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German Pages 243 [244] Year 2012
Jannis Pissis Kants transzendentale Dialektik
Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Heiner F. Klemme
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De Gruyter
Jannis Pissis
Kants transzendentale Dialektik Zu ihrer systematischen Bedeutung
De Gruyter
ISBN 978-3-11-028156-9 e-ISBN 978-3-11-028171-2 ISSN 0340-6059 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
” 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Dem Andenken von Katerina Kamaretta-Pissi
Danksagung Das vorliegende Buch ist die geringfgig berarbeitete Fassung einer Arbeit, die im November 2010 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universitt Berlin unter dem Titel „Zur systematischen Bedeutung von Kants transzendentaler Dialektik“ als Dissertation angenommen wurde. Die Forschung und die Verfassung der Arbeit wurden gefçrdert durch ein dreijhriges Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und ein dreijhriges Stipendium der Stiftung A. G. Leventis. Andreas Arndt hat die Entstehung der Arbeit mit großer Anteilnahme betreut. Ich danke ihm fr die maßgebenden Impulse und fr seine Zuversicht. Entscheidende Anregungen verdankt die Arbeit in ihrer frhen Phase dem verstorbenen Kosmas Psychopedis. Fr Anregungen und Diskussionen gilt mein Dank ferner Vangelis Bantekas, James Conant, Theodor Dritsas, Elena Ficara, Ingo von der Heyde, Christian Iber, Dimitris Karydas, Georg Sagriotis, Peter Samodelkin und Brendan Theunissen. Lina Dima danke ich fr die technische Hilfe und fr ihre Geduld. Athen, im Dezember 2011
Jannis Pissis
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Der Begriff der Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Logik des Scheins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Logischer und transzendentaler Schein . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Formale und transzendentale Logik . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Kanon und Organon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Logik und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Schein – Erscheinung – Wahrscheinlichkeit (I) . . . . . . . . . . 1.4 Verhltnis zur Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 4 6 6 8 14 17 23
2 Der Bezug auf das Unbedingte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Dialektik und Natur der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Schluss auf die Totalitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Formaler und transzendentaler Vernunftgebrauch . . . 2.2.2 Die drei Titel der transzendentalen Ideen . . . . . . . . . . 2.2.3 Urteil und Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 In(de)finiter Regress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Schluss und Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Form und Materie der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 32 34 35 45 53 59 65 67
3 Analytik und Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.1 Die Veranlassung der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.2 Der Zirkel der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3.3 Verstand und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.3.1 Analytik der Vermçgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.3.2 Dialektik der Vermçgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.4 Die Architektonik der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3.5 Falsum index sui . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4 Das Verfehlen des Unbedingten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Paralogismen der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das Ideal der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die drei Gottesbeweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Der vierte Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
110 110 123 124 131
X
Inhalt
4.2.3 Logische und reale Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Antinomie der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Mathematische und dynamische Weltbegriffe . . . . . . 4.3.2 Analytische und dialektische Opposition . . . . . . . . . . 4.3.3 Die Produktivitt der Antinomie . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Schein – Erscheinung – Wahrscheinlichkeit (II) . . . . . . . . . . 4.5 Die Selbstbegrenzung der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
136 143 145 153 169 178 182
5 Der berschritt zum Unbedingten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Orientierung im Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die theoretische Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Transzendentale und empirische Gesetze . . . . . . . . . . 5.2.2 Der hypothetische Vernunftgebrauch . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die praktische Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Das System der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189 189 196 196 202 210 216
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schriften Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonstige zitierte Literatur bis 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zitierte Literatur nach 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221 221 223 225
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Einleitung Kants Kritik der transzendenten Metaphysik in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft war durchschlagend: sie markiert tatschlich das historische Ende der traditionellen Disziplinen der rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie. In der Philosophie der Gegenwart findet diese Kritik breite Zustimmung. Weniger Zustimmung und Verstndnis findet die systematische Konzeption der transzendentalen Dialektik, die Lehre vom Bezug der Vernunft auf das Unbedingte als notwendigem Schein: Kants systematische Verschrnkung von Metaphysikkritik und kritischer Metaphysik. Der positive Kern von Kants theoretischer Philosophie, im Gegensatz zum negativen, destruktiven Werk der Dialektik, wird meistens gesucht in den ersten Teilen der Kritik: in der transzendentalen sthetik und Analytik fr sich betrachtet. Diese Teile behandeln ja die apriorischen Formen der Erfahrung, der gltigen Erkenntnis von den Phnomenen. Wenn auf der anderen Seite, im Gegenzug zu den engen erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretisch orientierten Interpretationen, an die metaphysischen Probleme erinnert wird, so werden gewçhnlich die Unterscheidung von Phaenomena und Noumena und die positive Bedeutung der letzteren oder manchmal auch das positive Lehrstck der Dialektik, der regulative Gebrauch der Ideen der Vernunft vom Unbedingten, hervorgehoben. Diese Lehren werden aber gerade abgehoben von der negativen Lehre des Scheins. Die Konzeption der transzendentalen Dialektik als der Logik des notwendigen Scheins und zugleich der Kritik dieses Scheins steht nicht im Vordergrund der Kantrezeption und –forschung. Diese systematische Konzeption ist der Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Die Arbeit stellt die Fragen (1) nach der Notwendigkeit des Scheins und seinem Grnden in der Natur der Vernunft gemß Kants Auffassung der transzendentalen Logik, (2) nach dem systematischen Zusammenhang zwischen den Teilen der Dialektik – der Lehre von den Ideen der Vernunft im ersten Buch, von den dialektischen Schlssen der Vernunft auf das Unbedingte (Paralogismus, Antinomie, Ideal) im zweiten Buch und vom regulativen Gebrauch der Ideen im Anhang – und damit nach dem Zusammenhang zwischen der negativen und der positiven Lehre von der Vernunft sowie (3) nach dem systematischen Verhltnis von Analytik und
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Einleitung
Dialektik als den beiden Teilen der transzendentalen Logik und nach der Funktion der Dialektik im systematischen Zusammenhang von Kants kritischer Philosophie. Diesen Fragen ist, gemessen an ihrem grundlegenden Charakter, in der Forschung nicht hinreichend nachgegangen worden, obwohl die Forschung der letzten Jahre einerseits die Inhalte der Dialektik – etwa die Kosmologiekritik, auch im Blick auf die heutige physikalische Kosmologie, oder die Kritik der rationalen Psychologie, auch im Blick auf die heutige philosophy of mind – intensiver untersucht hat und andererseits die Kantische Systematik, sehr oft leichtfertig als knstlich abgetan, strker bercksichtigt.1 Es ist die These der Arbeit, dass die transzendentale Dialektik (1) nicht nur in historischer Hinsicht die Speerspitze, sondern auch in systematischer Hinsicht die Grundlage von Kants Kritik der reinen Vernunft bildet und dass (2) ihre negative und ihre positive Lehre unzertrennlich zusammenhngen. Nach Kant ist die Vernunft in ihrem transzendentalen Gebrauch – dessen Produkte die Ideen sind – „an sich dialektisch“ (B 805). Es ist gerade der notwendige Schein, insbesondere der Widerstreit der Vernunft mit sich selbst, der im regulativen Gebrauch der Ideen harmlos und produktiv wird, whrend erst die Entfaltung und kritische Auflçsung der Antinomie die Begrndung und Begrenzung der theoretischen Erkenntnis gewhrleistet und zugleich „in dieser Dialektik selbst Anleitung zum bergange vom Sinnlichen zum bersinnlichen enthlt“ (FM 311), nmlich zur Realitt der Ideen in der Sphre der praktischen Vernunft. Die Arbeit zu Kant versteht sich schließlich auch als ein Beitrag zur Geschichte und Systematik des Begriffs der Dialektik, eines der ltesten und zugleich scheinbar vagsten Begriffe der Philosophie. 1
Vgl. u. a. Falkenburg, Kants Kosmologie; Ameriks, Kant’s Theory of Mind; Fulda/ Stolzenberg (hg.), Architektonik und System in der Philosophie Kants. – Der Frage nach der Notwendigkeit des Scheins widmet sich als Ausnahme die Monographie von Michelle Grier, Kant’s Doctrine of Transcendental Illusion. Den systematischen Aufbau der Dialektik behandelt neuerdings Nikolai Klimmek, Kants System der transzendentalen Ideen. Klimmek meint jedoch, dass Kant das oberste Prinzip der reinen Vernunft, das den Bezug auf das Unbedingte begrndet (B 364), als unkritisch zurckweist (Kants System, 38, 225) und koppelt damit die positive von der negativen Lehre der Dialektik ab. Grier sieht zwar mit Kant die Notwendigkeit des Prinzips ein; sie meint dennoch, diesen notwendigen Schein von den dialektischen Schlssen der Vernunft abheben zu mssen (Kant’s Doctrine, 122 ff.). Am Anfang des zweiten Buches der Dialektik behauptet Kant programmatich ausdrcklich das Gegenteil (siehe B 397). – Die Auseinandersetzung mit der einschlgigen Forschungsliteratur erfolgt im Folgenden hauptschlich in den Fußnoten.
Einleitung
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Das Kapitel 1 hat einleitenden Charakter: es diskutiert Kants programmatische Bestimmung der transzendentalen Dialektik im Rahmen des Projekts der Vernunftkritik und der transzendentalen Logik sowie im Blick auf die traditionellen Auffassungen der Dialektik. Das Kapitel 2 behandelt dann Kants Begrndung von der Natrlichkeit und Notwendigkeit der transzendentalen Dialektik im ersten Buch derselben und damit das Verhltnis von Schlusslogik und Idee in Kants Theorie der Vernunft. Das Kapitel 3 geht ber zum systematischen Verhltnis von Analytik und Dialektik als Teilen der transzendentalen Logik sowie von Verstand und Vernunft als Erkenntnisvermçgen und erçrtert die Funktion der transzendentalen Dialektik in der Architektonik von Kants kritischem Werk. Das Kapitel 4 behandelt die ,negative‘ Lehre von der Vernunft im zweiten Buch der transzendentalen Dialektik: es geht ein auf die dialektischen Schlsse der Vernunft und fokussiert auf ihre logische Struktur, insbesondere auf die logische Struktur der Antinomie, des notwendigen Widerstreits der Vernunft mit sich selbst. Das Kapitel 5 behandelt schließlich die ,positive‘ Lehre von der Vernunft, der theoretischen (im Anhang zur transzendentalen Dialektik) sowie der praktischen, und das Verhltnis von Kritik und Dialektik einerseits zum System der Metaphysik andererseits, wozu die Vernunftkritik die Propdeutik abgibt.
1 Der Begriff der Dialektik 1.1 Logik des Scheins Die Dialektik berhaupt bestimmt Kant als die Logik des Scheins. Die „Alten“ mçgen zwar der Dialektik verschiedene Bedeutungen verliehen haben, […] so kann man doch aus dem wirklichen Gebrauche derselben sicher abnehmen, daß sie bei ihnen nichts anders war, als die Logik des Scheins. Eine sophistische Kunst, seiner Unwissenheit, ja auch seinen vorsetzlichen Blendwerken den Anstrich der Wahrheit zu geben, daß man die Methode der Grndlichkeit, welche die Logik berhaupt vorschreibt, nachahmte und ihre Topik zu Beschçnigung jedes leeren Vorgehens benutzte. (B 85 f.)
Kants Bestimmung erinnert freilich an den platonischen sowie aristotelischen Begriff der Eristik bzw. der Sophistik. Diese sei nmlich eine leere Kunst des Streits, sie ziele nur auf die Durchsetzung im Disput und bediene sich zu diesem Zweck der Scheinschlsse. Sie stehe damit im Gegensatz zur Dialektik als auf Wahrheit zielender echter Gesprchskunst.1 Das negative Urteil bezieht Kant jedoch ausdrcklich auch auf das positive Konzept der Dialektik bei Aristoteles, nmlich auf seine Topik: Man kann einen jeden Begriff, einen jeden Titel, darunter viele Erkenntnisse gehçren, einen logischen Ort nennen. Hierauf grndet sich die logische Topik des Aristoteles, deren sich Schullehrer und Redner bedienen konnten, um unter gewissen Titeln des Denkens nachzusehen, was sich am besten fr eine vorliegende Materie schickte, und darber mit einem Schein von Grndlichkeit zu vernnfteln, oder wortreich zu schwatzen. (B 324 f.)
Das Urteil bezieht Kant ebenso auf die schulmßige Gestalt der Dialektik in neueren Zeiten: In der Logik wurde […die Dialektik] auch eine Zeitlang unter dem Namen der Disputirkunst vorgetragen, und so lange war alle Logik und Philosophie die Cultur gewisser geschwtziger Kçpfe, jeden Schein zu erknsteln. (Log 17)
Die allgemeine Verurteilung begrndet Kant durch die allgemeine Erwgung, dass jeder materiale Gebrauch der Logik zur Ermittlung der Wahrheit vergeblich ist. Jeder Versuch, die Logik als Organon zur Erfin1
Vgl. etwa Respublica 454a; De sophisticis elenchis 171b 34 ff.
1.1 Logik des Scheins
5
dung neuer Erkenntnisse, als Werkzeug zur inhaltlichen Erweiterung der Erkenntnis zu gebrauchen, luft auf die Kunst des Scheins hinaus. Die Dialektik als Logik des Scheins besteht berhaupt darin, dass die Logik „als vermeintes Organon“ (B 85) missbraucht wird. Diese Bestimmung Kants stimmt mit dem Verdikt berein, das in der frhen neuzeitlichen Philosophie ber die (hauptschlich auf Aristoteles zurckgehende) Tradition der Dialektik gesprochen wurde: Die Syllogistik ist steril und taugt zu keiner Kunst der Erfindung (ars inveniendi). Nach Francis Bacon haben die Menschen „[…] in den Wissenschaften einen rohen Saft gleich dem Wasser getrunken, wie er von selbst aus dem Verstand floß oder wie er durch die Dialektik wie durch ein Rderwerk aus einem Brunnen geschçpft wurde“. Bacons Neues Organon, seine induktive Forschungslogik, biete dagegen den Wein „aus […] erlesenen Trauben“ einer methodisch gestalteten Erfahrung.2 Aber auch fr den Rationalisten Descartes war „die Schullogik […] nichts als eine Art Dialektik, welche die Mittel an die Hand gibt, andre das zu lehren, was man selbst schon weiß, oder auch urteilslos eine Menge Dinge ber Sachen zu reden, von denen man nichts weiß, und so verdirbt sie den Geist mehr, als sie ihn vermehrt“. Whrend selbst ein wahrer Syllogismus keine neue Erkenntnis hervorbringt, geht es Descartes um eine Logik als Methode, „die lehrt, seine Vernunft richtig zu leiten, um die noch unbekannten Wahrheiten zu entdecken“.3 Wenn aber die Dialektik als Kunst, den Schein zu erzeugen, von der Logik „wegfallen“ muss (Log 17), so ist nach Kant eine „Kritik des dialektischen Scheins“ (B 86) nçtig, welche die Stelle der Dialektik besetzen und ihren Namen erben soll. Diese Kritik ist insbesondere in einem Fall unbedingt erforderlich: es gibt nmlich einen materialen Missbrauch der Logik, der weder aus einem subjektiven Fehler noch in tuschender Absicht geschieht, sondern von der Natur der menschlichen Vernunft diktiert wird und einen unvermeidlichen, transzendentalen Schein erzeugt. Die Erklrung hierfr fhrt ber Kants Unterscheidung zwischen der formalen und der transzendentalen Logik.
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Bacon, Novum Organum I, Aph. 123, 257. Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, XLI (AT 9.2, 13 f.). Vgl. Regulae ad directionem ingenii, Reg. X (AT 10, 406).
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1 Der Begriff der Dialektik
1.2 Logischer und transzendentaler Schein 1.2.1 Formale und transzendentale Logik Die Untauglichkeit der Syllogistik zur Erweiterung der Erkenntnis betrachtet Kant, anders als Bacon und Descartes, nicht als einen Mangel. Die Unverwendbarkeit der Logik als Organon ist vielmehr eine Folge „der eigenthmlichen Natur dieser Wissenschaft“ (B VIII). In der Logik wird nmlich „von allen Objekten der Erkenntniß und ihrem Unterschiede“ abstrahiert; in ihr hat es „der Verstand […] mit nichts weiter, als sich selbst und seiner Form zu thun“. Dieser „ihrer Eingeschrnktheit“ (B IX) verdankt die Logik auch den Vorteil, dass sie schon seit den Anfngen des Denkens den sicheren Gang der Wissenschaft gegangen ist, wie Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ausfhrt. Dagegen sei die Metaphysik, obwohl sie kein jngeres Unternehmen ist, zur Zeit Kants immer noch im „Herumtappen“ (B VII) begriffen. In ihrer engen Bedeutung, gemß der beschriebenen Einschrnkung, hat die Logik „nichts als die formalen Regeln alles Denkens“ (B IX) zum Gegenstand: sie ist „formale Logik“ (B 170) oder „reine Vernunftlehre“ (B 78). In einer umfassenderen Bedeutung ist die Logik die „Wissenschaft der Verstandesregeln berhaupt“ (B 76). Darunter unterscheidet Kant (a) die Logik des allgemeinen von der Logik des besonderen Verstandesgebrauchs sowie innerhalb der allgemeinen Logik (b) die reine von der angewandten Logik. Die formale Logik ist die allgemeine und reine Logik.4 (a) „Als allgemeine Logik abstrahiert sie von allem Inhalt der Verstandeserkenntnis, und der Verschiedenheit ihrer Gegenstnde, und hat mit nichts als der bloßen Form des Denkens zu tun“ (B 78). Fr die besonderen Verstandesregeln, angesichts einer besonderen Klasse von Gegenstnden, ist dagegen zustndig eine besondere Logik als „das Organon dieser oder jener Wissenschaft“ (B 76). (b) Als reine Logik abstrahiert die formale Logik nicht nur von aller Verschiedenheit der Objekte, sondern ebenso sehr von aller zuflligen Beschaffenheit der Subjekte des Denkens. Sie beschrnkt sich auf die notwendigen formalen Regeln alles Verstandesgebrauchs, whrend die angewandte Logik diese Regeln unter den subjektiven empirischen (psychologischen) Bedingungen und Hindernissen des Verstandesgebrauchs betrachtet (vgl. B 78 f.). 4
Zu Kants Einteilung der Logik vgl. Wolff, Die Vollstndigkeit der kantischen Urteilstafel, 204 ff.
1.2 Logischer und transzendentaler Schein
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Die Abstraktion von allem Inhalt der Erkenntnis bedeutet nun die Abstraktion „von aller Beziehung derselben auf das Object“. Die formale Logik „betrachtet nur die logische Form im Verhltnisse der Erkenntnisse auf einander“ (B 79). Sie kann sich nur auf Vorstellungen beziehen, die „ihr anderwrts, woher es auch sei, […] gegeben werden“ (B 102). Sie analysiert und vergleicht die Vorstellungen, um Begriffe zu bilden. Indem sie Begriffe miteinander vergleicht und ihre Verhltnisse ermittelt (etwa Identitt oder Widerspruch), kann sie die Begriffe in Urteilen und Schlssen miteinander verbinden, und zwar nach den formalen Regeln – den logischen Grundtzen (Satz des Widerspruchs und der Identitt, Satz des ausgeschlossenen Dritten) oder den Schlussregeln. Dabei hat es die formale Logik immer nur mit den Beziehungen zwischen den Begriffen bzw. zwischen Urteilen zu tun – mit Verhltnissen der Unterordnung (Subordination) der Begriffe und Urteile untereinander – und gar nicht mit der Beziehung der Begriffe auf Objekte. Begriffe sind nmlich reflektierte oder diskursive Vorstellungen und als solche immer allgemein; sie beziehen sich auf Gegenstnde nur mittelbar, ber ein ihnen gemeinsames Merkmal. Durch Begriffe werden Gegenstnde nur gedacht; gegeben werden die Gegenstnde in der sinnlichen Anschauung. Anschauungen sind nmlich einzelne, singulre Vorstellungen, die sich unmittelbar auf Gegenstnde beziehen (vgl. B 33, 377; Log § 1). Sie werden unter Begriffe subsumiert, und dadurch werden die Gegenstnde bestimmt. Dieses Geschft berschreitet aber die Kompetenz der formalen Logik (vgl. B 171 ff.). Die formale Logik sieht von allem Inhalt der Erkenntnis ab; ihre Regeln betreffen nur den formalen Zusammenhang der Erkenntnis. Ihr ist daher auch der Ursprung der Vorstellungen gleichgltig. Woher auch immer die Vorstellungen stammen, die formale Logik betrachtet nur deren logisches Verhltnis zueinander. Indem nun Kant aber ein mçgliches reines Denken der Gegenstnde in Erwgung zieht und vom empirischen Denken unterscheidet, entwirft er die Idee einer Wissenschaft, die, anders als die formale Logik, nicht die formalen Regeln allen Denkens, sondern „bloß die Regeln des reinen Denkens eines Gegenstandes enthielte“ (B 80). Diese Wissenschaft wre die transzendentale Logik. „In der Erwartung also, daß es vielleicht Begriffe geben kçnne, die sich a priori auf Gegenstnde beziehen mçgen“ (B 81), welche Begriffe dann ihren Ursprung im Denkvermçgen selbst htten und nicht in der Wirkung des empirisch gegebenen Objekts, unterscheidet Kant diesen mçglichen reinen vom empirischen Inhalt der Erkenntnis. Im Gegensatz zur formalen Logik abstrahiert die transzendentale Logik nicht von allem Inhalt, sondern eben nur vom empirischen Inhalt der Erkenntnis.
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1 Der Begriff der Dialektik
Wie kçnnen aber solche reine Begriffe und der apriorische Gegenstandsbezug mçglich sein? Unmittelbar auf Gegenstnde beziehen sich, wie gesehen, nur die Anschauungen. Die objektive Anschauung von einem Gegenstand enthlt aber eine Synthesis mannigfaltiger Vorstellungen. Die Einheit der Synthesis bewirkt nun der Verstand selbst, und zwar a priori. Fr diese synthetische Einheit a priori, den reinen bzw. „transscendentalen Inhalt“ (B 105) in einer objektiven Anschauung, stehen die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien. Sie sind Begriffe von einem Gegenstand berhaupt, vor allem weiteren empirischen Inhalt. Dabei stehen die Kategorien in Entsprechung zu den Urteilsformen der formalen Logik. Der Verstand bringt nmlich durch die Ausbung derselben Funktionen einerseits die analytische Einheit (Einheit der Unterordnung) zwischen den Vorstellungen (Begriffen oder Urteilen) in einem Urteil zustande sowie andererseits die synthetische Einheit (Einheit der Zusammensetzung) von Vorstellungen in einer Anschauung. So entspricht etwa die Kategorie der Substanz und Akzidenz dem Verhltnis von Subjekt und Prdikat im kategorischen Urteil oder die Kategorie der Ursache und Wirkung dem Verhltnis von Grund und Folge im hypothetischen Urteil. Die Kategorien bestimmen partiell die Anschauung von einem Gegenstand und machen die Grundlage aus fr alle weitere Bestimmung durch empirische Begriffe (vgl. B 104 f., 128 f.). Die assoziative Verknpfung von Vorstellungen in einem empirischen Bewusstsein ist nur subjektiv gltig; sie gehçrt in die Psychologie und nicht in die Logik. Ein Urteil spricht dagegen ein objektiv gltiges Verhltnis aus: die objektive Einheit der Vorstellungen in einem Bewusstsein berhaupt. Die formale Logik beschrnkt sich aber auf die objektiven Verhltnisse, die zwischen Begriffen bestehen, abgesehen davon, ob und wie sich diese Begriffe auf Gegenstnde beziehen. Gegenstandsbezogene und sachhaltige Urteile sind nur dadurch mçglich, dass die Synthesis der Anschauungen auf Kategorien und dadurch zur objektiven Einheit des Bewusstseins gebracht wird (vgl. B 141 ff.). 1.2.2 Kanon und Organon Indem die formale Logik von allem Gegenstandsbezug der Erkenntnis absieht, kann sie keine hinreichende Bedingung der Wahrheit, d. h. der „bereinstimmung der Erkenntniß mit ihrem Gegenstande“ (B 82), enthalten. „Vor der Frage: ob die Erkentnis mit dem object zusammen stimme, muß […]“ aber nach Kant die Frage „[v]orhergehen: ob sie mit
1.2 Logischer und transzendentaler Schein
9
sich selbst (der Form nach) zusammenstimme. Dies ist Sache der Logick.“ (Refl 2152; Log 51). Den Regeln der formalen Logik darf keine Erkenntnis widersprechen, denn dann wrde der Verstand seinen notwendigen und allgemeinen Gesetzen, „mithin sich selbst widerstreite[n].“ Die bereinstimmung der Erkenntnis mit den Prinzipien der formalen Logik ist zwar keine hinreichende, aber dennoch eine notwendige Bedingung: „die conditio sine qua non, mithin die negative Bedingung aller Wahrheit“ (B 84). Diese bereinstimmung liefert ein bloß negatives Kriterium der Wahrheit. Hinreichend sind die Bedingung und das entsprechende Kriterium nur im Fall der analytischen Urteile, durch welche die Erkenntnis nur erlutert, gar nicht aber erweitert wird. In einem analytischen Urteil ist nmlich der Prdikatbegriff schon im Subjektbegriff enthalten bzw. wird deren Verknpfung „durch Identitt“ gedacht (B 10). In diesem Fall reicht es, den gegebenen Begriff A zu zergliedern, um zum Urteil ,A ist B‘ zu gelangen, whrend man im Fall der synthetischen Urteile die Begriffe A und B auf das Objekt X beziehen muss, um sie erst miteinander verknpfen zu kçnnen (vgl. Refl 4676). Die Lehre der formalen Logik ist eine Analytik des formalen Verstandesgebrauchs und enthlt als die Elemente dieses Gebrauchs die notwendigen formalen Regeln. Sie kann gar nicht zur Erweiterung der Erkenntnis dienen, sondern nur zur Prfung und Beurteilung ihrer formalen Konsistenz als der negativen Bedingung ihrer Wahrheit. Diese negative Bedingung nennt Kant auch die „formale Wahrheit“ (Log 51; Refl 2973, 5749) im Unterschied zur materialen. Die formale Logik ist daher bloß ein „Kanon zur Beurtheilung“, kein „Organon zur wirklichen Hervorbringung“ der Erkenntnis (B 85). Wenn sie als ein solches Organon missbraucht wird, indem die formalen Regeln als hinreichendes Wahrheitskriterium eingesetzt werden, dann kann nur der Schein einer Erweiterung der Erkenntnis hervorgebracht werden: die Logik wird zur Dialektik. Ob nun aber logische Fehler und Selbsttuschungen vorliegen oder ein sophistischer Versuch, andere zu hintergehen, so kann dieser falsche Gebrauch des Verstandes auf jeden Fall durch den Kanon als solcher beurteilt und korrigiert werden. Der richtige logische Verstandesgebrauch ist derjenige, der mit den kanonischen Prinzipien der Analytik bereinstimmt; der falsche Gebrauch ist derjenige, der damit nicht bereinstimmt; der dialektische Gebrauch ist der falsche Gebrauch, der scheinbar mit den Regeln bereinstimmt. Der Schein als die Verleitung zum Irrtum liegt jedenfalls nicht in der Natur des Verstandes, wofr eben die notwendigen Regeln stehen. Er ist vielmehr eine zufllige, bloß subjektive Tuschung:
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1 Der Begriff der Dialektik
„Der logische Schein […] entspringt lediglich aus einem Mangel der Achtsamkeit auf die logische Regel.“ (B 353). Daher wird aber die Lehre der Dialektik in der neuen Bedeutung einer eigens bençtigten Kritik des dialektischen Scheins wohl nicht zur reinen (formalen) Logik gehçren. Der Ort dieser Lehre wird eher in der angewandten Logik sein, die als allgemeine Logik auch von allem Inhalt der Erkenntnis absieht, jedoch von den zuflligen subjektiven Bedingungen des Denkens, u. a. von „dem Ursprunge des Irrthums“, handelt (B 79).5 Kant nennt in der Kritik der reinen Vernunft die angewandte Logik und in seinen Vorlesungen zur Logik die Dialektik als Teil der allgemeinen Logik ein „Kathartikon“ bzw. ein „Reinigungsmittel“ des Verstandes (B 78; Log 17; V-Lo/Wiener 794). Ein Reinigungsmittel ist erforderlich, um die Kçpfe von den Irrtmern zu befreien und zum kanonischen formalen Gebrauch des Verstandes hinzuleiten. Die angefhrte Bestimmung der Wahrheit als bereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstand ist nach Kant eine bloße „Namenerklrung“ (B 82) (Nominaldefinition). Sie enthlt nmlich kein Kriterium der bereinstimmung und berhaupt des Gegenstandsbezugs. Die Erkenntnis kann ja nur dadurch mit dem Gegenstand verglichen werden, dass der Gegenstand erkannt wird. Die Bestimmung, genommen als ein Kriterium der Wahrheit, fhrt daher zu „einer elenden Diallele“ (B 82; vgl. Log 50 f.). Der Gegenstandsbezug des Denkens ist aber nur mçglich ber die Synthesis der Anschauungen. „Alsdann sagen wir: wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben.“ (A 105). Diese Einheit impliziert die bereinstimmung der Erkenntnisse, die sich auf denselben Gegenstand beziehen, untereinander. In der bereinstimmung der empirischen Urteile untereinander und mit den Anschauungen, die sich unmittelbar auf Gegenstnde beziehen, liegen die Kriterien der materialen Wahrheit der Erkenntnis. Die Bedingungen der Wahrheit eines gegenstandsbezogenen Urteils liegen in der Erfahrung und ihrem Zusammenhang als dem Produkt einer Synthesis. 5
Vgl. Refl. 1629: „Die reine Logik ist ganz Analytik, d. i. Logik der Warheit.“ – Auch Andreas Arndt sieht den Ort der logischen Dialektik als Kritik des Scheins in der angewandten Logik („Hegels Transformation der transzendentalen Dialektik“, 53). Anders die tabellarische Einteilung bei Michael Wolff (Die Vollstndigkeit der kantischen Urteilstafel, 204): die reine allgemeine Logik wird hier in Analytik und Dialektik eingeteilt. Nach Rdiger Bittner wird die Einteilung der allgemeinen Logik in Analytik und Dialektik durch die oben zitierte Stelle B 353 berhaupt geleugnet (ber die Bedeutung der Dialektik Immanuel Kants, 30).
1.2 Logischer und transzendentaler Schein
11
Die Begriffe der synthetischen Einheit a priori, die apriorischen Bedingungen des Gegenstandsbezugs des Denkens, enthlt nun, wie gesehen, die transzendentale Logik. Die transzendentale Analytik zergliedert die reine Verstandeserkenntnis in ihre Elemente: die reinen Verstandesbegriffe als Begriffe von Gegenstnden berhaupt (z. B. Ursache und Wirkung) und die entsprechenden Grundstze (Kausalittsprinzip), „die Principien, ohne welche berall kein Gegenstand gedacht werden kann“. Die transzendentale Analytik ist „[…] eine Logik der Wahrheit. Denn ihr kann keine Erkenntniß widersprechen, ohne daß sie zugleich allen Inhalt verlçre, d. i. alle Beziehung auf irgend ein Object, mithin alle Wahrheit.“ (B 87). Die bereinstimmung mit den transzendentalen Prinzipien ist aber keine hinreichende, sondern auch nur eine notwendige Bedingung der Wahrheit. Darin besteht die „transscendentale Wahrheit, die vor aller empirischen vorhergeht und sie mçglich macht“ (B 185), diese materiale Wahrheit jedoch unbestimmt lsst. Die Prinzipien der transzendentalen Analytik haben zwar einen reinen Inhalt; sie sind aber schließlich auch formale Prinzipien, die von Gegenstnden berhaupt gelten. Jedes solche Prinzip ist zwar ein synthetisches Urteil a priori, jedoch „kein bestimmender synthetischer Satz, sondern nur ein Grundsatz der Synthesis mçglicher empirischer Anschauungen“ (B 750). Der Gebrauch der reinen Verstandeserkenntnis beruht auf der Bedingung, dass die Gegenstnde, die Materie der Erkenntnis, in der Anschauung gegeben werden. Die transzendentale Logik ist daher „eigentlich nur ein Kanon der Beurtheilung des empirischen Gebrauchs“ und wird missbraucht, „wenn man sie als das Organon eines allgemeinen und unbeschrnkten Gebrauchs gelten lßt und sich mit dem reinen Verstande allein wagt, synthetisch ber Gegenstnde berhaupt [die gar nicht empirisch gegeben sind; J. P.] zu urtheilen, zu behaupten und zu entscheiden.“ (B 88). Sie wird dann dialektisch und produziert den Schein einer Erweiterung der Erkenntnis ber die Grenzen der Erfahrung hinaus.6 Die transzendentale Logik gliedert sich in zwei Teile: in die transzendentale Analytik und die transzendentale Dialektik, welche die Kritik dieses dialektischen Scheins enthlt. In den einleitenden Partien der transzendentalen Logik stellt nun Kant den Schein der transzendentalen Dialektik gar nicht als einen natrlichen 6
Im angefhrten Zitat spricht Kant eindeutig von der transzendentalen und nicht von der allgemeinen Logik (anders Kaulbach, „Kants Idee der transzendentalen Dialektik“, 8). Die transzendentale Dialektik entspringt zunchst aus einem Missbrauch der transzendentalen Logik. Siehe allerdings im Folgenden Kap. 4, insbes. 4.3.2.
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1 Der Begriff der Dialektik
und unvermeidlichen dar. Es sei bloß „sehr anlockend und verleitend“ (B 87), die reinen Verstandeserkenntnisse ber die Grenze der Erfahrung hinaus anzuwenden und dort, wo alle Materie aus den Sinnen fehlt, „von den bloßen formalen Principien des reinen Verstandes einen materialen Gebrauch zu machen“ (B 88). In der Einleitung zur transzendentalen Dialektik unterscheidet dann aber Kant den bloßen Missbrauch der Kategorien und Grundstze des Verstandes, d. h. ihren Gebrauch ohne Erfahrungsmaterial, von den Grundstzen der Vernunft. Um jenen Missbrauch zu vermeiden, reicht eigentlich die „Achtsamkeit“ auf die empirische Bedingung der Anwendung der Kategorien aus. Die Grundstze, die ihren Sitz in der Natur der Vernunft haben, sind aber „wirkliche Grundstze, die uns zumuthen, alle jene Grenzpfhle niederzureißen und sich einen ganz neuen Boden, der berall keine Demarcation erkennt, anzumaßen“ (B 352). Hiervon handelt die transzendentale Dialektik. Das obere Erkenntnisvermçgen, das Vermçgen des Denkens im Unterschied zur Sinnlichkeit, umfasst nmlich den Verstand im engeren Sinne und die Vernunft im engeren Sinne. Die formale Logik liefert den Kanon des bloß logischen Gebrauchs (die gltigen formallogischen Regeln) sowohl fr den Verstand, das Vermçgen der Begriffsbildung, als auch fr die Vernunft, das Vermçgen der Schlsse. Darber hinaus enthlt aber die Vernunft – nicht anders als der Verstand – reine Begriffe, welche Ideen heißen, und entsprechende Grundstze. Diese Grundstze nçtigen, die Grenze der Erfahrung zu berschreiten, indem sie die absolute synthetische Einheit der Erkenntnis fordern: die Totalisierung der Synthesis, die in den Kategorien und Grundstzen des Verstandes gedacht wird, und damit die durchgngige Zusammenstimmung des Verstandes mit sich, ber die bereinstimmung mit den formalen Regeln hinaus (vgl. B 379 ff.). Die Ideen der Vernunft sind Begriffe vom Unbedingten als der Totalitt der Bedingungen der Erkenntnis oder als einem Grund dieser Totalitt. Die Vernunft schließt, ihren Grundstzen und damit ihrer Natur nach, von der bedingten Erkenntnis auf das sie bedingende Unbedingte. Die Grundstze der Vernunft sind nun subjektiv notwendige Grundstze, „welche gnzlich das Ansehen objectiver Grundstze haben“ (B 353), somit den Schein einer objektiven Erkenntnis unvermeidlich mit sich fhren. Es giebt also eine natrliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft, nicht eine, in die sich etwa ein Stmper durch Mangel an Kenntnissen selbst verwickelt, oder die irgend ein Sophist, um vernnftige Leute zu verwirren, knstlich ersonnen hat, sondern die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhngt (B 354)
1.2 Logischer und transzendentaler Schein
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Die Vernunft in ihrem reinen Gebrauch ist „an sich dialektisch“ (B 805); dieser Gebrauch „ist durch und durch dialektisch“. „Wo aber kein richtiger Gebrauch einer Erkenntnißkraft mçglich ist, da giebt es keinen Kanon.“ Fr die reine Vernunft ist weder ein Organon zur Erweiterung der Erkenntnis noch ein Kanon des richtigen Gebrauchs, sondern nur eine Disziplin zur Grenzbestimmung mçglich. „[A]lle transscendentale Logik ist in dieser Absicht nichts als Disciplin“ (B 824).7 Die Lehre der transzendentalen Dialektik soll die Vernunft zgeln und begrenzen. In der Einleitung zur transzendentalen Logik, wo Kant deren Gliederung in die Analytik und die Dialektik einfhrt, beschreibt er den Auftrag der transzendentalen Dialektik dahingehend, dass diese den Schein aufdecken und die „[…] Ansprche [der Vernunft] auf Erfindung und Erweiterung, die sie bloß durch transscendentale Grundstze zu erreichen vermeint, zur bloßen Beurtheilung und Verwahrung des reinen Verstandes vor sophistischem Blendwerke herab[…]setzen“ soll (B 88). Die Einleitung zur Dialektik stellt dann jedoch klar, dass der transzendentale Schein nicht wirklich ein sophistisches Erzeugnis, sondern der Vernunft eigen ist. Im Gegensatz zum logischen Schein der bloßen Trugschlsse (der „Stmper“ und „Sophisten“), wird daher der transzendentale Schein auch nach seiner Aufdeckung und kritischen Beurteilung nicht verschwinden. Die natrliche Dialektik wird […] selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhçren […, der Vernunft] vorzugaukeln und sie unablssig in augenblickliche Verirrungen zu stoßen, die jederzeit gehoben zu werden bedrfen. (B 354 f.; vgl. B 449 f.)
Die Begriffe und Grundstze der Vernunft – auf nur subjektiv notwendige Regeln herabgesetzt, die die Zusammenstimmung des Verstandes mit sich fçrdern – werden sogar eine unentbehrliche Funktion erlangen und dadurch doch einen Kanon abgeben. Denn wenn schon dadurch kein Object bestimmt werden kann, so kçnnen sie doch im Grunde und unbemerkt dem Verstande zum Kanon seines ausgebreiteten und einhelligen Gebrauchs dienen (B 385)
7
Zu Kants Termini Organon, Kanon und Disziplin in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht vgl. Tonelli, Kant’s Critique of Pure Reason, 37 ff. Zum philosophiehistorischen Hintergrund der Termini Organon und Kanon vgl. ebd. 133 ff.
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1 Der Begriff der Dialektik
1.2.3 Logik und Metaphysik Den Zweck der Logik sieht Kant in der „Selbsterkenntniß des Verstandes und der Vernunft“. In der formalen Logik werden aber Verstand und Vernunft „lediglich der Form nach“ erkannt (Log 15). Dagegen stellt die transzendentale Logik die Frage nach der reinen Erkenntnis, die ihren Ursprung in dem Verstand und der Vernunft selbst hat. Sie fragt, was und wie viel der Verstand und die Vernunft, unabhngig von aller Erfahrung, aus bloßen Begriffen, ausrichten kçnnen. Die reine Erkenntnis aus bloßen Begriffen ist aber, „[…] man mag sie benennen, wie man will, eigentlich nichts als Metaphysik“ (B 878). Im Gegensatz zur allgemeinen Logik beschrnkt sich die transzendentale Logik auf eine besondere Art der Verstandeserkenntnis, nmlich die reine im Gegensatz zur empirischen (vgl. B 736). Whrend die allgemeine Logik die „Handlungen und Regeln des Denkens berhaupt […] vortrgt“, hat es die transzendentale Logik mit den „besondern Handlungen und Regeln des reinen Denkens, d. i. desjenigen, wodurch Gegenstnde vçllig a priori erkannt werden“, zu tun (GMS 390). Sie ist daher eine „besondre Logic“ (V-MP/Volckmann, 363), die besondere Logik der Metaphysik. 8 Die transzendentale Logik steht dabei im Zentrum der Kritik der reinen Vernunft. Diese ist ein „Tractat von der Methode“ der Metaphysik (B XXII). Die Kritik ist […] nicht eine Kritik der Bcher und Systeme, sondern die des Vernunftvermçgens berhaupt in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie unabhngig von aller Erfahrung streben mag, mithin die Entscheidung der Mçglichkeit oder Unmçglichkeit einer Metaphysik berhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grnzen derselben, alles aber aus Principien. (A XII)
Durch die „transscendentale Kritik“ wenden sich der Verstand und die Vernunft auf sich selbst: sie prfen ihre reinen Begriffe und inwiefern sie durch diese Begriffe Gegenstnde erkennen kçnnen. Die Kritik hat nicht die „Erweiterung“, sondern nur die „Berichtigung“ (B 26) der Erkenntnis zur Absicht: es muss geklrt werden, ob berhaupt eine Erweiterung der Erkenntnis aus bloßen Begriffen mçglich ist. Die Kritik der reinen Vernunft ist eine besondere Wissenschaft, die „Wissenschaft der bloßen Beurtheilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen“ (B 25). 8
Vgl. Tonelli, Kant’s Critique of Pure Reason, 5, 80 ff.; Wolff, Die Vollstndigkeit der kantischen Urteilstafel, 210.
