von der Transzendenzvorstellung bestimmt ist, das ist schon immer gesehen wor-
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den und das ist audi gar nicht zu übersehen. Hier wird die Transzendenzvorstellung nach zwei Richtungen wirksam, einmal nach dem Leib-Seele-Problem, das andere Mal nach der transzendenten Realität der Ideen. Daß am Todestag des Sokrates die Fragen nach der Unsterblichkeit der Seele und also die Fragen nach der Existenz der Seele nach dem Tode zum Thema der Gespräche werden, das ist in sich verständlich. Mit Recht trägt der Dialog seit alten Zeiten den Doppeltitel: Phaidon oder über die Unsterblichkeit der Seele. Man darf zweifeln, ob die im Dialog vorgetragenen Beweise für die Unsterblichkeit der Seele jeden Leser befriedigen und ob sie jeder Kritik standhalten. So richtet sich das Interesse des Lesers bald auf die Vorstellungen Piatons von der Existenz der Seele. Wie existiert sie hier im Leben mit dem Leib zusammen? Wie existiert sie nach dem Tode, nach der Trennung vom Leib? Man darf hier in besonderer Weise Wilamowitz-Möllendorff folgen. Er hat gezeigt, wie vielfältig die Vorstellungen sind, zwischen denen zu wechseln der griechische Mythos stets geneigt war. Wilamowitz-Möllendorff sagt dann zusammenfassend: „In seinem Glauben wird immer festgestanden haben, daß der Mensch ein Doppelwesen ist, daß sein besserer Teil, die Seele, zum Herrschen über den Leib berufen ist, wo ihm dann die Forderung: „sei stärker als du selbst", so sehr er mit dem einverstanden war, was sie verlangte, darum anstößig sein mußte, weil der Mensch selbst die Seele war, die sich stärker als die Begierde erweisen sollte. Auch daß die Seele sich im Tode vom Körper scheide, um körperlos in einem Jenseits fortzuleben, und daß ihr Befinden dort von ihrem sittlichen Vorleben abhänge, wird er immer geglaubt haben. Lehren genug hatte er vernommen, die von Delphi, von den Orphikern und Pythagoreern herkamen, aber keineswegs nur in diesen Kreisen verbreitet wurden und die äußerliche Reinigung und Reinheit auf das sittliche Gebiet übertragen hatten. Alles was ihnen von Äußerlichkeiten anhaftete, Waschen und Fasten und Opfern, streifte er ab; aber sonst nahm er die Bändigung der fleischlichen Triebe sehr ernst, und den Sokrates läßt er hier eine fast asketische Lebensverneinung predigen, die niemals ein Beweis für die Unsterblichkeit der Seele sein kann, vielmehr diesen Glauben voraussetzt, aber durch ihre sittlich^ Werbekraft allerdings diesem Glauben vielleicht mit besserem Erfolge Anhänger gewinnen mag als die folgenden Beweise" 21 .
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Teil I: Die Ideenlehre
Im Zusammenhang der Trennung der Seele vom Körper fällt das Wort Chorismos (67 D). Damit wird ein Vorstellungskreis berührt, der für die Ideenlehre schon bei Piaton selbst und in noch stärkerem Maße bei Aristoteles bedeutsam werden wird. In diese Vorstellung von der transzendenten Existenz der Seele nach dem Tode, mag sie auch noch in verschiedenen Formen auftreten, ist die Vorstellung von der transzendenten Existenz der Ideen unaufhebbar eingebunden. Es ist die Anamnesislehre (72 E), die zwar schon im Menon vorbereitet wurde, die aber jetzt im Phaidon voll entfaltet wird. Die Ideen des Phaidon sind, von einigen weitergreifenden Vorgriffen abgesehen, die logischen, die mathematischen, die ethischen und die ästhetischen. Die große Ideentrias des Schönen, Guten und Gerechten steht fühlbar im Vordergrund. Eine jede Erkenntnis kann nichts anderes sein als eine Erkenntnis durch Ideen, und jede Erkenntnis der Ideen wiederum kann nichts anderes sein als Wiedererkenntnis und also Wiedererinnerung. Unsere Seele muß also die Ideen schon vor der Geburt in dieses Leben gekannt haben. Daraus folgt weiterhin, daß die Ideen außerhalb dieser sinnlich wahrnehmbaren Welt existieren müssen, und Piaton sagt dies auch ausdrücklich. An dieser Anamnesislehre sind mandie Zweifel erhoben worden. In der Tat wird das Problem nur zurückgeschoben. Wenn es hier unmöglidi ist, das Schöne zu erkennen, wenn das Schöne nicht immer sdion erkannt ist, so ist nicht einzusehen, wie ein erstes Erkennen des Schönen in einem Leben vor der Geburt möglich sein sollte. Natorp betont mit allem Nachdruck die logisdien Momente des Phaidon 22 , jeden Mythos und jede Transzendenzvorstellung lehnt er um jeden Preis ab. Nun soll die Bedeutung der logisdien Momente nicht bestritten werden, und schon gar nicht in der hier vorgelegten Interpretation, die Gewicht auf die Bedeutung der Ideenlehre für das Logische legt. Sdiiebt man aber Mythos und Transzendenz völlig beiseite, dann verstößt man gegen den klaren Wortlaut des Textes. Es kann nicht die Aufgabe des Interpreten sein, Mythos und Transzendenz aus dem Phaidon hinwegzuinterpretieren, es muß seine Aufgabe sein, Mythos und Transzendenz im Phaidon zu verstehen. Von großer Bedeutung scheint mir zu sein, daß auch die Politeia vom Mythos, von der Transzendenzvorstellung und von der daraus folgenden Zweiweltentheorie völlig durchtränkt ist. Niemand wird
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verkennen wollen, welche Bedeutung in der Politeia logische und wissenschaftstheoretische Erwägungen haben. Die Mitte des großen Werkes machen die Untersuchungen über die Ideenlehre zusammen mit den Untersuchungen über die Wissenschaften aus. Die Philosophie erreicht ihr Ziel und ihre Vollendung in der Ideenlehre, aber ihr Weg dahin geht durch die Wissenschaften. Es ist fühlbar, wie sehr Piaton daran gelegen war, seine Vorstellungen von der Philosophie ebenso wie seine Vorstellungen von den Wissenschaften in der Akademie zu verwirklichen. Was hierzu in der Politeia weit ausholend und ausführlich immer wieder gesagt wird, wird stets das Interesse der Leser auf sich ziehen. Aber er muß sich den Blick auch dafür offenhalten, welche Bedeutung hier Mythos, Transzendenz und Zweiweltentheorie haben. Es ist gewiß kein Zufall, wenn der große Mythos vom Leben der Seele nach dem Tode die zweite Hälfte des zehnten Buches einnimmt und damit den Schluß und die Vollendung der Politeia im Ganzen ausmacht. Die Seelen müssen nach dem Tode vor ihre Richter treten, und diese Richter werden die Gerechten von den Ungerechten scheiden. Den Gerechten werden sie befehlen, den Weg nach rechts oben durch den Himmel einzuschlagen, den Ungerechten aber den Weg nach links unten (614 C). Freilich stehen schon hier unten alle unter der Anangke, unter der Notwendigkeit, und es ist ihnen das Schicksal beschieden, das sie sich von den drei Moiren, Lachesis, Klotho und Atropos, gewählt haben (617 C). So schließt dieser Mythos und damit die Politeia mit dem Anruf: „Sondern wenn es nach mir geht, wollen wir, in der Überzeugung, die Seele sei unsterblich und vermöge alles Übel und alles Gute zu ertragen, uns immer an den oberen Weg halten und der Gerechtigkeit mit Vernünftigkeit auf alle Weise naditrachten, damit wir uns selbst und den Göttern lieb seien, sowohl während wir noch hier weilen, als auch wenn wir den Preis davontragen, den wir uns wie die Sieger von allen Seiten umher einholen, und hier sowohl als auch auf der tausendjährigen Wanderung, von der wir eben erzählt, uns wohl befinden" (621 C). Eine Zweiweltentheorie kann nicht anschaulicher sein. Die Seele trennt sich im Tode vom Leib. Sie wird gerichtet werden. Ihr Ziel ist der Weg nach oben. Dies darf nicht in einem humanitären Entwicklungssinn als eine Höherentwicklung verstanden werden, sondern es meint in der Tat die dort oben liegende Welt des reinen Seins.
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Der Mythos und die Zweiweltentheorie tragen aber auch die drei großen Gleichnisse, die in der Mitte der Politeia die Ideenlehre begründen, unter ihnen besonders das Liniengleichnis und das Höhlengleichnis. Das Liniengleichnis vergleicht die vier Bereiche des Seins, die Ideen, die Gegenstände der Mathematik, die Dinge und die Spiegelbilder und Schatten mit den vier Abschnitten einer Linie, die in einer bestimmten Weise geteilt ist. Diesen vier Bereichen des Seins, verglichen mit den vier Abschnitten der Linie, ordnet Piaton vier Erkenntnisvermögen zu, die NOESIS, die DIANOIA, die PISTIS und die EIKASIA. In der Einleitung des Liniengleichnisses greift Piaton ausdrücklich auf die Lehre des Phaidon von den zwei Weisen des Seins zurück (509 D). Auch das zentralste der drei Gleidinisse aus der Mitte der Politeia, das Höhlengleichnis, darf nicht ausschließlich aus einer humanitären Entwicklungslehre heraus verstanden werden. Es muß vielmehr in seiner vollen Ansdiaulidikeit gesehen werden. Die Menschen sind in einer Höhle angeschmiedet, so daß sie nicht einmal den Kopf bewegen können. Sie sehen daher nur die Schatten, die die Dinge, die hinter ihnen vorbeigetragen werden, auf die Wand der Höhle werfen. Aus dieser Fesselung müssen die Menschen befreit werden. Sie werden dann den Weg aus der Höhle, den Weg nach oben gehen. Dort werden sie die wirklichen Dinge sehen und nicht nur die Schatten, dort wird ihnen die wirkliche Sonne leuchten und nicht nur ein Feuer. Ebenso sehen, dies will das Höhlengleidinis sagen, die Mensdien, die hier auf der Erde leben, nur Schatten. Sie müssen durch die Philosophie befreit und nach oben geführt werden. Wie ist der Weg nach oben zu denken? Wir sind nur allzusehr geneigt, dies im Sinne einer humanitären Pädagogik zu verstehen. Dort soll die Erziehung den Menschen nach oben führen, und dies soll bedeuten, daß der Mensch in seiner Existenz von einer tieferen auf eine höhere Stufe geführt werden soll. Nun soll das pädagogische Moment des Höhlengleichnisses gewiß nicht verkannt werden. Es erscheint mir aber zweifelhaft, ob diese pädagogische Interpretation den Sinn des Höhlengleichnisses voll ausschöpft. Ich glaube vielmehr, daß dies „nach oben" meint, daß die Dinge hier unten sind und die Idee dort oben und daß damit dasselbe gesagt werden soll wie im Schlußmythos.
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Piaton gibt für das Höhlengleichnis eine ausdrückliche Erläuterung (517 B). Der in der Höhle gefesselte Mensch kann nur die Schatten sehen und muß die Schatten für das allein Wirkliche nehmen. Es sind aber die Dinge hier auf der Erde in Raum und Zeit, die die Schatten hervorrufen und die im Verhältnis zu den Schatten die eigentliche Wirklichkeit darstellen. Mit dem in der Höhle Gefesselten wird der Mensch verglichen, wie er hier auf der Erde lebt und wie er die raumzeitlichen Dinge hier für die eigentliche Wirklichkeit nimmt. Aber damit täuscht er sich. Das allein Wirkliche sind die Ideen dort oben, die die Dinge hier unten hervorrufen und begründen. So wie der Mensch, der in der Höhle lebt, aus seinen Fesseln und Irrtümern gelöst werden muß, so muß der Mensch, so wie er hier unten lebt, zur Schau der Ideen nach oben geführt werden. In einer solchen Führung des Menschen liegt auch ein pädagogisches Moment als eine große Aufgabe der Philosophie. Aber die Grundlage des Höhlengleichnisses und damit auch die Grundlage seiner philosophischen Bedeutung ist dodi die ontologische Unterscheidung: Hier unten ist der Mensch, wie er so zu leben pflegt und dort oben sind die Ideen. Dies ist aber eine Zweiweltentheorie sogar in einer Anschaulichkeit, wie sie auch von Piaton nur selten ausgesprochen wird. Dort unten in der Höhle die gefesselten Menschen, das Feuer und die Schatten, dort oben die Sonne und die wirklichen Dinge. In dem aber, was der Vergleich deutlich machen will, wird das dort oben zum hier unten, hier unten die Menschen, die nur im Irrtum leben und hier unten die Dinge dieser Erde, die doch nicht die eigentliche Wirklichkeit sind, dort oben aber die Ideen. In Wirklichkeit sind die Dinge dieser Erde nichts anderes als Schatten, die Menschen hier auf der Erde sind nichts anderes als Gefesselte, die im Irrtum leben, sie sind unten. Die wirkliche Wirklichkeit sind die Ideen, erleuchtet von der obersten Idee, der Idee des Guten; sie sind oben. Diese räumlichen Vorstellungen einer Zweiweltentheorie kommen aber nicht nur im Höhlengleichnis zum Ausdruck, sondern finden sich an vielen Stellen. Wie wir gesehen haben, verwendet Piaton drei Ausdrücke, um die beiden Bereiche, den Bereich der Ideen und den Bereich der Dinge zu charakterisieren: T O P O S , G E N O S , K O S M O S . Hier ist es vor allem der TOPOS, der mit räumlichen Anschauungen getränkt ist. Man kann vielleicht den H Y P E R O U R A N I O S T O P O S
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des Phaidros noch zum Mythos rechnen. Aber der N O E T O S TOPOS muß doch zur ausdrücklichen ontologischen Bestimmung gerechnet werden. Wir haben bereits gesehen, wie weit diese räumliche Vorstellung in der regio idearum bei Leibniz, in der intelligiblen Welt bei Kant weiterwirken. So erweisen sich auch unter diesem Gesichtspunkt die vier großen Ideendialoge, der Phaidros, das Symposion, der Phaidon und die Politeia als einheitlich. Die Welt hier unten ist nicht die wahre Wirklichkeit, die wahre Wirklichkeit ist die Welt der Ideen dort oben. Ich darf wiederholen: Ich will nicht sagen, daß dies Piatons eigentliche Überzeugung und daß diese Zweiweltentheorie das letzte Wort Piatons ist. Man muß sich vielmehr vor Augen halten, daß diese räumliche Darstellung des Unterschieds zwischen Ideen und Dingen eine N o t wendigkeit unseres Denkens und Sprechens ist. Viele Schwierigkeiten entspringen daraus. Piaton selbst hat diese Schwierigkeiten bereits gesehen und sie besonders im Parmenides und im Sophistes zur Diskussion gestellt. Aber um die Bedeutung der damit auftretenden Schwierigkeiten und die auf diese Schwierigkeiten gerichtete Reflexion Piatons zu erkennen, muß man klar sehen, wie weit Piaton in der Richtung einer Zweiweltentheorie gegangen ist.
§ 7 Personifizierung und
Hypostasierung
Aristoteles erhebt den Vorwurf, Piaton habe die Ideen zu Dingen gemacht 1 . Gegen einen solchen Vorwurf hat sich N a t o r p mit allem Nachdruck gewandt 2 . Von einer Verdinglichung kann, so sagt er, bei Piaton durchaus keine Rede sein. Wenn Aristoteles diesen Vorwurf erhebt, so handelt es sich, so meint Natorp, um ein völliges Mißverständnis Piatons durch Aristoteles 3 . In der philosophischen Tradition spricht man gern von Hypostasierung. Der Terminus ist, so viel ich weiß, zuerst durch Plotin in philosophischer Bedeutung gebraucht worden. Plotin meint mit HYPOSTASIS das Auf-sich-selbststehen der Ideen 4 und er braucht den Terminus wesentlich in positiver Bedeutung. Später ist Hypostasis wesentlich in negativer Bedeutung gebraucht worden. Der Terminus kommt bei Piaton nicht vor, bei Aristoteles kommt er zwar vor, aber nicht in ontologischer Bedeutung.
§ 7 Personifizierung und Hypostasierung
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Der Vorwurf der Hypostasierung ist in der philosophischen Tradition oft wiederholt worden, und zwar vorwiegend von nominalistisdier Seite. Er wird schlechthin in den Vorwurf zusammengefaßt: Piaton hat die Ideen hypostasiert. Piaton hat das Allgemeine zu eignen Dingen, zu eignen Wesenheiten, zu eignen Realitäten erhoben, und er hat damit den irreparablen Grundfehler der Ideenlehre begangen. Allein, so einfach liegen die Dinge nicht. Es ist richtig, daß das griechische Denken in besonderem Maße zur Personifizierung und zur Hypostasierung neigt. Es ist richtig, daß das griechische Denken in besonderer Weise dazu neigt, die Schönheit zu personifizieren und zu hypostasieren, ihr als der Aphrodite zu huldigen. Es ist richtig, daß Piaton dieser Neigung des griechischen Denkens durch die Lobreden auf den Eros im Symposion einen Ausdrude verliehen hat, den zu bewundern man niemals aufhören wird. Aber diese Neigung des griechischen Denkens und des aus ihm lebenden Denken Piatons ist, wenn es ein Übel ist, doch ein unumgängliches Übel. Das wenigste, was man wird sagen können, wäre, daß es ein notwendiges Übel ist. Es handelt sich, davon sind wir überzeugt, um einen ursprünglichen Grundzug allen Denkens überhaupt. Es mag schon sein, daß dieser Grundzug des Denkens überhaupt im griechischen Denken besonders ausgeprägt ist. Aber es gibt nach unserer Uberzeugung kein Denken, das rein im Abstrakten lebt. Jedes Denken, das wirklich Denken sein will, bezieht seine Kraft aus seinen anschaulichen Ursprüngen. Es war diese Freude der Griechen an Personifizierung und Hypostasierung, die es möglich gemadit hat, daß im griechischen Denken die Wissenschaften entstanden sind. Freilich besteht die Gefahr, daß schon der Terminus der Personifizierung in die Irre führt. Im neunzehnten Jahrhundert ist es besonders Usener gewesen, der die griechisch-römische Mythologie als Personifizierung verstanden hat 5 . Für ihn bedeutet Personifizierung, daß ein allgemeiner Begriff zu einer anschaulichen Gestalt personifiziert wird. So wird der allgemeine Begriff der Gesundheit in der Gestalt der Hygieia personifiziert6. In dieser Auffassung ist die implizite Voraussetzung enthalten, daß zunächst der allgemeine Begriff existiert und daß er dann in der anschaulichen Gestalt personifiziert wird. Es mag schon sein, daß es oft bei uns so ist und daß es in nicht wenigen
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Teil I: Die Ideenlehre
Fällen audi bei den Griedien und den Römern so ist. Wenn die Arithmetik personifiziert wird, dann geht der Begriff der Arithmetik der Personifizierung voraus. Aber dann handelt es sich um ein spätgriechisches Denken, und es handelt sich nicht mehr im vollen Sinne um eine Personifizierung, sondern eigentlich nur noch um eine Allegorie. Man muß sich vielmehr, und dies hat in besonderer Weise Herter gezeigt7, von der Abfolge: allgemeiner Begriff — Personifizierung lösen. Es ist nicht so, daß es ursprünglich einen allgemeinen Begriff der Gesundheit gibt und daß dann dieser abstrakte Begriff personifiziert wird, sondern allgemeiner Begriff und Personifizierung dieses allgemeinen Begriffes sind eine ursprüngliche Einheit. Es gibt nur Eines, das ursprünglich zugrunde liegt und das sich dann erst in den abstrakten Begriff und in die anschauliche Person differenziert. Dies ist eine Struktur, die für uns nicht leicht nachzuvollziehen ist, wir werden aber im Sein des Parmenides und im Eros des Symposion überzeugende Beispiele dafür finden. Aus diesen allgemeinen Erwägungen ergibt sich, daß es gewiß nicht die Philosophie ist, der die Personifizierung und die dann folgende Hypostasierung zur Last zu legen ist. Es ist nicht die Philosophie, der die anziehende Gestalt der Aphrodite zu danken ist, sondern der Mythos und die Kunst haben sie gesdiaffen. Es ist nicht die Philosophie, die uns den Tod in der Gestalt des Knochenmannes und in manchen anderen Gestalten vor Augen gestellt hat, sondern auch dies haben der Mythos und die Kunst getan. Es ist nicht zu leugnen, daß auch die Philosophie weithin an der Personifizierung und an der Hypostasierung teilgenommen hat, aber gerade die Philosophie hat versucht, durch eine Reflexion auf diesen Vorgang die notwendigen Grenzen abzustecken. In besonderem Maße gilt dies für Piaton. Die griechische Freude an der Anschauung gehört zu den Wurzeln des Denkens Piatons. Sie greift tief in die Ideenlehre hinein. Aber es ist das besondere Anliegen unserer Interpretation, deutlidi zu machen, daß Piaton in seiner Reflexion auf die eigne Ideenlehre die hier entstehende Problematik erkannt hat. Sehen wir die Dinge aber so, dann ist es nicht notwendig, jede Personifizierung und jede Hypostasierung bei Piaton ängstlich abzuwenden, selbst dann nicht, wenn sie in der Ideenlehre wirksam werden. Die Einsicht in die philosophische Reflexion setzt vielmehr im Gegenteil voraus, daß wir zunächst deut-
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lidi erkennen, wie weit Piaton den Weg der Personifizierung und Hypostasierung gegangen ist. Wenden wir uns unter diesem Gesichtspunkt der Personifizierung bei Piaton zu, dann finden wir in den platonischen Dialogen eine solche Fülle von Personifizierungen, daß im Rahmen unserer Interpretation eine auch nur annähernd erschöpfende Darstellung nicht möglich ist. Wir müssen uns auf einige charakteristische Phänomene beschränken. Im großen Schlußmythos der Politeia wird die Notwendigkeit, die Anangke, personifiziert. Ihr gesellen sich die drei Moiren hinzu. Piaton sagt: „Gedreht aber werde die Spindel im Schöße der Notwendigkeit. Auf den Kreisen derselben aber säßen oben auf jeglichem eine mit umschwingende Sirene, eine Stimme von sich gebend, jede immer den nämlichen Ton, aus allen achten aber insgesamt klänge dann ein Wohllaut zusammen. Drei andere aber, in gleicher Entfernung ringsumher jede auf einem Sessel sitzend, die weiß bekleideten, am Haupte bekränzten Töchter der Notwendigkeit, die Moiren Lachesis, Klotho und Atropos, sängen zu der Harmonie der Sirenen, und zwar Lachesis das Geschehene, Klotho das Gegenwärtige, Atropos aber das Bevorstehende. Und Klotho berühre von Zeit zu Zeit mit ihrer Rechten den äußeren Umkreis der Spindel und drehe sie mit, Atropos aber ebenso die inneren mit der Linken, Lachesis aber berühre mit beiden abwechselnd beides, das äußere und innere" (617 B). In den platonischen Dialogen entfaltet sich die ganze Fülle der griechischen Götterwelt und der in ihr enthaltenen Personifikationen. In den Nomoi gibt es Weihbezirke, die dem Helios und dem Apollon gemeinsam sind (945 E). Im Theaitetos erinnert Pia ton an die Personifikation des Okeanos und der Thetis: „Haben wir nun nicht die Aufgabe zuerst von den Alten, welche sich mit Hilfe der Dichtkunst den meisten verbargen, so empfangen, daß der Ursprung von allem andern Okeanos und Thetys, also Flüsse w ä r e n . . . " (180 C). Anangke, die Göttin der Notwendigkeit, regierte, ehe Eros geboren wurde (Symposion 195 C). Eros ist der Sohn des Reichtums und der Armut: „Penia nun, die ihrer Dürftigkeit wegen den Anschlag faßte, ein Kind mit Poros zu erzeugen, legte sich zu ihm und empfing den Eros" (Symposion 203 B). Dabei geht das griechische Denken überall mit der größten Leichtigkeit zwischen dem abstrakten Begriff und
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der anschaulichen Gestalt hin und her. Ein besonderes Beispiel wird uns der Eros im Symposion geben. Ein instruktives Beispiel gibt Piaton auch in der Politeia. Dort werden für den Philosophen alle nur denkbaren Vorzüge gefordert: „ . . . von Natur von gutem Gedächtnis . . g e l e h r i g , edelmütig, anmutig, der Wahrheit Freund und verwandt, so wie der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der Besonnenheit". Glaukon antwortet, wenn auch nicht ohne leise Ironie: „Audi Momos selbst... könnte ja so etwas nicht tadeln" (487 A). Es ist verständlich, daß diese starke Neigung des griechischen Denkns und Sprechens zur Hypostasierung auch von den Griechen selbst beachtet worden ist. Piaton spricht davon ausdrücklich im Kratylos. In diesem Dialog gibt er eine Erklärung der Namen, und diese Erklärungen laufen in der Regel auf Personifizierungen heraus. Ich will drei dieser Namenserklärungen herausgreifen: Zeus, Demeter und Athene. Von Zeus sagt Piaton: „Nämlich ordentlich wie eine Erklärung ist der Name des Zeus; nur haben wir ihn geteilt, und einige bedienen sich der einen, andere der anderen Hälfte. Die einen nämlidi nennen ihn ,Zeus', die anderen ,Dis'; beide aber zusammengestellt offenbaren uns das Wesen des Gottes, welches ja eben, wie wir sagen, ein Name soll ausrichten können. Denn keiner ist für uns und alles insgesamt so sehr die Ursache des Lebens wie der Herrscher und König über alles. Ganz richtig also wird dieser Gott benannt als der, durch welchen zu leben alle Lebendigen sich rühmen. Nur, wie gesagt, der Name, der eigentlich einer ist, ist geteilt in dis, von durch und zen oder Zeus von leben" (396 A). In einem solchen Sinne erklärt Piaton auch Demeter und Athene. Von Demeter sagt er: „Die ,Demeter' scheint mir von dem Verleihen der Nahrung, weil sie diese als Mutter gibt, didusa meter, ,Demeter' genannt zu sein" (404 B). Von dem Namen der Athene sagt Piaton selbst, er sei schwierig zu erklären: „Es scheinen aber die Alten von der Athene eben das gehalten zu haben, was noch jetzt die, welche sich auf den Homeros verstehen. Denn die meisten von diesen sagen auch bei ihren Auslegungen des Dichters, er habe durch die Athene Verstand und Einsicht vorgestellt und eben dergleichen etwas scheint auch, wer die Namen bestimmt, von ihr gedacht zu haben, nur drückte er es noch stärker aus, indem er sie gleichsam Gottes Vernunft, theu no'esis n e n n t . . . Doch vielleicht
