Transzendentale Dialektik: Teil 1 Ideenlehre und Paralogismen 9783111458755, 9783111091464


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German Pages 209 [212] Year 1966

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Table of contents :
Einleitung zu transzendentalen Dialektik (S. 234 B 349/50)
I. Vom transzendentalen Schein (S. 234 B 349/50)
II. Von der reinen Vernunft als dem Sitze des transzendentalen Scheins (S. 237 B 355)
Der transzendentalen Dialektik Erstes Buch (S. 244 B 366/7)
Erster Abschnitt: Von den Ideen überhaupt (S. 245 B 368/9)
Zweiter Abschnitt: Von den transzendentalen Ideen (S. 250 B 377/8)
Dritter Abschnitt: System der transzendentalen Ideen (S. 257 B 390)
Der transzendentalen Dialektik Zweites Buch (S. 261 B 396)
Erstes Hauptstück: Von den Paralogismen der reinen Vernunft (S. 262—266/7 B 399–409)
Die Paralogismen der reinen Vernunft in der Ersten Auflage der Kritik (IV 220—252 A 348—408)
I. Paralogismus (IV 220—221 A 348—351)
II. Paralogismus (IV 221/2 A 351—361/2)
III. Paralogismus (IV 227/8—230 A 361/2—367)
IV. Paralogismus (IV 230/1—238 A 367—381)
Betrachtungen über die Summe der reinen Seelenlehre (IV 238/9 A 381—406)
Die Darlegung der Paralogismen in der veränderten Fassung der Zweiten Auflage der Kritik (S. 267—281 B 406—428)
Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises und Zusammenfassung (S. 270 B 413)
Beschluß der Auflösung und Allgemeine Anmerkung (S. 278 B 426/7)
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Transzendentale Dialektik: Teil 1 Ideenlehre und Paralogismen
 9783111458755, 9783111091464

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Heinz Heimsoeth • Transzendentale Dialektik

Heinz Heimsoeth

Transzendentale Dialektik Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft

Erster Teil: Ideenlehre und Paralogismen

1966

Walter de Gruyter & Co. • Berlin vormals G. J . Gösdien'sdie Verlagshandlung • J . Guttentag, VerlagsbuAhandlung Georg Reimer • Karl J . TrUbner • Veit & Comp.

Archiv-Nr. }6 37 661

© 1966 b7 Walter de Gruyter & Co., vormali G. J. Göscheo'sche Verltgshindlung — J. Guttenug. Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer - Karl J. TrUbner — Veit & Comp.. Berlin 30, Genthiner Str. 1} (Printed in Germanr) Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gesuttet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) 2u vervielfältigen. Satz und Druck: Paul Funk, Berlin 30

DEN MANEN NICOLAI HARTMANNS

VII

VORREDE

Daß in unserer philosophischen Fachliteratur ein größeres Kommentarwerk zur Kritik d. r. V. fehlt, ist vielfach beklagt worden. Seit H. Vaihingers Unternehmen aus den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts, welches, in zwei starken Bänden, nicht über die Transzendentale Ästhetik hinauskam, sind in deutscher Sprache nur Kurzkommentare erschienen, von denen der jüngste (F. GrayefF 1951) mit dem Analytik-Teil abschließt. In englischer Sprache liegt seit 1930 das bedeutsame Werk von H. J. Paton vor, unter dem Titel: Kant's Metaphysic of experience (zwei Bände). Es ist in seiner Art vorbildlich und hat sidi auch entschieden durchgesetzt gegen den älteren Versuch von N. Kemp Smith (1918 u. ö.). Die Vorrede Patons beginnt mit dem Satz: "It is a scandal to philosophical scholarship, and not least to German philosophical scholarship, that, more than a hundred and fifty years after the publication of the Kritik of Pure Reason, we still lack a commentary comparable with such works as that of Pacius on the Organon of Aristotle or even that of Adam on the Republic of Plato." Man kann nur zustimmen und auf Abhilfe hindenken. Das Werk Patons ist, wie schon dem Titel zu entnehmen, allein auf die „Erste Hälfte" der Kritik fixiert; der II. Band schließt ab mit der Erläuterung des Schlußabsdinitts der Analytik, welcher ja eben noch vorausweist auf die „Noumena" der Dialektik, die großen Themen der Metaphysik angehend. Für diese Wahl und Beschränkung war offenbar. Im tieferen, des Autors Grundinteresse maßgebend: Kants systematische Bedeutung für die Grundlagenforschung der exakten Wissenschaften und für gegenständliche Verfassung der Erfahrungswirklichkeit. Mit diesem Einsatz steht Paton in der Arbeitskontinuität der ganzen Werkinterpretation des Neukantianismus. Es geht um den Forschungsbereich, welchen Kant selbst als „Metaphysik der Natur" benannt hat, bzw. um deren Prinzipienbasis.

VIII

Die „Zweite Hälfte" der Kritik also blieb hier außer Betradit. Sie ist auch sonst, wenn überhaupt (wie etwa bei Kemp Smith), nur gleichsam nachträglich und wenig genau erläutert worden, so als ob es sidi um allzusehr durch Kants Jahrhundert und eigene Anliegen bedingte Gegenstände handelte. Aber für Kant selbst war faktisdi diese zweite Hälfte, welche unter dem von ihm neugeprägten Titel einer „transzendentalen Dialektik" steht, das eigentliche Ziel des Werkes; die Arbeit an den Lehren und Erweisen des Ersten Teiles hat er immer als Vorbereitung und „Mittel" dazu angesehen und bezeidinet. Die Kritik des Dialektischen in aller überkommenen Metaphysik sollte für den eigenen Neuaufbau den Boden freilegen. Das philosophische Interesse hat sich, systematisch wie historisch, in den letzten Jahrzehnten auf neue Art dem Thema „Metaphysik" (im weiteren und ursprünglichen Sinne dieses vieldeutigen Terminus) zugewandt; das hat gerade für die Kantforschung neue Ansätze mit sich gebracht und andere Seiten von Kant wieder nach vorn gerückt. Wenn heute so viele Fragen um das „Schicksal" der abendländischen Metaphysik kreisen, so rückt zwangsläufig Kants Kritik derselben (nach ihren damals vor dem Sinn stehenden Formen) als große Wende mit in die Mitte der Betrachtungen. Hinzu kommt, daß unser historisches Bewußtsein immer stärker darauf drängt, einen klassischen Autor aus seiner eigenen Weltlage und Intention heraus zu verstehen und eben dadurch auch aus ihm zu lernen. So setzt denn der hier vorzulegende Kommentarversuch gleich bei der Dialektik ein: bei Kants Lehre von der „Vernunft" im engeren und neugeprägten Sinne — als eines sinnentwerfenden Vermögens, welches den Menschen bei aller Bedingtheit seines Wesens und Erkennens unausweichlich zu Fragen und Reflexionsweisen drängt, die ebenso seine Daseinsverfassung angehen, wie die Sinnstruktur von Welt überhaupt und endlich das Welt und Existenz schlechthin Transzendierende. Bei den dem Textverlauf Absatz für Absatz folgenden Erläuterungen ist noch besonderer Wert darauf gelegt, Kants eigene häufige Rückverweisungen auf die Begriffe und Lehren der „Ersten Hälfte" dorthin zu begleiten und damit für das Studium des ganzen Werkes Beihilfe zu leisten. Die Interpretation geht immer zuerst von der Annahme aus, daß Kant einheitlich und im ganzen konsequent gedacht hat — in ständigem Vorausschauen auch auf später auszuführende Systemaufgaben.

K In der Abweisung der „patcli-work"-Sidit und ebenso der Eilfertigkeit, mit welcher die ältere Kant-Philologie Inkonsistenzen in Kants Hauptwerk aufzudecken glaubte, weiß der Verfasser sich mit dem Kommentarwerk Patons einig. Kant steht in einem Übergang und führt eine Wende herauf, in der Sache und so auch in der Terminologie; die Aufgabe ist, den Denkzusammenhang aus den Problemspannungen der Situation heraus zu verstehen. Entscheidende Anregung bei diesem Unternehmen verdankt der Verfasser dem Autor des dreibändigen Werks „La Deduction transcendentale dans l'oeuvre de Kant" (1934—37), welches auf seine Weise auch einen Kommentar zur Ersten Hälfte mit sich führt: Herrn Prof. Dr. H, J, De Vleeschouwer (Universität von Südafrika in Pretoria). Mit ihm konnte ich in einem Zuge den gesamten Dialektiktext auf die Erläuterungsaufgabe hin durchsprechen. Mit meinem Dank an den hochgeschätzten Kantforscher und Kollegen verbinde idi den Dank an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, welche die Zusammenarbeit s. Zt. ermöglichte. Für den vorwiegend historisch Interessierten darf ich zugleich auf eigene Arbeiten verweisen: Studien zur Philosophie I. Kants, Metaphysische Ursprünge imd ontologische Grundlagen. Köln 1965 (Abhandlungen von 1924—1956; auf spätere, welche die Antinomien betreffen, wird bei Erscheinen des Zweiten Teiles hingewiesen werden). Die Publikation des Kommentars soll in drei Bänden erfolgen — gemäß der Dreiteilung der in der Dialektik enthaltenen Kritik der rationalen Metaphysik. Darstellung und Erläuterungen halten sidi an die große Akademieausgabe von Kants Gesammelten Schriften; am Kopf jeder Seite sind die kursiven Seitenzahlen des betreffenden Bandes der Akademieausgabe (für die zweite Auflage der Kritik Band III, für die erste Band IV) die Seitenzahlen der Originalausgaben (B und A) beigefügt, was nicht nur das Aufschlagen jeder Stelle in anderen heutigen Kantausgaben ermöglicht, sondern auch, durch die Kombination, den gemeinten Passus innerhalb jeder Seite leicht finden läßt. Köln, im März 1966 H. Heimsoeth

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INHALT

Einleitung zu transzendentalen Dialektik (S. 234 B 349/50) I. Vom transzendentalen Schein (S. 234 B 349/50) II. Von der reinen Vernunft als dem Sitze des transzendentalen Scheins (S. 237 B 355) Der transzendentalen Dialektik Erstes Budi (S. 244 B 366/7) Erster Abschnitt: Von den Ideen überhaupt (S. 245 B 368/9) . . . . Zweiter Absdinitt: Von den transzendentalen Ideen (S. 250 B 377/8) Dritter Absdmitt: System der transzendentalen Ideen (S. 257 B 390) Der transzendentalen Dialektik Zweites Budi (S. 261 B 396) Erstes Hauptstück: Von den Paralogismen der reinen Vernunft (S. 262—266/7 B 399—409)

1 7 15 27 31 43 63 71 79

Die Paralogismen der reinen Vernunft in der Ersten Auflage der Kritik (IV I. II. III. IV.

220—252 A 348—408) Paralogismus (IV220—221 A348—351) Paralogismus (IV 221/2 A 351—361/2) Paralogismus (IV 227/8—230 A 361/2—367) Paralogismus (IV 230/1—238 A 367—381)

97 97 105 120 126

Betrachtungen über die Summe der reinen Seelenlehre (IV 238/9 A 381—406)

141

Die Darlegung der Paralogismen in der veränderten Fassung der Zweiten Auflage der Kritik (S. 267—281 B 406—428) Widerlegung des Mendelssohnsdien Beweises und Zusammenfassung (S. 270 B 413) Besdiluß der Auflösung und Allgemeine Anmerkung (S. 278 B 426/7)