1.2 Logischer und transzendentaler Schein
15
Dabei entstammt Kants Begriff der Kritik nicht zuletzt einem spezifisch logischen Gebrauch des Terminus in der Philosophie der Aufklrung, im 18. Jahrhundert, wonach die Logik als Kritik die Beurteilung und Berichtigung der Erkenntnis zum Auftrag hatte. In einer von Cicero bis zu den Ramisten und bis zu Vico reichenden Tradition stand die Kritik als Kunst der Beurteilung (ars iudicandi) der Kunst der Erfindung (ars inveniendi) gegenber.9 Whrend nun nach Kant die allgemeine Logik die „Propdeutik“ oder den „Vorhof“ zu allen Wissenschaften ausmacht (B IX), ist die Kritik der reinen Vernunft bzw. die transzendentale Logik „die Propdeutik zum System der reinen Vernunft“, zum System der reinen Erkenntnis a priori, d. h. zum System der Metaphysik (B 25; vgl. V-MP/Volckmann, 363). Die transzendentale Logik gibt jedenfalls schließlich kein Organon der reinen Vernunft ab: kein Werkzeug zum Erwerb von reinen Erkenntnissen, zur Erweiterung der Erkenntnis. Sie gibt vielmehr durch die reinen Begriffe und die Grundstze nur einen Kanon zur Beurteilung der empirischen Erkenntnis und eine Disziplin zur Begrenzung der Erkenntnis an die Hand. Die Kritik der reinen Vernunft im doppelten Sinne eines genitivus subiectivus und eines genitivus obiectivus ermçglicht aber doch das System der reinen Vernunft, ebenfalls in diesem doppelten Sinne. Die Vernunft hat nmlich in der Metaphysik, wie in der formalen Logik, mit nichts anderem als sich selbst zu tun. Obwohl die Metaphysik, anders als die formale Logik, Gegenstnde zu erkennen intendiert, kann sie die Begriffe und Grundstze zu diesem Zweck einzig aus sich selbst hernehmen. Die Metaphysik hat daher „das seltene Glck“ (B XXIII), dass sie mit der systematischen Vollstndigkeit ihrer Erkenntnisse rechnen darf. Der erste Teil der transzendentalen Logik, die transzendentale Analytik, enthlt die systematische Tafel aller reinen Begriffe von Gegenstnden berhaupt. Sie tritt damit an die Stelle der metaphysica generalis oder Ontologie im Gebude der Leibniz-Wolffschen deutschen Schulmetaphysik. Sie bescheidet sich aber, was die objektive Gltigkeit ihrer Begriffe und Grundstze (z. B. Beharrlichkeit der Substanz, Kausalittsprinzip) betrifft, auf die sinnlich gegebenen Gegenstnde der Erfahrung (vgl. B 303). Die Prinzipien der formalen Logik (Satz des Widerspruchs und der Identitt, Satz des ausgeschlossenen Dritten) gelten dagegen un9
Zum logischen sowie zum philologischen, dem sthetischen und dem verallgemeinerten Kritikbegriff vor Kant vgl. Tonelli, „,Critique‘ and related terms prior to Kant“; Rçttgers, Kritik und Praxis, 19 ff.; Irrlitz, Kant-Handbuch, 150 ff.
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1 Der Begriff der Dialektik
beschrnkt, aber gerade weil sie von allem Objektbezug absehen: gerade weil sie nach Kant „bloß in die Logik“, in die formale Logik, gehçren (B 190) und nicht, wie bei Christian Wolff,10 ontologische Grundstze, Grundbestimmungen der Dinge sind (vgl. allerdings im Folgenden 4.3.3). Im zweiten Teil der transzendentalen Logik, in der transzendentalen Dialektik, wird dann die Mçglichkeit der eigentlichen Metaphysik entschieden, der Erweiterung der Erkenntnis in den Bereich des bersinnlichen. Die Ideen der Vernunft werden systematisch „unter […] drei Titeln“ (B 392) gegliedert und betreffen die unbedingte Einheit (a) vom denkenden Subjekt, (b) vom sinnlichen Objekt, (c) von allen Gegenstnden des Denkens berhaupt (vgl. im Folgenden 2.2.2). Die drei Titel entsprechen damit den drei Disziplinen der metaphysica specialis im Gebude der Schulmetaphysik, nmlich der rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie. Die Vernunft schließt nun, ihren Grundstzen nach, auf Behauptungen ber die Sinnenwelt als Ganzes (Gegenstand der Kosmologie) bzw. auf Behauptungen ber unbedingte Grnde (substantielle Seele als Gegenstand der Psychologie; freier Wille als Anfang einer Kausalkette im Bereich der Kosmologie; Gott als Gegenstand der Theologie). Dabei hatte in der deutschen Tradition vor allem Christian Wolff – in bewusster Abweichung vom cartesianischen Trend gegen die Syllogistik – den Schluss zur wissenschaftlichen Methode der Erfindung sowie der Demonstration und Darstellung, gerade in der Metaphysik, aufgewertet.11 Es lsst sich aber nach Kant in den Bereichen der Metaphysik auf Behauptungen und ebenso gut auf die ihnen entgegengesetzten Behauptungen schließen. Deshalb erscheint die Metaphysik in ihrer historisch vorliegenden Gestalt als ein „Kampfplatz […] endlose[r] Streitigkeiten“ (A VIII). Insbesondere auf dem Feld der Kosmologie verwickelt sich die Vernunft nach Kant unvermeidlich in eine Antinomie: der Grundsatz der Vernunft ist hier in sich entzweit (vgl. im Folgenden 4.3.1). Allen Streitigkeiten bereitet aber die Kritik ein Ende, indem sie den transzendentalen Schein aufdeckt, der im Schluss vom Bedingten auf das Unbedingte am Werk ist. Die Vernunft muss in ihrem reinen Gebrauch der Kritik unterworfen werden, und zwar durch sich selbst: Die Vernunft ist das Objekt und zugleich das Subjekt der Kritik. Die Kritik der reinen Vernunft im besagten doppelten Sinne des Genitivs kulminiert in der transzendentalen 10 Vgl. Philosophia prima sive ontologia, §§ 27 ff. 11 Vgl. Deutsche Logik, 173 ff.; Deutsche Metaphysik, § 363, 220 f.
1.3 Schein – Erscheinung – Wahrscheinlichkeit (I)
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Dialektik als Lehre von der reinen Vernunfterkenntnis: als Logik des transzendentalen Scheins und zugleich als Kritik dieses Scheins. Es handelt sich dabei eben nicht um eine Kritik der historisch vorliegenden „Bcher und Systeme“, sondern um eine Kritik „des Vernunftvermçgens berhaupt“. In diesem Sinne ist Kants Kritik der Metaphysik radikal: sie will die Sache an der Wurzel fassen. Die Kritik sieht nmlich nicht einfach skeptisch von den bertriebenen Ansprchen ab. Das Heften der Kritik an der transzendentalen Logik ermçglicht vielmehr die Beantwortung der Frage: „Wie ist Metaphysik als Naturanlage mçglich? d. i. wie entspringen die Fragen, welche reine Vernunft sich aufwirft, […] aus der Natur der allgemeinen Menschenvernunft?“ (B 22). Indem ferner die Vernunft nur mit sich selbst zu tun hat, „mit Aufgaben, die ganz aus ihrem Schooße entspringen“ (B 23), muss sie diese Aufgaben auch entscheiden kçnnen. Die Vernunft wird daher auch die weitere Frage: „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft mçglich?“ (B 22) beantworten kçnnen, und zwar schließlich nicht indem sie die Erkenntnis ber die Grenze der Erfahrung hinaus erweitert, sondern indem sie die Erkenntnis mit Sicherheit begrenzt: „Die Metaphysic muß critisiren, ihr Gebrauch ist negativ, sie lehrt uns gantz und gar nichts.“ (PhilEnz 44).
1.3 Schein – Erscheinung – Wahrscheinlichkeit (I) Die Einteilung der Logik in eine Analytik und eine Dialektik geht zurck auf Aristoteles, wie Kant selbst bemerkt (Log 20). Im Zusammenhang des Organon, der von spteren Kommentatoren zusammengestellten logischen Schriften des Aristoteles, bezeichnet die Analytik zum einen die Lehre vom formalen Schluss (Analytica priora) und zum anderen die Lehre vom wissenschaftlichen Beweis, d. h. vom Schluss aus festen Prinzipien, aus unbedingt wahren Prmissen (1n !kgh_m te ja· pq¾tym) (Analytica posteriora: Apodiktik). Im Gegensatz zur Apodiktik hat die Dialektik den Schluss aus angesehenen, bloß anerkannten Prmissen (1n 1md|nym) und dabei auch die Suche nach den Prinzipien zum Gegenstand.12 Diese 5mdona sind einleuchtende, allgemein (von allen oder von den meisten) fr wahr gehaltene oder aber von Sachkundigen und Menschen hohen Ansehens anerkannte Meinungen.13 Die Dialektik wird in der Schrift Topik behandelt. Das Organon enthlt schließlich, als Anhang zur Topik, noch die Lehre 12 Topica, 100a 18 ff.; 101a 37 ff. 13 Ebd. 100b 21 ff.
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1 Der Begriff der Dialektik
von den Sophistischen Widerlegungen, d. h. von den sophistischen bzw. eristischen Trugschlssen und ihrer Aufdeckung. Diese Trugschlsse sind Schlsse aus nur scheinbaren Prmissen bzw. nur scheinbar schlssige Folgerungen (1j vaimol]mym 1md|nym lμ emtym bzw. vaim|lemoi sukkocislo_).14 Dabei wird die Dialektik in der Topik nicht einfach als Lehre von den dialektischen Schlssen entworfen, sondern in der Gestalt einer Kunst der Disputation: Der eine Dialogpartner vertritt eine Position und sein Opponent die ihr entgegengesetzte. Unter Rckgriff auf einen Fundus von Argumentationsschemata (t|poi) mssen sie Argumente erfinden, um aus angesehenen Prmissen die Position zu begrnden bzw. zu widerlegen. Mit der aristotelischen Dialektik steht weiter seine Konzeption der Rhetorik in Zusammenhang. Die Rhetorik betrachtet das berzeugende (piham|m) der Rede, wobei die Prmissen der rhetorischen Argumentation bloß wahrscheinlich (eQj|ta) sind.15 Auf die aristotelische Topik und Rhetorik fußt die Tradition der Dialektik als Logik des Wahrscheinlichen (logica probabilium), wobei das Wahrscheinliche (probabile) generell mit demjenigen, was wahr zu sein scheint, was dem Wahren hnelt (verisimile), gleichgesetzt wurde. Kant scheint nun die Einteilung der Logik in eine Analytik und eine Dialektik aus dem deutschen protestantischen Aristotelismus zu bernehmen. Vor allem bei Kants Zeitgenossen Joachim Georg Darjes steht diese Einteilung im Vordergrund, und zwar anders als bei den frheren Autoren mit der Dialektik an zweiter Stelle. Fr Darjes ist die Logik insgesamt eine ars inveniendi und die Dialektik eine logica probabilium.16 Kant konnte jedoch die Einteilung der Logik in eine Analytik als Logik der gewissen Erkenntnis und eine Dialektik als Logik der wahrscheinlichen Erkenntnis auch im Logikkompendium des Wolffianers Meier vorfinden, worber er seine Vorlesungen abhielt. Meier fhrt jedenfalls die Dialektik gar nicht aus.17 Inhaltlich deckt sich aber die Kantische Einteilung keineswegs mit diesen ihren mçglichen Quellen. Fr Kant ist nmlich die Dialektik nicht die Logik der Wahrscheinlichkeit, sondern die Logik des Scheins. Gleich 14 De sophisticis elenchis, 165b 8 ff. 15 Zum Zusammenhang von Rhetorik und Dialektik vgl. Rhetorica, 1354a 1 ff.; 1356b 30 ff. Zum piham|m ebd. 1355b 26 ff. Zum eQj|r ebd. 1357a 34 ff. 16 Darjes, Introductio in artem inveniendi, Praec. § 212. Vgl. hierzu Tonelli, „Der historische Ursprung der kantischen Termini ,Analytik‘ und ,Dialektik‘“, 135 ff. Die logischen Arbeiten von Darjes kannte Kant gut (vgl. PND 390, 398 Anm.). 17 Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, § 6.
1.3 Schein – Erscheinung – Wahrscheinlichkeit (I)
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am Anfang der transzendentalen Dialektik grenzt Kant den Schein, als ihr Thema, von zwei weiteren Begriffen ab: (a) von eben der Wahrscheinlichkeit sowie (b) von der Erscheinung: Wir haben oben die Dialektik berhaupt eine Logik des Scheins genannt. Das bedeutet nicht, sie sei eine Lehre der Wahrscheinlichkeit; denn diese ist Wahrheit, aber durch unzureichende Grnde erkannt, deren Erkenntniß also zwar mangelhaft, aber darum doch nicht trglich ist und mithin von dem analytischen Theile der Logik nicht getrennt werden muß. Noch weniger drfen Erscheinung und Schein fr einerlei gehalten werden. Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, so fern er angeschaut wird, sondern im Urtheile ber denselben, so fern er gedacht wird. (B 349 f.)
Ad (a). Der Schein bedeutet nach Kant die „Verleitung“ zum Irrtum (B 350). So kann ein Blendwerk der Sinne den Verstand zum falschen Urteil verleiten. Ein natrliches solches Blendwerk, das, selbst wenn man darum weiß, nicht verschwindet, nennt Kant „Tuschung (illusio)“, und er unterscheidet diese vom „Betrug (fraus)“ (Anth § 13). Auch der transzendentale Schein ist nach Kant „eine[] natrliche[] und unvermeidliche[] Illusion“ (B 354). Er ist „trglich[]“, obzwar „glnzend[]“ und bestndig (B 730). Der Schein als Verleitung zum Irrtum liegt nach Kant berhaupt darin, dass subjektive Grnde des Urteils mit objektiven verwechselt werden (vgl. B 350 f.; A 396). Kant unterscheidet nun „die Wahrscheinlichkeit (probabilitas) von der bloßen Scheinbarkeit (verisimilitudo)“. Beides sei ein „Frwahrhalten aus unzureichenden Grnden“ (Log 81; vgl. FM 299); bei der Wahrscheinlichkeit seien aber diese Grnde objektiv, bei der Scheinbarkeit dagegen nur subjektiv gltig. Im ersten Fall sind die Grnde gewiss und mit Gewissheit unzureichend; im zweiten Fall wird etwas fr wahr gehalten, weil die bloß subjektiven Grnde nicht als solche und damit als unzureichend durchschaut werden. Die verisimilitudo ist insofern tuschend und verleitend, ein bloßer Schein. Wenn nun die in Betracht kommenden Grnde gleichartig sind, dann kann das Verhltnis der unzureichenden Grnde zum zureichenden Grund mathematisch, als ein arithmetischer Bruch gefasst werden. In der philosophischen Erkenntnis ist das jedoch generell nicht mçglich. Es „[…] lßt sich wegen der Ungleichartigkeit der Grnde die Wahrscheinlichkeit nicht schtzen; die Gewichte sind hier, so zu sagen, nicht alle gestempelt.“ (Log 82; vgl. V-Lo/Pçlitz 554 ff., V-Lo/Wiener 879 ff.). Im Hintergrund dieser Bestimmung steht die Entwicklung der mathematischen, exakten Wahrscheinlichkeitstheorie im spten 17. und im 18. Jahrhundert (Bernoulli, de Moivre, Laplace). Den mathematischen
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1 Der Begriff der Dialektik
„calculus probabilium“ setzt Kant ausdrcklich dem (topisch-rhetorischen) „Spielwerk von Wahrscheinlichkeit und Muthmaßung“ entgegen (Prol 369). Die mathematisch gefasste, objektive Wahrscheinlichkeit ist objektive „Annherung zur Gewissheit“, die Scheinbarkeit dagegen subjektive „Grçße der berredung“ (Log 82; vgl. VNAEF 420). Die Lehre der Wahrscheinlichkeit als eines niederen Grades der Gewissheit, als einer Wahrheit, die „durch unzureichende [objektive; J. P.] Grnde erkannt“ wird, gehçrt fr Kant, nach dem angefhrten Zitat, zur Analytik (B 349). Fr eine besondere philosophische logica probabilium im Sinne der topischen und rhetorischen Tradition bleibt kein Raum: Man hat viel von einer Logik der Wahrscheinlichkeit (logica probabilium) geredet. Allein diese ist nicht mçglich; denn wenn sich das Verhltniß der unzureichenden Grnde zum zureichenden nicht mathematisch erwgen lßt: so helfen alle Regeln nichts. (Log 82; vgl. V-Lo/Pçlitz 555, V-Lo/Wiener 883)18
Der transzendentale Schein hat jedenfalls nichts mit unzureichenden objektiven Grnden zu tun, sondern mit subjektiven Grnden, die in der menschlichen Vernunft berhaupt liegen und „gnzlich das Ansehen“ von objektiven haben, daher unvermeidlich obgleich irrig fr solche gehalten werden. Von der subjektiven, privaten „berredung“ als bloßer Scheinbarkeit unterscheidet Kant die „berzeugung“ als ein Frwahrhalten, das „fr jedermann gltig ist, so fern er nur Vernunft hat“ (B 848). Die Auflçsung des natrlichen Scheins in der transzendentalen Dialektik ist nach Kant zugleich eine Hinleitung zum praktischen statt theoretischen Verstndnis der Ideen und zum praktisch-moralischen Glauben als zwar nicht objektbezogener, dennoch subjektiv „fr jedermann“ hinreichender berzeugung auf dem Feld des bersinnlichen. Darauf wird das letzte Kapitel der Arbeit eingehen (5.1, 5.3).19 Ad (b). Die „Erscheinung“ bedeutet nach Kant den „unbestimmte[n] Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (B 34). In der Kritik der reinen Vernunft geht der transzendentalen Logik, der Lehre von den Re18 Kants Stellung zur Frage der Wahrscheinlichkeit wird von Elfriede Conrad, die seine Stellungnahmen zur Dialektik als logica probabilium behandelt, bersehen (Kants Logikvorlesungen, 108 ff.). Der Hinweis auf die bloß mathematische Theorie Bernoullis in der frhen Vorlesungsnachschrift Logik Blomberg (V-Lo/Blomberg 38) bedeutet, im Lichte ebendieser Nachschrift (ebd. 196), gar keine Kritik an Bernoulli, wie Conrad meint (Kants Logikvorlesungen, 109). 19 Zu den Modi des Fhrwahrhaltens – dem bloß subjektiven Meinen, dem Glauben und dem objektiven Wissen – vgl. B 748 ff.; Log 65 ff.
1.3 Schein – Erscheinung – Wahrscheinlichkeit (I)
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geln des reinen Denkens, die transzendentale sthetik voran: die Lehre von den reinen Formen der Sinnlichkeit. Allen empirischen Anschauungen stehen nmlich der Raum und die Zeit als diese reinen Formen, welche die Ordnung des mannigfaltigen Inhalts ermçglichen, zugrunde. Die Materie der Erscheinung verdankt sich der Empfindung, d. h. der Wirkung des Gegenstandes auf das Vorstellungsvermçgen des Subjekts; die Form der Erscheinung hat dagegen ihren Ursprung im Vorstellungsvermçgen selbst. Als Gegenstnde der Anschauung stehen die Erscheinungen notwendig unter den Bedingungen von Raum und Zeit, wie sie dann als Gegenstnde des Denkens, nach der transzendentalen Logik, notwendig unter den Kategorien stehen. „Erscheinungen, so fern sie als Gegenstnde nach der Einheit der Kategorien gedacht werden, heißen Phaenomena.“ (A 248 f.). Dass die Gegenstnde der Erkenntnis Erscheinungen bzw. Phaenomena sind, bedeutet, dass sie nur im Verhltnis zum Subjekt, d. h. zum Subjekt berhaupt, erkannt werden. Es bedeutet keineswegs, dass sie ein „bloßer Schein“ sind (B 69), dass sie nur erkannt werden, wie sie dem einen oder dem anderen erscheinen. Im Rahmen der Erfahrung kçnnen die Gegenstnde als einfach gegebene und ihre Eigenschaften als ihnen direkt zukommende betrachtet werden. Fr die kritische, transzendentale Reflexion auf die Bedingungen der Erkenntnis bestehen jedoch diese Eigenschaften nur in Bezug auf unsere Anschauungsart und die Erscheinungen nur als Vorstellungen in einem Bewusstsein berhaupt. Kant bezeichnet daher seine Position als empirischen Realismus und zugleich als transzendentalen Idealismus (vgl. A 369 ff.). In der transzendentalen sthetik wird von der Erscheinung das Ding an sich selbst als „deren wahres Correlatum“ (B 45) unterschieden, das freilich unerkennbar bleibt. Die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich bzw. von Phaenomena und Noumena (d. h. Gegenstnden, die rein gedacht und nicht in Raum und Zeit angeschaut werden), die Position des transzendentalen Idealismus, wird dann in der transzendentalen Dialektik durch die Antinomie der Vernunft besttigt. Einzig diese Position ermçglicht nmlich nach Kant die Auflçsung der Antinomie. Auf das Verhltnis von sthetik, Analytik und Dialektik im Zusammenhang der Beweisstrategie der Kritik wird das dritte Kapitel der Arbeit eingehen (3.2, 3.4). Der tuschende Schein als Verleitung zum Irrtum, zu einem falschen Urteil, liegt nach Kant nun darin, dass subjektive Grnde des Urteils mit objektiven verwechselt werden. Er liegt in einem „unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf den Verstand“ (B 350; vgl. Log 53 f., V-Lo/Wiener 824 f.). So kann nmlich einerseits ein empirischer Schein, etwa eine optische Tuschung, dazu verleiten, dass eine an sich richtige Verstandesregel
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1 Der Begriff der Dialektik
auf den Gegenstand falsch angewandt wird. Der Einfluss von subjektiven sinnlichen Eindrcken auf den Verstand kann aber andererseits auch bewirken, dass dieser von seinen eigenen Regeln abweicht. Ein „Kathartikon“ muss daher den Verstand von allen Einmischungen reinigen. Die Sinnlichkeit, dem Verstande untergelegt, als das Object, worauf dieser seine Function anwendet, ist der Quell realer Erkenntnisse. Eben dieselbe aber, so fern sie auf die Verstandeshandlung selbst einfließt und ihn zum Urtheilen bestimmt, ist der Grund des Irrthums. (B 351 Anm.)
Der Schein kann natrlich auch darin bestehen, dass die formalen Regeln des Verstandes mit hinreichenden Wahrheitsbedingungen verwechselt werden: die notwendigen subjektiven (im Sinne von bloß logischen, vom Objekt abstrahierenden) Bedingungen mit objektiven, materialen Wahrheitsgrnden. Solche Grnde sind ja nur dadurch mçglich, dass dem Verstand die Sinnlichkeit untergelegt wird. Auch in diesem Fall ist die sorgfltige Scheidung von Verstand und Sinnlichkeit geboten: der gereinigte Verstand ist der Sitz von formalen, nur negativen Wahrheitsbedingungen und gibt von selbst keinen Anlass zum Missbrauch. Die Vernunft im engeren Sinne ist dagegen, nach dem Vorigen, in ihrem reinen Gebrauch „an sich dialektisch“. Ihre notwendigen subjektiven Grundstze haben „gnzlich das Ansehen“ von objektiven, gegenstandsbestimmenden, sodass die Verwechselung unvermeidlich ist. Der transzendentale Schein im Schluss der Vernunft vom Bedingten auf das Unbedingte wird zwar aufgedeckt durch die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand: durch die Trennung der bedingten Gegenstnde der Sinne (Phaenomena) vom Unbedingten als einem problematischen, nur denkbaren Gegenstand (Noumenon). Der Schein des Gegenstandsbezugs wird dann nicht mehr betrgen; er wird aber dennoch nicht verschwinden. Darin unterscheidet sich der transzendentale Schein vom logischen Schein der bloßen Fehl- und Trugschlsse sowie berhaupt vom bloßen Missbrauch des Verstandes. Darin ist der transzendentale Schein andererseits vergleichbar mit dem optischen Schein. Der Schein der natrlichen Dialektik ist nach Kant [e]ine Illusion, die gar nicht zu vermeiden ist, so wenig als wir es vermeiden kçnnen, daß uns das Meer in der Mitte nicht hçher scheine, wie an dem Ufer, weil wir jene durch hçhere Lichtstrahlen als dieses sehen oder noch mehr, so wenig selbst der Astronom verhindern kann, daß ihm der Mond im Aufgange nicht grçßer scheine, ob er gleich durch diesen Schein nicht betrogen wird. (B 353 f.)
1.4 Verhltnis zur Tradition
23
Die Schlsse der transzendentalen Dialektik sind weder absichtliche, sophistische Trugschlsse, noch verdanken sie sich einer Abweichung der Kçpfe von den Regeln der Vernunft. Die Schlsse entspringen vielmehr aus der Natur der Vernunft selbst, gerade aus der Befolgung ihrer notwendigen Regeln. Es sind Sophisticationen nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste unter allen Menschen sich nicht losmachen und vielleicht zwar nach vieler Bemhung den Irrthum verhten, den Schein aber, der ihn unaufhçrlich zwackt und fft, niemals vçllig los werden kann. (B 397)
Kants Behauptung von der Natrlichkeit und Notwendigkeit des metaphysischen Scheins ist freilich befremdlich. Bevor im nchsten Kapitel die Erluterung dieser Behauptung beginnt, soll hier zum Abschluss der einleitenden Betrachtungen das Verhltnis von Kants Bestimmung der Dialektik zu den traditionellen Auffassungen derselben diskutiert werden.20
1.4 Verhltnis zur Tradition Die Gliederung der Logik in Analytik und Dialektik geht, wie gesehen, zurck auf die aristotelische Tradition. Kant verleiht aber dem Terminus Dialektik eine neue Bedeutung als Logik und Kritik des Scheins und nicht 20 Ein unmittelbarer Bezugspunkt fr Kants Lehre vom Schein war die Phnomenologie oder Lehre von dem Schein, der umfangreiche vierte Teil im Neuen Organon (1764) des von Kant hoch geschtzten Johann Heinrich Lambert. Unter jenem Titel behandelt Lambert den sinnlichen, psychologischen und moralischen Schein sowie das Wahrscheinliche als mathematische Annherung zur Gewissheit. „Die hçhern Erkenntniskrfte, der Verstand und die Vernunft […]“, kçnnen jedenfalls nach Lambert „[…] eigentlich keine Quellen des Scheins geben, weil sie es sind, die durch jedes Blendwerk des Scheins durchdringen, und weil man in der Tat auch nur in so ferne Verstand und Vernunft hat, in so ferne man genau und richtig denkt und schließt.“ (Neues Organon II, Phnomenologie, § 19). Der Schein der Fehlschlsse wird einer Verleitung durch die niederen Erkenntniskrfte zugeschrieben (ebd.) und fllt unter dem psychologischen Schein (§ 117). – In einem Brief an Lambert vom 2. September 1770 verwendet Kant fr sein noch unreifes Projekt einer Propdeutik zur Metaphysik die Lambertsche Bezeichnung der Phnomenologie: „Es scheinet eine ganz besondere, obzwar blos negative Wissenschaft (phaenomologia generalis) vor der Metaphysic vorher gehen zu mssen“. Diese „propaedevtische disciplin“ soll die Metaphysik von aller „Beymischung des Sinnlichen“ freihalten (AA 10, 98); einen der Vernunft natrlichen Schein in der Metaphysik kennt Kant allerdings noch nicht. Zum Denkweg Kants hin zur Kritik der reinen Vernunft vgl. im Folgenden 3.1.
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1 Der Begriff der Dialektik
als Logik des Wahrscheinlichen im Sinne der topischen und rhetorischen Tradition.21 In die Architektonik der Kritik der reinen Vernunft baut Kant allerdings auch eine neue Konzeption der Topik ein. Die „logische Topik des Aristoteles“ grndet nach Kant nmlich darauf, dass ein jeder allgemeine Begriff als Titel, worunter viele Erkenntnisse gehçren, ein logischer Ort (t|por, locus) heißen kann. Die „transscendentale Topik“, die Kant einfhrt, weist dagegen einer jeden Vorstellung ihren „transscendentalen Ort“ zu, im oberen oder im unteren Erkenntnisvermçgen, im Verstand oder in der Sinnlichkeit, und verhindert damit die Verwechslungen, insbesondere die „Erschleichungen des reinen Verstandes“ (B 324; vgl. B 351). Die Zuordnung geschieht dabei unter „vier Titel[n] aller Vergleichung und Unterscheidung“ (B 325), vier Paaren von Reflexionsbegriffen, die Kant im Anhang zur transzendentalen Analytik behandelt („Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe“, B 316 ff.). Auf den systematischen Zusammenhang von transzendentaler Dialektik und Topik wird im Folgenden der Abschnitt 3.4 eingehen. Hier soll schließlich nur darauf hingewiesen werden, dass Kant die Kritik als die Vorbereitung zum System der reinen Vernunft eine „systematische Topik“ (B 109) nennt, die jedem Begriff seine Stelle im System anzeigt, sowie darauf, dass die besagten „drei Titel aller transscendentalen Ideen“ wohl als die loci der transzendentalen Dialektik betrachtet werden kçnnen.22 Eine besondere Logik der Wahrscheinlichkeit ist nun nach Kant berhaupt nicht mçglich. Im Sinne der bloßen Scheinbarkeit (verisimilitudo) ist diese vielmehr tuschend. Die antike Dialektik setzt Kant mit der Logik des Scheins gleich:
21 Rdiger Bittners Versuch, Kants Verstndnis der Dialektik an das aristotelische anzunhern – den transzendentalen Schein als 5mdonom zu verstehen (ber die Bedeutung der Dialektik Immanuel Kants, 27 ff.) und die transzendentale Dialektik als Peirastik, als probierendes Denken (98 f.) – ist nicht berzeugend. Zum ersten Punkt ist im vorigen Abschnitt alles Nçtige gesagt worden. Zum zweiten Punkt ist zu sagen, dass die transzendentale Dialektik alles andere als „unsystematisch, unmethodisch, unwissenschaftlich“ (99) verfhrt. Sie hat es vielmehr mit einem „System von Tuschungen und Blendwerken“ zu tun, das sie in ein „System der Vorsicht und Selbstprfung“ transformiert (B 739). Vgl. dazu im Folgenden Kapitel 2 und 4. 22 Vgl. hierzu Arndt, Dialektik und Reflexion, 59 ff. Zu Kants Inanspruchnahme von locus und topica vgl. V-Lo/Pçlitz 596 f.; V-Lo/Busolt 681.
1.4 Verhltnis zur Tradition
25
Die Dialectic bey den Alten, war nicht ein Wißenschaft des Wahrscheinlichen sondern des Scheins, auch nicht eine Kritik des Scheins; als eine solche wre sie vortreflich (PhilEnz 31).
Die Dialektik als Logik des Scheins bedeutet die sophistische Kunst, jede Sache beweisen und im Streitgesprch immer Recht behalten zu kçnnen. Die Dialektiker waren unter den Alten diejenigen, die pro et contra disputirten. Sie waren Sophisten, und suchten zu tuschen. Sie nahmen falsche Stze an, accomodirten Alles nach den formalen Gesetzen des Verstandes, und gaben sich folglich einen großen Schein der Wahrheit (V-Lo/Wiener 793).
Die Dialektik sei daher in der griechischen Antike eine Kunst fr Anwlte und Demagogen gewesen (vgl. Log 16 f.; V-Lo/Pçlitz 506 f.; PhilEnz 31). In einer Vorlesungsnachschrift der 70er Jahre ist zu lesen, dass Kant den Anfang dieser Kunst bei Euklides, dem Grnder der megarischen Schule, setzt: Er lehrte zwei entgegengesetzte Stze auf gleiche Weise beweisen und wiederlegen. Hieraus entsprang eine Art der Affterphilosophen, die Dialektiker, große Disputirhelden (V-Lo/Philippi 336).
In der megarischen Eristik sind tatschlich die berhmten antiken Fangschlsse entstanden (des Lgners, des Gehçrnten u. a.). Euklides von Megara, der mit dem spteren Mathematiker nicht verwechselt werden darf, hatte sich, nach den Quellen, die apagogische Beweisart des Eleaten Zenon angeeignet.23 Zenon wird dann in der Kritik ebenfalls „ein subtiler Dialektiker“ genannt (B 530). Aber auch die aristotelische Topik konnte nach Kant, wie gesehen, als ein Werkzeug fr die Kunst des Scheins dienen, als ein „Organon der Disputirkunst“ (V-Lo/Wiener 796). Die negative Bezeichnung der Dialektik als Logik des Scheins bezieht Kant schließlich auf alle scholastische Disputierkunst: Die dunkeln Zeiten des Pabsttums waren auch voll solcher Dialektiker. Da ihre Logic nichts als ein Organon der Schwatzhafftigkeit war durch subtile verfngliche Fragen den andern bestricken zu kçnnen. […] Disputiren war ihr [der Scholastiker] Hauptwerk.“ (V-Lo/Philippi 336 f.)
Das Ende dieser Denkart wurde nach Kant durch die Reformation herbeigefhrt sowie dann vor allem durch die Zuwendung zum „Studium der Natur“ und durch die aus der Verbindung von „Mathematik und Naturwissenschaft“ entstandene „Ordnung im Denken“ (V-MP- L2/Pçlitz 539; vgl. Log 31, V-Lo/Philippi 337). 23 Vgl. berweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie des Alterthums, 136, 138.
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1 Der Begriff der Dialektik
Der Kunst, den Schein zu erzeugen, setzt Kant die neue Bedeutung der Dialektik als Kritik des Scheins entgegen. Diese Bedeutung der Dialektik kann einerseits mit der platonischen Elenktik und mit der aristotelischen Schrift von den Sophistischen Widerlegungen verglichen werden. Die Kritik des Scheins kann andererseits in die Tradition der aufklrerischen Irrtumstheorie und Ideologiekritik seit Francis Bacons Idolenlehre gestellt werden.24 Die transzendentale Dialektik hat es allerdings weder mit bloßen Fehlschlssen zu tun, noch geht es schließlich nur um Trugbilder und Vorurteile, die die wahre Erkenntnis von ihrer Bahn ablenken. Der transzendentale Schein, insbesondere der kosmologische, entspringt vielmehr nach Kant aus einem notwendigen Tun der Vernunft, aus ihrem notwendigen Ausgriff auf die Totalitt ihrer Bedingungen. Daher kann aber der transzendentale Schein nicht einfach durch einen Kanon, durch ein Set von richtigen Regeln der Vernunft, beurteilt und korrigiert werden. Die Vernunft schließt ja auf das Unbedingte, indem sie gerade ihren Regeln folgt. Diese fhren aber in die Antinomie, woraus dann die kritische Unterscheidung von Phaenomena und Noumena den Ausweg zeigt. Die Kritik des Scheins setzt aber somit in einem ersten Schritt die freie Entfaltung der Logik des Scheins voraus. Kants Bestimmung der Dialektik als Logik des Scheins ist insofern zweischneidig. Zweischneidig wird damit aber auch die berlieferte Gestalt der Dialektik, die Kunst des „pro et contra“ Disputierens. Dieser Methode bediente sich nach Kant nmlich auch Platon, und zwar aus gutem Grund: Plato trug viele seiner Lehren dialogisch vor, d. i. daß Grnde pro und contra angefhrt wurden, wobei er nichts entschied, ob er sonst gleich sehr dogmatisch war. Die Methode, der Wahrheit nachzuforschen, muß zweifelnd seyn.“ (V-MP- L2/Pçlitz 538; vgl. Log 30, V-Lo/Wiener 803)
In der Anwendung dieser Methode des Zweifels und des Argumentierens „pro und contra“ traten nach Kant die akademischen und pyrrhonischen Skeptiker die Nachfolge Platons an. Die Skeptiker waren aber nicht auf Wahrheit aus, sondern auf die Untergrabung aller Wissensansprche, somit auf die Enthaltung von allem Urteil: 24 Bacons Idolenlehre verhlt sich zur Deutung der Natur wie die „doctrina de Sophisticis Elenchis“ zur berlieferten Dialektik (Novum Organum I, Aph. 40). Bacon fordert die gnzliche Reinigung (expurgatio) des Verstandes von den Idolen (ebd. Aph. 68 f.). Daran erinnert Kants allgemeine Dialektik als Kathartikon des Verstandes. – Zur Tradition der aufklrerischen Irrtumstheorie seit Bacon und Descartes im Blick auf Kant vgl. Irrlitz, Kant-Handbuch, 238 f.
1.4 Verhltnis zur Tradition
27
Die Sceptiker bedienten sich […der Dialektik] hufig, denn sie legten es darauf an, die Menschen zur Ungewißheit zu bringen; bald dies bald das Gegenteil zu behaupten“ (PhilEnz 31).
Insofern die Skeptiker sogar alle Erfahrungserkenntnis zum Schein erklrten, gingen sie nach Kant mit ihrem Zweifel zu weit. Gegen die Dogmatiker, die eine Erkenntnis aus reiner Vernunft lehrten, standen die Skeptiker jedoch im Recht, und ihre Methode, in der Gestalt eines „vernnftigen Pyrrhonismus“ (Refl 2660), ist nach Kant zu loben: Die Dogmatiker sagten: daß man blos durch den Verstand ohne Beyhlfe der Erfahrung gewiß werden kçnne. Die Skeptiker dagegen meinten: wenn der Verstand etwas aus sich selbst spinnt, so ist es nichts als lauter Schein. (V-MPL2/Pçlitz 539) [Die Skeptiker machten] es zur ersten Maxime alles philosophirenden Vernunftgebrauchs […]: auch selbst bei dem grçßten Scheine der Wahrheit sein Urtheil zurckzuhalten, und [stellten] das Princip auf[…]: die Philosophie bestehe im Gleichgewichte des Urtheilens und lehre uns den falschen Schein aufzudecken. (Log 31)
Daher bezeichnet Kant in der Kritik sein Verfahren zur Auflçsung der Antinomie, nmlich den besagten ersten Schritt der freien Entfaltung des Widerstreits, als die „sceptische Methode“. Diese Methode bestehe darin, „einem Streite der Behauptungen zuzusehen, oder vielmehr ihn selbst zu veranlassen“, den einen Opponenten gegen den anderen auszuspielen. Die Methode ist jedoch „vom Scepticismus gnzlich unterschieden, […] welcher die Grundlagen aller Erkenntniß untergrbt, um wo mçglich berall keine Zuverlssigkeit und Sicherheit derselben brig zu lassen.“ (B 451). Kant inszeniert nmlich den Streit nicht mit dem Ziel, zur unentscheidbaren Antinomie und dadurch einfach zur Suspension des Urteils zu gelangen. Vielmehr folgt auf die Konstruktion der Antinomie, die die dogmatischen Behauptungen ins Wanken bringt, als zweiter Schritt die kritische Auflçsung derselben durch die Unterscheidung von Phaenomena und Noumena. Die Antinomie, der Widerstreit der Gesetze der Vernunft, fhrt schließlich zur Gewissheit und ist damit „der beste Prfungsversuch der Nomothetik“ (B 452). Die Auflçsung der Antinomie ermçglicht dann den berschritt der Vernunft zum Unbedingten in der praktischen Sphre. Ungeachtet der Scepticismus so schdlich ist: so hindert das doch nicht, daß die philosophische Methode etwas, das ungewiß ist zu tractiren, indem ich mich bemhe, die Ungewissheit auf den hçchsten Grad zu treiben, in der Hoffnung, durch dieses Verfahren zuletzt die Spuren der Wahrheit zu entdecken, gut sey. Es ist die suspension des Urtheiles, um zur Gewissheit zu gelangen. Diese methode also, wo wir nicht nur zweifeln an Allem, sondern auch die Ursache des Widerstreites des Verstandes mit sich selbst aufsuchen,
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1 Der Begriff der Dialektik
um dadurch die Wahrheit zu erklren, ist die critische Methode. Wir haben demnach eine dogmatische, sceptische und critische Methode. (V-Lo/Wiener 884 f.) Die critische Methode suspendirt das Urtheil in Hofnung, dazu zu gelangen. (Refl. 2665)
Die dogmatische Denkart bedeutet das blinde Vertrauen auf das Vermçgen der Vernunft und ihre Schlsse. Die skeptische Denkart fhrt dagegen die Maxime des Zweifels ein und erschttert jenes Vertrauen. Die kritische Denkart, die sich die skeptische Methode und die Unentrinnbarkeit der Antinomie zu eigen macht, ermçglicht schließlich die Beurteilung des Vermçgens der Vernunft und die Auflçsung aller Fragen, die sich die Vernunft selbst aufgibt. Die drei Denkarten markieren dabei „drey Stadien“, durch die die menschliche Vernunft durchgehen musste. „Diese Zeitordnung ist in der Natur des menschlichen Erkenntnißvermçgens gegrndet.“ (FM 264; vgl. B 789). Der letzte Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft trgt daher den Titel „Die Geschichte der reinen Vernunft“; diese wird aber an dieser Stelle nicht wirklich ausgefhrt, sondern bleibt eine Aufgabe fr das knftige System (B 880). Als Vertreter der dogmatischen Richtung wird jedenfalls Christian Wolff, als Vertreter der skeptischen David Hume genannt, und die Kritik klingt aus mit der Perspektive des „kritische[n] Weg[s]“, der „allein noch offen“ ist (B 884). Kants Sptschrift ber die Fortschritte der Metaphysik baut dann den Dreischritt in die Struktur des kritischen Projekts selbst ein: Die transzendentale Analytik bedeutet nmlich einen sicheren dogmatischen Fortschritt der Metaphysik als Ontologie. Die Antinomie der transzendentalen Dialektik bedeutet dagegen „den sceptischen Stillstand“ der Vernunft im Versuch, zum Unbedingten fortzuschreiten. Damit ist aber die Antinomie zugleich die Schaltstelle zum dritten Stadium, nmlich zum praktischen berschritt der Vernunft zum Unbedingten (FM 292; vgl. FM 273, 329). In ihrem Kern ist die transzendentale Dialektik die Lehre von der notwendigen Antinomie der Vernunft. Sie ist eine „Antithetik“ (B 448): ein Widerstreit von Behauptungen und den entsprechenden Beweisen „pro und contra“. Diese Beweise verlaufen indirekt (apagogisch), d. h. jeweils durch die berfhrung der Gegenthese ad absurdum (vgl. im Folgenden 4.3). Dabei verteidigt Kant den Eleaten Zenon mit seinen berhmten Antinomien gegen Platons Verdikt, er sei „ein muthwilliger Sophist“ (B 530): Zenon habe nicht einen Satz und sein kontradiktorisches Gegenteil beide leugnen wollen. Es ging nach Kant vielmehr darum, dass zwei Stze, die eine falsche Voraussetzung teilen, nicht kontradiktorisch entgegenge-
1.4 Verhltnis zur Tradition
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setzt sind, sondern zusammen mit ihrer Voraussetzung wegfallen. Dasselbe gilt von den antithetischen Behauptungen der Vernunft in der transzendentalen Dialektik. Platon hatte tatschlich Zenon als den „Eleatischen Palamedes“ bezeichnet: als einen Gaukler, der „durch Kunst so redet, daß den Hçrenden dasselbe hnlich und unhnlich erscheint, eins und vieles, ruhig und bewegt“.25 Aristoteles hatte seinerseits die zenonischen Antinomien als Trugschlsse kritisiert, zugleich jedoch Zenon den Erfinder der Dialektik genannt, wohl wegen der Erfindung des apagogischen Beweises als Methode der Widerlegung.26 Fr Kant ist nun, nach dem Vorigen, die berlieferte Auffassung der Dialektik in erster Linie ihre Auffassung als Disputierkunst, die auf die aristotelische Tradition zurckgeht. Insofern aber diese Kunst vom Inhalt absieht und ber jede Sache zu argumentieren lehrt, luft sie nach Kant notwendig auf die Kunst des Scheins aus. Aber auch die auf Platon und die platonische Tradition zurckgehende Auffassung der Dialektik als reiner Vernunfterkenntnis ist Kant nicht unbekannt. Diese Bedeutung der Dialektik soll vielmehr nach Kant die ursprngliche gewesen sein, und zwar bei den Eleaten. Ihr Grundsatz war der: In den Sinnen ist Tuschung und Schein, nur im Verstand allein ist Wahrheit. […] Jetzt wurde unter Dialektik der reine Verstandes-Gebrauch angedeutet; oder sie bezeichnete das Vermçgen, sich seines Verstandes zu bedienen nach von aller Sinnlichkeit abgesonderten Begriffen. – Daher finden wir so viele Lobeserhebungen derselben bey den Alten; und in diesem Verstande ist sie auch lçblich. Die Philosophen, die jetzt ganz die Sinne verwarfen, mußten nothwendig auf Subtilitten verfallen, und da entstand Dialektik in dem Sinne, wie wir sie nehmen; sie wurde eine Kunst, jeden Satz zu behaupten und zu bestreiten; sie war blos eine bung der Sophisten, Advokaten und Redner. (V-MP- L2/Pçlitz 536 f.; vgl. Log 28)
Die nach Kant ursprngliche Bedeutung der Dialektik ist fr ihn offenbar auch in systematischer Hinsicht relevant. Die transzendentale Dialektik hat es zu tun mit dem „Aufsteigen in der Reihe der Bedingungen bis zum Unbedingten, d. i. zu den Prinzipien“ (B 394). In Platons Politeia bezeichnet die Dialektik das reine Wissen der Vernunft: die Methode des Aufstiegs von den partiellen Voraussetzungen zum unbedingten Grund bzw. Prinzip (1p’ !qwμm !mup|hetom) sowie dann des Abstiegs von dort zu 25 Phaedrus 261d (bers. F. Schleiermacher). 26 Siehe Fr. 65. Vgl. berweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie des Alterthums, 85.