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auch nicht einmal so, sondern weil sie das Göttliche bedenkt, theia nousa, hat er sie vorzüglich vor allen ,Theone' genannt" (407 A). Wenden wir uns den Personifizierungen zu, die näher an der Philosophie liegen, dann ist uns durch einen glücklichen Zufall ein Fragment von Philolaos, dem Pythagoräer, erhalten: „Die Wirksamkeit und das Wesen der Zahl muß man nach der Kraft beurteilen, die in der Zehnzahl liegt. Denn sie ist groß, alles vollendend, alles wirkend und Anfang und Führerin des göttlichen und des menschlichen Lebens . . . denn die Natur der Zahl ist kenntnisspendend, führend und lehrend für jegliches in jeglichem Dinge, das ihm zweifelhaft oder unbekannt ist!" 8 An philosophisch bedeutsamen Personifikationen, die auch bei Piaton selbst auftreten, finden wir zunächst den Nomos, das Gesetz. Die Personifikation des Nomos ist allerdings häufig, schon bei den Dichtern und den Vorsokratikern. Pindar beginnt eine Ode mit einem Anruf an den Nomos, und Piaton zitiert diesen Anfang im Gorgias: „Das Gesetz [Nomos], der Sterblichen König und Unsterblichen" (484 B). Heraklit spricht personifizierend von dem Nomos: „Wenn man mit Verstand reden will, muss man sich wappnen mit diesem allen Gemeinsamen wie eine Stadt mit dem Gesetz und noch stärker. Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze aus dem einen göttlichen. Denn es gebietet, so weit es nur will, und genügt allem, und siegt ob allem" 9 . In ähnlicher Weise sagt Demokrit: „Der Nomos will das Leben der Menschen wohl gestalten" 10 . Die wohl berühmteste Personifikation der Gesetze findet sich im Kriton. Sokrates ist zum Tode verurteilt und erwartet im Gefängnis die Vollstreckung des Urteils. Als er aufwacht, sieht er Kriton, den alten Freund, neben seinem Lager sitzen. Sokrates fragt ihn, und Kriton gibt zu, daß er schon einige Zeit neben dem noch schlafenden Sokrates gesessen hat. Er wollte ihn nicht wecken, denn er muß eine schwere Nachricht bringen. Als das Todesurteil erging, war das Schiff mit der Festgesandtschaft nach Delos unterwegs, und nach athenischem Recht durfte kein Todesurteil vollstreckt werden, solange das Schiff unterwegs war. Nun haben aber einige, die mit dem zurückkehrenden Schiff kamen, in Sounion das Schiff verlassen und sind nadi Athen vorausgeeilt. Sie haben die Nachricht mitgebracht, daß das Schiff am Abend dieses Tages in Athen ankommen wird. Am Abend des
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nächsten Tages wird also das Todesurteil vollstreckt werden. Die Freunde haben alles zur Flucht vorbereitet, so wie man es von ihnen in Athen erwartet. Das Gespräch zwischen Sokrates und Kriton geht nun darum, ob Sokrates die vorbereitete Möglichkeit der Flucht wahrnehmen, oder ob er sich der Vollstreckung des Urteils unterwerfen soll. Sokrates lehnt die Fludit ab; er wird den Tod durch den Giftbecher auf sich nehmen. Hier sind es die Gesetze selbst, die Sokrates sprechen läßt: „Wenn, indem wir von hier davonlaufen wollten, oder wie man dies sonst nennen soll, die Gesetze kämen und das gemeine Wesen dieser Stadt und, uns in den Weg tretend, fragten: Sage mir, Sokrates, was hast du im Sinne zu tun?" (50 A). Die Gesetze legen dann in einem langen Gesprädi überzeugend dar, daß Sokrates nicht flüchten darf. Sokrates sagt abschließend, daß diese Reden der Gesetze überzeugend sind, und auch Kriton hat nichts dagegen zu sagen. So verzichtet Sokrates endgültig auf die Flucht: „Wohl denn, Kriton! So laß uns auf diese Art handeln, da uns hierhin der Gott leitet" (54 E). Auch der Logos wird immer wieder als Person vorgestellt. So sagt Heraklit: „Da ihr es nicht von mir, sondern von dem Logos hört, ist es weise zuzugestehen, daß alles eins ist" 11 . Es ist wohl kein Zufall, wenn Aristophanes in den „Wolken", dieser bitteren Satire auf Sokrates, den guten und den schlechten Logos auf der Bühne miteinander streiten läßt 12 . Auch in der Politeia wird der Logos als Person vorgestellt. Im dritten Buch sagt Sokrates: „ . . . wohin uns die Rede (LOGOS), unser Wind gleichsam, bringen wird, dahin müssen wir gehen" (394 D). Die Personifizierung kommt freilich erst in der Übersetzung von Friedländer wirklich heraus13. Auch kurz darauf wird der LOGOS als Person vorgestellt: „Wenn der LOGOS kommt (nach der Ubersetzung von Friedländer 14 ) „ . . . so wird er von keinem willkommener geheißen als von dem in dieser Weise erzogenen, denn er erkennt in ihm seinen Verwandten" (402 A). Wenn Piaton im sechsten Buch die kühne Forderung stellt, daß die Philosophen Könige sein müssen und die Könige Philosophen, sagt er: „Das war es, was gesagt wurde, indem die Rede (Logos) sich verdeckt an der Seite vorbeischlich, aus Furcht, das aufzuregen, was uns jetzt bevorsteht" (503 A). Noch besser ist die Wiedergabe der Stelle durch Friedländer: „Dort wird Sokrates auf unsere Erörterung zurückblicken und wird ironisdi hinzu-
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fügen: der LOGOS hatte sich bei Seite gedrückt und hatte sich versteckt aus Furcht das Ganze aufzuregen, welches jetzt da ist"15. Auch hier ist es richtig, wenn Friedländer in einer Ubersetzung von kräftiger Anschaulichkeit den LOGOS als Person betrachtet. Bei dieser Freude an der Personifikation ist es nicht verwunderlich, daß auch die Philosophie selbst als Person auftritt. Im Gorgias sagt Sokrates: „ . . . und wundere dich nicht, daß ich dir dies sage, sondern mache, daß die Philosophie, mein Liebling, aufhöre es zu sagen"' (482 A). Gern würde man wissen, ob Sokrates es war, der so zu scherzen pflegte, oder ob hier die eigene Einstellung Piatons zur Wirkung kommt. Ich persönlich möchte das letztere glauben, eine endgültige Entscheidung wird sich schwerlich treffen lassen. Die strahlendste Personifikation aber ist der Eros des Symposion. Der Eros wird von den Dichtern und Denkern schon früh als Person gedacht. Ob man freilich so weit gehen sollte wie Diels, der in den Registern zu den Vorsokratikern die beiden Bedeutungen völlig trennt, die Sachbedeutung in das Sachregister und die Personenbedeutung in das Personenregister aufnimmt, mag doch zweifelhaft erscheinen. Es bleibt immerhin merkwürdig, wenn im Personenregister Epikur, Epimetheus und Eros dicht nebeneinander erscheinen. Die wichtigste Personifikation bei Piaton bleibt der Eros des Symposion. Eros wird in allen Reden gefeiert; immer wird er als Gott und also als Person gefeiert. Aber es ist vielleicht kein Zufall, daß sich dies vor allem und in ganz besonderer Weise in der Rede des Sokrates findet. Die Personifikation ist hier so lebendig, wie sie eigentlich nur auf der Bühne sein könnte. Zu Beginn wendet sich Sokrates dagegen, daß Eros als ein Gott, sogar als ein großer Gott, gefeiert werde. Die eindringlichen Fragen Diotimas haben ihn davon überzeugt, daß weder Diotima noch Sokrates den Eros für einen Gott halten können (202 C). Was ist Eros dann aber? Diotima antwortet: „Ein großer Dämon, o Sokrates. Denn alles Dämonische ist zwischen Gott und dem Sterblichen" (202 D). Diotima erzählt dann die Herkunft des Eros. Er ist der Sohn des Poros, des Reichtums, und der Penia, der Armut (203 B). Auf die Bedeutung dieser Stelle für die Personifikation haben wir bereits hingewiesen. Dann gibt Diotima die berühmte Schilderung des Eros: „Zuerst ist er immer arm und bei weitem nicht fein und schön, wie die meisten glauben, vielmehr
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rauh, unansehnlich, unbesdiuht, ohne Behausung, auf dem Boden immer umherliegend und unbedeckt, schläft vor den Türen und auf den Straßen im Freien und ist der Natur seiner Mutter gemäß immer der Dürftigkeit Genosse. Und nach seinem Vater wiederum stellt er dem Guten und Schönen nach, ist tapfer, keck und rüstig, ein gewaltiger Jäger, allezeit irgend Ränke sdimiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philosophierend, ein arger Zauberer, Giftmischer und Sophist, und weder wie ein Unsterblicher geartet noch wie ein Sterblicher, bald an demselben Tage blühend und gedeihend, wenn es ihm gut geht, bald auch hinsterbend, doch aber wieder auflebend nach seines Vaters Natur. Was er sich aber schafft, geht ihm immer wieder fort, so daß Eros nie weder arm ist noch reich und auch zwischen Weisheit und Unverstand immer in der Mitte steht" (203 C). Wer könnte zweifeln, daß Piaton den Eros, diesen gewaltigen Daimon, wirklich vor sich sieht. Auch Wilamowitz-Möllendorff hat auf die Bedeutung der Phänomene hingewiesen, die sich hier zeigen. Er wendet sidi mit Recht gegen moderne Anschauungen der Mythologie und der Religionsgeschidite. Er sagt mit Recht, daß es sich nicht um nachträgliche Personifikationen abstrakter Begriffe handelt, sondern daß alle jene Personifikationen Götter waren 16 . Wir müssen uns freilich von dieser Begeisterung, mag sie auch zur Erfassung der Phänomene notwendig sein, abwenden und zur kühlen ontologischen Reflexion zurückkehren. Dann sieht man bald, daß Piaton mit der größten Leichtigkeit zwischen dem Eros als Daimon und dem Eros als einem abstrakten Begriff hin und her gehen kann, und daß damit der Eros des Symposions ein einleuchtendes Beispiel für einen allgemeinen Sachverhalt gibt. Nach der üblich gewordenen griechischen Orthographie wird der Eros als Person groß geschrieben, als abstrakter Begriff aber klein. In der Tat wird das Wort „Eros" im Symposion in ständigem Wechsel hier groß und dort klein geschrieben. Besonders instruktiv ist eine Stelle, in der die beiden Bedeutungen unmittelbar nebeneinander stehen. „Eros ist Liebe zu dem Schönen" (204 B). Der Satz kann freilich nicht wirklich ins Deutsche übersetzt werden, dies ist nur in solchen Sprachen möglich, etwa in der lateinischen oder in der französischen, in denen der Daimon und der allgemeine Begriff der Liebe noch mit demselben Wort bezeichnet werden können. Das ist doch der hintergründige Sinn dieses Satzes,
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daß die beiden Bedeutungen von Eros, der Daimon und der allgemeine Begriff der Liebe, unmittelbar nebeneinandergesetzt werden. Daß Piaton diese beiden Bedeutungen unmittelbar nebeneinanderstellt, kann schwerlich ein Zufall sein. Piaton will offenbar den Hörer und Leser deutlich sehen lassen, daß Eros diese beiden Bedeutungen nebeneinander hat. Man wird noch mehr sagen können. Piaton hat offenbar zwischen diesen beiden Bedeutungen von Eros einen so fundamentalen Zusammenhang empfunden, daß er mit der größten Leichtigkeit zwischen ihnen hin und her gehen konnte. Man wird ganz allgemein sagen können, daß das griechische Sprechen und Denken, wenn bei einem Wort in dieser Weise zwei Bedeutungen vorlagen, mit der größten Leichtigkeit zwischen der personalen und der abstrakten Bedeutung hin und her gehen konnte, und das Symposion ist eines der überzeugendsten Beispiele dafür. Insofern können die allgemeinen Erwägungen von Hans Herter auch von der Philosophie her durchaus bestätigt werden. Wenn Piaton die beiden Bedeutungen von Eros so unmittelbar nebeneinanderstellt, so würde man gern sagen, dies sei eine bewußte Absicht gewesen. Es wäre Piatons wohl würdig gewesen, diese Neigung des griechischen Denkens und Sprechens zu erkennen und bewußt thematisch darzustellen. Aber um so viel sagen zu können, müßten in den platonischen Dialogen auch noch andere Stellen vorliegen. Den kurzen Satz des Symposion so zu interpretieren, daß er als eine bewußte Aussage verstanden wird, wäre doch wohl eine Überinterpretation. Bei alledem bleibt der kurze Satz äußerst bemerkenswert. An der Tatsache kann kein Zweifel sein. Das griechische Denken und Sprechen liebt die Personifikation, und es kann mit der größten Leichtigkeit zwischen der Person und dem abstrakten Begriff hinüber und herüber gehen. Wenn die Dinge so liegen, dann gewinnt das Problem der Personifikation und das damit zusammenhängende Problem der Hypostasierung eine weitreichende philosophische Tragweite. Die philosophische Frage geht dann nach dem Zusammenhang der beiden Bedeutungen. Betrachten wir als Beispiel wieder die beiden Bedeutungen von Eros, so kann es sich nicht um eine strenge Disjunktion handeln, so daß an jeder Stelle eindeutig zu entscheiden wäre, ob Eros hier den Daimon oder den allgemeinen Begriff bedeutet. Es kann sidi hier
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nicht um ein striktes Entweder-Oder handeln. Schon ganz und gar falsch muß die von Usener inaugurierte Vorstellung des neunzehnten Jahrhunderts sein, daß zuerst ein allgemeiner Begriff existierte und daß dann dieser Begriff personifiziert worden sei. Dies will ja der Terminus „personifizieren" sagen, den wir auch benutzen, ohne diese Implikation anerkennen zu wollen. Es muß vielmehr ein fundamentaler Zusammenhang zwischen den beiden Bedeutungen vorliegen. Die beste Beschreibung dieses Zusammenhanges wäre wohl die, daß es ursprünglich nur eine einzige Vorstellung gibt und daß diese ursprünglich einheitliche Vorstellung sich entfaltet: auf der einen Seite zur Person, auf der anderen Seite zum allgemeinen Begriff. Dies ist freilich für uns, die wir an den allgemeinen Begriff gewöhnt sind, nicht leicht nachzuvollziehen und also auch nicht leicht zu verstehen. Von uns her würde man am besten sagen, daß die ursprüngliche Vorstellung des Eros sowohl Person als auch allgemeiner Begriff ist, so schwer dies auch zu vollziehen ist. Jedenfalls könnten wir uns den ursprünglichen Sachverhalt in dieser Weise am besten klarmachen, obwohl auch dieses Sowohl-Als-auch nicht völlig zutreffend ist. Es muß sich vielmehr um eine ursprüngliche Einheit handeln, die sich erst später entfaltet. Es mag immer sein, daß für unser entwickeltes begriffliches Denken eine solche Einheit von Person und Begriff in vollem anschaulichen Sinne nicht mehr nachvollziehbar ist, die Richtung, in der hier gedacht werden müßte, kann meines Erachtens noch angegeben werden. N u n wird man erwarten dürfen, daß Piaton im Grunde seines Denkens von dieser Grundtendenz des allgemeinen griechischen Denkens wesentlich bestimmt ist. Hier darf ich mich noch einmal auf den Hinweis berufen, den Wilamowitz-Möllendorff gegeben hat. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die Ideenlehre, dann muß man sich vor Augen halten, daß die Ideenlehre eine Cytologie des Allgemeinen ist, daß sie dies zum mindesten auch ist. Das Schöne, das Gute, das Gerechte, die Gleichheit, die Drei, der Kreis, das alles sind Ideen. Aus der Grundbestimmung des griechischen Denkens, die wir soeben betrachtet haben, sollte man erwarten, daß diese Ideen zugleich abstrakte Begriffe und anschauliche Gestalten sind, und das sind sie in der Tat auch. Von der Grundtendenz des griechischen Denkens und Sprechens her wird man erwarten dürfen, daß Piaton zwischen diesen
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beiden Möglichkeiten einen disjunktiven Gegensatz nidit sieht, und das tut er auch nicht. Vielmehr kann auch Piaton zwischen den beiden Möglichkeiten mit der größten Leichtigkeit hin und her gehen. Unsere Interpretation ist dabei darauf gerichtet, die unzweifelhaft vorhandene Hypostasierungstendenz der Ideenlehre nicht von vornherein zu verurteilen, sondern sie zu verstehen, sie zu verstehen als eine Notwendigkeit des griechischen Denkens und Sprechens, ja als eine Notwendigkeit des Denkens und Sprechens überhaupt. Wenn man davon ausgeht, daß die Ideenlehre echte Impulse aus dem griechischen Mythos empfangen hat, dann sollte man auch erwarten, daß echte Beziehungen zwischen den Göttern und Halbgöttern des griechischen Mythos und den Ideen der Ideenlehre bestehen. Dies ist auch der Fall, allerdings weniger, als man nach diesen Vermutungen erwarten sollte. Im ganzen gesehen haben die logisdien Antriebe der Ideenlehre das stärkere Gewicht. Man sieht dies schon beim Eros. Wir haben gesehen, daß zwischen dem Eros als dem Daimon und dem Eros als dem allgemeinen Begriff eine für uns freilich schwer faßbare Identität besteht. Aber zur Idee wird nicht der Eros, sondern zur Idee wird das Schöne. Zur Idee wird nicht der allgemeine Begriff der Liebe, sondern der allgemeine Begriff des Schönen, weil der allgemeine Begriff des Schönen einen sehr viel stärker logischen Charakter hat als der allgemeine Begriff der Liebe. Noch stärker ist dies bei Aphrodite. Hier zeigt die griechische Freude an der anschaulichen Gestalt eine solche Kraft, daß alle logischen Erwägungen sich dagegen als schwach erweisen. Ähnlich liegt es bei der Gerechtigkeit. Hier hat die Gestalt der Dike — wir finden sie auch bei Piaton — eine solche Kraft gewonnen, daß die logischen Antriebe der Ideenlehre auf die DIKAIOSYNE und auf das DIKAION führen mußten. Für unsere Analyse erhebt sich die Frage, ob sich nicht direkte Gleichsetzungen finden lassen, ob nicht wenigstens in gewissen Fällen Gestalten des Mythos und der dem Mythos folgenden Kunst zugleich platonische Ideen geworden sind. Dies ist nun in der Tat der Fall. Besonders anziehend ist dabei die Gestalt der Hygieia. Die Hygieia wird von Piaton ausdrücklich als Idee genannt, und zwar im Phaidon (65 D). Sie ist gewiß keine der im Vordergrund stehenden Ideen und ihr Abstand zur großen Ideentrias des Schönen, Guten und Gerechten ist nicht zu übersehen. Aber sie wird doch in dem für die Ideenlehre
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so wichtigen Phaidon ausdrücklich als Idee genannt. Auf der anderen Seite wird Hygieia als Göttin verehrt, wenn auch meistens mit Asklepios zusammen, wobei der Zusammenhang mit Asklepios schwankt. Manchmal ist sie die Tochter des Asklepios, manchmal die Schwester, manchmal ist der Zusammenhang nodi lockerer. So kommt es, daß ihre Darstellung schwankt. Meistens wird sie mit anderen Gestalten zusammen dargestellt, zusammen mit Asklepios, zusammen mit ihren Schwestern. Aber man findet auch Darstellungen, in denen Hygieia allein auftritt, und die schöne Statue der Hygieia, die sich jetzt in London befindet, habe ich in meinem Beitrag über die Hygieia abbilden lassen17. Wenn Piaton die Gesundheit zu einer Idee macht, so will er damit die Realität der Gesundheit zum Ausdruck bringen. Eben dies will aber auch der Mythos, wenn er die Hygieia als eine Halbgöttin verehrt, eben dies wollen in Griechenland die Maler und die Bildhauer, wenn sie die Gestalt vor unsere Augen stellen. Wie hätte Piaton dies nicht sehen sollen! Piaton konnte nicht in Athen leben, ohne der Hygieia vielfältig zu begegnen, er konnte nicht an der Akropolis vorbeigehen, ohne am Abhang den Tempel zu sehen, in dem Asklepios und Hygieia zusammen verehrt wurden. Die Hygieia als eine Idee muß für Piaton einen Zusammenhang gehabt haben mit der Hygieia, wie sie im Mythos, im Kultus und in der Kunst erscheint. Dann wird eine gewisse Hypostasierungstendenz verständlich im Zusammenhang mit den Tendenzen im Mythos und in der Kunst. Man darf diese Hypostasierungstendenz nicht einfach als unsinnig abtun, so wie dies in einem naiven Nominalismus geschieht, wie es aber ebenso in einer extrem logischen Interpretation der Ideenlehre geschieht. Natürlich muß man die naive Hypostasierung in der Philosophie ablehnen, aber in der Philosophie muß ja auch ein naiver Nominalismus ebenso abgelehnt werden wie ein naiver Idealismus. Die inneren Tendenzen der Hypostasierung dürfen aber nicht von vornherein als unsinnig abgetan werden, sie müssen wohl abgelehnt, aber sie müssen in dieser Ablehnung zugleich verstanden werden. So darf denn der Mythos des Götterzugs im Phaidros nicht einfach als philosophisch absurd betrachtet werden. Natürlich liegt hier der Zusammenhang mit dem Mythos vor Augen. Aber man sollte doch sehen, daß die eigentliche Tendenz dieser enthusiastischen Darstellung
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das Bestreben ist, die Realität zum Ausdruck zu bringen, die Realität der Schönheit, die Realität der Gerechtigkeit, die Realität der Wissenschaft. Diese Realitätstendenz, die zugleich in der Ideenlehre und im Mythos wirksam ist, wird in einer instruktiven Weise deutlich in einer Erwägung von Augustin. An einer Stelle in De civitate Dei beschäftigt sich Augustin mit dem griechischen und römischen Polytheismus. Er spricht dabei von den Hochzeitsgöttern, könnte aber ebenso gut von der Hygieia sprechen. Natürlich ist für Augustin die bunte, allzubunte Welt der griechischen Götter und Halbgötter ein schwerer Irrtum, sogar ein schwerer Frevel. Dennoch ist selbst für Augustin in dieser heidnischen Götterwelt ein echter Kern enthalten. Wenn die Hygieia, um bei unserem Beispiel zu bleiben, als Göttin verehrt wird, so ist dies gewiß für Augustin ein heidnischer Frevel. Aber in diesem Frevel steckt doch ein echter Kern, wenn damit die Realität der Gesundheit verehrt wird. So formuliert Augustin gegen die Götterwelt der Hochzeit, und er könnte es auch gegen die Göttin der Gesundheit sagen: „quod inter deos extant dona divina" 19 . Die Gesundheit ist für uns alle eine echte Realität. Als diese echte Realität ist sie aber für Augustin ein Geschenk Gottes, ein donum Dei. So kann Augustin der griechisch-römischen Götterwelt an dieser Stelle doch einen positiven Zug abgewinnen, so heftig seine Polemik dagegen an anderen Stellen sein mag. Von dieser Stelle aus würde die Erhebung der Hygieia zu einer Göttin doch dahin verstanden werden können, daß damit die Gesundheit als eine echte Realität und damit im Sinne Augustins als ein Geschenk Gottes verehrt wird. So mag die Erhebung der Hygieia zur Göttin in Mythos und Kunst und die Erhebung der Hygieia zu einer hypostasierten Idee durch Piaton der Form nach ein Mißgriff sein, der Sache nach ist sie berechtigt. Kann man aus einer solchen Erwägung heraus der Hypostasierungstendenz bei Piaton ein gewisses Verständnis entgegenbringen, so kommt noch eine zweite Erwägung hinzu, auf die wir schon eingegangen sind und die wir hier noch einmal zusammenfassen dürfen. Wir haben gesehen, wie leicht das griechische Denken und Sprechen zwischen dem allgemeinen Begriff und der anschaulichen Gestalt hin und her gehen kann. Piaton selbst hatte im Symposion das eindrucksvolle Beispiel des Eros gegeben. Nicht anders liegen die Dinge bei der Hygieia. Auch hier konnten die Griechen mit der größten Leichtigkeit
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zwischen den beiden Möglichkeiten hin und her gehen. Vielleicht ist dies noch zu wenig gesagt. Wir neigen nur allzu leicht dazu, die Entfaltung des Eros in einen allgemeinen Begriff und in eine anschauliche Gestalt als zwei durchaus verschiedene Dinge anzusehen. Ganz anders liegen die Dinge bei den Griechen. Das griechische Denken im allgemeinen und Piaton im besonderen haben hier nicht zwei getrennte Dinge vor sich, sondern eine ursprüngliche Einheit, zwischen deren beider Entfaltung sie leicht hin und her spielen können. Die Griechen sehen hier nicht einen ursprünglichen Zusammenhang zwischen zwei Dingen, sondern sie sehen hier immer noch eine ursprüngliche Einheit, deren Verschiedenheit vielleicht nur darin besteht, daß sie zwei Anblicke einer und derselben Sache sind. Dies ist freilich, ich habe schon darauf hingewiesen, nicht leicht nadizuvollziehen. Zuerst scheint es sogar unmöglich. Der allgemeine Begriff und die anschauliche Personifizierung sind doch wirklich, davon sind wir überzeugt, zwei ganz verschiedene Dinge. Gleichwohl scheint es mir doch nicht völlig unmöglich, in dem Satz: „Der Eros ist der Eros zu dem Schönen" die ursprüngliche Einheit in gewisser Weise noch in den Blick zu bekommen. Wenn man die Ideenlehre von hier aus betrachten darf, dann würde Piaton in der hypostasierenden Form, die die Ideenlehre im Phaidros hat, und der logischen Form, die sie an vielen anderen Stellen hat, eine ursprüngliche Einheit sehen, die es möglich macht, daß man leicht von der einen zur anderen hin und her gehen kann. Dann aber darf man die Ideenlehre nicht ausschließlich in der hypostasierenden Form sehen. Man muß sie vielmehr in dieser Einheit zwischen den beiden Formen betrachten. So würde es gelingen, audi den hypostasierenden Zug der Ideenlehre aus einem fundamentalen Zug des griechischen Denkens zu verstehen, der nicht nur ein Zug des griechischen Denkens, sondern ein fundamentaler Zug des Denkens überhaupt ist.