164 171 191

DIE TRANSZENDENTALE DIALEKTIK

Der unter diesen Titel gestellte Hauptteil der Kritik der reinen Vernunft umgreift dem Inhalte nadi Kants Kritik der Metaphysik — so wie diese ihm als gesdiiditlidi überlieferte und gegenwärtig auftretende, zugleich viel umstrittene Kemwissensdiaft imd Endabsidit aller Philosophie vor Augen steht. Nadi einer kurzen programmatisdien „Einleitung" und einem Ersten Budi von gleichfalls übergreifendvorausweisender Art geht das nahezu 300 Seiten starke „Zweite Buch" in drei großen „Hauptstücken" auf Lehren der Metaphysik ein, betreffend die drei großen Themen „Seele, Welt, Gott" — des näheren auf die Beweisgänge imd Beweisgründe in jenen drei Disziplinen, welche das Zeitalter als Metaphysica specialis ausgezeichnet hatte (auf der Basis einer generellen Ontologie, welche „von allen Dingen überhaupt" handelte): Seelenlehre, Kosmologie und philosophische Theologie. Diese Teilbereiche waren jeweils als „rationale" Wissenschaften abgehoben von allen empirischen (Psychologia rationalis etc.); Anspruch und Überzeugung war, aus „reiner Vernunft" jenen großen Weltanschauungsanliegen und -fragen gesidierte Entscheidung und einsichtige Klärung in Begriffen und Beweisgängen zu geben. Dem „Dritten Hauptstück" hat Kant einen „Anhang" mit eingefügt, welcher in Wahrheit, nicht anders als die Einleitung und das erste Buch, für die Leitbegriffe der Vernunft in allen drei Bereichen gilt. Dieses wichtige Stück enthält die zugleich mit der kritischen Abweisung falscher Ansprüche der ratio sich herausarbeitende positive Lehre Kants von ihrer Funktion und Leistungskraft in der wirklichen Welterkenntnis: zufolge der ihr einwohnenden Dynamik unaufhörlichen Fortschreitens und Erweitems unseres sicheren Besitzes an Einsichten. Der Dialektik-Teil des Werkes ist es also recht eigentlich, wegen dessen das ganze Unternehmen den Titel Kritik der reinen Vernunft 1 Helmsoeth, Transzendentale Dialektik I

erhielt, während transzendentale Ästhetik und Analytik, die ihm vorausgehen, eine positive „Doktrin" bezüglich unserer in „Grundsätzen" fundierten Erkenntnis auf dem Boden der Erfahrung geben (nach heutiger Sprechweise: Grundlagenforsdiung). Die beiden Titel Analytik xmd Dialektik ließ Kant sich vorgeben aus der Logik im allgemeinformalen Sinne^. Auch die Einteilung des Gesamtwerkes in „Elementarlehre" und „Methodenlehre" ging aus von der formalen Logik, wie Kant sie vor sidi hatte und selbst lehrte; worüber später. Es handelt sidi aber bei diesen Festsetzungen durchaus nicht nur um eine schematische Nomenklatur, sondern, gerade was den Dialektik-Titel anlangt, um Inhaltsbedeutungen und -bezüge von großem sachlichen wie historisdien Gewicht. „Dialektik" hat innerhalb des Kantisdien Unternehmens „transzendentaler" Reflexion des menschlich-endlichen Vermögens der Einsicht und des schlüssigen Erweisens auf sich selber eine ganz spezifische Bedeutung, welche scharf abgegrenzt ist gegen die in der griechischen Philosophie und dann in der Scholastik aufgetretenen Begriffe und Absichten dieses Namens^. Und selbstverständlich ist dieser Kantische Begriff auch wieder von ganz anderer Art, als Vgl. XVI, 74 (Nr. 1675): .Analytic gehört zur doctrin; dialectic zur Kritik." Die Vorrede zur 2. Auflage unterscheidet „die Metaphysik in ihrem ersten Teile* („Metaphysik" hier verstanden in dem Sinne von Kants eigener neuer Grundlegungsabsidit!) als „Analysis" auf Elementarbedingungen unserer gegenständIi(^en Erkenntnis hin von dem „zweiten Teile" derselben: „Dialektik" — mit dem Gesamtziel, zur wahren Einhelligkeit der Vernunft mit sich selbst zu führen. S. 13 B XVIII/XIX. Siehe ferner in Kants Logik IX, 16. Vgl. aus den Reflexionen: die philosophische Dialektik ist „eine Wissenschaft der Auflösung des Sdieins und hat einen propädeutischen Theil, der das Criterium der Wahrheit enthält und einen sceptisAen, der die Quelle des Scheins anzeigt und die Wahrheit gegen ihn sichert." XVIII, 39 (Nr. 4952). Hier wird also der ganze „Erste Teil" des Werkes, Ästhetik und Analytik, ausdrücklich als Vorbereitung für die eigentliche Vernunftkritik bezeichnet. Die Kritik der reinen Vernunft wird zitiert nach der Seitenzahl der Akademieausgabe und zwar nach der im III. Bande gedrudcten zweiten Auflage; hinter die Seitenzahl wird jeweils die entsprechende der Originalausgabe von 1787 gesetzt (B). Stellen, welche sich nur in der ersten Auflage finden, werden nach' dem IV. Band zitiert (unter ausdrücklicher Hinzufügung ebendieser Bandzahl), mit Anfügung der Seitenzahlen in der Originalausgabe von 1781 (A). Alle übrigen Stellen aus Kants Schriften allein nach der Akademieausgabe. ' Kant seinerseits wußte um die Vieldeutigkeit des überkommenen Terminus: . . . . so verschieden die Bedeutung ist, in der die Alten dieser Benennung sich bedienten." S. 81 B 85/6. Vgl. IX, 16/7.

der, weldier in Hegels System ausgebildet wurde — zu sdiweigen von allem, was danadi und heute so vielfältig schillernd Dialektik heißt. Mit transzendentaler Dialektik bezeichnet Kant eine aller vorausgegangenen Philosophie gegenüber neue und nur seiner Vernunftkritik eigene Theorie und Aufgabe. Kants Konzeption greift auch hinaus über den Rahmen unseres Werkes: auch die Kritik der praktisdien Vernunft und die der Urteilskraft hat einen Dialektik-Teil; und es ist das keineswegs eine bloße Übertragung, gar eine schematische. Es wäre eine eigene Aufgabe, das Walten der in diesem Begriffswort zusammengefügten Gedanken und Überzeugungen Kants durdi alle Hauptwerke zu verfolgen. Die Unterscheidung Analytik — Dialektik auf dem Kant durch die „Allgemeine Logik" vorgegebenen Felde' geht, wie diese selber, bis auf Aristoteles zurück. Die beiden Analytika des Stagiriten erforschen Formen der Gedankenverkettung in Richtung auf Erweis von Wahrheit (Apodeiktik); die Schrift „Über die sophistisdien Trugsdilüsse" aber gibt Stücke einer „Dialektik" in Riditung auf Sd>einbeweise: als logische Kritik und Warnung. In der Topik heißt es auch, dergleichen sei ein wichtiges Organon dazu, daß man die Konsequenzen eines jeden der entgegengesetzten Sätze, im Streite der Behauptungen und Widerlegungen, zu ziehen wisse*. „Logik der Wahrheit" und „Logik des Scheins" stehen sidi also in diesem Rahmen schon als Analytik und Dialektik gegenüber. — Soweit „die Dialektik überhaupt" im Sinne der Überlieferung; sie enthält, wie Kant in seiner Logik sagt, „die Merkmale und Regeln . . . , wonach wir erkennen können, daß etwas mit den formalen Kriterien der Wahrheit nicht übereinstimmt, ob es gleich mit derselben übereinzustimmen scheint". ® Ausdrücklidier Bezug darauf schon in der Einleitung zur Kritik, Abschnitt III. S. 79—81 B 82—87. * Von der „logisdien Topik des Aristoteles" her denkt Kant planend an eine »transzendentale Topik", als eine Lehre, „die vor Erschleichungen des reinen Verstandes und daraus entspringenden Blendwerken gründlich bewahren würde . . . " . So im Amphibolie-Abschnitt. S. 219 B 324. — Ober Trugschlüsse hat Kant in seinen Vorlesungen zur Logik nur kurz gehandelt, um dabei die „in forma falschen" Schlüsse abzuscheiden von inhaltlichen Paralogismen (falsch „der Materie nach"), als welche eben in der transzendentalen Logik zu behandeln sind. Vgl. die späte Vorlesung über Logik in: Die philosophischen Hauptvorlesungen I. Kants, Hrsg. A. Kowalewski, 1924 S. 496 f. (Im folgenden zitiert als Kowalewski-V. S ). Vgl. audi IX, 134/5.

Dialektik in dieser Bedeutung hat, schon im Rahmen des bloß FormalLogisdien, „ihren guten Nutzen als Kathartikon des Verstandes"', Kants erster Ansatz nun zu seinem neuen Begriff einer »transzendentalen Dialektik" ist der schon angerührte, daß es Fehlargumente gibt — vor allem eben in der überlieferten Art von Metaphysik —, deren Falschheit nidit sowohl auf einem Verfehlen (womöglidi absichtlichem Fehlführen im Streitgespräch) des Formalen, also der „Richtigkeit" beruhen, sondern auf Fehlgreifen im Inhaltlichen („der Materie nach"): Verfehlungen im Anspruch auf sachlidk-gegenständliche „Wahrheit", Dergleichen gehört denn also in die transzendentale Logik und erfordert eine Dialektik innerhalb dieser, als Aufklärung von Sdiein-Beweisen soldier Art: Warnung vor „transzendentalem Schein" in einem ersten Teilsinn dieses Titel-Begriffs. Kants völlig neue These aber, über solche Unterscheidung und diesen Sachbezug hinaus, ist nun: daß die Scheinbeweise der Metaphysik, ganz anders als jene gelegentlichen, gar auch äbsichtlich„künstlich" herbeigeführten Verfehlungen des Richtigen, auf einer im Wesen der menschlichen Vernunft (ihrer Endlichkeit) ursprunghaft angelegten, ihr grundsätzlidi zugehörigen Gefahr und Neigung beruhen, Eben darum ist es besonders dringlidi und notwendig, transzendentale Logik auch als „transzendentale Kritik" aufzubauen: Kritik des dialektischen Scheins in diesem Sinne®. Die großen Gegensätze metaphysischer Anschauungen und Thesen in allen drei Bereichen, je mit vorgeblichen Erweisen, welche Kant sein Leben lang vor sich sah und immer prüfend, in bewußter Zuspitzung, gegeneinanderhielt, Theismus gegenüber atheistischem Naturalismus, „Spiritualismus" in der Auffassung der Seele gegenüber (altem und neuem) Materialismus, Freiheitslehren gegenüber den verschiedenen Systemen des „Fatalismus" — solche Gegensätze stehen nun seit Jahrtausenden miteinander im Kampf der Lager, stehen in einem immer neu sich wiederholenden Streitgespräch von Behauptungen und Widerlegungen. Und dabei geht es doch um Meinungen von sehr ernster ® Logik I X , 17. Sie soll als Warnung und „Karthartikon" des Versandes dienen (Reinigung von Formverfehlungen), statt als „Kunst des Sdieins" in sophistisdien Streitgesprächen (Eristik). • Vgl. S. 130 B 170: „ . . . als eine Logik des Scheins, einem besonderen Teile des scholastischen Lehrgebäudes (d. h. der neuen Transzendentalphilosophie in ihrem scJiulmäßig genauen Aufbau) unter dem Namen einer Dialektik erfordere."

und folgensAwerer, den ganzen Sinn des Mensdiendaseins und der Weltvorstellung betreffender Art. Dafür also gilt es, im Wesen der Vernunft selbst den Grund aufzufinden. Kants These ist durdiaus nidit, daß die Vernunft des Mensdien in ihrer spezifisdien Endlidikeit grundsätzlich irren muß. Jene Zuspitzung „universalen Zweifels" im Beginn von Descartes' metaphysisdi-gnoseologisAen „Meditationen" zur paradoxen Erwägung, es könnte ein genius malignus unser Erkenntnisvermögen überhaupt so eingeriditet haben, daß es fehlgdien müsse, — liegt Kant fem. Sein ganzes Philosophieren erwächst und hält sich auf der Basis grundsätzlichen Vertrauens auf einen positiven Leistungssinn und auf die innere Einhelligkeit der menschlichen Vernunft im ganzen; wenn in ihr eine „Dialektik" wurzelt, wie sie in jenem nie abreißenden Streit der Denker und Systeme sich dokumentiert, dann muß es sich um etwas Erhellbares handeln, so, daß mit der grundsätzlichen Aufklärung eine tiefer gelegene Einstimmigkeit der Vernunft mit ach selber sichtbar und durchsichtig wird. Der „Transzendentale Sdkein" (Überschrift der Einleitung I) muß sich also, einmal konstatiert und grundsätzlich begriffen, als Schein durchschauen lassen. Des weiteren aber gehört noch zu diesem Begriff Kants These, daß dieser Wahrheit-verstellende Schein derart im Wesen der Vernunft liegt, daß er als Schein bleibt und weiter die Meinungen verführt, auch nachdem die kritische Reflexion ihn aufgedeckt hat. Durch alle „Aufklänmg" und „Auflösung" wird er nicht vernichtet. Er ist ein „natürlicher" nicht bloß im Sinne der Absetzung gegen „künstlich" gebildeten Schein, wie im „Betrug" sophistischer Argumente, sondern auch in dem Sinne, daß er in der „Natur" (essentia) unserer Vernunft seinen Grund hat — und daher „unausbleiblich" ist! Der Schein war immer und wird bleiben, auch nach erreichter Aufklärung und Einsicht; er wird immer wieder sich aufdrängen, nicht nur Unachtsamen, sondern auch den Philosophen, bei aller Kritik; er waltet als Neigimg und Hang in aller Seinsb^^jiung und ist gegeben mit der Daseinssituation des Menschen. An Grunderfahrungen in der äußeren Welt- und Erkenntnissituation in Sonderheit des neuzeitlichen Menschen könnte man, wohl auch in Kants Sinne, anknüpfen, um den merkwürdigen Gedanken sich vom Anschaulichen her nahezubringen. Wenn die Erde, unser Wohn-

platz, eine Kugel ist, so müssen für unser natürliches Anschauungsverständnis unsere „Antipoden" mit dem Kopf nadbi unten „stehen". Man kann gut einsehen, daß dem nidit so ist; aber das Scheinhafte der Anschauung bleibt. Ähnlich ist es mit dem seit Kopemikus erkannten und erwiesenen Umlauf unserer Erde um die Sonne: kein astronomisch belehrtes Wissen kann verhindern, daß alltäglich für unsere Wahrnehmung die Sonne über uns dahinzieht. — Kants Dialektiktext hat sidi, aus Gründen, an ein anderes, seit allen Zeiten wohlbekaimtes und -bedachtes Modell gehalten: die optischen Täuschungen, etwa von der Art des Höherscheinens des Meeres in der Ferne (altum mare) oder des Größerscheinens des Mondes dann, wenn er am Horizont bei dunstiger Luft steht''. Auch hier liegt ja der Grund der „Illusion" in einer Situationsgegebenheit. Freilich in einer solchen, welche man auswechseln kann, — was aber auch das Phänomen in sich nicht ändert: es kehrt bei jeder Rückkehr in den Standort wieder. Das „Blendwerk" in der Sinnessphäre ist ein physisch-natürliches, und bleibt daher; bei aller Korrektur durch die erklärende Einsicht ist es als Schein ein Unvermeidbares. Von solchen Vergleichsmodellen aus sucht Kant das von ihm, in wiederholter Durdiprüfung gegensätzlicher Standpunkte der Metaphysik, bemerkte Vernunft-Phänomen eines „transzendentalen" Scheins zu fassen und begreiflich zu machen. Nicht künstliche Sophistik und Streitlust ist es, was die Philosophen in immerwährende Gegensätze trieb und immer wieder treibt, und nicht formale Fehlschlüsse, welche durch Widerlegung auszurotten wären; sondern im unveränderlichen Daseinswesen unserer Vernunft liegt der „Grund", die ratio der widerstreitenden Sichtweisen. Am eindringlichsten und auf eine ganz besondere Art legte sich solche Vermutung Kant nahe von gegensätzlichen Behauptungen und Erweisen her, welche das Thema „Welt" betreffen, — behandelt dann in der Kritik unter dem Titel „Die Antinomie der reinen Vernunft", als das mittlere „Hauptstüdk" der Dialektik: Kant hat es immer als seine eigenste „Entdeckung" angesehen, daß hier, an einer Sache, welche keineswegs von vornherein ins Feld des „Übersinnlidien" hinausweist (wie das bei „Seele" ^ Beispiele und Besprechung soldien .Sinnessdieins* audi in Kants Anthropologie. VII, 146, 149/50.