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1 Der Begriff der Dialektik
den niedrigeren Ideen.27 Insofern kann gesagt werden, dass in Kants transzendentaler Dialektik gewissermaßen der negative Begriff der Eristik oder Sophistik auf den platonischen Dialektikbegriff angewandt wird:28 Es ist gerade das Bedrfnis der Vernunft, die Erfahrungserkenntnis um ihrer Begrndung willen zu berschreiten, das in den Schein mndet. Die transzendentalen Vernunftschlsse sind dabei jedenfalls keine bloßen Trugoder Fehlschlsse; ihr Schein ist vielmehr ein notwendiger und unvermeidlicher. Kant will mit seiner Verwendung des Terminus Idee auf Platon anknpfen und lobt ihn fr die vorzglich praktische Bedeutung der Ideen – das unbedingte Prinzip ist ja die Idee des Guten; er kann ihm jedoch in der Mystifizierung und Hypostasierung der Ideen als Anschauungen a priori und Urbilder der Dinge nicht folgen (B 370 ff.; VT 391 ff.). In der theoretischen Philosophie zieht Kant dem Platon den Aristoteles vor – „Die Philosophie des Aristoteles ist dagegen Arbeit“ (VT 393) – und verwendet daher den Terminus Kategorien fr die reinen Verstandesbegriffe, die das sinnliche Material verarbeiten. Die Ideen als reine Vernunftbegriffe sind nach Kant keine Urbilder der Dinge, sondern die termini ad quos der Verarbeitung des sinnlichen Materials zu einer durchgngig zusammenstimmenden Erfahrung.29 Durch die Ideen allein ist damit schließlich berhaupt keine „Erfindung und Erweiterung“ (B 88) der Erkenntnis mçglich; die Ideen erlangen aber doch eine unentbehrliche heuristische Funktion im Rahmen der empirischen Erkenntnis (vgl. im Folgenden 4.3.3; 5.2.2). Kants Konzeption der transzendentalen Dialektik greift nach dem Obigen auf verschiedene traditionelle Bestimmungen der Dialektik zurck. Dabei entwirft aber Kant einen neuen Begriff der Dialektik – als Logik und Kritik des notwendigen Scheins und insbesondere des notwendigen Widerstreits der Vernunft mit sich selbst –, der zu keinem Traditionsstrang direkt in Beziehung steht. Kants neuer Dialektikbegriff ist dann auch entscheidend fr das Verstndnis der Dialektik in der nachkantischen Philosophie: Kant hat die Dialektik hçher gestellt, – und diese Seite gehçrt unter die grçßten seiner Verdienste, – indem er ihr den Schein von Willkhr nahm, den
27 Respublica 510b; 511b f.; 531d ff. 28 Vgl. Picht, Kants Religionsphilosophie, 42 f. 29 Vgl. hierzu Lefvre, „Kants ,Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe‘“, 108.
1.4 Verhltnis zur Tradition
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sie nach der gewçhnlichen Vorstellung hat, und sie als ein nothwendiges Thun der Vernunft darstellte.30
30 Hegel, Wissenschaft der Logik I.1, GW 21, 40. – Zur Bedeutung von Kants transzendentaler Dialektik fr das nachkantische Dialektikverstndnis vgl. Adorno, Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie, 319 ff.; Arndt, „Hegels Transformation der transzendentalen Dialektik“; ders., „Hegels Begriff der Dialektik im Blick auf Kant“; ders., „Figuren der Endlichkeit. Zur Dialektik nach Kant“; ders., Dialektik und Reflexion; Ritsert, Kleines Lehrbuch der Dialektik; Rçd, Dialektische Philosophie der Neuzeit; Stekeler-Weithofer, Art. „Dialektik“; Wolff, Der Begriff des Widerspruchs.
2 Der Bezug auf das Unbedingte Das Empirische in seiner Totalitt ist das Spekulative. Hegel ber Aristoteles laut Feuerbach
2.1 Dialektik und Natur der Vernunft Der transzendentale Schein ist nach Kant im Gegensatz zum Schein der bloßen Trugschlsse eine „natrliche[] und unvermeidliche[] Illusion“ und die transzendentale Dialektik im Gegensatz zur bloß logischen „eine natrliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft“ (B 354). Nach den ersten Worten der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft besteht in dieser Dialektik „das besondere Schicksal“ der endlichen, menschlichen Vernunft: „daß sie durch Fragen belstigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie bersteigen alles Vermçgen der menschlichen Vernunft.“ (A VII). An anderen Stellen spricht Kant von einer „Naturanlage der menschlichen Vernunft“, aus welcher ihre spezifisch metaphysischen Fragen entspringen und von einem „Bedrfniß“ ihrer Natur, das die Vernunft zu solchen die Erfahrung bersteigenden Fragen treibt (Prol § 60; B 21 f.). Wie kçnnen aber diese Fragen und dazu noch der Schein, die Anleitung zur irrtmlichen Antwort, in der Natur der Vernunft liegen? Kant spricht noch von einem „Hang“ der menschlichen Vernunft, die Erfahrungsgrenze zu berschreiten, wodurch sie dem Schein verfllt (B 670, 739, 825). Dabei weiß er in seiner spteren Religionsschrift, wo die Lehre vom „Hang zum Bçsen in der menschlichen Natur“ entwickelt wird, den Hang (propensio) darin „von einer Anlage“ unterschieden, „daß er zwar angeboren sein kann, aber doch nicht als solcher vorgestellt werden darf: sondern […] (wenn er bçse ist) als von dem Menschen selbst sich zugezogen gedacht werden kann.“ (RGV 29). In der Natur der Vernunft liegt ein Hang zu ihrem dialektischen Missbrauch, zu ihrer Verkehrung. „Wir haben einen Hang zu Verderbung der Vernunft“ (Refl 1586).1 Nach 1
Michael Theunissen interpretiert die Natrlichkeit der transzendentalen Dialektik vor einem theologischen Hintergrund: „Die Natrlichkeit des Hangs der Vernunft
2.1 Dialektik und Natur der Vernunft
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einem Hobbesschen Modell soll nun der Naturzustand der Vernunft, wo sie ihrem Hang nachgeht bzw. ihrer Naturanlage undiszipliniert folgt, „dieser blos natrliche Gebrauch einer solchen Anlage unserer Vernunft“ (Prol 362), im durch die Kritik herbeizufhrenden politischen Zustand berwunden werden. Ohne die Kritik ist die Vernunft „im Stande der Natur und kann ihre Behauptungen und Ansprche nicht anders geltend machen oder sichern, als durch Krieg“, was vornehmlich in der Antinomie der reinen Vernunft, ihrer Entzweiung mit sich selbst, zum Ausdruck kommt. Die Kritik der Vernunft „als de[r] wahre[] Gerichtshof fr alle Streitigkeiten derselben“ entblçßt den Schein, bndigt die unmßigen Ansprche der Vernunft, indem sie ihr ihre Grenze aufzeigt, und „verschafft […ihr] die Ruhe eines gesetzlichen Zustandes“ (B 779), den bergang von der Zwietracht, der Despotie und Anarchie zu der „Einstimmung freier Brger“ (B 766). Der Schein verschwindet aber nicht, denn das Bedrfnis der Vernunft wird durch den Nachweis nicht gestillt, dass sie ihre Fragen nicht beantworten kann und daher wohl nicht stellen darf. Die natrliche Dialektik ist eine, „die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhngt und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhçren wird ihr vorzugaukeln und sie unablssig in augenblickliche Verirrungen zu stoßen, die jederzeit gehoben zu werden bedrfen.“ (B 354 f.). Dazu kommt noch, dass die natrliche Dialektik, diese unvermeidbare Verleitung, schließlich auf einen guten Naturzweck angelegt sein soll, dass es fr die Naturanlage der Vernunft noch einen gesunden Gebrauch geben soll, denn: „Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgend einer Absicht gut.“ (B 771; vgl. Prol § 60). Welches Bedrfnis treibt aber die Vernunft ber die Erfahrung hinaus? „[D]as, was uns nothwendig ber die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft […] mit allem Recht zu allem Bedingten […] verlangt.“ (B XX). Es geht um die Begrndung und den Zusammenhang der endlichen, bedingten, empirischen Erkenntnis selbst. Die Dialektik entspringt nach ist die einer zweiten Natur. In ihr meldet sich die Unnatur einer aus der Art geschlagenen Vernunft. Mithin entlarvt der Hang den faktisch erreichten Stand des Menschen als status corruptionis. Endlichkeit arbeitet Kant in die moderne Welt hinein, indem er sie im Gefolge christlicher Theologie zur Verderbtheit steigert.“ („Dialektik der Endlichkeit“, 48). Kant gibt jedoch der Natrlichkeit des Scheins noch eine ganz andere Wendung. Vgl. in diesem Abschnitt weiter unten und insbesondere 5.4. – An einer anderen Stelle spricht Kant noch von den Grenzen der menschlichen Vernunft, von ihrer Endlichkeit, als von ihrem „Erbfehler“ (GTP 180).
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2 Der Bezug auf das Unbedingte
Kant daraus, dass „die Erfahrung sich selbst und der Vernunft nicht zureichend sey, sondern immer weiter und also von sich abweise“ (Refl 5938). Anders als die Rede von Naturanlage und Hang nahe legt, bedeutet die Natur der Vernunft, die sie vom Bedingten auf das Unbedingte und zur Dialektik treibt, fr Kant keinen angeborenen Drang zu bersinnlichen Welten, keinen unhinterfragbaren Trieb, die metaphysischen Gegenstnde (Gott, Seele, Welt) zu denken. Die Naturanlage der Vernunft soll keinen spezifisch metaphysischen Instinkt bezeichnen: sie meint berhaupt kein psychologisches Faktum. Dagegen ergibt sich der Zwang fr die Vernunft, zum Unbedingten aufzusteigen, und folglich die Notwendigkeit der Dialektik aus einer logischen Struktur, in welcher eben die Natur der Vernunft besteht: der Struktur des Schlusses. Diese Struktur gilt es nun deshalb nher zu betrachten anhand der einschlgigen Passagen, nmlich des Teils II der Einleitung („Von der reinen Vernunft als dem Sitze des transzendentalen Scheins“) und des ersten Buches („Von den Begriffen der reinen Vernunft“) der transzendentalen Dialektik.
2.2 Der Schluss auf die Totalitt Im vorigen Kapitel wurden die historischen Ursprnge des Kantischen Gliederungspaars Analytik/Dialektik diskutiert. In die Einteilung der transzendentalen Logik in eine Analytik und eine Dialektik baut Kant nun noch ein die Struktur Begriff/Urteil/Schluss. Diese letztere Gliederung ist ebenfalls aristotelischen Ursprungs. Sie erinnert nmlich an die Einteilung des Organon in die Schriften Kategorien/Vom Satz/Analytik. Zu den Momenten des Begriffs, des Urteils und des Schlusses korrespondiert aber bei Kant die Hierarchie der oberen Erkenntnisvermçgen: Verstand/Urteilskraft/Vernunft. Begriff, Urteil und Schluss werden nmlich als Handlungen des Geistes (operationes mentis; operations bzw. actions de l’esprit) verstanden, womit die Gliederung auf die spezifisch neuzeitliche, antiaristotelische, cartesianische Tradition der Logik hinweist. Diese Anlehnung betrifft nicht nur die Gliederung der transzendentalen Logik nach dem Schema Begriff/Urteil/Schluss. Vielmehr entspricht der Aufbau der gesamten Kritik der reinen Vernunft: sthetik/Analytik/Dialektik/Methodenlehre der Gliederung der Logik von Port Royal: Apprehension(Begriff )/ Urteil/Schluss/Methode.2 Anders als noch bei Christian Wolff und in der 2
Arnauld/Nicole, La Logique ou l’Art de Penser, 37 f. Die Einteilung Elementarlehre/ Methodenlehre fhrt Kant ein in Entsprechung sowie Abgrenzung zur schullo-
2.2 Der Schluss auf die Totalitt
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Schulphilosophie wird aber eben bei Kant der Begriff nicht als apprehensio simplex dem Urteil vorangestellt.3 Die Begriffe des Verstandes stehen nmlich nicht außerhalb von Urteilen: „Von [seinen] Begriffen kann […] der Verstand keinen andern Gebrauch machen, als daß er dadurch urtheilt“ (B 93). So werden in der Analytik die reinen Verstandesbegriffe gerade anhand der Funktionen des Urteilens gewonnen. Das Moment der Apprehension wird somit bei Kant zur transzendentalen sthetik gerckt. Diese wird der transzendentalen Logik vorangestellt als die Behandlung des unteren, rezeptiven, sinnlichen Erkenntnisvermçgens, welches das logisch zu bearbeitende Material liefert. Was nun aber die transzendentale Logik betrifft, so wird die Gliederung nach dem Schema Begriff/Urteil/Schluss dadurch in ihre Einteilung eingebettet, dass die transzendentale Analytik aus zwei Bchern besteht: das erste trgt den Titel der „Analytik der Begriffe“ (B 90 ff.) und behandelt die reinen Begriffe des Verstandes, whrend das zweite Buch unter dem Titel der „Analytik der Grundstze“ (B 169 ff.) die Lehre von der transzendentalen Urteilskraft und von den transzendentalen synthetischen Urteilen a priori enthlt. Die transzendentale Dialektik, die darauf folgt, ist die Lehre von der Vernunft, der die logische Form des Schlusses zukommt. 2.2.1 Formaler und transzendentaler Vernunftgebrauch In ihrem formalen, logischen Gebrauch ist nmlich die Vernunft im engeren Sinne das Vermçgen zu schließen, Urteile aus anderen herzuleiten. Insbesondere ist sie das Vermçgen, mittelbar zu schließen, einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Urteilen herzustellen. Die unmittelbaren Schlsse, durch bloße Umkehrung von Urteilen (z. B. ,Einige Menschen sind sterblich‘ ! ,Einige Sterbliche sind Menschen‘), wobei der Schlusssatz nichts enthlt, was im Vordersatz nicht schon vorhanden war, werden dagegen dem Verstand zugeschrieben (vgl. B 355, 360, 386; Log §§ 41 f.). In einem Vernunftschluss wird dagegen ein Zwischenurteil gefordert. „Den Satz: Cajus ist sterblich, kçnnte ich auch bloß durch den Verstand aus der
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gischen Einteilung theoretische/praktische Logik. Vgl. etwa V-Lo/Dohna 700, 779. Vgl. hierzu Conrad, Kants Logikvorlesungen, 75 ff. – Die Struktur Begriff/ Urteil/Schluss/Methode kann man auch auf Aristoteles’ Organon zurckbeziehen, denn zu den genannten Schriften Kategorien/Vom Satz/Erste Analytik kommt als Abhandlung zur wissenschaftlichen Methode die Zweite Analytik (Analytica posteriora) hinzu. Vgl. Michael Wolff, Die Vollstndigkeit der kantischen Urteilstafel, 23, 75, 88.
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2 Der Bezug auf das Unbedingte
Erfahrung schçpfen“ (B 378). Indem ich aber nach einer allgemeinen Bedingung der Verbindung des Subjekts mit dem Prdikat frage, komme ich auf den Begriff des Menschen: Cajus, als ein Mensch, ist sterblich. Diese Bedingung „in ihrem ganzen Umfange genommen“ (ebd.) ergibt die allgemeine Regel: Alle Menschen sind sterblich. Vermittelst der Subsumtion von Cajus unter die Bedingung kann ich nun meinen Satz aus der allgemeinen Regel herleiten. Die Herleitung der Folgerung aus dem Obersatz (Regel) zielt, wohlgemerkt, nicht auf die Einsicht in ihre Wahrheit. Sie zielt vielmehr erstens auf die Begrndung ihrer Notwendigkeit durch das Aufzeigen ihrer notwendigen Verknpfung mit der allgemeinen Regel: „nach [der Schlussfolge ist] die Wahrheit des letzteren unausbleiblich mit der Wahrheit des ersteren verknpft.“ (B 360) [Hervorhebung J. P.]. Sie zielt noch vor allem auf das Aufzeigen des Zusammenhangs des Satzes mit anderen Erkenntnissen, die sich aus derselben allgemeinen Regel, „die auch fr andere Gegenstnde der Erkenntniß gilt“, folgern ließen (B 361). Kant spricht die Erkenntnis der allgemeinen Regel (,Alle Menschen sind sterblich‘: Obersatz, propositio maior) dem Verstande zu – als dem „Vermçgen der Erkenntniß des Allgemeinen“ –, die Subsumtion unter die Bedingung der Regel (,Cajus ist ein Mensch‘: Untersatz, propositio minor) der Urteilskraft – dem „Vermçgen der Subsumtion des Besondern unter das Allgemeine“ – und die Bestimmung des Satzes durch die Regel (,Cajus ist sterblich‘: Schlusssatz, conclusio) der Vernunft – dem „Vermçgen der Bestimmung des Besonderen durch das Allgemeine (der Ableitung von Principien)“ (EEKU 201; vgl. B 360 f ).4 Es ist also die logische Funktion der Vernunft, ihre Natur, die bedingten Erkenntnisse nach ihren Bedingungen zu hinterfragen und dadurch auf hçhere Bedingungen zu fundieren. Dabei stellt sich bei jedem erreichten Grund von neuem die Frage nach seiner Bedingung. Jede ereichte „allgemeine Regel (Obersatz) […ist] wiederum eben demselben Versuche der Vernunft ausgesetzt […] und dadurch [muß] die Bedingung der Bedingung (vermittelst eines Prosyllogismus) gesucht werden […], so lange es angeht“ (B 364). Die Vernunft gert – von ihrer Natur dazu ge-
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In der Dreiteilung des oberen Erkenntnisvermçgens erkennt man dabei die drei „Momente des Denkens“ (B 101), welche die Kategorien der Modalitt beschreiben: Mçglichkeit, Wirklichkeit und (der Vernunft eigene) Notwendigkeit (vgl. B 100 Anm.).
2.2 Der Schluss auf die Totalitt
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trieben5 – in einen Regress, als eine Suche nach dem Unbedingten, zunchst im logischen Sinne einer unbedingten Gltigkeit von Stzen, aus denen als ihren Grnden dann die bedingten, zunchst zuflligen und verstreuten, Erkenntnisse (Urteile) in ihrem notwendigen Zusammenhang zu erkennen wren.6 In ihrem formalen, logischen Gebrauch sucht demnach „die Vernunft im Schließen die große Mannigfaltigkeit der Erkenntnis des Verstandes auf die kleinste Zahl der Prinzipien (allgemeiner Bedingungen) zu bringen und dadurch die hçchste Einheit derselben zu bewirken“ (B 361). Dabei lautet ihr Grundsatz: „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird“ (B 364). Nach dem Obigen ist „ein jeder Vernunftschluß eine Form der Ableitung einer Erkenntniß aus einem Princip.“ (B 357). In der Bestimmung der Vernunft als „Vermçgen der Principien“ im Gegensatz zum Verstand als dem „Vermçgen der Regeln“ findet Kant auch den „hçhere[n] Begriff“ von der Vernunft, der ihre Gabelung einerseits in ein „logisches“ und andererseits in ein „transscendentales Vermçgen […] unter sich befaßt“ (B 356). Im Gegensatz zur Verstandeseinheit vermittelst der Regeln bezieht sich die Vernunfteinheit unter Prinzipien auf die Verstandeserkenntnis selbst: „so ist die Vernunft das Vermçgen der Einheit der Verstandesregeln unter Principien.“ (B 359). Der Vernunft eigen ist die „Erkenntniß aus Principien […], da ich das Besondre im Allgemeinen durch Begriffe erkenne“ (B 357). Als ein „Principium“ im eigentlichen Sinne kann dabei eben nicht jeder vom Verstand aufgestellte allgemeine Satz (Regel) gelten, der als Obersatz in einem Schluss und daher im weiten Sinne als ein Prinzip fungieren kann. So stehen noch die Prinzipien der Mathematik, die „mathematischen Axiomen“, unter den Bedingungen der Konstruktion in der reinen Anschauung und die transzendentalen Grundstze des reinen Verstandes (die keine bestimmenden Stze sind, sondern nur Regeln der Synthesis empirischer Anschauungen) unter den sinnlichen „Bedingungen der mçglichen Erfahrung berhaupt“ (vgl. weiter unten 2.3). Nur den (unbedingten) „[s]ynthetische[n] Erkenntnisse[n] aus Begriffen“ (B 356) der Vernunft gebhrt dagegen der Ehrenname eines Prinzips schlechthin, wenn allerdings solche Erkenntnisse mçglich sein sollten. Die allgemeine Bestim5 6
Die Vernunft „steigt […] (wie es auch ihre Natur mit sich bringt) immer hçher, zu entfernteren Bedingungen.“ (A VII). Es geht hier, wohlgemerkt, um die reale Gegenstandserkenntnis. Analytische Urteile werden freilich auf identische Stze zurckgefhrt; mathematische Stze auf Axiome und Definitionen.
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2 Der Bezug auf das Unbedingte
mung der Vernunft als des Vermçgens der Prinzipien umfasst schließlich noch den praktischen Gebrauch der Vernunft, die Bestimmung der Handlung aus „moralische[n] Vernunftprincipien“. Ausschließlich in ihrem praktischen Gebrauch, zu dem die Vernunft, angeleitet durch ihr Scheitern im Theoretischen, bergeht, haben dann „die Principien der reinen Vernunft […] objective Realitt.“ (B 835 f.; vgl. im Folgenden 5.3). Die diskutierte Beschreibung eines Vernunftschlusses beschrnkt nun Kant nicht auf kategorische Schlsse. Vielmehr fasst er kategorische, hypothetische und disjunktive Schlsse zusammen unter der Bestimmung des Schlusses als der „Erkenntnis der Notwendigkeit eines Satzes durch die Subsumtion seiner Bedingung unter eine gegebene allgemeine Regel“ (Logik § 56; vgl. Refl 3196, 3198). Die dreifache Einteilung der Vernunftschlsse ergibt sich aus den drei Mçglichkeiten der Bildung der allgemeinen Regel, des Obersatzes, entsprechend den drei mçglichen „Verhltnisse[n] des Denkens in Urtheilen […] a) des Prdicats zum Subject, b) des Grundes zur Folge, c) der eingetheilten Erkenntniß und der gesammleten Glieder der Eintheilung unter einander.“ (B 98; vgl. B 361; vgl. Log §§ 60 f.).7 Im kategorischen Schluss ist die Bedingung des Satzes 7
Diese Bestimmung des Schlusses und folglich die Einteilung der Schlsse ist originell kantisch. Lambert behandelt die kategorischen Schlsse als einfache und die bedingten, kopulativen und disjunktiven als zusammengesetzte. Bedingte nennt er die hypothetischen Schlsse (Neues Organon I, Dianoiologie, §§ 262 ff.). Als zusammengesetzte Schlsse behandelt er auch die Schlussketten, und zwar nur kategorische der 1. Figur (ebd. § 296, §§ 300 ff.). Auch Meier kennt hypothetische (bedingte) und disjunktive Schlsse, bringt sie aber nicht unter den gemeinsamen Nenner Bedingtes-Bedingung (Auszug aus der Vernunftlehre, §§ 392 ff.). Kant richtet sich gegen die Logiker, die hypothetische und disjunktive Schlsse fr außerordentlich halten (vgl. B 141 Anm.; Log § 60). Dazu, dass nicht nur die hypothetischen, sondern alle Schlsse unter das Schema der Verbindung des Bedingten zu seiner Bedingung zu bringen sind, vgl. Refl 5553: „Der bedingte Vernunftschlus heißt uneigentlich so, denn es sind mehr Bedingungen der Urtheile als blos der Grund in ansehung der Folge (conditio conseqventiae). Es giebt auch eine condition der inhaerentz etc etc.“ Die Gruppierung der kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Urteile unter den gemeinsamen Titel der Relation findet sich ebenfalls nicht bei Kants Vorgngern. Nach Batrice Longuenesse ist gerade deren Funktion als der mçglichen Formen der Oberstze in Schlssen, welche diese Formen auszeichnet und Kant zu dieser Gruppierung motiviert. Vgl. Longuenesse, Kant and the Capacity to Judge, 98 f. – Die Behandlung des hypothetischen Schlusses als uneigentlichen Vernunftschlusses, die Jsche in der von ihm herausgegebenen Logik Kants wiedergibt (Log § 75), entspricht keineswegs der reifen Ansicht Kants und steht sogar im Widerspruch zum § 60. Vgl. hierzu Steckelmacher, Die formale Logik Kant’s in ihren Beziehungen zur transcendentalen, 88 f.
2.2 Der Schluss auf die Totalitt
39
das Satzsubjekt (S), das unter die Bedingung der Regel (M) subsumiert wird. Im hypothetischen Schluss ist die Bedingung das antecedens der Regel (a), whrend sie im disjunktiven Schluss das Ganze der Disjunktion, der eingeteilte Oberbegriff (A), ist.8 Obersatz Untersatz
M ist P S ist M
Schlusssatz S ist P
a!b a
A ist B oder C (umfasst B und C) S (ein A) ist nicht C
b
S (ein A) ist B
Drei Mçglichkeiten ergeben sich daher auch fr die Bildung der aufsteigenden Reihe von Prosyllogismen (B 364, 388 f.), wobei das fr die jeweilige Schlussart charakteristische Verhltnis auch zwischen zwei aufeinander folgenden Gliedern der Reihe (Bedingungen) besteht.9 S – M – M1 – M2 – … – P …!a2 !a1!a!b … – (B{C){D – B{C – B
Dreifach gliedert sich dann auch der Begriff des Unbedingten, als des gedachten Abschlusses des Regresses. Dieser wre nmlich in den drei Fllen resp. (a) ein „Subjekt, welches selbst nicht mehr Prdikat ist“, (b) eine „Voraussetzung, welche selbst nichts mehr voraussetzt“ und (c) „ein Aggregat der Glieder der [vollendeten] Einteilung […] eines Begriffs“ (B 379 f.). Formallogisch kann aber ein solcher Abschluss nicht bestimmt werden. Der formale, logische Gebrauch der Vernunft kann es nur bis zur „bloß logische[n] Vorschrift“ (B 365) eines unbestimmten Aufsteigens zu immer hçheren Bedingungen bringen, zu immer weiteren Voraussetzungen, hçheren Gliedern usw.10 Die logische Reihe kann von sich aus nicht als ab8 Die Weise, wie sich Kant den disjunktiven Schluss vorstellt, ergibt sich aus B 604 f. – Fr den Fall der hypothetischen Schlsse, der bedingten Schlsse nach der Terminologie von Lambert, bemerkt Kant, dass – anders als bei der generellen Beschreibung, die zu kategorischen Schlssen passt – der Regress vom Untersatz seinen Ausgang nimmt, d. h. der jedes Mal erreichte Grund unter Beweis steht: „eben so bey bedingten schlssen, da aber beweiset der prosyllogism die minorem“ (Refl 5553). 9 Kant nennt dieses Verhltnis den „Exponent[en]“ der Reihe, B 387. Zu Kants Heranziehung des mathematischen Begriffs des Exponenten zur Charakterisierung der Relationskategorien und zu den Grundstzen des Verstandes als „Principien der Exposition der Erscheinungen“ (B 303) vgl. Schulthess, Relation und Funktion, 247 ff. Schulthess versucht, fr den prosyllogistischen Regress der transzendentalen Dialektik eine Beziehung zum mathematischen Reihenbegriff, zu den transzendenten Funktionen in der Mathematik und folglich einen mathematischen Ursprung des Begriffs der Transzendenz aufzuzeigen. Vgl. ebd. 308 f. 10 Vgl. B 526: „Dieser Satz ist also analytisch und erhebt sich ber alle Furcht vor einer transscendentalen Kritik. Er ist ein logisches Postulat der Vernunft: diejenige
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2 Der Bezug auf das Unbedingte
geschlossen gedacht werden, denn analytisch bezieht sich jedes Bedingte nur „auf irgend eine Bedingung, aber nicht aufs Unbedingte“ (B 364). Der Bezug auf das Unbedingte wird dagegen nur durch einen synthetischen Satz hergestellt, der nicht bloß die Form, sondern den Inhalt, somit nicht bloß den logischen Zusammenhang der Erkenntnisse, sondern dessen reale Voraussetzung, nmlich die Gegenstnde selbst und ihren Zusammenhang, betrifft. Die bloß logische Vorschrift, die Forderung der Vernunft nach Zusammenhang der Verstandeserkenntnis […] schreibt den Objecten kein Gesetz vor, und enthlt nicht den Grund der Mçglichkeit, sie als solche berhaupt zu erkennen und zu bestimmen; sondern ist bloß ein subjectives Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrathe unseres Verstandes durch Vergleichung seiner Begriffe den allgemeinen Gebrauch derselben auf die kleinstmçgliche Zahl derselben zu bringen, ohne daß man deswegen von den Gegenstnden selbst eine solche Einhelligkeit, die der Gemchlichkeit und Ausbreitung unseres Verstandes Vorschub thue, zu fordern und jener Maxime zugleich objective Gltigkeit zu geben berechtigt wre. (B 362 f.)
Dagegen lautet das „Principium der reinen Vernunft“, das die Reihe auf das Unbedingte bezieht: wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknpfung enthalten).“ (B 364) [Hervorhebung J. P.]
Im Gegensatz zur analytischen, logischen Vorschrift geht also das synthetische Prinzip auf die Objekte selbst und ihren Zusammenhang. Damit begibt sich die Vernunft auf das Terrain der transzendentalen Logik (vgl. im Vorigen 1.2.1). Sollte die Vernunft jenseits ihres formalen, logischen Gebrauchs auch noch einen objektiv gltigen „reinen“ (B 362) bzw. „realen“ (B 355) bzw. „transscendentalen“ (B 386) Gebrauch haben, sollte sie die Quelle von synthetischen Erkenntnissen a priori von Gegenstnden sein, so ist ihr grundlegendes solches Prinzip eben „jener Grundsatz: daß sich die Reihe der Bedingungen […] bis zum Unbedingten erstrecke“ (B 365). ber die abstrakte bereinstimmung des Verstandes mit sich nach formallogischen Prinzipien sowie ber die immer noch formale bereinstimmung des Verstandes mit sich nach seinen transzendentalen Grundstzen (Regeln) hinaus, geht der transzendentale Vernunftgebrauch auf die absolute Einheit und damit auf die inhaltliche, durchgngige „ZusamVerknpfung eines Begriffs mit seinen Bedingungen durch den Verstand zu verfolgen und so weit als mçglich fortzusetzen, die schon dem Begriffe selbst anhngt“.
2.2 Der Schluss auf die Totalitt
41
menstimmung“ des Verstandesgebrauchs mit sich selbst (B 730; vgl. B 380, 694). In seinem realen Gebrauch, als transzendentales Vermçgen, bezieht sich der Verstand a priori auf die Gegenstnde der Erfahrung, auf die Synthesis der Anschauungen. Er bewirkt nach seinen transzendentalen Regeln a priori Einheit und durchgngigen Zusammenhang in der reinen Synthesis der Anschauungen. Als empirischer Verstand ist er der Ursprung der mannigfaltigen Regeln der empirischen Synthesis. Im Unterschied zum Verstand, der sich direkt auf die Anschauungen bezieht, kann sich aber die Vernunft nur auf die Regeln des Verstandes selbst beziehen – auf die transzendentalen (apriorischen) sowie die durch diese unbestimmten empirischen –, um ihren Zusammenhang und Einheit unter Prinzipien anzustreben. „Der Verstand macht fr die Vernunft ebenso einen Gegenstand aus als die Sinnlichkeit fr den Verstand“ (B 692). Ist die „Verstandeseinheit“ die Einheit der Gegenstnde der Erfahrung vermittelst der Regeln, so soll dagegen die „Vernunfteinheit“ unter Prinzipien die Einheit der Verstandesregeln selbst sein (B 359, 363, 383). Die Vernunft sucht die Verstandeserkenntnis selbst zu einem „systematischen Ganzen“ (B 825) zu ordnen; ihr Ziel ist „das Systematische der Erkenntnis, d. i. der Zusammenhang derselben aus einem Princip“ (B 673).11 Sollte die Vernunft dabei etwas mehr leisten, als sich nur bemhen, die mannigfaltige Verstandeserkenntnis durch Schlsse bzw. Unterordnungen von Begriffen und Urteilen untereinander unter eine hçhere Einheit, unter die logische Form des Systems, zu bringen, sollte sie sich nmlich wirklich als ein transzendentales Vermçgen erweisen, als der Ursprung von Begriffen, die a priori eine unbedingte Einheit der Erkenntnis und ihrer Gegenstnde verbrgen, so wird erwartet, dass die formallogische Funktion der Vernunft in Schlssen zu der Entdeckung dieser transzendentalen Vernunftbegriffe fhren wird. Da sich diese als Vernunftbegriffe nicht direkt auf Anschauungen beziehen kçnnen, kçnnen sie nur Begriffe aus reinen Begriffen sein und sollen transzendentale Ideen heißen (B 366 f.). Nach der Analogie zu der Weise wie im ersten Teil der transzendentalen Logik, in der Analytik, die Tafel der logischen Funktionen des Verstandes in Urteilen den Leitfaden zur Entdeckung der transzendentalen Verstandesbegriffe (Kategorien) anbot (B 91 f., 104 f.), wird also auch im zweiten Teil, in der Dialektik, erwartet, dass der logische Gebrauch der Vernunft den „Schlssel“ abgibt zu ihrem realen, transzendentalen Gebrauch (B 356; 11 Vgl. B 676: „die systematische oder Vernunfteinheit der mannigfaltigen Verstandeserkenntnis“. Zum Begriff des Systems vgl. im Folgenden 5.4.
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2 Der Bezug auf das Unbedingte
vgl. B 377 f., Refl 5555). Nicht anders als in der Analytik ist aber das Verhltnis eher so zu verstehen, dass wiederum der reale Gebrauch dem logischen Gebrauch erst Halt gibt. Die unbestimmte Suche im prosyllogistischen Regress ist angewiesen auf die richtungweisende Idee des Unbedingten. Der Grundsatz des logischen Gebrauchs, die bloße Maxime, „zum Bedingten das Unbedingte zu finden“, ist angewiesen auf den synthetischen Grundsatz, auf das „Principium der reinen Vernunft“, das eigentlich den Begriff des Unbedingten berhaupt erst liefert. Die logische Maxime beruht auf dem Prinzip, wenn auch dieses Prinzip in der Folge als nicht objektiv gltig und als die Quelle des Scheins sich erweist. Der Grundsatz der reinen Vernunft: alles bedingte Erkenntnis steht nicht allein unter Bedingungen, sondern endlich unter solchen, die selbst unbedingt sein, mag eine bloße Petition oder ein Postulat seyn (welches wir noch nicht entscheiden wollen): so ist es doch wenigstens der Grund aller Anwendung der Vernunft, dem wir uns wenigstens nhern. (Refl 5553)
In der Analytik wurden die Kategorien als modi der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung bestimmt, die aus denselben Funktionen des Verstandes entspringen, durch welche die analytische Einheit in einem Urteil zustande kommt (B 104 f.; vgl. im Vorigen 1.2.1). Im Schließen besteht die Funktion der Vernunft in der „Allgemeinheit der Erkenntnis nach Begriffen“. Sie strebt an, das Besondere aus dem Allgemeinen (vgl. B 674; EEKU 201) zu bestimmen, d. h. aus fundamentalen allgemeinen Regeln, die den ganzen Umfang der bedingenden Begriffe erfassen. Aus dem allgemeinen Urteil „Alle Menschen sind sterblich“ wird geschlossen auf das einzelne Urteil „Cajus ist sterblich“: Demnach restringiren wir in der Conclusion eines Vernunftschlusses ein Prdicat auf einen gewissen Gegenstand, nachdem wir es vorher in dem Obersatz in seinem ganzen Umfange unter einer gewissen Bedingung gedacht haben. Diese vollendete Grçße des Umfanges in Beziehung auf eine solche Bedingung heißt die Allgemeinheit (Universalitas). Dieser entspricht in der Synthesis der Anschauungen die Allheit (Universitas) oder Totalitt der Bedingungen. Also ist der transscendentale Vernunftbegriff kein anderer, als der von der Totalitt der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Da nun das Unbedingte allein die Totalitt der Bedingungen mçglich macht, und umgekehrt die Totalitt der Bedingungen jederzeit selbst unbedingt ist: so kann ein reiner Vernunftbegriff berhaupt durch den Begriff des Unbedingten, sofern er einen Grund der Synthesis des Bedingten enthlt, erklrt werden. (B 378 f.)
Die hier behauptete Entsprechung von analytischer Allgemeinheit (universalitas) und synthetischer Totalitt (universitas) ist interpretationsbedrftig. Der analytischen Allgemeinheit unter einem Begriff (Alle Men-
2.2 Der Schluss auf die Totalitt
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schen) entspricht nicht etwa die synthetische Allheit oder Totalitt im Sinne des ganzen Umfangs dieses Begriffs (Alle Menschen). Im angefhrten Zitat wird die „vollendete Grçße des Umfangs“ einer Bedingung explizit auf die analytische Allgemeinheit bezogen, whrend die synthetische Allheit alle Bedingungen, die „Totalitt der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten“, meint. Beim Schulbeispiel des Schlusses, das Kant verwendet, wre diese Totalitt die Totalitt der Bedingungen des Lebens und Sterbens des konkreten Individuums Cajus. Diese Totalitt der Bedingungen wre in der Tat schließlich erforderlich, um das Urteil „Cajus ist sterblich“ aus der Erfahrung und doch ber alle Zuflligkeit hinweg schçpfen zu kçnnen. In diesem Sinne entspricht die Totalitt der Bedingungen auf der einen Seite, „in der Synthesis der Anschauungen“, der analytischen, formalen Allgemeinheit auf der anderen Seite, d. h. wenn das Urteil nicht direkt aus der Erfahrung, sondern aus einer allgemeinen Bedingung, der Sterblichkeit aller Menschen, hergeleitet werden soll. Diese berlegung wirft vielleicht auch ein Licht auf die Tatsache, dass, wenn man die Reihenfolge in den entsprechenden Tafeln ernst nimmt, zur Allheit als Kategorie unter den Urteilsfunktionen nicht diejenige des allgemeinen, sondern die des einzelnen, des singulren Urteils korrespondiert. Die Kategorien sind nmlich „Begriffe von einem Gegenstande berhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Functionen zu Urtheilen als bestimmt angesehen wird.“ (B 128; vgl. im Vorigen 1.2.1). In Ansehung der Funktion des allgemeinen Urteils ist nun die Anschauung eines Gegenstandes unter der Kategorie der Einheit bestimmt: jeder Gegenstand wird als bloß eine Instanz des allgemeinen Begriffs gedacht; dazu ist keine konkrete Vorstellung aller besonderen Gegenstnde, die zum Umfang des Begriffs gehçren, nçtig. Das einzelne Urteil ist dagegen angewiesen auf die durchgngige, vollstndige Bestimmung der Anschauung von einem individuellen Gegenstand in Abhebung von jedem anderen und dafr kann die Kategorie der Allheit (Totalitt) stehen.12 12 Mehrere Interpreten sind der Ansicht, dass die Kategorie der Allheit dem allgemeinen Urteil entspricht sowie dann die Kategorie der Einheit dem einzelnen Urteil. Die Reihenfolge in den Tafeln, die auf die entgegengesetzte Zuordnung schließen lsst, ist nach dieser Lesart einfach irrefhrend. So Frede/Krger, „ber die Zuordnung der Quantitten des Urteils und der Kategorien der Grçße bei Kant“; Longuenesse, Kant and the Capacity to Judge, 248 f. Vgl. dagegen Thompson, „Unity, Plurality and Totality as Kantian Categories“; Heinrich, tertium datur, 206 ff.