§ 8 Logos und Mythos Logos und Mythos in ihrem gegenseitigen Verhältnis zu sehen, w o sie zusammengehen, w o sie auseinandergehen, das ist ein altes Pro-
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blem der Piatoninterpretation. Piaton selbst hat offenbar beide Formen für möglich und für notwendig gehalten. Große und eindrucksvolle Mythen werden im Phaidon, in der Politeia, im Phaidros, im Symposion erzählt. So wird es verständlich, daß kluge und einsichtsvolle Freunde Piatons hier das Zentrum seiner Philosophie sehen. Diesen Dialogen stehen aber Dialoge gegenüber, in denen der Logos vorherrscht: der Parmenides, der Sophistes, der Theaitetos, der Philebos. Die Frage wird um so schwieriger, als in einigen Dialogen fast ein Gleichgewicht zwischen Logos und Mythos herrscht. Dies trifft schon für den Phaidon zu. Es ist verständlich, daß in diesem Dialog, am Todestag des Sokrates, der Mythos eine wichtige Rolle spielt. Aber auch der Logos hat in diesem Dialog sein Gewicht, und es ist nicht grundlos, wenn Natorp gerade den Phaidon für seine rein logische Interpretation der Philosophie Piatons in Anspruch nimmt 1 . Besonders eindrucksvoll erscheint mir das Gleichgewicht zwischen Logos und Mythos in der Politeia. Wir müssen erst wieder lernen, welch große Bedeutung die Mythen in der Politeia haben 2 . Es kann kein Zufall sein, daß das Werk mit dem großen Mythos schließt. Aber niemand wird die Bedeutung verkennen wollen, die der Logos in der Politeia hat, und dies besonders in der Mitte des Werkes. Die fünfzehnjährige Erziehung des Logos mit zehn Jahren Mathematik und Naturwissenschaften und fünf Jahren Dialektik läßt an der Bedeutung des Logos keinen Zweifel. Ein altes Problem in diesem Zusammenhang ist der Timaios. Im Timaios gibt Piaton seine Kosmologie, seine Lehre von der Erschaffung der Welt. Piaton selbst bezeichnet dies als eine bloß wahrscheinliche Erzählung (29 D). Ist dies nun ein Logos oder ein Mythos? Wenn man in Betracht zieht, daß in diesem Dialog die Fünfzahl der Elemente aus der Fünfzahl der regulären Körper deduziert wird, dann wird man den stark logischen Charakter dieser Kosmologie nicht verkennen wollen, und das lebhafte Interesse moderner Physiker gerade an diesem Dialog erscheint verständlich. Aber seit den ersten Piatonschülern überlegt man sich, wie hier die Rede von der Erschaffung der Welt zu verstehen ist. Ist das eine bloße Allegorie? Soll die Reihenfolge, in der die Erschaffung der Welt erzählt wird, gar keine zeitliche Reihenfolge meinen, sondern will Piaton damit nur Strukturverhältnisse und Fundamentierungsverhältnisse zum Ausdruck
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bringen? Will er nur sagen, daß dasjenige, was hier als früher geschaffen erzählt wird, im Strukturzusammenhang der Welt fundamentaler ist? Dies war die Meinung des Aristoteles. Oder will Piaton die Erschaffung der Welt in einer wirklichen zeitlichen Reihenfolge und damit also in einer endlichen Zeit behaupten? Audi diese Interpretation, die zunächst dem Wortlaut entspricht, ist vertreten worden. Vom Wortlaut her gesehen würde der Schöpfungsbericht des Timaios mit einem ebenfalls im Wortlaut aufgefaßten Sdiöpfungsbericht der Genesis gut übereinstimmen, und so wird es verständlich, daß sowohl das frühe Christentum als auch das Mittelalter dem in dieser Weise interpretierten Timaios eine besondere Bedeutung beigemessen haben. Man sieht leicht den Zusammenhang mit dem soeben diskutierten Problem der Personifizierung und Hypostasierung. Der Mythos führt zur Personifizierung und Hypostasierung, der Logos führt zum allgemeinen Begriff. Man braudit nur den Logos im Parmenides und im Sophistes mit den großen Mythen im Phaidros und in der Politeia zu vergleichen, um dies deutlich zu sehen. Für den Interpreten besteht nun allzu oft die Versuchung, nur die eine Möglichkeit zu ergreifen und die andere abzuweisen. Für Piaton selbst — idi kann dies nur wiederholen — ist offenbar beides möglich und beides notwendig gewesen. Der Interpret wird freilich für seine Person stets zu einer der beiden Möglichkeiten neigen. Für mich selbst — der Interpret muß dodi wohl versuchen, sich über seine eignen Voraussetzungen so weit wie möglich klar zu werden — hat freilich immer der Logos im Vordergrund gestanden. Es wird immer die Aufgabe des Interpreten sein, über soldie Voraussetzungen und über die daraus fließenden Folgerungen zu reflektieren. Dies wäre seine erste Aufgabe. Die zweite Aufgabe des Interpreten bestände darin, wie sehr er auch immer zu einer Möglichkeit neigt, sich gleichwohl um das Verständnis der anderen Möglichkeit zu bemühen. So muß ich selbst also in besonderer Weise versuchen, den Mythos zu verstehen. Bei Mythos und Logos wird derselbe Zusammenhang deutlich wie bei Personifikation und abstraktem Begriff. Piaton kann mit der größten Leiditigkeit zwischen Mythos und Logos hin und her gehen. Die Politeia ist dafür ein überzeugendes Beispiel. Wie groß audi die Bedeutung des Logos in der Politeia ist, immer wieder greift Piaton
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auch hier auf den Mythos zurück. Daß das sorgfältig aufgebaute Werk mit dem großen Mythos von Tod und Unsterblichkeit endet, kann kein Zufall sein. Aber daß auch die vorwiegend auf den Logos gerichteten mittleren Bücher in stark dem Mythos zugewandten Gleichnissen sprechen, mit dem Höhlengleichnis als dem Höhepunkt, dies muß ebensosehr künstlerische Intuition als wohlberechnete Absicht sein. Dies Hin- und Hergehen zwischen Mythos und Logos sieht sich freilich für Piaton und für das griechische Denken im Ganzen sehr viel anders an als für uns. Für uns sind Mythos und Logos durchaus getrennt, sie sind für uns eine strenge Disjunktion. Im Gegensatz hierzu setzt ein Verständnis für Piaton voraus, daß man diese strenge Disjunktion aufgibt, setzt voraus, daß man sich bemüht, Mythos und Logos als gleichberechtigte Ausdrudksmöglichkeiten zu verstehen. Erwägt man das Problem Mythos und Logos im Ganzen, dann wird man bald dazu kommen, eine noch stärkere Konsequenz zu ziehen. Wenn Piaton in einem echten Zusammenhang von Mythos und Logos lebt, dann wird man nicht nur den Schluß ziehen, daß dies möglich ist, man wird an den weitergehenden Schluß denken, daß dies notwendig ist. Wenn ich einmal vereinfadiend von dem Gegensatz Platonismus und Nominalismus ausgehe, so wird nun freilich der Nominalismus eine solche Möglichkeit und dann ganz und gar eine solche Notwendigkeit energisch bestreiten, er wird dies sogar lächerlich finden. Allein Mythos und Personifizierung finden sich niclit nur im Platonismus, sie finden sich auch im Nominalismus, sie finden sich nicht nur in der Philosophie, sie finden sich noch stärker im allgemeinen Bewußtsein. Sie finden sich ebensosehr bei den Wissenschaftlern wie bei den NichtWissenschaftlern. Es mag sein, daß die Gestalten andere geworden sind und werden. Über dem Denken Piatons und über dem Denken der Griechen stehen die großen Gestalten der Schönheit und der Gerechtigkeit. Aber jedes Denken braucht große Gestalten vor sich. Uber unserem Denken steht „die Natur", steht „die Wissenschaft", steht „die Sprache", stehen „die Naturgesetze". Sieht man sich das Denken der Neuzeit und der Gegenwart unter diesem Gesichtspunkt an, so findet man auf Schritt und Tritt Mythos und Personifikation. Mit besonderer Klarheit hat diesen Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Mythos Ernst Cassirer gesehen. In der Einleitung zur
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Philosophie der symbolischen Formen sagt er: „Faßt man die Kunst und die Sprache, den Mythos und die Erkenntnis in diesem Sinne, so hebt sich aus ihnen alsbald ein gemeinsames Problem heraus, das einen allgemeinen Zugang zu einer allgemeinen Philosophie der Geisteswissenschaften erschließt"3. Es ist dies gemeinsame Problem des Mythos und der Erkenntnis, auf das es uns jetzt ankommt. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die Wissenschaften der Neuzeit und der Gegenwart, so ist das Ergebnis ebenso überraschend wie wichtig. Die Naturwissenschaften der Neuzeit setzen ein mit einer Personifikation der Natur und der Naturgesetze, die sich zu einer fast mythischen Verehrung steigert. Ohne eine solche Grundstimmung wäre die Entstehung der Naturwissenschaften der Neuzeit vermutlich nicht möglich gewesen. Dies gilt besonders für die Großen dieser Epoche, für Kepler, Galilei und Kopernikus. So sagt etwa Galilei in seinem Dialog über die hauptsächlichsten Weltsysteme: „Also hat die Natur so mächtige, vollkommene und edele Himmelskörper nur darum unveränderlich, unvergänglich, göttlich geschaffen und hingestellt" 4 . Hier ist es also die Natur, die die Welt erschafft. An einer späteren Stelle sagt er: „ . . . alles dies aber wirkt die allweise Natur. Und das allein ist ein einziges von den unzähligen Werken, die sie zustande bringt, und in ihm allen offenbart sie eine unendliche Weisheit" 5 . Wenn Galilei in dieser Weise von dem Tun und Handeln der Natur spricht, so personifiziert er sie doch, und diese Personifikation wird noch dadurch verstärkt, daß die Natur mit Weisheit handelt, sogar mit unendlicher Weisheit. Diese mythisdie Verehrung der Natur wirkt tief in das allgemeine Bewußtsein und in die Kunst hinein. Viele Belege ließen sich dafür geben. Ich wähle Goethes Fragment über die Natur, das er 1781/1782 geschrieben hat und das auf mannigfache Weise von Früherem abhängig ist: „Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen — unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen. Sie schafft ewig neue Gestalten . . . " . Im letzten Absatz sagt Goethe noch einmal eindringlich: „Sie hat midi hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Idi vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nidit hassen. Ich
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sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst" 6 . Nun geht Goethe zwar hier zwischen der Personifikation der Natur und dem allgemeinen Begriff der Natur hin und her, aber gerade dies hatten wir auch bei Piaton angetroffen. Zu einer der ganz großen personifizierten Gestalten unseres Lebens ist „die Wissenschaft" geworden. Man kann durchaus von einem Mythos der Wissenschaft sprechen. Dies hat bereits im Anfang der Neuzeit begonnen, als die Wissenschaft sich anschickte, zu einem tragenden Moment unseres Lebens zu werden. Die Wissenschaft erhob zunächst den Anspruch, als gleichberechtigte Wahrheitsquelle neben die Religion zu treten. In diesem Sinne sprach Galilei von den zwei Büchern, von dem Buch der Bibel und dem Buch der Natur. Beide Bücher sind für Galilei echte Wahrheitsquellen, und sie führen zu derselben Wahrheit. Dies verhältnismäßige Gleichgewicht zwischen Wissen und Glauben war noch für die großen Wissenschaftler des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts maßgebend, für Descartes, für Newton, für Leibniz. Aber immer nachdrücklicher hat die Wissenschaft den Anspruch erhoben, die weit überragende Erkenntnisquelle zu sein und damit weit über der Religion zu stehen. Dies alles hat sich im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert wesentlich verstärkt. Zunächst beobachten wir ein gewaltiges Anwachsen der Wissenschaften, ein Hineingreifen in alle Lebensbereiche. Unser Essen und Trinken, unser Wohnen und Kleiden, die Dinge, mit denen wir uns umgeben, immer größer wird in unserem Leben die Zahl der Dinge, die von einer auf der Wissenschaft beruhenden Technik gemacht werden. Sucht man ein instruktives Beispiel, so mag man daran denken, daß die Zahl der Mütter immer größer wird, die es praktisch finden, ihre Kinder an einen Kunststoff tisch zu setzen. Ein solcher Tisch mag praktischer sein, er ist bestimmt leichter zu reinigen. Aber diese Mütter vergessen, was das gewachsene Holz des Holztisches für das Kind bedeuten kann und bedeutet. Bei diesem sich rasant beschleunigenden Prozeß wird es verständlich, daß die Wissenschaft im alltäglichen Bewußtsein ebenso wie im wissenschaftlichen Bewußtsein zur ersten und letzten Instanz geworden ist. Die Dinge, die wir gebrauchen: die Wissenschaft bestimmt es; die Art und Weise, wie wir leben, wie wir miteinander leben: die Wissenschaft bestimmt es. Die Psychologie
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bestimmt, wie wir zu leben haben, wenigstens nach einem alltäglichen Bewußtsein und dem Bewußtsein vieler Psychologen. Die Politologie und die Soziologie bestimmen, wie unsere staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen bestimmt sein sollen, wenigstens nach einem alltäglichen Bewußtsein und nach dem Bewußtsein vieler Politologen und Soziologen. Wenn die heute allgewaltige Werbung sich dies Bewußtsein zunutze macht, so kommt umgekehrt in der Ausnutzung durch die Werbung dies Bewußtsein deutlich zum Ausdrudk. Eine Ware, die die Wissenschaft gemacht hat, oder die wenigstens durch die Wissenschaft begutachtet ist, die ist gut, wer will noch daran zweifeln. Die Produktion und die Werbung für die Sexfilme wird mit viel Wissenschaft garniert. Mit viel Vergnügen liest man die Anzeigen der Vermittlungsinstitute, in denen mit viel Aufwand von Wissenschaft, mit Benutzung eines Computers, mit den neuesten wissenschaftlichen Theorien der Liebesbeziehungen das Finden des absolut richtigen Partners in Aussicht gestellt und damit gewiß der materielle Erfolg des Ehevermittlungsinstitutes sichergestellt wird. Wo immer wir hinhören und hinsehen, überall klingt es: Die Wissenschaft beweist... die Wissenschaft z e i g t . . . die Wissenschaft s a g t . . . Was ist dies anderes als eine Personifizierung der Wissenschaft, was ist dies anderes als eine Einbeziehung der Wissenschaft in den Mythos? Der Mythos von der Wissenschaft ist von Piaton begonnen worden, als er im Mythos des Phaidros die Idee der Wissenschaft im überhimmlischen Raum stehen sah; der Mythos der Wissenschaft hat in der Neuzeit einen großen Schritt vorwärts getan, und der Mythos der Wissenschaft ist in der Gegenwart allbeherrsdiend geworden. Nicht anders liegt es bei der Sprache, dem erklärten Ideal so vieler philosophischer Richtungen unserer Zeit. Dieser Mythos beginnt schon, als Hamann, Herder und Humboldt die Bedeutung der Sprache zu erkennen beginnen. Er verstärkt sich wesentlich, wenn in der Gegenwart einige philosophische Schulen die Sprache zum alleinigen Erkenntnismittel der Philosophie, sogar darüberhinaus zum alleinigen Gegenstand des Denkens proklamieren. Wenn damit behauptet wird, daß diese Richtungen der Philosophie die Sprache personifizieren und hypostasieren, so werden gerade diese fast immer zum Nominalismus neigenden Richtungen dies mit Entrüstung zurückweisen. Aber Belege lassen sich in großer Zahl bei-
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bringen, und es ist vielleicht am besten, Wittgenstein selbst beim Wort zu nehmen. Er sagt im Tractatus: „Die Sprache muß für sich selber sorgen"7. Aber für sich selber sorgen, das kann nur eine Person, und eine Sprache, die für sidi selber sorgt, ist personifiziert. Man sage nicht, Wittgenstein habe dies nicht gewollt. Natürlich hat Wittgenstein dies nicht in einem naiven Sinne gewollt, aber dann muß man auch gelten lassen, daß Piaton dies nicht in einem naiven Sinne gewollt hat. Freilich muß man doch Wittgenstein beim Wort nehmen dürfen, freilich muß man auch Piaton beim Wort nehmen dürfen, und es sind gerade die dadurch entstehenden Probleme, mit denen unsere Interpretation es wesentlich zu tun hat. Nun stehen die auf eine Sprachphilosophie gerichteten philosophischen Schulen der Gegenwart im allgemeinen auf einem nominalistischen Standpunkt. Von einem nominalistischen Standpunkt aus kann es aber „die Sprache" gar nidit geben, sondern nur eine deutsche, eine englische, eine französische Sprache. Selbst so etwas wie „die deutsche Sprache" scheint von einem konsequenten Nominalismus aus nicht möglich zu sein. Wenn in diesen Schulen gelehrt wird „die Sprache s a g t . . . " so müßten diese Behauptungen umgeformt werden in Aggregate von der Form: „Paul s a g t . . . Werner s a g t . . . usw. usw.". Es ist aber nicht bewiesen worden, daß dies möglich ist. Die auf die Sprache allein sich gründenden philosophischen Schulen sollten vielmehr einsehen lernen, daß in ihrer Verwendung des Begriffs „die Sprache" ein handfester Piatonismus vorliegt, manchmal sogar ein naiver Piatonismus, viel naiver als der naivste Piatonismus bei Piaton selbst. Noch handgreiflicher wird das Problem bei dem Begriff „Umgangssprache", beziehungsweise dem nahe damit verwandten Begriff „ordinary language". Was beispielsweise die griechische Sprache ist, das weiß man aus der zweitausendjährigen Arbeit der Philologen wenigstens in einem gewissen Ausmaß. Was aber die Umgangssprache etwa zur Zeit Piatons gewesen ist, das weiß niemand, und man muß befürchten, daß es mit der heutigen Umgangssprache nicht viel besser bestellt ist. Man wird also vermuten dürfen, daß in der Verwendung der Begriffe „die Sprache", „die Umgangssprache" durch die sich allein auf die Sprache gründenden philosophischen Schulen ein gutes Stück Platonismus steckt. Ich bin weit davon entfernt, dies als einen Vorwurf
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gegen diese Schulen, geschweige denn als eine Widerlegung dieser Schulen zu betrachten. Man wird vielmehr vermuten dürfen, daß jede wissenschaftliche Erkenntnis auf einer Idealisierung ihres Gegenstandes, das heißt auf seiner Erhebung zu einem idealen Gegenstand beruht. Das, was dann notwendig ist, ist eine Reflexion auf die onto logischen Implikationen. Eine solche Reflexion ist notwendig für Piaton und sie ist das Ziel dieser Untersuchungen. Eine solche Reflexion auf die ontologischen Implikationen sollte aber auch von den auf die Sprache sich gründenden philosophischen Schulen als notwendig erkannt werden. Erwägt man die hier betrachteten Zusammenhänge, dann könnte der Platoniker leicht schadenfroh werden. Er könnte zum Nominalisten sagen: Was du mir vorwirfst, tust du ja selbst. Ich denke nicht, daß Schadenfreude hier angebracht ist. Schadenfreude ist gewiß kein schöner Zug, hier gehört sie ganz gewiß nicht hin. Man sollte sich vielmehr der Frage zuwenden, ob hier nicht eine Notwendigkeit vorliegt, und wenn dies der Fall ist, sollte man versuchen, diese Notwendigkeit zu verstehen. Wenn Personifikation, Hypostasierung und Mythos sich sowohl im Piatonismus als auch im Nominalismus finden, dann kann dies schwerlich ein Zufall sein. Man sollte vielmehr vermuten, daß eine innere Notwendigkeit vorliegt. Die Theologie hat den Begriff der Entmythologisierung geprägt. Aber man muß doch fragen, was bedeutet sie? Bedeutet sie einen Verzicht auf jeden mythologischen Gehalt, oder bedeutet sie nur eine Verringerung? Man wird die Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, daß das letztere richtig ist. Allgemein wird man sagen können, daß Entmythologisierung zum Wesen der Wissenschaft gehört. Wenn dies richtig ist, dann muß sie sich auch in der griechischen Wissenschaft, dann muß sie sich auch bei Piaton finden. Der Prozeß der Entmythologisierung vollzieht sich nicht nur in der griechischen Wissenschaft, sondern auch in der griechischen Dichtung. In Deutschland sagt man gern, die griechischen Dichter haben die Götter gestiftet. Ich weiß nicht, ob sich das wirklich zeigen läßt. Zeigen läßt sich aber, wie sehr besonders die spätere Dichtung daran mitwirkt, Zweifel am Götterglauben zu erregen. Die Art und Weise, wie die Komödie mit den Göttern umspringt, kann gar nicht anders gedeutet werden. Ich will gar nicht auf die grobe Verhöhnung der Götter in der trivialen Komödie eingehen,
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sondern will an ein Beispiel aus Aristophanes erinnern. „Die Wolken" sind eine beißende Satire, die Aristophanes gegen Sokrates gerichtet hat. Sokrates wird als Sophist und als Naturwissenschaftler hingestellt. Ob das richtig ist, können wir im Augenblick dahingestellt sein lassen. In dem Zusammenhang der Naturwissenschaften kommt Aristophanes auch auf den Blitz zu sprechen. Der Blitz, so sagt der Mythos, den schleudert Zeus, um die Ungerechten zu strafen. Aber wie kann dann der Blitz in einen Baum einschlagen, wie kann er in einen Tempel einschlagen? sagt Aristophanes dagegen8. Die Naturwissenschaft muß den Mythos vom blitzeschleudernden Zeus aufgeben und eine physikalische Erklärung für Blitz und Donner suchen. Der Dichter greift diese Entmythologisierung auf und ist damit seiner Wirkung sicher. Es ist verständlich, daß auch die griechische Philosophie sich an dieser Auseinandersetzung mit dem Mythos beteiligte. Sie mußte in eine Auseinandersetzung mit dem bunten Teppich des griechischen Polytheismus geraten. So richtet sich der Zorn des griechischen Mannes auf der Straße, man würde lieber sagen: des Mannes auf der Agora gegen die Philosophen. Anaxagoras, so sehr er auch mit Perikles befreundet ist, muß aus Athen flüchten, weil er eine Anklage wegen Gottlosigkeit fürchten muß. Sokrates wird wegen Gottlosigkeit verurteilt und unterwirft sich dem Urteil. Die Volksmeinung sieht freilich nicht, daß die Auseinandersetzung der Philosophen mit dem griechischen Polytheismus nicht zum Atheismus, sondern zum Monotheismus geführt hat. Dies mag bei dem einen oder anderen der Vorsokratiker zweifelhaft sein, bei Sokrates, Piaton und Aristoteles steht es außer Zweifel. Aber auch bei ihnen ist der Widerstand gegen den Polytheismus und den ihn tragenden Mythos unüberhörbar. Ein instruktives Beispiel gibt Anaxagoras. Er hatte gesagt, daß die Sonne ein Stein aus Feuer sei 9,10 , und es ist wohl kein Zufall, daß Sokrates in der Apologie (26 D) daran erinnert, obwohl es verständlich ist, daß Sokrates in der Situation der gegen ihn erhobenen Anklage sich von der Behauptung des Anaxagoras strikt absetzt. Aber wie groß ist der Gegensatz zwischen dem feurigen Stein des Anaxagoras und dem göttlichen Helios, in dem der Mythos die Sonne personifiziert hat? Der überzeugendste Beleg für Sokrates ist der Euthyphron. Euthy-
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phron erinnert an den alten Mythos: Zeus, der beste und der gerechteste der Götter, hat seinen eignen Vater gefesselt. Aber Sokrates fragt einfach zurück: „ . . . glaubst du wirklich, daß dieses so gewesen ist?" (6 B) Der Priester antwortet voller Überzeugung, daß noch viel mehr der Wunder geschehen sind, die nur der Priester kennt, aber nicht das Volk. Dies kurze Spiel von Behauptung, Frage und Antwort beleuchtet die allgemeine Situation ebenso wie die Situation des Sokrates. Der Priester lebt im Mythos. Aber Sokrates antwortet einfach mit der Frage: Glaubst du wirklich, daß dies alles wahr ist? Diese Frage ist tödlich für den Mythos. Die Antwort, die der Priester immer wieder geben wird: Das ist alles wahr, ist kein Mittel gegen die tödliche Wirkung der einfachen Wahrheitsfrage und wird niemals ein Mittel dagegen sein. Die Wissenschaft, und die griechische Philosophie versteht sich als Wissenschaft, setzt an die Stelle des Mythos die wissenschaftliche Erklärung. Aber bedeutet diese Entmythologisierung, daß man den Mythos ganz aufgibt? Das hängt natürlich davon ab, was man unter Mythos versteht. Faßt man den Mythos so weit auf, wie es notwendig ist, dann muß man einräumen, daß es auch einen Mythos von der Natur, einen Mythos von der Wissenschaft, einen Mythos von der Sprache gibt. Dann wird man nicht sagen können, daß die Wissenschaft den Mythos gänzlich aufhebt, man wird nur sagen können, daß die Wissenschaft den Mythos verringert. Aber ohne Mythos, das wird man einsehen müssen, kann kein Sprechen und kein Denken existieren und wirken. Derjenige, der dies aus einem modernen Bewußtsein heraus am klarsten gesehen hat, dürfte wohl Ernst Cassirer in seinem großen Werk „Die Philosophie der symbolischen Formen" gewesen sein. Was Piaton selbst anbetrifft, so hat man den Eindruck, daß er dem griechischen Polytheismus freundlicher gegenüber stand als Sokrates. Piaton hatte, wohl aus seiner künstlerischen Veranlagung heraus, ein sehr viel stärkeres Gefühl für den Mythos und sah Möglichkeiten, dem griechischen Polytheismus ein gewisses Verständnis entgegenzubringen. In der Politeia (427 B) und in den Nomoi (728 B; 878 A) werden Tempel und Kulte wohl bedacht. Die Akademie war, ihrer juristischen Form nach, ein Kultverein für Apoll und die Musen11. Bei alledem bleibt Piaton in der Wahrheitsfrage unerbittlich. Sowohl im zweiten als auch im zehnten Buch der Politeia geht Piatons Wider-
§ 8 Logos und Mythos
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stand gegen die Diditung wesentlich davon aus, daß die Dichter unwahre Geschichten über die Götter erzählen. In diesem Sinn sagt er im zweiten Buch: „ . . . daß Götter Göttern nachstellen und mit ihnen Krieg führen, wie es ja auch nicht einmal wahr i s t . . ( 3 7 8 B. Hier knüpft Piaton unüberhörbar an den Euthyphron an und führt die von Sokrates so nachdrücklich erhobene Wahrheitsfrage mit demselben Nachdruck weiter. Das von mir im Verhältnis von Logos und Mythos Gemeinte kann idi an einem konkreten Problem deutlich machen, und zwar am Problem der Anschauung in der Mathematik. Die Mathematiker des neunzehnten Jahrhunderts waren fast einhellig sehr skeptisch gegen die Anschauung. Sie haben deshalb die Arithmetisierung der Mathematik zum Programm erhoben und damit große Erfolge erzielt. Freilich gingen sie dabei von der Überzeugung aus, daß sie mit der Arithmetisierung die Anschauung aus der Mathematik völlig würden verbannen können. Damit stellt sich die Frage, ob die Arithmetisierung die völlige Ausschaltung der Anschauung aus der Mathematik bedeutet, oder ob es sich nur um eine Verringerung handelt. Die betreifenden Mathematiker des neunzehnten Jahrhunderts erwarteten eine völlige Ausschaltung. Der Rückblick aus der heutigen Situation muß meines Eraditens zur zweiten Auffassung führen. Daß die Ausschaltung einer naiven Anschauung notwendig ist, bestreitet niemand. Die Frage geht vielmehr dahin, ob die Arithmetisierung eine völlige Ausschaltung der Anschauung erreichen kann, wie dies im neunzehnten Jahrhundert erwartet worden ist. In unserem Jahrhundert haben die anschaulichen Momente der Arithmetik von neuem die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gezogen. Dazu haben besonders der Intuitionismus und der Operationalismus beigetragen. Da aber hier noch vieles strittig ist, gehe ich sofort einen Schritt weiter und stelle dieselbe Frage in bezug auf die Logik, da sich eine Antwort in bezug auf die Logik unter allen Umständen auch auf die Arithmetik übertragen muß. Nun bedarf nach der allgemeinen Überzeugung jede Logik, auch die formalste, der Zeichen. Leibniz war der erste, der dies in aller Form erkannt und ausgesprochen hat12. Zeichen aber sind anschauliche Gegebenheiten, und damit ist die Notwendigkeit der Anschauung für die Logik gesichert. Da aber die Arithmetik in derselben Weise an Zeichen gebunden ist wie die Logik, so erweist sich
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Teil I : Die Ideenlehre
die Anschauung in dieser Weise auch für die Arithmetik als notwendig. Von hier aus kann ich den Sinn meiner Auffassung näher bestimmen. N u n ist man zwar gewohnt, die Bedeutung der Anschauung wesentlich vom dreidimensionalen euklidischen Raum her zu bestimmen. Aber vermutlich liegt vor dieser euklidischen Anschauung eine natürliche Anschauung, die man in einem gewissen Sinne als naive Anschauung bezeichnen könnte. Vermutlich ist der Übergang von der natürlichen Anschauung zur euklidischen Anschauung bereits eine starke Verringerung der Anschauung als solcher. Der Übergang zur Arithmetik bedeutet eine weitere beträchtliche Verringerung von Anschauung und eine nochmalige beträchtliche Verringerung wird erreicht, wenn wir allein auf die Rolle von Zeichen rekurrieren. So wird in diesem Prozeß die Bedeutung der Anschauung immer wieder verringert, und sie muß auch verringert werden. Aber zwischen der Verringerung der Anschauung und der völligen Eliminierung der Anschauung ist ein wesentlicher Unterschied. Es liegt kein Grund vor, anzunehmen, daß eine Arithmetik oder eine Logik möglich ist, die die Anschauung völlig eliminieren kann, sei es auch nur wegen der für die Benutzung von Zeichen erforderlichen Anschauung. Die Probleme der Personifizierung, der Hypostasierung und des Mythos wird man in Analogie setzen dürfen zu diesem Problem der Anschauung. Dabei wird man sich klarmachen müssen, daß Personifikation, Hypostasierung und Mythos keine spezifischen Probleme der Philosophie und schon gar nicht der Philosophie Piatons sind. Sie sind älter als jede Philosophie und gewiß älter als Piaton. Sie sind spezifisch für jedes Sprechen, wann und wo immer gesprochen wird, und jedes Denken, wann und wo immer gedacht wird. Davon wird nicht berührt, daß in der Entwicklung der Wissenschaften Mythos und Personifizierung ständig verringert werden und verringert werden müssen. Die Frage ist nur die, ob es wünschenswert ist und ob es überhaupt möglich ist, daß im Denken und Sprechen der Wissenschaften Mythos und Personifizierung völlig verschwinden. Daß dies heute noch nicht der Fall ist, ist unzweifelhaft, und gerade diejenigen, die dies behaupten, leben aus der Personifikation der Wissenschaft, leben aus dem Mythos der Wissenschaft. Man wird daher die Möglichkeit einräumen müssen, daß gewisse Momente der Personifikation und des Mythos unaufhebbar sind.
§ 8 Logos und Mythos
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Wenn dieser Standpunkt eingenommen wird, dann ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Interpretation Piatons. Dann kann die Neigung Piatons zum Mythos und zur Personifikation nidit mehr als ein Rückfall in ein längst überwundenes mythologisches Denken betrachtet werden. Aber man kann vielleicht darüber streiten, ob Piaton dieser seiner Neigung nicht manchmal zu viel nachgegeben hat. Grundsätzlich aber müssen die hier zutage tretenden Tendenzen als möglich beurteilt werden. Wenn Piaton die Ideenlehre oft durch den Mythos darstellt, wenn Piaton in seiner Lehre vom Sein der Ideen oft Personifizierungstendenzen und Hypostasierungstendenzen nadigibt, so bringt er damit nur eine Notwendigkeit zum Ausdruck, die für jedes Sprechen und Denken gilt.