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oder „Gott" der Fall ist), sondern die vielmehr ganz unmittelbar zum in der Welt Sichvorfinden des Menschen gehört, fundamentale gegensätzliche Entscheidungen sich sinnhaft-zwangsläufig als unvereinbar gegensätzliche herausbilden, mit je einleuchtenden, aber auch je vom Gegner einleuchtend bestrittenen Beweisgängen. Das Phänomen dieser Antinomien ist das eigentliche Herzstück in Kants Konzeption des (alle drei Bereiche der Metaphysica specialis übergreifenden) Begriffs von einem „Schein", welcher zur Daseinssituation des Menschen in seiner Vemunftnatur gehört — welche Situation der Philosoph erhellen und durdischauen, aber als Mensch nicht wechseln kann*.

Einleitung I

Die Aufgabe dieses Durchschauens heißt nun also „transzendentale Dialektik", verstanden als eine „Logik" (Aufklärung des Fehlgehens und zugleich Sinnerhellung) dieser Art von Schein. Daß diese Logik sogleich in der zweiten Zeile des ersten Absatzes, nach Rückverweisung („Wir haben oben . . . " ) auf frühere Vorau^riffe (S. 81/2, B 87 f.; S. 130/1, B 170), abgesetzt wird von einer „Lehre der Wahrscheinlichkeit", das hat seinen Anlaß wiederum zunächst in Definitionen formal-logischer Lehrbücher. Auch diese Zusammenstellung der Begriffe Dialektik und Wahrscheinlichkeitslogik geht bis auf Aristoteles zurück; Kant hat dagegen in seinen Vorlesungen zur Logik die probabilitas (also bloße „Scheinbarkeit" im Sinne der veri-similitudo, also als eine positive Weise des Führwahrhaltens!) im „analytischen" Teile bzw. in der Einleitung dazu behandelt*. Auch hier aber hat Kants Abweisung zugleich Sachbedeutung für sein Unternehmen. Alle induktiven Erkenntnisse haben den Charakter von Wahrscheinlichkeit, in unterschiedenen Graden. Wo es aber um Metaphysik geht, kann für Kant von dergleichen nicht die Rede sein; der Gedanke etwa einer „induktiven Metaphysik", in späterer Zeit oft aufgetreten, liegt ihm ' Aus voikritisdier Zeit, lange vor Konzeption des spezifisdien Antinomiegedankens, ein Beispiel des transzendentalen Sdkeins: »Daher nimmt die Vorstellung der göttlichen Ewigkeit selbst bei Philosophen den Sdiein einer unendlidien Zeit an, so sehr man sich auch hütet, beide zu vermengen . . I I 339. » I X 81 f.; Kowalewski-V. 452/3 —455.

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ganz fern. Metaphysik ist für Kant sinngemäß und notwendig Wissenschaft „aus reiner Vernunft" — mit dem Anspruch auf apodiktische Gewißheit. Und eben um Metaphysik in diesem Sinne geht es in der Kritik. „Schein" wird dann zweitens abgesetzt gegen das ähnlidi klingende BegriflFswort „Erscheinung". „Erscheinung", einer der Haupttermini in Kants Lehre, bezeichnet den „Gegenstand, sofern er angeschaut wird"^®. Wenn sidi demgegenüber der transzendentale Schein in irrigen Behauptungen und Scheinbeweisen der Metaphysik ausspricht, so liegt das auf völlig anderem Felde als die Charakterisierung aller empirischen Realität oder Gegebenheit als Erscheinung. Die Einsieht, daß beim Schein der Wahrnehmung (Sinnestäuschung), welchen Kant im folgenden den „empirischen Schein (z. B. den optischen)" nennt, nicht eigentlich die Sinne irren, daß die Fehlauffassung vielmehr in dem Verhältnis des Geschehenen zu unserem auffassenden Verstehen liegt, ist alt. Der Sinnenschein wirkt als „Verleitung" zum Irrtum, der sich im (falschen) Urteil formuliert. Kant nimmt dies nun hier zum Anlaß, ganz allgemein und grundsätzlidi zu formulieren: „Keine Kraft der Natur kann aber von selbst von ihren eigenen Gesetzen abweichen." Die These geht sozusagen vom Ontologisch-Gegenständlichen über auf Gnoseologisches: von der neuzeitlichen Erfahrung (und entsprechenden Voraussetzung) imverbrüchlicher Naturgesetze auf die Erkenntnis-„ Vermögen" oder Erkenntnis„kräfte" (z.B. „Einbildungskraft", „Urteilskraft"). („Natur" wird hier von Kant in einem den Gegenstand der Naturwissenschaft und " Zwei versdiiedene Bedeurongen von .Ersdieinung' müssen bei Kant unterschieden werden. Die Hauptbedeutung weist auf die Grundthese des Transzendentalen Idealismus, wonadi alles, was wir ansdiaulidi erfahren und erkennen, uns nicht das Seiende selbst enthüllt (nicht .Dinge an sich und überhaupt* erfaßt), sondern nur Seiendes, welches und insofern es uns, in Raum und Zeit, .erscheint'. Zweitens aber wird, an viel selteneren Stellen, beim Aufdecken der »Elemente" des Erfahrens durch isolierende Abstraktion, das Bloß-Ansdiauliche, absehend noch vom bestimmenden Denken, als .Erscheinung" bezeichnet. Einführung dieser Sonderbedeutung in der transzendentalen Ästhetik: „Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung." S. 50 B 34. In beiderlei Bedeutung geht es um Wahrheit empirischer Erkenntnis, nicht um .Schein". — Unmittelbar gegenübergestellt werden Schein und Erscheinung in einem vordeutenden Passus der transzendentalen Ästhetik, wo die neuzeitliche Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten zum Anlaß genommen wird, um auf das ganz-andere Erkenntnisphänomen des transzendentalen Scheins hinzuweisen. S. 71a B 71a.

C 5 . 234 B 349150)

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Naturphilosophie weit übersteigenden Sinne gebraucht, so wie er ja auch an entscheidenden Stellen von der „Natur" und „Naturanlage" der menschlichen Vernunft spricht!) Auf der gleichen Linie liegt es, wenn Kant im folgenden eine bekannte und folgenreidie Einsicht der Medhianik (vom Parallelogramm der Kräfte) auf die Konstellation der Erkenntnis-„kräfte" im Auftreten des Scheins (wie des „empirischen", so dann auch des transzendentalen) analogisch-erläuternd überträgt. So wie die Kurve einer Wurfbewegung oder der Umlauf des Mondes sich gesetzmäßig ergibt aus dem Aufeinandertreffen zweier Kraftwirkungen (influxus physicus), so nun das im „Schein" gründende „irrige Urteil" aus dem unbemerkten „Einfluß" der Sinnlichkeit auf das Versandesvermögen, auf die „Urteilskraft"; das ScheinUrteil erklärt sich aus dem Einmengen der situationsbedingten Sinnesvorstellung auf das Sachverständnis eines objektiv Vorhandenen. — Daß wir Menschen „außer diesen beiden Erkenntnisquellen" (beide spezifisch unterschieden voneinander, je mit eigenen „Formen" und Elementargesetzen) „keine anderen haben", das ist Fundamentalthese von Kants gesamter Transzendental-Analytik (der Sinnlichkeit in der transzendentalen Ästhetik, und dann des Verstandes); auch daß die wohl vorauszusetzende gemeinschaftliche Verwurzelung dieser beiden „Stämme" in der Einheit unserer Daseinsverfassung uns unbekannt ist". Die der Verstandeskraft „eigentümliche Handlung" (actio) hat ihre spezifische „Bestimmung" (sowohl in der empirischen Erkenntnis wie im metaphysischen Gebrauch); Gefahr des Irrtums entsteht, wenn „subjektive Gründe" sinnlich-anschaulicher Gegebenheit und Vorstellungsweise (im optischen Schein der bloße Seheindruck) die Sadiauffassung, also die „objektiven" Gründe des Urteils unvermerkt beeinflussen. Jede Erklärung von Sinnestäuschungen besteht darin, die zusammengesetzte Wirkung in einfache Faktoren der! Vorstellung aufzulösen, dem Bilden der Imaginatio gegenüber die „Urteilskraft" selbständig zu halten (S. 235 B 351/2). " S. 46 B 29: „ . . . daß es zwei Stämme der mensdilichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinsdiaftlidien, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand .. .*. Im Zusammenhang der das Wert absdiließenden Methodenlehre heißt es: „ . . . wo sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntniskraft teilt und zwei Stämme aijswirft, deren einer Vernunft ist.* Darüber später. Die .transzendentale Logik* umgreift sowohl die Funktionen des Verstandes wie die der Vernunft.

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(S. 23S B 3S2)

Sdion die Betraditungen dieses ersten Absatzes greifen immer voraus auf den „transzendentalen" Sdiein, weldier in metaphysischen Urteilen auftritt und denn audi nur durdi die „transzendentale Überl a n g " der Dialektik erklärt und in seiner Notwendigkeit begriffen werden kann. Der unvermerkte „Einfluß der letzteren Erkenntniskraft", d. h. der Sinnlichkeit und ihrer Wesensformen, auf die actio reinen Denkens (Metaphysik aus reiner Vernunft) muß in kritischer Unterscheidung der Faktoren durchleuchtet werden. Der 2. Absatz hat nun also das Titelthema direkt vor sidi. Es geht um einen Schein, der vor und über allen Einzelurteilen der Metaphysik „auf Grundsätze einfließt". Das zweite Buch der Analytik, die „Analytik der Grundsätze", hatte von solchen Erkenntnisprinzipien gehandelt, welche „angelegt" sind auf mögliche Erfahrung und da denn auch als echte Wahrheitskriterien fungieren. Demgegenüber berufen sich die metaphysischen Behauptungen auf Grtmdsätze, welche nidit diese Art „Bestimmung" haben, also auch nicht als „Probierstein" des Wahren gelten dürfen. Wenn die „Warnungen der Kritik", wie sie bereits im zentralen Absclinitt der Analytik (transzendentale Deduktion der Kategorien) und bei ihrem Abschluß (Phänomena und Noimiena) gegeben wurden, unbeachtet bleiben, dann entstehen Einsichts-„Illusionen". Der „reine Verstand" traut sich, im bloßen (unschematisierten) Gebrauch der Denkkategorien wirkliche „Erweiterungen" unseres Wissens ins Übersinnlidie hinein zu: synthetische Urteile a priori einer Metaphysik als apodiktischer Wissenschaft (wo denn z. B. Seele als „Substanz" begriffen wird oder ein Weltgrund als „Existenz"-Notwendigkeit). Es gilt, dem allen gegenüber, kritisdi den legitimen Verstandesgebrauch „in den Schranken möglicher Erfahrung" abzusdieiden vom „Hinausgehen des Denkens über die Grenze" dieses in Erfahrungswissenschaften fruchtbar zu bearbeitenden „Bodens". Die Termini „Schranke" imd „Grenze" sind bei Kant in der Weise unterschieden, daß grundsätzliche Feststellung der Grenzen unserer Erkenntnis der Vernunft selbst möglich ist, als überschauendes Bestimmenkönnen auch noch des Bereichs, wo notwendig die Absicht verstehender Einsicht auf ihre unübersteigbare Schranke stößt". " Vgl. S. 497 B 789: „ . . . Kritik der Vernunft . . . , wodurch niAt bloß Schranken, sondern die bestimmten Grenzen derselben . . . in Ansehung aller möglichen Fragen von einer gewissen Art . . . bewiesen wird." Ausführlich über Sdiranke