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2 Der Bezug auf das Unbedingte
Die Form des einzelnen und die des unendlichen Urteils sind nun die beiden Formen, die „in der transscendentalen Tafel aller Momente des Denkens in Urtheilen nicht bergangen werden“ drfen (B 98), obwohl in der formalen Logik, insofern diese als Kalkl genommen wird und sich auf die Ableitbarkeitsbeziehungen zwischen Urteilen in Schlssen, d. h. auf die bloßen Subordinationsbeziehungen zwischen den Begriffen, beschrnkt, die einzelnen Urteile wie die allgemeinen und die unendlichen wie die bejahenden behandelt werden. Nach Batrice Longuenesse both singular and infinite judgements, considered in their relation to sensibility (in which capacity alone are they the sources of the categories) refer concepts to what is beyond discursive capacity: the singular intuition in the first case, the whole of experience in the second […] [T]hey outline, at the extremes of discursive thought –the singular intuition, the whole of experience – the limits of discursive thought.13
Dazu wre aber dann noch zu bemerken, dass auch das einzelne Urteil den Verweis auf das Ganze der Erfahrung und auf das Problem der Dialektik enthlt. Die Grenzen des Diskursiven nach unten und nach oben, das Problem des Individuellen und das Problem der Totalitt, konvergieren.14 Die Begriffe vom Unbedingten sind also jeweils Begriffe von der „Totalitt der Synthesis der Bedingungen, zu einem gegebenen Bedingten“ (A 396), zu der gegebenen bedingten einzelnen Erkenntnis. In Bezug auf die „aufsteigende[n]“ („per prosyllogismos“) (B 388) logischen Reihen der Bedingungen ist das Unbedingte jedes Mal als das reale Substrat zu denken, das ihren Abschluss ermçglichen wrde. Da sich die Vernunft nicht direkt auf die Gegenstnde der Erfahrung beziehen kann, sondern nur auf die Begriffe des Verstandes, ist dieses synthetische Pendant zur logischen Funktion der Vernunft nur vermittelst der reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) und der Synthesis, die in ihnen vorgestellt wird, zu denken. Die unbedingte synthetische Einheit in der Idee kann sich nur beziehen auf die synthetische Einheit der Anschauungen in der Kategorie. Zu den drei mçglichen Verhltnissen des Denkens in Urteilen und folglich in den Schlussreihen entsprechen nun die Kategorien der Relation, des Verhltnisses (Substanz-Akzidenz, Ursache-Wirkung, Wechselwirkung in einem Ganzen). „Die Verhltnisbegriffe aber sind nichts anders als die Einheit des Bedingten und seiner Bedingung, und die Vernunft steigert dieses Verhaltnis nur bis zur Bedingung, die selbst unbedingt ist.“ (Refl 5553). „Der Begrif von der totalitaet der Synthesis nach den categorien des Verhaltnisses 13 Longuenesse, Kant and the Capacity to Judge, 139. 14 Zu dieser Konvergenz vgl. Lukcs, Geschichte und Klassenbewußtsein, 126 ff.
2.2 Der Schluss auf die Totalitt
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ist der reine Vernunftbegrif.“ (Refl 5555; vgl. B 379, 392). Zu suchen seien „also erstlich ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis in einem Subject, zweitens der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe, drittens der disjunctiven Synthesis der Theile in einem System“ (B 379). 2.2.2 Die drei Titel der transzendentalen Ideen (a) Eine Kette hypothetischer Prosyllogismen soll bei einer „Voraussetzung, die selbst nichts mehr voraussetzt“ enden. Die Synthesis der Anschauungen nach der Kategorie der Ursache und Wirkung kennt jedoch keinen Abbruch. Die reale Kette kann im Prinzip endlos fortgesetzt werden. Die Totalitt oder Vollstndigkeit der Reihe der Bedingungen erfordert aber eine erste Ursache, einen ersten Anfang. Der transzendentale Grundsatz der Vernunft ist in sich entzweit. Hierin liegt, wie im Folgenden ausfhrlich dargestellt wird (4.3.1), der Ursprung der Antithetik der reinen Vernunft.15 Auf der einen Seite muss die Reihe „unendlich, und gleichwohl ganz gegeben“ (B 445) sein; auf der anderen Seite muss (da darin ein Widerspruch liegt) die Reihe endlich sein, einen ersten Anfang enthalten. Dabei ist die Kategorie der Kausalitt eigentlich nicht die einzige, die eine Ordnungsrelation fr Reihen der Erscheinungen liefert. Die Synthesis der Glieder einer Reihe in den Erscheinungen kann außer der dynamischen Synthesis in Kausalketten auch noch die mathematische Synthesis der Erscheinungen in Reihen der Zusammensetzung sowie der Teilung bedeuten. Die Antithetik der Vernunft entfaltet sich im Bereich der Kosmologie, denn die Ideen, die hier entstehen, betreffen die „absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung“ und fallen unter dem Titel der Welt als des „Inbegriff[s] aller Erscheinungen“ (B 391). Das „mathematische Ganze“ der Zusammensetzung aller Erscheinungen, nennt Kant dann im Antinomiekapitel in engerer Bedeutung Welt, whrend er diese Welt als „dynamisches Ganzes“ Natur nennt (B 446). Es ergeben sich vier 15 Es sind keineswegs der logische und der transzendentale Grundsatz der Vernunft, die in der Antinomie einander widerstreiten und die sich dann als regulative gegenseitig ergnzen, wie Stephan Schmauke meint (,Wohlthtigste Verirrung‘, 45). Die logische Maxime fr sich betrachtet gibt nmlich keineswegs „die Anweisung, bei keiner gewonnenen Erkenntnis stehenzubleiben“ (ebd.), sondern nur fortzuschreiten, „so lange es angeht“ (B 364). Ein logischer Regress als solcher kann ja durchaus zu identischen Stzen fhren oder zu Axiomen wie in der Mathematik. Zur regulativen Funktion des in sich gespaltenen transzendentalen Grundsatzes der Vernunft siehe im Folgenden 4.3.3.
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2 Der Bezug auf das Unbedingte
Antinomien nach den vier Titeln der Kategorien. Dabei tritt eigentlich in der zweiten Antinomie – in der Behauptung von den einfachen Substanzen im Gegensatz zur unendlichen Teilbarkeit der Materie – noch einmal das Problem der rationalen Psychologie, der Seele, auf, ebenso wie in der vierten Antinomie – in der Behauptung vom notwendigen Wesen – das Problem der Theologie. Die Antinomienlehre sticht auch insofern als der Kern der Dialektik hervor (vgl. Refl 6212). In diesem Fall, in der Synthesis der Reihen der Bedingungen der Erscheinungen, zeigt sich auch vorrangig die unbedingte Vernunfteinheit als die Einheit der Verstandeserkenntnis selbst, d. h. der Erkenntnis von Erscheinungen, und die transzendentale Idee als „eigentlich nichts, als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorie“ (B 436): „Die Idee des Unbedingten zu allen Bedingungen der Erscheinung ist in der Vernunft gegrndet als eine Vorschrift, die Vollstandigkeit aller Verstandeserkentnis in der subordination zu suchen“ (Refl 5553).16 (b) Fr die Kette der disjunktiven Prosyllogismen trifft andererseits am meisten zu die formallogische Beschreibung des Aufstiegs in der Reihe der Bedingungen als eines Aufstiegs auf einer Leiter von immer allgemeineren Bedingungen, hin zu oberen, umfassenden Prinzipien. In diesem Fall zeigt sich vorrangig die unbedingte Vernunfteinheit als die systematische Einheit der besonderen Regeln unter allgemeinen Prinzipien. Der Abschluss der Reihe ist dennoch nicht rein analytisch, formallogisch denkbar, als das vollstndige „Aggregat der Glieder der Einteilung“. Die logische Kette soll nmlich zur vollstndigen Einteilung der Sphre eines allgemeinsten Oberbegriffs fhren. Unter diesem mçgen zwar alle mçglichen Disjunktionen, alle mçglichen Prdikate, enthalten sein; er kann aber keine Vollstndigkeit fr deren Aggregat verbrgen. Analytisch (formallogisch) betrachtet, ist er vielmehr ein leerer Oberbegriff, der keine „Totalitt der 16 In seinen Vorlesungen ber Metaphysik der 70er Jahre bestimmt Kant die Welt als Ganzes der Erscheinungen nach der dritten Kategorie des Verhltnisses. In der Systematik der Ideen in der Kritik der reinen Vernunft behlt er dann diese Kategorie fr das Ganze aller Gegenstnde des Denkens, fr die Gottesidee. In den Vorlesungen ist dabei berhaupt zu beobachten, wie in der Kosmologie die Probleme der Dialektik zusammengefasst werden. Vgl. etwa V-MP-L1/Pçlitz, 195: „In dem Verhltnisse der Substanz zum Accidens ist das Substantiale das, was kein Accidens mehr von einem andern ist. – In dem Verhltnisse der Ursache zur Wirkung ist die Erste Ursache der Grenzbegriff, der kein causatum alterius ist. – In dem dritten Verhltnisse des Ganzen zu den Theilen ist dasjenige Ganze, was kein Theil mehr von andern ist, der Grenzbegriff; und das ist der Begriff der Welt.“ Vgl. weiter MSI § 1.
2.2 Der Schluss auf die Totalitt
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Bedingungen mçglich machen“ kann (B 379), dessen Sphre nicht durch ihn selbst durchgngig bestimmt werden kann. Das Unbedingte muss dagegen synthetisch gedacht werden: als Inbegriff, der die vollstndige Disjunktion nicht bloß unter sich, sondern in sich enthlt (vgl. B 599 ff.; insbes. B 604), als ein Ganzes „der disjunctiven Synthesis der Theile in einem System“ (B 379). Die notwendige Einheit des Systems unter einer Idee stellt Kant dem zuflligen Aggregat unter einem Begriff gegenber (vgl. Refl 2703). Das oberste Prinzip soll Garant der systematischen, durchgngigen Verknpfung des darunter Befassten sein. Diese Vorstellung eines Inbegriffs statt eines leeren Oberbegriffs bedeutet jedenfalls keinen logischen Fehler, keine bloße Missachtung des analytischen Charakters des Begriffs. Vielmehr wird in dieser dritten Gestalt des Unbedingten eine absolute synthetische Einheit aller Bestimmungen als Grund des systematischen Zusammenhangs aller Gegenstnde des Denkens gedacht, d. h. der Mçglichkeit, die Begriffe von Gegenstnden analytisch unter gemeinsame Bestimmungen zu bringen, eine vollstndige Hierarchie von Ober- und Unterbegriffen (arbor porphyriana) herzustellen. Dieses „transscendentale[] Substratum“ (B 603), worin alle mçglichen Prdikate lgen, wird, schicklicher aufgefasst, nicht als ein Inbegriff gedacht, dessen Einschrnkungen die endlichen Dinge wren (denn die raumzeitlichen Gegenstnde der Erfahrung als keine bloßen Verstandeswesen gehen in ihren Begriffen nicht auf ), sondern als ein realer Grund (vgl. B 607) und die ganze Sinnenwelt als dessen Folge. Wenn dieser Grund als in einem Ding enthalten gedacht wird, so ergibt sich als Gegenstand der Idee ein „Wesen aller Wesen“ (B 391), d. h. Gott. „Die Idee der Unbedingten Einheit aller obiecte des Denkens in einem ens entium ist nothwendig, um die Verwandtschaft unter allem moglichen und dadurch sowohl durchgangige Verknpfung als Einheit des Princips zu suchen.“ (Refl 5553). (c) Die Kette der kategorischen Prosyllogismen bereitet letztlich die grçßte interpretatorische Schwierigkeit. Wie soll die logische Kette zu einem „Subjekt, was selbst nicht mehr Prdikat ist“ fhren? Wenn man sich den Regress als einen Aufstieg zu immer allgemeineren Regeln vorstellt, dann fhrt er vielmehr zu immer allgemeineren Bedingungen, hçheren Gattungsbegriffen d. h. mittleren Termen, die im Obersatz an der Stelle des Urteilssubjekts, jedoch im Untersatz an der Stelle des Prdikats stehen (wie der Term Mensch im Schulbeispiel). Man sollte sich aber daher das Unbedingte hier nicht als die hçchste Bedingung, einen hçchsten medius terminus, denken, worunter subsumiert wird, sondern als ein Unbedingtes „der Inhrenz“ (B 393). In Blick auf den kategorischen Schluss bezeichnet
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nmlich Kant das Urteilssubjekt, d. h. „das Subject der Inhrenz der Merkmale“, und nicht das Prdikat, d. h. den Erkenntnisgrund, als die Bedingung der Regel (Log § 60). Fr die formale Logik, die nur die Verhltnisse zwischen Begriffen betrachtet, ist es dabei gleichgltig, ob sie diese Verhltnisse als solche der Inhrenz oder der Subsumtion beschreibt. Sie kann daher auch kein Ende des Regresses kennen. Die transzendentale Logik, die vom Gegenstandsbezug nicht absieht, betrachtet dagegen das letzte Subjekt der Inhrenz als die unbedingte Bedingung. Wenn nmlich der Regress bei einem Schlusssatz ,S ist P‘ ansetzt und diesem eine Reihe von Zwischengliedern, d. h. von Bedingungen, unter denen P gilt, eingeschoben wird: S–X1–X2–…–P, so wre das Unbedingte im Subjekt S des anfnglichen Schlusssatzes zu suchen, als der obersten Bedingung der Reihe. Den Halt solcher logischen Reihen verbrge ein S, dem die Totalitt der Bedingungen der Prdikation inhriere. Den Abschluss ermçglicht daher der Gedanke einer Substanz, welche „kein Accidens mehr von einem andern ist“ (V-MP-L1/Pçlitz, 195). Diese wre absolutes Subiectum (zugrunde liegendes Substrat, rpo-je_lemom) oder erste Substanz nach der klassischen aristotelischen Definition.17 Das ausgezeichnete solche Subjekt wre dann das Subjekt aller Gedanken und Vorstellungen „als Grund des Denkens“ (B 429), d. h. aber das Subjekt in der neuen, modernen Bedeutung des Terminus, die mit Kant sich durchsetzt. Dieses wre ausgezeichnet als das eigentlich beharrliche, das die Dinge als beharrliche Substanzen erst als seine Korrelate mçglich macht.18 Die Einheit der Apperzeption (des Selbstbewusstseins), der Satz ,Ich denke‘ als alle Vorstellungen begleitend, war nmlich in der Analytik die Bedingung dafr, dass in der Synthesis der Anschauungen die Gegenstnde der Erfahrung als Substanzen angesprochen werden kçnnen. Das Unbedingte wre somit hier die absolute Einheit des Subjekts, dem alle Gedanken inhrieren. Den Abschluss der logischen Reihen der kategorischen Schlsse ermçglicht diese erste Gestalt des Unbedingten insofern, als bei aller 17 Categoriae, 2a 12 ff. 18 In den 70er Jahren, den stillen Jahren der Vorbereitung der Kritik, lautet es: „Dieses ist der einzige Fall, wo wir die Substanz unmittelbar anschauen kçnnen. Wir kçnnen von keinem Dinge das substratum und das erste Subject anschauen; aber in mir schaue ich die Substanz unmittelbar an. Es drckt also das Ich nicht allein die Substanz, sondern auch das substantiale selbst aus. Ja was noch mehr ist, den Begriff, den wir berhaupt von allen Substanzen haben, haben wir von diesem Ich entlehnt. Dieses ist der ursprngliche Begriff der Substanzen.“ (V-MP-L1/Pçlitz, 226). Als Substanz kçnnen wir das Ich nach der kritischen Lehre allerdings nicht erkennen, geschweige denn unmittelbar anschauen.
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Prdizierung die Kopula ,ist‘ das Verhltnis von Subjekt und Prdikat gerade auf die Einheit der Apperzeption bezieht und dadurch als ein objektiv gltiges auszeichnet (vgl. B 141 f., 406).19 Das Unbedingte der kategorischen Synthesis wre also die absolute Einheit des ,Ich denke‘ als oberste, unbedingte Bedingung aller bedingten Prdizierung in Urteilen und aller Anwendung der Kategorien von Substanz und Akzidenz. Der Gedanke einer absoluten, unbedingten Einheit des ,Ich denke‘ als einer gegebenen macht aber aus der Einheit der Ap19 Die hier vorgelegte Interpretation des kategorischen prosyllogistischen Regresses passt zur Kantischen Beschreibung vom kategorischen Sorites in der frhen Refl 3310. Vgl. hierzu Schulthess, Relation und Funktion, 311 ff. – Die Lesart Wolfgang Malzkorns (Kants Kosmologie-Kritik, 64), dass man im Falle der kategorischen Schlsse mit einer episyllogistischen (auf der Seite der Folgen) und keiner prosyllogistischen Reihe (auf der Seite der Bedingungen) zu tun hat, sodass das anfngliche Subjekt als das Unbedingte vorausgesetzt wird, ist m. E. nicht vertretbar. Dass die Reihe eine prosyllogistische sein muss, erklrt Kant fr alle Flle in B 388 f. und B 393 f. sowie explizit fr den Fall der kategorischen Kette in der Reflexion 5553. Eine andere Deutung ist auch berhaupt mit der ganzen Intention der Konstruktion des Unbedingten als notwendiger Forderung zu allem Bedingten und im Ausgang vom Bedingten unvertrglich. – Nach Wilhelm Vossenkuhl („Das System der Vernunftschlsse“, 234 ff.) ende der Regress in der Reihe der kategorischen Oberstze dort, wo ein allgemeinstes Subjekt erreicht werde, das mit dem Prdikat den gleichen Umfang habe und daher vertauschbar sei (beim Schulbeispiel mit dem Cajus kme man etwa zu den Begriffen Lebewesen und sterbliches Wesen). Beim ,Ich denke‘ seien nun Subjekt und Prdikat identisch. Diese sehr eigenwillige Interpretation der Wendung „Subjekt, was kein Prdikat mehr ist“ findet aber keine Sttze bei Kant. – Nikolai Klimmek (Kants System der transzendentalen Ideen, 26 ff.) rekonstruiert den kategorischen Regress als einen, der vom Untersatz seinen Anfang nimmt. Ein solches Hinterfragen der durch die Urteilskraft geleisteten Subsumtion wre aber nach Kant nicht interessant, wie man seinen Ausfhrungen in der Analytik, im Abschnitt „Von der transzendentalen Urteilskraft berhaupt“, entnehmen kann. Eine Regel dafr, wie man unter Regeln subsumieren sollte, erfordere nmlich „aufs neue eine Unterweisung der Urteilskraft“, sodass dem Mangel an Urteilskraft durch keinen solchen Regress in einer Reihe von Regeln abzuhelfen wre (B 172). Der interessante Regress ist somit nur der zu den allgemeinen Regeln als allgemeinen Bedingungen des Schlusssatzes. Ein Regress den Zweig der Unterstze entlang wre tatschlich nicht plausibel: Cajus ist nicht deshalb ein Mensch, weil er ein Knabe ist, wie es in Klimmeks Beispiel heißt. Ein solcher Regress kann sowieso auch keineswegs zu einem Subjekt fhren, was kein Prdikat mehr von einem andern ist, sondern nur zu einer Annherung des schon vorausgesetzten Subjekts durch Prdikate. – Thomas Seebohm („Die reine Logik“, 220 f.) sieht richtig, dass fr Kant nur der Regress durch den Obersatz von Interesse ist; nicht aber, dass Kant das Unbedingte in keinem hçchsten Mittelbegriff sucht.
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perzeption als einer logischen bzw. transzendentalen Bedingung einen realen Grund, aus dem „bestndige[n] logische[n] Subject des Denkens“ bzw. „dem transscendentalen Subjecte“ ein „reale[s] Subject[] der Inhrenz“ (A 350), eine ursprngliche Substanz: „da die Einheit der apperception, welche subiectiv ist, vor die Einheit des Subiects als eines Dinges genommen wird.“ (Refl 5553). Die Einheit des denkenden Subjekts genommen als eine gegebene unbedingte Einheit als von einem Objekt fhrt zur substantiellen Seele als dem Gegenstand der Idee: „Die Idee der Seele ist darauf gegrndet, daß der Verstand alle Gedanken und innere Warnehmungen auf das Ich beziehen msse und dieses als das einige bestandige Subiect annehmen, damit vollstandigste Einheit der Selbsterkentnis herauskomme“ (Refl 5553). Der Vernunftbegriff des Unbedingten ist somit – auch nach dem lngeren vorhin angefhrten Zitat (B 379) – jedes Mal ein Begriff von der Totalitt der Bedingungen der bedingten Erkenntnis bzw. von einem Grund, der diese Totalitt ermçglicht. Die traditionellen metaphysischen Gegenstnde zeigen sich demnach als Vergegenstndlichungen der Ideen von der Totalitt. Sie entspringen „aus dem synthetischen Gebrauch“ der logischen Funktion des Schlusses (B 392) und haben daher ihren Sitz in der Natur der menschlichen Vernunft. Auf die bestimmten transzendentalen Ideen und die entsprechenden Gegenstnde der traditionellen Disziplinen der metaphysica specialis gelangt Kant jedenfalls im dritten Abschnitt des ersten Buches der transzendentalen Dialektik nicht direkt ber die Zuordnung zur dreifachen Mçglichkeit des Unbedingten als Abschlusses prosyllogistischer Reihen. Stattdessen schiebt er eine neue Einteilung dazwischen ein. Die mçgliche „Beziehung, die unsere Vorstellungen haben kçnnen“ sei nmlich einerseits ihre Beziehung auf das vorstellende Subjekt (1) und andererseits auf die vorgestellten Objekte, und zwar auf diese „als Erscheinungen“ (2) oder „als Gegenstnde des Denkens berhaupt“ (3) (B 390 f.). „Erscheinung“ bedeutet hier wie sonst den „unbestimmte[n] Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (B 34), den Gegenstand des empirischen Denkens im Gegensatz zum Gegenstand des Denkens berhaupt. ber die Einfhrung dieser Trichotomie kommt dann Kant darauf, die unbedingte synthetische Einheit aller Bedingungen zu bestimmen als (1) die unbedingte (absolute) Einheit des denkenden Subjekts (Seele als Gegenstand der Psyhologie), (2) die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinungen (Weltbegriffe als Gegenstand der Kosmologie) und (3) die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstnde des Denkens berhaupt (Gott als Ge-
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genstand der Theologie) (vgl. B 391).20 Unter diese „drei Classen“ (B 391) lassen sich alle transzendentalen Ideen einordnen, wobei sich die Untereinteilung innerhalb jeder Klasse noch einmal nach den Titeln der Kategorien und der in ihnen vorgestellten Synthesis ergeben soll, wie im Fall der kosmologischen Ideen schon bemerkt wurde. Eine Brcke zwischen der Einteilung der Beziehungen der Vorstellungen auf der einen und der Einteilung der Vernunftschlsse auf der anderen Seite, die zur dreifachen Totalitt der Synthesis in einem Subjekt, einer Reihe und einem System gefhrt hatte, versucht Kant nicht zu schlagen. Die neue Trichotomie lsst sich wohl eher als eine unabhngige Einteilung verstehen, die die Zuordnung der Gestalten des Unbedingten – der Inhrenz, der Dependenz in einer Reihe und der Konkurrenz in einem systematischen Ganzen (vgl. B 393; Refl 5553) – zu den tradierten Gegenstnden der Metaphysik untermauert. Von sich selbst aus fhrt diese neue Einteilung freilich weder auf die Bestimmung des Unbedingten als Totalitt der Bedingungen noch auf das notwendige Hervorgehen dieser Forderung aus der Natur der Vernunft.21
20 In der Paralogismenlehre der A-Auflage teilt Kant „das Allgemeine der Bedingungen des Denkens“ ein in die „Bedingungen eines Gedanken berhaupt“ (als Vorstellung des denkenden Subjekts) (1), die „Bedingungen des empirischen Denkens“ (2) und die „Bedingungen des reinen Denkens“ (3). Der „dialektische[] Gebrauch[] der reinen Vernunft“ habe jedes Mal mit der absoluten Totalitt der Synthesis dieser Bedingungen zu tun (A 397). 21 Michael Wolff hat an dieser in der transzendentalen Dialektik vorgenommenen Dreiteilung der Verhltnisse (Beziehungen) der Vorstellungen eine Dreiteilung des Gebrauchs von Begriffen in Urteilen festgemacht. Dieser ist nmlich entweder prdikativ (1) oder nicht-prdikativ, und zwar dann wiederum entweder unmittelbar (2) oder mittelbar gegenstandsbezogen (3). Das Verhltnis zum Subjekt des Denkens entspricht dem prdikativen Gebrauch der Begriffe (die Prdikate als Vorstellungen des vorstellenden Subjekts), das Verhltnis zum Objekt als Erscheinung dem unmittelbar gegenstandsbezogenen nicht-prdikativen (Erscheinung heißt ja unbestimmter Gegenstand der Anschauung) und das Verhltnis zum Objekt als Gegenstand des Denkens berhaupt dem mittelbar gegenstandsbezogenen (durch einen Begriff, dessen Anschauungsbezug offen bleibt). Auf diese, bei Kant nicht explizite, grundlegende Einteilung hat Wolff seine imposante Rekonstruktion des Kantischen Beweises von der Vollstndigkeit der Urteilstafel gesttzt. Die Dreiteilung der Beziehungsarten liege nmlich den drei Titeln der Quantitt, Qualitt und Relation der Urteile zugrunde ebenso wie den drei Momenten des Verstandes, der Urteilskraft und der Vernunft. Diese letzteren entsprchen wiederum nicht nur jenen drei Titeln, sondern auch den drei Funktionen der Modalitt. Vgl. Wolff, Die Vollstndigkeit der kantischen Urteilstafel, 106 ff.
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Die „drei Titel[] aller transscendentalen Ideen“ (B 392), ob sich deren Dreizahl aus der Dreiteilung der Schlussarten und der Relationskategorien oder aber der Beziehungen der Vorstellungen ergeben haben mag, machen ein vollstndiges System der reinen Vernunft aus. Nach Kant fllt jede synthetische Einteilung aus Begriffen a priori – im Unterschied zur analytischen Einteilung in zwei sich gegenseitig ausschließende Bereiche A und A – notwendig dreiteilig aus: nach dem Schema einer Bedingung, eines davon Bedingten und deren Vereinigung (vgl. KU 198 Anm.).22 Wenn die ersten beiden Titel der Ideen die absolute Einheit einerseits „vom Subiect“ und andererseits „vom obiect, so fern es gegeben werden kann“ (als Erscheinung) zum Gegenstand haben, so kann die Idee der absoluten Einheit „vom Gegenstande des Denkens berhaupt“ (Refl 5553) als deren Vereinigung und Krçnung angesehen werden. Zum systematischen Zusammenhang unter den Ideen bemerkt noch Kant, dass er selbst als ein Schluss dargestellt werden kçnnte, und zwar entweder analytisch (d. h. zum obersten Prinzip hin): „[v]on der Erkenntniß seiner selbst (der Seele) zur Welterkenntniß und vermittelst dieser zum Urwesen“ (B 395) oder aber, schicklicher, synthetisch (d. h. vom obersten Prinzip aus):23 als Schluss von der theologischen und der kosmologischen Idee, von Gott und der Freiheit, auf die Unsterblichkeit der Seele (vgl. B 395 Anm.). Mit der Vorstellung des Systems der transzendentalen Ideen unter den drei Klassen endet das erste Buch der Dialektik, das „von den Begriffen der reinen Vernunft“ handelt. Wie die Analytik besteht auch die Dialektik aus zwei Bchern. Das zweite handelt „von den dialektischen Schlssen der reinen Vernunft“ in den drei Disziplinen der metaphysica specialis und entlarvt den Schein dieser Schlsse auf das Unbedingte in den konkreten Gestalten, die diese Vernunftschlsse unter den drei Klassen annehmen (Paralogismus, Antinomie, Ideal).
22 Der Unterscheidung von analytischer und synthetischer Einteilung liegt zugrunde die Unterscheidung von analytischer Einheit – als Unterordnung unter einem gemeinsamen Einteilungsglied – und synthetischer Einheit – als Zusammensetzung. Zur analytischen und synthetischen Einheit siehe im Vorigen 1.2.1. 23 „Analytisch“ und „synthetisch“ bezieht sich hier auf die Unterscheidung von analytischer und synthetischer im Sinne von regressiver und progressiver Methode. Vgl. Log § 117.
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2.2.3 Urteil und Schluss Die vernunftgemße (systematische) Einheit unter Prinzipien unterscheidet sich von der verstandesmßigen unter Regeln wie die Totalitt, das Ganze, welches seine Teile in sich enthlt, von der abstrakten Allgemeinheit, worunter das Besondere und Einzelne subsumiert werden.24 Die Ideen sind, wie gesehen, Begriffe dieser absoluten „Totalitt der Synthesis der Bedingungen, zu einem gegebenen Bedingten“ (A 396), der Allheit (universitas), statt der Einheit der Synthesis eines sonst unbestimmten Inhalts unter einen Verstandesbegriff (und entsprechend Grundsatz). Sie sind Begriffe der kollektiven (synthetischen) Einheit der Erfahrung als eines Ganzen. Die vom Verstand bewirkte synthetische Einheit der Erscheinungen bedeutet dagegen eine bloß distributive (analytische) Einheit der Erfahrung, nmlich die Subsumtion einer ansonsten unbestimmten Materie unter die Form von allgemeinen Gesetzen. Die Verstandeseinheit ist m. a. W. eine Einheit, die vom Unterschied absieht, eine Einheit der empirischen Erkenntnisse nur „nach dem, was sie nothwendigerweise gemein haben“, wogegen die Vernunfteinheit den Unterschied einbegreift, als eine Einheit der empirischen Erkenntnisse „auch nach dem, was sie Verschiedenes haben“. (EEKU 203 f. Anm.; vgl. B 610). Die Frage nach der Totalitt hngt demnach mit der Frage nach der vollstndigen Bestimmung der empirischen Erkenntnis in ihrer Besonderheit und Einzelheit zusammen: Die Ideen „betrachten alles Erfahrungserkenntnis als bestimmt durch eine absolute Totalitt der Bedingungen“ (B 384). Anders als ein gçttlicher intuitiver Verstand, „in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben wrde“ (B 135), verfgt aber die menschliche Vernunft in ihrem transzendentalen Gebrauch ber kein Mittel der Anschauung, das ihr erlaube, in einer Vorstellung des Ganzen die der Teile gegenwrtig zu haben.25 Daher „berlßt 24 Vgl. folgende Formulierung Walter Benjamins, der die kantische Unterscheidung von (Verstandes-) Begriff und Idee mit einem objektiven, platonischen Ideenverstndnis kombiniert: „Zwischen dem Verhltnis des Einzelnen zur Idee und zum Begriff findet keine Analogie statt: hier fllt es unter den Begriff und bleibt was es war – Einzelheit; dort steht es in der Idee und wird was es nicht war – Totalitt. Das ist seine platonische ,Rettung‘.“ (Ursprung des deutschen Trauerspiels, 227). 25 Nach dem berhmten § 77 der Kritik der teleologischen Urteilskraft ginge ein intuitiver, urbildlicher Verstand (intellectus archetypus) im Gegensatz zu dem unseren nicht „vom Analytisch-Allgemeinen (von Begriffen) zum Besondern (der gegebenen empirischen Anschauung)“, sondern „vom Synthetisch-Allgemeinen (der
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[die reine Vernunft] alles dem Verstande“ (B 382), der auch „fr sich gar nichts erkennt, sondern nur den Stoff zum Erkenntnis, die Anschauung, die ihm durchs Objekt gegeben werden muß, verbindet und ordnet“ (B 145) und verbindet und ordnet selbst die Erkenntnisse. Dabei hofft sie, „eine synthetische Einheit“ dieser Erkenntnisse zu betreffen, wodurch sie „mittelbar auf eine besondere Bestimmung der Einheit der Erscheinungen ginge[].“ (Refl 5553). Whrend aber die Verbindung, die der Verstand dem Material der Sinne hinzufgt,26 die Gegenstnde der Erfahrung erst konstituiert, ist dagegen der Zusammenhang zwischen den Erkenntnissen selbst, d. h. die Verbindung, die in der Arbeitsteilung zwischen den Erkenntnisvermçgen der Vernunft zukommt, fr die Gegenstnde nicht konstitutiv. Die Verarbeitung durch die Vernunft, die hçchste Etappe in dieser Arbeitsteilung,27 ist zunchst nur eine subjektiv-logische, nachtrgliche Verarbeitung der bereits konstituierten Erkenntnis. „Die Vernunft hat keinen andern als analytischen Gebrauch. Der synthetische, dadurch sie Grundstze macht, ist dialectisch.“ (Refl 5647). Nach seinen allgemeinen Gesetzen bringt der Verstand die Einheit der Erfahrung und ihrer Gegenstnde zustande. Anschauung eines Ganzen als eines solchen) zum Besondern […], d. i. vom Ganzen zu den Theilen“ (KU 407). – Es geht hier, wohlgemerkt, nicht etwa um das Ganze der empirischen Anschauung (auch wenn eine Vorstellung davon mçglich sein sollte), sondern um das Ganze der Erkenntnis bzw. der Erfahrung, d. h. um das Ganze der Synthesis der empirischen Anschauung. Der Mangel besteht also nicht in einer Beschrnkung des menschlichen Anschauungsvermçgens, sondern in der Trennung des Denkvermçgens von diesem. 26 Vgl. B 129 f.: „Allein die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen berhaupt kann niemals durch Sinne in uns kommen […]; denn sie ist ein Actus der Spontaneitt der Vorstellungskraft, […] eine Verstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung Synthesis belegen wrden, um dadurch zugleich bemerklich zu machen, daß wir uns nichts als im Object verbunden vorstellen kçnnen, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objecte gegeben, sondern nur vom Subjecte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbstthtigkeit ist […] Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen“. Vgl. FM 275 f.: „Alle Vorstellungen, die eine Erfahrung ausmachen, kçnnen zur Sinnlichkeit gezhlt werden, eine einzige ausgenommen, d. i. die des Zusammengesetzten, als eines solchen. Da die Zusammensetzung nicht in die Sinne fallen kann, sondern wir sie selbst machen mssen: so gehçrt sie nicht zur Receptivitt der Sinnlichkeit, sondern zur Spontaneitt des Verstandes, als Begriff a priori.“ 27 Vgl. B 355: „Alle unsere Erkenntniß hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft, ber welche nichts Hçheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die hçchste Einheit des Denkens zu bringen.“.
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Dagegen bleibt der Vernunftbegriff eines Ganzen der Erfahrung auch nach den besonderen, konkreten Verbindungen ihrer Gegenstnde (oder auch der Vernunftbegriff des systematischen Zusammenhangs der Erfahrung auch nach besonderen Gesetzen) eine Forderung, die die Vernunft nicht einlçst. Die vom Verstand bewirkte Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung war zwar in der Analytik, anders als in der empiristischen Tradition, keine nachtrgliche Verarbeitung eines sinnlich Gegebenen. Vielmehr konstituierte die reine Synthesis als Leistung des transzendentalen Subjekts erst alle Objektivitt und das Gegebensein von Objekten selbst. Insofern aber diese synthetische Einheit als analytische Einheit der Erfahrung bestimmt wurde, als Subsumtion einer doch bloß gegebenen, in ihrer Besonderheit und Einzelheit beliebigen Materie unter die intellektuelle Form der Kategorie, blieb diese Materie den ordnenden Begriffen ußerlich. Diese ußerlichkeit kommt auf der Ebene der Vernunft, der obersten einheitstiftenden Instanz, zum Vorschein: die Einheit der mannigfaltigen Verstandesregeln selbst, die auf die besondere Organisation dieser Materie gehen, ist eine subjektive logische Vorschrift, fr die es a priori keine objektive Absttzung gibt. Die Unterstellung der unbedingten Vernunfteinheit als im Gegenstand selbst gegeben ist vielmehr die Quelle des Scheins. Der analytische Gebrauch der Vernunft, die Herstellung des Zusammenhangs in Schlssen, bleibt jedenfalls angewiesen auf eben die innere Organisation des Objekts und die logische Vorschrift, wie gesehen, auf den richtungweisenden synthetischen Grundsatz. Die transzendentalen Prinzipien der Vernunft erlangen daher eine notwendige, wenn auch nur regulative Bedeutung. Kants Auffassung der formalen und transzendentalen Logik (vgl. im Vorigen 1.2.1) ist wesentlich geprgt durch die Prioritt der Relationen und der Einheit des Bewusstseins, worin diese fundiert werden, vor den Objekten als ihren Relata. Mit Peter Schulthess kann dieser Zug als Kants „kopernikanische Wende in der Relationstheorie“ bezeichnet werden: eine Wende gegen das „dem Nominalismus und der Substanzontologie gemeinsame[] Grunddogma, daß die Relation von den allein realen substanzialen Termen abhngig sei“.28 Bei aller Prioritt der Relation hlt aber Kant fest an der „natrlichen Ontologie“ (Dieter Henrich):29 von Einzeldingen in einer raumzeitlichen und kausalen Ordnung. Den Urteilsformen der formalen Logik und den darin einzufangenden fertigen Ob28 Schulthess, Relation und Funktion, VI u. passim, insbesondere 254 ff. 29 Henrich, „Kant und Hegel“, 193.
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jekten liegen die gegenstandskonstitutiven Funktionen und die Einheit der Apperzeption zugrunde, aber gerade als diese Formen und diese Objekte begrndend. Es wird nmlich ein formaler Zusammenhang der Erscheinungen begrndet, als von einzelnen Objekten, deren Dasein nur in der Anschauung als singulrer Vorstellung gegeben wird, unter abstrakt-allgemeinen Gesetzen (Mathematisierung in Raum und Zeit, Beharrlichkeit, Kausalnexus). Der unbedingte Zusammenhang der Erkenntnis, als synthetisches Ganzes der konkreten Erfahrung (kosmologische Idee) bzw. als systematisches Ganzes nach einer Stufenleiter von besonderen Gesetzen (theologische Idee), ist somit fr die Gegenstnde nicht konstitutiv. Er gehçrt nicht zu ihrer Mçglichkeit berhaupt. Der Bezug der bedingten empirischen Erkenntnis auf die Totalitt der Erfahrung ist andererseits dennoch unabweisbar. Ein synthetisches Urteil ,A ist B‘ grndet anders als ein analytisches nicht in einer Analyse des Subjektbegriffs A. Vielmehr soll sich der Verstand auf ein Drittes, auf „noch etwas anderes (X) […] sttz[en], um ein Prdicat, das in jenem Begriffe nicht liegt, doch als dazu gehçrig zu erkennen“. Im Fall der empirischen Urteile ist dieses X nun nicht etwa eine isolierte Sinnesempfindung, sondern „die vollstndige Erfahrung von dem Gegenstande, den ich durch einen Begriff A denke, welcher nur einen Theil dieser Erfahrung ausmacht“ (A 8). Diese vollstndige Erfahrung ist aber als solche, als Totalitt der Bedingungen, als Ganzes der empirischen Synthesis, nicht gegeben. Die empirische Erkenntnis (Urteil) wird somit nicht in ihrer vollstndigen Bedingtheit, d. h. in ihrer Notwendigkeit, bestimmt, sondern bleibt mit dem Moment des Zufalls behaftet. Obwohl B nicht in A enthalten ist, gehçren A und B dennoch zueinander, und zwar „als Theile eines Ganzen, nmlich der Erfahrung, die selbst eine synthetische Verbindung der Anschauungen ist“. Sie gehçren aber darin „nur zuflliger Weise“ zueinander (B 12). Aus dem logischen Verstandesgebrauch von Begriffen in Urteilen ist ihr Gebrauch in Schlssen nicht wegzudenken. Die Auffassung der Urteile als Regeln bedeutet, dass (kategorische, hypothetische und disjunktive) Urteile implizit immer als Oberstze (Regeln) von (kategorischen, hypothetischen und disjunktiven) Schlssen gedacht werden.30 In solchen Schlssen wird die vollstndige Erkenntnis eines Gegenstandes angestrebt, der in einem Urteil partiell bestimmt wird, oder m. a. W. die vollstndige Vermittlung der partiellen, zuflligen Bestimmung. Diese partielle Bestimmung bleibt 30 Vgl. Wolff, Die Vollstndigkeit der kantischen Urteilstafel, 149 ff.
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dabei – nicht nur subjektiv-logisch, sondern auch auf der Seite des Objekts – implizit bezogen auf die wiewohl nicht gegebene vollstndige Erfahrung. Dass die bedingte Erkenntnis als solche schließlich auf die unbedingte Totalitt verweist, wurde schon im vorigen Abschnitt anhand der Erluterungen zum singulren Urteil gezeigt. Die Angewiesenheit der empirischen Begriffe auf die sie erfllende Anschauung als unmittelbare und singulre Vorstellung (vgl. 1.2.1) soll nmlich keineswegs bedeuten, dass die Anschauung als letztbegrndende Instanz auftritt. Die empirische Wahrheit als bereinstimmung der Erkenntnis mit dem in der Anschauung gegebenen empirischen Gegenstand bedeutet nicht etwa die bereinstimmung der Erkenntnis mit einer solchen letzten Instanz. „[U]nsere Erkenntnisse“ mssen vielmehr „in Beziehung auf diesen [Gegenstand] unter einander bereinstimmen“ (A 104 f.).31 Aus der empirischen Erkenntnis selbst erwchst die Forderung der Vernunft nach vollstndiger Zusammenstimmung des Verstandes mit sich selbst: „das Gesetz der Vernunft […] ist nothwendig, weil wir ohne dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhngenden Verstandesgebrauch und in dessen Ermangelung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben wrden“ (B 679). Die Aufgabe der Erkenntnis besteht immer in der begrifflichen Bestimmung der gegebenen Anschauung, ob diese Bestimmung als abstraktallgemeine Bestimmung beliebiger einzelner raumzeitlicher Objekte fr sich ausreicht (z. B. theoretische Mechanik) oder im Besonderen weiter bohrt. „[D]er Verstand […erkennt] alles nur durch Begriffe: folglich, so weit er in der Eintheilung reicht, niemals durch bloße Anschauung, sondern immer wiederum durch niedere Begriffe“. Die diskursive Erkenntnis kommt zwar zu keiner durchgngig bestimmten „infima species“ (Log § 11), aber die „unaufhçrlich fortzusetzende Specification seiner Begriffe“ in Richtung durchgngige Bestimmung ist eine berechtigte Forderung der Vernunft an den Verstand, ein regulatives transzendentales Prinzip der Vernunft (B 684). Im Fall der synthetischen Urteile a priori, im Gegensatz zu den empirischen, ist nun „dieses Dritte“ (B 194), das die Verbindung der Begriffe ermçglicht, nicht das Ganze der wirklichen, sondern die mçgliche Erfahrung. Die reinen Verstandesbegriffe werden auf die sinnlichen Bedingungen a priori (Zeit) des Gegebenseins von Gegenstnden berhaupt in der Anschauung bezogen. Das „Dritte[]“ (B 177), was die Subsumtion 31 „Die Warheit ist die zusammenstimung der Erkenntnis mit dem obiect (durch die Erkenntnis desselben), also mit sich selbst.“ (Refl 2127).