TEIL II Die Reflexion auf die Ideenlehre
§ 9 Was ist eine Ideei Es hat Zeiten in Piatons Leben und Philosophieren gegeben, in denen seine Philosophie fast ganz einer prophetischen Verkündigung gleichkam. Es drängte ihn zu sagen: Es gibt die Ideen, und er konnte und wollte nichts anderes sagen. Am reinsten leuchtet diese Flamme der Begeisterung im Symposion, im Aufstieg zur Idee der Schönheit. In der Politeia wird die Existenz der Ideen als eine Selbstverständlichkeit betrachtet. Im Phaidon ist sie die von allen anerkannte Voraussetzung. Sie sind das, „was wir immer behaupten", das, „wovon wir in unseren Fragen und Antworten immer sprechen", das, „was wir immer im Munde führen". Im Phaidros folgt der Philosoph dem Götterzug und schaut die Ideen an ihrem überhimmlischen Ort. Aber einmal mußte zu dieser glühenden Begeisterung die kühle Reflexion hinzutreten. Es ist freilich selten, daß ein Philosoph über die große Entdeckung seines Lebens noch einmal mit dieser Intensität reflektiert. Piaton hat dies in besonderer Weise getan. Man kann dies ebenso biographisch wie systematisch verstehen. Biographisch gesehen bedeutet es, daß Piaton sich fragt: Was habe ich eigentlich behauptet, als ich die Existenz der Ideen behauptete? Systematisch gesehen bedeutet es, daß in dem Satz: Es gibt die Ideen, nicht nur das Substantiv „die Ideen" bedeutsam ist, sondern auch das Verbum „es gibt". Deshalb muß man nicht nur fragen, was die Ideen sind für unser Denken und Handeln, man muß auch danach fragen, was dies „es gibt" bedeutet. Viele Platoniker wollen diese zweite Frage nicht gelten lassen. Für sie ist die Existenz der Ideen über jede Frage erhaben. Für eine solche unbezweifelbare Sicherheit würde ich unter den großen Vertretern des Piatonismus an erster Stelle Heinrich Scholz nennen, vielleicht auch Paul Natorp, in einem gewissen Sinne sogar Alfred North Whitehead. Piaton war jedenfalls in seinen späteren Dialogen anderer Meinung. Er hat gesehen, daß man auf den Sinn der Existenz bei den Ideen noch reflektieren muß, und er hat dies in zwei Dialogen auch ausdrücklich getan.
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Teil II: Die Reflexion auf die Ideenlehre
Wenn Piaton zu fragen beginnt: Was ist eine Idee? dann war er im -wesentlichen auf ethische Fragen gerichtet. Im Ladies fragt Sokrates: Was ist die Tapferkeit? (190 D). Im Charmides fragt er: Was ist die Besonnenheit? (159 A). Im Euthyphron fragt er: Was ist die Frömmigkeit? (5 D). Es sind dies alles Fragen, die sich auf das Tun und Lassen des Menschen beziehen, dies hat schon Aristoteles gesehen1. In den großen Ideendialogen Piatons tritt die Frageform zurück, erst in den späteren Dialogen tritt sie wieder mehr in den Vordergrund. Im Theaitetos fragt Piaton: Was ist die Episteme? (146 C). Hier läßt das griediische Wort EPISTEME verschiedene Übersetzungen zu. Man kann übersetzen: Was ist die Wissenschaft? Man kann aber auch übersetzen: Was ist die Erkenntnis? Wie immer man übersetzen mag, hier ist es Piaton, der in dieser Frage ganz auf das Theoretische gerichtet ist und der weit von Sokrates entfernt ist. Audi im Sophistes herrscht das Interesse am Theoretischen. Hier ist Piaton zu der höchsten Frage aufgestiegen: Was ist das Sein? (243 E). In dieser allgemeinen Frage: Was ist das Sein? ist unsere jetzige Frage: Was ist eine Idee? enthalten. Die Analysen dieses zweiten Teiles werden im wesentlichen auf diese beiden Fragen gehen. Ich darf schon in dieser einleitenden Erwägung darauf hinweisen, daß Aristoteles die Frage: Was ist das Sein? ausbaut durch die Frage: Was ist die Einheit? und daß er diese Doppelfrage zur Grundfrage der Metaphysik macht2. Dabei führt die Frage: Was ist das Sein? in Aporien. Diese Frage, so sagt Aristoteles, war aporetisch, sie ist aporetisch und sie wird immer aporetisch bleiben3. In der Stellung zu dieser Frage wird sofort eine systematische Entscheidung wirksam. Läßt man sich von einer naheliegenden Bedeutung des Wortes „Metaphysik" leiten und versteht man unter Metaphysik die Lehre von dem, was hinter der Natur liegt, dann ist die Ideenlehre des Phaidon der Anfang und der Ursprung der Metaphysik. Hier werden, das wird im Phaidros offensichtlich, die Ideen als etwas verstanden, was hinter und über der Natur liegt. Nun kann man aber der Behauptung vom transzendenten Charakter der Ideen und einer dadurch definierten Metaphysik die Frage entgegenstellen: Was ist dies transzendente Sein der Ideen? Dann kann man die Metaphysik durch diese Frage und durch die allgemeine Frage nach dem
§ 9 Was ist eine Idee?
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Sein definieren, und so habe ich es in meiner Allgemeinen Metaphysik getan4. Es liegt auf der Hand, welche Bedeutung dann der Sophistes erhält, und dies ist noch zu wenig gesagt. Man müßte vielmehr sagen, daß diese Auffassung vom Sophistes herkommt. Man könnte zwar einwenden, daß unter eine in dieser Weise definierte Metaphysik auch der Nominalismus fallen würde. Dies würde bei der erklärten Metaphysikfeindlidikeit des Nominalismus vielen Nominalisten schwer ankommen. Soweit ich aber sehen kann, richtet sich diese Metaphysikfeindlichkeit gegen den Transzendenzgedanken und nicht gegen die Frage nach dem Sein als solchem. Auf jeden Fall kann sich diese Definition der Metaphysik darauf gründen, daß Aristoteles — und Aristoteles muß gewiß gehört werden, wenn man die Metaphysik definieren will — der Frage nach dem Sein diese grundlegende Bedeutung beigemessen hat. Von hier aus ergeben sich verschiedene Einstellungen zu den platonischen Dialogen. Eine Philosophie, die ihr eigentliches Ziel in der Lehre von den transzendenten Realitäten sieht, wird, wenn sie auf die Reihe der platonischen Dialoge blickt, im Phaidon und im Phaidros, die sie wörtlich nimmt, den Anfang und den Ursprung jeder Metaphysik erblicken. Sieht man aber den eigentlichen Sinn der Philosophie in der Frage, und zwar in der Frage: Was ist das Sein? dann wird der Sophistes zu einem zentralen Dialog, dann wird der Sophistes der Anfang und der Ursprung der Metaphysik und damit einer so verstandenen Philosophie überhaupt. Wenn der Sophistes die Frage: Was ist das Sein? ausdrücklich stellt, dann muß man sehen, daß die Frage vorher nicht gestellt wurde und nicht gestellt werden konnte. Die erste Voraussetzung für diese Frage besteht darin, daß der reine Seinsbegriff herausgearbeitet wird. Dies hat als erster Parmenides getan, und Hegel hat mit Recht die große Bedeutung dieses Denkens nachdrücklich herausgestellt5. Aber es ist noch eine zweite Voraussetzung notwendig. Diese zweite Voraussetzung wird deutlich, wenn man auf die Vorsokratiker blickt und hier besonders auf Thaies und Pythagoras. Von Thaies sind keine Texte erhalten; man darf seine Lehre in den Ausdruck zusammenfassen: Alles ist Wasser. Aber Thaies hat nicht gefragt: Was ist das Wasser? und er konnte auch gar nidit so fragen. Was hätte er antworten
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können? Das Wasser ist für ihn das Letzte, und keine Frage und keine Antwort kann hinter dieses Letzte zurückgehen. Konnte er nicht fragen: Was ist das Wasser? so konnte er noch viel weniger fragen: Was ist das Sein? Nicht anders liegt es bei Pythagoras. Auch hier haben wir keine direkten Texte, aber audi hier kann man in ähnlicher Weise die Lehre des Pythagoras in den Satz zusammenfassen: Alles ist Zahl. Nun kann eine solche Grundthese noch in verschiedener Weise verstanden werden. Aristoteles geht davon aus, daß zu jeder Zahl ein Zählbares, wenn nicht sogar ein Gezähltes gehört. Von hierher versteht Aristoteles die Lehre des Pythagoras so, daß eine durdi die Zahl ordnungsfähige Materie existiert, daß die Zahl diese mögliche Ordnung realisiert und daß die Zahl also alle Ordnung und damit alle Realität stiftet 6 . Aber meiner Meinung nach muß man Pythagoras nicht so verstehen. Man kann ihn vielmehr nahe an die frühen Naturphilosophen heranrücken. So wie Thaies der Meinung war* daß alles aus Wasser gemacht ist, so würde auch Pythagoras der Meinung gewesen sein, daß alles aus Zahlen gemacht ist. Wie immer auch Pythagoras dies verstanden haben mag, die Frage: Was ist die Zahl? konnte für ihn einen Sinn nicht haben. Er hat nicht so gefragt und er konnte auch nicht so fragen. Für ihn ist die Zahl der letzte Ursprung, hinter den man nicht mehr zurückfragen kann. Noch viel weniger konnte er also fragen: Was ist das Sein? Eine solche Unmöglichkeit gilt auch noch für Heraklit, ebenso für Parmenides. Wenn Heraklit spricht: Der Krieg ist der Vater aller Dinge, so konnte er nicht fragen: Was ist der Krieg? Es ist der eigentümliche Sinn der Spruchweisheit von Heraklit, daß derjenige, der erkennt, was der Spruch sagen will, auch zugleich erkennt, daß der Spruch die Wahrheit sagt. Auch Parmenides konnte nicht fragen: Was ist das Sein? Zwar hat Parmenides den reinen Begriff des Seins entdeckt, aber sein Denken wird noch völlig durch die strenge Disjunktion bestimmt: Das Sein ist und das Nichtsein ist nicht7. Durch diese Disjunktion wird für Parmenides das Sein zu einem Letzten, das eine Frage oder eine Antwort nicht mehr zuläßt. Wie zentral das Sein für Parmenides auch ist, die Frage: Was ist das Sein? findet sich nicht bei Parmenides und kann sich nicht bei ihm finden. Diese Frage wird erst für Piaton möglich. Sie wird erst für Piaton möglich, nachdem Piaton die Ideenlehre entdeckt hat und nachdem
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er in der Ideenlehre zwei Weisen des Seins unterschieden hat. Erst nach dieser Entdeckung der Ideenlehre kann Piaton das Sein in zwei Weisen des Seins differenzieren, und wir hatten die ausdrückliche Differenzierung im Phaidon (79 A) und in der Politeia (509 D) gefunden. Erst aus dieser Differenzierung heraus kann Piaton fragen: Was ist das für ein Sein, das sich in dieser Weise differenziert, und wie kann man diese Differenzierung verstehen? Freilich geht es Piaton zunächst ausschließlich um das Sein der Ideen. Hegel hat diesen Grundansatz richtig zusammengefaßt, wenn er sagt, daß für Piaton die Ideen sind und daß sie allein das Sein sind8. Hegel hat diesen Grundansatz so selbstverständlich gefunden, daß er es nicht für notwendig hielt, besondere Belege dafür zu geben. Aber solche Belege lassen sich leicht geben. Die Ideen sind im Phaidon das Seiende (77 A), sie sind im Phaidros das seiend Seiende (247 E), sie sind im Sophistes das wahrhaft Seiende (240 B). Dieser von Hegel so klar herausgestellte Grundansatz: Die Ideen sind und sie sind allein das Sein, ist die Grundstimmung der großen Ideendialoge, des Phaidon, des Phaidros, des Symposion, der Politeia. Aber dieser Grundansatz ist in dieser parmenideischen Härte in sich selbst unmöglich, und so findet er sich nicht einmal im Phaidon konsequent durchgehalten. Wenn wir wieder auf die Idee der Schönheit exemplifizieren, so würde er ja bedeuten, daß es nur die Idee der Schönheit gibt, daß die schönen Dinge aber gar kein Sein haben. Was hat die Idee der Schönheit aber für einen Sinn, wenn sie nicht in schönen Dingen erscheinen würde, wenn sie nicht in schönen Dingen aufglänzen würde? So muß es zu einem fundamentalen Problem der Ideenlehre werden, daß es nicht nur die Idee der Schönheit, sondern daß es auch die schönen Dinge gibt. Man mag immer einräumen, daß das Sein der Ideen das eigentliche Sein ist und man mag ebenso einräumen, daß den Dingen nur ein vermindertes Sein, vielleicht nur ein abgeleitetes Sein zukommt, in irgendeinem, vielleicht nur sehr mühsam feststellbaren Sinne muß auch den Dingen ein Sein zukommen. Vielleicht wird das Problem durch eine theologische Analogie deutlich. Die Theologie betrachtet das Sein Gottes als das eigentliche Sein. Gott ist das summum ens, Gott ist das ens entium. Gegen das Sein Gottes ist das Sein der Welt gar nichts, ist das Sein des Menschen
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Teil II: Die Reflexion auf die Ideenlehre
gar nichts. Hier könnte man die Aussage Hegels variieren und sagen: Gott ist das Sein und er ist allein das Sein. Aber eine solche Bestimmung würde Gott nicht mehr als den Schöpfer sehen können. Gott kann nur ein Schöpfer sein, wenn seine Geschöpfe in irgendeinem Sinne existieren. Ist es mit den Geschöpfen Gottes gar nichts, so ist es auch mit Gott als dem Schöpfer gar nichts. Dem jetzt auftretenden Problem, wie sich das Sein der Ideen zu dem Sein der Dinge verhält, entgeht man auch dann nicht, wenn man das Sein der Dinge als das eigentliche Sein betrachtet und das Sein der Ideen als ein vermindertes, als ein abgeleitetes Sein ansieht, wie dies Aristoteles getan hat und wie in unserem Jahrhundert in der Nachfolge der aristotelischen Bestimmung Nicolai Hartmann es wiederum getan hat. Das Sein der Ideen bleibt auch dann ein Problem, wenn man es als ein vermindertes Sein ansieht. Piaton jedenfalls muß audx den Dingen in irgendeinem Sinne ein Sein zugestehen. Diese Notwendigkeit ist so stark, daß es auch in den großen Ideendialogen an einem Sein der Dinge nicht ganz fehlt. Die für unsere Betrachtung so wichtige Formulierung von den beiden Weisen des Seins findet sich bereits im Phaidon und wird in der Politeia wiederholt. Wie hätte Piaton bestreiten können oder bestreiten wollen, daß es schöne Menschen, daß es schöne Pferde, daß es schöne Kleider gibt, und wie sehr ist im Symposion der Aufstieg zur Idee der Schönheit an die Existenz von schönen Menschen als an seinen Ausgangspunkt gebunden. In den beiden Dialogen, die auf die großen Ideendialoge folgen, im Parmenides und im Sophistes, wird die Frage, wie sich das Sein der Ideen zum Sein der Dinge verhält, thematisch. Wenn ich die Geschichte der Piatoninterpretation richtig sehe, dann ist Natorp der erste gewesen, der dies klar gesehen hat. Als Piaton selbst die hier liegende Aufgabe zu sehen begann, traf er auf Schwierigkeiten, die er nicht zu überwinden vermochte. Aber diese Schwierigkeiten sind in den zweitausend Jahren, in denen wir versuchen, Piaton zu verstehen, nicht kleiner, sondern größer geworden. Vom systematischen Standpunkt aus stellt sich die Frage, ob die in dem Verhältnis der beiden Seinsweisen auftretenden Schwierigkeiten überhaupt endgültig lösbar sind, ob hier nicht die Methode einer Dialektik, möglicherweise sogar einer negativen Dialektik notwendig wird.
§10 Aristoteles und Platon
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§ 10 Aristoteles und Piaton Die Werke des Aristoteles stellen eine ständige Auseinandersetzung mit der Ideenlehre Piatons dar. So ist es verständlich, daß in den Interpretationen der Philosophie des Aristoteles ebenso wie in den Interpretationen der Philosophie Piatons die aristotelisdie Kritik an der platonischen Ideenlehre einen breiten Raum einnimmt. Auch wir haben, ehe wir jetzt diese Kritik zum Thema machen, im ersten Teil immer wieder auf Aristoteles zurückgegriffen. Wenn es um die Interpretation dieser Kritik geht, dann gehen freilich die Auffassungen der Interpreten weit auseinander. Die einen schlagen sich auf die Seite Piatons, die anderen schlagen sidi auf die Seite des Aristoteles. Die einen betrachten die aristotelische Kritik als ein völliges Mißverständnis, die anderen betrachten sie im Gegenteil als eine endgültige Widerlegung Piatons. Ich kann nicht glauben, daß es hier darauf ankommt, die Prädikate „wahr" oder „falsch" oder die Prädikate „bewiesen" oder „widerlegt" zu verteilen. Hier muß man sich von Hegel leiten lassen. Es gehört, so sagt er in der Geschichte der Philosophie1, zum Wesen der Philosophie, daß es viele Philosophien gibt. Dann ist es nicht die Aufgabe, zwischen richtigen und falschen Philosophen zu unterscheiden. Die erste Aufgabe ist vielmehr, die vielen Philosophien in ihrer Vielheit, aber auch in ihrer Einheit zu verstehen. Wir lassen uns also von der Forderung Hegels leiten, daß Piaton ebenso wie Aristoteles in seiner Eigenständigkeit verstanden werden muß. Wir lassen uns audi darin von der Auffassung Hegels leiten, daß Aristoteles sich in einen Gegensatz zu Piaton setzen muß, wenn er seine eigne Philosophie gewinnen will. Wir lassen uns auch darin von Hegel leiten, daß zwischen Piaton und Aristoteles ein echter Zusammenhang bestehen muß. Gäbe es zwischen Aristoteles und Piaton nidits als Mißverständnisse, dann wäre die Philosophie im Ganzen ein Mißverständnis. Gäbe es zwischen Piaton und Aristoteles keinen echten Zusammenhang, dann wäre die Philosophie im Ganzen ein Chaos. Für dies Verhältnis von Entgegensetzung und Zusammenhang ist die Beziehung zwischen Aristoteles und Piaton ein Glücksfall. Eine so intensive Auseinandersetzung eines großen Philosophen mit seinem
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großen Vorgänger ist wohl nur noch einmal zu finden, in der Auseinandersetzung von Kant mit Leibniz. Für das Verständnis dieser beiden großen Auseinandersetzungen ist bis jetzt allerdings nur wenig getan geworden, und auch ich selbst kann nur einen geringen Beitrag leisten. Aristoteles sagt selbst, er sei zwanzig Jahre Schüler Piatons gewesen2. Da Piaton 348/347 gestorben ist, müßte Aristoteles 368/367 in die Akademie gekommen sein. Er wäre damals 17 Jahre alt gewesen, und dies wäre eine gute Zeit für seinen Eintritt in die Akademie gewesen. Wie sich das Verhältnis des Aristoteles zu Piaton und wie sich sein Verhältnis zur Ideenlehre entwickelt hat, wissen wir noch nicht mit Sicherheit. Wir wissen, daß Aristoteles schon früh eine besondere Schrift über die Ideenlehre geschrieben hat 3 . Aber die uns erhaltenen Fragmente dieser Schrift reichen für ein sicheres Urteil nicht aus. Nicht anders steht es mit den frühen Dialogen des Aristoteles, die ebenfalls nur in Fragmenten erhalten sind. Wenn Werner Jäger darin eine Entwicklung in dem Sinne sieht, daß Aristoteles zunächst ein dezidierter Platoniker gewesen ist, daß er sich dann allmählich von Piaton entfernt habe und immer mehr in einen Gegensatz zu Piaton geraten sei4, so scheint mir dies eine Interpretationsvoraussetzung, aber kein Ergebnis zu sein. Gewiß ist diese Voraussetzung recht plausibel. Aber die entgegengesetzte Voraussetzung ist keineswegs undenkbar. Aristoteles könnte doch bei seinem Eintritt in die Akademie sich mit dem ganzen Temperament der Jugend gegen die Ideenlehre gewandt haben und erst allmählidi zu einem echten Verständnis der Ideenlehre gekommen sein. Ein biographisches Moment kommt hinzu. Aristoteles konnte erwarten, daß Piaton ihn zu seinem Nachfolger in der Akademie ernennen würde. Daß Piaton seinen Neffen Speusipp zum Nachfolger eingesetzt hat, war gewiß für Aristoteles eine schwere Enttäuschung. Aristoteles gründet dann im Lykaion seine eigene Schule, und so wird die Auseinandersetzung um die Ideenlehre bald eine Auseinandersetzung zwischen zwei Schulen. Daß die Auseinandersetzung um die Ideenlehre ein Schulstreit geworden und geblieben ist, hat der Sache sehr geschadet. Es ist Wirklichkeit geworden, was Piaton im siebten Brief bereits vorausgesehen hatte: „Von den übrigen aber würde es
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die einen, wie es nicht sollte, mit einer keineswegs angemessenen Geringschätzung erfüllen, die andern aber mit einem hochfliegenden und törichten Dünkel, als haben sie irgendwelche erhabene Wahrheiten begriffen" (341 E). Aristoteles muß aus diesem zwanzigjährigen Leben und Arbeiten in der Akademie als einer der besten Kenner sowohl der geschriebenen als auch der ungeschriebenen Lehre Piatons gelten. In seinen Werken finden sich weit über zweihundert Zitate, Erwähnungen und Anspielungen auf platonische Dialoge, nicht wenige von ihnen mit ausdrücklicher Nennung des betreffenden Dialogs. Stellt man von hier aus die Frage, ob Aristoteles seinen Lehrer verstanden oder nicht verstanden habe, so ist ein solches Entweder-Oder viel zu einfach. Die Werke des Aristoteles sind keine philologischen oder philosophiegeschichtlichen Dissertationen. Nicht einmal in einer solchen Arbeit ist das Verstehen eines großen Philosophen ein so einfaches EntwederOder; dies ist schon gar nicht möglich, wenn der das Verständnis Erstrebende selbst ein produktiver Denker ist. Weder Aristoteles in seinem Verhältnis zu Piaton noch Kant in seinem Verhältnis zu Leibniz, keiner von diesen betreibt Philosophiegeschichte im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts, wobei noch zu fragen wäre, ob eine solche schulmäßige Philosophiegeschichte immer eine philosophische Philosophiegeschichte gewesen ist. Sowohl bei Aristoteles als auch bei Kant handelt es sich um eine Erkenntnis, die das Erkannte verwandelt. Hier kann man in der Tat sagen, was Piaton im Sophistes gesagt hat, daß jede echte Erkenntnis sowohl den Erkennenden als auch das Erkannte verändert (248 D). Das zu Erkennende verstehend zu verwandeln, das war für Aristoteles und für Kant und das ist auch für uns der Sinn der Philosophiegeschichte. Die Auseinandersetzung des Aristoteles mit Piaton zieht sich durch alle aristotelischen Werke, sie ist besonders intensiv in der Metaphysik und dort wiederum konzentriert auf den Anfang und auf das Ende. Das Buch I der Metaphysik bestimmt in den Kapiteln 1 und 2 die Aufgabe der Philosophie. Heute würde dies eine Art Antrittsvorlesung darstellen und vielleicht ist es auch etwas Ähnliches gewesen. Dann folgt in den Kapiteln 3 bis 10 eine Geschichte der griechischen Philosophie. Diese Geschichte gibt in den Kapiteln 3 bis 6 eine Darstellung und in den Kapiteln 7 bis 10 eine kritische Aus-
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einandersetzung. In diesem Aufbau findet sich im Kapitel 6 eine Darstellung der Philosophie Piatons und im Kapitel 9 eine kritische Auseinandersetzung mit ihr. Beide Kapitel sind auf die Ideenlehre konzentriert. Eine weitgehend parallele Auseinandersetzung mit der Ideenlehre findet sich in den beiden letzten Büchern der Metaphysik, und hier besonders im Buch X I I I . In diesem Buch diskutiert Aristoteles in den Kapiteln 1 bis 3 zunächst das Sein der mathematischen Gegenstände. In den Kapiteln 4 und 5 gibt er eine Darstellung und eine kritische Auseinandersetzung mit der Ideenlehre. In den Kapiteln 6 bis 9 schließlich setzt sich Aristoteles mit der Ideenlehre auseinander, sofern sie eine Lehre vom Sein der Gegenstände der Mathematik, besonders der Zahlen, ist. Schwer verständlich bleibt, daß größere Abschnitte der beiden Abhandlungen fast wörtlich miteinander übereinstimmen. Werner Jäger hat dieser Frage seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet5. Ich kann weder seine Methoden noch seine Ergebnisse vollkommen überzeugend finden. Zu diesen drei Büchern der Metaphysik tritt eine große Zahl von Stellen sowohl aus anderen Büchern der Metaphysik als auch aus anderen Sdiriften des Aristoteles. Sie reichen von der flüchtigen Erwähnung bis zur thematischen Auseinandersetzung. Will man über die Dialoge Piatons hinausgehen, dann gehört die Darstellung und die Kritik des Aristoteles zu den wichtigsten Quellen der Ideenlehre. In der im wesentlichen gleichlautenden Darstellung der Ideenlehre in Metaphysik I, 6 und Metaphysik X I I I , 4 versteht Aristoteles ihre Entstehung zugleich von Heraklit und von Sokrates her. Von Heraklit hat Piaton die Überzeugung gewonnen, daß alle Dinge in einem beständigen Fluß sind. Daraus hat er geschlossen, daß die Welt der Dinge nicht der Gegenstand des Wissens sein kann, weil echtes Wissen einen beständigen Gegenstand voraussetzt6. Durch Sokrates hat Piaton sich den reinen Begriffen zugewandt. Hier gibt Aristoteles zunächst eine Gharakteristik des Sokrates und formuliert dann den Unterschied zwischen Sokrates und Piaton: „Zweierlei nämlich ist es, was man Sokrates mit Recht zuschreiben kann: die Induktionsbeweise und die allgemeinen Begriffsbestimmungen, welche sich beide auf das Prinzip der Wissenschaft beziehen. Aber Sokrates machte das Allgemeine und den Inhalt der Begriffe zu keinem Getrennten (für sich Bestehenden), wohl aber trennten es die Verfechter der Ansicht, die
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uns jetzt beschäftigt, und gaben solchem Seienden den Namen Idee"7. Hier arbeitet Aristoteles schon in der Darstellung seinen eigentlichen Vorwurf, den Vorwurf des Chorismos, heraus. Im Aporienbuch, im Buch III der Metaphysik, erläutert Aristoteles diesen Vorwurf: „Wenn sie es auch nicht gehörig zergliedern (deutlich auseinanderlegen), so ist es doch das, was sie wollen, und sie müssen notwendigerweise es so meinen, daß jede Idee eine einzelne Substanz und nicht bloß etwas sei, das von einem anderen prädiziert wird" 8 . Hier spricht Aristoteles von seinem eignen Standpunkt aus. Für ihn ist das sinnlich wahrnehmbare Ding die Substanz. Dann kann das Allgemeine nicht selbst eine Substanz sein, es kann vielmehr nur von einer Substanz ausgesagt werden. In der Tat bestimmt Piaton die Idee als Substanz, als Ousia. Aber Ousia hat für Aristoteles eine andere Bedeutung als für Piaton. Die hier auftretenden Schwierigkeiten werden uns noch beschäftigen. Ebenfalls im Aporienbuch vergleicht Aristoteles das Sein der Ideen bei Piaton mit dem Sein der Götter im griechischen Mythos: „Ferner, soll man sagen, daß nur die sichtbaren Substanzen existieren oder noch andere als sie? Und gibt es nur eine Gattung von Substanzen oder ihrer mehrere, wie z. B. diejenigen behaupten, welche die Ideen setzen und das Mittlere, womit es ihnen zufolge die mathematischen Wissenschaften zu tun haben? Wie sie nun die Ideen, Ursachen und Substanzen für sich sein lassen, davon ist zwar in den ersten Erörterungen die Rede gewesen, indem aber diese Theorie in vielen Beziehungen Schwierigkeiten bereitet, so ist es doch besonders unangebracht, zu behaupten, daß gewisse außerweltliche Wesen existieren, zugleich aber zu behaupten, daß sie dieselben sind wie die sichtbaren Dinge, nur daß sie ewig sind, während diese vergehen. Denn sie lassen einen Menschen-an-sich, Pferd- und Gesundheit-an-sich existieren, sonst aber sagen sie nichts, so daß sie es ähnlich machen, wie diejenigen, welche zwar das Dasein von Göttern behaupten, aber solcher von menschlicher Gestalt. Denn wie diese nur ewige Menschen aufstellten, so machen die gedachten Philosophen die Ideen lediglich zu ewigen Sinnendingen"9. Dieser Gedanke, daß die Götter nur unsterblidie Mensdien sind, ist von den Philosophen ebenso wie von den Sophisten wiederholt
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geäußert worden; er liegt in der Tat bei der bunten Fülle des griechischen Mythos besonders nahe. Xenophanes hat nach dem Bericht des Timon die Götter von den Menschen abgeleitet 10 . Heraklit gibt nach dem Bericht des Lukian auf die Frage: Was sind die Götter? die Antwort: Unsterbliche Menschen11. Aristoteles erhebt also gegen die Ideenlehre den Vorwurf, sie trenne die Ideen von den Dingen, also den Vorwurf des Chorismos, und sie setze in den Ideen die Dinge lediglich noch einmal, also den Vorwurf der Weltverdoppelung. Es wird unsere Aufgabe sein, zu zeigen, daß diese Vorwürfe des Aristoteles keineswegs ganz unberechtigt sind. Es handelt sich um grundsätzliche Schwierigkeiten der Ideenlehre, und wir werden zeigen müssen, daß auch Piaton selbst diese Schwierigkeiten bereits gesehen hat. Wir wollen uns zunächst einen Überblick darüber verschaffen, wie die Auseinandersetzung des Aristoteles mit Piaton beurteilt worden ist. Wir wählen dazu vier große Interpretationen: Natorp, Cherniss, Ross und Jäger. Paul Natorp betrachtet die Auseinandersetzung von Aristoteles mit Piaton als ein völliges Mißverständnis und lehnt sie daher gänzlich ab. Seine Piatondarstellung erschien 1902 und in einer zweiten erweiterten Auflage 1921. Es handelt sich um eine Platoninterpretation von einem extrem idealistischen Standpunkt aus. Natorp hat dies deutlich gemacht, indem er seinem Werk den Untertitel gab: Eine Einführung in den Idealismus. Die beiden letzten Kapitel behandeln thematisch die Auseinandersetzung von Aristoteles mit Piaton. Das Kapitel 11 trägt die Überschrift: Aristoteles und Plato, das Kapitel 12 die Überschrift: Die aristotelische Kritik der Ideenlehre. Die Generalthese von Natorp lautet: Die Ideen sind Gesetze, nicht Dinge12. In Konsequenz dieser Auffassung erscheint das Newtonsche Attraktionsgesetz als Beispiel für eine Idee: „ . . . sobald man sich als Beispiel einer platonischen Idee ein Gesetz wie etwa das Newtonsche Attraktionsgesetz denkt" 13 . Von hier aus wird die aristotelische Kritik zugespitzt zu der These: Nach der Überzeugung des Aristoteles sind die Ideen Dinge, ewige Dinge zwar, aber doch Dinge14. Die in dieser Weise zugespitzte Kritik des Aristoteles an der Ideenlehre wird völlig abgelehnt. Es handelt sich um ein Mißverständnis und um weiter nichts. Aristoteles hat seinen Lehrer Piaton nicht ver-