(S.23SBm)

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An dieser Stelle führt nun Kant den sehr wichtigen Begriffsuntersdhiied von yy transzendental" und „transzendent" ein, wobei dem „transzendent" korrelativ der Ausdruck „immanent" zugeordnet wird. Es muß sogleich dazu bemerkt werden, daß in solchen Gegenüberstellungen „transzendental" nicht immer ganz im gleichen Sinne gebraudit wird. „Transzendental" bezeichnet grundsätzlich, durdi das ganze "Werk hindurch, die Reflexion der menschlichen Vernunft auf ihre eigenen „Elemente", ihre Begriffe und Grundsätze a priori; die ganze Kritik ist in diesem, von Kant neugeprägten, Sinne des Wortes „Transzendentalphilosophie". Vernunft bleibt hier insofern bei sich selbst". „Transzendent" nennt Kant hier und von nun an den (der kritisdien Prüfung nach bedenklichen) Überstieg unseres Begreifen- und Erweisenwollens über die Gesamtsphäre möglicher Erfahrung hinaus: ins Feld des „Übersinnlichen". Mit dem sogleich beigefügten Bildwort „überfliegen" klingt eben die Kritik an diesem Ansprudi an". und Grenze im § 59 der Prolegomena. Dort u. a.: „Unsere Vernunft sieht gleichsam um sidi einen Raum für die Erkenntnis der Dinge an sidi selbst, ob sie gleich von ihnen niemals bestimmte Begriffe haben kann und nur (sc. für wirklidi bestimmte Begriffe und Einsichten) auf Erscheinungen eingeschränkt ist.* III, 352. " Der Terminus „transzendental" erhielt durch Kant diesen ganz neuen Definitionssinn gegenüber dem mittelalterlichen und noch im 18. Jahrhundert gängigen Gebrauch (der audi bei Kant oft nachklingt). In Richtung auf jenen früheren Gebrauch spricht Kant im § 12 der Analytik von der „Transzendentalphilosophie der Alten" und von den darin aufgestellten „vermeintlich transzendentalen Prädikaten der Dinge' (insbesondere den sogenannten .Transzendentalien", als ontologischen Bestimmungen jedes Seienden als solchen). Für Kants neu gefaßten Terminus und sein Anliegen ist die klassische Einführungsstelle gegeben in der transzendentalen Ästhetik: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen (sc. etwa nun gar mit Dingen überhaupt und ihren ontologischen Bestimmungen), sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese apriori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt." S. 43 B 25. In der Wendung „möglidi sein soll" steckt vorweisend das kritische Fragezeichen, welches sich dann in der Dialektik erst so recht auswirkt. — NaAklingen der alten Bedeutung von „transzendental* oder Rückgreifen auf dieselbe ist es z. B., wenn Kant mit seiner Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit diesen Anschauungsformen die „transzendentale Realität", was eben heißt: ontologischen Sachdiarakter, Geltung für „Dinge an sidi und überhaupt", abspricht. " Vgl. die klassische Stelle mit dem Bilde der „leiditen Taube": sie könnte die (sdieinhafte) Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Räume noch viel besser gelingen würde. „Ebenso verließ Plato die Sinnenwelt und wagte sich jenseit derselben auf den Flügeln der Ideen in den leeren Raum des reinen Verstandes"

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(S. 23i B 352)

Insoweit ist der Gegensatz im Gegenüber dieser beiden Termini ganz klar. Wenn es dann aber heißt: Der „transzendentale Gebrauch" der Kategorien, wozu als Kontrast der bloß-empirisdie Gebraudi gehört, so bezeidmet der Terminus audi wieder, in Rüdterinnerung an seine alte frühere Intention, den eben jetzt zu diskutierenden Ansprudi des Verstandes, über Erfahrungsgrenzen hinaus seine StammesbegriflFe zu Sadientscheidungen in Urteilen a priori verwenden zu können. Transzendentaler Gebraudi „oder Mißbraudi": das eben ist nun jetzt die Frage; beim Mißbraudi werden die immanenten Grundsätze, von weldien die Analytik als Doktrin und Wahrheitslehre gehandelt hatte, zu „transzendenten". — Einfadistes Beispiel soldien Mißbraudis einer Kategorie: der berühmte Leibniz-Wolffisdie „Satz vom Grunde", um weldien in Kants Jahrhundert der große Streit ging (Crusius gegen die Wolffianer!). Dieser Grundsatz, als ontologisdies Kausalprinzip verstanden, wendet die auf dem „Boden" der Naturerkenntnis fruditbar arbeitende und einen editen Probierstein der Wahrheit liefernde Kausalkategorie auf „Dinge überhaupt" an: z. B. audi auf Handlungen der Freiheit. Damit wird der immanente Grundsatz der „Zweiten Analogie der Erfahrung" (S. 166/7 ff. B 232 ff.), eben durdi seinen „transzendentalen" Ansprudi im alten Sinne („vermeintlidi transzendentale Prädikate der Dinge") „transzendent"; — mit der Folge einer metaphysisdien Entsdieidung im Sinne des „Fatalismus", wie etwa bei Spinoza. Es ist dieselbe Subreption, wenn der im Felde der empirisdien Gegebenheiten bereditigte Grundsatz (formuliert in der Metaphysik des Crusius), wonadi alles Existierende im Raum und in der Zeit ist, auf Sein und Seiendes überhaupt bezogen — \^rkinjg des transzendentalen Sdieins. S. 32 B 8/9. — Ein zweites Bild ist diesem beizuordnen: die Analytik hat „das Land des reinen Verstandes" (sc. den sidieren Boden für „immanente* Grundsätze) „durdimessen", als eine Art umsdireitbarer Insel, weldie „durdi die Natur (sc. unseres Erkenntnisvermögens) in unveränderlidie Grenzen eingesdilossen' ist. Dieses »Land der Wahrheit' ist aber »umgeben von einem weiten und stürmisdien Ozean", auf weldien denn die Metaphysiker sidi ohne weiteres hinauswagen; dodi ist er »der eigentlidie Sitz des Sdjcins". Und dieses Meer hat also nun die Dialektik, ihrerseits ein neues aber aussiditsreidies Wagnis, das der sidi selber prüfenden Vernunft, »nadi allen Breiten zu durdiforschen . . . " . S. 202 B 294/5. — Der eigentlidie »Mißbraudi" der Kategorien und Grundsätze und ihr »transzendent'-Werden ist nadi dieser Überlegung nidit sdion gegeben in einem unaditsamen »Spielen" des Verstehenwollens in metaphysicis, sondern erst mit dem ausdrüdilidien Ansprudi auf demonstrative Einsidit.

(S. 236 8 353)

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wird —mit untragbaren Folgen für die „natürliche Theologie"". In beiden Fällen dieses transzendent-Werdens von einem immanent berechtigten und notwendigen Grundsatz geht die Verführung aus von einem „transzendentalen Schein", der unseren Vorstellungen in metaphysischen Gedankengängen „unhintertreiblich" anhängt^®. Der 3. Absatz betont das Unausweichliche des Scheins, welcher durch transzendentallogische Kritik zwar als Unwahrheit erwiesen und somit im Prinzip unschädlich gemacht werden kann und soll, aber doch niemals aus der menschlichen Vorstellung von Sein und Seiendem und allen Überlegungen dazu verschwindet. Als erstes Beispiel wird auf die Thesis der ersten kosmologischen Antinomie vorausgegriffen: kein Denken über Weltschöpfung kann sidi der Illusion entziehen, den Ursprung aller Dinge als zeitlichen Anfang vorzustellen. Wie „selbst der Astronom" den Mond im Aufgang größer sieht, so wird (nicht nur naive Weltschau, sondern auch) der Philosoph jener Scheinvorstellung immer ausgesetzt und in Gefahr sein, sich davon in den Argumentationen beeinflussen zu lassen. Die „Ursache", der Grund dafür liegt im Wesen der Vernunft als endlich menschlicher; im Falle des hier auftretenden Beispiels darin, daß unser Verstehenkönnen imd uns Begreiflidimachen angewiesen ist auf Zeitvorstellungen — so daß denn auch ein ursprunghaft Ins-Dasein-Treten (Arche) wie ein anfängliches Geschehen angesehen und bezeichnet wird. Zur weiteren Verdeutlichung des Scheins in Grundsätzen führt hier Kant nodi den Terminus „Maxime" ein. Ursprünglich als Bezeichnung für höchst (maximal) allgemeine und also auch unerweisVgl. den Abschnitt IV in den Allgemeinen Anmerkungen zur transzendentalen Ästhetik. S. 72 B 71. " D a ß „transzendental" in diesem Überstiegs- oder Überfliegenssinne etwas völlig anderes bedeutet als der Terminus „Transzendenz" in gegenwärtigen Darlegungen der Phänomenologie und Daseinsanalyse, ist vielleicht nicht überflüssig zu bemerken. — Audi im Kantischen Terminus „transzendental", in seinem eigensten streng definierten Sinne genommen, liegt faktisch ein Moment des Überstiegs, aber eines legitimen und notwendigen: Erfahrungsüberstieg nicht in der Sachrichtung auf Sein hin, sondern in Rückbesinnung auf die im Wesen des Verstehens selber liegenden Elemente apriori und deren Valenz. Dieser Überstiegssinn wird dann besonders akut in einem positiven Sinne in der Dialektik, sofern die Kritik des Mißbrauchs zugleidi das sinnotwendige Hinausweisen wesentlicher Elemente der Vernunft („Ideen") über jede jeweilige und aber audi über jede mögliche Erfahrung klarlegt. (In diese Richtung zielt heute etwa der „Transzendenz'-Begriff von K. Jaspers, welcher ja auch an Kant anknüpft.)

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C5. 236 B 3f3)

liehe Prinzipien geprägt, hat dieses Begriffswort in der Neuzeit vordringend ethische Bedeutung angenommen: maximes morales. Audi bei Kant ist sein Hauptort in der praktisdien Philosophie: da sind Maximen allgemeine Vorsätze des handelnden Subjekts, weldie zunädist und zumeist aufs eigene Interesse zielen; ihnen, als insofern bloß subjektiven „Regeln", stehen gegenüber die objektiven „Gesetze" der Moral. Im Rahmen nun der Reflexion auf Wege und Begriffsmittel der Erkenntnis nennt Kant Maximen soldie Verstehensgrundsätze, welche zwar vernunfthaft-allgemein sind (Handelnsmaximen können auch sehr zufällig und „subjektiv" im Sinne individueller Willkür sein), aber eben doch nur von „subjektiver Notwendigkeit": bloße „Regeln" des Vernunftgebrauchs im Interesse und „zugunsten unseres Verstandes", welcher Einhelligkeit unter seinen Erkenntnissen herzustellen sucht". Objektive Grundsätze dagegen machen den Anspruch, auf direktem Einsichtswege Sachzusammenhänge, Seinsgesetzlidikeiten zu fassen, seien es solche der Natur (wie die immanent bleibenden der Analytik), sei es in der Absicht auf „Bestimmung der Dinge an sich selbst". Der „Schein transzendentaler Urteile", wie er etwa in dem Beispiel vom Weltanfang auftritt, beruht also auf einer unwillkürlichen „Unterschiebung" (subreptio, alter Terminus der Logik); Maximen des Vernunftgebrauchs werden für Prinzipien von gegenständlichontologischer Aussagekraft genommen. Das Fehlgehen liegt nicht in unseren Erkenntnis-„kräften" selber, sondern in der urteilenden Zuordnung; geschärfte Urteilskraft vermerkt die Subreption". Die Dialektik hat also die Aufgabe vor sidi, in allen Bereidien der Meta" Genauere Darlegung in Einleitung II Teilabsdinitt C: „subjektives Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrate unseres Verstandes", und späterhin. Der Gebrauch der Vernunftbegriffe kann entweder „ . . . Erfahrung überfliegend (transzendent) oder einheimisd) (immanent) sein . . . ; und alle Fehler der Subreption sind jederzeit einem Mangel der Urteilskraft, niemals aber dem Verstände oder der Vernunft zuzuschreiben." S. 427 B 671. Vorher heißt es, ganz wie in unserem Text: „Alles was in der Natur unserer Kräfte gegründet ist, muß zweckmäßig und mit dem richtigen Gebrauch derselben einstimmig sein . . . , wenn wir nur die eigentliche Richtung derselben ausfindig machen." Es deutet sich an solchen Stellen eine (metaphysische) Grundvoraussetzung der gesamten Kantischen Philosophie und gerade des kritischen Unternehmens an: die einer inneren Teleologie und Sinnharmonik in der „Natur" und „Bestimmung" der menschlichen Vernunft. Auch die Lehre vom sinnhaften Ineinanderspielen der theoretischen und praktischen Vernunft (unter dem „Primat" der letzteren) be-

(S.237B3SS)

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physik solchen Mißbrauch von Grundsätzen, wie er sich in Thesen und Beweisgängen „aus reiner Vernunft" auswirkt, zu enthüllen.