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jedes mçglichen in der Anschauung gegebenen Gegenstandes, unter die reinen Begriffe vermittelt, ist dabei das Schema, ein Produkt der Einbildungskraft (siehe B 176 ff.).32 Diese Vermittlung ist aber nur eine nach der Seite der Form und ermçglicht die synthetischen Grundstze a priori als formale Rahmenbedingung der Erfahrung. Das Dritte, was zwischen Begriff und Anschauung vollstndig vermitteln wrde, wre wohl die Idee, der Vernunftbegriff des konkreten Ganzen der Erfahrung. „Alle Begriffe der Synthesis erfodern ein Drittes: entweder die mogliche Erfahrung oder die Idee.“ (Refl 5553). Diese bleibt aber fr die endliche Vernunft, fr die menschliche Erkenntnislage des Angewiesenseins auf eine von außen gegebene, radikal unbestimmte Materie, problematisch. Im Vorigen (1.2.2) wurde schon erwhnt, wie sich einerseits die formale und andererseits die transzendentale Logik zu den Erkenntnisvermçgen Verstand und Vernunft verhalten. Die Zuordnung kann nun durch das Einbeziehen des mittleren Vermçgens, der Urteilskraft, vervollstndigt werden. In ihrer Beschrnkung auf die Form der Unterordnung (Subordination) von Begriffen untereinander in Urteilen und Schlssen enthlt nmlich die formale Logik keinen Kanon fr die Urteilskraft, der die Unterordnung (Subsumtion) des Gegenstandes unter eine bestimmte Regel zukommt. Die transzendentale Logik enthlt dagegen einen Kanon fr die Urteilskraft, eben fr die Unterordnung aller Erscheinungen – durch den Schematismus – unter die allgemeinen, transzendentalen Begriffe und Grundstze. Darber hinaus kann es fr die Urteilskraft keine Vorschriften geben. Sie sei ein „natrliche[s] Talent“ (B 174), „dessen Mangel keine Schule ersetzen kann“ (B 172) und welcher Mangel „eigentlich das [ist], was man Dummheit nennt“ (B 172 Anm.).33 Fr die Vernunft enthlt umgekehrt die formale Logik offenbar einen Kanon, nmlich all die Schlussregeln, d. h. die Vorschriften des formal korrekten Schließens. Diese formallogische Funktion der Vernunft, der Schluss, ist aber eine die Erkenntnis nicht erweiternde, sondern nur begrndende Funktion, und mit ihr ist die Vernunft im engeren Sinne keine selbstndige 32 Zur schlussartigen Struktur des Schematismus als „transscendentale[r…] Subsumtion […] unter einem reinen Verstandesbegriffe durch einen Mittelbegriff, nmlich den des Zusammengesetzten aus Vorstellungen des innern Sinnes“ vgl. den Brief Kants an J. H. Tieftrunk vom 11. 12. 1797 (AA 12, 224). Richard Kroner spricht diesbezglich vom „transzendentalen Syllogismus“ (Von Kant bis Hegel I, 86). 33 Die „secunda Petri“ (B 173 Anm.), wie Kant dann in der Anmerkung die Urteilskraft bezeichnet, bezieht sich auf den zweiten Teil von Petrus Ramus’ Logik, nmlich auf das iudicium im Gegensatz zur inventio. Vgl. V-Lo/Philippi 337.
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erkennende Instanz, sondern bleibt auf die Erkenntnisse (Urteile) des Verstandes angewiesen, die sie in ihrer Bedingtheit und in ihrem Zusammenhang zu erkennen anstrebt. Die Hoffnung auf eine Erweiterung der Erkenntnis durch das Schließen auf die bersinnlichen Gegenstnde der Metaphysik luft im zweiten Buch der transzendentalen Dialektik auf einen Missbrauch der Logik als Organon hinaus. Dieser Missbrauch ist aber kein bloßer logischer Fehler, sondern entspringt aus dem notwendigen Grundsatz des transzendentalen Vernunftgebrauchs, die Einheit der Verstandeserkenntnis als vollendet anzusehen. Da sich der transzendentale Gebrauch der Vernunft, ihr Bezug a priori auf die unbedingten Gegenstnde der Metaphysik, nun als Schein entlarvt, gibt es fr ihn keinen Kanon, als Vorschrift des richtigen Gebrauchs (vgl. B 170 f., 823 f.). Die Vernunft vermag es nicht, sich a priori auf Gegenstnde zu beziehen. Das besagt aber ein Doppeltes: Indem sie das Unbedingte nicht ergreift, kann die Vernunft auch in der Mçglichkeit des empirischen Objekts (d. h. a priori) keine Garantie dafr aufweisen, dass ein jedes Urteil auf einen konkreten aber gerade objektiv fundierten Zusammenhang zu anderen Urteilen gebracht werden kann. Hier setzt aber die Lehre von der Notwendigkeit des Grundsatzes der Vernunft und von ihren regulativen transzendentalen Prinzipien ein sowie die neue Fassung des Vermçgens der Urteilskraft in der dritten Kritik (vgl. im Folgenden 5.2.2). Die Versicherung, dass es wirklich nur an Dummheit liegt, wenn die Urteilskraft nicht auf die richtige Regel fr die Subsumtion in der minor eines Schlusses kommen kann, klingt verlegen, wenn der Bereich solcher besonderen Regeln nach transzendentalen Prinzipien im Dunkeln bleibt. 2.2.4 In(de)finiter Regress Der regulative Gebrauch der Begriffe der reinen Vernunft lsst sich als ihre Funktion im prosyllogistischen Regress beschreiben, am Vollzug dessen sie gewonnen werden. Die Ideen leiten nmlich diesen Regress und zeigen „die Richtung auf eine gewisse Einheit“, auf „[ein absolutes Ganzes] aller Verstandeshandlungen, in Ansehung eines jeden Gegenstandes“ (B 383). Ein solches absolutes Ganzes kann aber in keiner Erfahrung angetroffen werden. Zur Vernunfteinheit, die den Abschluss der Reihen ermçglichen wrde, findet sich kein adquater Gegenstand in der sinnlichen Erfahrung, „kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen“ (ebd.; vgl. B 689). Der Vernunfteinheit kongruiert in der Erfahrung nichts, whrend den Kategorien der Verstandeseinheit die Flle ihrer objektiven Anwendung, z. B.
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die bestimmten Kausalverhltnisse, entsprechen. Daher sind die Ideen nach Kant notwendig transzendent. Da ihr Gegenstand in keiner Erfahrung gegeben ist, sind die Ideen der Totalitt im Regress nur aufgegeben (vgl. B 384). Die angemessene Funktion der Ideen beschreibt Kant in den hinteren Partien der Dialektik, und zwar im Abschnitt zur Auflçsung der Antinomie „Regulatives Prinzip der reinen Vernunft in Ansehung der kosmologischen Ideen“ (B 536 ff.) und im Anhang der Dialektik „Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft“ (B 670 ff.). Indem sie die Regel (regula) des Regresses vorschreiben, nach der dieser vom Bedingten durch die Reihe der Bedingungen bis zum nie zu erreichenden Unbedingten fortgesetzt werden soll, ist der angemessene Gebrauch der Ideen eben regulativ und nur subjektiv gltig: sie bestimmen konstitutiv weder das bedingte Objekt noch ein Unbedingtes. Er ist weiter immanent: sie leiten die Suche nach noch uneingesehenen Zusammenhngen der gegebenen empirischen Verstandeserkenntnisse, ohne dass je die Reihe transzendiert und das Unbedingte erreicht werden kçnnte.34 Die Ideen werden vergegenstndlicht und scheinen einen unbedingten Gegenstand zu bestimmen, indem es die Vernunft mit ihrer Aufgabe sich bequem macht35 und ihr Bedrfnis in eine Versicherung ummnzt: ihren logischen Grundsatz, zum Bedingten das Unbedingte zu finden, statt als leitende Maxime, als konstitutives transzendentales Prinzip missversteht. Es wird nmlich „dieses Bedrfniß der Vernunft [die bloß logische Vorschrift] durch einen Mißverstand fr einen transscendentalen Grundsatz der reinen Vernunft gehalten“ (B 365 f.). Soll das aber heißen, dass man gleich im Voraus die Ideen in ihrer angemessenen regulativen Bedeutung einsehen und ihre falsche konstitutive Bedeutung verwerfen kann, ohne sich auf die Aufdeckung des Scheins der dialektischen Schlsse im zweiten Buch der transzendentalen Dialektik einzulassen? Damit wrde aber die fr das Unternehmen der Dialektik zentrale Behauptung von der Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit des transzendentalen Scheins fallen.36 Das braucht nun tatschlich nicht zu 34 Zur regulativen Funktion der Idee gerade als „Regel“ vgl. insbesondere B 538 und zum „immanenten“ Charakter des angemessenen Gebrauchs insbesondere B 671. 35 Vgl. weiter unten 4.4 zur „faulen“ und „verkehrten Vernunft“ (B 717 ff.). 36 Diese verbreitete Ansicht vertritt neuerdings Klimmek, Kants System der transzendentalen Ideen, 35. Nach Rudolf Malter whlt Kant den Gang ber die dialektischen Schlsse nur deshalb, „weil er einem Faktum Genge tut, das im tatschlichen (nicht im transzendental-notwendigen) Gang der Konkretisierung der metaphysischen Intention (wie die Philosophiegeschichte fr Kant beweist) mit der
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geschehen. Es sei nmlich erinnert an die behandelte Angewiesenheit der logischen Maxime der Vernunft auf den Grundsatz des transzendentalen Gebrauchs. Die subjektiv gltige, regulative Funktion der Ideen lsst sich nicht etwa am subjektiv-logischen Vernunftgebrauch festmachen und die falsche konstitutive am scheinbaren realen bzw. transzendentalen. Der logische Gebrauch ist vielmehr nicht selbstgengsam, sondern bedarf der richtungweisenden transzendentalen Ideen, eben der Produkte des transzendentalen Gebrauchs. Um regulativ fungieren zu kçnnen, mssen die Ideen berhaupt erst entstehen. Das tun sie aber erst durch den Schluss vom Bedingten auf das Unbedingte als auf die vollendete Totalitt der Reihe der Bedingungen. Dieser Bezug auf das Unbedingte wird, wie gesehen, nur durch einen synthetischen Akt hergestellt. Zu diesem Akt, zu ihrem synthetischen Grundsatz, ist die Vernunft gençtigt: „wenn eine Erkenntniß als bedingt angesehen wird, so ist die Vernunft gençthigt, die Reihe der Bedingungen in aufsteigender Linie als vollendet und ihrer Totalitt nach gegeben anzusehen.“ (B 388). Sie ist gençtigt zu fordern, dass „die Reihe […] Totalitt der Bedingung enthalten [muß], gesetzt daß wir niemals dahin gelangen kçnnten, sie zu fassen [in der Erfahrung, in unserer empirischen Erkenntnis; J. P.]; und die ganze Reihe unbedingt wahr sein [muß], wenn das Bedingte, welches als eine daraus entspringende Folgerung angesehen wird, als wahr gelten soll“ (B 389). Die Kritik darf sich daher nicht einfach skeptisch-resignativ daran klammern, dass die Idee die Erfahrung bersteigt, obwohl Kant diese Erklrung im ersten Buch vorausschickt. Vielmehr muss die Kritik auf die dialektischen Schlsse eingehen. Diese scheinen ja, auf einen berempirischen Gegenstand zu schließen oder aber auf die Totalitt der Erfahrung, die selbst offenbar kein Gegenstand der Erfahrung ist. Diesen Schein der Schlsse hat die Kritik aufzudecken. Dabei fhrt der kosmologische Vernunftschluss in die Antinomie. Die Vernunft wird mit sich entzweit. Die Entscheidung des Streits ist nach Kant nur mçglich durch die Position des transzendentalen Idealismus, durch die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung bzw. von Phaenomena und Noumena: Nur weil die Reihe der Erscheinungen kein Bestehen an sich hat, ist es mçglich, dass weder ein unbedingter Anfang noch eine unendliche Reihe der Bedingungen an sich gegeben ist. Die Antinomie der Artikulation der metaphysischen Intention sofort auftritt.“ („Der Ursprung der Metaphysik in der reinen Vernunft“, 190). Die Notwendigkeit des Durchgangs durch den Schein sieht Georg Siegmann, „Zur systematischen Selbsttuschung der reinen Vernunft“, 268.
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Vernunft liefert daher eine unabhngige Besttigung fr die Lehre der transzendentalen sthetik. Auf das systematische Verhltnis zwischen den beiden Begrndungen des transzendentalen Idealismus (sthetik und Antinomie) wird das nchste Kapitel der Arbeit eingehen. In der transzendentalen Dialektik ist das Verfahren der Kritik jedenfalls folgendes: Die Vernunft schließt nach ihrem transzendentalen Grundsatz auf das Unbedingte in den kosmologischen Reihen; der Grundsatz ist aber in sich entzweit. Die Position des transzendentalen Idealismus bietet dann den Schlssel zur Auflçsung des Streits, indem sie den Grundsatz, wonach „die Reihe Totalitt der Bedingung enthalten muß“, als Schein entlarvt. Weil die Gegenstnde der Erfahrung nur in dieser und nicht als Dinge an sich selbst gegeben sind, ist auch die ganze Reihe ihrer Bedingungen nicht unabhngig von der Erfahrung gegeben, sondern nur der Regress in dieser Reihe aufgegeben (vgl. B 525 ff.; im Folgenden 4.3.2). Im Fall der zweiten Antinomie, bei der Teilung eines Kçrpers als empirisch gegebenen Ganzen, geht zwar der Regress „ins Unendliche“ (in infinitum); in den brigen Fllen geht er „in unbestimmbare Weite“ (in indefinitum) (B 541). Im ersten Fall ist es „mçglich, ins Unendliche“ den Rckgang fortzusetzen; im zweiten Fall ist es nur „ins Unendliche mçglich“, ihn fortzusetzen. „In keinem von beiden Fllen, sowohl dem regressus in infinitum, als dem in indefinitum, wird die Reihe der Bedingungen als unendlich im Object gegeben angesehen.“ (B 542). Die notwendige Forderung der Vernunft zu allem Bedingten als solchem, die Idee von der vollendeten Totalitt, bleibt dabei dennoch – freilich als „Problem ohne alle Auflçsung“ (B 384) – vorausgesetzt. Sie fungiert als „Regel“ (B 536) der Anstellung des Regresses, indem sie der sonst unbestimmbaren Suche ein Ziel weist und verhindert, dass der Regress an irgendwelchem Endlichen stehen bleibt (vgl. ausfhrlich im Folgenden 4.3.3). Der transzendentale Schein der an sich gegebenen – als Objekt gegebenen – Totalitt kann nicht mehr betrgen, dennoch hngt der regulative Gebrauch der Idee an seinem Nichtverschwinden. Die Vernunft ist „in ihrem transscendentalen Gebrauche […] an sich dialektisch“ (B 805), aber dieser Gebrauch ist unentbehrlich. Kant erklrt noch einmal unzweideutig, „dass wir durch einen nothwendigen Vernunftschluß auf solche Ideen gebracht werden“ am Anfang des zweiten Buches der Dialektik. Als dessen Thema erklrt er die Aufdeckung des „unvermeidlichen Schein[s]“ (B 397) dieser Schlsse auf das Unbedingte in ihren konkreten Gestalten unter den drei Klassen (Paralogismus, Antinomie, Ideal). Als „geschlossene Begriffe“ (B 366) stehen die Ideen nicht außerhalb von den dialektischen Schlssen der reinen Ver-
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nunft.37 Als solche sind sie auch keine gegebenen Begriffe, auch nicht in der Natur der Vernunft (d. h. a priori) gegeben wie die Kategorien, sondern gemachte Begriffe. Die Nçtigung, sie zu machen, auf sie zu schließen, liegt aber in der Natur der Vernunft, in ihrer logischen Verfassung. Die Ideen sind nach der Natur der Vernunft dieser eben aufgegeben.38 Mit dieser Naturanlage einher geht der Schein; durch ihn hindurch, durch die Logik und Kritik des Scheins hindurch, im Durchgang durch die Schlsse des zweiten Buches, gelangt die Vernunft zum angemessenen, legitimen Verstndnis ihrer Ideen. Dieses Verstndnis macht das Thema des Anhangs der Dialektik aus: „Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft“ (B 670 ff.; vgl. ausfhrlich im Folgenden 5.2.2). Dort wird deutlich, dass der angemessene Gebrauch an der unmçglichen Tilgung des transzendentalen Scheins als „unentbehrlich notwendig[er Illusion]“ (B 672 f.) hngt. Die Vernunft muss nmlich ein „transscendentale[s] Ding“ (B 710) als Brennpunkt der Richtungslinien aller Verstandesregeln annehmen, das als „Schema“ der Anwendung des regulativen Prinzips dient (B 710; vgl. B 672). Sie muss so tun, „als ob“ (B 700, 713) das Unbedingte, als ob die Totalitt oder ein Grund von ihr an sich gegeben wre. Die regulative Funktion trgt gerade der entwaffnete Schein. Daher ist die positive Lehre der transzendentalen Dialektik, d. h. die Lehre des ersten Buchs derselben von den Begriffen der reinen Vernunft und die Lehre des Anhangs vom 37 Dieser Zusammenhang zwischen den Lehren der beiden Bcher der Dialektik wird in der Interpretation von Michelle Grier, Kant’s Doctrine of Transcendental Illusion, bersehen. Grier diskutiert Kants Auffassung des Schlusses und das Verhltnis von formaler und transzendentaler Logik unzureichend und die Stelle B 397 gar nicht. Daher kann sie dann auch ihre richtige Einsicht, dass der Schein im transzendentalen Prinzip der Vernunft eine regulative Funktion trgt, nicht wirklich begrnden (vgl. Kant’s Doctrine, 263 ff.). 38 Die Ideen seien „nicht bloß reflectirte“ Begriffe, wie die Kategorien, die zwar der Erfahrung a priori vorhergehen, aber nur „die Einheit der Reflexion ber die Erscheinungen“ enthalten, sondern geschlossene Begriffe (B 366 f.). Daher sind sie nicht a priori gegeben, sondern a priori natrlich gemacht: „Begriffe sind entweder gegeben oder gemacht; iene vel a posteriori vel a priori. Diese entweder willkhrlich oder natrlich (durch Vernunft geschlossene Begriffe: ideen. oder willkhrlich gedichtete)“ (Refl 2853). Vgl. hierzu Klimmek, Kants System der transzendentalen Ideen, 7 ff.; Sallis, Die Krisis der Vernunft, 55 f. – Dass die Kategorien gegebene Begriffe sind, bedeutet nach Kant freilich nicht, dass sie angeboren sind. Vielmehr sind sie ursprnglich erworben; angeboren muss ihr Grund im Subjekt sein, d. h. das Vermçgen, sie zu denken (vgl. E 221 f.). Die Kategorien sind keine von unserem Urheber „eingepflanzte Anlagen zum Denken“, sondern „selbstgedachte erste Principien a priori unserer Erkenntniß“ (B 167).
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hypothetischen, regulativen Vernunftgebrauch, gerade nicht unabhngig von der negativen Lehre des zweiten Buchs von den dialektischen Schlssen der reinen Vernunft; der legitime regulative Gebrauch der Ideen nicht unabhngig von ihrer hypostatischen (konstitutiven) Bedeutung. Der subjektive, regulative Charakter der transzendentalen Ideen bedeutet, dass ihnen kein Gegenstand der Erkenntnis korrespondiert. Wird dabei aber die Verdinglichung (Vergegenstndlichung) des Unbedingten abgewehrt oder bloß seine Erkennbarkeit? Der Schein, dass die Totalitt der Erfahrung bzw. ein Grund dieser Totalitt an sich gegeben sei, wird dadurch entwaffnet ohne dass er verschwindet, dass dieser Grund in ein bloß denkbares, problematisches Jenseits der Erfahrung gerckt wird. Die Auflçsung des Scheins erfolgt ja durch die Unterscheidung von Phaenomena und Noumena, durch die Trennung der in infinitum oder in indefinitum gehenden Reihe bedingter Glieder einerseits vom bloß denkbaren Unbedingten andererseits (vgl. B 518 ff.). Das Unbedingte kann daher weder erkannt noch positiv angenommen werden; dafr wird es nicht anders denn hypostasiert gedacht, als Noumenon oder im Modus des Als ob. Kant hlt m. a. W. auch im Bereich der problematischen Noumena fest an der „natrlichen Ontologie“.39 Gerade die Auflçsung des Scheins durch die Trennung von Phaenomena und Noumena reproduziert insofern die Vergegenstndlichung des Unbedingten. Der logische (formale) Vernunftgebrauch setzt den „objective[n]“ (B 383) (transzendentalen) notwendig voraus. Diesen kann aber Kant – aufgrund der Kluft zwischen subjektivem Begriff und gegebenem Stoff (2.2.3) – nicht anders denken denn als Beziehung auf ein Objekt, auf das Unbedingte als ein Objekt. Das, was allen Schein macht: namlich die Verwechselung der subiectiven Bedingungen unseres Denkens mit den obiectiven. Diesen kçnnen wir nicht vermeiden, weil wir ein obiect unbedingt denken mssen und keine andere Art es zu denken haben als nur die, welche die besondere Beschaffenheit unseres Subiects mit sich bringt. (Refl 5553; vgl. Prol § 44)
Nach der Auflçsung des Scheins, wonach der Idee ein bestimmbarer Gegenstand korrespondiere, besteht das angemessene, subjektive Verstndnis der Idee darin, dass diese als Begriff von einem Noumenon, von einem nur denkbaren Gegenstand („Gedankending“ oder „ens rationis“, B 347 f.; vgl. B 497, 799) gedacht wird. Die Schwierigkeiten dieser Konzeption sollen im 4. Kapitel dieser Arbeit diskutiert werden. Insbesondere 39 Vgl. Henrich, „Kant und Hegel“, 194.
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im Fall der Antinomie wird sich nmlich as schwierig erweisen, das Unbedingte auch nur als bloß denkbares (widerspruchsfreies) Objekt fr den Verstand zu fixieren (4.3.2). 2.2.5 Schluss und Idee Zur Ableitung der Ideen anhand der Schlussformen bemerkt Kant selbst, dass der Gedanke, wonach der synthetische Gebrauch der logischen Funktion des Schlusses notwendig die Idee nach sich ziehe, „beim ersten Anblick ußerst paradox zu sein scheint“ (B 393). Tatschlich wird in der Forschung die Ableitung in der Regel als befremdlich angesehen und gar als knstlich und pedantisch abgetan. So berhebt sich P. F. Strawson in seinem berhmten Kommentar zur Kritik jeder Mhe einer Behandlung der Sache durch die schlichte Erklrung: „This logical framework, in its connexion with the topics of the Dialectic and its elaboration under the guidance of the fourfold division of the categories, is altogether too strained and artificial to be taken seriously.“40 Als Ergebnis der vorherigen Diskussion (2.2.1; 2.2.2) darf jedoch gelten, dass Kants Ableitung der Ideen als des transzendentallogischen Pendants zu der formallogischen Funktion des Schlusses im Großen und Ganzen technisch durchaus standhlt. Das Befremdliche der ganzen Konstruktion kann ihr vielleicht genommen werden, wenn ihre systematische sowie ihre historische Bedeutung in den Blick treten. Kants Ableitung der Ideen erreicht nmlich (1) die Systematisierung der traditionellen metaphysischen Gegenstnde, der Ziele der Metaphysik, unter der Bestimmung der Totalitt und damit auch die Transformation der entsprechenden Vorstellungen in Totalittsbegriffe. Als historischer Vorlufer dieser Wendung ist Spinoza zu nennen, als ihr Erbe in erster Linie Hegel.41 Kants Konstruktion im ersten Buch der transzendentalen Dialektik vollendet dabei (2) das Heften der Metaphysik an der Logik bzw. die Einverleibung der Metaphysik in die Logik, wozu die transzendentale Analytik den Grund gelegt hatte. Der analytische Teil der transzendentalen Logik trat ja an die Stelle der alten Ontologie (metaphysica generalis), der ersten Disziplin der Schulmetaphysik (vgl. B 303). Die Kategorien als 40 Strawson, The Bounds of Sense, 157. Vgl. ebd. 33 f.: „The logical framework [… of the Dialectic] is little more than a philosophical curiosity.“ 41 Vgl. hierzu Rotenstreich, Experience and its Systematization, 56 ff.
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Begriffe von Gegenstnden berhaupt wurden aus den logischen Funktionen des Verstandes in Urteilen gewonnen. Am selben Faden werden nun die Ideen hergeleitet. Im zweiten Teil der transzendentalen Logik haben die Gegenstnde der alten metaphysica specialis ihren angemessenen Ort. Sie sind Vergegenstndlichungen der Ideen von der Totalitt. „Alle wahre Metaphysik ist aus dem Wesen des Denkungsvermçgens selbst genommen“ (MAN 472): die letzten Ziele der Metaphysik ergeben sich als die Sammelpunkte, die das Denken gemß seiner Funktion im Schließen fordert.42 Die Herleitung der Ideen im ersten Buch der transzendentalen Dialektik ist die „subjective Ableitung derselben aus der Natur unserer Vernunft“. Eine „objective Deduction“ nach dem Vorbild der transzendentalen Deduktion der Kategorien, ein Nachweis der objektiven Gltigkeit der Ideen, ist nicht mçglich. „Denn in der That haben sie keine Beziehung auf irgend ein Object, was ihnen congruent gegeben werden kçnnte, eben darum weil sie nur Ideen sind.“ (B 393). Das Analogon einer solchen objektiven Deduktion, in Blick auf die unentbehrliche regulative Funktion der Ideen, enthlt allerdings der letzte Abschnitt der Dialektik „Von der Endabsicht der natrlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ (B 697 ff.) (vgl. im Folgenden 5.2.2).43 42 „Kant’s position corresponds, historically speaking, to a more or less pronounced incorporation of ontology into logic; and this fact has the greatest historical significance both as the major precedent to Hegel’s analogous endeavour, and as a basic alternative to it.“ Tonelli, Kant’s Critique of Pure Reason, 9 f. – Nach Hegel selbst: „Die kritische Philosophie machte […] bereits die Metaphysik zur Logik“, Wissenschaft der Logik I.1, GW 21, 35. 43 Der Ableitung der Ideen anhand der Schlussformen entspricht in der Analytik der Nachweis des reinen Ursprungs der Kategorien, ihre Entdeckung anhand der Urteilsfunktionen, im ersten Hauptstck dieses Teils der Kritik: „Von dem Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“ (B 91 ff.). Diesen Nachweis nennt dann Kant die „metaphysische[] Deduction“ der Kategorien in Abhebung von ihrer transzendentalen Deduktion: dem Nachweis ihrer Mçglichkeit als Erkenntnisse a priori von Gegenstnden (B 159). In der Forschung ist daher in Bezug auf das erste Buch der Dialektik oft die Rede von einer metaphysischen Deduktion der Ideen (etwa Zocher, „Zu Kants transzendentaler Deduktion der Ideen der reinen Vernunft“, 45; Malzkorn, Kants Kosmologie-Kritik, 39 ff.; Schmauke, ,Wohlttigste Verirrung‘, 27 ff.; Grier, Kant’s Doctrine of Transcendental Illusion, 132). Die Bezeichnungen metaphysisch und transzendental lehnen sich aber an die metaphysische und transzendentale Erçrterung der Begriffe von Raum und Zeit in der transzendentalen sthetik, wobei eine metaphysische Erçrterung „dasjenige enthlt, was den Begriff als a priori gegeben darstellt“ (B 38). Im Gegensatz zu Raum, Zeit und Kategorien sind die Ideen, wie ihre Ableitung zeigt, geschlossene
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Das Grnden der Ideen in der Natur der Vernunft bedeutet – bei aller missverstndlichen Rede Kants von Anlage und Hang (2.1) – nichts als ihr Grnden in einer logischen Funktion. In seiner (transzendental)logischen Bedeutung besteht auch der systematisch notwendige Gehalt des Begriffs des Unbedingten hinter allen durch die Tradition belasteten Namen (Seele, freier Wille, Gott). Nach Kant ist freilich die Vergegenstndlichung der Idee unvermeidlich. Dieser Aspekt ist aber auch kein bloßes Zugestndnis an die Tradition, sondern, wie gesehen, angelegt im Gesamtzusammenhang von Kants Theorie. Gegenber der Tradition bedeutet Kants „ußerst paradoxe“ Konstruktion eine gewisse Ironie – der liebe Gott sei zunchst nichts weiter als ein logisches Prinzip, das Pendant zur disjunktiven Schlussart44 – oder aber (nach Adorno) einen Ausdruck von Takt: aus den Quellen der Autonomie des Subjekts werden die Fixpunkte der alten Ordnung als logische Prinzipien hergeleitet und nur dadurch als verbindliche gerettet.45
2.3 Form und Materie der Erkenntnis Die transzendentalen Grundstze der Vernunft im engeren Sinne, die auf die Totalitt der Erkenntnis geht, kçnnen nach Kant nur subjektiv und nicht objektiv gltig sein. Die Einschrnkung der Ansprche der Vernunft im zweiten Buch und im Anhang der Dialektik wird im 4. und 5. Kapitel der Arbeit ausfhrlich diskutiert werden. Im Vorigen wurde diese Einschrnkung in Blick auf das Verhltnis von Urteil und Schluss erçrtert (2.2.3). Zum Abschluss dieses Kapitels soll ergnzend Kants Bestimmung der diskursiven, philosophischen Erkenntnis aus der Methodenlehre der Kritik in den Blick treten.
und damit gemachte Begriffe. Vgl. Klimmek, Kants System der transzendentalen Ideen, 7 ff. – Relevanter ist hier vielleicht die Unterscheidung, die Kant in der Vorrede zur A-Auflage bezglich der transzendentalen Deduktion der Kategorien unternimmt, und zwar zwischen einer objektiven und einer subjektiven Seite dieser Deduktion: Die erste Seite „bezieht sich auf die Gegenstnde des reinen Verstandes und soll die objective Gltigkeit seiner Begriffe a priori darthun und begreiflich machen“. Die zweite Seite „geht darauf aus, den reinen Verstand selbst nach seiner Mçglichkeit und den Erkenntnißkrften, auf denen er selbst beruht, mithin ihn in subjectiver Beziehung zu betrachten“ (A XVI f.). 44 Vgl. Deleuze, Logik des Sinns, 357 f. 45 Vgl. Adorno, Minima Moralia I, § 16, 39.
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Im Kapitel der Methodenlehre zur „Disciplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“ (B 740 ff.) unterscheidet nmlich Kant die rationale Erkenntnis, d. h. die Erkenntnis aus reiner Vernunft im weiteren Sinne des ganzen oberen Erkenntnisvermçgens, in zwei Zweige, in die philosophische und die mathematische Erkenntnis. Die Verzweigung grndet sich auf das Paar der Reflexionsbegriffe Form und Materie (vgl. B 751; B 322 ff.). Die philosophische Erkenntnis „aus Begriffen“ ist darauf angewiesen, dass das Dasein der Objekte und berhaupt die Materie der Erscheinungen in der sinnlichen Empfindung gegeben werden. Dieser empirische Gehalt lsst sich a priori aus Begriffen nicht bestimmen. Dagegen bezieht sich die Mathematik auf die bloße Form der Erscheinungen, den Raum und die Zeit als reine Formen unserer Sinnlichkeit, und kann ihre Gegenstnde in dieser reinen Anschauung konstruieren. Die mathematische Erkenntnis ist die Vernunfterkenntnis „aus der Construction der Begriffe“ (B 741). Unser Denken bezieht sich auf Gegenstnde schließlich nur vermittelst einer Anschauung, in der die Begriffe dargestellt werden. In der Mathematik verfgt es durch die Konstruktion ber ein Mittel, sich der Verwiesenheit auf eine Gegebenheit zu entledigen. Im Unterschied zum philosophischen, „discursiven Vernunftgebrauch“ ist der mathematische der „intuitive[]“ (B 747). Im ersteren ist „das Allgemeine jederzeit in abstracto (durch Begriffe)“. Dagegen kann die Mathematik „das Allgemeine in concreto (in der einzelnen Anschauung) und doch […] a priori erwgen“ (B 762). Kants Beispiel ist die Konstruktion einer geometrischen Figur, an der ein allgemeingltiger Beweis gefhrt wird (B 741 f.). Er htte ebenso gut das Prinzip der vollstndigen Induktion in der Arithmetik nennen kçnnen: nach dem Konstruktionsprinzip der Zahlenreihe lsst sich aus dem beliebigen Teil etwas fr die ganze Reihe allgemein beweisen. „Die philosophische Erkenntniß betrachtet also das Besondere nur im Allgemeinen, die mathematische das Allgemeine im Besonderen, ja gar im Einzelnen“ (B 742). Die Methode der Mathematik lsst sich daher in der Philosophie nicht nachahmen. So sind (a) nur die intuitiven Axiome der Mathematik unmittelbar gewiss (evident), whrend diskursive Grundstze auf ein vermittelndes Drittes beruhen und eine Deduktion (Rechtfertigung) bençtigen (vgl. B 760 ff.). Gleichfalls kçnnen (b) die diskursiven Beweise der Philosophie, selbst die apriorischen und daher apodiktisch gewissen, die „anschauende Gewißheit, d. i. Evidenz“ nicht beanspruchen, der sich die mathematischen „Demonstrationen“ durch die Konstruktion, die Darstellung des Allgemeinen in concreto, erfreuen (B 762). Es lassen sich weiter (c) eigentlich nur mathematische Begriffe definieren; „nur die
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Mathematik [hat] Definitionen“ (B 757). Definieren bedeutet nmlich, „den ausfhrlichen Begriff eines Dinges innerhalb seiner Grenzen ursprnglich darstellen“ (B 755). Die mathematischen Definitionen sind ursprnglich, nmlich „genetisch“ (Log § 106), denn ein mathematischer Begriff enthlt eine „willkrliche Synthesis“ (B 757): er wird „willkrlich gemacht[]“ (Log § 102) durch eine Konstruktion a priori. Er enthlt „gerade nur das, was die Definition durch ihn gedacht haben will“ (B 759); die Definition erfasst oder besser entwirft sein Wesen. Dagegen kann die Definition eines empirischen Begriffs nur eine vorlufige „Wortbestimmung“ (B 756), eine Namenerklrung (Nominaldefinition) und keine Realdefinition sein. Sie betrifft nur ein „logische[s] Wesen“ und nicht das „Realwesen“ der Sache (Log § 106). Die Frage nach der Ausfhrlichkeit und den Grenzen der notwendigen Merkmale bleibt nmlich fr die unerschçpfliche knftige Erfahrung offen. Ebenso wenig kann bei a priori gegebenen Begriffen die erschçpfende Bestimmung, die vollstndige Zergliederung des zunchst verworren Gegebenen, sichergestellt werden. Sie lassen sich auch nicht im strengen Sinne definieren (vgl. B 756 f.). Die Kategorien schon deshalb nicht, weil sie Bedingungen eines jeden Urteils sind, auch dessen, das sie zu definieren sich vornhme (vgl. A 245). Die Vernunftbegriffe oder Ideen sind zwar keine gegebenen, sondern gemachte Begriffe; sie werden aber nicht willkrlich gemacht, sondern als termini ad quos der Totalisierung der Kategorien und der in ihnen vorgestellten Synthesis. Der Philosoph darf keine Definition vorausschicken und damit einen fertigen Vernunftgegenstand voraussetzen.46 46 Die lesenswerte Studie J. Alberto Coffas zum Wiener Kreis und der „semantischen Tradition“ des 19. Jahrhunderts (Bolzano, Helmholtz, Frege) beginnt mit einem Kapitel ber Kant, dessen vermeintliche „confusions“ jene Tradition berwinde (Coffa, The Semantic Tradition from Kant to Carnap, 21). Kant verwechsele eine Bestimmung des analytischen Urteils, die es auf Definitionen und Logik zurckfhre (Enthaltensein), mit einer anderen erkenntnis- bzw. bedeutungstheoretischen (Erluterung vs. Erweiterung) und habe erstaunlich wenig zu sagen ber die ersten constituentia einer analytischen Definition (11, 16). „[H]e confused what can be grounded on concepts with the much smaller subclass of what can be grounded on definitions“ (20). Nach Kant kçnnen aber die Definitionen nur in der Mathematik vorangeschickt werden. Dort sind sie aber „synthetisch“ (Log § 100), ebenso wie alles daraus Gefolgerte. Die Analytizitt kann keine Frage der willkrlichen Aufstellung von Definitionen sein, ohne dass freilich damit schon ber Recht oder Unrecht der Kantischen Theorie entschieden werden kann. – Schon Lewis White Beck hat die problematischen Projektionen aufgezeigt, auf welche die sprachanalytischen Kritiken an der Kantischen Theorie des analytischen und synthetischen Urteils beruhen. Vgl. Beck, „Can Kant’s synthetic judgements
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2 Der Bezug auf das Unbedingte
Die Methode der Mathematik bßt also bei Kant den Vorbildcharakter ein, den sie in einer wirkungsmchtigen Tradition genoss. Sie lsst sich in der Philosophie nicht nachahmen, und ihr Vorteil ist nur erkauft mit ihrer Beschrnkung auf die Form als gegen die Materie der Erscheinungen (vgl. B 747; KU 366 Anm.). Der mathematische Gegenstand ist „nur die Form von einem Gegenstande“ (B 271). Eine geometrische Gestalt wird nmlich erzeugt durch eine reine Synthesis; ihr Begriff wird in der reinen Anschauung konstruiert. Der Begriff von einem realen Kçrper bezieht sich dagegen auf die Synthesis von empirischen Anschauungen. Geometrische Gestalten wie reale Kçrper sind jedenfalls „Composit[a]“, d. h. Ganzheiten, die aus ihren Teilen zusammengesetzt sind. Die Formen der Anschauung, Raum und Zeit, nennt Kant dagegen „Tot[a]“ (B 466): sie sind ursprngliche Vorstellungen, die nicht aus Teilen zusammengesetzt (nicht kollektiv) sind, sondern ihre Teile erst mçglich machen (obwohl sie freilich die Teile als solche unbestimmt lassen).47 Die mathematische Erkenntnis, durch die Darstellung des Allgemeinen in concreto, ist nun in der Lage, aus dem Besonderen das Allgemeine bzw. „aus den Theilen das Gantze“ zu bestimmen (Refl 4123). Das ist im diskursiven Vernunftgebrauch nicht mçglich. Im Gebiet der empirischen Erkenntnis ist die diskursive Vernunft ebenso wenig in der Lage, das Besondere in seiner Besonderheit aus dem Allgemeinen bzw. die Teile aus dem Ganzen zu bestimmen. „Die philosophie kann nur unter reine Begriffe subsumiren“ (Refl 4920) oder aber durch Vergleichung der Erscheinungen, durch (unvollstndige) Induktion, empirische Begriffe und Gesetze bilden. Aufgrund der unberbrckbaren Kluft zwischen Begriff und Anschauung, zwischen intellektueller Form und sinnlicher Materie der Erkenntnis, kçnnen ja die Vernunftbegriffe von der Totalitt, von der absoluten synthetischen (kollektiven) Einheit der Erkenntnis, fr die Gegenstnde nicht konstitutiv sein. Die transzendentale Dialektik entspringt aus dem Versuch der Vernunft, die Bedingtheit und Unbestimmtheit aufzuheben, die der Verstandeserkenntnis wegen ihrer Angewiesenheit auf die sinnliche Materie anhaftet. Die Vernunft strebt an, den unbedingten Zusammenhang der be made analytic?“; ders., „Kant’s theory of definition“. – Kants Theorie der Definition wirft auch ein Licht auf seine Praxis der Einfhrung von Begriffen. Vgl. hierzu Cassirer, Kants Leben und Lehre, 152 f.; Puder, Kant. Stringenz und Ausdruck, 22 ff. – Kants Kritik der Definition und deren Beschrnkung auf die mathematischen Gegenstnde, die „wesentlich nur [sind], was sie seyn sollen“, bernimmt brigens auch Hegel (Wissenschaft der Logik II, GW 12, 210 ff., 211). 47 Vgl. hierzu Dietrich, Kants Begriff des Ganzen, 43 ff.
2.3 Form und Materie der Erkenntnis
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Erkenntnis in der Form eines Ganzen zu erfassen. Die kosmologische Idee von der Totalitt in der Komposition der Erscheinungen fhrt aber in die Antinomie, und der Vernunftbegriff von einer absoluten kollektiven Einheit aller Begriffe und Gesetze des Verstandes (theologische Idee) kann auch nur als regulative Vorstellung der empirischen Erkenntnis dienen. Diese kollektive Einheit wird, wie gesehen, als ein systematisch gegliedertes und nicht gehuftes Ganzes vorgestellt. Dabei weist Kant hin auf eine Analogie zwischen der Totalitt als systematischer Einheit in der Idee einerseits und dem Raum als Totum andererseits: hier wie dort geht das Ganze den Teilen voran (vgl. B 647 f.). Die Analogie reicht allerdings nicht sehr weit, denn ein Totum ist gegenber seinen Teilen gleichgltig: nicht kollektiv und nicht gegliedert. Die menschliche Vernunft vermag weder ein bersinnliches zu erfassen noch die Erfahrung in ihrer Besonderheit a priori als ein System zu bestimmen. Sie vermag jedoch, „a priori […] die Form einer mçglichen Erfahrung berhaupt zu anticipiren“ (B 303). Die synthetischen Urteile a priori des Verstandes erfolgen dabei nicht „direct“ (B 764) aus Begriffen, sondern sind dadurch mçglich, dass die reinen Verstandesbegriffe auf die reine Anschauung, auf die mçgliche Erfahrung als Drittes, bezogen werden (vgl. 2.2.3). Im Gegensatz zu den durch die Konstruktion in der reinen Anschauung gewonnenen Stze der Mathematik, ist ein jedes solche Urteil „kein bestimmender synthetischer Satz, sondern nur ein Grundsatz der Synthesis mçglicher empirischer Anschauungen“ (B 750), eine Rahmenbedingung der Erfahrung. Wenn die Metaphysik traditionell „die Wissenschaft von den ersten Principien der menschlichen Erkenntniß“ (B 871) ist,48 dann ist sie nach Kants „Umnderung der Denkart“ (B XIX) als Wissenschaft mçglich: insofern nmlich diese Prinzipien nicht mehr in der „Natur der Dinge, welche unerschçpflich ist“, sondern im Verstand selbst gesucht werden (B 26). Dieser ist in der Absonderung „von allem Empirischen […] eine fr sich selbst bestndige, sich selbst gnugsame […] Einheit“ (B 89 f.). Es wird daher erwartet, dass sich die apriorische Verstandeserkenntnis systematisch gliedern lsst, indem eine Idee von ihr als Ganzem die Stellung der Teile zueinander bestimmt (siehe ebd.).
48 Vgl. A.G. Baumgarten, Metaphysica (1757), § 1 (in: AA 17, 23): „METAPHYSICA est scientia primorum in humana cognitione principiorum“. Diese Bestimmung der Metaphysik geht auf Descartes zurck. Vgl. Die Prinzipien der Philosophie, XLI (AT 9.2, 14).
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2 Der Bezug auf das Unbedingte
Die „Zergliederung des Verstandesvermçgens“ wird im analytischen Teil der transzendentalen Logik unternommen. Hier werden die reinen Verstandesbegriffe und die Grundstze erkundet: ihr systematischer Zusammenhang untereinander sowie ihre objektive Gltigkeit in Bezug auf Gegenstnde der Erfahrung, deren „intellectuelle Form“ (A 129; B 367) und Bedingung sie ausmachen. Diese transzendentale Untersuchung legt den Grund fr den allgemeinen Teil der Metaphysik (metaphysica generalis, Ontologie), fr die Transzendentalphilosophie.49 Der transzendentale Rckgriff auf die Bedingungen der Verstandeserkenntnis und der transzendente Ausgriff der Vernunft auf das Unbedingte sind aber voneinander gar nicht so sauber zu trennen, wie in der Kantrezeption und –forschung in der Regel angenommen wird. Dem systematischen Verhltnis von Verstand und Vernunft, von Analytik und Dialektik, wendet sich das nchste Kapitel der Arbeit zu.