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standen, und er konnte ihn von seinem eignen systematischen Standpunkt aus auch gar nicht verstehen15. Man könnte diesen Gedankengang freilich audi umkehren und sagen, daß Natorp auf einem so extrem idealistischen Standpunkt steht, daß es für ihn unmöglich wird, die Kritik des Aristoteles an der Ideenlehre zu verstehen. Man ist zunächst geneigt, es für völlig absurd zu halten, wenn Natorp als ein Beispiel für eine platonische Idee das Newtonsche Attraktionsgesetz gibt. Dazu würde man besonders geneigt sein, wenn man den Erwägungen des ersten Teils dieser Interpretation seine Zustimmung nicht versagt. Wir haben die Ideen mit den Göttern des griechischen Mythos in Beziehung gesetzt. Wir haben besonders auf die Hygieia hingewiesen, Göttin des griechischen Mythos und zugleich Idee Piatons. Wie kann man dann als Beispiel für eine Idee das Attraktionsgesetz überhaupt diskutabel finden? Allein ganz so absurd ist dies doch nicht. Denkt man an die Hypostasierungstendenz in der Ideenlehre, dann wird man auch daran denken, daß die Newtonsche Mechanik immer wieder wie ein Götterbild auf hehren Sockel gestellt worden ist, und Natorp selbst neigt zu einer solchen Glorifizierung. Aber es gibt Gesichtspunkte, unter denen die Interpretation von Natorp ihre guten Gründe hat. Viele der von Piaton ausdrücklich genannten Ideen haben Gesetzescharakter, die Idee der Drei, die Idee des Kreises, die Idee der Gleichheit, von der Idee der Gerechtigkeit gar nicht zu reden. Die Schwierigkeit liegt nicht in der These: Die Ideen sind Gesetze. In einem gewissen Sinne haben, davon bin ich überzeugt, auch Piaton und Aristoteles dies sagen wollen. Nun ist es zwar nicht leicht zu sagen, was eine Idee ist, aber es ist ebensowenig leicht zu sagen, was ein Gesetz ist. Hier aber lag offenbar für Natorp kein Problem mehr. Mit der These: Die Ideen sind Gesetze war für ihn alles gesagt, was gesagt werden kann, und mit dieser These war für ihn alles geklärt. Aber hier beginnt doch erst die systematische Frage und hier hat sie für Piaton und für Aristoteles begonnen. Die Frage müßte vielmehr lauten: Was ist ein Gesetz? Man darf vermuten, daß Natorp im Sinne Hegels antworten würde: Die Gesetze sind und sie sind allein das Sein. Dies würde dem pythagoräischen Standpunkt in der von uns interpretierten Auffassung nahestehen. Vielleicht kann man diesen Standpunkt von Pythagoras, von Hegel und von Natorp nicht mit rein logischen Grün-
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Teil I I : Die Reflexion auf die Ideenlehre
den widerlegen. Allein die Fragen der Ontologie enden nidit mit einer solchen These, sie beginnen erst mit ihr. Bei alledem scheint mir sicher zu sein, daß die Interpretation von Natorp wichtige Aufschlüsse über Piaton gibt. Man muß sich nur immer vor Augen halten, daß es sich um eine Interpretation von einem extrem idealistischen Standpunkt aus handelt. Eine solche Interpretation ist in der Lage, das bei Piaton unzweifelhaft vorhandene idealistische Moment deutlich zu machen, die Auseinandersetzung des Aristoteles mit Piaton allerdings muß für diesen Standpunkt unverständlich bleiben. Cherniss hat die aristotelische Kritik an der Ideenlehre in einem umfangreichen Werk behandelt, das den Titel trägt: Aristotle's Criticism of Plato and the Academy. Der erste Teil, die Kritik an Piaton, ist 1944 erschienen, der zweite Teil, die Kritik an der Akademie, liegt noch nicht vor. Nur mit Staunen wird man den ungeheuren Stoff betrachten können, der hier zusammengetragen worden ist. Allein in nicht wenigen Fällen hat man den Eindruck, daß die Philologie die Oberhand über die Philosophie gewonnen hat. Aber auch die Philologie würde gewinnen, wenn einmal die Register vorliegen, die vermutlich erst nach dem zweiten Band vorgesehen sind. Die Darstellung von Cherniss gliedert sich in drei Kapitel. Das erste Kapitel behandelt: Diaeresis, Definition, and Demonstration. Das zweite Kapitel behandelt: The material Substrate. Das dritte Kapitel behandelt: Form and its Relation to Matter. Es gliedert sich wiederum in vier Abschnitte: 1. The Origin and Nature of the Piatonic Ideas. 2. The Formal Demonstrations and their Rebuttal. 3. The Idea as Substance. 4. The Relation of Ideas and Particulars18. Von dem weitgespannten Werk ist der dritte Abschnitt des dritten Kapitels für uns bei weitem der wichtigste. In der Tat ist die darin behandelte Frage: The Idea as Substance für die ontologische Diskussion besonders wichtig. Cherniss geht mit Recht davon aus, daß nach Aristoteles Piaton die Idee als Substanz, als Ousia betrachtet hat. Cherniss stellt fest, daß diese Auffassung des Aristoteles in der Tat zutrifft: Plato „does, moreover, call the ideas ousia . . . and say that they exist ,apart"* 17 . Cherniss arbeitet mit Recht heraus, daß für Aristoteles der Begriff der Substanz das eigentliche Kriterium für Realität überhaupt und damit auch das Kriterium für die Realität der Ideen ist,
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und daß damit der Begriff der Realität das zentrale Problem in der Auseinandersetzung mit Piaton wird. Die Lösung von Cherniss geht dahin, daß Piaton und Aristoteles zwei verschiedene Begriffe von Substanz haben: „The opposite attitudes of Piaton and Aristotle toward the ,third man' argument epitomize the fundamental difference of their notions of reality" 18 . Diese einfache Lösung: Piaton und Aristoteles haben verschiedene Begriffe von Realität, ist aber viel zu einfach. Was Cherniss sagt, ist richtig, der Zusammenhang ist aber viel verwickelter, als man nach Cherniss glauben sollte. In der Tat meint für Piaton, und wir werden dies im einzelnen zeigen müssen, Ousia zunächst allein die Realität der Idee. Aber in den späten Dialogen nimmt Ousia auch die Bedeutung der Realität der Dinge an. Auch für Aristoteles gibt es diese beiden Bedeutungen von Ousia, für ihn ist aber die Realität der Dinge die Hauptbedeutung, die Realität der Ideen nur eine abgeleitete Bedeutung. Hier besteht freilich eine Diskrepanz der Interpretationen. Unserer Auffassung nach ist für Piaton die Realität der Ideen die Hauptbedeutung, die Realität der Dinge tritt als weitere Bedeutung hinzu. Aristoteles kehrt das Verhältnis von Hauptbedeutung und abgeleiteter Bedeutung um. Für ihn ist die Realität der Dinge die Hauptbedeutung, die Realität der Ideen die abgeleitete Bedeutung. Man kann also nicht einfach sagen, Piaton und Aristoteles haben verschiedene Begriffe von Realität. Es handelt sich vielmehr um einen wichtigen Prozeß der Bedeutungsentfaltung und des Bedeutungswechsels. Piaton fügt zu der, wenn man einmal so sagen darf, platonischen Bedeutung von Realität als Realität der Ideen die, wenn man wiederum so sagen darf, aristotelische Bedeutung als Realität der Dinge hinzu, und Aristoteles nimmt dann einen Bedeutungswandel vor, indem er das Verhältnis von Hauptbedeutung und abgeleiteter Bedeutung umkehrt. Dieser Prozeß wird eines unserer wesentlichen Themen sein, wenn auch eine abgeschlossene und endgültige Lösung schwerlich erreichbar ist. Den entschiedenen Gegensatz zu der Interpretation von Natorp bildet die Interpretation von Ross. Ross hat 1924 die Metaphysik des Aristoteles herausgegeben. Diese Ausgabe enthält einen revidierten Text, einen Kommentar und eine ausführliche Einleitung. 1951 hat er unter dem Titel: Plato's Theory of Ideas eine Darstellung der Ideenlehre Piatons folgen lassen.
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Ross wendet der Kritik des Aristoteles an der Ideenlehre Piatons seine intensive Aufmerksamkeit zu. Dabei versteht er diese Kritik von einem dezidiert aristotelischen Standpunkt aus. Ross sagt ausdrücklich: „ . . . that the Idea is not an another thing, but an attrib u t e . . ." 19 . Von dieser systematischen Bestimmung ist die erste Hälfte unzweifelhaft richtig und von allen Interpreten anerkannt, die zweite Hälfte aber ist der klare aristotelische Standpunkt. Wenn die Idee das Attribut eines Dinges ist, dann hat Aristoteles Recht und dann muß Piaton von hier aus verstanden werden. Dann wird der Zusammenhang zwischen Aristoteles und Piaton das allein Wesentliche und die Gegensätze treten zurück. In diesem Sinne sagt Ross ausdrücklich: „In the face of this Community of thought between Plato and Aristotle, the question on whidbt Aristotle lays so much stress, whether universals exist apart from particulars or not, seems almost to be a question of words" 20 . Sowohl in der Interpretation Piatons als auch in der Interpretation des Aristoteles nimmt Ross das Verhältnis der beiden als ein durchaus kontinuierliches an und er betrachtet konsequenterweise die aristotelische Kritik an der Ideenlehre als durchaus positiv. Manchmal möchte man zweifeln, ob man das Verhältnis zwischen Piaton und Aristoteles besser versteht, wenn man mit Natorp nur den Gegensatz sieht, oder mit Ross nur den Zusammenhang. Hier hat Hegel tiefer gesehen. Es handelt sich, wie in jeder echten philosophischen Auseinandersetzung, um eine Dialektik. Das Verhältnis von Aristoteles zu Piaton ist auch für Werner Jäger fundamental. Werner Jäger hat zunächst Untersuchungen über die Metaphysik des Aristoteles vorgelegt 21 und dann eine Gesamtdarstellung des Aristoteles folgen lassen. Für Werner Jäger ist das genetische Moment grundlegend, für ihn muß die Philosophie des Aristoteles aus ihrer Entwicklung heraus verstanden werden 22 . Für ein Verständnis dieser Entwicklung gibt das Verhältnis des Aristoteles zu Piaton den roten Faden. Jäger geht davon aus, daß Aristoteles zunächst ein Sdiüler Piatons und ein Anhänger der Ideenlehre gewesen ist. Allmählich hat er sidi aber von der Ideenlehre abgewandt und ist ihr entschiedener Gegner geworden 23 . Die Schwierigkeit entsteht nun dadurch, daß das opus aristotelicum keine zeitliche, sondern eine systematische Ordnung darstellt. Diese — sei es von Aristoteles, sei
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es von den Editoren — systematisch geordneten Werke müssen also zerlegt und die so entstandenen Stücke zeitlich geordnet werden. Werner Jäger stellt von seinem Grundansatz: Erst Schüler, dann Gegner Piatons ausgehend, eine zeitliche Ordnung her und begründet dann aus der so hergestellten zeitlichen Ordnung den Grundansatz. So hängt alles an der Tragkraft des Grundansatzes. E r erscheint zunächst recht plausibel, aber man muß doch fragen, ob nicht auch ein anderer Grundansatz möglich gewesen wäre, der dann auch zu anderen Ergebnissen geführt hätte. Ein instruktives Beispiel gibt das Verhältnis von Kant zu Leibniz. Kant ist in den vorkritischen Schriften ein entschiedener Anhänger von Leibniz. E r tritt dann, etwa in den Jahren 1763/64 beginnend, in Gegensatz zu Leibniz, und die Kritik der reinen Vernunft ist die schärfste Form dieses Gegensatzes. Erst später gewinnt Kant ein neues und tieferes Verständnis von Leibniz. So könnte es doch sein, daß Aristoteles bei seinem Eintritt in die Akademie in jugendlichem Feuer in einen entschiedenen Gegensatz zur Ideenlehre geraten ist und daß er erst später ein tieferes Verständnis für diese Lehre gefunden hat. Alles hängt an der Frage der zeitlichen Ordnung der aristotelischen Lehrstücke. Blickt man auf das Problem bei Piaton zurück, so wird man zweifeln, ob das chronologische Problem bei Aristoteles überhaupt lösbar ist. So bleiben von den großen Interpretationen des Verhältnisses von Aristoteles zu Piaton unter ontologischen Gesichtspunkten Natorp und Ross die wichtigsten. Daß in beide Interpretationen der systematische Standpunkt des Interpreten eingeht, betrachte ich nicht als einen Mangel, sondern als eine Notwendigkeit. Zieht man aus den Texten des Aristoteles und ihren Interpretationen das Wesentliche zusammen, dann ergeben sich zwei Hauptmomente: das Chorismosproblem und das Realitätsproblem. In der ersten Frage wirft Aristoteles seinem Lehrer Piaton vor, er habe einen Chorismos, eine räumliche Trennung zwischen den Ideen und den Dingen, gelehrt. In der zweiten Frage erhebt Aristoteles den Vorwurf, Piaton habe nicht zwischen dem Sein der Ideen und dem Sein der Dinge unterschieden und er habe deshalb das Sein der Ideen als dasselbe wie das Sein der Dinge angesehen.
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Teil II: Die Reflexion auf die Ideenlehre
Beide Fragen führen in eine echte Auseinandersetzung mit der Ideenlehre. Auch hier würde, ich darf es wiederholen, das Wort variiert werden können, das Aristoteles von den Zahlen gesagt hat 24 . In derselben Weise könnte man sagen: Nicht ob es die Ideen gibt, sondern wie es die Ideen gibt, das ist allein das philosophische Problem. Eine solche Fragestellung würde, wie idi glaube, auch die positive Meinung des Aristoteles zum Ausdruck bringen. §11
Der Dialog
Parmenides
Die Dialoge Piatons bieten der Interpretation viele Schwierigkeiten, die Schwierigkeiten des Dialogs Parmenides sind aber fast unüberwindlich. Für Plotin und seine Anhänger ist der Parmenides einer der Höhepunkte des Philosophierens von Piaton. In diesem Sinne schreibt etwa im fünften Jahrhundert Proklos seinen großen Kommentar1. Hegel betrachtet den Parmenides als ein Meisterwerk der Philosophie Piatons und der Philosophie überhaupt2. Im Gegensatz dazu vermag Wilamowitz-MöllendorfF, so wie viele von der Altertumskunde herkommende Piatonkenner, zu diesem Dialog einen Zugang überhaupt nicht zu gewinnen, er empfindet ihn als seltsam und als unplatonisdi8. Audi Taylor sieht in ihm nur ein jeu d>esprit4. im neunzehnten Jahrhundert waren viele Interpreten vor den Schwierigkeiten des Dialogs so ratlos, daß sie keinen anderen Ausweg wußten, als ihn für unecht zu erklären; ich verweise etwa auf Überweg5. Im Anfang unseres Jahrhunderts hat sich die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß das Verständnis der Philosophie Piatons vom Verständnis gerade dieses Dialogs wesentlich abhängt. Es war besonders Natorp, der mit Nachdruck gerade auf diesen Dialog hingewiesen hat6. Heinrich Gomperz hat dieser Situation einen zusammenfassenden Ausdruck gegeben7. Die hier vorgelegte Interpretation versucht dies fortzuführen. Der Dialog ist ein Gespräch zwischen Parmenides, Zenon und Sokrates. Es wird gesagt, Parmenides sei sechzig Jahre alt gewesen, Zenon etwa vierzig und Sokrates sei noch sehr jung gewesen (127 B). Danach müßte man sich das Gespräch etwa im Jahre 450 denken, und Sokrates wäre dann 19 Jahre alt gewesen. Obwohl Piaton den Sokrates sowohl im Theaitetos (183 E) als auch im Sophistes (217 C)
§ 1 1 Der Dialog Parmenides
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an eine Begegnung mit Parmenides erinnern läßt, muß es dennoch offen bleiben, ob ein solches Zusammentreffen wirklich stattgefunden hat. Dies hängt zunächst von den Lebenszeiten des Parmenides und des Zenon ab, die wir nicht hinreichend genau kennen. Vielleicht sind die Angaben der Alten gerade erst aus dem Dialog Parmenides erschlossen worden. Selbst wenn eine solche Begegnung stattgefunden hat, so ist es meiner Meinung nach nicht möglich, daß auf dieser Begegnung das im Dialog wiedergegebene Gespräch geführt worden ist. Dies Gespräch setzt die Kenntnis der voll entwickelten Ideenlehre und ihrer Schwierigkeiten voraus. Dann müßte also der neunzehnjährige Sokrates nicht nur die Ideenlehre voll entwickelt haben, er müßte auch bereits ihre Schwierigkeiten erkannt haben, und dies müßte schon so früh geschehen sein, daß die Kenntnis davon bereits bis Elea gedrungen wäre. Nun kann man vielleicht darüber streiten, ob die Ideenlehre von Sokrates oder von Piaton entwickelt worden ist. Ich selbst schließe midi der Meinung des Aristoteles an, der die Ideenlehre Piaton zuschreibt. Wie immer man sich entscheiden möge, es ist nicht möglich, die Ideenlehre dem siebzehn bis neunzehn Jahre alten Sokrates zuzuschreiben. Es gibt kein Zeugnis dafür, daß die Ideenlehre bereits um 450 existiert hätte. Nach meiner Überzeugung sind die Probleme des Parmenides die Probleme der Zeit, in der der Dialog geschrieben wurde, also die Probleme, um ganz weite Grenzen zu setzen, der Jahre 380 bis 360. Der Dialog besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist eine Kritik der Ideenlehre, der zweite eine Dialektik. Weder der erste noch der zweite Teil konnten bis jetzt völlig verständlich gemacht werden, und daraus folgt sofort, daß auch der Zusammenhang der beiden Teile bis jetzt nicht verständlich gemacht werden konnte. Auch die hier vorgelegten Analysen können das Verständnis des Dialoges nur ein Stück weit fördern, ein völlig klares und endgültiges Verständnis können und wollen sie nicht geben, wobei die Frage dahingestellt bleiben muß, ob ein endgültiges Verständnis bei diesem Dialog überhaupt möglich ist. Ich will auf die mögliche Interpretation des zweiten Teiles kurz eingehen, obwohl er über das Thema unserer Untersuchungen hinausgeht. Dieser zweite Teil bringt in acht Beweisgängen, in die noch ein neunter eingebaut ist, eine streng formal aufgebaute Dialektik. Dieser
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Teil II: Die Reflexion auf die Ideenlehre
streng formale Charakter wird in der Zusammenfassung, die Piaton selbst am Schluß des Dialoges gibt, besonders betont: „So sei demnach dieses gesagt, und auch, daß, wie es scheint, ob Eins nun ist oder nicht ist, es selbst und die Anderen, und zwar für sich sowohl als in Beziehung aufeinander, alles auf alle Weise ist und nicht ist und scheint sowohl als nicht scheint. — Vollkommen wahr" (166 C). So ergibt sich der folgende Aufbau: Wenn Eins ist so ist es selbst Alles Alles nicht so ist das Andere Alles Alles nicht Wenn Eins nicht ist so ist es selbst Alles Alles nicht Alles so ist das Andere Alles nicht In diesem Aufbau, wie die Sdilußzusammenfassung ihn darstellt, ist der erste mit dem zweiten Beweisgang vertauscht, außerdem ist nach dem zweiten Beweisgang ein dritter eingeschoben, so daß wir insgesamt neun Beweisgänge haben. Für die Interpretation hilft nicht viel, wenn man den Dialog bloß für ein geistreiches Spiel oder wenn man ihn gar für unecht erklärt. Man braudit nidit zu leugnen, daß sich spielerische Schlüsse finden, aber es ist schwer zu glauben, daß Piaton die umfangreiche zweite Hälfte des Parmenides als ein bloßes Spiel geschrieben hat. Für die Unechtheit könnte gewiß sprechen, daß Aristoteles, der fast alle Dialoge Piatons nennt und zitiert, gerade den Parmenides weder nennt noch zitiert. Dies ist nicht unverständlich, wenn man den zweiten, den dialektischen Teil betrachtet. Aristoteles hielt nicht viel von der Dialektik, und so wird man vermuten dürfen, daß er den zweiten, den dialektischen Teil des Parmenides für einen Irrweg Piatons hielt. Schwieriger ist das Verhältnis des Aristoteles zum ersten Teil des Parmenides zu verstehen. Die dort von Piaton gegen die Ideenlehre vorgetragenen Schwierigkeiten und Einwände sind, wie wir noch sehen werden, dieselben, die Aristoteles später vorgetragen hat. Man hat dies so verstehen wollen, daß die im Parmenides vorgetragenen Einwände von dem jungen Aristoteles nach seinem Eintritt in die
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Akademie entwickelt worden sind 8 . Allein diese Hypothese stößt auf zeitliche Schwierigkeiten. Man kann schwerlich annehmen, daß der Parmenides erst geraume Zeit nach 367, dem Eintritt des Aristoteles in die Akademie, geschrieben sein könnte. Wenn auch diese Schwierigkeiten bis heute nicht gelöst worden sind, so sind die Interpreten heute mit einer Einhelligkeit, wie sie bei Piaton nicht größer erwartet werden kann, der Meinung, daß der Dialog Parmenides von Piaton selbst geschrieben worden ist, und ich schließe midi dieser Meinung an. Prüft man die vorgelegten Interpretationen des dialektischen Teiles, so ist die wichtigste und geschiditlidi wirksamste die des Neuplatonismus, die uns im Kommentar des Proklos vorliegt 9 . Für diese Interpretation sind die acht Beweisgänge die Beschreibung von acht Stufen der Entfaltung des Seins. Der erste Beweisgang, in dem eben gegebenen systematischen Aufbau der zweite, sagt: Dem Eins kommt jede Bestimmung nicht zu. In der Tat kann vom Standpunkt des Neuplatonismus dem Ureinen keine Bestimmung prädiziert werden, und der erste Beweisgang kann in gewisser Weise als theologia negativa verstanden werden. Es ist möglich, den ersten Beweisgang in dieser Weise zu interpretieren, aber bei den folgenden Beweisgängen wird diese Möglichkeit immer geringer, und so wird es verständlich, daß die Interpretation von Proklos bald versiegt. Für diese Interpretation handeln die acht Beweisgänge jeweils von einem anderen Bereich des Seins, oder anders ausgedrückt, die Bedeutung von Einheit und Sein ist jeweils verschieden. Damit wird aber die von Piaton entwickelte Dialektik weginterpretiert. Es ist selbstverständlich, daß von einer echten Dialektik nicht mehr die Rede sein kann, wenn die Subjektbegriffe der formal einander widersprechenden Sätze verschiedene Bedeutung haben. Auf einer solchen Annahme einer Bedeutungsverschiedenheit beruht im Grunde genommen auch die Interpretation von Cornford. Auch er geht davon aus, daß es sich bei den verschiedenen Beweisgängen um verschiedene Bedeutungen von Sein und Einheit handelt, und er sagt dies beim ersten10 und beim zweiten Beweisgang11 auch ausdrücklich. Eine solche Interpretation würde bedeuten, daß Piaton auf eine fundamentale philosophische Einsicht gestoßen wäre, nämlich auf die Lehre von der Bedeutungsvielheit von Sein, eine Lehre, die ausdrück-
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lidi erst Aristoteles gelehrt hat. Idi selbst werde in der hier vorgelegten Interpretation der Ideenlehre von der aristotelischen Lehre Gebrauch machen, und ich bin auch überzeugt, daß sie implizit bereits bei Piaton vorliegt. Gleichwohl ist auch die Interpretation von Cornford denselben Bedenken ausgesetzt, die wir soeben gegen Proklos geltend gemacht haben. Man sollte vielmehr dem Hinweis von Hegel folgen und den zweiten Teil des Parmenides als eine echte Dialektik zu verstehen suchen. Freilich hängt dies auch vom systematischen Standpunkt ab. Gibt es überhaupt eine echte Dialektik, das heißt, gibt es überhaupt zwei sich in einem präzisen Sinne widersprechende Sätze, die beide wahr sind? Es wäre doch auch möglich, daß die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch absolut ist, so daß das Auftreten von Widersprüchen immer auf einem logischen Fehler beruht, es sei auf einem Fehler in den Definitionen, es sei auf einem Fehler in den Axiomen, es sei auf einem Fehler in den Schlußfolgerungen. Dies dürfte die Meinung von Aristoteles und ebenso die von Leibniz gewesen sein. Dagegen steht die Meinung von Kant und von Hegel. Kant glaubt an eine Dialektik in einem umgrenzten Bereich, Hegel glaubt an eine allgemeine Dialektik. Haben Aristoteles und Leibniz recht, dann müßte die Dialektik von Hegel ebenso wie die Dialektik von Kant voll von logischen Fehlern sein. Man wird zugeben müssen, daß die auftretenden Probleme nicht einmal logisch geklärt sind. Es ist nicht einmal eine Methode bekannt, mit der sie geklärt werden könnten. Gleichwohl sprechen Erwägungen aus der modernen Logik und Grundlagenforschung dafür, daß die platonische Dialektik im Dialog Parmenides eine echte Dialektik ist. Um dies nachzuweisen, müßte man zeigen, daß sich überhaupt an irgendeiner Stelle ein echter Widerspruch findet, und man müßte weiter zeigen, daß sich dieser Widerspruch rechtmäßig über alle Begriffe ausbreitet. Prüft man zunächst die erste Frage, so ist in der Ideenlehre ein Widerspruch unvermeidlich. Wenn Sein und Einheit Ideen sind, und wenn jeder Idee Sein und Einheit zukommt, dann muß sich nach unseren heutigen Kenntnissen eine Selbstanwendung und also ein Widerspruch ergeben. Daß die Idee der Schönheit ein echtes Sein und eine echte Einheit hat, gehört zu den Grundsätzen der Ideenlehre und ist auch unverfänglich. Das Problem tritt erst auf, wenn Sein und Einheit selbst Ideen werden,
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was sie im Phaidon, soweit man sehen kann, noch nicht waren. Sind sie aber Ideen, dann ist die Idee des Seins selbst ein Sein und die Idee der Einheit selbst eine Einheit. Dies ist also in aller Form eine Selbstanwendung, und Piaton scheint das Problem der Selbstanwendung intuitiv geahnt zu haben. Wir werden beim TRITOS ANTHROPOS darauf zurückkommen. Aus dieser Selbstanwendung muß aber nach unseren heutigen Kenntnissen ein Widerspruch fließen. Existiert aber auch nur ein echter Widerspruch, dann müssen nach einem schon im Altertum bekannten Satz der Logik alle Widersprüche auftreten. In der Tat beginnt Piaton jeweils mit einem Widerspruch und führt dann den Widerspruch durch alle Begriffe durdi. Natorp, der an sich die Dialektik ablehnt, sieht mit Recht diese Durchführung durch alle Begriffe als bemerkenswert an, er sieht hier ein System der Kategorien vor sich12. Dies ist vielleicht nicht unmöglich und ist durchaus damit zu verbinden, daß ein Widerspruch alle Widersprüche nach sich zieht. Es ist nicht unsere Absicht, die platonische Dialektik zu interpretieren. Dies würde uns in umfangreiche Analysen führen, die besonders das Verhältnis der Hegeischen Dialektik zur Platonischen Dialektik untersuchen müßten. Wir haben unsere Vorstellungen an einer anderen Stelle entwickelt. Wir wollen hier nur soviel sagen, daß uns die Interpretation des zweiten Teiles des Parmenides als einer echten Dialektik nicht unmöglich erscheint. Eine solche Interpretation würde es auch möglich machen, einen Zusammenhang zwischen den beiden Teilen des Parmenides zu finden. Wenden wir uns dem ersten Teil des Parmenides zu, so sind dort die Schwierigkeiten der Interpretation keineswegs geringer. Dieser erste Teil stellt eine scharfe Kritik der Ideenlehre dar, und die besondere Schärfe dieser Kritik besteht darin, daß für die vorgetragenen Einwände eine Lösung nicht gegeben wird. Es stellt sich zunächst die Frage: Welches ist die Ideenlehre, die hier kritisiert wird? Ist es die Ideenlehre von Piaton selbst, und wenn es nicht die Ideenlehre von Piaton selbst ist, von wem stammt die hier kritisierte Ideenlehre? Die Interpreten des neunzehnten Jahrhunderts konnten sich nicht vorstellen, daß Piaton seine eigne Ideenlehre in dieser Weise kritisiert. Dann muß die hier kritisierte Ideenlehre bei anderen Philosophen gesucht werden. Dafür sind verschiedene Vorschläge gemacht worden.