Einleitung

II

Das zweite Stück der Einleitung in die transzendentale Dialektik ist in drei Unterabschnitte gegliedert. Die Erörterung beginnt mit Überlegungen zum Wesen der „Vernunft überhaupt" (A); in ihr liegt sowohl das Vermögen eines formallogischen Gebrauchs (worauf B eingeht) als auch ein „transzendentales": Vernunft als Ursprung apriorischer Begriffe und Urteile (C); hier aber liegt natürlich das eigentliche Problemthema. Es wäre falsch, den ersten der drei Titel in einem Sinne zu nehmen, wie ihn der Titel des gesamten Werkes nahelegen könnte. Dessen Untersuchungsgegenstand ist die menschliche Vernunft im Sinne des „gesamten oberen Erkenntnisvermögens"": umgreifend alle Wesensformen der Erkenntnis. Der erste Abschnitt von A bezeichnet die drei Gruppen, welche ja auch die Einteilung des Gesamtwerkes bestimmen: Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft. Damit kommt ein termincn logisch-sachlicher Unterschied zur Sprache, welchen wir bisher noch nicht erörtert haben: „Vernunft" im weiteren und im engeren Sinne. In der Dialektik haben wir es immer mit dem letzteren zu tun. Auch diese Gegenüberstellung von „Verstand" und „Vernunft" ist eine erst nach vieljährigen Untersuchungen erreichte Fundamentalthese in der kritischen Entscheidung Kants. Und auch hier greift sein Sprachgebraudi unvermerkt manchmal auf frühere Stadien und überlieferten Sprachgebrauch zurück, in welchen die Termini „Verstand" und „Vernunft" noch ohne weiteres füreinander eintreten und jeweils das gesamte Denkvermögen bezeichnen konnten. Darauf wird jeweils hingewiesen werden; aber die Unterscheidung von „Vernunft" im ruht darauf. Vernunft mit ihren Kräften, Handlungen und „Naturanlagen" ist für Kant so etwas wie ein hödist sinnvoll funktionierender geistiger Organismus. Im Rüdiblidi auf das Gefüge unseres „reinen" Erkenntnisvermögens („Architektonik") sagt Kant: „Ich verstehe hier aber unter Vernunft das ganze obere Erkenntnisvermögen, und setze also das Rationale dem Empirisdien entgegen." S. 540 B 863.

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(S. 237 B 355)

Sinne des Dialektik-Teiles der „transzendentalen Logik" gegenüber dem Gebrauch des Wortes für das Gesamt der Formen a priori ist ohne besondere Schwierigkeit und sei hier ein für allemal erörtert. — Der erste Satz setzt die Vernunft, von der wir jetzt zu handeln haben, in eine Stufenordnung ein: ihr Denken geht, über EinheitsSynthesen des Verstandes hinaus auf „höchste Einheit" (oder Einheiten) des Denkens; Vernunft ist, innerhalb des gesamten oberen Erkenntnisvermögens, die „oberste Erkenntniskraft". Daß in dieser obersten Möglichkeit und Aufgabe unseres Erkennens zugleidi die Gefahr liegt, von welcher unter dem Titel „Transzendentaler Sdbein" vorgreifend gehandelt wurde''®, kann man terminologisch audi daran ablesen, daß die höchste Erkenntnismächtigkeit, wie sie einem allwissenden Wesen zugedacht werden müßte, von Kant nur selten einmal als Vernunft, fast immer aber als „Verstand" bezeichnet wird (intellectus archetypus, intuitiver Verstand)". Die „Verlegenheit", von welcher Kant sogleich im zweiten Satze spricht, tritt bei der Absicht auf, für die Grundintentionen metaphysischen Vernunftgebrauchs in jenen drei Themenbereichen eine „Tafel" aufzufinden — so wie (nach langem Suchen) Kant für die reinen Verstandesbegriffe den „Leitfaden" in der Urteilstafel der formalen Lo^ Programmatisch heißt es in der Gesamteinleitung der Kritik unter I I I : In den Erkenntnissen, weldie über die Sinnenwelt hinausgehen „liegen die Nadiforsdiungen unserer Vernunft, die wir, der Wichtigkeit nach, als weit vorzüglicher und ihrer Endabsicht für viel erhabener halten, als alles was der Verstand im Felde der Erscheinungen lernen kann, wobei wir, sogar auf die Gefahr zu irren, eher alles wagen . . S . 30/1 B 6/7. — Der Werktitel: Kr.d.r.V. sdiließt beide Bedeutungen in sich: kritische d.h. scheidend-unterscheidende (griechisch: krinein) Untersuchung der drei Hauptarten von Formen apriori des gesamten Erkenntnisvermögens, und: „Kritik" an den Metaphysikansprüchen der „Vernunft" im engeren Sinne — und damit Grenzbestimmung für das menschliche Einsichtvermögen überhaupt. Entsprechend werden die über Erscheinungswelt hinausliegenden, für uns nidit positiv erkennbaren „Noumena" als „Verstandeswesen" bezeichnet (s. vor allem Prolegomena §§ 32 und 45): nur ein Verstand, welcher ohne Sinnlichkeitsbedingungen unmittelbar das Seiende anschauen würde, könnte „die Dinge" (entia) so verstehen, wie sie in sidi selber und an sich sind. — Es mag hierbei erwähnt werden, daß die uns seit Kant so vertraut gewordene Höherordnung der Vernunft gegenüber dem Verstände innerhalb der Transzendentalphilosophie (mit ihren Fortsetzungen im spekulativen Idealismus der Nachkantianer) keineswegs immer gegolten hat; beim Cusaner etwa bezeichnet intellectus die höhere Stufe gegenüber der ratio. — „Gesetzgebende Vernunft' wird bei Kant der intellectus archetypus genannt. S. 456/7 B 723; vgl. dazu die Erläuterung im § 58 der Prolegomena.

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gik, also „von dem logischen Verstandesgebrauch überhaupt" her, gefunden hatte^''. Kant geht hier von der Überzeugung aus, daß „Seele, Welt, Gott" nicht etwa nur in manchen Weltanschauungen und philosophischen Systemen auftretende Leitthemen sind (etwa im Platonismus und in der Metaphysik auf christlichem Glaubensboden, wie sie denn auch in den großen Sdiultraditionen des Kantischen Jahrhunderts als dreiteilige metaphysica specialis bearbeitet wurden), sondern im Wesen der Vernunft selbst liegende, sachnotwendige Anliegen: Selbsterhellung des verstehend-handelnden (je einzelnen) Subjekts auf seinen Seins- und Sinnbestand hin. Umgreifen des Gesamt der Dinge, in welchem wir uns vorfinden, und, was noch über dies Gesamt als schlechthin Einheitliches hinaus- (oder ihm voran-)Iiegt: Weltgrund, „Transzendenz". Und diese drei Vemunftanliegen ordnen sich Kant, der Sache nach, wie eine Art Aufstieg von dem in der Welt sich vorfindenden Subjekt über das Weltganze zu jenem Äußersten und Höchsten; daher sucht er nun eine „Sx.zmmleiter der Vernunftbegriffe". Der logische Gebrauch der Vernunft ist vom „realen", d. h. sachhaltigen zu unterscheiden. Mit dem letzteren hat es Transzendentalphilosophie in ihren Dialektik-Untersuchungen zu tun: Begriffe und Grundsätze a priori, die der Vernunft und ihr allein eignen, sind aufzusuchen; der Weg dazu soll über das Formallogische gehen. Hier gilt Vernunft als das Vermögen der Schlüsse (Syllogismen)^. Die Zuordnung hat für Kant auch ihren Sachgrund: alle Aussagen der Metaphysik sind, in grundsätzlichem Unterschied von Urteilen und Grundsätzen über Erfahrbares, erschlossen — auf einen Weltgrund etwa schließt Vernunft vom Weltgegebenen aus. Für den „höheren Begriff": „Vernunft überhaupt", welcher Logisch-Formales und die Sachbegriffe übergreift, führt Kant (2. Absatz) den Terminus „Vermögen der Prinzipien" ein — was in den folgenden Absätzen von A erläutert wird. In der Philosophie vor Kant galt jede durch Ableitung aus Allgemeinerem gewonnene Erkenntnis als Erkennen „a priori", und insofern jeder „Obersatz", aus dem gefolgert wurde, als ein Prinzip. Kant aber nennt jetzt Prinzipien nur solche Grundsätze, welche in der ^ Vgl. S. 84/5 B 91 ff. ^ Zu diesem terminologischen Gebrauch in Kants Logik-Vorlesungen s. IX, 120 („Vemunftsdilüsse'); die „unmittelbaren Sdilüsse" audi da als »Verstandesschlüsse". 2 Heimsoeth, Transzendentale Dialektik I

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{S.239B3i8)

Vernunft selbst ihren Wesens-„Ursprung" haben, sei es formaliter^^ oder in Richtung auf Sachen, deren Begriffe die Vernunft selbst aus sich „erzeugt". Solche Grundsätze dürfen (analog wie die des „Verstandes") ihrerseits nicht weiter ableitbar sein — darin den in der Mathematik sogenannten Axiomen vergleichbar: dodi ohne deren Angewiesenheit auf „Anschauung". Durdi reine Begriffe erkennen zwar auch die in der Analytik behandelten „Grundsätze" (die Zweite Analogie der Erfahrung etwa durch die Begriffe a priori von Ursache und Wirkung), die ja auch weiter nicht ableitbar sind. Aber ihre „Deduktion" (im Sinne des Wahrheitsnachweises, Rechtfertigung ihrer Geltung) erforderte den Wesensbezug auf mögliche Erfahrung; die Begriffe allein genügen da also nicht, sie bedürfen der Beziehung auf Anschauung („Schema"). Davon aber kann hier, wo es um Metaphysik aus reiner Vernunft geht, gar nicht die Rede sein^^ Hier werden synthetische Erkenntnisse rein aus Begriffen, durch Prinzipien „an sidh selbst" beansprucht! Sie eigentlich will Kant nun „schlechthin Prinzipien" nennen. Überraschend greift der Denker hier auf praktische Philosophie über (und voraus), wie dann noch öfters in der Erläuterung von „Vernunft" im engeren Sinne. Im Wesen der Vernunft liegende Rechtsprinzipien (zur „Metaphysik der Sitten" gehörig) würden, einmal aufgefunden und formuliert, für die staatlich-bürgerliche Gesetzgebung die Einheit stiftenden Grundsätze geben können. Kant denkt hier voraus an die eigene Aufgabe: Begründung der Rechtslehre (wie ^ So z. B. hat es die „allgemeine" Logik mit Prinzipien apriori zu tun, etwa mit dem Widerspruchsprinzip als einem Obersten Grundsatz. S. 76 B 77, S. 142 B 191. Wer für die Entstehung von Kants Fragestellung und Entsdieidung in Sachen der Metaphysik interessiert ist, mag darauf hingewiesen werden, daß an dieser Stelle die berühmte Erstformulierung des Problems in dem Briefe an Marcus Herz vom 21. 2.1772 ganz deutlich mitanklingt — inbegriffen der Abhebung des theoretischen vom praktischen Vernunftgebrauch! Die in unserem Abschnitt auftretende Frage („Wie aber Gegenstände . . . " ) lautet in jener Frühfassung: „Wenn solche . . . intellectuellen Vorstellungen (sc. der Metaphysik, — mit Einschluß dessen, was Kant später „Metaphysik der Natur" und „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissensdiaft" nennen wird) auf unserer inneren Thätigkeit beruhen, woher komt die Übereinstimmung, die sie mit Gegenständen haben sollen, die doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden und axiomata der reinen Vernunft über diese Gegenstände, woher stimmen sie mit diesen überein, ohne daß diese Übereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hilfe entlehnen." In dieser Fassung ist die Frage nach „Grundsätzen" der Erfahrung als Grundgesetzen der „Natur" noch mitumgriffen; Vernunft und Verstand sind noch nicht grundsätzlich unterschieden. X 125.