49 „Ich nenne alle Erkenntniß transscendental, die sich nicht sowohl mit Gegenstnden, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenstnden berhaupt beschftigt. Ein System solcher Begriffe wrde Transscendental-Philosophie heißen.“ (A 11 f.).
3 Analytik und Dialektik 3.1 Die Veranlassung der Kritik Die Kritik der reinen Vernunft bedeutet den Versuch der Vernunft, „das beschwerlichste aller ihrer Geschfte, nmlich das der Selbsterkenntniß, aufs neue zu bernehmen“ (A XI). Ihre „Hauptfrage“ lautet: „was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen?“ (A XVII). Alle Ansprche der reinen Vernunft auf Erkenntnis sollen der kritischen Prfung unterzogen werden. Die transzendentale Dialektik liegt im Kern dieses Projekts. Die „Vernunfterkenntniß aus bloßen Begriffen“ ist ja „nichts als Metaphysik“ (B 878). Was sich die Vernunftkritik vornimmt, ist also „die Entscheidung der Mçglichkeit oder Unmçglichkeit einer Metaphysik berhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grnzen derselben“ (A XII). Die „Endabsicht“ der Metaphysik „mit allen ihren Zurstungen“ (B 7) richtet sich nun auf das Unbedingte, ber die bedingte Erfahrung hinaus. Auf die Mçglichkeit einer solchen Erweiterung der Erkenntnis ber die Grenzen der Erfahrung hinaus richtet sich vorrangig die Hauptfrage der Kritik. Zu diesem Zweck soll die Mçglichkeit synthetischer Urteile a priori geklrt werden. Nicht die Grundlegung der reinen Mathematik und reinen Naturwissenschaft ist das zentrale Anliegen der positiven Partien der Kritik, der transzendentalen sthetik und Analytik. Wenn in den Prolegomena sowie in der Vorrede und der Einleitung der B-Auflage die Fragen nach der Mçglichkeit dieser Wissenschaften und ihrer erfahrungsunabhngigen synthetischen Urteile gestellt werden, dann erfolgt das im Blick auf die Mçglichkeit der eigentlichen Metaphysik und der synthetischen Urteile a priori, die sie „ihrem Zwecke nach“ enthlt (B 18).1 Auf die Frage nach dem Unbe1
„[D]ieser Theil der Metaphysik ist berdem gerade derjenige, welcher den wesentlichen Zweck derselben, wozu alles andre nur Mittel ist, ausmacht“ (Prol 327); „Indessen wrde doch unsre mhsame Analytik des Verstandes, wenn unsre Absicht auf nichts anders als bloße Naturerkenntniß, so wie sie in der Erfahrung gegeben werden kann, gerichtet wre, auch ganz berflssig sein; denn Vernunft verrichtet ihr Geschfte sowohl in der Mathematik als Naturwissenschaft auch ohne alle diese subtile Deduction ganz sicher und gut: also vereinigt sich unsre Kritik des Verstandes mit den Ideen der reinen Vernunft zu einer Absicht, welche ber den Erfahrungsgebrauch des Verstandes hinausgesetzt ist“ (Prol 331).
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3 Analytik und Dialektik
dingten sind „alle Zurstungen“ gerichtet; die Analytik, die die Nachfolge der metaphysica generalis antritt, ist der Vorhof zu den Fragen der metaphysica specialis.2 Und gerade in diesen letzteren Erkenntnissen, welche ber die Sinnenwelt hinausgehen, wo Erfahrung gar keinen Leitfaden, noch Berichtigung geben kann, liegen die Nachforschungen unserer Vernunft, die wir der Wichtigkeit nach fr weit vorzglicher und ihre Endabsicht fr viel erhabener halten als alles, was der Verstand im Felde der Erscheinungen lernen kann, wobei wir sogar auf die Gefahr zu irren eher alles wagen, als daß wir so angelegene Untersuchungen aus irgend einem Grunde der Bedenklichkeit, oder aus Geringschtzung und Gleichgltigkeit aufgeben sollten. (B 6 f.)
Von der Frage nach dem Unbedingten darf nicht skeptisch abgesehen werden, denn das Unbedingte ist ja eine berechtigte Forderung der Vernunft zu allem Bedingten. Es bringt nicht viel, wenn man den Fragen der Metaphysik „den Rcken kehrt und abgewandten Hauptes einige rgerliche und bannale Phrasen ber sie hermurmelt“.3 Vielmehr ist die Kritik der Vernunft erforderlich: die „grndliche Untersuchung der Rechte der speculativen Vernunft“ (B XXXIV). Entwicklungsgeschichtlich betrachtet, bilden die Probleme der Dialektik auf jeden Fall den Ausgangspunkt der Kritik. Wie Kant am 21. 9. 1798 an Christian Garve schreibt, war es die Antinomie der reinen Vernunft, die ihn „aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben“ (AA 12, 258). Das Phnomen der Antinomie erschien vor den Augen Kants in der Kluft zwischen metaphysischer Kosmologie und empirischer mathematischer Naturwissenschaft, insbesondere im Streit zwischen Leibniz und Newtons Gefolgsmann Samuel Clarke ber die Beschaffenheit von Raum und Zeit.4 Das Problem der Unvertrglichkeit der Newtonschen Physik mit der Leibnizschen Metaphysik erforderte eine grndliche Untersuchung der 2
3 4
In der spten Preisschrift ber die Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz und Wolff wird die Metaphysik berhaupt in Rcksicht auf ihren Endzweck definiert, „auf den die ganze Metaphysik angelegt ist […]: ,sie ist die Wissenschaft, von der Erkenntniß des Sinnlichen zu der des bersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten‘“. Die Analytik als „Ontologie […] (als Theil der Metaphysik) […] gehçrt […] zu dieser nur als Propdeutik, als die Halle, oder der Vorhof der eigentlichen Metaphysik, und wird Transscendental-Philosophie genannt, weil sie die Bedingungen und ersten Elemente aller unserer Erkenntniß a priori enthlt“ (FM 260). Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, 175. Clarke, Der Briefwechsel mit G.W. Leibniz von 1715/1716.
3.1 Die Veranlassung der Kritik
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Methode der Metaphysik. Die Untersuchung des Problems der Antinomie brachte nun „großes Licht“.5 Dieses fhrte Kant zur Lehre von Raum und Zeit als subjektiven Anschauungsformen (transzendentale sthetik). Schon in der Dissertation von 1770 wird mit dieser Lehre die Grenze der Sinnlichkeit gezogen. Wenn aber die Subreptionen – die falschen Vertauschungen des Sinnlichen und des Intellektualen (vgl. MSI § 24) – vermieden werden, dann çffnet sich jenseits der Grenze der Raum fr den realen Vernunftgebrauch und fr die Erkenntnis der Dinge, wie sie sind: fr die rationale, metaphysische Erkenntnis von der intelligiblen Welt und von Gott (MSI §§ 16 ff.). Das Unbefriedigende dieser Lçsung fhrte in der Folge, ber die stillen Jahre der Vorbereitung der Kritik, zur kritischen Lehre von dem unvermeidlichen Schein und der Grenze der Vernunft (transzendentale Dialektik) sowie von der Restriktion des Verstandes durch die Sinnlichkeit (transzendentale Analytik).6 Im Antinomiekapitel der transzendentalen Dialektik treten dann als widerstreitende Lager, eben auf dem Felde der Kosmologie, einerseits der „Dogmatismus“ der rationalistischen Metaphysik (Thesen) und andererseits der „Empirismus“ der mathematischen Naturwissenschaft (Antithesen) hervor (B 494). Kant bezeichnet die Antinomie des Empirismus und des Dogmatismus auch als einen „Gegensatz des Epikureisms gegen den Platonism“ (B 499). Der Streit wird aber nicht behandelt als ein historisch ereigneter Disput zwischen verschiedenen individuellen Denkern, sondern als der Widerstreit und die Entzweiung der Vernunft selbst, die sich mit der 5
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„Ich sahe anfenglich diesen Lehrbegrif wie in einer Dmmerung. Ich versuchte es gantz ernstlich, Satze zu beweisen und ihr Gegentheil, nicht um eine Zweifellehre zu errichten, sondern weil ich eine illusion des Verstandes vermuthete, zu entdecken, worin sie stke. Das Jahr 69 gab mir großes Licht.“ (Refl 5037). „Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft“ war der Titel, unter welchem Kant in seinem Brief an Markus Herz vom 21. 2. 1772 die Kritik der reinen Vernunft angekndigt hat (AA 10, 129). Zum Problem der Beziehung der reinen Verstandesbegriffe auf sinnlich gegebene Gegenstnde und zur unbefriedigenden Auskunft der Dissertation hierber siehe ebd. 130 ff. Ein nheres Eingehen auf die Entwicklungsgeschichte Kants wrde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Zur Entwicklung der Antinomiethematik vgl. Hinske, „Kants Begriff der Antinomie und die Etappen seiner Ausarbeitung“; Falkenburg, Kants Kosmologie; Irrlitz, Kant-Handbuch, 52 ff. – Kants allererste Schrift galt dem Versuch, im Streit zwischen Cartesianern und Leibnizianern ber das wahre Maß der Kraft (m·v oder m·v2) zu vermitteln. Dass neben den Entdeckungen der großen Mnner Irrtmer anzutreffen waren, sei dabei „nicht sowohl ein Fehler des Menschen, als vielmehr der Menschheit“ (GSK 12). Zum Aufscheinen in dieser Schrift einer Auffassung der allgemeinen Vernunft als „dialektisch-dialogischer“ vgl. Kaulbach, Immanuel Kant, 18 ff.
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3 Analytik und Dialektik
gleichen Notwendigkeit zu Thesis und Antithesis verpflichtet sieht: Die unvermeidliche „ganz natrliche Antithetik“ ist ein eigenartiges „Phnomen der menschlichen Vernunft“ (B 433). Die Aufhebung dieses Skandals zielt keineswegs nur auf die Destruktion der traditionellen Metaphysik, vielmehr kann das positive Anliegen als das zentrale Problem des ganzen kritischen Unternehmens angesehen werden: Die von jedem Dogma ungetrbte Naturforschung ist fr die Erhaltung der Vernunft ebenso wesentlich wie der Gedanke von der Freiheit und Autonomie der Vernunft. Anstatt denselben Zweck zu befçrdern, scheinen nun aber diese beiden grundlegenden Maximen der Aufklrung einander zu widerstreiten. Bei der Auflçsung der notwendigen Antinomie der Vernunft geht es um die Vertrglichkeit von auf der Idee der Freiheit basiertem Menschenbild und Naturwissenschaft. Es geht um die Mçglichkeit der Freiheit in der kausal determinierten, newtonschen Welt. Wie sich der spte Kant auf einem Losen Blatt unter der berschrift „Von der Veranlaßung der Kritik“ notiert, wren die Irrtmer der spekulativen Vernunft, die sich ber die Grenzen der Erfahrung auszudehnen versucht, fr sich betrachtet „von keinen nachtheiligen Folgen“. Erst „die Freyheit und unter diesem Begriffe das Gesetz der Sittlichkeit“ in ihrem Widerstreit mit der Bestimmung nach Naturgesetzen nçtigen zur „Critik der Sinnlichkeit“ und zur Aufgabe, „die Moglichkeit, den Umfang und die Grentzen unsers speculativen ErkenntnisVermçgens genau zu bestimmen, damit sich nicht epicurische Philosophie des ganzen Vernunftfeldes bemchtige und Moral und religion zu Grunde richte“ (Refl 6317). Aber nicht nur in der Entwicklungsgeschichte Kants oder etwa in der relativen Wichtigkeit, die fr seine Person die Probleme besaßen, geht die Dialektik der Analytik voran. Vielmehr, so die These der vorliegenden Arbeit, die in diesem Kapitel expliziert werden soll, lsst sich auch in systematischer Hinsicht der positive Teil der Kritik vom negativen Teil berhaupt nicht abkoppeln.
3.2 Der Zirkel der Kritik Die Endabsicht aller Metaphysik ist, von der Erkentnis des Sinnlichen zu der des bersinnlichen aufzusteigen. Die Critik d. r. V. beweiset nun, daß dieses nie in theoretischer, wohl aber in moralisch-practischer Absicht ausgerichtet werden kçnne vermittelst des transscendentalen Begrifs der Freyheit, der in Rcksicht auf das theoretische Erkentnisvermçgen transscendent und absolut unerklrlich und unerweislich, in Hinsicht aber auf das reine practische (durch reine Vernunft allein bestimbare) Vermçgen aber durch den categorischen
3.2 Der Zirkel der Kritik
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Imperativ unbezweifelte Realitt hat. – Die Realitt des Freyheitsbegrifs aber zieht unvermeidlicherweise die Lehre von der Idealitt der Gegenstnde als Objecte der Anschauung im Raume und der Zeit nach sich. Denn wren diese Anschauungen nicht blos subjective Formen der Sinnlichkeit, sondern der Gegenstnde an sich, so wrde der practische Gebrauch derselben, d. i. die Handlungen wrden schlechterdings nur von den Mechanism der Natur abhngen, und Freyheit sammt (ihrer Folge) der Moralitt wre vernichtet. (Refl 6343)
Die Realitt des Freiheitsbegriffs zieht die These von der transzendentalen Idealitt der Erscheinungen nach sich, und nicht umgekehrt. Sie tut das aber also nur ber die transzendentale Dialektik der Kritik der reinen Vernunft. Diese blockiert den theoretischen Aufstieg zum bersinnlichen, erweist aber dabei gerade die Nicht-Unmçglichkeit des transzendentalen Begriffs der Freiheit. Die grundlegende Funktion der transzendentalen Dialektik kommt in den Schlussworten von Kants Sptschrift ber die Fortschritte der Metaphysik prgnant zum Ausdruck: Die Idealitt der Erscheinungen und die Realitt der Freiheit seien nmlich die beiden Angeln der kritischen Philosophie. Beyde Angeln aber sind gleichsam in dem Pfosten des Vernunftbegriffes von dem Unbedingten in der Totalitt aller einander untergeordneter Bedingungen eingesenkt, wo der Schein weggeschafft werden soll, der eine Antinomie der reinen Vernunft, durch Verwechselung der Erscheinungen mit den Dingen an sich selbst bewirkt, und in dieser Dialektik selbst Anleitung zum bergange vom Sinnlichen zum bersinnlichen enthlt. (FM 311)
Die zweite Angel zieht die erste nach sich nur ber diesen Pfosten. Der notwendige Vernunftbegriff von der Totalitt der Bedingungen fhrt nmlich zur Antinomie. Die Reihe der bedingten Glieder muss entweder eine unendliche Menge von empirischen Bedingungen (Empirismus) oder eine letzte unbedingte Bedingung (Dogmatismus) enthalten, und sie muss beides mit derselben Notwendigkeit. Sie muss es nicht, insofern die Reihe an sich nichts ist. Sie ist dann vielmehr eine Reihe von bloßen Erscheinungen, die unter der Bedingung der subjektiven Formen der Sinnlichkeit und der sinnlich restringierten Verstandesbegriffe stehen. Die Not der Auflçsung der Antinomie zwingt zur Unterscheidung von Sinnes- und Verstandeswesen, zur Trennung des Sinnlichen vom Intellektuellen: jenseits der bedingten Reihe çffnet sich dann der Raum fr das bersinnliche (die Freiheit). Die Antinomie von Rationalismus und Empirismus samt ihrer Auflçsung erscheint somit als eine Voraussetzung der Analytik, und zwar ihrer Lehre von den zwei Stmmen der Erkenntnis: dem Verstand, der Spon-
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3 Analytik und Dialektik
taneitt des Denkens, einerseits und der Empirie, der Rezeptivitt der Sinnlichkeit, andererseits (vgl. B 29, 74 f.). Der Verstand vermag es nicht, in letzten Prinzipien das Wesen der Dinge (bzw. „intellektuelle Anfnge“ (B 494) der Sinnenwelt) zu erfassen, sondern bleibt auf die fortschreitende Reihe der Erfahrung angewiesen. Das ist das bedingte Recht des Empirismus gegen den Rationalismus. Der Verstand verliert sich aber auch nicht in einer unendlichen empirischen Kette; vielmehr liegt aller empirischen Synthesis eine spontane ursprnglich-synthetische intellektuelle Leistung zugrunde. Das ist das bedingte Recht des Rationalismus gegen den Empirismus. Nach Kants Umnderung der Denkart, schreibt nmlich der Verstand die Form der Erfahrung a priori vor: die Bedingung der Mçglichkeit der Gegenstnde als Erscheinungen und ihres Zusammenhangs in Reihen.7 Die Analytik stellt dar, wie die Erkenntnis nur aus der Zusammenarbeit von Verstand und Sinnlichkeit, von Begriff und Anschauung, entsteht. Rationalismus und Empirismus werden berbrckt durch die Anerkennung der irreduziblen transzendentalen Differenz zwischen den beiden Quellen der Erkenntnis. In der Analytik findet keine Antinomie statt, sondern eine Synthesis der heterogenen Elemente bzw. eine Unterordnung: Vermittelt durch die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung, eine Leistung der Einbildungskraft, bringt der Verstand die Einheit der Synthesis unter seine reinen Begriffe zustande. Diese bestimmen aber eben nur die intellektuelle Form der sinnlich gegebenen Gegenstnde, die Form aller mçglichen Erfahrung, als notwendige aber nicht hinreichende Bedingung. Im Vorigen wurde gezeigt, wie die Vermittlung von Begriff und Anschauung, da die Kluft fortbesteht, mit einer Unbestimmtheit behaftet bleibt und wie sich der konkrete, wirkliche Zusammenhang der Erfahrung der allgemeinen Gesetzgebung entzieht (vgl. 2.2.3). Die Verstandeseinheit der Erscheinungen ist insofern bedingt, dass sie schon hinsichtlich der Mçglichkeit der Erfahrung auf das Gegebensein eines sinnlichen Mannigfaltigen angewiesen bleibt, whrend sie hinsichtlich der Wirklichkeit der Erfahrung von diesem zuflligen Material selbst abhngt. In seiner einigenden Ttigkeit ist der Verstand eine Funktion der Vernunft selbst als des ganzen oberen Erkenntnisvermçgens. Der Vernunft im engeren Sinne steht der Verstand „zu Diensten“ (KU 401), er ist ihr 7
Arend Kulenkampff stellt fest, „daß transzendentale Analytik und transzendentale Dialektik es mit ein und demselben Problem zu tun haben – dem des konstitutiven Schritts in die Reihe als in einen geordneten Zusammenhang“ (Antinomie und Dialektik, 88).
3.2 Der Zirkel der Kritik
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Angestellte,8 dem sie „alles“, d. h. alle direkte erkennende Beziehung auf Gegenstnde, „berlßt“ und „sich allein die absolute Totalitt im Gebrauche der Verstandesbegriffe vor[behlt]“ (B 382 f.). Im Dienste der Vernunft im engeren Sinne als des Vermçgens der systematischen Einheit unter Prinzipien stellt der Verstand die „Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln“ her. Diese synthetische Einheit versucht die Vernunft in der Dialektik bis zu ihrem unbedingten Grund auszudehnen, indem sie die „Einheit der Verstandesregeln unter Principien“ (B 359) fordert. Die Dialektik entspringt demnach aus der Analytik selbst, aus der Fortfhrung ihres Programms, das auf die Einheit der Erkenntnis ging.9 Die Dialektik ist eine Fortsetzung der Analytik: sie versucht, die „Einheit des Verstandes […] bis zum Unbedingten fortzusetzen“ (B 380), dieselbe „synthetische Einheit, welche in der Kategorie gedacht wird, bis zum Schlechthin-Unbedingten hinauszufhren“ (B 383). Das Vorgehen des Verstandes in seinen bedingten Urteilen kçnnte erst die Vernunft mit ihren Ideen der Totalitt absichern (vgl. im Vorigen 2.2.3). „Die Vernunft hat […] den Verstand […] zum Gegenstande.“ (B 671 f.). „Der Verstand macht fr die Vernunft eben so einen Gegenstand aus, als die Sinnlichkeit fr den Verstand.“ (B 692).10 In der transzendentalen Dialektik kulminiert daher das Programm der Kritik: die Selbstreflexion der erkennenden Subjektivitt, ihre Wendung auf sich selbst. Die formale Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft ist Sache der formalen Logik; ihre materiale Selbsterkenntnis ist die Aufgabe der transzendentalen Kritik und fhrt zur transzendentalen Dialektik. Die Dialektik ergibt sich keineswegs etwa nur unter vorkritischen Prmissen.11 Zur Dialektik nçtigt vielmehr die angestrebte Einheit der endlichen Verstandeserkenntnis, gerade auch nach der Weise, wie diese endliche Erkenntnis in der Analytik bestimmt wird. Insbesondere in der Antinomienlehre geht es um die Totalitt in der Synthesis der Erscheinungen, nicht gleich um die Forderung eines ber8 „Die Vernunft hat […] eigentlich nur den Verstand und dessen zweckmßige Anstellung zum Gegenstande“ (B 671 f.). Vgl. Kambartel, Erfahrung und Struktur, 109 ff. 9 Vgl. Rçttges, „Zur Entstehung und Wirkung des Kantischen Begriffs der Dialektik“, 25. 10 Vgl. auch Refl 5553: „So wie sich die Sinne verhalten zum Verstande, so der Verstand zur Vernunft. Die Erscheinungen der ersteren bekommen in dem zweyten Verstandeseinheit durch Begriffe und Begriffe in dem dritten Vermçgen Vernunfteinheit durch Ideen“. 11 Diese verbreitete Ansicht vertritt sehr entschieden Josef Schmucker, Das Weltproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft.
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3 Analytik und Dialektik
sinnlichen Gegenstandes (vgl. B 506). Die Dialektik ist als Fortsetzung der Analytik unvermeidlich, weil „die Erfahrung sich selbst und der Vernunft nicht zureichend sey, sondern immer weiter und also von sich abweise.“ (Refl 5938). Wenn nach dem Obigen die Dialektik von der Analytik vorausgesetzt wird, so bildet sie nichtsdestoweniger deren notwendige Fortsetzung.
3.3 Verstand und Vernunft 3.3.1 Analytik der Vermçgen Die Vernunft als das Vermçgen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien ist zumal schon in der Analytik am Werk. Das wird unzweideutig ausgesprochen gleich am Anfang der Analytik. Diese nimmt sich vor, die apriorischen Verstandesregeln „bis zu ihren ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstande [zu] verfolgen“ (B 91). Die Tafeln dieser Begriffe und Urteile des reinen Verstandes sollen dabei vollstndig sein. Diese Vollstndigkeit kann nicht gewhrleistet werden, wenn die Elemente in einem Aggregat zusammengehuft werden, sondern nur wenn sie in einem System gegliedert sind. Die Vollstndigkeit kommt zustande „nur vermittelst einer Idee des Ganzen der Verstandeserkenntnis a priori“ (B 89). Der Inbegriff der Erkenntnis des reinen Verstandes wird „ein unter einer Idee zu befassendes und zu bestimmendes System ausmachen“ (B 90); die reinen Begriffe werden nach einer Idee unter sich zusammenhngen und kçnnen daher „nach einem Princip“ (B 92) aufgesucht werden (Idee und Prinzip fallen wohl zusammen). Die Systematik der transzendentalen Analytik setzt also die Vernunft im engeren Sinne als das Vermçgen der Prinzipien, der systematischen Einheit und der Ideen des Ganzen voraus. Die Einteilung der reinen Verstandeserkenntnis verluft systematisch, insofern der Verstand, aus dem sie entspringt, in Absonderung von aller Sinnlichkeit, eine „sich selbst gnugsame“ (B 89), „absolute[] Einheit“ (B 92) ist. Fr diese Einheit des Verstandes ist eben zustndig die Vernunft. Kant erklrt nun, dass das Prinzip der vollstndigen Einteilung nichts anderes ist als das „Vermçgen zu urtheilen (welches eben so viel ist, als das Vermçgen zu denken)“ (B 106). Dieses Vermçgen ist aber der „Verstand berhaupt“ im Sinne des ganzen oberen Erkenntnisvermçgens, da sich „alle Handlungen des Verstandes [die Begriffsbildung wie das Schließen; J. P.] auf Urteile zurckfhren“ lassen (B 94). Die systemtragende Idee des Ganzen der Verstandeserkenntnis a priori ist also der Begriff vom Verstand
3.3 Verstand und Vernunft
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berhaupt als absoluter Einheit. Dieser Begriff ist ein Vernunftbegriff, den wohl der Verstand berhaupt qua Vernunft als einen Begriff von sich selbst entwirft.12 Im Herzstck der Analytik, der transzendentalen Deduktion der Kategorien, werden dann diese als Bedingungen a priori der Mçglichkeit von Erfahrungserkenntnis nachgewiesen. Damit soll auch die Mçglichkeit des reinen Verstandes selbst erklrt werden, in Betracht der „Erkenntnißkrfte [], auf denen er selbst beruht“ (A XVI). „[D]er hçchste Punkt, an dem man […] die ganze Logik und […] die Transscendental-Philosophie heften muß“, der Ursprung der Kategorien, wird dabei identifiziert als die transzendentale Einheit der Apperzeption; „ja dieses Vermçgen ist der Verstand selbst“ (B 134 Anm.).13 Die Beziehung aller empirischen Synthesis der Vorstellungen auf diese objektive, ursprngliche Einheit der Apperzeption bringt das Verhltnis der Vorstellungen unter Kategorien und ermçglicht den Objektbezug und die objektive Gltigkeit des entsprechenden Urteils. Der hçchste Punkt muss dabei eigentlich mehr sein als die Einheit des bloßen reinen Verstandes, in Absonderung von aller Sinnlichkeit. Die Einheit der ursprnglichen, reinen Apperzeption verbrgt nmlich die Einheit der ursprnglichen, reinen Synthesis des Materials der Anschauung; sie enthlt die „[s]ynthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen, als a priori gegeben“ (ebd.). Die Einheit des Verstandes steht also auch fr eine ursprngliche Synthesis von Verstand und Sinnlichkeit, von Begriff und Anschauung. Der hçchste Punkt ist die „allbefassende reine Apperception“ (A 123); er ist der reine Verstand als das „ganze[] mçgliche[] Selbstbewußtsein [zu dem] [a]lle mçgliche Erscheinungen [als Vorstellungen] gehçren“ (A 113). Dieser „Totalittssinn“14 der transzen12 Nach Michael Wolff ergibt sich der Vernunftbegriff des Verstandes berhaupt als conceptus ratiocinatus (richtig geschlossener Begriff ) und nicht ratiocinans (vernnftelnd) in der Argumentation des ersten Leitfadenabschnitts, d. h. des ersten Abschnitts vom ersten Hauptstck („Von dem Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“, B 91 ff.) der transzendentalen Analytik (Die Vollstndigkeit der kantischen Urteilstafel, 137). Im Folgenden wird versucht zu zeigen, dass der Vernunftbegriff vom notwendigen Schein nicht abgekoppelt werden kann. – Zur konkreten Einlçsung des Anspruchs auf systematische Vollstndigkeit der reinen Verstandeserkenntnis, d. h. zunchst der Tafel der Funktionen zu Urteilen, vgl. Wolffs Rekonstruktion der ersten beiden Leitfadenabschnitte. Siehe im Vorigen 2.2.2 Anm. 21. 13 Die Kategorien, d. h. die „Principien der objectiven Bestimmung aller Vorstellungen, so fern daraus Erkenntniß werden kann“, seien „alle aus dem Grundsatze der transscendentalen Einheit der Apperception abgeleitet“ (B 142). 14 Kulenkampff, Antinomie und Dialektik, 7, 93.
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3 Analytik und Dialektik
dentalen Apperzeption, die Einheit der Zusammensetzung aller mçglichen Erscheinungen als Voraussetzung ihrer Unterordnung unter die Kategorien, tritt vor allem in der A-Version der Deduktion hervor. Dort wird die allbefassende Apperzeption strker mit den Formen der Sinnlichkeit parallelisiert, welche als tota ihre Teile in sich enthalten. In der B-Auflage ist dagegen eher entscheidend der Gedanke der Unterordnung der Synthesis des Mannigfaltigen unter die Einheit des Verstandes.15 Die ursprngliche Einheit der Apperzeption, als hçchster Punkt, an dem alles hngt, liegt jedenfalls „hçher“ (B 131) als die Kategorien, in denen diese Einheit ausgedrckt wird. Im Paralogismuskapitel der Dialektik schreibt Kant: Die Apperception ist selbst der Grund der Mçglichkeit der Kategorien, welche ihrerseits nichts anders vorstellen, als die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung, so fern dasselbe in der Apperception Einheit hat. Daher ist das Selbstbewußtsein berhaupt die Vorstellung desjenigen, was die Bedingung aller Einheit und doch selbst unbedingt ist. (A 401)
Das transzendentale Selbstbewusstsein (Apperzeption) ist die Vorstellung eines Unbedingten. Der Begriff von diesem Unbedingten kann offenbar nur ein Vernunftbegriff sein, eine transzendentale Idee der ersten Klasse. Die unbedingte Einheit des denkenden Selbst kann natrlich, nach der Auflçsung des Scheins, in der transzendentalen Dialektik nicht als gegenstndlich gegeben verbrgt werden. Aus der Einheit der Apperzeption darf nicht auf eine einfache denkende Substanz geschlossen werden. Das denkende Ich erkennt „nicht sowohl sich selbst durch die Kategorien, sondern die Kategorien und durch sie alle Gegenstnde in der absoluten Einheit der Apperception, mithin durch sich selbst“. Nun kann ich „dasjenige, was ich voraussetzen muß, um berhaupt ein Object zu er15 Vgl. folgende Stellen in der A-Auflage: „[…] alles Bewußtsein gehçrt eben so wohl zu einer allbefassenden reinen Apperception, wie alle sinnliche Anschauung als Vorstellung zu einer reinen innern Anschauung, nmlich der Zeit.“ (A 123 f.) (als „allbefassend“ wird in der transzendentalen sthetik (B 39) der Raum charakterisiert); „Alle Erscheinungen liegen also als mçgliche Erfahrungen eben so a priori im Verstande und erhalten ihre formale Mçglichkeit von ihm, wie sie als bloße Anschauungen in der Sinnlichkeit liegen und durch dieselbe der Form nach allein mçglich sind.“ (A 127). In der B-Auflage rckt das „in“ hinter das „unter“ zurck: „Der oberste Grundsatz der Mçglichkeit aller Anschauung in Beziehung auf die Sinnlichkeit war laut der transscendentalen sthetik: daß alles Mannigfaltige derselben unter den formalen Bedingungen des Raums und der Zeit stehe. Der oberste Grundsatz eben derselben in Beziehung auf den Verstand ist: daß alles Mannigfaltige der Anschauung unter Bedingungen der ursprnglich-synthetischen Einheit der Apperception stehe“ (B 136).
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kennen, nicht selbst als Object erkennen“ (A 402; vgl. B 423). Das denkende Subjekt kann sich selbst nicht als hypostatisches Objekt erkennen. Alle Objekterkenntnis erfolgt nmlich durch die Kategorien. Das denkende Subjekt enthlt aber selbst den Grund dieser Kategorien, und sein Selbstbewusstsein ist daher die Vorstellung eines Unbedingten, das vorausgesetzt werden muss. Dieses Unbedingte, den hçchsten Punkt, an dem alles hngt, kann nur die Vernunft zum Gegenstand haben. Sie hat damit sich selbst bzw. ihren Grund zum Gegenstand, daraus aber keine Erkenntnis. Der Vernunftbegriff von der absoluten Einheit des denkenden Subjekts als Totalitt konstituiert kein Objekt. Der hçchste Punkt selbst ist kein Gegenstand positiver Erkenntnis, sondern nur ein „Gegenstand in der Idee“.16 Die Einheit des Verstandes bzw. der Vernunft ist nur „in der Idee“ und nicht gegenstndlich, berhaupt nicht positiv gegeben.17 Es wurde vorher das Wort „hçher“ zitiert: Die ursprngliche Einheit setzen die Kategorien voraus. „Also mssen wir diese Einheit (als qualitative, § 12) noch hçher suchen, nmlich in demjenigen“, was den Grund der logischen Funktionen in Urteilen, auf denen die Kategorien beruhen, enthlt, „mithin [den Grund] der Mçglichkeit des Verstandes sogar in seinem logischen Gebrauche enthlt.“ (B 131). Das schreibt Kant im § 15 der B-Deduktion. Er verweist also dabei auf den der Deduktion vorangegangenen § 12 und den Begriff der qualitativen Einheit. In diesem § 12 16 „Es ist ein großer Unterschied, ob etwas meiner Vernunft als ein Gegenstand schlechthin, oder nur als ein Gegenstand in der Idee gegeben wird. In dem ersteren Falle gehen meine Begriffe dahin, den Gegenstand zu bestimmen; im zweiten ist es wirklich nur ein Schema, dem direct kein Gegenstand, auch nicht einmal hypothetisch zugegeben wird, sondern welches nur dazu dient, um andere Gegenstnde vermittelst der Beziehung auf diese Idee nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirect uns vorzustellen“ (B 698). 17 Vgl. Refl 5553: „Die transscendentale Idee kan nichts als die Erkenntniskrfte zum obiect haben oder Vorstellungen berhaupt in Beziehung auf sie. Also 1. die Apperception, zweytens die Apprehension der Erscheinung, 3. den Begrif des Verstandes berhaupt. Das erste ist Vernunftbegrif vom Subiect, das zweyte vom obiect, so fern es gegeben werden kan, das dritte vom Gegenstande des Denkens berhaupt.“ Die Reflexion stammt aus der unmittelbaren Entstehungszeit der Kritik (1778/9). – In Hinsicht auf die systematische Vollstndigkeit der reinen Verstandeserkenntnis und auf die Einheit der Apperzeption als hçchsten Punkt legt Manfred Baum das Gewicht auf das „Selbstbewußtsein[] des Verstandes“ und betrachtet die programmatische Rede Kants von der Selbsterkenntnis der Vernunft als „unverbindlich[]“ („Systemform und Selbsterkenntnis der Vernunft bei Kant“, 40). Dagegen soll nach Peter Kçnig „die Bedeutung und Eigenstndigkeit der Kantischen Vernunfttheorie strker hervorgehoben werden“ („Die Selbsterkenntnis der Vernunft und das wahre System der Philosophie nach Kant“, 44).
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3 Analytik und Dialektik
der Analytik, einem Zusatz der B-Auflage, hatte Kant im Anschluss an die Tafel der Kategorien die transcendentia der Scholastiker behandelt: unum, verum, bonum; Einheit, Wahrheit und Vollkommenheit. Die transcendentia waren die hçchsten, transkategorialen Begriffe der scholastischen Metaphysik.18 Diese reinen Begriffe sollten auch nach Kant nicht zu den Kategorien gezhlt werden. Den Grund dafr sieht er aber darin, dass sie keine Begriffe von Gegenstnden sind. Sie wurden flschlich als ontologische Prinzipien, als „transscendentale Prdicate der Dinge“ angenommen, whrend sie „nichts anders [sind] als logische Erfordernisse und Kriterien aller Erkenntniß der Dinge berhaupt“ (B 113 f.). Sie entsprechen den Kategorien der Quantitt (Einheit, Vielheit, Allheit), wenn diese nicht „material“, d. h. eben als Begriffe von Gegenstnden, sondern „nur in formaler Bedeutung“ genommen werden und statt auf Gegenstnde auf die Erkenntnis von Gegenstnden gehen. Dann meint die Einheit die „Einheit des Begriffs“ als „qualitative Einheit“, die Wahrheit meint die „qualitative Vielheit“ der Erkenntnisse als der „wahre[n] Folgen aus einem gegebenen Begriffe“, und die Vollkommenheit meint die „qualitative Vollstndigkeit (Totalitt)“ der Erkenntnis (B 114). Der Status dieser reinen Begriffe, die also doch einen Platz im System der reinen Vernunft haben sollen, bleibt unklar, weil Kant nicht explizit sagt, dass sie eigentlich keine Verstandesbegriffe sind, sondern nur Vernunftbegriffe sein kçnnen.19 Die Vernunft ist ja diejenige Instanz, die auf die Verstandeserkenntnis reflektiert. Sie versucht „die große Mannigfaltigkeit der Erkenntniß des Verstandes auf […] die hçchste Einheit“ zu bringen (B 361). Die qualitative Einheit als kritisch transformiertes transcendens bedeutet nun die „Einheit der Zusammenfassung des Mannigfaltigen der Erkenntnisse“ (B 114). Darauf bezieht also Kant die transzendentale Einheit der Apperzeption. Diese zeigt sich in Beziehung auf den Verstandesgebrauch, mithin unter der Bedingung eines gegebenen Mannigfaltigen der Anschauung, als die Einheit des Begriffs, als die in der Kategorie gedachte synthetische Einheit. Unabhngig von jeder Bedingung, als unbedingte Einheit, wird sie von der Vernunft gedacht, in der transzendentalen Idee der ersten Klasse. Die Vollkommenheit deutet offenbar die theologische Idee an (vgl. B 714), whrend die Wahrheit, gerade wie sie, auf den ersten Blick paradox, als Erweiterung der Erkenntnisse 18 Vgl. Knittermeyer, Der Terminus transszendental in seiner historischen Entwickelung bis zu Kant. 19 Vgl. Picht, Kants Religionsphilosophie, 587 ff.
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bestimmt wird, auf die Ideen der zweiten Klasse, die Vernunftbegriffe von den Reihen der Erscheinungen, hinweist. Die Mçglichkeit der Erfahrung erfordert, dass alle Erscheinungen in den Horizont des „Ganzen aller mçglichen Erfahrung“, in den Horizont ihrer „durchgngigen Verknpfung“ (B 185) in Reihen, gestellt werden. Vermçge der reinen Apperzeption wird unter den Kategorien nur die allgemeine Form dieses durchgngigen Zusammenhangs bestimmt: nur die „formale[] Einheit der Natur“ (A 127). Das konkrete Ganze (nach den konkreten Verknpfungen) kann a priori nicht gewhrleistet werden; der Bezug darauf bleibt dennoch unentbehrlich, zum Behuf der durchgngigen, konkreten Zusammenstimmung des Verstandes mit sich. Den transformierten transcendentia gebhrt nun ein Platz in der Philosophie, insofern durch diese Begriffe „das Verfahren mit […den Kategorien] unter allgemeine logische Regeln der bereinstimmung der Erkenntniß mit sich selbst gebracht“ wird (B 116). In der transzendentalen Dialektik versucht gerade die Vernunft durch ihre Ideen, „den Verstand in die Richtung zu bringen, darin sein Gebrauch, indem er aufs ußerste erweitert, zugleich mit sich selbst durchgehends einstimmig gemacht wird.“ (B 380). Zum Behuf der Einheit der Verstandeserkenntnis muss die Vernunft, ber die Systematik der vom Subjekt auferlegten Formen hinaus, die unbedingte Einheit des Objekts (das Ganze der Erfahrung) bzw. die unbedingte Einheit von Subjekt und Objekt (die systematische Einheit aller empirischen Begriffe und Regeln) fordern. Die entsprechenden Ideen (der zweiten und dritten Klasse) kçnnen wohl nur als regulative Prinzipien dienen. Das regulative Prinzip zeigt aber eben den logischen Regeln (Maximen) der Vernunft die Richtung. Es muss, wenn auch nur als Stimulans der empirischen Forschung, zum Grunde des Verstandesgebrauchs gelegt werden. Kant bewahrt, wie noch zu sehen sein wird, auch den kosmologischen Ideen und der theologischen Idee ihre Stellen im System der reinen Vernunft, in der Metaphysik der Natur (vgl. im Folgenden 5.4).20
20 Vgl. Refl 5597: „Die Begriffe von der Welt, vom Einfachen, der Freyheit und der obersten Ursache [die Ideen der zweiten Klasse; J. P.] sind lauter Vernunftbegriffe, weil sie sich nicht in concreto an der Erfahrung zeigen lassen. Ihre Grundsatze sind also nicht Grundsatze des empirischen, sondern des transscendenten Gebrauchs der Vernunft; gleichwohl liegen sie im Fortgang der Vernunft zur Vollendung der synthesis. distributive oder collective Einheit der Erfahrungen berhaupt. Alle Erfahrung ist nicht das All der Erfahrung, und das ganze moglicher Erfahrung ist kein Gegenstand der Erfahrung. Aber hiebey komt doch das vor, was die Bedingung der Moglichkeit eines Ganzen ist.“ Die Verstandeseinheit der Erscheinungen
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3 Analytik und Dialektik
Das kritisch transformierte transcendens der Vollkommenheit als qualitativer Vollstndigkeit kann auch auf die Vollstndigkeit der reinen Verstandeserkenntnis bezogen werden. Dieser systematischen Vollstndigkeit hatte Kant, wie gesehen, den Vernunftbegriff vom Verstand berhaupt (und nicht von der Apperzeption) zugrunde gelegt. Nach der Reflexion 5553 hat aber die transzendentale Idee der dritten Klasse den Begriff vom Verstand berhaupt zum Objekt. Auch die hçchste Idee hat nur die Erkenntniskraft zum Gegenstand und nicht etwa einen existierenden Gott. Die Vernunft vermag durch ihre Ideen die systematische Einheit der reinen Verstandesregeln zu gewhrleisten, ohne sich freilich auf einen gegenstndlichen Grund dieser Einheit positiv beziehen zu kçnnen. Darber hinaus orientiert sich die Vernunft durch den regulativen Gebrauch der Ideen an der angestrebten systematischen Einheit auch der empirischen Verstandesregeln. Das ganze Unternehmen der transzendentalen Analytik besteht, wie gesehen, darin, die reine Verstandeserkenntnis „bis zu ihren ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstande“ zu verfolgen. Dieses Unternehmen setzt nach dem Obigen die Vernunft voraus, das hçchste Erkenntnisvermçgen, das den Verstand zum Gegenstand hat. Sein Feld kann der Verstand von sich aus nicht ausmessen, und zwar weder die systematische Einheit seiner reinen Erkenntnisse, noch aber die Erstreckung des Objektgebietes, wo diese Gltigkeit haben. Am Ende der Analytik, im Abschnitt ber die „Phaenomena und Noumena“, hlt Kant fest, dass […] der bloß mit seinem empirischen Gebrauche beschftigte Verstand, der ber die Quellen seiner eigenen Erkenntniß nicht nachsinnt, zwar sehr gut fortkommen, eines aber gar nicht leisten kçnne, nmlich sich selbst die Grenzen seines Gebrauchs zu bestimmen und zu wissen, was innerhalb oder außerhalb seiner ganzen Sphre liegen mag; denn dazu werden eben die tiefen Untersuchungen erfordert, die wir angestellt haben. Kann er aber nicht unterscheiden, ob gewisse Fragen in seinem Horizonte liegen, oder nicht, so ist er niemals seiner Ansprche und seines Besitzes sicher, sondern darf sich nur auf vielfltige beschmende Zurechtweisungen Rechnung machen, wenn er die Grenzen seines Gebiets (wie es unvermeidlich ist) unaufhçrlich berschreitet und sich in Wahn und Blendwerke verirrt. (B 297)
Die tiefe, „transscendentale[] Nachforschung“ (ebd.) der Analytik ist nicht das Werk des Verstandes im engeren Sinne, der nur das sinnlich gegebene Material zum Gegenstand hat. Sie ist das Werk des Verstandes im weiteren Sinne, der qua Vernunft sich selbst qua Verstand zum Gegenstand macht. umfasst wohl „alle Erfahrung“, aber erst die Vernunftbegriffe vom „All der Erfahrung“ geben die Bedingung der Mçglichkeit eines Ganzen der Erfahrung ab.