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Man hat an Platonsdiüler gedacht, die ihren Lehrer mißverstanden hätten. Natorp hat an die megarische Schule gedacht13, ebenso Taylor 14 . Aber alle diese Vorschläge sind reine Vermutungen geblieben, wir wissen nidits von solchen hypothetisch angesetzten Ideenlehren. So hat sich das Interesse der Interpreten der Frage zugewandt, ob die im ersten Teil des Parmenides gegebene Ideenkritik sich nicht doch auf Piatons eigne Ideenlehre beziehen könnte. Das müßte also bedeuten, daß sie sich auf die in den vier großen Ideendialogen gegebene Ideenlehre bezieht. Die endgültige Lösung hat Cornford dadurch erreidit, daß er in Parmenides 130 E ein Zitat aus Phaidon 102 B gefunden hat. So kann Cornford mit Recht sagen: „It is generally agreed that the theory of ideas here put forward is identical with the theory as stated earlier in the Phaedo" 15 . Die im Parmenides kritisierte Ideenlehre findet sich in der Tat in den großen Ideendialogen. Dies gilt zunädist von den hier genannten vier Gruppen von Ideen, die wir im ersten Teil ausführlich behandelt haben. Ohne Zweifel geben die beiden ersten Gruppen, die logischmathematisdien und die ethisch-ästhetischen Ideen im wesentlichen die Ideen wieder, von denen Piaton im Phaidon und in der Politeia gesprochen hatte. Die Ideen der dritten Gruppe, die biologischen Ideen, treten zwar erst in den späten Dialogen auf, es kann aber kein Zweifel sein, daß sie authentische platonische Ideen sind. Von den Ideen der vierten Gruppe, den Ideen der geringen Dinge, findet sich sonst kaum etwas. Es läßt sich aber verstehen, daß in einer thematischen Untersuchung über den Umfang der Ideenlehre die Möglichkeit auch solcher Ideen diskutiert wird. Dagegen bleibt es unverständlich, warum die Möglichkeit von Ideen der technisch hergestellten Dinge hier nicht zur Sprache kommt. Sie finden sich weithin in den Dialogen vom Kratylos und der Politeia bis zum siebten Brief. Für die Tatsache, daß sie hier nicht erwähnt werden, konnte bis jetzt eine Erklärung nicht gefunden werden. Bis auf die Ideen der technisch hergestellten Dinge aber decken sich die hier genannten Ideen im wesentlichen mit denjenigen Ideen, die in den großen Ideendialogen genannt werden. Im folgenden werden wir die Probleme des CHORISMOS, der M E T H E X I S und des TRITOS ANTHROPOS thematisch analysie-
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ren; hier können wir zunächst darauf hinweisen, daß diese Probleme sich bereits in den früheren Dialogen finden. Das Problem der Methexis, wir haben dies bereits gesagt, trägt Piaton schon im Phaidon ausdrücklich vor. Die mit der Methexis zusammenhängenden Termini finden sich an vielen Stellen der Ideendialoge. Schon zu der Zeit, als Piaton den Phaidon schrieb, muß in der Akademie die Problematik der Methexis diskutiert worden sein. Der Chorismos findet sich zwar in der im Parmenides gebrauchten Terminologie nicht in den großen Ideendialogen, er ist aber der Sache nach da. Der Götterzug des Phaidros, das Höhlengleichnis der Politeia, der Aufstieg zur Idee des Schönen im Symposion, die Trennung der Seele vom Körper im Phaidon, diese und manche andere Stelle beruhen auf einer fast handgreiflichen Chorismosvorstellung. Der tritos anthropos hat zunächst bei den Piatoninterpreten wenig Verständnis gefunden, obwohl schon Aristoteles die Bedeutung dieses Arguments erkannt hatte. Nachdem aber in der modernen Grundlagenforschung diese Bedeutung des Arguments sichtbar wurde, hat man das Argument selbst an zahlreichen anderen Stellen in den Dialogen Piatons wiedergefunden. So wird die heute durchweg angenommene Überzeugung verständlich, daß die Ideenkritik im Parmenides eine Selbstkritik Piatons darstellt; ich darf auf Cornford 16 , Ross 17 , Friedländer18, Gauss 19 , Sellars 20 und Vlastos 21 verweisen. Auf die Hypothese, daß die Schwierigkeiten des ersten Teiles von Aristoteles stammen, haben wir bereits hingewiesen. Ebenso schwierig ist die Frage, wie Piaton sich zu der von ihm selbst entwickelten Kritik an der Ideenlehre gestellt hat. Kucharski22 und Wolff 23 haben daraus den Schluß gezogen, daß Piaton die Ideenlehre aufgegeben hat. Ich will im Gegenteil versuchen, aus systematischen Gründen verständlich zu machen, daß Piaton, trotz der von ihm selbst entwickelten Kritik, an der Ideenlehre festhält. Wenn die Kritik der Ideenlehre im Parmenides ebenso wie die analoge Kritik im Sophistes sich gegen Piatons eigne Ideenlehre richtet, dann erhalten diese beiden Dialoge im Gesamtverständnis Piatons eine besondere Bedeutung. Dann muß nicht nur die Ideenlehre der großen Ideendialoge verstanden werden, sondern es muß auch verstanden werden, daß Piaton in eine ausdrückliche Auseinander-
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setzung mit seiner eignen Ideenlehre eintritt. Die hier vorgelegte Untersuchung hofft einen Beitrag zu dieser Aufgabe liefern zu können. Es mag schon sein, daß kaum ein anderer Philosoph mit einer solchen Intensität in eine Auseinandersetzung mit seinem eignen Grundansatz eingetreten ist. Aber vielleicht macht diese Auseinandersetzung mit sich selbst, diese kritische Reflexion auf den eignen Grundansatz, nicht zum wenigsten die Größe Piatons aus.
§ 12 Der Dialog Sophistes Der Sophistes ist für die Philosophie von besonderer Bedeutung, weil in diesem Dialog zum erstenmal von Piaton und damit zum erstenmal in der Geschichte des Denkens die Frage gestellt wird: Was ist das Sein? Aristoteles erhebt die Frage zur Grundfrage der Philosophie. Vielleicht kann man darüber streiten, ob und in welchem Sinne diese Frage möglich ist. Wie immer man sich entscheiden möge, man sollte die Frage immer wieder dort aufsuchen, wo sie entstanden ist und wo sie vermutlich am durchsichtigsten ist. Ehe wir zur systematischen Diskussion übergehen, müssen wir auch hier eine Entscheidung über den Quellenwert des Dialoges treffen. Im Dialog Sophistes setzt sich Piaton in aller Form mit den Möglichkeiten auseinander, die vor ihm im griechischen Denken aufgezeigt worden sind. Piaton entwickelt die große Antithese zwischen Parmenides und Heraklit und fordert eine Synthese. Piaton zeigt weiter die große Antithese zwischen Materialismus und Idealismus. Die Materialisten lassen nur ein solches Sein gelten, das man mit den Händen greifen kann (246 A). Sie erkennen also nur eine Weise des Seins an. Ihnen widersprechen die Idealisten, die über das materielle Sein hinaus noch ein immaterielles Sein annehmen (246 B). Zwischen diesen beiden Parteien tobt eine Gigantomachie (246 A). Mit dieser Vorstellung einer Gigantomachie knüpft Piaton an ein altes Thema des griechischen Mythos an. Zu denen, die ein immaterielles Sein anerkennen, gehört in erster Linie Parmenides. Zu ihnen gehören aber auch, wie Piaton sie nennt, die Freunde der Ideen (248 A). Sie behaupten die Existenz eines immateriellen Seins, und Piaton setzt sich kritisch mit ihrer Behauptung auseinander.
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Es hat sich ein langer Streit erhoben, wer mit diesen Freunden der Ideen gemeint ist. Ross, dessen Darstellung ich hier im wesentlichen folge 1 , unterscheidet vier Gruppen. Die erste Gruppe meint, daß es sich um Mitglieder der megarischen Schule handelt. Diese Meinung wurde besonders von Schleiermacher, Zeller und Bonitz vertreten. Eine analoge Auffassung haben wir audi bei der Ideenkritik im Parmenides angetroffen. Eine zweite Meinung geht dahin, daß es sich um italienische Pythagoreer handelt. Diese Meinung wurde bereits von Proklos vertreten und in unserer Zeit von Stallbaum, Burnet und Taylor wiederaufgenommen. Die dritte Meinung geht dahin, daß es sich um Piatonschüler handelt, die an einer frühen Form der Ideenlehre festgehalten haben, sie vielleicht durch megarische und pythagoreische Elemente verstärkt haben und die im ganzen die Lehre Piatons nicht richtig verstanden haben. Diese Meinung wird besonders von Campbell vertreten, ich darf auch auf Natorp 2 hinweisen. Die vierte Meinung geht schließlich dahin, daß Piaton mit den Freunden der Ideen sich selbst, seine Freunde und Schüler meint. Ross nennt als Vertreter dieser vierten Meinung Grote, Uberweg, Jackson und Cornford. Ross selbst schließt sich dieser vierten Meinung an 3 . Auch Kamiah vertritt diese Meinung 4 . Nun besteht die Schwierigkeit der ersten drei Auffassungen auch hier darin, daß wir von den hier in Erwägung gezogenen Schulen so gut wie gar nichts wissen. Eine Schule in Megara unter Führung des Eukleides ist zwar gut bezeugt. Eukleides von Megara ist ein Schüler Sokrates', er ist am Todestag anwesend, wie Piaton ausdrücklich im Phaidon sagt (59 C). Man darf auch der Nachricht Glauben schenken, daß Piaton nach dem Tode des Sokrates zunächst nach Megara gegangen ist5. So ist an einer Philosophenschule in Megara kein Zweifel. Aber daß diese Schule in Megara die von Piaton im Parmenides und im Sophistes kritisierte Ideenlehre gelehrt hätte, darüber geben die Quellen nichts Ausreichendes her. Nicht viel anders steht es mit den italienischen Pythagoreern. Es hat sie gewiß gegeben, und wir können auch einige Namen nennen, aber von ihren philosophischen Uberzeugungen wissen wir kaum etwas. Am schlechtesten steht es mit den angeblichen frühen Piatonschülern. Hier können wir nicht einmal Namen nennen, geschweige, daß wir zuverlässige Nachrichten über ihre Ideenlehre hätten.
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Teil II: Die Reflexion auf die Ideenlehre
Man wird Ross zugeben müssen, daß die Entscheidung in dieser Frage nicht leidit ist. Ross entscheidet sich dahin, daß Piaton mit den Freunden der Ideen sich selbst und seine in den großen Ideendialogen entwickelte Ideenlehre meint. Ross sagt, daß seiner Meinung nach die lange Diskussion als abgeschlossen betrachtet werden kann 8 , und idi schließe mich seiner Meinung an. So darf heute ein consensus, soweit in der Piatoninterpretation ein consensus überhaupt möglich ist, dahin festgestellt werden, daß die Ideenkritik sowohl im Parmenides als auch im Sophistes sich auf die von Piaton selbst in den großen Ideendialogen vorgetragene Ideenlehre bezieht. Ich selbst will keine neuen historisch-philologischen Argumente bringen. Ich will das Problem vielmehr vom systematischen Standpunkt aus betrachten und will versuchen zu zeigen, daß eine auf eine solche Auffassung gestützte Interpretation einsichtig ist. Im Sophistes findet sich ein weiterer Abschnitt, der für unsere Erwägungen von Bedeutung ist. Gegen Ende des Dialoges führt Piaton eine Untersuchung über die fünf obersten Gattungen: Sein, Identität, Verschiedenheit, Bewegung und Ruhe (254 B ff.). Sind dies Ideen, oder sind diese fünf höchsten Gattungen Allgemeinbegriffe, deren Sein noch zu bestimmen wäre? Es finden sich in der Tat bei Piaton Allgemeinbegriffe, die, soweit man sehen kann, von Piaton nicht ausdrücklich als Ideen betrachtet worden sind. So ist gewiß „Staat" ein AllgemeinbegrifF, es gibt viele Staaten, es gibt viele Staatsformen, es gibt gerechte und es gibt ungerechte Staaten. Es scheint hier zwar notwendig, daß es eine Idee des Staates gibt, aber Piatons großes Werk, die Politeia, zielt eben doch nicht auf eine Idee des Staates, sondern auf die Idee der Gerechtigkeit. Analoge Probleme treten bei der Arithmetik und der Geometrie auf. Es gibt bei Piaton, wie wir gesehen haben, Ideen der Zahlen und Ideen der geometrischen Gebilde, die Idee der Drei und die Idee des Kreises sind wohlbelegte Beispiele. Aber wie steht es mit einer möglichen Idee von Zahl überhaupt? Dies wäre für Piaton, da er keine anderen Zahlarten kennt, die Idee der natürlichen Zahl, die für Piaton mit Zahl überhaupt identisch wäre. Wie ist es mit einer möglichen Idee Sophistes 254 C
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§12 Der Dialog Sophistes
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von Zahl überhaupt? Piaton spricht davon nicht ausdrücklich, und so habe ich mich in Übereinstimmung mit guten Sachkennern dahin entschieden, daß es bei Piaton eine allgemeine Idee von Zahl nicht gibt. Nicht anders liegt es bei der Geometrie. Es gibt eine Idee des Kreises, eine Idee des Quadrates, eine Idee der Diagonale, aber eine allgemeine Idee von Figur findet man nicht. Nun gibt es zwar allgemeine Stellen, aus denen man die Existenz solcher Ideen erschließen könnte, aber damit würde man doch über das von Piaton selbst Erschlossene und selbst Gesagte weit hinausgehen. Man wird also davon ausgehen müssen, daß es Allgemeinbegriffe gibt, zum Beispiel Zahl überhaupt, von denen Piaton die Existenz einer Idee nicht behauptet. Dabei wird man gewiß nicht ohne Verwunderung bemerken, daß für Piaton selbst dieser Sachverhalt nicht mehr zum Problem geworden ist. Hier macht sich in besonderer Weise eine Eigenart des platonischen Philosophierens und damit der Ideenlehre bemerkbar. Wollte man sie negativ ausdrücken, so würde man von einer Ungenauigkeit der Terminologie bei Piaton sprechen, wollte man sie positiv kennzeichnen, so würde man von einer Geschmeidigkeit, von einer Elastizität des platonischen Sprechens und Denkens reden. Whitehead hat diese Eigenart des platonischen Philosophierens entschieden positiv betrachtet und hat dagegen die viel größere Exaktheit des aristotelischen Philosophierens, die freilich manchmal fast zu einer sdiulmäßigen Fixierung wird, als entschieden negativ charakterisiert. Für diese Eigenart des platonischen Philosophierens ist es nur ein besonderer Ausdruck, daß es keinen absolut fixierten Ausdruck für die Idee gibt. Wir haben dies bereits dargestellt und dürfen noch einmal kurz zusammenfassen. Man findet das Adjektiv „das Schöne", meistens mit einer Hinzufügung „das Schöne an sich". Aber auch das Substantiv wird gebraucht, „die Gerechtigkeit", auch hier meistens mit Hinzufügungen, etwa „die Gerechtigkeit an sich". Zur ausdrücklichen Kennzeichnung finden sich EIDOS und IDEA nebeneinander, wozu auch noch einige andere Termini kommen. Wir haben bereits auf die eingehende Untersuchung von Ritter hingewiesen. Aber es muß doch zweifelhaft bleiben, ob die Bedeutungsvielheiten von EIDOS und IDEA wirklich in endlich viele diskrete Einzelbedeutungen zerfallen, und es muß noch zweifelhafter bleiben, ob sich an jeder Stelle
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Teil II: Die Reflexion auf die Ideenlehre
einwandfrei feststellen läßt, welche der hypothetisch angenommenen Einzelbedeutungen an einer bestimmten Stelle vorliegt. Dabei soll die Tatsache der Bedeutungsvielheit durchaus nicht bestritten werden; EIDOS und IDEA kommen sowohl in einer umgangssprachlichen, als auch in einer logischen, als auch in einer ontologischen Bedeutung vor. Welche Bedeutung an einer bestimmten Stelle vorliegt, kann also nicht aus dem Terminus als solchem, sondern nur aus dem sachlichen Zusammenhang der Stelle gefolgert werden. Es wäre also durchaus möglich, daß die fünf obersten Gattungen des Sophistes von Piaton rein logisch als bloße Allgemeinbegriffe betrachtet würden, es wäre aber auch möglich, daß Piaton sie darüber hinaus ontologisch auch als Ideen ansieht. Ich folge hier Natorp 7 und Ross8 und entscheide midi dafür, daß es sich um Ideen handelt. Dafür spricht meines Erachtens, daß das Sein im Sophistes ausdrücklich als Idee betrachtet wird (254 A). Auch die Verschiedenheit wird im Sophistes ausdrücklich als Idee betrachtet (255 E). Die Entscheidung ist von großer Bedeutung. Faßt man die fünf obersten Gattungen des Sophistes als Ideen auf, dann erhält man in Sein, Identität, Verschiedenheit, Bewegung und Ruhe Ideen von der größten Wichtigkeit. Dabei ist der Abstand gegen die Ideenlehre der großen Ideendialoge nicht zu übersehen. Dort war die große Ideentrias, das Schöne, das Gute, das Gerechte, das Zentrum der Ideenlehre, hier wird keine der Ideen der großen Ideentrias genannt. In der Politeia wurde das Gute noch einmal herausgehoben, es wurde zur höchsten Idee, in einem gewissen Sinne sogar über das Sein der Ideen hinausgehoben. Hier im Sophistes tritt an die Stelle des Gedankens einer obersten Idee der Gedanke einer Verflechtung zunächst der obersten Ideen (262 C) und dann wohl aller Ideen. Damit tritt der transzendentale Charakter der hier behandelten Ideen deutlich hervor. Sein, Identität und Verschiedenheit kommen jedem Seienden zu, sie kommen also auch einander zu. Bewegung und Ruhe sind disjunktive Transzendentalien, wie Duns Scotus später diesen Sachverhalt genannt hat; jedem Seienden kommt entweder Bewegung oder Ruhe zu. Diesen transzendentalen Charakter der obersten Gattungen des Sophistes 254 A Tfj toi ovxog S
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Teil II: Die Reflexion auf die Ideenlehre
Erzeugnis dieser beiden als e i n e s setzend, das Werden zum Sein aus den mit der Grenze bewirkten Maßen" (26 D). Bei diesem Werden zum Sein, der Genesis zur OUSIA, kann O U S I A schwerlich etwas anderes bedeuten als das Sein der werdenden Dinge. Kurz darauf wiederholt Piaton noch einmal: „Als Erstes also nenne ich das Unbegrenzte, als Zweites die Grenze, dann als Drittes aus diesen das gemischte und gewordene Sein ( O U S I A ) " (27 B). Die Schwierigkeit der Stelle liegt in der Frage, wie die vier Seinsgeschlechter sich zu den Ideen verhalten. Wie man diese Frage auch entscheiden möge, so kann doch schwerlich ein Zweifel sein, daß die gemischte und gewordene Ousia die gewordenen Dinge bezeichnet. Dies ist auch die Meinung von Natorp und Berger. Natorp sagt in der Interpretation der Stelle: „Es ist sehr zu beachten, daß hiermit, zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit, das Werden einen ganz positiven Sinn erhält. Es wird etwas, das fortan ist" 2 5 . Taylor bezieht die dritte Klasse auf Qualitäten: „The ,mixed' class, or ,mixture of the two', means a precise and definitely determined magnitude or intensity of any quality" 2 8 . Die Frage, ob die dritte Klasse nur Qualitäten bezeichnen soll, wie Taylor zu meinen scheint, oder ob sie auch Dinge bezeichnen kann, gehört zu den Schwierigkeiten dieser Stelle. Auf jeden Fall aber bezeichnet Ousia auch für Taylor an dieser Stelle die konkrete Gesundheit dieses konkreten Menschen und also ein Sein in der Welt der veränderlichen Dinge. Audi Berger widmet dieser Stelle eine längere Untersuchung 27 und kommt zu demselben Ergebnis. In der deutschen Zusammenfassung sagt er: „,Ousia' bezeichnet hier kollektivweise alles Gewordene in seinem Geworden-Sein, keineswegs also das individuelle Gewordene als Einzelnes" 28 . Auf die nähere Bestimmung der Bedeutungsfunktion von Ousia, die Berger hier macht, kommt es für unsere Untersuchung nicht an. Für unsere Erwägung ist entscheidend, daß Ousia hier überhaupt das Gewordene bezeichnet, in welcher Weise auch immer. In demselben Bezug auf das Gewordene wird Ousia auch im Timaios gebraucht. „Zwischen dem unteilbaren, keinem Wechsel unterworfenen Sein (Ousia) und dem teilbaren, in den Körpern werPhilebos 27 B
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denden mischte er aus beiden eine dritte Gattung des Seins (Ousia)" (35 A). Hier spricht also Piaton ausdrücklich von einem dritten Eidos der Ousia, von einer dritten Gattung des Seins. Kurz darauf braudit Piaton Ousia noch einmal in derselben zweifachen Bedeutung: ob die Seele „nun einem Gegenstande von teilbarem oder unteilbarem Sein sich zuwende" (37 A). Auch hier stimmen die beiden für uns wichtigen Untersuchungen und die Kommentatoren überein. Natorp sagt: „Um so sicherer entspricht auch das .Dritte, aus beiden gemischte', das ,Sein' (Ousia), dem mit ganz denselben Ausdrücken belegten dritten Prinzip im Philebus . . ." 29 . Natorp verschweigt freilich nicht, daß die hier zum Ausdruck kommende Prinzipienlehre ebensoviel Schwierigkeiten hat wie die Prinzipienlehre des Philebos, und daß es noch größere Schwierigkeiten macht, die beiden Prinzipienlehren zu vereinbaren. Auch Berger versteht die Timaiosstelle im Zusammenhang mit der Philebosstelle: „Die Äußerung des Timaios 35 A — daß es drei Arten Ousia gibt — verstehen wir als eine Weiterentwicklung der Gedanken des Philebos 26 D—27 B" 30 . Soweit es also bei Piaton überhaupt eine Sicherheit und eine Übereinstimmung der Interpreten gibt, wird man sagen können, daß mit Sicherheit feststeht und daß von den Interpreten allgemein anerkannt wird, daß zum mindesten an einigen Stellen der späten Dialoge Ousia nicht nur das Sein der Ideen bedeutet, sondern in einer zweiten Bedeutung auch das Sein der Dinge. Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob die Schwierigkeiten der Prinzipienlehre und die Schwierigkeiten der Bedeutungslehre bei Piaton völlig auflösbar sind oder nicht. Von hier aus nimmt Ousia eine weitere philosophische Bedeutung an. Ousia bedeutet dann das Sein allgemein und als solches, sowohl das Sein der Ideen als auch das Sein der Dinge. Im Sophistes sieht Piaton eine Gigantomachie zwischen den Materialisten und den Vertretern der Ideenlehre vor sich. Die Materialisten behaupten, daß Körper und Ousia dasselbe sind und daß somit die Körper die einzige Ousia sind (246 A). Demgegenüber behaupten die Vertreter der Ideenlehre, daß die bloß denkbaren und unkörperlidien Ideen die wahre Ousia sind, daß aber die Körper keine Ousia darstellen (246 B). Zwischen diesen beiden Parteien findet eine wahre Gigantomachie über die Ousia statt (246 A). Hier liegt zunächst die
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echt platonische Bedeutung vor, wenn Piaton die Ideen im Sinn der Ideenfreunde die wahre Ousia nennt. Wenn Piaton aber sagt, daß für die Materialisten Körper und Ousia identisch sind, so will er damit nicht sagen, daß die Materialisten den Ausdruck „Ousia" in diesem Sinne gebraucht hätten. Es liegt kein Anzeichen dafür vor, daß Materialisten vor oder zu Piatons Zeiten das Wort „Ousia" in dieser Bedeutung gebraucht haben. Wir wissen überhaupt nicht, wen Piaton mit dieser Partei der Materialisten im Auge hat. Piaton stellt hier einen Standpunkt — einen möglichen oder einen wirklichen Standpunkt — mit Hilfe seiner eignen Terminologie dar. Dafür muß er den Ausdruck Ousia in einer sehr allgemeinen Bedeutung gebraudien, in einer so allgemeinen Bedeutung, daß er sowohl auf die Vertreter der Ideenlehre als auch auf die Materialisten angewandt werden kann. Diese ganz allgemeine Bedeutung liegt sicherlich vor, wenn die Gigantomachie als eine Auseinandersetzung über die Ousia dargestellt wird. Natorp hat sich durch seine extrem idealistische Grundanschauung das Verständnis für diese weiteste Bedeutung von Ousia verbaut. Berger dagegen wendet ihr seine besondere Aufmerksamkeit zu. Er sagt, wiederum in der deutschen Zusammenfassung: „Wir vermuten, daß ,ousia' in dieser weitesten Bedeutung abgeleitet ist von einem Begriff Seiendes, wozu sowohl die Wahrnehmbaren als auch die Unwahrnehmbaren gehören (Zwei Arten von Seiendem Phaidon 79 A ) " 3 1 . Zur Begründung bezieht sich Berger auf zwei Stellen der Politeia, auf eine Stelle im sechsten Buch (486 A) 3 2 und auf eine Stelle im neunten Buch (585 A) 33 . Zusammenfassend sagt dann Berger: „Piaton gebraucht einen Begriff Seiendes, der nur auf das Unwahrnehmbare anwendbar ist; er gebraucht auch einen Begriff Seiendes, der überdies auf das Wahrnehmbare anzuwenden ist. Der ,umfassende' Begriff Seiendes hat in den klassischen Dialogen gewiss weniger philosophischen Wert als der Begriff Seiendes, der sich auf das Unwahrnehmbare beschränkt. Wir weisen nach, daß die beiden Seinsbegriffe auch in den klassischen Dialogen nicht völlig von einander getrennt zu denken sind" 3 4 . Berger will also in einer im Deutschen etwas ungebräuchlichen Terminologie sagen, daß es eine Bedeutung von Ousia gibt, die sich nicht nur auf die Ideen, sondern die sich darüber hinaus auch noch auf die Dinge erstreckt. Man wird der vollständigen,