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auch der Sittenlehre) durdi das „Prinzip schlechthin" der reinen praktischen Vernunft: den kategorischen Imperativ. — Hier liegt insofern keine beunruhigende Problematik, als Rethtsgesetze auf unsere eigenen Handlungen gehen: durch die Begriffe von Recht und Unredit können wir, wenn wir sie richtig fassen, „Ursache" soldier Handelnsgesetze werden, welche eine Harmonie der Freiheitsbestrebungen und -ansprüche unter allen Handelnden ermöglicht. — Dagegen tritt im Rahmen der theoretischen, genauer der „spekulativen" Vernunft die große Wahrheits- und Geltungsfrage wieder auf (welche im Rahmen der „Verstandes"-Analytik und nur dafür durch die „transzendentale Deduktion" entschieden worden war): wie können apriorisdie Prinzipien der Vernunft und die von ihr allein „erzeugten" Begriffe'^ Sachbedeutung, gegenständliche Geltung haben — gar für Gegenstände („Dinge") an sich selbst, wie das ja dodi Metaphysik beansprucht? Wie können wir voraussetzen, daß die „Natur der Dinge" selbst. Seiendes oder Sein, weldies über den Bereich möglicher Erfahrung hinausliegt, unter solchen Prinzipien steht, wie wir sie aus uns selber schöpfen, „Allgemeines nach Begriffen" (wie z. B. der Gedanke: Welt) enthaltend? Wenn wir sagen: die Welt muß einen „Grund" (etwa eine „Ursache") haben: was berechtigt uns dann zu diesem „muß", zu dieser Forderung? Der Kausalgrundsatz kann als gesicherte Regel für Synthesen von Erscheinungen gelten; liegt nicht in dem Anspruch, daß er auch für alles überhaupt gelte, etwas Fragwürdiges, vielleicht „sehr Widersinniges"?" Mit dem vorletzten Absatz von A greift Kant voraus auf seine Entscheidung dieser Kernfrage: die endliche Vernunft ist kein solches Vermögen, welches Seinseinheit (etwa: „Welt" in ihrer Grundverfassung) erfaßte oder stiftete durch Grundsätze, welche sie „an sich selbst" hat und aus sidi hervorbringt, so wie das der Verstand „vermittelst ^ In diesem Ausdruck liegt mehr als der auch für die Kategorien geltende Gedanke, daß soldie Begriffe apriori aus dem Erkenntnisvermögen selbst „entspringen". " „Widersinnisdi", so viel wie: paradox. Etwas an sich „Unmögliches" ist für Kant solche Ubereinstimmung insofern nicht, als man sich einen göttlichen Verstand in eben solcher Ubereinstimmung denken müßte! So heißt es in jener Erstformulierung des Problems: „Es ist also die Möglichkeit . . . des intellectus archetypi, auf dessen Anschauung die Sachen selbst sich gründen . . . verständlich. Allein unser Verstand ist durch seine Vorstellungen weder die Ursache des Gegenstandes (außer in der Moral von guten Zwecken), noch der Gegenstand die Ursache der Verstandesvorstellung (in sensu reali)." X , 125.

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seiner Regeln'"" für die Erscheinungen vermag. Ihre Funktion ist vielmehr die, Verstandesregeln (etwa Naturgesetze) unter „Prinzipien schlechthin" zusammenzufassen. N u r der Verstand geht direkt und unmittelbar auf „Dinge": nämlich auf Gegenstände möglicher Erfahrung. Vernunft dagegen ist, ihrer wahren Bedeutung (im Rahmen menschlich-endlichen Erkennens) nach ein Vermögen, welches Einsichten des Verstandes reguliert, „zugunsten" höherer Vereinheitlichung und „Haushaltung". Ihre Prinzipien geben nicht ontologisdie Gesetze, nicht Seinsstrukturen her; sie sind vielmehr „Maximen". Das ist sdion eine erste Vorausdeutung auf den im positiven Ergebnis dieser Vernunftkritik so fundamentalen Begriff des Regulativen Prinzips. Was im Abschnitt B über den formalen Gebrauch der Vernunft gesagt wird, entnimmt Kant im ganzen, so wie die genau entsprechenden Feststellungen in seinen Vorlesungen über Logik", der Lehrtradition. Nur seine Benennung der unmittelbaren Schlüsse als „Verstandesschlüsse" („Ich möchte lieber . . . nennen") steht schon in der Direktive seiner neuen transzendentallogischen Unterscheidung von Verstand und Vernunft. Daß das Verfahren des Erschließens sogleich an einem mathematischen Beispiel erläutert wird, hat seinen Grund einmal in der Vorbildbedeutung, welche das Lehrbuch Euklids mit seiner strengen Ableitung aller Lehrsätze aus wenigen Prinzipien („Axiomen") für die Metaphysik und den WissenschaftsbegrifF der Neuzeit angenommen hatte (more geometrico demonstrata): Metaphysik aus reiner Vernunft sollte ganz analog zur reinen Mathematik sich als gesichertes System ausbilden lassen (Idee einer Mathesis universalis). Zugleich aber will Kant darauf hinweisen, daß alles Erschließen in der Geometrie — nach seiner Feststellung und Lehre — auf unmittelbaren Einsichten („Anschauung") als entscheidender Quelle dieser Sacherkenntnisse sich stützt; des Schließens „bedürfen" wir beständig deshalb, weil unser endliches Verstehen diskursiv und auf Vermittlungen angewiesen ist (man beachte das wiederholte: „nur geschlossen"). Ein „intuitiver Verstand" hätte alles unmittelbar vor sich, ohne das vermittelnde Durchlaufen. Die Definition des Verstandes als „Vermögen der Regeln" (erste Einführung in der Analytik: III, 92/3 A 126/7) hat bei Kant ihren besonderen Grund im ständigen Bezug seiner Erkenntnislehre auf die Verstehensleistung der neuzeitlidien Wissenschaft: Erkenntnis von Naturgesetzen. Vgl. audi Prolegomena § 38. Vgl. IX, 114 fr., 120 ff., Kowalewski-V. 489 ff.

(S.240B359)

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Die Auszeichnung von drei und nur drei Grundarten der Vernunftsdilüsse, korrelativ zu den drei Arten der unter dem Titel Relation (hier: „das Verhältnis . . . im Verstände") befaßten Urteile, wie sie Kant in der Logik lehrte'", steht hier im Vorbezug auf die drei großen Inhaltsthemen der Metaphysik (s. S. 251 B 379 und weiterhin). — Der letzte Absatz stellt das Schluß verfahren, welches gewöhnlich, gerade auch in jenen Anlehnungen an Euklids Lehrbuch, allzusehr vom Vorbild fertiggeprägter deduktiver Systematik her gesehen wurde, in seiner Bedeutung für forschendes Vorgehen, weldies übergreifende Zusammenhänge erst aufsucht, in den Vordergrund. Nach Kants Wissenschaftserfahrung im Duktus der neuzeitlichen Naturwissensdiaft sucht wirklich frucJitbares, unser Wissen stetig erweiterndes Erkennen die an bestimmten Gegenständen festgestellten Regeln jeweils unter komparativ-allgemeinere Prinzipien zu bringen, so daß ein „auch für andere Gegenstände der Erkenntnis" (bei Kant fettgedruckt!) geltender Erklärungs- und Beweiszusammenhang sich herstellt. Was sich dann weiter fortsetzt in dem Sinne, daß durch „die Vernunft im Schließen" wiederum die „große Mannigfaltigkeit" der Verstandeseinsichten auf eine kleinere und „kleinste Zahl" allgemeiner Bedingungen gebracht wird'\ Auch diese Überlegung weist, hier nodi erst vom formallogischen Thema des (aufsteigenden) Ersdiließens her, voraus auf das Regulative Prinzip. — Letzten Endes zielt die so aufsteigende, Verstandeseinsichten umgreifende Vernunft auf ein Maximum: „höchste Einheit" im Singular'^. Vgl. die Urteilstafel im § 9 der Analytik samt Erläuterung. Zu den drei Sdilußarten: § 60 der Logik I X 121 f., Kowalewski-V. 420 f. ^ Es läßt sidi zeigen, daß Kant bei solchen Überlegungen vor allem der große Fortgang von Galilei und Kepler über Huyghens bis zu N e w t o n vor Augen steht. Kepler gelang es, zu den „Regeln" der einzelnen verschiedenen Planetenbewegungen das allgemeinere Prinzip, seine drei Gesetze, zu finden. Galilei brachte die Fallbewegung mit dem Herabgleiten auf schiefen Ebenen in Zusammenhang, mit dem großen Erfolg seiner Gesetzesfindung. N e w t o n aber gelang es dann sogar, so weit verschiedene und auseinanderliegende „Gegenstände" und Verstandeseinsichten, wie die des regelhaften Umlaufs unseres Erdtrabanten, die des Planetenumlaufs um die Sonne und jene terrestrischen Bewegungen unter eine weit höhere umgreifende Gesetzlichkeit zu stellen. — Von solchen Erfahrungen und Überlegungen aus setzt dann im späteren Fortgang der kritischen Philosophie und Wissenschaftslehre das erste Problemthema der Kritik der (aufsteigend-,reflektierenden") Urteilkraft an: Einleitung V zu diesem Werke. Auf dem ganz-anderen Gebiete der Rechtsphilosophie (vorletzter Absatz von A), w o die Vernunft in ihrem „praktisdjen Gebrauche" von den Handelnden ge-

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(S. 241 B 362)

Der Abschnitt C stellt nun die transzendentaliogische Grundfrage, zugleich im Vorweisen auf die Beantwortung. Metaphysik als Wissenschaft aus reiner Vernunft (mit erweiternden Urteilen und Grundsätzen a priori) müßte voraussetzen, daß „Vernunft an sich selbst", allein für sich genommen, ein eigener Quell rein begrifflicher Einsichten und Erweise wäre. Der „Verstand" hat sich als Ursprung eines ganzen Systems von Grundsätzen für Erkenntnis von Erscheinungen erwiesen — freilich nicht „isoliert", sondern durchaus nur in Wesensverbindung mit Ansdiauungsformen. Es stellt sich für reine Vernunft diese Alternative: sdireibt sie (wie der Verstand den Erscheinungsgegenständen) ihren Objekten ein Gesetz vor: Einhelligkeit, Systemzusammenhang in allem Seienden als solchem, so daß der Seinszusammenhang sich, in jenen großen Themen, sozusagen axiomatischdeduktiv erweisen läßt, oder ist unsere Vernunft „nur" die immerwährende „Forderung" an das Begreifen, gewonnene Einsichten möglichst wieder in durchgängigen Zusammenhang miteinander zu bringen? Im letztei-en Falle wäre die endliche Vernunft kein souveränes, unmittelbar gesetzgebendes Vermögen, sondern — „ein bloß subalternes": insofern als es, immer „nur" ersdiließend und vermittelnd, auf vorgegebene Leistungen des Verstandes, auf seinen „Vorrat" an gewonnenen Besitztümern angewiesen ist. Freilich steht dieser „obersten" Erkenntniskraft (wie es ja vorher hieß) auch dann eine hohe überlegene Funktion zu: eben als Forderung! Ihr Anspruch fördert und beschwingt die allmähliche („Gemächlichkeit"), nichts „überfliegende" Ausbreitung der Verstandeseinsichten: den Erkenntnisprogreß! Wenn ihre „Maxime" von Kant als „subjektives Gesetz der Haushaltung . . . " (i;arakterisiert wird (man denke an die alte lex parsimoniae), so darf das durchaus nidit im Sinne eines positivistischpragmatistischen Ökonomieprinzips verstanden werden, sondern als Weisung zu Zusammenhangserschließungen beim Durcharbeiten differenter Erfahrungsbereiche. Alle Gesetzeseinsicht des Verstandes gründet auf dem Einheitsprinzip der möglichen Erfahrung (Oberster setzlidies Verhalten fordert, liegt dieses „Prinzip schlechthin" der höchsten Einsicht nicht im Zielpunkt eines unabsehbaren Fortgangs, sondern hier kann und soll dasselbe, nach Kant, in der Vernunft selbst als bestimmendes aufgedeckt werden durch eine „Metaphysik der Sitten" — so daß es dann auch zum bleibenden Maßstab der Beurteilung für die „endlose Mannigfaltigkeit bürgerlicher Gesetze" gebraucht werden könnte.

(S. 243 B 364)

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Grundsatz aller synthetischen Urteile); Vemunfteinheit ist davon „wesentlich verschieden". Der Satz vom Grunde (principium rationis), Fundamentalprinzip der überkommenen Ontologie, aufgetreten wie ein Axiom aller Metaphysik, ist in Wahrheit — wenn „Vernunft" im Sinne dieses zweiten Glieds der Alternative zu verstehen ist — „gar kein durch Vernunft erkannter und (sc. dem Sein) vorgeschriebener (!) Grundsatz". Daß die ganze Überlegung auf diese zweite Auffassung hindrängt, zeigte sich schon in Kants Darstellung des formallogischen Verfahrens, die sich hier fortsetzt („Zweitens . . . " ) . Vernunft „sucht" höhere Bedingungszusammenhänge (Obersätze für Schlüsse), „so lange es (jeweils) angeht"; sie macht „Versudie". Ihr Einheitsprinzip (worauf alles Suchen zuletzt abzielt), der „eigentümliche" Grundsatz der Vernunft (Singular: Prinzip schlechthin) ist nicht ein vorgegebener allgemeinster Obersatz zu Syllogismenketten, sondern Aufgabe und grundsätzliche Absicht (Maxime), immer Höheres, schlüssig Zusammenbindendes zu finden — in Richtung auf das „Unbedingte". (Der Terminus tritt hier erstmalig auf: noch bloß formal gemeint, womit die Einheit bedingter Urteilseinsichten vollendet wird — oder: sein würde). Mit der Wendung zum Transzendentalen (5. Absatz) tritt der besonders für die Antinomienlehre wichtige B^riff der „Reihe" auf: womit hier nicht so sehr Ketten von Syllogismen und „Prosyllogismen"'' gemeint sind, die man beliebig sich ausdenken könnte, sondern solche von Sachbedingungen in einem gegenständlichen Zusammenhang, an denen unser „diskursives" Bemühen verstehender Synthese entlanggeht (in räumlicher Größenbestimmung, etwa beim Messen, nicht anders als im Abschreiten zeitlicher und kausaler Folgen). Wenn hier also, in sensu reali, Vernunft auf höchste Einheit ausgeht, so kommt es zwangsläufig zu der Voraussetzung oder Annahme: daß mit dem Vorliegen jedes Teilhaft-Bedingten auch immer schon das Ganze der betreffenden Bedingungsreihe mitgegeben, weil in dem Sachzusammenhang enthalten ist. Das kann wie eine Selbstverständlichkeit aussehen. Solange wir uns im Rahmen einzelner Verbindungsschritte halten, » Logik § 87 (IX 134): Prosyllogismen und Episyllogismen. Im Text S. 255/6 B 387/8.