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Die Analytik bleibt nicht bei der Angabe der Elemente der reinen Verstandeserkenntnis, den Bedingungen aller empirischen Verstandeserkenntnis. Um den Nachweis zu fhren, dass sie diese Bedingungen sind, grbt die Nachforschung der Deduktion tiefer: bis zu den „Erkenntniskrften, auf denen der Verstand selbst beruht“ in seiner empirischen Erkenntnis, bis zur reinen Synthesis der produktiven Einbildungskraft und zur Einheit der Apperzeption.21 Kann aber damit auch die Grenzziehung innerhalb der Analytik erfolgen? Wann kann der Verstand wissen, dass er auf sinnliche Erfllung seiner Formen bedacht sein muss, damit er sich nicht „in Blendwerke verirrt“? Bedarf die Bestimmung seiner Grenze nicht der Entlarvung des Scheins bei dem Versuch der Vernunft, das Feld der sinnlichen Erfahrung zu berfliegen? Bedarf die Umgrenzung seiner Sphre nicht des Bezugs auf den Raum außerhalb der Grenze, der die Grenze definiert? Die Analytik ist die Logik der Wahrheit, die Dialektik die Logik des Scheins. Das soll aber nicht bedeuten, dass „die Scheidung von ,Analytik‘ und ,Dialektik‘ [die Scheidung] vom Gebiet der ,Vernunft‘ und dem der ,Vernnftelei‘“22 markiere. Vielmehr ist die Analytik die Lehre vom Verstand, die Dialektik die Lehre von der auf ihn reflektierenden Vernunft. „Analytik gehçrt zur Doktrin, Dialektik zur Kritik, Momente des Verstandes und der Vernunft“ (Refl 1675).23 Zur Logik der Wahrheit, als ihre unentbehrliche Ergnzung, muss auf jeden Fall auch die positive Lehre der transzendentalen Dialektik zugezhlt werden, nmlich die Lehre von den Ideen der reinen Vernunft und ihrer regulativen Funktion. Die Vernunft mit ihren Ideen hat sich ja erwiesen als die Bedingung der Einheit der reinen Verstandesregeln untereinander sowie der ursprnglichen Einheit des Verstandes. Ohne die regulative Funktion der Vernunft ist weiter kein zusammenhngender empirischer Verstandesgebrauch, damit kein Merk21 Die Einheit der Apperzeption liegt „hçher“ als die Kategorien, damit aber „tief[er] verborgen“ (B 334) im menschlichen Gemt. 22 So Cassirer, Kants Leben und Lehre, 144. – In einer neueren Dissertation sieht Melissa McBay Merritt zurecht die ganze Kritik als reflexive Selbstuntersuchung der Vernunft, des hçheren Vermçgens. Sie verortet aber die positive Lehre vom Vermçgen der Vernunft in der Analytik, im Gegensatz zur Dialektik als der Lehre vom Unvermçgen der Vernunft. Vgl. Merritt, Drawing from the Sources of Reason, 48, 104. 23 Diese Reflexion stammt allerdings aus den Jahren der Vorbereitung der Kritik. In der Kritik selbst beschrnkt dann Kant den Terminus Doktrin auf die Analytik der Grundstze, die auf die schematisierten, auf Erfahrung angelegten Kategorien beruhen. Vgl. Tonelli, Kant’s Critique of pure reason, 118 f.
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mal empirischer Wahrheit, mçglich. Das wurde im vorigen Kapitel gezeigt. Dort hat sich aber auch ergeben, dass die positive Lehre der Dialektik von der negativen Lehre, der Logik des Scheins, nicht unabhngig ist. 3.3.2 Dialektik der Vermçgen Der Verstand im engeren Sinne hat die Sinnlichkeit zum Gegenstand. Er verarbeitet das Material der Anschauung zu einer Erkenntnis der Objekte der Erfahrung. Im Gesichtsfeld des Verstandes stehen diese empirischen Objekte und ihr Zusammenhang nach mannigfaltigen Regeln. Die Rahmenbedingungen dieses Gesichtsfeldes stellen die reinen Begriffe und Grundstze, die reinen Formen des Verstandes. Der Verstand ,sieht‘ also seine Objekte durch diese seine Formen. Er sieht weder die Quelle des sinnlichen Materials, noch aber seinen eigenen Rcken: den Ursprung seiner Formen und ihren Zusammenhang untereinander. In sein Gesichtsfeld tritt also weder das transzendentale Objekt als Grund der Erscheinung noch der transzendentale Grund seiner eigenen Einheit. Von diesen seinen Bedingungen, von der Beschrnktheit seines Feldes, kann der Verstand im engeren Sinne von sich aus nicht wissen. Diese Bedingungen kçnnen auch berhaupt im Rahmen der Analytik nur als Schranken des aufs Empirische gerichteten Verstandes in den Blick treten, nicht als Grenzen einer auch auf sie gerichteten Erkenntnis.24 Die Vernunft geht in der transzendentalen Dialektik auf das Unbedingte, indem sie auf die Bedingungen der Verstandeserkenntnis reflektiert. Sie versucht, die bedingte synthetische Einheit, die in den Kategorien gedacht wird, bis zum Unbedingten hinauszufhren. Das Unbedingte ist in seinen drei Gestalten jedes Mal der terminus ad quem des unaufhaltsamen Rckgriffs der Vernunft auf die Bedingungen des Verstandes. Die transzendentale Einheit der Apperzeption wird zwar, wie gesehen, in der Analytik als hçchster Punkt vorausgesetzt, fungiert aber dort nur als formale Bedingung in Bezug auf das gegebene Material. Die Einheit des Subjekts als unbedingten Grund versucht die Vernunft erst in der Dialektik 24 „So lange die Erkenntniß der Vernunft gleichartig ist, lassen sich von ihr keine bestimmte Grenzen denken. In der Mathematik und Naturwissenschaft erkennt die menschliche Vernunft zwar Schranken, aber keine Grenzen, d. i. zwar daß etwas außer ihr liege, wohin sie niemals gelangen kann, aber nicht daß sie selbst in ihrem innern Fortgange irgendwo vollendet sein werde.“ (Prol 352). Die Schranken der gleichartigen Erkenntnis treten gar nicht in ihr Gesichtsfeld, sie sind ihr in ihrem Fortgang gleichgltig.
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zu erkennen: in der Schlusskette, die zur transzendentalen Idee der ersten Klasse fhrt.25 Indem nun die Vernunft erstens das Unbedingte jedes Mal als eine berechtigte Forderung zu allem Bedingten ausweist, zweitens aber im Versuch scheitert, mit den Mitteln des Denkens dieses Unbedingte zu erfassen, erweist sich, dass der Gebrauch dieser Denkmittel nur in einem begrenzten Gebiet, dem der bedingten sinnlichen Erscheinungen, Erkenntnis liefern kann. Damit wird dieses Feld der objektiv gltigen Verstandeserkenntnis berhaupt erst abgegrenzt. Kant fhrt diesen Sachverhalt aus in der Methodenlehre der Kritik („Von der Unmçglichkeit einer skeptischen Befriedigung der mit sich selbst veruneinigten reinen Vernunft“, B 786 ff.) und prgnanter in den Prolegomena („Von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft“, §§ 57 ff.): Jede Grenze setzt, im Unterschied zu einer bloßen Schranke, einen Raum außerhalb ihrer voraus. Ein begrenztes Gebiet kommt, im Gegensatz zu einem bloß beschrnkten, an dieser seiner definiten Grenze mit dem es umschließenden Raum in Berhrung. Die Grenze der Erfahrung kann nun erst dann bestimmt werden, wenn die notwendige Beziehung der Erfahrung auf einen solchen Raum, der notwendige Fortgang zum Unbedingten, aufgezeigt wird.26 Die Vernunft kann die in diesem Raum beheimateten Gegenstnde ihrer Ideen als Noumena nur denken; der Verstand erkennt im begrenzten Gebiet seine Phnomene durch seine sinnlich restringierten 25 In der Nachfolge Kants wird Fichte das Ich, das „ursprnglich schlechthin sein eigenes Seyn [setzt]“, als unbedingten terminus a quo im obersten Grundsatz der Wissenschaftslehre von 1794 bestimmen (Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 98). Kant selbst hatte natrlich in der transzendentalen Deduktion der Kategorien den „Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperception […] das oberste Princip alles Verstandesgebrauchs“ genannt (B 136). Nach Fichte habe Kant damit auf Fichtes „absoluten Grundsatz alles Wissens […] gedeutet in seiner Deduction der Kategorien; […] ihn aber nie als Grundsatz bestimmt aufgestellt“ (Grundlage, 99). Kant legt in Wahrheit ein anderes Begrndungsverhltnis zugrunde als Fichte: das notwendige Verfehlen des Unbedingten in der transzendentalen Dialektik. 26 „[D]a uns die transscendentale Ideen […] den Fortgang bis zu ihnen [den Gedankenwesen] nothwendig machen und nur also gleichsam bis zur Berhrung des vollen Raumes (der Erfahrung) mit dem leeren (wovon wir nichts wissen kçnnen, den Noumenis) gefhrt haben, kçnnen wir auch die Grenzen der reinen Vernunft bestimmen; denn in allen Grenzen ist auch etwas Positives […], dahingegen Schranken bloße Negationen enthalten.“ (Prol 354); „[Die Vernunft fhrt uns] bis zur objectiven Grenze der Erfahrung, nmlich der Beziehung auf etwas, was selbst nicht Gegenstand der Erfahrung, aber doch der oberste Grund aller derselben sein muß“ (Prol 361).
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Grundstze. Die Grenzziehung erfolgt erst in der transzendentalen Dialektik als der Kritik des dialektischen Scheins. Kann unsere Kritik dahin gelangen, den Schein dieser angemaßten [transscendenten] Grundstze aufzudecken, so werden jene Grundstze des bloß empirischen Gebrauchs im Gegensatz mit den letztern immanente Grundstze des reinen Verstandes genannt werden kçnnen. (B 352 f.)
Erst dann kann der Verstand im weiteren Sinne wissen, dass seine Formen nur auf dem begrenzten Gebiet der sinnlichen Erscheinungen Erkenntnis liefern. Erst dann wird dieses Gebiet, der volle Raum der Sphre, umschlossen vom leeren Raum des nur Denkbaren und somit begrenzt. Die Oberflche der Sphre, ihr Rahmen, ist der Sitz der transzendentalen Grundstze des Verstandes.27 In der Abgrenzung vom bloß denkbaren Unbedingten und in der notwendigen Beziehung auf diesen seinen problematischen Grund, besitzt der Verstand das Innere seiner Sphre unter einem sicheren „Titel“ (B 295). Der Ausgriff der Vernunft auf das Unbedingte ist notwendig gerade fr die Begrenzung und gerade fr die Begrndung der endlichen Verstandeserkenntnis. Der Verstand im weiteren Sinne darf sich nicht einfach skeptisch auf die im Brauch bewhrten Erkenntnisse auf der Erfahrungsebene beschrnken. Er muss den Schritt darber hinaus wagen, den Schein der transzendenten Grundstze grndlich verfolgen und ihn aufdecken zusammen mit den Grnden, die zu ihm nçtigen. Das ist auch die eigentliche Antwort Kants an Hume, und nicht fr sich gesehen die zweite Analogie der Erfahrung. Indem Hume die erheischte Untersuchung auslsst, kann er der Vernunft nur Schranken und keine Grenzen aufweisen. Er kann „unsern Verstand nur einschrnk[en], ohne ihn zu begrenzen“ (B 795) und kennt nicht die Grenze „zwischen den gegrndeten Ansprchen des Verstandes und den dialektischen Anmaßungen der Vernunft […]: so fhlt die Vernunft, deren ganz eigenthmlicher Schwung hiebei nicht im mindesten gestçrt, sondern nur gehindert worden, den Raum zu ihrer Ausbreitung nicht verschlossen und kann von ihren Versuchen, unerachtet sie hie oder da gezwackt wird, niemals gnzlich abgebracht werden.“ (B 796). 27 „Unsere Vernunft ist nicht etwa eine unbestimmbar weit ausgebreitete Ebene, deren Schranken man nur so berhaupt erkennt, sondern muß vielmehr mit einer Sphre verglichen werden, deren Halbmesser sich aus der Krmmung des Bogens auf ihrer Oberflche (der Natur synthetischer Stze a priori) finden, daraus aber auch der Inhalt und die Begrenzung derselben mit Sicherheit angeben lßt.“ (B 790).
3.3 Verstand und Vernunft
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Die fortschreitende empirische Verstandeserkenntnis selbst nçtigt zum Schritt in den dunklen Bereich jenseits der sinnlichen Erfahrung. „In dieser Dunkelheit steckt die Critick der Vernunft die Fackel auf, Erleuchtet aber nicht die uns unbekanten Gegenden jenseit der Sinnenwelt, sondern den dunkeln Raum unseres eigenen Verstandes.“ (Refl 5112). Die Kritik wirft kein Licht auf irgendwelche bersinnlichen Gegenstnde, deckt aber den transzendentalen Schein als solchen auf, d. h. sie erleuchtet die Natur des Verstandes, aus der dieser Schein entspringt. Erst damit ist der Verstand vor der Gefahr der Blendwerke geschtzt und Herr im eigenen Hause.28 Verstand und Vernunft treten in der transzendentalen Dialektik als die Personen eines Dialogs auf. In den Antinomien schlagen sich in einem gewissen Sinne die Vernunft auf die Seite der Thesen und der Verstand auf die Seite der Antithesen. In den Thesen kommt nmlich der metaphysische Anspruch der Vernunft zum Ausdruck, in den Antithesen dagegen das Interesse des empirisch forschenden Verstandes (vgl. B 496 f.; differenzierter im Folgenden 4.3.1). Auf beiden Seiten handelt es sich aber zunchst um eine Totalisierung der Synthesis des Verstandes. Die Antithesen mçchten nichts außerhalb der Reihe der Bedingungen gelten lassen; die Thesen schließen auf einen Abschluss der Reihe, auf eine letzte Bedingung nach dem Muster der brigen. Die absoluten Ansprche der Verstandeserkenntnis werden nun aus dem Standpunkt des hçheren Vermçgens, vor dem hohen Richterstuhl der Vernunft, zurckgewiesen. Das ist die Auflçsung der Antinomie durch die Trennung der Sinnenwelt, des Bereichs der gltigen Verstandeserkenntnis, von ihrem noumenalen, „intelligibelen Grund“ (B 591). Der sich absolut setzende Verstand erscheint damit als die kritisierte Vernunft; die Vernunft im engeren Sinne als die kritisierende.29 Der Titel der Kritik der reinen Vernunft ist bekanntlich doppeldeutig: der Genitiv sei als genitivus obiectivus ebenso wie als genitivus subiectivus zu lesen. Diesem Verhltnis von Verstand und Vernunft gibt aber Kant auch eine andere Wendung, am prgnantesten im § 76 der Kritik der Urteilskraft; in 28 Eine von der hier vorgelegten vçllig abweichende Interpretation der zitierten Reflexion bietet Heinz Eidam, Dasein und Bestimmung, 231. Er meint, die Kritik erleuchte nur die „Schattenwelt des Verstandes“, also das Innere der Sphre, und nicht das wahre Sein jenseits dessen (platonisch gesprochen: außerhalb der Hçhle). Auf die Reflexion 5112 kommt das nchste Kapitel zurck (4.5). 29 Vgl. B 559 f. zur Auflçsung der dynamischen Antinomien: „indem die dialektischen Argumente, welche unbedingte Totalitt in bloßen Erscheinungen auf eine oder andere Art suchten, wegfallen, dagegen die Vernunftstze in der auf solche Weise berichtigten Bedeutung alle beide wahr sein kçnnen“.
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einer „episodisch[en]“ Betrachtung, „welche es gar sehr verdient in der Transscendentalphilosophie umstndlich ausgefhrt zu werden“: Die Vernunft ist ein Vermçgen der Principien und geht in ihrer ußersten Forderung auf das Unbedingte; da hingegen der Verstand ihr immer nur unter einer gewissen Bedingung, die gegeben werden muß, zu Diensten steht. Ohne Begriffe des Verstandes aber, welchen objective Realitt gegeben werden muß, kann die Vernunft gar nicht objectiv (synthetisch) urtheilen und enthlt als theoretische Vernunft fr sich schlechterdings keine constitutive, sondern bloß regulative Principien. Man wird bald inne: daß, wo der Verstand nicht folgen kann, die Vernunft berschwenglich wird und in zwar gegrndeten Ideen (als regulativen Principien), aber nicht objectiv gltigen Begriffen sich hervorthut; der Verstand aber, der mit ihr nicht Schritt halten kann, aber doch zur Gltigkeit fr Objecte nçthig sein wrde, die Gltigkeit jener Ideen der Vernunft nur auf das Subject, aber doch allgemein fr alle von dieser Gattung, d. i. auf die Bedingung einschrnke, daß nach der Natur unseres (menschlichen) Erkenntnißvermçgens oder gar berhaupt nach dem Begriffe, den wir uns von dem Vermçgen eines endlichen vernnftigen Wesens berhaupt machen kçnnen, nicht anders als so kçnne und msse gedacht werden: ohne doch zu behaupten, daß der Grund eines solchen Urtheils im Objecte liege. (KU 401)
Hier ist es also der sinnlich restringierte Verstand, der die Vernunft kritisiert. Diese bleibt auf seine diskursiven Erkenntnismittel angewiesen. Die Vernunft ist ja nur eine Funktion des Denkens, wie der Verstand. Sie verfgt ber keine anderen Erkenntnismittel, etwa eine intellektuelle Anschauung. Die diskursiven Mittel des Verstandes taugen aber nur unter der Bedingung eines gegebenen Materials, einer empirischen Bindung. Wo die Vernunft, sich nach dem Unbedingten sehnend, das Feld der Erfahrung verlsst, dort kann sie nichts mehr objektiv erkennen. Der Verstand, der ihr nicht mehr folgen kann, ist derjenige, der sie dann zgelt und der ihre transzendenten Grundstze auf bloß regulative, subjektiv gltige Prinzipien depotenziert. Der Dialog zwischen Verstand und Vernunft, ihr Widerstreit, der natrlich ein Selbstgesprch der einen Vernunft, die „Veruneinigung der Vernunft mit sich selbst“ (B 492), ist, zeigt sich als eine wechselseitige Kritik der beiden Momente. Die Vernunft hlt dem Verstand entgegen, dass er auf ein Unbedingtes angewiesen bleibt, das er mit seinen Erkenntnismitteln nicht erreichen kann. Der Verstand erwidert, dass die Vernunft ihrerseits auf diese seine Mittel angewiesen bleibt und seine bedingte Erkenntnis nicht bersteigen kann. Die Vernunft kritisiert den Verstand, dass seine Sphre endlich und bedingt ist; der Verstand kritisiert die Vernunft, dass sie diese seine Sphre nicht berfliegen darf. Die Kritik des Verstandes an der Vernunft setzt aber die Kritik der Vernunft an dem
3.4 Die Architektonik der Kritik
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Verstand voraus. Der Verstand muss auf den Raum, den er zunchst nicht sehen kann, geblickt haben, um von seiner Sphre als einer begrenzten zu wissen.30 Die schwankende Terminologie Kants, die verwirrende Verwendung von Vernunft sowohl wie Verstand im engeren und im weiteren Sinne, hat einen Grund in der Sache. Die Vernunft ist der Verstand selbst, insofern er auf seine Bedingungen reflektiert. Der zu sich gekommene Verstand ist die Vernunft selbst, die sich „auf ihr eigentmliches Feld, die Natur“ (B 729) bzw. die Erfahrung bescheidet. Die Trennung von Verstand und Vernunft als transzendentaler Vermçgen kann sich eigentlich erst in der transzendentalen Dialektik vollziehen. Wie gesehen, hebt erst die Kritik des Scheins die transzendentalen Grundstze des Verstandes als immanente von den transzendenten, problematischen Prinzipien der Vernunft ab. In ihrem Widerstreit mit sich selbst scheidet sich die Vernunft in ihre zwei Momente. Die Aufhebung der Antinomie ordnet diesen Momenten ihre Gegenstandsbereiche (Bedingtes und Unbedingtes, Phaenomena und Noumena) und ihre Kompetenzen zu.31 In dieser Scheidung kommt bezeichnenderweise eine ursprngliche Bedeutung der Begriffe Kritik (jq_meim = scheiden) sowie Dialektik (diak]ceim = absondern) zum Ausdruck.
3.4 Die Architektonik der Kritik Es ergibt sich nach allem vorangehenden ein Zirkel in der Architektonik der Kritik der reinen Vernunft. Die Analytik scheint die Dialektik vorauszusetzen: die Begrenzung des Feldes der gltigen Erkenntnis, die Trennung von Phaenomena und Noumena, die Unterscheidung von transzendental (immanent) und transzendent, von Verstand und Vernunft – die Scheidung (jq_sir) der Vernunft in ihre zwei Momente – erfolgen erst im zweiten und wesentlich kritischen Teil der Kritik. In diesem Sinne ist die 30 Vgl. Arndt, Dialektik und Reflexion, 44. Zur wechselseitigen Kritik und der Aufeinanderbezogenheit von Verstand und Vernunft vgl. ebd. 42 – 50. 31 In formaler Hinsicht, als logische Vermçgen, unterscheiden sich natrlich Verstand und Vernunft als Vermçgen des Urteilens und des mittelbaren Schließens. Die angemessene Bestimmung der transzendentallogischen Funktion des Schlusses, der Vernunft als transzendentalen Vermçgens, erfordert aber den Durchgang durch die Kritik des Scheins (vgl. im Vorigen 2.2). – Auch fr die Begriffe Verstand und Vernunft gilt folgende Bemerkung Friedrich Schlegels: „Die Transc[endental]begriffe behandelt K.[ant] wie homerische Gste; erst lange nach d[em] Empfang werden sie gefragt, wer sie sind.“ (Philosophische Lehrjahre, 67, Nr. 463).
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Bemerkung von Friedrich Schlegel verstndlich: „Offenbar mßte (in der Diaskeuase) die Dialektik der Analytik vorangehn; so wrde alles viel deutlicher werden.“32 Andererseits setzt natrlich auch die Ausfhrung der Dialektik die Analytik voraus. Die Analytik wird nmlich zunchst als „Wçrterbuch“ (B 109) vorausgesetzt: als Auflistung der Elemente der reinen Verstandeserkenntnis, der Kategorien. Die Vernunft versucht dann in der Dialektik diese reinen Begriffe auf die Erkenntnis des bersinnlichen anzuwenden. Daraus entstehen die dialektischen Schlsse; die vier Paralogismen bzw. die vier Antinomien folgen den vier Titeln der Kategorien. Die Dialektik setzt aber weiter auch die Anwendung der Kategorien auf die Gegenstnde der Sinne voraus. Die Ideen und die dialektischen Schlsse der Vernunft entspringen ja, wie gesehen, aus der angestrebten Totalisierung der Synthesis des Verstandes; die Dialektik ist eine Fortsetzung der Analytik. Kant beschreibt programmatisch in der Vorrede der B-Auflage den Aufbau der Kritik als die Befolgung einer Hypothese und die nachtrgliche Durchfhrung eines Experiments zu ihrer Besttigung (vgl. B WVI ff.). Die transzendentale sthetik und Analytik grnden sich auf einer Hypothese, die sich erst in der transzendentalen Dialektik besttigen lsst. Damit ist der Zirkel erstens zugestanden und zweitens kein circulus vitiosus. Es wird nmlich in den ersten Partien der Kritik nur zum Versuch angenommen, dass sich nicht unsere Erkenntnis nach den Gegenstnden richtet, sondern umgekehrt die Gegenstnde als Erscheinungen sich nach unseren Anschauungsformen und reinen Verstandesbegriffen richten. Diese Annahme erklrt die Mçglichkeit einer Erkenntnis a priori und erlaubt die vollstndige Aufzhlung der transzendentalen Begriffe und Grundstze sowie die Beweise dieser Grundstze. Diese Erkenntnis a priori erstreckt sich dann aber auch nur auf Gegenstnde der Erfahrung. Fr die anfngliche Annahme – die „vernderte Methode der Denkungsart“, die Position des transzendentalen Idealismus – bietet nun der notwendige Ausgriff der Vernunft auf das Unbedingte einen „herrlichen Probierstein“ (B XVIII). Das Experiment der Dialektik zeigt, dass das Unbedingte nur dann „ohne Widerspruch […] gedacht werden“ (B XX) kann, wenn tatschlich die Gegenstnde der Erfahrung als bloße Phaenomena genommen werden, und die Vernunft, die nach ihrem notwendigen Prinzip das Unbedingte 32 Schlegel, Philosophische Lehrjahre, 67, Nr. 468. – Schlegel knpft als erster in der nachkantischen Philosophie an Kants transzendentaler Dialektik an, um ein neues Konzept der Dialektik zu entwickeln. Vgl. Arndt, „Zum Begriff der Dialektik bei Friedrich Schlegel. 1796 – 1801“; ders., Dialektik und Reflexion, 121 – 137.
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fordert, einen anderen Gesichtspunkt auf die Gegenstnde als nur denkbare Noumena bezieht (vgl. B XIX Anm.). Das Experiment der reinen Vernunft, die Methode der Kritik,33 vergleicht Kant mit dem analytisch-synthetischen Verfahren der Naturforscher: Diese dem Naturforscher nachgeahmte Methode besteht also darin: die Elemente der reinen Vernunft in dem zu suchen, was sich durch ein Experiment besttigen oder widerlegen lßt.“ (B XVIII Anm.). „Dieses Experiment der reinen Vernunft hat mit dem der Chemiker, welches sie mannigmal den Versuch der Reduction, im Allgemeinen aber das synthetische Verfahren nennen, viel hnliches. Die Analysis des Metaphysikers schied die reine Erkenntniß a priori in zwei sehr ungleichartige Elemente, nmlich die der Dinge als Erscheinungen und dann der Dinge an sich selbst. Die Dialektik verbindet beide wiederum zur Einhelligkeit mit der nothwendigen Vernunftidee des Unbedingten und findet, daß diese Einhelligkeit niemals anders, als durch jene Unterscheidung herauskomme, welche also die wahre ist. (B XXI Anm.). [S]o entscheidet das Experiment fr die Richtigkeit jener Unterscheidung. (B XIX Anm.)
Kant beschreibt noch bekanntlich seine Umnderung der Denkart als Kopernikanische Wende. Die Hypothese des Kopernikus habe die Newtonsche Gravitationstheorie ermçglicht, welche wiederum die Hypothese erst besttigen konnte. In derselben Anmerkung, wo Kant diesen Vergleich macht, schrnkt er aber den Wert seiner ganzen Darstellung, die die Kritik im Experiment der Dialektik kulminieren ließ, gleich ein. Die „Umnderung der Denkart“ werde in Wahrheit „in der Abhandlung selbst aus der Beschaffenheit unserer Vorstellungen vom Raum und Zeit und den Elementarbegriffen des Verstandes nicht hypothetisch, sondern apodiktisch bewiesen“ (B XXII Anm.). Anstatt dass die transzendentale Dialektik erst alles begrnde, erscheint dann sogar ihre Grenzziehung als eine Folge aus dem positiven Teil, aus den Lehren der sthetik und der Analytik (vgl. B XXV f.). Am Ende der Analytik, im Abschnitt „Phaenomena und Noumena“, wozu bald noch mehr, heißt es dann, dass das Geschft der Begrenzung des Feldes des Verstandes schon geleistet worden sei, und dass alle einschlgigen „Fragen in dem Lauf der Analytik schon hinreichend beantwortet“ worden seien (B 295). Auch am Ende der Dialektik scheint Kant, deren systematischen Stellenwert herabzusetzen: „die kritische Untersuchung aller Stze, welche unsere Erkenntniß ber die wirkliche Erfahrung hinaus erweitern kçnnen, 33 Zur „philosophischen Methode des Experimentierens der Vernunft mit sich selbst“ vgl. Kaulbach, Philosophie als Wissenschaft, 42 ff.
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[hat uns] in der transscendentalen Analytik hinreichend berzeugt, daß sie niemals zu etwas mehr, als einer mçglichen Erfahrung leiten kçnnen; […] wir wußten es schon zum voraus mit vçlliger Gewißheit, daß alles Vorgeben […der transscendenten Vernunft] zwar vielleicht ehrlich gemeint, aber schlechterdings nichtig sein msse“ (B 731). Dabei sei das Geschft der Dialektik jedenfalls doch unumgnglich, weil die Natrlichkeit des transzendentalen Scheins dazu nçtige, seine Quellen zu erleuchten, „hinter die wahre Ursache des Scheins“ zu kommen (ebd.). Zu solchen ußerungen Kants stehen natrlich viele anderen quer. Die schon zitierte Reflexion 6343 erklrt ja die Position der transzendentalen sthetik, die transzendentale Idealitt der Erscheinungen, aus der Realitt des Freiheitsbegriffs, und die Reflexion 6360 bestimmt die Position als eine „Schlusfolge“ aus der Dialektik. Auch in der Kritik der Urteilskraft heißt es, dass erst die Antinomie der Vernunft diese zwinge, „von der sonst sehr natrlichen Voraussetzung, die Gegenstnde der Sinne fr die Dinge an sich selbst zu halten, abzugehen“ (KU 344). Nach der Kritik der praktischen Vernunft wrde der unvermeidliche Schein „niemals als trglich bemerkt werden […], wenn er sich nicht durch einen Widerstreit der Vernunft mit sich selbst […] selbst verriethe.“ Damit ist aber „die Antinomie der reinen Vernunft, die in ihrer Dialektik offenbar wird, in der That die wohlthtigste Verirrung […], in die die menschliche Vernunft je hat gerathen kçnnen, indem sie uns zuletzt antreibt, den Schlssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukommen, der, wenn er gefunden worden, noch das entdeckt, was man nicht suchte und doch bedarf“, nmlich die Aussicht in die bersinnliche Welt der autonomen Sittlichkeit (KpV 107 f.). Nach der spten Preisschrift ist die transzendentale Dialektik zumal der Grundstein des ganzen kritischen Unternehmens, der die „theoretisch-dogmatisch[e]“ Lehre der transzendentalen sthetik und Analytik sowie die „praktischdogmatisch[e]“ Lehre der Kritik der praktischen Vernunft trgt (FM 311).34 34 Es kann hier noch eine weitere Belegstelle aus der Kritik der reinen Vernunft selbst bemht werden. Anlsslich der Postulate des empirischen Denkens berhaupt, der vierten Gruppe der Grundstze des reinen Verstandes, bemerkt nmlich Kant: „Ob das Feld der Mçglichkeit grçßer sei als das Feld, was alles Wirkliche enthlt, dieses aber wiederum grçßer als die Menge desjenigen, was nothwendig ist, das sind artige Fragen und zwar von synthetischer Auflçsung, die aber auch nur der Gerichtsbarkeit der Vernunft anheim fallen“ (B 282). Diese Fragen bedeuten aber gerade, ob die Kategorien Mçglichkeit und Notwendigkeit ber das Feld der Erfahrung hinaus anwendbar sind. Die Fragen „kann der Verstand nicht entscheiden, er hat es nur mit der Synthesis dessen zu thun, was gegeben ist.“ (B 283). Kant lsst die Fragen daher „bis zum weiteren knftigen Verfahren in der Dunkelheit“. Erst die
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Es besteht eine offensichtliche Ambivalenz in Kants Stellungnahmen hinsichtlich der systematischen Bedeutung der transzendentalen Dialektik. Eine systematisch orientierte Interpretation kann trotzdem folgendes festhalten. 1. Die Grenze der Erkenntnis kann, wie gesehen, erst in der Dialektik bestimmt werden. Die Analytik kann hçchstens die Beschrnkung der Erkenntnis des Verstandes zeigen, nicht die definite Begrenzung seines Feldes. Sie kann nur Schranken aufweisen und keine Grenzen.35 Das kann erst die Dialektik, weil sie die notwendige berschreitung des Feldes der Erfahrung, den notwendigen Bezug auf den Raum jenseits der Grenze, thematisiert. Erst die Vernunft begrenzt die Verstandeserkenntnis: „Die transscendentalen Ideen dienen dazu, die Erfahrungsgrundstze zu beschrnken, damit sie nicht auf Dinge an sich selbst ausgedehnt werden“ (Refl 5938). Kant unterscheidet die notwendige berschreitung der Grenze durch die Ideen (nach dem transzendenten Prinzip der reinen Vernunft) vom bloßen „transscendentalen Gebrauch oder Mißbrauch der Kategorien“. Dieser sei „ein bloßer Fehler der nicht gehçrig durch Kritik gezgelten Urtheilskraft“: wenn diese nmlich die Kategorien salopp anwendet, ohne gengend auf das Gebot ihrer sinnlichen Erfllung zu achten (B 352). Dagegen hat es die Dialektik mit dem notwendigen Versuch der Vernunft zu tun, „den Verstandesbegriff […] ber die Grenzen des Empirischen, doch aber in Verknpfung mit demselben zu erweitern“ (B 435 f.). Im Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientieren? beschreibt Kant den bloßen transzendentalen Missbrauch folgendermaßen: „Es lßt sich manches bersinnliche denken (denn Gegenstnde der Sinne fllen doch nicht das ganze Feld aller Mçglichkeit aus), wo die Vernunft gleichwohl kein Bedrfniß fhlt, sich bis zu demselben zu erweitern, viel weniger dessen Dasein anzunehmen […] Es ist also gar kein Bedrfniß, es ist transzendentale Dialektik, erst der hohe Gerichtshof der „ber allen mçglichen empirischen Verstandesgebrauch hinausgeh[enden]“ Vernunft, soll sie aufgreifen (B 285). 35 Vgl. Prol 354: „Oben (§ 33, 34) [d. h. im Teil der Prolegomena, der der transzendentalen Analytik entspricht; J. P.] haben wir Schranken der Vernunft in Ansehung aller Erkenntniß bloßer Gedankenwesen angezeigt; jetzt, da uns die transscendentale Ideen dennoch den Fortgang bis zu ihnen nothwendig machen und nur also gleichsam bis zur Berhrung des vollen Raumes (der Erfahrung) mit dem leeren (wovon wir nichts wissen kçnnen, den Noumenis) gefhrt haben, kçnnen wir auch die Grenzen der reinen Vernunft bestimmen“. – Kant hlt sich jedenfalls in der Kritik terminologisch nicht fest an dieser seiner Unterscheidung von Schranke und Grenze.
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vielmehr bloßer Vorwitz, der auf nichts als Trumerei ausluft, darnach zu forschen, oder mit Hirngespinsten der Art zu spielen. Ganz anders ist es mit dem Begriffe von einem ersten Urwesen“ (WDO 137), sowie mit den brigen Gegenstnden der transzendentalen Ideen. In der transzendentalen Dialektik geht es nicht um einen transzendentalen Gebrauch des Verstandes, der sich ber die empirischen Bedingungen hinwegsetzt; vielmehr geht die Vernunft auf die Totalitt der Bedingungen des empirischen Verstandesgebrauchs. Hçchstens jenen Missbrauch, zu dem keine notwendige Verleitung besteht, kann die Analytik von sich aus verhindern. Auch wenn die Ergebnisse der sthetik und der Analytik fr sich feststehen sollen, kçnnen sie das Unternehmen der Dialektik, den Ausgriff der Vernunft auf die Totalitt der Bedingungen der bedingten Erscheinungen, keineswegs im Voraus richten. Die Entscheidung (jq_sir) der Frage der Kritik kann erst im hohen Gerichtshof der Vernunft, in der Dialektik, fallen. 2. Die Beschrnkung des Verstandes erfolgt in der Analytik durch den Schematismus, die Anwendung der Kategorien auf die Zeit als reine Anschauung. Davor rechtfertigt die transzendentale Deduktion den Gebrauch der Kategorien, indem sie dartut, dass eine empirische Anschauung notwendig unter den Kategorien steht. Die Deduktion erweist dann schon die Schranken dieses Gebrauchs durch die Notwendigkeit eben der Anwendung der Kategorien vermittelst der reinen Anschauungsformen auf empirische Anschauungen (vgl. B §§ 22 f.). Die Deduktion setzt dabei die Trennung der Sinnlichkeit vom spontanen Verstand voraus (vgl. B 144 f.) sowie dann die Lehre der sthetik von den Formen der ersteren. Die Beweise der Analytik rekurrieren also auf die Ergebnisse der transzendentalen sthetik: auf den direkten Beweis des transzendentalen Idealismus, den Kant der Analytik und dem Experiment der Dialektik voranstellt.36 36 „Der kantische Beweis vom Erscheinungscharakter der Natur [d. h. die transzendentale Deduktion; J. P.] hngt am Erscheinungscharakter von Raum und Zeit und am Erscheinungscharakter der Welt. Das heißt also, die Begrndung des transzendentalen Idealismus erfolgt in der transzendentalen sthetik und in der transzendentalen Dialektik, whrend die ontologische Bestimmung der Natur auf die in der sthetik und Dialektik erreichten Ergebnisse zurckgreift.“, Martin, Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, 111. Vgl. ders., „Die metaphysischen Probleme der Kritik der reinen Vernunft“, 324 f., 335 f. – In der Antinomienlehre bezeichnet Kant den daraus zu ziehenden Beweis fr die „transscendentale Idealitt der Erscheinungen“ als „indirect“ im Gegensatz zu „dem directen Beweise in der transscendentalen sthetik“ (B 534).
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Entwicklungsgeschichtlich hatte natrlich Kant, wie gesehen, die Position der transzendentalen sthetik aus der Antinomie gewonnen. Im Text der sthetik spricht er nun zwar in einer Erluterung (§ 7) vom Gegensatz der „mathematischen Naturforscher“ (Raum und Zeit als Behlter) und der „metaphysische[n] Naturlehrer“ (Raum und Zeit als reale Relationen) (B 56). Die zweite Partei (gemeint ist offenbar Leibniz) habe ihre Schwche im Feld der Erfahrung; die erste (Newton-Clarke) im Verlassen dieses Feldes, womit natrlich die ersten beiden kosmologischen Antinomien vorweggenommen werden. Die Kritik berwinde beider Schwchen, indem sie ihre gemeinsame falsche Voraussetzung, den transzendentalen Realismus, verwerfe. Die Argumente der sthetik, die den Raum und die Zeit erçrtern, verlaufen aber nicht ber eine solche Antinomie, eine „Dialectic der Sinnlichkeit“ (Refl 4756), sondern direkt. Ebenso direkt sind die „ostensiv[en]“ (B 817) Beweise der Analytik, obwohl diese wohl auch, wie gesehen, ber den Gegensatz von Empirismus und Rationalismus entwickelt werden kçnnte.37 Wenn aber auch die Beweise der positiven Partien der Kritik direkt und apodiktisch sind, so fllt doch die letzte Begrndung der Dialektik zu. In der spten Preisschrift heißt es, dass die „Beschrnkung unsrer Erkenntniß […] in der Analytik vorher a priori dogmatisch bewiesen worden war“, aber erst durch die Antinomie der reinen Vernunft, „in der Dialektik gleichsam durch ein Experiment der Vernunft, das sie an ihrem eignen Vermçgen anstellt, unwidersprechlich besttigt“ wird (FM 291). Ein dogmatischer Beweis ist nach Kant einer, der „aus sicheren Principien a priori strenge“ verfhrt (B XXXV). Die Begrndung oder die Rechtfertigung dieser Prinzipien geschehen wohl gerade außerhalb des dogmatischen Beweises; das dogmatische Verfahren ohne eine „Erkundigung […] des Rechts“ ist ja der „Dogmatism“, den die Kritik unterluft (ebd.). Nun sind es eher die sogenannten metaphysischen Erçrterungen von Raum und Zeit und die sogenannte metaphysische Deduktion der Kategorien, deren Verfahren dogmatisch ist. Sie stellen die reinen Anschauungen bzw. die Kategorien „als a priori gegeben dar“ (B 38).38 Die transzendentalen Erçrterungen der sthetik und die transzendentale 37 In der Methodenlehre fordert Kant, dass die transzendentalen Beweise der Philosophie direkt bzw. ostensiv und „niemals apagogisch“ seien. Sie mssen „mit der berzeugung von der Wahrheit zugleich Einsicht in die Quellen derselben verbinde[n]“ (B 817). Die apagogische Beweisart ist das „eigentliche Blendwerk“ (B 821) der dialektischen Behauptungen, indem ein nur scheinbar kontradiktorisches Verhltnis zugrunde gelegt wird. Vgl. weiter unten 3.5 und 4.3.2. 38 Vgl. Wolff, Die Vollstndigkeit der kantischen Urteilstafel, 115 ff.