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auf die Gesamtheit aller Stellen gegründeten Analyse von Berger hier völlig redit geben müssen. Wenn Berger die Schwierigkeiten der Bedeutungsanalyse von Ousia hervorhebt und wenn er darüber klagt, daß die verschiedenen Bedeutungen nicht immer eindeutig voneinander zu trennen sind, so berührt er damit eine grundsätzliche Schwierigkeit. Man kann davon ausgehen, daß in einer lebendigen Sprache jedes Wort in der Regel mehrere Bedeutungen hat. Worte mit nur einer Bedeutung gibt es, soweit man sehen kann, nur in künstlich geregelten Spradien, etwa in der Mathematik oder in der Jurisprudenz. Dann haben also in der Regel alle Worte mehrere Bedeutungen. Aber welches ist der Charakter dieser Bedeutungsvielheit? Muß man annehmen, daß diese Bedeutungsvielheit eine exakte diskrete endliche Mannigfaltigkeit bildet? Wenn das Wort Ousia im opus platonicum zweihundertachtundfünfzigmal vorkommt, muß man dann voraussetzen, daß diese 258 Stellen genau in endlich viele, vielleicht in sieben Bedeutungen zerfallen? Dies scheint Natorp angenommen zu haben. Audi Aristoteles scheint dies angenommen zu haben, wenn er für das Wort OUSIA vier Bedeutungen aufzählt. Aber eine solche Annahme, daß eine Bedeutungsmannigfaltigkeit eine diskrete endliche Mannigfaltigkeit sein muß, ist keineswegs bewiesen. Man bekommt freilich große Schwierigkeiten, wenn man diese durchaus plausible Annahme fallen läßt. Dann müßte man wohl annehmen, daß die Bedeutung eines Wortes in gewisser Weise stetig variieren kann, und dann müßte man annehmen, daß die Bedeutung eines Wortes sich in jedem Textzusammenhang ändern kann. So müßte man die Möglichkeit ins Auge fassen, daß die Bedeutung von Ousia an jeder dieser 258 Stellen geändert wäre, wenn auch nur ein wenig geändert wäre, und die Bedeutung von Ousia wäre an jeder Stelle neu durch den Zusammenhang gegeben. Die konkrete Analyse aller Textstellen durch Berger scheint eine solche, wenn auch schwierige Auffassung mehr zu begünstigen als die zunächst naheliegende Auffassung von vier oder von sieben Bedeutungen. Vielleicht ist es so, daß die Zusammenfassung der Bedeutungsmannigfaltigkeit zu vier oder zu sieben Bedeutungen als eine erste Annäherung verstanden werden kann. In diesem Zusammenhang erscheint mir eine Stelle aus dem Gorgias interessant zu sein. Polos hat behauptet, daß viele Menschen, die
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Unrecht tun, glüddidi sind (470 D). Sokrates behauptet mit Nachdruck das Gegenteil. Dabei wirft Sokrates die Frage auf, wie seine eigne, dem Polos so sehr widersprechende Behauptung zu beweisen sei. Er erinnert an das vor Gericht nur allzu häufige Geschehen, daß derjenige, der im Unrecht ist, eine Menge von Zeugen, sogar von angesehenen Zeugen beibringt, während derjenige, der sein rechtmäßiges Hab und Gut verteidigt, manchmal nur einen Zeugen, manchmal nicht einen einzigen Zeugen beibringen kann. So ist es auch hier. Polos kann Zeugen über Zeugen beibringen, Sokrates nicht einen einzigen. So bleibt Sokrates nichts anderes übrig, als zu sagen: „ . . . n u r durch Aufstellung vieler falschen Zeugen gegen mich versuchst du, mich aus meinem Gut (OUSIA) und der Wahrheit hinauszuwerfen" (472 B). Ich denke, daß es sich hier um ein Wortspiel handelt. Sokrates hat kein Vermögen, er kann gerade leben, besonders wenn man die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Peloponnesischen Krieges in Rechnung stellt. Im Vergleich dreht es sich tatsächlich um das Hab und Gut, aus dem der Verklagte herausgeworfen werden soll. Aber das Hab und Gut, aus dem Sokrates herausgeworfen werden soll, das ist nichts anderes als die Wahrheit. So finden wir hier also ein geistvolles Wortspiel mit den beiden Bedeutungen von Ousia, mit der alten umgangssprachlichen Bedeutung als dem Hab und Gut und der neuen philosophischen Bedeutung von Ousia als dem wahren Sein. So hat auch Berger den Sinn dieser Stelle gesehen: „Dort ist die Wahrheit nur noch in übertragenem Sinne Besitz, aber in strengerem Sinne das Eigene des auf die Wahrheit ausgerichteten Menschen"85. Erkennt man die Bedeutungsvielheit von OUSIA an und behält man die auftretenden Schwierigkeiten im Auge, dann stellen sich drei Fragen: Die erste nach der systematischen Bedeutung dieser Entwicklung, die zweite nach der aus der Auseinandersetzung mit Piaton für Aristoteles folgenden Bedeutung von Ousia, und schließlich erscheint es geboten, aus der weiteren Entwicklung des Substanzbegriffes wenigstens einige wenige Punkte zu betrachten. Scheidet man die umgangssprachliche Bedeutung von Ousia aus, und scheidet man ebenso die rein begriffliche Bedeutung aus, dann bleiben drei philosophische Bedeutungen: Ousia als Sein der Ideen, Ousia als Sein der Dinge und Ousia als Sein schlechthin, es sei nun
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das Sein der Ideen oder das Sein der Dinge. Hier ist die Bedeutungsentfaltung vom Sein der Ideen zum Sein der Dinge die bei weitem wichtigste. Diese Bedeutungsentfaltung ist zunächst eine rein zeitliche. Ousia als Sein der Dinge tritt erst in den späten Dialogen auf. Man wird Berger einräumen können, daß gewisse Anzeichen einer solchen Bedeutungsentfaltung bereits in der Politeia auftreten, aber mit Klarheit und Sicherheit kann auch Berger die dingliche Bedeutung von Ousia erst in den späten Dialogen feststellen. Unzweifelhaft ist aber, daß in den vier großen Ideendialogen Ousia im wesentlichen das Sein der Ideen bedeutet. Hegel sagt: „[Die Ideen] sind, und sie sind allein das Sein" 36 . Hegel hat damit — und man wird ihm hierin recht geben müssen — die ontologische Grundauffassung der großen Ideendialoge mit Klarheit zusammengefaßt. Von dieser wohlbegründeten Zusammenfassung Hegels her erscheint es merkwürdig, sogar unverständlich, wenn Ousia in den späten Dialogen auch noch die dingliche Bedeutung annimmt. Geht man aber von der genauen Kenntnis der Texte aus, über die wir durch die Untersuchungen von Natorp und Berger verfügen, dann erweist sich diese Bedeutungsentfaltung als verständlich, sogar als notwendig. Ich will dies zunächst am Problem des Schönen aufzeigen. Heute wird zwar in Zweifel gezogen, ob es überhaupt schöne Dinge gibt, aber Piaton jedenfalls zweifelte nidit daran, daß es schöne Menschen, schöne Pferde, schöne Kleider gibt, wie er im Phaidon sagt (78 D). Vielleicht würden es die meisten auch heute noch wenigstens für die schönen Pferde und für die schönen Kleider zugeben. Dann muß Piaton aber das Sein dieser schönen Dinge auch ontologisdi anerkennen. Die schönen Dinge mögen nidit das reine und das wahre Sein haben, das die Idee der Schönheit hat, aber in irgendeinem Sinne muß Piaton doch anerkennen, daß es auch die schönen Dinge gibt. Daraus folgt dann die Konsequenz, daß Piaton auch die schönen Dinge in irgendeinem Sinne als Ousia anerkennen muß, und daraus folgt wiederum, daß Ousia in irgendeinem Sinne auch die Bedeutung des Seins der Dinge annehmen muß. Zu demselben Ergebnis kommt man, wenn man von der Idee der Schönheit ausgeht. Die Idee der Schönheit würde ihren Sinn verlieren, wenn es nur die Idee der Schönheit selbst und wenn es nicht auch zugleich schöne Dinge gäbe. Wenn die Idee der Schönheit nicht in
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schönen Dingen erscheinen würde, wenn sie nicht in schönen Dingen aufglänzen würde, dann würde auch die Idee der Schönheit selbst keinen Sinn mehr haben. Diese, wie ich glaube, notwendige Bedeutungsentfaltung setzt sich bei Aristoteles fort und wird von Aristoteles ausdrücklich zum Thema gemacht. Aristoteles gibt eine Analyse der Bedeutungsvielheit von O U S I A in der Metaphysik im Buch V, also im Buch über die Bedeutungsvielheiten, und er gibt eine analoge Analyse im Buch VII der Metaphysik als Einleitung zur thematischen Erörterung der OUSIA, die in diesem Buche beginnt. Wenn wir die Darstellung im Buch V zugrundelegen, dann unterscheidet Aristoteles vier Bedeutungen von O U S I A , die er wiederum in zwei Hauptbedeutungen zusammenzieht: O U S I A als Einzelding und O U S I A als Allgemeinbegriff 87 . Um sie genau zu unterscheiden, spricht Aristoteles ausdrücklich von erster und zweiter OUSIA 3 8 . Nun ist Aristoteles der Uberzeugung, daß überall dort, wo eine Bedeutungsvielheit eines Wortes auftritt, eine dieser Bedeutungen die ursprüngliche ist, während die anderen abgeleitet sind. Nun sollte man vermuten, daß Aristoteles in einer für seine Ontologie so entscheidenden Frage eindeutig wäre. Das ist aber nicht der Fall, vielmehr widersprechen einige Stellen einander. So ist es verständlich, daß die Interpreten einander widersprechen. Einige Interpreten sind überzeugt, daß für Aristoteles der Allgemeinbegriff die erste Ousia ist 39 . Die Tradition der aristotelischen Schule sagt das Gegenteil. Für diese Tradition ist das Einzelding die erste Ousia. Vorläufig bleiben die Interpretationen noch kontrovers 40 . Die hier auftauchende Schwierigkeit zeigt sich auch beim C H O R I S T O N . Auch hier unterscheidet Aristoteles ein C H O R I S T O N dem Raum und der Zeit nach von einem C H O R I S T O N dem Logos nach41. Auch hier wird man sagen können, daß, wenn Aristoteles den Begriff als ein C H O R I S T O N bezeichnet, er nur ein C H O R I S T O N dem Logos nach meinen kann. Was die Ousia anbetrifft, so schließe ich midi der Mehrzahl der Interpreten an und entscheide mich dafür, daß für Aristoteles das Einzelwesen die erste Ousia ist. Uberblickt man den Gesamtzusammenhang der Ousialehre und nimmt man den soeben nodi einmal bezeichneten Standpunkt ein, dann kommt man zu dem folgenden Entwicklungsgang. Piaton übernimmt den Terminus Ousia aus der Umgangssprache und bezeichnet
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damit das Sein der Ideen. Er erkennt dann aber, daß auch die Dinge als Ousia bezeichnet werden müssen, wenn auch in einer veränderten Bedeutung. Da aber für diese veränderte Bedeutung von Ousia nur ganz wenige Stellen existieren, muß man schließen, daß auch bei dieser späten Bedeutungsentwicklung für Piaton Ousia als Idee die primäre Bedeutung bleibt. Aristoteles nimmt zunächst das Problem der Bedeutungsvielheit auf und macht es zu einem Grundthema seiner Philosophie. Man kann mit einer gewissen Zuspitzung sagen, daß bei Aristoteles jede Untersuchung mit einer Untersuchung über die Bedeutungsvielheit beginnt. So beginnt die Untersuchung des Buches VII der Metaphysik mit einer Bedeutungsuntersudiung von OUSIA, die Untersuchung des Buches über das Sein beginnt mit einer Bedeutungsuntersuchung von Sein, und die Untersuchung des Buches X über Einheit und Vielheit beginnt mit einer Untersuchung der Bedeutungsvielheit des H E N . Man kann dann auch verstehen, daß eine ganze Reihe von Untersuchungen über die Bedeutungsvielheit zu einem besonderen Buch zusammengefaßt worden sind. Erwägt man dies, dann käme man zu folgender Auffassung: Aristoteles übernimmt von Piaton die beiden Bedeutungen von Ousia: Ousia als das Sein der Idee als die Hauptbedeutung, Ousia als das Sein des Dinges als die abgeleitete Bedeutung. Für Aristoteles aber wird die Bedeutung von Ousia als Ding die primäre Bedeutung, die Bedeutung von Ousia als Eidos die abgeleitete Bedeutung. Dann wäre hier ein wichtiger Zusammenhang, aber auch ein wichtiger Gegensatz zwischen Piaton und Aristoteles. Zugleich würde aber auch verständlich, daß an einigen Stellen bei Aristoteles noch die Auffassung Piatons wirksam bleibt, daß die primäre Bedeutung von Ousia das Sein des Eidos ist.
§ 17 Das Sein Das Sein stellt der Interpretation die bei weitem schwierigsten Aufgaben. Diese Schwierigkeiten rühren nicht zum wenigsten daher, daß das Wort „Sein" sowohl in der Umgangssprache als auch in der philosophischen Sprache ungemein häufig auftritt. Dabei muß man sich immer wieder darüber wundern, daß die sprachanalytische Schule den Schwierigkeiten gerade dieses Wortes so gern aus dem Wege geht.
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In der Philosophie ist es besonders Aristoteles gewesen, der dem Wort und dem Begriff seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Dabei ist Parmenides der erste gewesen, der das Wort ausdrücklich in philosophischer Bedeutung gebraucht hat, und Piaton ist der erste gewesen, der eine Untersuchung darüber gefordert hat. Im Sophistes fordert der Fremde, daß die Untersuchung sidi jetzt der größten und prinzipiellsten Frage zuwenden solle. Theaitetos antwortet: . . du willst offenbar, wir sollen zuerst das Seiende erforschen, nämlich was doch die, welche davon reden, eigentlich damit zu bezeichnen meinen?" (243 D). Im Weitergang des Gesprächs greift Piaton auf sein eignes Denken zurück: „Da wir nun keinen Rat wissen, so macht doch ihr selbst uns redit anschaulich, was ihr denn andeuten wollt, wenn ihr Seiendes sagt. Denn offenbar wißt ihr doch dies schon lange, wir aber glaubten es vorher zwar zu wissen, jetzt aber stehen wir ratlos" (244 A). Im Sinne der so gestellten Aufgabe sagt Piaton: „Sollen wir von denen, welche das All als Eins angeben, etwa nicht nach Vermögen erforschen, als was sie wohl das Seiende bezeichnen?" (244 B). In dem Dialog Sophistes wird zum erstenmal in der Geschichte des Denkens die Frage gestellt: Was ist das Sein? In den einleitenden Paragraphen dieses zweiten Teiles haben wir bereits darauf hingewiesen. Dabei zeigt sich zunächst, daß Piaton den Infinitiv und das Partizip ohne Unterschied verwendet. Er fragt: Was ist das Sein? (243 C). Er fragt aber ebenso: Was ist das Seiende? (244 B). Heidegger hat mit Entschiedenheit die Lehre von der ontologischen Differenz vertreten1. Er ist der Auffassung, daß diese Differenz zwisdien dem Sein, also dem Infinitiv, und dem Seienden, also dem Partizip, eine fundamentale Bedeutung hat. Soweit die ontologisdie Differenz auf dem sprachlichen Unterschied zwischen dem Infinitiv und dem Partizip beruht, so kennen weder Piaton noch Parmenides diese ontologisdie Differenz, sie benutzen vielmehr den Infinitiv — das Sein — und das Partizip — das Seiende — ohne erkennbaren Unterschied. Es ist nicht zu verkennen, und wir haben bereits darauf hingewiesen, daß in dieser neuen Frage Piatons die alte Frage des Sokrates Sophistes 244 A fi^ietg 6e ngö toü jiiv cbö^eda, vüv 6' f|jtojji|)tanEV. Sophistes 244 B ti jiote Xiyouai tö öv;
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wirksam bleibt. Gewiß waren die Fragen des Sokrates auf das Tun und Lassen des Menschen gerichtet. Sokrates fragt: Was ist die Tapferkeit? Was ist die Frömmigkeit? Piaton dagegen fragt im Theaitetos: Was ist die Episteme? Er fragt hier im Sophistes: Was ist das Sein? So hat Sokrates nicht gefragt und so konnte und wollte er nicht fragen. Aber bei aller Verschiedenheit muß man doch sehen, daß Piaton die Fragen des Sokrates weiterführt und bis zur höchsten Abstraktion entwickelt. War die sokratische Frage in den großen Ideendialogen stark zurückgetreten, so erhält sie jetzt wieder ihre Bedeutung. Auch das aporetische Moment der sokratischen Frage wird wieder wirksam. Piaton bringt dies in seiner Formulierung deutlich zum Ausdruck (244 A). Piaton macht zwar den Versuch, eine Antwort zu geben, indem er das Sein als Dynamis erklärt (247 E). Aber diese Erklärung bleibt so dunkel, daß sie nicht als ausreichende Antwort betrachtet werden kann, und auch Piaton selbst hat sie wohl nicht als eine endgültige Antwort aufgefaßt. Man kann diese platonische Frage nach dem Sein ebenso charakterisieren, wie Aristoteles die sokratischen Fragen allgemein charakterisiert hat: Er fragte nur, aber er antwortete nicht2. Die Stelle des Sophistes enthält ein autobiographisches Moment, und die Interpretation muß nach dem Sinn dieser Stelle fragen: „ . . . wir aber glaubten es vorher zwar zu wissen, jetzt aber stehen wir ratlos" (244 A). Es ist der Fremde, der dies sagt, und offenbar spricht er für Piaton. Wie soll man das „vorher", wie soll man das „jetzt" verstehen? Das „vorher" kann schwerlich anders verstanden werden als „in den großen Ideendialogen". In der Tat würde es dann einen guten Sinn ergeben. In den großen Ideendialogen wird die Grundthese: Die Idee ist, als selbstverständlich ausgesprochen und in dieser Selbstverständlichkeit ist eingeschlossen, daß man weiß, genauer, daß man zu wissen glaubt, was das „ist" dieser Grundthese bedeutet. Dies ist die Uberzeugung Piatons in den großen Ideendialogen gewesen, und es ist übrigens zu allen Zeiten die Überzeugung eines naiven Platonismus gewesen. Aber als Piaton sich entschloß, den Sophistes und den Parmenides zu schreiben, da muß sich ihm die Frage aufgedrängt haben: Was habe ich eigentlich gesagt, als ich sagte: Die Idee ist? Mit dieser Frage hat die Reflexion auf die Ideenlehre begonnen, deren
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stärkster Ausdruck diese beiden Dialoge sind. Versteht man die Stelle des Sophistes in diesem Sinne, dann kann man sie paraphrasierend so wiedergeben: Früher, in der Zeit der großen Ideendialoge, da wußte ich, was „Sein" bedeutet, heute weiß ich es nicht mehr. Es mag ratsam sein, für die Interpretation auch hier den Ausgang von der Spradie zu nehmen. Man kann es ja zunächst dahingestellt sein lassen, ob dies nur eine Vorbereitung der Diskussion ist oder schon ein Teil der eigentlichen Diskussion selbst. Bei einer solchen Wendung zur Sprache fühlt sich allerdings der systematische Philosoph von allen Seiten im Stidi gelassen. Philologie, Sprachwissenschaft, Sprachphilosophie und analytische Schule geben nur geringe Auskünfte. Die eben genannte philosophische Sdiule verkündet zwar mit großer Freude das Ende der Metaphysik. Dies mag nun sein, wie es wolle, das Wort „Sein" jedenfalls hat nicht die Metaphysik erfunden, das hat die Umgangssprache zuerst gebraucht, und zwar in einer kaum übersehbaren Bedeutungsmannigfaltigkeit. Fragt man aber, wie die Sprache das Wort „Sein" gebraucht, dann bekommt man nur ein verlegenes Achselzucken. N u n ist es allerdings leicht, ein mehr oder minder geistvolles Spiel mit dem Ausdruck „die Universität Oxford" zu treiben, es ist aber offenbar sehr viel schwieriger, zu sagen, wie die Spradie das Wort „Sein" gebraucht. Zur Zeit gibt es wohl keinen anderen Weg, als sich an die Wörterbücher zu halten. Nun geben freilich die Wörterbüdier nidit die Sprache selbst, sondern eine auf Grund der jeweiligen Sprachauffassung und Spraditheorie verarbeitete Spradie wieder. Diesen Sachverhalt, der für jedes Wörterbuch zu jeder Zeit gelten wird, kann man aber in gewisser Weise eliminieren. Die Wörterbücher bringen in aller Regel zu jedem Wort mehrere Bedeutungen. Bei dem Wort „Sein" tritt in der Regel eine Gliederung in drei Hauptbedeutungen auf: das Sein als Hilfszeitwort, das Sein als Kopula, das Sein als eigentliches Verbum. Hier fällt für unsere Betrachtung das Sein als Hilfszeitwort von vornherein aus. Bei den dann bleibenden zwei Hauptbedeutungen trifft man auf ein Schwanken. Die meisten Wörterbücher sehen die primäre Bedeutung dort, wo das Wort „Sein" einen echt verbalen Charakter hat. Man trifft aber auch Wörterbüdier, in denen das Sein als Kopula vorangestellt und damit als die primäre Bedeutung betrachtet wird. Hier handelt
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es sich vermutlich um die Auswirkung einer philosophischen Theorie, vornehmlich von Aristoteles und Leibniz ausgehend, die in der Satzformel: A ist B, die Grundform jedes Satzes überhaupt sieht. Aber es bleibt zweifelhaft, ob dies in dieser Allgemeinheit richtig ist, und sowohl Aristoteles als audi Leibniz haben die hier möglichen Zweifel bereits selbst zum Ausdruck gebracht. Die wenigen Darstellungen, diö in diesem Sinn die Kopula voranstellen, dürften schwerlich recht haben. Nimmt man diese geringe Korrektur vor, dann kommt man zu einem allgemein anerkannten Ergebnis: Das Wort „Sein" im Deutschen ebenso wie das Wort „esse" im Lateinischen und wie das Wort „ E I N A I " im Griechischen hat eine überaus große Bedeutungsvielheit, die die Bedeutungsvielheit fast aller anderen Wörter wesentlich übersteigt. Von den drei Hauptbedeutungen, dem eigentlichen Verbum, der Kopula und dem Hilfszeitwort, darf das eigentliche Verbum als die primäre Bedeutung gelten. So wird es verständlich, daß beim Sein Schwierigkeiten über Schwierigkeiten auftreten. Bei der soeben behandelten Ousia liegt alles viel einfacher. Ousia hat eine verhältnismäßig einfache umgangssprachliche Bedeutung. Von ihr läßt sich leicht die zu ihr hinzutretende philosophische Bedeutung unterscheiden. In den Texten, die wir untersucht haben, war das Wortspiel des Sokrates die einzige Stelle, an der die beiden Bedeutungen miteinander verflochten waren. Alles liegt anders bei „Sein". Die umgangssprachlichen Bedeutungen sind von der größten Häufigkeit und Bedeutungsmannigfaltigkeit. Es ist selbstverständlich, daß Piaton die umgangssprachlidien Bedeutungen ohne weiteres benutzt hat. Eine besondere Schwierigkeit entsteht dadurch, daß mehrere umgangssprachliche Bedeutungen bereits eine Neigung zu philosophischen Bedeutungen haben. So ist es nicht leicht, eine spezifisch philosophische Bedeutung herauszustellen, und es ist noch weniger leicht, etwaige Veränderungen der philosophischen Bedeutung auszumachen. Wenden wir uns zunächst der umgangssprachlidien Bedeutung im Griechischen zu, so wird die echt verbale Funktion von E I N A I besonders deutlich, wenn es den Genitiv oder den Dativ regiert. So wird in der Ilias gesagt: Ich bin von einem guten Vater 3 . Wollte man den griechischen Text genau übertragen, so müßte man sagen: Ich bin eines guten Vaters, und das ist im Deutschen gerade noch möglich. Sein in dieser Weise mit dem Genitiv verbunden drückt die Her-
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kunft, die Abstammung oder die Zugehörigkeit aus und wird besonders im Hinblick auf die Götter gesagt. Im Deutschen ist dies in einer heute wohl etwas altertümlichen Wendung erhalten: Er ist des Teufels. In Athen wurde der Bedier des Simon gefunden. Der Schuster Simon ist als Freund des Sokrates bekannt; unter seinem Bedier steht: Ich bin des Simon 4 . Hier ist kein Nominativ ausgefallen, zu dem der Genitiv gehören würde. Es heißt nicht: Ich bin (der Becher) des Simon, sondern es heißt echt verbal: Ich bin des Simon. Eine solche verbale Funktion liegt natürlidi audi vor, wenn das Wort den Dativ regiert. In einer sehr ursprünglichen Bedeutung meint E I N A I das Stattfinden oder Statthaben von Tatsachen oder Ereignissen, hier besonders das Existieren von Menschen, und hier wieder besonders das: Ich bin. In diesem Sinne sagt Athene zu Telemach, der seinen Vater sudien soll: „Hörst du indessen, er sei nicht mehr da, er sei schon gestorben" 5 . In demselben Sinn wird gesagt: „Vater und Mutter leben ja noch . . ." 6 . An solchen Stellen steht im griechischen Text einfach die in Frage kommende Form von E I N A I , und die deutsdie Ubersetzung mit „dasein" oder „leben" ist in gewissem Sinne schon eine Paraphrase. Von großer Bedeutung für die spätere philosophische Entwicklung ist es, wenn Homer die Götter die „immer Seienden" nennt 7 . Ebenso wichtig für die spätere Bedeutungsentfaltung ist der Gebrauch des Partizips, sowohl im Singular T O O N als auch im Plural T A O N T A , wobei der Singular selten ist. Das Partizip zeigt das Sein, das Leben, den Zustand oder die Eigenschaft an. In besonderer Weise zeigt das Partizip die Wirklichkeit oder die Wahrheit an. T A O N T A meint bei den Verben des Sprechens: die Dinge so sagen, wie sie wirklich sind 8 , und zugespitzt einfach: die Wahrheit sagen 9 . In einer weiteren Bedeutungsentfaltung nimmt das Verb die Bedeutung von „wirklich sein" gegen bloßes „scheinen" an und wird so gern von den Dichtern gebraucht. Aisdiylos sagt in den „Sieben gegen Theben": „Denn nicht der beste scheinen, nein, er will es sein" 10 . Es ist gewiß kein Zufall, daß Piaton im zweiten Buch der Politeia sich auf diese Stelle bezieht (361 B). Versudit man sich eine Vorstellung vom Gebrauch des Wortes E I N A I bei den Vorsokratikern zu madien, dann muß man allerdings