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CJ. 243 B 364)

im Rahmen der Verstandessynthesen (etwa, wenn es um Quantität geht, im wiederholten Anlegen eines Maßes), ist jedes Bedingte schon seinem Begriff nadi auf „irgendeine Bedingung" bezogen. Das Prinzip der Vernunft aber spricht nun wesenhaft vom Unbedingten. So ist es etwa, wenn Metaphysik vom All der Dinge (Welt) handelt: mit der Absicht, aus diesem umgreifenden Begriff „synthetische Sätze entspringen" zu lassen, etwa — sofern es um die Größe geht — die These von der Endlichkeit der Welt. Dergleichen ist nicht unter einen Hut zu bringen mit Verstandesurteilen; es muß „besonders erwogen werden". 2u erwägen ist die Frage: ob solcher Begriff der „ganzen Reihe" (Weltgröße gegenüber allen Teilgrößen) oder des Unbedingten „wirklich statthat": in dem Sinne, daß man ihm Aussagegehalte („Stoff") zu metaphysischen Sätzen entnehmen kann. Ein anderes Grundbeispiel (und Hauptthema der Metaphysik) deutet die Parenthese gleich nach Beginn des letzten Absatzes von C an: wo von der Reihe der Bedingungen „der Dinge überhaupt" gesprochen wird. Der Satz vom Grunde in der klassischen LeibnizFassung als principium rationis sufficientis zielt auf das Unbedingte nodi in ganz anderem Sinne als der Weltbegriff. Die „Reihe", von weldier da ausgegangen wird, ist nicht die des uns in Raum und Zeit Begegnenden, sondern die des Denkens in Richtung auf das Sein von Seiendem (wirklichem oder audi möglichem) überhaupt. Leibniz z. B. lehrte einen Weltgrund, weldier aus dem unendlichen Inbegriff möglicher Welten die unsere als die beste aller möglichen zur Wirklichkeit erwählt hat. Das ist metaphysischer Anspruch von Erkenntnis der „Dinge an sich und überhaupt" in einem äußersten und höchsten Sinne. Daß es in dem „Bedürfnis" der Vernunft, und zwar sinnhaft und wesensnotwendig, liegt, das Fragen nach den Gründen vorzutreiben bis zu einem soldien Un-Bedingten**, als einem in höchstem und letztem Sinne „zureichenden" Grund, das ist für Kant keine Frage. Seine Frage ist aber: ob sich jener Grundsatz wirklich bis dahin „erstrecke", ob er nicht vielmehr in solchem Gebrauche „transzendent" im Überfliegenssinne wird: Einsiditsbemühen im „leeren Räume"? Hier wird „unbeschränkte Vollständigkeit" in der Sadie „postuliert", so wie ein Mathematiker den Begriff Kreis entwirft und sidi dadurch einen Gegenstand der Einsichten gibt. Ob das hier angeht, muß neu ^ Bei Plato: Anhypotheton; bei Sdielling und Hegel: das Absolute.

(S. 243 B 364)

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überlegt werden. Es könnte sein, erwägt Kant, daß dieser Vernunftanspruch des Unbedingten „mehr Petition" als Postulat in diesem (in der Mathematik gebräudilichen) Sinne ist: will sagen, ein Verlangen und Sichbewerben, Anforderung des Denkvermögens an sich selber, und zwar eine solche, die — im „immanenten" Gebrauch der Grundsätze immer sidi haltend, in Richtung auf die höchste „uns mögliche" Zusammenstimmung errungener Erkenntnisse — nur näherungsweise zu erfüllen ist. Metaphysik aus reiner Vernunft (man denke an Spinoza) wollte und will aus Prinzipien als Axiomen samt Begriffsdefinition ihre Thesen, ihre Lehrsätze deduzieren; vielleicht hat aber der Vernunftbegriff des Unbedingten seine wahre Funktion als Vorschrift „im Aufsteigen"? Das heißt nicht als ontologisches Sichgeben einer Sache, „vorschreibend" dem Seienden das Seinsgesetz, sondern „bloß logisch" vorschreibend: logisch im Sinne eines Denkverfahrens im Suchen und Versuchen „aufwärts" zu Bedingungen und Gründen? Das ist die Grundfrage, welche an den „reinen Gebrauch der Vernunft", an ihren Funktionssinn im mensdilichen Vermögen Wissenerweiternder Erkenntnis gestellt, und deren Entscheidungsausschlag auch schon vorgedeutet ist. Dialektik als „Kritik" des Mißbrauchs von an sich notwendigen Grundsätzen, des Mißbrauchs in Erschließungsund Erweiterungsansprüchen der Metaphysik, und wie derselbe nicht durch Philosophenwillkür, sondern jeweils durch eine Weise des „transzendentalen Scheins" (gespeist dieser aus tief verborgenen Quellen der Vernunft selbst) bedingt ist — diese Kritik wird alle drei Themenbereiche ausführlich zu durchforschen haben. Kant schickt dieser weitgespannten Aufgabe des „Zweiten Buches" ein knappes, aber für seine ganze Philosophie (nicht nur diese erste Kritik) überaus wichtiges Erstes Buch voran, welches Von den Begriffen der reinen Vernunft handelt, als welche er dann sogleich durch einen eigenen Terminus vor allen anderen Begriffen auszeichnet, in Konsequenz seiner grundsätzlichen Abhebung der Vernunft vom Verstände. "Während im Ersten Teil des Werkes auf die „Analytik der Begriffe" des Verstandes die positive „Doktrin" eines Systems von Grundsätzen, als Wahrheitskriterien im Bereiche aller empirischen Erkenntnis, folgen konnte, führt im Dialektik-Teil der Weg von den Begriffen der Vernunft zu der Kritik an den Erschließungsansprüchen der „reinen" Vernunft, Erschließungen zufolge des schon in den Begriffsthemen angelegten Transzendenzmomentes.

(S. 244 B 366)

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Der transzendentalen Dialektik Erstes Buch Von den aus reiner Vernunft entspringenden Begriffen handelt die kurze Einleitung nur „vorläufig": mit der Befragung, welche Begreifens-„MögIichkeit" in ihnen liegen möge. Sie werden als „geschlossene" (erschlossene) Begriffe bezeichnet — was insofern verwundem könnte, als sie doch eben a priori aus dem Erkenntnisvermögen selbst hervorgehen sollen, nicht anders als die Formen der Sinnlichkeit und die des Verstandes. In Wahrheit ist das, was sie inhaltlich besagen, das Erschlossene. So etwa, wenn wir, alles Erfahrbare übersteigend, von Welt auf einen Weltgrund (einen oder audi mehrere) schließen wollen. Darum konnte ja auch, am Ende des vorigen Abschnitts, von „transzendenten Begriffen" gesprochen werden, so wie vorher vom transzendenten Gebrauch der Grundsätze und von transzendenten Urteilen. Das so Intendierte ist zum Untersdiied von allem AnsdiaulichGegebenen und -Konstruierten „nur geschlossen" (Abschnitt B der Vemunftbetrachtung). Aber verglichen mit den Stammbegriffen des Verstandes scheinen sie eine Überlegenheit zu zeigen: die Kategorien gehen zwar direkt auf ihren Gegenstand, aber was ihre positive Leistung anlangt, sind sie „bloß reflektierte" Begriffe. Die transzendentale Deduktion hat sie allein als „Formen" für synthetische Verknüpfung von unmittelbar Gegebenem rechtfertigen können; nur als Einheiten „der Reflexion über Erscheinungen" im Hinblick auf mögliche Erfahrung konnte ihnen sachersdiließende Bedeutung („objektive Realität") zugesprochen werden". Die Vernunftbegriffe aber greifen Der Terminus Reflexion (welcher späterhin eine so große Rolle gespielt hat, besonders bei Hegel und dies gerade in der Auseinandersetzung mit Kant) kommt in unserem Werke sonst nicht in dieser Absicht der Kennzeidinung vor. Er hat auch, f ü r Kants Theorie der Erfahrimg, den nicht unbedenklidien Beiklang eines etwa nur nachträglichen Überlegens, — wo doch die Kategorien immer schon direkt Wahrnehmungsgegebenheiten, „Erscheinungen" im engeren Sinne, zu Erfahrungsgegenständen prägen („konstituieren"). „Bloß reflektiert" hat bei Kant seinen ursprünglichen Abhebungssinn im Gegenüber zum Unmittelbaren der An-

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(S. 244 B 366)

ihrer Wesensintention nadi über solche Bindung und Reflexion hinaus. ErfahrungsbegrifFe „geben zuerst Stoff zum Sdiließen". Ständig wird ja, im immanenten Gebraudi der Grundsätze, "Weiteres und "Weiteres aus "Wahrgenommenem und Erfahrenem erschlossen. Ein Begriff etwa wie der für Newtons Naturlehre so wichtige der Attraktion ist, in sehr weit ausgreifender Bearbeitung von Erscheinungen, mit Hilfe kategorialer Formen wie der "Wechselwirkung, erschlossen worden. Aber das hält sich, mit allen Beweisgängen, soweit noch im Räume möglicher Erfahrung und also Erfahrungsbestätigung. Anders die „geschlossenen" Begriffe der Vernunft. Daß sie von ganz anderer Art sind, zeigt sich sogar dann, wenn von dem Ganzen möglicher Erfahrung, und zwar dies nicht im bloßen Formentwurf sondern inhaltlich und der Sache nach, etwas ausgesagt werden soll, (Das „vielleidit" zu Anfang der Parenthese im ersten Satz des zweiten Abschnitts ist nicht Unsicherheit, sondern nur „vorläufig" gemeint: im folgenden wird sich bestätigen, daß es sich hier schon um den „"Welt"-BegrifF der Metaphysik handelt, um einen Begriff, welcher aus reiner Vernunft stammt.) Überall im Vollzuge des Erfahrens finden wir. Wahrgenommenes bestimmend und immer ausgreifender über Erscheinungen reflektierend, Bestände als Teilhaftes von Umfassenderem, in den verschiedensten Graden. Aber keine wirkliche Erfahrung reicht aus für das Unbedingt-Ganze, für dasjenige „worunter die Erfahrung gehört" und was seinerseits jederzeit zur Erfahrung „gehört": es selber ist unerfahrbar! „Erfahren und verstanden" in Zusammenhängen werden immer nur „Glieder" des mit dem Ausdruck Welt benannten Ganzen, „Glieder" von BedingungsReihen. So wenn z. B. der Astronom unsere Erde in den Zusammenhang des Sonnensystems einreiht, dieses wiederum in die Milchstraße und, ncxh weiter hypothetisch ausschauend (wie es der junge Kant wagte), diese Milchstraße mit den Nebelsternen in kosmischen Anasdiauung. Vgl. die Notiz XV, 165/6 (Nr. 409): „Unser Verstand ist das Vermögen zu reflektieren, und reine Verstandesbegriffe . . . sind bloße abstracte reflexionsbegriffe." — Die im Anhang der Analytik auf ihre mögliche und in der überlieferten Metaphysik aufgetretene „Amphibolie" hin betrachteten „Reflexionsbegriffe" (S. 214/5 ff. B 316 ff.) sind etwas ganz anderes als die Kategorien. Die „transzendentale Reflexion" aber, von welcher ebendort gesprochen wird (in Fettdruck), ist natürlich wesenhaft eine nachträgliche (für künftige Metaphysik vorgängige) Reflexion über das Erkenntnisvermögen samt den darin liegenden Möglichkeiten amphibolischen oder dialektischen Fehlgreifens.

(S. 244 B 366)

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logiezusammenhängen sieht: das alles gehört zur Einen Welt (Universum), die selbst nicht als ein Gegenstand durch Synthesis umgriffen werden kann. Welt (sogar Welt!) ist ein „geschlossener Begriff", obgleich uns Welt, im Beispiel des Astronomen etwa, gleichsam unmittelbar vor Augen steht. Welt ist in völlig anderem Sinne Gegenstand unseres Erkenntnisvermögens, als alles was da „in der Welt" ist, etwa auch wir selber. Vernunft aber will eben hiervon, in metaphysisdien Aussagen, handeln: durch „Vernunftbegriffe" mit dem hohen Anspruch wahrhaften „Begreifens"! Das hier auftretende Gegenüber von „Verstehen" und „Begreifen", wovon Kant auch in seiner Logik handelt'®, entspricht einem Sprachgebrauch seines Jahrhunderts. Wer nicht völlig einsieht, wie es mit der Sache zugeht, wie sie möglich ist, sagt etwa Gottsched, der begreift sie nicht. In einer Notiz Kants heißt es: „Etwas a priori bestimmen (das ist geben und construiren) heißt: begreifen. Schlechthin Bereifen ist ohne alle empirischen Bedingungen"''. So etwas wie der Attraktionszusammenhang zwisdien Weltkörpern wird von uns verstanden, gar bis in seine exakten Quantitätsbestimmungen, aber nicht begriffen; denn diese Grundkraft kann, wie alle solche „Grundkräfte", nur aus Gegebenheiten der Erfahrung hingenommen werden. Der Verstand versteht wesenhaft nur Bedingungszusammenhänge, deren Saciigehalt („Materie" der Erkenntnis) er seinerseits nicht „geben" kann"®. Vernunft aber will ja durch ihre Begriffe jeweils ein Unbedingtes begreifen, nach Existenz und Sosein. Auf die Begriffe a priori des Verstandes, die dabei notwendig gebraucht werden, kann sich das Denken der Metaphysik nicht so einfach berufen. Sie haben eben erwiesenen Geltungsanspruch und AnIX, 65: „ . . . etwas verstehen (intelligere), d. h. durdi den Verstand . . . concipiren ist vom Begreifen sehr untersdiieden. Concipiren kann man Vieles, obgleich man es nicht begreifen kann." X V I I I , 43 (Nr. 4956). " D a ß Verstehen bei Kant nidits zu tun hat mit dem in unserer Gegenwart für geisteswissenschaftliche Erkenntnis und von da weiter audi für Daseins- und Weltdeutung spezifisch geprägten Begriflswort (hermeneutisches Verstehen, — in Kants 2eit sidi durchklärend etwa bei Hamann oder Herder!), braucht wohl nicht betont zu werden. Kant steht mit allen seinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen im Duktus der kausalerklärenden Naturwissenschaft und des begrifflich-konstruierenden Bestimmens mathematischer Gebilde und Zusammenhänge; und von daher richtet er seine transzendentale Reflexion auf die grundsätzlichen Möglichkeiten metaphysischen Daseins- und Weltbegreifens.

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(S. 244 B 366)

Wendungskraft für Schlüsse nur im Felde der Erfahrung, mit entsprechenden Möglichkeiten der Bestätigung. Sie dienen uns aufs Beste dazu, im Buchstabieren von Erscheinungen sie als Erfahrung lesen zu können, und dies auch in sehr weit ausgreifenden Zusammenhängen und Erschließungen. Den „Stoff zum Schließen" geben uns da immer wieder Wahrnehmungen, Beobachtungen, Experimente. Woher aber sollen die aus „reiner Vernunft" geschöpften Begriffe ihren Stoff zum Schließen nehmen, so etwa die Begriffe Welt und Weltgrund? „Wenn sie das Unbedingte enthalten" sollen, heißt das, daß sie aus sich allein auf „objektive Realität" Anspruch erheben können — was heißen würde: in bloßer Durchklärung (analytische Urteile) Erweiterung unseres Wissens ins Übersinnliche leisten? Man muß nicht einmal gleich an Übersinnliches im Sinne einer „andern Welt" hier denken. Schon wenn man auf den Anschauungsbereich unserer Umwelt hinblickt und dabei unmittelbar aufs Unbedingte abzielt: auf Welt als „das Ganze der möglichen Erfahrung" (worauf sich der Beweisgang der transzendentalen Deduktion der Kategorien als das Wahrheit ermöglichende Formprinzip bezog) — so kann man leicht ersehen, daß eben dieser Begriff, sofern er selber eine Sache fassen und für sie Stoff zum Schließen liefern soll, auch bereits ein „geschlossener Begriff" ist! Das Ganze alles dessen, wovon wir. Gegebenes verstehend und immer auch wieder Ungegebenes als faktisch Vorauszusetzendes erschließend, teilhaft Wissen haben, Wissenschaftseinsichten unabsehbar erweiternd, ist etwas grundsätzlich anderes als jeder noch so weit ausladende „Gegenstand der Erfahrung". So umfänglich man auch die „Glieder" der Weltreihen wähle (der Astronom etwa das Gesamt noch wahrnehmbarer Milchstraßen und Nebelsterne, oder auch — die „Naturgeschichte . . . des Himmels" betreffend —, die kosmischen Vorgänge seit Entstehung fester Weltkörper), — Glieder sind eben nie das „Ganze". Das Umgreifende als Maximum darf nicht verwechselt werden mit einem noch so weit ausgreifenden Mehr, in Graden „des empirischen GebraucJis" synthetischer Begriffe. Der Begriff jenes ganz Anderen ist unter die Benennung eines Vernunftbegriffs zu stellen, nicht anders als etwa „Seele" oder „Gott". Das Ganze, worauf wir von der wirklichen und möglichen Erfahrung her ausschauen, ist eben iznerfahrbar und insofern seinerseits ein „Übersinnliches", worauf nie der Verstand mit seinen Formen des Verknüpfens, sondern allein Vernunft „in ihren

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B 368)

Schlüssen führt". — Das gilt im übrigen auch nodi, worauf Kant hier nicht anspielt, ganz unabhängig von der Frage, ob „unsere" Welt — Welt überhaupt ist, ob unser „in der Welt"-Sein sidi allein vom Schauen (theoria) aus bestimmen läßt, ob nicht vielmehr, mindestens gleichwichtig, vom Handelnsausgreifen des Menschenwesens her sich weitere „Welt"-Sicht in VernunftbegrifFen auftut.

Erster Abschnitt: Von den Ideen überhaupt Der Schluß des vorigen Absatzes hat schon auf den neuen Namen vorgewiesen, welchen Kant nun, mit der neuen Überschrift, einführt". Den Terminus „Kategorie" übernahm Kant aus einer seit Aristoteles nie ganz abgerissenen Tradition; daß er Kategorien nun aber als „die reinen Verstandesbegriffe" definierte, darin lag eine ganz neue, das Grundverhältnis von Sein und Denken angehende Theorie — obgleich die entsprechenden Begriffsgehalte zum großen Teil dieselben, jedenfalls alle vorgegeben waren in der, sei es ontologisdien, sei es gnoseologischen, auch der „empiristischen" Tradition. Der Neueinführung aber nun des Terminus „transzendentale Ideen" für die so weit ausgreifenden Vernunftbegriffe stellt Kant eine sozusagen feierliche Rück- und Vorausbetrachtung voran, die uns wie ein Blick in seine Werkstatt und auf die Genesis sowie die Endabsicht der Kritischen Philosophie sein kann. Der neue „Gedanke": Abhebung des Vemunftbegriffs „von anderen verwandten Begriffen" suchte seinen „angemessenen Ausdrudc". Daß etwa der vielleicht noch naheliegende Terminus der nach der Schullehre über alles Kategoriale hinausliegenden „Transzendentalien" für Kant schon wegen der eigenen Neuprägung von „transzendental" nicht mehr in Frage kommen konnte, ist ohne Weiteres klar; die Sache selbst wurde ja audi schon im § 12 der Analytik abgewehrt. Die Art ihres „in der Transzendentalphilosophie der Alten" beanspruchten Überstiegs war ja auch eine durchaus andere als bei solchen Inbegriffen, wie es Seele, Welt oder Gott sind. — In seinem Sudien griff Kant also über die eigene Zeit und auch über alle ®® Methodisdi sollte der Leser der Kritik es sidi zum Grundsatz, zur Maxime madien, jeden von Kant in eigener Namengebung eingeführten Begriff (hier: „unter der Benennung eines VernKw/tbegriffs") genau nadi der dadurch spezifizierten oder auch ganz veränderten Bedeutung samt Konsequenzen zu bedenken.

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(SJ24SB368)

lateinische Schulüberlieferung, in welcher er selbst noch verwurzelt war, zurück auf eine „tote und gelehrte Sprache": auf eine bedeutende, höchst folgenreiche Wortprägung der griechischen Philosophie*". „Idee" im neuen, von Kant intendierten (und dann in aller weiteren Philosophie, insbesondere im Deutschen Idealismus maßgebend gewordenen) Sinne hält sich in einigen Hauptmomenten, welche eben besonders den transzendentalen Vernunftbegriff charakterisieren sollen, an die Lehre Piatos von Ideen vor und über aller Realität der Phainomena. Kant hebt diesen Idee-Begriff sofort ab von der Aristotelischen Prägung des Begriffs Kategorie, welchen er unbefangen im eigenen transzendentallogischen Sinne als „Schlüssel zu möglichen Erfahrungen" versteht". An Leittermini des Piatonismus hatte schon die Überschrift im Absdiluß der Analytik angeknüpft: UnterscheiEs muß dazu bemerkt werden, daß das von Kant gewählte und f ü r sein wichtigstes Anliegen im RückgrifF auf eine große Gestalt der Philosophie neu geprägte Wort in den Sprachen der Neuzeit (von andern Traditionen her) in einem sehr unspezifisch-allgemeinen Sinne gebraudit wurde, und dies nidit nur in der ungelehrten Alltagssprache sondern gerade audi bei führenden Philosophen: bezeichnend etwa das, was bei Kant „Vorstellung" heißt. Vgl. dazu Kants Satz am Ende dieses Absdmitts: wer sich einmal an seinen neuen Terminus Idee gewöhnt habe, dem müsse es „unerträglidi fallen, die Vorstellung der roten Farbe Idee nennen zu hören".) Alle Cartesianer spradien, wie der Meister, von ideae ebenso f ü r Sinnliches Imaginatives und auch Fiktives, wie f ü r die wissenschaftlich und metaphysisch so wichtigen „eingeborenen" Begriffe und Einsichtszusammenhänge. Und in der Polemik gegen diese nannten die angelsächsischen Empiristen die Sinnesempfindungen (oder dann deren Nachwirkungen in uns) ideas. — Der „Idealismus", welchen Kant am Beispiele Berkeleys so heftig bekämpft, geht aus von diesem Vorstellungsbegriff (esse est percipÜ). Kants transzendentaler Idealismus dagegen ist bestimmt ebensowohl durch die Aprioritätslehre bezüglich Raum und Zeit („transzendentale Idealität") und der Kategorien wie von der „Ideen"-Konzeption der Dialektik! — Im übrigen gab es audi in der Neuzeit eine „Idee"-Terminologie von der K a n t hier angehenden A r t : vor allem bei den Cambridger Piatonikern und ihrem Intellectual system of Universe. Aristoteles steht für Kant immer im Gegensatz zu Plato: als das (freilich nicht ganz konsequente) „ H a u p t der Empiristen" — dies gemeint in einem, uns ungewohnt gewordenen, allgemein-philosophischen Sinne: Welt der Erfahrung, „Sinnenwelt" gilt ihnen f ü r das Sein überhaupt. Vgl. S. 551 B 882; s. auch die von Pölitz hrsg. Kantvorlesungen über Metaphysik S. 85. In den Kowalewski-V. heißt es S. 526: „Die Intellectualia des Aristoteles waren logisch, er blieb bei dem gewöhnlichen Erkenntnisse und analysiert bloß dieß. Das Aufsteigen zum Übersinnlichen bei Plato hat Gelegenheit (!) zu den mystischen Intellectibilien gegeben." Mit letzterem ist der Anspruch auf Einsichtig'keit (kosmos noetos) gemeint, mit jenen Intellectualia dagegen die Aristotelischen Kategorien, so wie Kant sie f ü r sich aufnimmt, nämlich transzendentallogisch.

(S. 245 B 368)

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dung „aller Gegenstände überhaupt in Phänomena und Noumena". Klar ist, daß der Sinngehalt der spezifischen Vernunftbegriffe (sogar der Weltbegriff) über Phänomenales, über „Erscheinungen" im Sinne Kants (Erscheinungen für unsere Art von Rezeptivität!) hinausliegt. Das Überstiegsmoment ist also das erste, was Kant veranlaßt, den griechischen Terminus des „erhabenen Philosophen" neu in Anspruch zu nehmen. „Plato verließ die Sinnenwelt, weil sie dem Verstände so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseit derselben auf den Flügeln der Ideen . . . " , hieß es in der Einleitung zur Kritik (S. 32 B 9). Die ganze Frage der Dialektik ist, was ein Wagnis von dieser Art, verstanden als Wagnis der reinen Vernunft, bedeuten kann, nachdem die „Erweiterung des reinen Verstandes" als Blendwerk verdäditigt und der „Raum des reinen Verstandes" als leer für Flugversuche schlüssiger Erkenntnis vorbegriffen worden ist. Sdion an diesem ersten Anknüpfungsmoment tritt sogleidi auch die nötige Entgegenstellung auf — Plato und aller „Piatonismus" gehören schließlich zur alten Metaphysik, welche geladen ist mit Ansprüchen, die die Vernunftkritik abwehren will. Plato gilt Kant, mit dem Idee-Begriff, zugleich als Urheber oder vielleicht auch nur Veranlasser zu „mystischen" Überzeugungen: Ansprüchen auf unmittelbar schauende Sicht aufs Übersinnliche! Das aber muß doch eben Kant verneinen: Noumena dürfen nach dem Erweise schon der Analytik keinesfalls als solche „im positiven Verstände" angesehen werden, d.h. als für uns einsichtige Sachen oder „Gegenstände"! Schon die „Benennung" jenes Wesensunterschieds von Gegenständen der die Erfahrung lesend-verstehenden Verstand