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Parmenides gesondert betrachten. Ferner muß man sich streng an die vorliegenden Fragmente halten; was in den Berichten steht, kann von der späteren Bedeutungsentwicklung her formuliert sein. Wichtig ist zunächst eine Bedeutung, die Diels als „Sein im Zeitenwechsel" zusammenfaßt 11 . In dieser Bedeutung sagt Heraklit: „Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer" 12 . In demselben Sinne sagt Empedokles: „Denn aus diesen [Elementen] entsproßt alles, was da war, und was ist und sein w i r d . . ."1S. Ähnliche Wendungen finden sich schon früher. So sagt Homer vom Seher: „ . . . der erkannte, was ist, was sein wird, oder zuvor war" 14 . Diels stellt dann diejenigen Stellen zusammen, in denen „Sein als Realität" gebraucht wird. Sehen wir auch hier wieder zunächst von Parmenides ab, dann erscheint auch bei anderen Vorsokratikern Sein im Gegensatz gegen das Nicht-Sein. So sagt wiederum Heraklit: „In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nidit" 16 . In einer weiteren Bedeutung wird Sein gegen Scheinen gebraucht. Demokrit sagt: „Viele, die Freunde scheinen, sind es nicht; und viele, die es nidit scheinen, sind es"16. Vom Partizip findet sich der Singular, wie es scheint, nur bei Parmenides und in seiner Nachfolge, während der Plural entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch sich wiederholt findet. Philolaos sagt: „Notwendig müssen die vorhandenen Dinge (TA ONTA) alle entweder grenzebildend oder grenzenlos oder beides zugleich sein" 17 . Diogenes von Apollonia sagt: „Wie mir dagegen scheint, entstehen, um das Ganze in einem zu sagen, alle seienden Dinge (PANTA TA ONTA) durch Abänderung von demselben und sind dasselbe"18. Besonders wichtig erscheint hier ein Spruch von Heraklit: „Würden alle Dinge (PANTA TA ONTA) zu Rauch, so würde man sie mit der Nase unterscheiden" 19 . Parmenides ist der erste, der das Sein zum philosophischen Thema und damit EINAI und O N zu philosophischen Termini erhebt. Es kann nicht in meiner Absicht liegen, eine auf Parmenides selbst gerichtete philosophische Analyse zu erstreben, ich kann nur gewisse auf Piaton führende Momente herausheben. Für Parmenides ist nur ein Weg denkbar, „der eine Weg, daß das Seiende ist und es unmög-
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lieh nicht sein kann" 20 . Dies wiederholt er eindringlich: „Nötig ist zu sagen und zu denken, daß nur das Seiende ist, denn Sein ist, ein Nichts dagegen ist nicht" 21 . Von neuem mahnt er eindringlich: „Denn es ist unmöglich, daß dies zwingend erwiesen wird: es sei Nichtseiendes; vielmehr halte du von diesem Wege der Forschung den Gedanken fern . . ." 22 . Damit entdeckt Parmenides den reinen Seinsbegriff. Dies ist philosophisch von weitreichender Bedeutung, und es ist verständlich, daß Hegel diese Entdeckung nachdrücklich unterstreicht. Hegel sieht in der pythagoreischen Philosophie noch eine Vermischung von Anschauung und Begriff. Dagegen findet er als das Wesentliche der eleatischen Schule den „Ausdruck des absoluten Wesens in einem Solchen, das ein reiner Begriff ist"23. Hier „sehen wir den Gedanken sich selbst frei für sich selbst werden" 24 ; hier sehen wir „den Gedanken sich selbst rein ergreifen" 25 , hier „ergiebt sich, daß der reine Gedanke (das reine Sein . . . ) . . . sich unmittelbar setzt" 26 . Vom System Hegels aus sieht die Lehre vom Sein bei Parmenides freilich einfach und durchsichtig aus27. Man darf aber nicht übersehen, wie stark die anschaulichen Momente bei Parmenides noch sind. Für Parmenides ist das Seiende abgeschlossen, nach „allen Seiten einer wohlgerundeten Kugel Masse vergleichbar, von der Mitte her überall gleichgewichtig"28. Das Denken des Parmenides muß noch vor unserer Differenzierung in Begriff und Anschauung gelegen haben. Wenn er überhaupt differenzierte, konnte er jedenfalls mit der größten Leichtigkeit zwischen Begriff und Anschauung hin und her gehen, man möchte wohl sagen, hin und her spielen. Parmenides kennt Begriff und Terminus des Nichtseienden, freilich immer in negierender Weise: „Denn das Nichtseiende.. . kannst du weder erkennen noch aussprechen"29. Mit Verachtung spricht er von den urteilslosen Leuten, „denen das Sein und Nichtsein für dasselbe gilt" 30 . Audi der Plural des Partizips erscheint, natürlich ebenfalls in negierender Weise31. Vielleicht könnte man hier paraphrasierend übersetzen: Man kann nicht zwingend erweisen, daß die Dinge (TA ONTA) existieren, die doch in Wirklichkeit gar nicht existieren. Nach Parmenides finden sich der Begriff und der Terminus des Seins und des Nichtseins mehrere Male. Zunächst braucht Melissos, der Schüler des Parmenides, das Partizip sowohl im Singular als auch im
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Plural. Er sagt positiv: „Denn stärker als das wirklich seiende Wahre ist nichts"32. In diesem Sinne sagt er dann: „Daraus ergibt sich, daß wir das Seiende (TA ONTA) weder sehen noch erkennen können" 33 . Freilich ist dies ein Irrealis, und man könnte auch hier paraphrasierend sagen: Daraus ergibt sich, daß wir die vielen Dinge, wenn sie wirklich existierten, weder sehen noch hören könnten. Empedokles sagt von Pythagoras: „Denn wann er mit allen seinen Geisteskräften sich reckte, schaute er leicht jedes einzelne von allem Seienden in seinen zehn und zwanzig Menschenleben"34. Man wird nicht annehmen müssen, daß Empedokles sagen wollte, Pythagoras selbst habe in dieser Weise gesprochen. Vielmehr dürfte Empedokles, wenn er sagt, Pythagoras habe TA ONTA geschaut, in seiner eignen Terminologie gesprochen haben. Auch Archytas benutzt das Partizip, wenn er von den Mathematikern sagt, „sie beschäftigen sich mit den beiden verschwisterten Urgestalten des Seienden"35. Bei Gorgias finden wir T O O N und TA ONTA im häufigen Gebrauch. Das Nicht-Seiende (ME O N ) stand im Titel eines seiner Bücher, wie Sextus Empiricus berichtet36. In diesem Werk spielt die Frage, ob auch das Nicht-Seiende existiert, offenbar eine wichtige Rolle. Einen interessanten Beleg für die Bedeutung von Sein bei Gorgias bringt Piaton im Menon. Dort wird gefragt, was die Farbe ist. Sokrates bittet Menon, im Sinne von Gorgias zu antworten, und faßt dann die Meinung von Gorgias und Menon dahin zusammen, daß die Farben Ausflüsse der Dinge (TA ONTA) im Sinne des Empedokles sind (76 D). Auch Protagoras scheint T O O N in einem Buchtitel gebraucht zu haben 37 . Auf jeden Fall ist seine fundamentale These: Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß sie sind, der nicht-seienden, daß sie nicht sind, mehrfach bezeugt. Sextus Empiricus hat sie berichtet 38 , aber auch Piaton gibt sie im Theaitetos wieder (152 A). Gehen wir zu Piaton selbst über, so verzeichnet Ast in seinem Lexicon Platonicum 39 insgesamt 19 Bedeutungen von EIMI: 1. sum (im Sinne der Kopula) 2. exsto, locum habeo (vern. es gibt, findet statt vel ist der Fall) 3. eximie in eo ponitur, quod vere ac per se est 4. vivo, vigeo; etiam maneo
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5. porro in eo ponitur, quod obtingit, evenit vel simpl. fit 6. das soll geschehen 7. significare, valere 8. cum Gen. ut Lat. esse 9. natum vel oriundum esse 10. adsum (aderat) 11. licet vel potest 12. cum partic. alius verbi 13. natum esse 14. sunt qui 15. in oratione negativa 16. Partic. O N est i. q. OUSIA 17. cum artic. significat id quod vere ac per se est 18. TA ONTA dicuntur etiam bona, facultates 19. Adverbii instar usurpatur TO ONTI, re vera, vere, profecto. Die große Fülle dieser Bedeutungsvielheit zeigt die Schwierigkeit einer dezidierten Gliederung. Noch schwieriger ist es, die philosophischen Bedeutungen abzuheben, die selbst bei Piaton nur in verhältnismäßig geringer Zahl auftreten. Natorp hat sich auf die philosophischen Bedeutungen konzentriert40. Er bemerkt zu seinem Index in der bescheidensten Weise, einige dieser Zusammenstellungen könnten als besondere Abhandlungen betrachtet werden. Dies ist gewiß beim „Sein" der Fall, besonders, wenn man auf die angegebenen Textstellen zurückgeht. Natorp gliedert die Bedeutungen von EINAI in derselben Weise wie die von OUSIA und kommt damit zu der folgenden Aufgliederung: a) ON, ONTA in der Bedeutung des Inhalts der Prädikation oder des Begriffs, und zwar besonderen Begriffs b) TO ON der Begriffe, das begriffliche Sein allgemein c) TO ONTOS ON in gleicher Bedeutung d) EINAI, ON, ONTA in der Bedeutung der Wahrheit, des Sidi-so-Verhaltens e) TO ON allgemein, Sein gegen Erscheinung f) Sein gegen Werden g) in der Bedeutung der Existenz von Sinnendingen, im Unterschied von den Ideen
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h) das empirisdie Sein, als begründet in der Idee, oder in der Bestimmung des Unbestimmten. Die Bedeutung dieser Analyse der philosophischen Bedeutungen kann schwerlich überschätzt werden. Sie läßt freilich, wie jede solcher Analysen, noch Wünsche offen, genauer gesagt, sie ruft neue Wünsche hervor. Zunächst ist der Zusammenhang zwischen vorphilosophischen und philosophischen Bedeutungen fast ganz außer acht gelassen. Eine Darstellung dieser Zusammenhänge hat Piaton wohl auch gar nicht beabsichtigt. Dann wäre zu wünschen, daß deutlich gemacht würde, wieweit der systematische Standpunkt Natorps diese Bedeutungsanalyse beeinflußt hat. Ein Einfluß des hier vorliegenden extrem idealistischen Standpunkts ist dodi wohl von vornherein anzunehmen. Wenden wir uns mit dieser Zurüstung den platonischen Texten selbst zu, dann fragen wir zunächst, mit welcher Kraft EINAI auch bei Piaton noch als volles Verbum auftritt. Wenn Sokrates am Schluß des Symposions die Frage aufwirft, ob es eines und desselben Mannes sei, Tragödien und Komödien zu schreiben (223 D), so kann hier das Deutsche dem Griechischen in der Genitivkonstruktion gerade noch folgen. Wenn Sokrates aber im Eingang des Phaidon sagt, daß die Schwäne des Appollon sind (85 B), so kann die deutsche Übersetzung schwerlich etwas anderes tun, als zu sagen, daß die Schwäne dem Appollon angehören, und sie muß damit auf die Genitivkonstruktion verzichten. Die starke Bedeutung von EINAI als Leben findet sidi wiederholt. Im Menon spricht Sokrates davon, daß Protagoras und mit ihm viele Sophisten Geld verdienen und Ruhm erlangen: „Und nicht nur Protagoras, sondern nodi gar viele andere, teils ältere, teils nodi jetzt lebende" (92 A). Protagoras spricht in dem nach ihm benannten Dialog von dem jetzt noch lebenden Prodikos (316 D). Im Phaidon fordert Kebes Beweise dafür, daß die Seele auch nach dem Tode noch ist (70 B). An dieser Stelle verbindet sich eine vorphilosophisdie Bedeutung mit einer philosophischen. Daß die Seele des Menschen noch ist nach dem Tode, sagt eine uralte Vorstellung, die auch im griechischen Denken und Sprechen wirksam geworden ist. Auf der anderen Seite aber wird gerade im Phaidon EINAI wesentlich in philosophischer Bedeutung gebraucht, und auf den Zusammenhang des Seins der Seele mit dem Sein der Ideen kommt es wesentlich an.
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Ein besonderes Gewicht wird die Existenzialbedeutung gewinnen, die Piaton zunächst ungezwungen aus der Umgangssprache übernimmt. In einem unzweifelhaft umgangssprachlichen Sinne sagt Piaton im Gastmahl: Wein war noch nicht da (vgl. 203 B). Im Protagoras wird gesagt: „So ausgerüstet, wohnten die Menschen anfänglich zerstreut, Städte aber gab es nicht" (322 B). Die Existenzialbedeutung in bezug auf die Ideen findet sich an vielen Stellen, wobei manche Stellen auch den Interpreten strittig sein mögen. Zu den unumstrittenen Stellen gehört die für uns so wichtige Stelle aus dem Phaidon: „Wenn das ist, was wir immer im Munde führen, das Schöne und Gute und jegliches Wesen dieser A r t . . ( 7 6 D). Die bei weitem größte Wichtigkeit erlangt das Partizip, und zwar sowohl im Singular TO ON als auch im Plural TA ONTA. Wenden wir uns zunächst dem Singular zu, so ist unzweifelhaft, daß Parmenides den Begriff und das Wort in die Philosophie eingeführt hat. Es ist ebenso unzweifelhaft, daß Piaton hierin dem Parmenides gefolgt ist. Der enge Anschluß von Piaton an Parmenides hat auch wiederholt in den Dialogen seinen Ausdruck gefunden. Der Dialog Parmenides ist als ein Gespräch des jungen Sokrates mit dem in hohem Alter stehenden Parmenides geschrieben, mag dies nun eine reine Fiktion sein oder an eine wirkliche Begegnung anknüpfen. An eine solche Begegnung erinnert Piaton sowohl im Theaitetos als auch im Sophistes. Der Sophistes ist eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit Parmenides. Dabei gibt Piaton das schon erwähnte Zitat aus der Schrift des Parmenides (237)41. Im Anschluß an Parmenides wird das Partizipium Singularis für Piaton zu einem wichtigen Terminus. Gelegentlich kommt es in einem betont adjektivischen Gebrauch vor. In der Politeia unterscheidet, wie wir gesehen haben, Piaton eine, wie wir heute sagen würden, empirische Astronomie, die von den sichtbaren Gestirnen handelt, von einer wahren Astronomie, die von den wahren Gestirnen und ihren wahren Bewegungen zu handeln hat. Diese wahre Astronomie würde es zu tun haben mit den „Bewegungen, in welcher die Geschwindigkeit, welche ist, und die Langsamkeit, welche ist, sich nach der wahrhaften Zahl und allen wahrhaften Figuren gegeneinander bewegen" (529 D). Im allgemeinen aber bezeichnet O N das Sein der Ideen, besonders
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im Phaidon und in der Politeia. Dies ist unzweifelhaft, wenn Piaton es durch Beifügungen noch einmal ausdrücklich sichert. So spricht er von dem reinen Seienden (Pol. 478 D), von dem immer Seienden (Pol. 527 B), von dem seiend Seienden (Soph. 266 E). Aber an vielen Stellen bedeutet O N ohne jeden Zusatz das Sein der Ideen schlechthin. In diesem Sinne ist die Philosophie ein Aufstieg zum Sein (Pol. 521 C), in diesem Sinne hat die Mathematik eine Zugkraft zum Sein (Pol. 521 D). In diesem Sinne kann Piaton von einer Schau des Seins sprechen (Pol. 525 A). Im Phaidon spricht Piaton von einer Jagd nach dem Sein (66 C). Im Phaidros schaut die Seele das Sein (247 D). TO O N als das Sein eines veränderlichen Dinges gibt es bei Parmenides nicht; und dies gibt es, soweit ich sehen kann, auch nicht in der Umgangssprache. Audi Piaton vermeidet T O O N in einer ausschließlich auf das Sein der Dinge bezogenen Bedeutung. Die in Frage kommenden Stellen sind jedenfalls strittig. Auch Natorp gibt dafür nur eine einzige Stelle im neunten Buch der Politeia (601 B) an 42 . Hier kann idi Natorp nicht folgen, die Stelle scheint mir für die von Natorp angenommene Bedeutung nicht schlüssig zu sein. Dagegen gibt es eine Reihe von Stellen, an denen für Piaton das Sein sowohl das Sein der Ideen als auch das Sein der Dinge bezeichnet. Es ist wohl nidit möglich, die verschiedenen philosophischen Standpunkte in ihrem Verhältnis zueinander zu betrachten — und Piaton tut dies — ohne eine entsprediende Bedeutungsentfaltung von Sein zuzulassen. Hier ist zunädist die Gigantomachia im Sophistes. Die Materialisten lassen ein Sein nur für die materiellen Körper zu, während die Idealisten im Gegensatz dazu behaupten, daß die Ideen das eigentliche Sein darstellen (246 A). Zwar braucht Piaton für die Materialisten nicht das Partizip, sondern den Infinitiv, der Sache nadi aber bedeutet dies dasselbe. Auch die Frage: Was ist das Sein? wird sowohl an die Naturphilosophen als auch an die Freunde der Ideen gestellt (244 A). Sie muß daher sowohl eine Bedeutung haben für diejenigen, die die Ideen annehmen, als auch für diejenigen, die dies nidit tun. Wir haben Politeia 527 B TOÜ dsl övrog YVÜXJEW? Phaidros 247 D löotiaa öiä %q6xov TÖ 8V
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bereits darauf hingewiesen, daß Piaton dabei sowohl den Infinitiv als auch das Partizip braucht. Schließlich muß eine so weite Bedeutung von Sein vorausgesetzt werden, wenn Piaton eine Idee des Seins annimmt, wie dies ausdrücklidi im Sophistes geschieht (254 A). Wenn wir uns dem Plural des Partizips zuwenden, so dürfen wir noch einmal an die Übersetzungsschwierigkeiten erinnern. Ist schon TA K A L A schwer zu übersetzen, so ist für T A O N T A eine einigermaßen erträgliche Ubersetzung nicht mehr zu finden, wenigstens im Deutschen nicht. Die Analyse des Bedeutungsfeldes von T A O N T A wird dadurch erschwert, daß die Bedeutungen von T A O N T A auch in der Umgangssprache schon vielfältig entwickelt sind und daß Piaton diese umgangssprachliche Bedeutungsvielfalt zwanglos benutzt. Hier kann T A O N T A zunächst ganz einfadi das H a b und Gut bedeuten, wenn etwa im Gorgias gesagt wird, daß der Gewaltherrscher dem Gerechten „alles nehmen wird, was er hat" (511 A). Von hier aus greift dann die Bedeutung in das Philosophische über, und dies hatten wir bereits bei den Vorsokratikern beobachtet. Piaton läßt im Gorgias den Sokrates sagen: „Aber, Kallikles, du verdirbst die ersten Reden und kannst nicht mehr gehörig mit mir das Wahre (TA O N T A ) erforschen, wenn du anders redest, als du es selbst meinst" (495 A). Der griechische Text kann hier nur mühsam ins Deutsche übertragen werden. Vielleicht könnte man in einer Paraphrase sagen: „Uber das Wirkliche, wie es in Wahrheit ist, kannst du nicht zu einer richtigen Meinung kommen." Hier meint T A O N T A nicht nur die Dinge, sondern auch die Sachverhalte, denn die Frage geht ja dahin, was die Lust ist. Audi die Umgangssprache meint in dieser Bedeutung sowohl die Dinge als auch die Sachverhalte. Die Ideen können in diesem Gespräch mit dem Sophisten nicht gemeint sein. Ebenso dürfte es an einer Stelle des Euthydemos liegen: „ . . . die Meßkünstler aber und Rechner und Sternkundigen — denn auch diese sind Jagende, weil sie ja ihre Figuren und Zahlenreihen nidit machen, sondern diese sind schon, und sie finden sie nur auf, wie sie sind . . . " (290 C). Obwohl es in bezug auf diese drei Wissenschaften in der Ideenlehre später zu derselben Behauptung kommt, ist nicht an eine Gorgias 511 A
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Ideenlehre zu denken. Auch Natorp interpretiert die Stellen allgemein in der Bedeutung der Wahrheit des sich so Verhaltens 43 . Auf dem Boden der Ideenlehre kann TA ONTA drei Bedeutungen haben: 1. Das Sein der Ideen im Gegensatz zum Sein der Dinge 2. Das Sein der Dinge im Gegensatz zum Sein der Ideen 3. Das Sein der Entitäten ganz allgemein, das sowohl das Sein der Ideen als auch das Sein der Dinge sein kann. Von Parmenides her sollte die erste Bedeutung gar nicht möglich sein. Für ihn ist nur das O N wirklich, die ONTA sind gar nicht wirklich, sie sind nur Täuschung und Irrtum. Audi Piaton folgt im allgemeinen der Linie des Parmenides und bevorzugt merklich den Singular. Nun gibt es für Piaton aber nicht nur das Sein des Parmenides, sondern das ausgebildete Sein der Idee, und zwar der vielen Ideen. So wird es verständlich, daß TA ONTA auch das Sein der vielen Ideen bezeichnen kann. Eine charakteristische Stelle gibt der Phaidros. Der Philosoph folgt dem Zug der Götter und schaut im überhimmlischen Ort die Ideen. Hier braucht Piaton mehrmals den Plural: „ . . . und so auch von dem andern das wahrhaft Seiende (TA O N T A ONTOS) erblickt die S e e l e . . ( 2 4 7 E ) . Hier geht Schleiermacher von dem im griechischen Text stehenden Plural zum deutschen Singular über und legt dabei ein Mißverständnis nahe. Wir haben aber schon darauf hingewiesen, daß es an solchen Stellen so gut wie unmöglich ist, den griechischen Plural durdi einen deutsdien Plural wiederzugeben. Die im Gebrauch von TA ONTA liegende Benutzung des Plurals ist keineswegs auf den Mythos des Phaidros beschränkt, sondern es finden sich auch andere Stellen, besonders in der Politeia. Der Philosoph richtet seine Gedanken auf das Seiende, auf die Ideen: „Denn wer in der Tat seine Gedanken auf das Seiende richtet, o Adeimantos, hat ja wohl nicht Zeit, hinunterzublicken auf das Treiben der Menschen . . ( 5 0 0 B). Auch hier gehen die Übersetzer, sowohl Schleiermacher als auch Apelt, im Deutsdien zum Singular über, während im Griechischen der Plural steht. Den Plural finden wir auch kurz vorher in der wichtigsten Darstellung der Ideenlehre am Ende des fünften Buches: „Wie aber wie-
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derum, die jegliches selbst, wie es sidi immer gleichermaßen verhält, beschauen?« (479 E). Ob das Partizip, sei es im Singular, sei es im Plural, im Rahmen der Ideenlehre ausdrücklich das Sein der Dinge bedeuten kann, vermag ich nicht zu entscheiden. Dagegen gibt es Stellen, an denen der Plural des Partizips mit Sicherheit sowohl das Sein der Dinge als auch das Sein der Ideen bezeichnet. Es handelt sich um zwei Stellen, die eine aus dem Phaidon, die andere aus der Politeia. Beide sind von der größten Wichtigkeit, und wir haben beide bereits behandelt. Wir kommen jetzt unter ontologischen Gesichtspunkten auf sie zurück. Im Phaidon wird gesagt: „Sollen wir also, sprach er, zwei Arten des Seienden setzen, sichtbar die eine und die andere unsichtbar? — Das wollen wir, sprach er" (79 A). Wir haben audi bereits auf die Ubersetzungsschwierigkeiten hingewiesen. Unübersetzbar ist der Plural. Man kann nicht übersetzen: der seienden Dinge, denn es sollen ja gerade die Dinge von den Ideen unterschieden werden. Dieselben Schwierigkeiten macht der Ausdruck: TA EIDE. Ubersetzt man mit „zwei Arten", dann könnte dies zu der Auffassung führen, daß es eine Gattung „Sein" gibt, die zwei Arten hat. Wir haben deshalb den sehr viel vorsichtigeren Terminus „zwei Weisen des Seins" vorgeschlagen. Wie immer man sich in der Übersetzung helfen möge, Piaton kennt zwei Weisen des Seins, das Sein der Ideen und das Sein der Dinge, er unterscheidet sie und er stellt sie zugleich zusammen. Diese wichtige Aussage des Phaidon wird in einer gleichermaßen wichtigen Aussage der Politeia wiederaufgenommen. Sie findet sich in der Einleitung des Liniengleichnisses am Ende des sechsten Buches. Apelt übersetzt recht frei: „Diese beiden Reiche, das sichtbare und das denkbare, sind dir doch in ihrem Unterschied klar?" Schleiermacher bleibt sehr viel näher am griechischen Text: „Also diese beiden Arten hast du nun, das Denkbare und das Sichtbare" (509 D). Beide Ubersetzungen, die „beiden Reiche" und die „beiden Arten", bringen Vorstellungen ins Spiel, die vermieden werden sollten. Audi hier wäre die vorsichtige Ubersetzung „zwei Weisen des Seins" doch wohl besser. Politeia 479 E xai dei xard xavxa cbamjTcog ovta Phaidon 79 A öiüo ei6r) tot övtcov Politeia 509 D ¿XV ouv e'xeis ravza öivxä eI5t], 6gardv, vot)tov;
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Versucht man die in der Ideenlehre enthaltenen Seinsaussagen im Ganzen zu interpretieren, so scheint mir die Interpretation von Hegel am tiefsten in Piaton hineinzuführen. Er sagt von den Ideen: „Sie sind und sie sind allein das Sein" 4 4 . Es kommt darauf an, die Bedeutung dieser Interpretation Hegels, aber auch zugleich ihre Grenzen zu erkennen. Freilich stehen wir jetzt vor einem Problem, in dem alle Schwierigkeiten zusammenkommen. Dies gilt für jede Methode der Interpretation, mag man nun die bedeutungsanalytische Methode vorziehen, mag man die rein systematische Methode höher schätzen, mag man, wie es mir ratsam zu sein scheint, beide Methoden nützen wollen. Hegel hat, wenn ich richtig sehe, die Grundüberzeugung Piatons in den großen Ideendialogen, im Phaidon, in der Politeia, im Phaidros, im Symposion klar, bestimmt und zutreffend zum Ausdruck gebracht. Es ist freilich nicht leicht, dies zu erweisen. Die These: Die Ideen haben Sein und sie allein haben Sein, folgt auf viele vorausgegangene Seinsbehauptungen, die vorphilosophischen Seinsbehauptungen, die Seinsbehauptungen der Vorsokratiker, kulminierend in Parmenides. Diese Seinsbehauptungen sind vorausgegangen, aber sie sind nicht vergangen. Auch Piaton gebraucht sie beständig weiter, wenn er jetzt in dem Sein der Ideen das alleinige Sein sehen will. Jede Seinsbestimmung ist, wie jede echte philosophische Bestimmung ein Prozeß, ein Prozeß, dessen dialektischen Charakter Hegel erkannt hat. Jede Seinsbestimmung als ein echter Prozeß enthält das Vergangene in sich aufgehoben und das Zukünftige in sich vorbereitet. Das Zukünftige wird sein, daß Piaton erkennt, daß auch die Dinge ein Sein haben. So ist in den Seinsbestimmungen der großen Ideendialoge die zukünftige Erkenntnis bereits vorbereitet. Aber dieser dialektische Charakter der philosophischen Erkenntnis hindert nicht, daß Hegel vom Sein der Ideen in den großen Ideendialogen mit Recht sagen kann: Sie sind und sie sind allein das Sein. Dies drückt sidi für Piaton dadurch aus, daß die von Parmenides herkommende eigentliche Seinsaussage, der Singular des Partizips, also T O O N , von der Idee ausgesagt wird. Die Idee ist T O O N , ist das Sein schlechthin, und es muß zweifelhaft bleiben, ob T O O N überhaupt von einem veränderlichen Ding ausgesagt wird. Es ist richtig: der zweite Teil der Interpretation Hegels „und sie sind allein das Sein" wird von Piaton nicht ausdrücklich formuliert. Aber Pia-
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ton sagt das eigentliche Sein, T O O N , in der Tat allein von der Idee aus, und so finde ich Hegels Formulierung, wenn auch zugespitzt, so doch wohl begründet. Daß Hegel diesen systematischen Grundansatz Piatons so klar formuliert, hat seinen Grund darin, daß der systematische Grundansatz Hegels sich mit dem Piatons völlig deckt. Allerdings kann Piaton nicht dabei bleiben. Wie immer die Dinge au