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Deduktion sollen dagegen die reinen Anschauungen und die reinen Verstandesbegriffe als Prinzipien der Erkenntnis a priori von Erscheinungen rechtfertigen. Aber gerade auf die Prinzipien dieser Prinzipien, d. h. auf ihre Bedingungen, auf die Prinzipien im strengen Sinne zu den Regeln des Verstandes (vgl. im Vorigen 2.2.1), geht die transzendentale Dialektik. Die transzendentale Deduktion stellt als notwendige Bedingung der Kategorien die ursprnglich-synthetische Einheit der Apperzeption auf. Die Dialektik geht dann gerade auf die Begrndung dieser Voraussetzung, nmlich auf die unbedingte Einheit des denkenden Subjekts. Der „Beweisgrund“ der Kategorien und Grundstze, den diese „selbst zuerst mçglich mach[en]“ (B 765), ist in der Analytik die durchgngig zusammenhngende Erfahrung. Die Dialektik geht dann gerade auf den durchgngig bestimmten Zusammenhang der Erfahrung: auf die unbedingte Einheit des raumzeitlich erscheinenden sowie dann des berhaupt gedachten Objekts. Die Vernunft sucht die unbedingte Begrndung; sie strebt an, die objektiv gltigen Verstandesregeln an einem sicheren Punkt zu heften. Dabei gewinnt sie keine Erkenntnis vom problematischen Unbedingten, aber doch die notwendige Beziehung auf dieses. Die Dialektik — als der eigentlich kritische, und nicht dogmatische, Teil der Kritik — hinterfragt und erleuchtet die Voraussetzungen der Analytik als Apodiktik. Das Experiment der Dialektik, das zur Trennung von Sinnes- und Verstandeswesen fhrt, hinterfragt und erleuchtet gerade auch die grundlegende Voraussetzung der sthetik und Analytik (vgl. B 29 f.), und insbesondere der Deduktion, nmlich die transzendentale Unterscheidung der rezeptiven Sinnlichkeit mit ihren reinen Formen vom spontanen Verstand. In einer Reflexion der 80er Jahre bemerkt Kant, dass „ausser sinnlichkeit und Verstand (beyde a priori) noch das Vermçgen der Vernunft principien enthalte des Gebrauchs von Beyden, und zwar die Verstandesbegriffe auf Erfahrung und die der Sinnlichkeit auch auf dieselbe einzuschrnken“ (Refl 5649).39 39 „Critik sondert 1. das reine vom empirischen Erkenntnis-Vermçgen, 2. die Sinnlichkeit vom Verstande.“ (Refl 4851). Zu dieser Sonderung zwingt die kritische Entscheidung des Problems der Antinomie, das die Kritik veranlasst. – Die neuere Diskussion ber die transzendentale Deduktion, wesentlich angeregt und geprgt von Dieter Henrichs Beitrgen, lçst diese von den Fragen der Dialektik ab. Laut Henrich „hat Kant [in der Deduktion] die letzten Grundlagen seiner theoretischen Philosophie entwickelt“. In der Deduktion wird sogar „entschieden, daß es keine ber das Gebiet der Erfahrung hinausgehende Metaphysik geben kann, und somit ist der negative Teil des Programms der Vernunftkritik ausgefhrt“, ohne das Urteil des Gerichtshofs der Dialektik abwarten zu mssen (Henrich, „Die
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3. Was die transzendentale sthetik und Analytik sicherlich zeigen, ist zwar nicht die Grenze des Verstandes bzw. der Vernunft, wohl aber die Schranke der Sinnlichkeit. Nur die Vernunft kann sich selbst und den Verstand begrenzen. Die Sinnlichkeit wird vom Verstand (vgl. B 312) und den reinen Anschauungsformen beschrnkt. Keine sinnlichen Inhalte, keine Wahrnehmungen kçnnen nmlich einen Anspruch auf Erkenntnis erheben ohne den Bezug auf die allgemeinen, allen Subjekten gemeinsamen, Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes. Nur unter diesen transzendentalen Bedingungen kann sich ein perzipierter Inhalt auf ein Objekt beziehen. Wenn also die transzendentale Dialektik die Grenze der Vernunft angesichts des Unbedingten zieht, so wird in der transzendentalen sthetik und Analytik jeder schwrmerischen Berufung auf Anschauung oder Gefhl der Boden entzogen.40 Eine sinnliche Wahrnehmung kann sich nur auf Gegenstnde beziehen, die sich in Raum und Zeit in durchgngiger kausaler Wechselwirkung befinden. Wird aber damit das gesamte Feld der Sinnlichkeit, auch ihre reinen Formen selbst, wirklich begrenzt? Dazu ist eigentlich noch das Experiment der Dialektik erforderlich. Erst die Vernunft bezieht ja notwendig einen zweiten Gesichtspunkt auf die Gegenstnde. Nach diesem Gesichtspunkt wird „in der Erfahrung niemals gefragt“ (B 45; vgl. B 524 f.). Es sind die Prinzipien der Vernunft, welche diejenigen der Sinnlichkeit aufs begrenzte Feld der Erfahrung einschrnken, „damit nicht ihre Bedingungen auf Wesen an sich selbst, Gott und Geist, ausgedehnt werden.“ (Refl 5649). Die Begrenzung des hçheren Erkenntnisvermçgens muss dann sowieso der transzendentalen Dialektik berantwortet werden. Die Beschrnkung der Sinnlichkeit in den positiven Partien kann der Vernunft sonst gerade die Hoffnung einflçßen, den leeren Raum fllen zu kçnnen; „denn hier stnde ein ganz anderes Feld vor uns offen, gleichsam eine Welt im Geiste gedacht […], die nicht minder, ja noch weit edler unsern reinen Verstand beschftigen kçnnte.“ (A 250).
Identitt des Subjekts in der transzendentalen Deduktion“, 39). Im Rahmen dieser Arbeit kann weder auf diese Diskussion noch auf die Ziele und Ergebnisse der Deduktion nher eingegangen werden. Fr die Unablçsbarkeit der Deduktion von den Fragen der transzendentalen Dialektik argumentiert Zeidler, Grundriß der transzendentalen Logik, 33 ff., 48 ff., 66 f. 40 Vgl. die Polemik gegen Jacobi und Schlosser in den Aufstzen Was heißt: Sich im Denken orientiren? (WDO) und Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (VT). Vgl. auch im weiteren 4.4, 4.5.
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Die wechselseitige Vorausgesetztheit von Analytik und Dialektik im architektonischen Aufbau der Kritik der reinen Vernunft und die Ambivalenz Kants hierber unterstreicht der Umstand, dass Kant zwischen Analytik und Dialektik, am Ende der Analytik und an der Schwelle zur Dialektik, zwei Kapitel einschiebt, deren sonderbarer Status darin besteht, als Resultate der Analytik auftreten und auf die Dialektik vorausgreifen zu mssen: (a) „Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstnde berhaupt in Phaenomena und Noumena“ (B 294 ff.)41 und (b) „Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe durch die Verwechselung des empirischen Verstandesgebrauchs mit dem transscendentalen“ (B 316 ff.). (a) Der Abschnitt „Phaenomena und Noumena“ ist der letzte der Analytik. In ihrer Gliederung soll er, nach dem Schematismus und dem System der Grundstze, das dritte Hauptstck der transzendentalen Doktrin der Urteilskraft oder Analytik der Grundstze abgeben. Er ist aber ein „summarischer berschlag“ dessen, was in der Analytik berhaupt erreicht worden ist (B 295). Darin wird aber nicht nur das Resultat der Analytik resmiert, „daß der Verstand a priori niemals mehr leisten kçnne, als die Form einer mçglichen Erfahrung berhaupt zu anticipiren, und […] die Schranken der Sinnlichkeit […] niemals berschreiten kçnne“ (B 303 f.). Darber hinaus wird das Land des Verstandes als ein abgegrenztes „Land der Wahrheit“ vorgestellt, das „von einem weiten und strmischen Oceane, dem eigentlichen Sitze des Scheins“ umgeben sei (B 294 f.) Dazu werden der problematische leere Raum jenseits der Grenze, der „die empirischen Grundstze einzuschrnken [dient]“ (B 315), und der Begriff eines Noumenon als ein „nothwendig[er] […] Grenzbegriff“ (B 310 f.) eingefhrt. Wie ist aber an diesem Punkt ein solcher Grenzbegriff mçglich? In der transzendentalen sthetik wurde das „Ding an sich“ (B 45) bzw. das „transscendentale Object“ (B 63), als Grund der Materie der Erscheinung, nur negativ als gegen die vom Subjekt auferlegte Form vorgestellt. Die transzendentale Analytik kann dann vom transzendentalen Objekt, als Bezugspunkt der Vorstellungen und ihrer Synthesis, nur den Begriff von einem Etwas berhaupt = X haben (vgl. A 250, 109). „Das Object, worauf ich die Erscheinung berhaupt beziehe, ist der transscendentale Gegenstand, d. i. der gnzlich unbestimmte Gedanke von Etwas berhaupt. Dieser kann nicht das Noumenon heißen“ (A 253), dessen Begriff als 41 Nach Heinz Rçttges ist andersherum einzig der Abschnitt „Phaenomena und Noumena“ frei von der Zirkelhaftigkeit des Verhltnisses von Analytik und Dialektik. Vgl. Rçttges, Dialektik als Grund der Kritik, 9.
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Grenzbegriff fungiert. Das „Substratum der Sinnlichkeit“ (A 251) markiert keine Grenze, denn an ihm ist gar nichts Positives. Es bedeutet eine bloße Schranke. Dagegen muss das Noumenon, das eine Grenze markiert, als der Gegenstand „eine[r] andere[n] Art der Anschauung“ (A 252) gedacht werden, obwohl sich die Annahme einer solchen nichtsinnlichen Anschauung nicht wirklich rechtfertigen lsst.42 Die Grenze kann eigentlich und ohne solche problematischen Annahmen erst gezogen werden, wenn das Denken in seinem notwendigen Fortgang, getrieben von der Idee, in den leeren Raum vordringt. (b) Was den Anhang angeht, so antizipiert die dort ausgefhrte „Kritik d[…]es reinen Verstandes“ (B 345) die Kritik der Vernunft in der transzendentalen Dialektik. Hier geht es um die „Erschleichungen des reinen Verstandes“ (B 324), seinen vermeintlichen direkten Bezug auf Gegenstnde; beim dialektischen Schein geht es um den notwendigen Bezug auf die bersinnlichen Gegenstnde der Metaphysik. Die Erschleichungen entstehen aus der „transccendentalen Amphibolie“, d. h. der Verwechselung von Phaenomena und Noumena (B 326). Diese wird dadurch vermieden, dass die „transscendentale Topik“ jeder Vorstellung ihren „transscendentalen Ort“ (B 324) zuweist, d. h. ihre Stelle im Verstand oder in der Sinnlichkeit. Auch die Auflçsung der Antinomie erfolgt natrlich durch die Trennung von Phaenomena und Noumena. Die transzendentale Topik nimmt also die Kritik des dialektischen Scheins vorweg. Andererseits kann hier nicht die Notwendigkeit des Bezugs auf Noumena gezeigt werden. Es wird somit nur ein transzendentaler Missbrauch des reinen Verstandes, nicht der transzendente Gebrauch der Vernunft abgewehrt. Systematisch muss daher die transzendentale Dialektik vorangehen.43 Die architektonische Einbettung des Abschnitts als Anhangs zur Analytik scheint jedenfalls verlegen. Die Unterscheidung des transzen-
42 In der A-Auflage unterscheidet Kant im Abschnitt „Phaenomena und Noumena“ den transzendentalen Gegenstand vom Noumenon; in der B-Auflage unterscheidet er das „Noumenon im negativen Verstande“, das bloß negativ als gegen die sinnliche Erscheinung gedacht wird und schon mit der Lehre von unserer Sinnlichkeit auftritt, vom „Noumenon in positiver Bedeutung“ als dem Objekt einer mçglichen, uns nicht zugnglichen, „nichtsinnlichen Anschauung“ (B 307). Ein solcher Gegenstand kann freilich nicht wirklich gesetzt werden, sondern ist als Grenzbegriff „nur von negativem Gebrauche“ (A 255/B 311). 43 Zum Zusammenhang von transzendentaler Dialektik und transzendentaler Topik vgl. Arndt, Dialektik und Reflexion, 59 ff.; Adorno, Kants ,Kritik der reinen Vernunft‘, 305 ff.
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dentalen Ortes der Vorstellungen schreibt Kant der transzendentalen Reflexion zu. Diese bedeutet den […] Zustand des Gemths, in welchem wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjectiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen kçnnen. Sie ist das Bewußtsein des Verhltnisses gegebener Vorstellungen zu unseren verschiedenen Erkenntnißquellen, durch welches allein ihr Verhltniß unter einander richtig bestimmt werden kann. (B 316)
Die transzendentale Reflexion ist die Rckwendung auf die Bedingungen der Mçglichkeit der objektiven Erkenntnis; sie sondert die Erkenntniskrfte des Subjekts voneinander und die bedingten Gegenstnde der Erfahrung vom bedingenden transzendentalen Objekt. Die transzendentale Reflexion bezeichnet damit den hohen Punkt, aus dem das gesamte Geschft der Kritik der reinen Vernunft in Angriff genommen wird. Dieser Standpunkt ist eigentlich der Standpunkt der Vernunft, die auf die Bedingungen der Verstandeserkenntnis reflektiert und die beide Bereiche, die Phaenomena und die Noumena, das Bedingte und das Unbedingte, berblicken kann. „Die menschliche Vernunft ist“ nach Kant „ihrer Natur nach architektonisch“ (B 502). Die architektonische bzw. systematische Natur der Vernunft liegt dabei nicht nur dem knftigen System der Metaphysik zugrunde (vgl. im Folgenden 5.4), sondern auch schon dem Aufbau der Kritik der reinen Vernunft selbst, der Propdeutik zu diesem System. Zum System der Metaphysik soll die Kritik „den ganzen Plan architektonisch, d. i. aus Principien, entwerfen […], mit vçlliger Gewhrleistung der Vollstndigkeit und Sicherheit aller Stcke, die dieses Gebude ausmachen.“ (B 27). Analytik und Dialektik enthalten jeweils den Plan zu den Nachfolgedisziplinen der metaphysica generalis und specialis. Die architektonische Natur der Vernunft bedingt die Gliederung der Kritik in eine Analytik und eine Dialektik, in die Bereiche des Verstandes und der auf ihn reflektierenden Vernunft. Auf dem architektonischen Aufbau der Kritik beruht dann auch das knftige System. Analytik und Dialektik sind aber damit keine zusammengehuften Teile, sondern Glieder, deren Stellung untereinander vom Zweck des Ganzen bestimmt wird. Kant vergleicht das systematische Ganze einer Wissenschaft mit einem „tierische[n] Kçrper“ (B 861). Mit diesem Vergleich wird besagt, dass sich die Glieder wechselseitig bedingen und sttzen (vgl. KU § 65). Das wechselseitige Bedingungsverhltnis von Analytik und Dialektik erscheint daher als kein
3.5 Falsum index sui
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Manko, sondern gerade als eine Folge des konsequent systematischen Aufbaus der Kritik.
3.5 Falsum index sui Nach dem Obigen wird die Grenze der Erkenntnis erst in der transzendentalen Dialektik gezogen. Der Anspruch der Vernunft wird also dort nicht dadurch zurckgewiesen, dass er an der objektiv gltigen empirischen Erkenntnis gemessen wird. Die Kritik der Metaphysik erfolgt nicht anhand eines in der Analytik gewonnenen Maßstabs. Es gilt in diesem Abschnitt nher zu betrachten, auf welche Weise das geschieht. Wenn es der Vernunft nicht gleich verboten wird, sich ber die Grenze der Erfahrung hinaus zu getrauen, dann hat sie es anscheinend leicht, manches zu behaupten, solange sie sich nicht widerspricht, denn sie kann auf diesen Hçhen „niemals durch Erfahrung widerlegt werden“. Es ist nur ein Fall mçglich, bei dessen Eintreffen „die Vernunft ihre geheime Dialektik, die sie flschlich fr Dogmatik ausgiebt, wider ihren Willen offenbar[en]“ wrde (Prol 340): wenn sie es nmlich nicht vermeiden kçnnte, sich zu einander widersprechenden Thesen zu verpflichten. Auf dem Feld der Kosmologie geht die Vernunft nach Kant in diese Falle. Das Herz der Dialektik ist also die Antinomie. Das Verfahren der Kritik ist dabei die „sceptische Methode“. Diese Methode besteht darin, „einem Streite der Behauptungen zuzusehen, oder vielmehr ihn selbst zu veranlassen, nicht um endlich zum Vortheile des einen oder des andern Theils zu entscheiden, sondern um zu untersuchen, ob der Gegenstand desselben nicht vielleicht ein bloßes Blendwerk sei“ (B 451). Die Kritik gibt den disputierenden Parteien zunchst freie Bahn. Sie lsst sie „frei[] und ungehindert[]“ (B 453) ihren Wettstreit austragen. Die Kritik des Scheins folgt also der Logik des Scheins selbst: den Regeln eines Beweisverfahrens aus reiner Vernunft, des Gebrauchs der Logik als Organon (vgl. im Vorigen 1.2.2., 1.4; zum Verhltnis von formaler und transzendentaler Logik hierbei vgl. im Folgenden 4.3.2). Dieses Verfahren kennt kein anderes Kriterium als die Stze des ausgeschlossenen Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten. Die Kritik veranlasst nun den Streit, indem sie zeigt, dass zu jeder kosmologischen These nach den Regeln des Verfahrens eine ebenso einwandfreie Antithese bewiesen werden kann. Die Kritik sieht eigentlich bloß zu, wie auf dem Wege des Verfahrens — jeweils durch die berfhrung der Gegenthese ad absurdum, formal einwandfrei auf beiden Seiten — einander widersprechende Thesen entstehen. Das Verfahren
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3 Analytik und Dialektik
kann den Widerspruch nicht zugunsten der einen oder der anderen Seite entscheiden. Es verfngt sich in ein auswegloses Hin und Her. Wenn das Verfahren sonst in einem Argumentationsgang auf einen Widerspruch stçßt, dann verwirft es den Ausgangspunkt. Jetzt muss also das Verfahren stutzig werden und sich selbst (seinen Voraussetzungen) misstrauen, da es nach seinen Regeln einen Widerspruch produziert hat. Anstatt zu berreden, aus der Falschheit der einen Behauptung auf die Wahrheit der anderen zu schließen, zeigt der Schein des Widerspruchs, da dies in beide Richtungen mçglich ist, das Problematische des gesamten Verfahrens. Der Schein schlgt damit auf sich selbst zurck; die Logik des Scheins verfngt sich in sich selbst. „[D]ie unvermeidliche Dialektik“ ist eine, „womit die allerwrts dogmatisch gefhrte reine Vernunft sich selbst verfngt und verwickelt“ (WDO 144 Anm.). Der einzige Ausweg ist, dass der Gegenstand des Streits, den beide Parteien unterlegen, „ein Blendwerk sei“. Die Kritik grenzt daher (und erst daher) den Gegenstand des Streits, das Unbedingte als die Totalitt der Synthesis der Erscheinungen, von der Sphre des gltigen Erfahrungswissens, von diesen Erscheinungen, ab. Damit zeigt sich das Unterlassen dieser Abgrenzung (der Unterscheidung von Phaenomena und Noumena), die Position des transzendentalen Realismus, als die gemeinsame Voraussetzung beider Parteien. Die Alternative von These und Antithese ist nicht zwingend, und der Widerspruch ist als Schein durchschaubar, wenn diese Voraussetzung falsch ist. Der transzendentale Idealismus wird also vom Experiment besttigt ohne eine petitio principii. Der transzendentale Grundsatz der Vernunft einerseits, der die Totalitt der Bedingungen als gegeben unterstellt, und die selbstgengsamen formalen Regeln des apagogischen Beweisverfahrens andererseits haben zur Antinomie gefhrt und damit sich selbst untergraben. Es fllt hiermit ein Licht auf die Tatsache, dass der kantische Terminus Dialektik sowohl die Logik des Scheins bezeichnet als auch die Kritik des dialektischen Scheins (vgl. im Vorigen 1.1). Die Kritik braucht gemß der skeptischen Methode dem Streit zunchst nur zuzuschauen. Die Logik des Scheins erweist sich als seine Selbstkritik. Die Ausfhrung der Logik des Scheins ist zugleich die Kritik des dialektischen Scheins. Denn es geht hier nicht um Trugschlsse in tuschender Absicht, sondern um die unvermeidliche Verleitung einer Vernunft, die sich doch an ihre Regeln gehalten hat und die sich auch weiter an sich selbst hlt, um aus der Schwierigkeit zu geraten. Die Vernunft wird „von selbst durch Vernunft […] gebndigt“ (B 775).
3.5 Falsum index sui
107
Die transzendentale Dialektik als Kritik des Scheins ist also keineswegs ein Korrolarium zur Analytik als Logik der Wahrheit. Im Gegensatz zu Spinozas verum index sui et falsi, ist es hier vielmehr der Schein, der von sich selbst zeugt: falsum index sui.44 Es ist der Schein des Widerspruchs, der „die Vernunft in ihren dreisten Anmaßungen stutzig […] mach[t] und zur Selbstprfung […] nçthig[t]“ (Prol 341). Es ist gerade der Witz der Architektonik der Kritik, der Zweiteilung der transzendentalen Logik in eine Logik der Wahrheit und eine Logik des Scheins, dass die Kritik des dialektischen Scheins diese eigene Logik des Scheins erfordert. Ansonsten braucht ja kein Gesetzbuch (um in der juridischen Sprache Kants zu bleiben), neben den Gesetzen auch noch die eigene Logik des Gesetzwidrigen oder des Verbrechens zu behandeln. Kant ist jedenfalls nicht ganz konsequent bezglich dieser Notwendigkeit, sich auf die Logik des Scheins einzulassen. Im Kapitel 2 haben wir gesehen, dass er die Ideen gleich im Voraus als „transscendent“ erklrt, weil ihnen kein Gegenstand der Sinne „adquat“ sein kann (B 384). Es wurde dort gegen den daraus entstehenden Anschein gezeigt, dass zur Gewinnung der Ideen der Durchgang durch die Logik und Kritik des Scheins unentbehrlich ist (vgl. im Vorigen 2.2.4). In der Kritik der rationalen Psychologie (Paralogismenlehre) und Theologie (Lehre vom Ideal der reinen Vernunft) verfhrt Kant dann auch anders als in der Antinomie. Hier entsteht keine unvermeidliche Selbstverstrickung des Scheins. Es werden vielmehr Fehlschlsse aufgezeigt, wenn auch behauptet wird, dass diese unvermeidlich sind, weil „in der Natur der Menschenvernunft“ der Grund liegt, hier „der Form nach falsch zu schließen“ (B 399).45 Die Antinomie ist aber auf jeden Fall der Kern der transzendentalen Dialektik. In ihrem Rahmen lassen sich auch, wie gesehen (2.2.2) die Probleme der rationalen Psychologie und Theologie noch ein Mal formulieren. In der Antinomie liegt gerade nicht der einseitige Schein von Trugschlssen vor; nicht eine hypertrophe, metaphysische Anmaßung der Vernunft, von der man notfalls auch skeptisch absehen kçnnte. In den dialektischen Schein verwickelt sich ebenso sehr der Szientismus des Verstandes, der etwa die Existenz physischer Atome oder die unendliche Teilbarkeit der Materie in der zweiten und die universelle Geltung des 44 Anders Gerd Irrlitz: „Die Logik der Wahrheit entschlsselt zugleich ihr Gegenteil. Es ist die von Kant erweiterte rationalistische These Spinozas: verum index sui et falsi.“ (Irrlitz, Kant-Handbuch, 202). 45 Auch fr die Antinomie soll sich nach ihrer Auflçsung erweisen, dass sie auf einem Paralogismus basiert (vgl. B 525 ff.). Darauf geht das folgende Kapitel ein (4.3.2).
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3 Analytik und Dialektik
Kausalprinzips in der dritten Antinomie behauptet. Die Veranlassung der Kritik liegt dabei gerade in der Verteidigung der Idee der Freiheit gegen diese Anmaßung der theoretischen Vernunft, d. h. des sich absolut setzenden Verstandes. Die transzendentale Freiheit als Differenz des spontanen Subjekts von der Sphre der Naturnotwendigkeit ist im Grunde eine Existenzbedingung der Vernunft (vgl. B 575; GMS 448). Die „transscendentale Freyheit“ als Selbstttigkeit ist sogar eine Bedingung „alles Gebrauchs des Verstandes“, insbesondere seiner Regeln a priori, insofern eine Voraussetzung auch der transzendentalen Analytik (Refl 4904; vgl. Refl 5441; Refl 5121; B 575). Die Antinomie samt ihrer Auflçsung ist tatschlich die Grundlage des gesamten kritischen Unternehmens. Die Vernunft setzt dabei ihr Interesse nicht gewaltsam durch; „nicht durch Machtsprche“ (A XI) nach der „despotisch[en]“ Art der dogmatischen Metaphysik (A IW). Sie sieht „vielmehr von dem sicheren Sitze der Kritik diesem Streite geruhig zu“ (B 775). Sie vertraut dabei ihrer selbst, dem rationalen Austragen des Streits, „ihrer von allem Interesse abstrahirenden Speculation“ (B 774 f.): Denn es ist sehr was Ungereimtes, von der Vernunft Aufklrung zu erwarten und ihr doch vorher vorzuschreiben, auf welche Seite sie nothwendig ausfallen msse. berdem wird Vernunft schon von selbst durch Vernunft so wohl gebndigt und in Schranken gehalten, daß ihr gar nicht nçthig habt, Scharwachen aufzubieten, um demjenigen Theile, dessen besorgliche Obermacht euch gefhrlich scheint, brgerlichen Widerstand entgegen zu setzen. In dieser Dialektik giebts keinen Sieg, ber den ihr besorgt zu sein Ursache httet. (B 775)
Gemß der skeptischen Methode muss der „unparteiische Kampfrichter […] es ganz bei Seite setzen, ob es die gute oder die schlimme Sache sei, um welche die Streitende fechten, und sie ihre Sache erst unter sich ausmachen lassen.“ (B 451). Gerade gegen die dogmatischen Verfechter der guten Sache, die diese in ihr Gegenteil verkehren, gilt das Gebot „hiebei […] alle Parteilichkeit gnzlich auszuziehen“. Im Gerichtshof der Kritik sind die „Geschworenen vo[m…] Stande schwacher Menschen“ und drfen „durch keine Drohung geschreckt“ werden vonseiten irgendwelcher Autoritt (B 503 f.). Aus der Durchfhrung und Auflçsung des Streits folgt die Unentscheidbarkeit der Frage im Theoretischen, wohl aber die Nicht-Unmçglichkeit der Freiheit. Im Gebiet des Praktischen gewinnt dann die Idee der Freiheit objektive Realitt und das Bedrfnis der Vernunft nach dem Unbedingten seine Befriedigung. Das bersinnliche ist dann der Gegenstand eines vernnftigen Glaubens, einer subjektiv hinreichenden berzeugung (im Gegensatz zur berredung) (vgl. B 856).
3.5 Falsum index sui
109
Die Ausfhrung und Auflçsung des Widerstreits der Vernunft mit sich selbst sowie dann der praktische berschritt zum Unbedingten werden behandelt in den folgenden zwei letzten Kapiteln dieser Arbeit.
4 Das Verfehlen des Unbedingten Die systematische Notwendigkeit der transzendentalen Dialektik grndet nach Kant in der Notwendigkeit des Bezugs auf das Unbedingte und in der Unvermeidlichkeit des transzendentalen Scheins. Vor allem in der Antinomie zeigt sich der Ausgriff der Vernunft auf die Totalitt ihrer Bedingungen und ihre Verstrickung in den Schein als unvermeidlich. Der anfngliche Plan der Dialektik sah auch nur die Antinomie vor (vgl. Refl 4756 – 4760).1 Die metaphysischen Gegenstnde Seele und Gott kçnnten ja einen systematischen Ort in der zweiten und vierten Antinomie finden (vgl. B 471, 594; Refl 6212). Trotzdem sieht sich Kant, zum Behuf der Kritik an der rationalistischen Metaphysik oder auch aus Grnden der eigenen die Metaphysik rettenden Systematik, gençtigt, neben der vierfachen kosmologischen Antinomie die Disziplinen der rationalen Psychologie und der Theologie fr sich zu behandeln. In den entsprechenden Abschnitten versucht Kant keine einwandfreien Beweise zu liefern, die in eine Antinomie mnden. Vielmehr zeigt er gleich Fehlschlsse auf. Diese sollen jedenfalls nicht aus vermeidbaren, subjektiven Fehlern resultieren, sondern auf einem transzendentalen Schein beruhen. Dabei kommt es darauf an, die vorgefundenen Beweise der entsprechenden Disziplinen der Schulmetaphysik, vor allem aber die berhaupt mçglichen Beweise auf diesen Feldern als solche Fehlschlsse zu entlarven. Die Kritik verluft systematisch; sie folgt in ihrem Gang dem System der transzendentalen Ideen und der entsprechenden Schlsse auf das Unbedingte. Das „System von Tuschungen und Blendwerken“ lsst sich damit in „ein System der Vorsicht und Selbstprfung“ verwandeln, wodurch die Vernunft sich selbst erfolgreich bndigt (B 739).
4.1 Die Paralogismen der reinen Vernunft Die Teildisziplin der metaphysica specialis, die der ersten Klasse der Ideen nach Kant entspricht, ist nun die rationale Seelenlehre. Diese nimmt sich vor, das denkende Selbst als ein bestehendes Ding, d. h. als eine immate1
Vgl. hierzu Guyer, „The Unity of Reason“.
4.1 Die Paralogismen der reinen Vernunft
111
rielle Substanz, in der Folge als eine einfache und unzerstçrbare, personalidentische und schließlich unsterbliche Seele zu demonstrieren. Den Prototyp einer solchen rationalen Psychologie bietet Descartes’ Auffassung von der res cogitans im Gegensatz zu der res extensa. Da eine rein rationale Disziplin von allen empirischen Daten abstrahieren muss, ist nach Kant das bloße „Ich denke“, d. h. eben das cartesische „Cogito“ (B 405), „der alleinige Text der rationalen Psychologie, aus welchem sie ihre ganze Weisheit auswickeln soll“ (B 401). Die aus dem Cogito ausgewickelten Fehlschlsse bezeichnet Kant als Paralogismen. Dabei unterscheidet er in der Logik einen Paralogismus von einem Sophisma. Ein Vernunftschluß, welcher der Form nach falsch ist, ob er gleich den Schein eines richtigen Schlusses fr sich hat, heißt ein Trugschluß (fallacia). Ein solcher Schluß ist ein Paralogismus, in so fern man sich selbst dadurch hintergeht, ein Sophisma, sofern man Andre dadurch mit Absicht zu hintergehen sucht. (Log § 90)
Hier wie sonst in der transzendentalen Dialektik haben wir es also nicht mit Trugschlssen zu tun, „die irgend ein Sophist, um vernnftige Leute zu verwirren, knstlich ersonnen hat“, nicht „mit einem geknstelten Scheine“. Der transzendentale Schein kann aber auch nicht aus einem „Fehler in Befolgung der Grundstze“ entstehen; die transzendentale Dialektik kann keine sein, „in die sich etwa ein Stmper durch Mangel an Kenntnissen selbst verwickelt“ (B 354). In diesem Falle htten wir es zwar mit keinem Sophisma, sondern mit einem Paralogismus, aber immerhin mit einem bloß logischen Schein und einer bloß logischen Dialektik zu tun. Die Schlsse der rationalen Psychologie seien dagegen, obwohl der Form nach falsch, transzendentale Paralogismen. Wie ist das zu verstehen? Aus inhaltlich falschen Prmissen lassen sich offenbar auf logisch korrekte Weise falsche Konklusionen ziehen: Gesetzt, alle Menschen seien unsterblich, so folgt die Unsterblichkeit des armen Cajus. Gegen solchen Schein kann sich die formale Logik nicht wehren, und das wird von ihr auch keineswegs erwartet. Sollten die falschen Prmissen eine tatschliche berredungskraft besitzen, etwa aufgrund eines empirischen Scheins, so mssen diese Prmissen selbst durch den Verstand und die Empirie korrigiert werden. Die Schlussfolgerung an sich war aber gltig. Anders verhlt es sich mit dem logischen Schein, dem Schein von logisch (der Form nach) falschen Schlssen. Ein solcher Schluss kann aus Nachlssigkeit oder in tuschender Absicht entstehen, er grndet jedenfalls in einem logischen Fehler. Damit kann aus material wahren Prmissen auf formal falsche aber
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4 Das Verfehlen des Unbedingten
scheinbar gltige Weise eine falsche oder jedenfalls nicht folgerichtige Konklusion entstehen. Wenn z. B. der medius terminus in den beiden Prmissen in verschiedenen Bedeutungen genommen wird und ber deren Gleichsetzung geschlossen wird, dann liegen in Wahrheit vier Terme vor statt drei (quaternio terminorum), und die Extreme werden im Schlusssatz unrechtmßig miteinander verbunden. Jeder Schlssel hat zwar einen Bart, und was einen Bart hat, kann man wohl rasieren, der Schluss darauf, dass man Schlssel rasieren kann ist aber nur scheinbar, denn in der ersten Prmisse sind mit Brten Schlsselbrte gemeint und in der zweiten Barthaare. Das Wort bezeichnet zwei verschiedene Begriffe, abgesehen davon, ob und wie sich diese Begriffe auf Objekte beziehen. Der logische Schein steckt nicht in der Materie des Schlusses, d. h. in den Prmissen, sondern in seiner Form. „In den Vorderstzen oder Prmissen besteht die Materie, und in der Conclusion, sofern sie die Consequenz enthlt, die Form der Vernunftschlsse“ (Log § 59). Das heißt natrlich nicht, dass die Form des Schlusses in der Konklusion als solcher besteht. Sie besteht in der Weise der Verknpfung der Prmissen mit der Konklusion, d. h. gerade in der Konsequenz. Der logische Schein wird demnach aufgedeckt ohne Rekurs auf das Objekt (auf den Sachverhalt), sondern einfach durch Rekurs auf die Schlussregeln und, wie in unserem Beispiel, auf die Bedeutung der Terme.2 Die transzendentalen Paralogismen der rationalen Psychologie sind nun ebenfalls der Form nach falsche Schlsse. Es liegt, wie wir sehen werden, eine quaternio terminorum vor. Die Verwechselung beruht aber nicht auf einem bloßen Fehler, sondern auf einer transzendentalen, unvermeidlichen Illusion. Die Verleitung bewirkt kein logischer Schein, sondern ein transzendentaler. 2
„Bei jedem Vernunftschlusse ist also zuerst die Wahrheit der Prmissen und sodann die Richtigkeit der Consequenz zu prfen. Nie muß man bei Verwerfung eines Vernunftschlusses zuerst die Conclusion verwerfen, sondern immer erst entweder die Prmissen oder die Consequenz.“ (Log § 59). In der Wahrheit der Prmissen besteht die Materie und in der Richtigkeit der Konsequenz die logische Form des Schlusses. Die logische Form bezeichnet bei Kant nicht logische Konstanten (Junktoren, Quantoren) und entsprechende Regeln wie in der modernen mathematischen Logik. Auch die Form des hypothetischen Urteils besteht z. B. fr Kant, anders als fr die wahrheitsfunktionale Aussagenlogik, im Verhltnis der Konsequenz, unter Absehung von der Wahrheit von antecedens und consequens (B 98). – Ein Fehler wie die quaternio terminorum aufgrund einer quivokation ist fr die moderne Logik kein syntaktischer, sondern ein semantischer, aber natrlich kein materialer Fehler.
4.1 Die Paralogismen der reinen Vernunft
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Der logische Paralogismus besteht in der Falschheit eines Vernunftschlusses der Form nach, sein Inhalt mag brigens sein, welcher er wolle. Ein transscendentaler Paralogismus aber hat einen transscendentalen Grund, der Form nach falsch zu schließen. Auf solche Weise wird ein dergleichen Fehlschluß in der Natur der Menschenvernunft seinen Grund haben und eine unvermeidliche, obzwar nicht unauflçsliche Illusion bei sich fhren. (B 399)
Kant stellt auf und entlarvt vier Paralogismen, die daraus ausgewickelt werden, dass die unbedingte Einheit der Apperzeption als eine gegenstndlich gegebene genommen wird. Die Systematik dieser Paralogismen ergibt die Systematik der geschlossenen Ideen der ersten Klasse. Sie folgt der Tafel der Kategorien (vgl. im Vorigen 2.2.2). Die Seele wird der Reihe nach demonstriert (1) als Substanz, (2) als einfache, (3) als numerischidentische, (4) als daseiende in Abgrenzung von den mçglichen Gegenstnden im Raume und dem eigenen Kçrper (vgl. B 402; A 403). Die vier Bestimmungen bzw. Ideen bedeuten jeweils die unbedingte Einheit des denkenden Dinges (1) nach den Kategorien der Relation: als eines subsistierenden und nicht in einem Anderen inhrierenden Wesens, (2) nach den Kategorien der Qualitt: als eines unbedingten einfachen Wesens, das nicht zusammengesetzt sei aus Teilen als seinen Bedingungen,3 (3) nach den Kategorien der Quantitt und (4) nach den Kategorien der Modalitt: die unbedingte Existenz (Dasein) des denkenden Wesens, unabhngig von der Bedingung der Dinge außer ihm und des eigenen Kçrpers. Aus diesen Bestimmungen folgen nach Kant die Immaterialitt, die Inkorruptibilitt, die Personalitt, die Spiritualitt der Seele, sowie die weiteren Bestimmungen, welche „das eigentliche Ziel der rationalen Psychologie ausmachen“: das Commercium der Seele als Lebensprinzips mit einem organischen materiellen Kçrper, somit die Animalitt, und schließlich die Immortalitt der spirituellen Seele (A 384; vgl. B 403). In der A-Auflage der Kritik fllt die Auseinandersetzung mit den Paralogismen viel ausfhrlicher aus. Fr die B-Auflage hat Kant den ganzen Text umgeschrieben und verkrzt. Dabei hat er noch zum Beweis Moses Mendelssohns von der Beharrlichkeit der Seele eine besondere, aus der Systematik der Paralogismen herausfallende, Widerlegung hinzugefgt: Nach Mendelssohn kçnne die Seele als nicht ausgedehntes Wesen weder ab- noch zunehmen; Kants Widerlegung verluft ber den Begriff der intensiven Grçße als 3
Die Bestimmung des Einfachen bedeutet die Erweiterung bis zum Unbedingten der Kategorie der Realitt. Das zeigt Kant anlsslich der zweiten Antinomie, die ja die Leibnizsche Auffassung der Seele als Monade aufnimmt (vgl. A 403 Anm.; B 440, 470).
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4 Das Verfehlen des Unbedingten
Grades der Realitt (B 413 ff.). Die folgende Darstellung beschrnkt sich auf die Struktur der Paralogismen als transzendentaldialektischer Vernunftschlsse, exemplifiziert vor allem am Beispiel des ersten Paralogismus. Ausschließlich diesen diskutiert Kant in der B-Auflage in der strikten Form eines solchen Schlusses. Dieser Paralogismus, der „in dem Verfahren der rationalen Psychologie herrscht“ (B 410), ist nun folgender Schluss: Obersatz:
„Was nicht anders als Subject gedacht werden kann, existirt auch nicht anders als Subject und ist also Substanz.“ Untersatz: „Nun kann ein denkendes Wesen, bloß als ein solches betrachtet, nicht anders als Subject gedacht werden.“ Schlusssatz: „Also existirt es auch nur als ein solches, d. i. als Substanz.“ (B 411)
Der Schluss hat die Form der ersten Figur der aristotelischen Syllogistik. Diese ist nach Kant die einzig reine Figur kategorischer Schlsse, whrend die brigen Figuren aus dieser und aus Umkehrungen (unmittelbaren Verstandesschlssen) zusammengesetzt sind.4 Die Schlussregel fr den affirmativen kategorischen Schluss der ersten Figur und, folglich, fr einen affirmativen kategorischen Schluss berhaupt lautet: „Was dem Merkmale einer Sache zukommt, das kommt auch der Sache selbst zu […] (nota notae est nota rei ipsius […])“ (Log § 63); ein Prdikat P, was dem Merkmal M einer Sache S zukommt, kommt auch dem S selbst zu. Der betrachtete Schluss hat also folgende Form:
wobei
M S
P M
S
P
S = „Ein denkendes Wesen, bloß als ein solches betrachtet“ M = „Was nicht anders als Subjekt gedacht werden kann“ P = die Kategorie der „Substanz“
Nun sind nach Kant die Prmissen des Schlusses „richtig[]“ (A 402). Die erste Prmisse besagt, dass ein jeder Gegenstand, der notwendig als das logische Subjekt von Urteilen vorgestellt wird, nach der Kategorie der Substanz bestimmt wird: er wird bestimmt als subsistierend, wogegen seine Prdikate als ihm inhrierend bestimmt werden. Die zweite Prmisse besagt, dass das denkende Selbst nur als das logische Subjekt in Urteilen auftreten kann und seine Gedanken als die prdikativen Bestimmungen. 4
Vgl. Kants Frhschrift ber „Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren“ (DfS). Vgl. auch Log § 65.
4.1 Die Paralogismen der reinen Vernunft
115
Auch die logische Form des Schlusses ist vordergrndig richtig. Die Stellung der Terme und ihre Verknpfung nach der Schlussregel sind korrekt, und quivok ist die Mitte des Schlusses (M), fr sich betrachtet, nicht. Rein formallogisch kann der Schein nicht aufgedeckt werden. Dazu ist eine inhaltliche Erwgung nçtig, die den Gegenstandsbezug thematisiert. Erfordert ist die transzendentale Kritik, die den transzendentalen vom empirischen Gesichtspunkt unterscheidet. Die erste Prmisse handelt nmlich von einem „Object berhaupt“. Wenn dieses als ein Objekt genommen wird, „wie es in der Anschauung gegeben werden mag“, dann ist zur Anwendung der Kategorie der Substanz die Beharrlichkeit des Objekts in der Zeit (das Schema der Kategorie; vgl. B 183) erforderlich. Wenn es dagegen als ein Gegenstand des Denkens berhaupt genommen wird, dann bedeutet die Kategorie ohne den Bezug auf die Anschauung eine bloße Denkform, die zu keiner Erkenntnis des Gegenstandes beitrgt. Die zweite Prmisse bezieht sich andererseits auf „gar kein Object“, sondern auf das „Selbstbewusstsein […] als Subject (als die Form des Denkens)“ (B 412 Anm.). Dieses bedeutet die transzendentale, logische Bedingung oder eben die Form allen Denkens. Das Denken kann sich zwar beziehen auf das Selbst als den Gegenstand des inneren Sinnes (in der Zeit); es gibt aber „in der inneren Anschauung gar nichts Beharrliches“ (B 412 f.), sodass die Kategorie der Substanz angewandt werden und ein Objekt bestimmen kçnnte. Etwas, was in der Zeit beharrt, kann nur den aßeren Sinnen, im Raum, gegeben werden. Das „stehende und bleibende Ich“ (A 123), das alle meine Vorstellungen begleiten soll, die logische Bedingung, kann gar nicht gefunden werden im Ich als Gegenstand der inneren Wahrnehmung. Es kann nur gedacht werden, als Noumenon. Das denkende Selbst als Gegenstand der Anschauung ist dagegen eine empirische Erscheinung in der Zeit, wie die materiellen Dinge Erscheinungen in Raum und Zeit sind.5 Der Mittelbegriff (M: ,was nicht anders denn als Subjekt gedacht werden kann‘) bedeutet also in beiden Prmissen dasselbe: ,was notwendig die Stelle des logisch-grammatischen Subjekts in Urteilen einnimmt‘, und 5
Vgl. FM 270 f.: Indem der innere Sinn von uns selbst „vermittelst der Aufmerksamkeit“ affiziert wird, entsteht eine „[…] Anschauung unsrer selbst […], welche uns dann uns selbst nur vorstellig macht, wie wir uns erscheinen, indessen daß das logische Ich das Subject zwar, wie es an sich ist, im reinen Bewußtseyn, nicht als Receptivitt, sondern reine Spontaneitt anzeigt, weiter aber auch keiner Erkenntniß seiner Natur fhig ist.“ Das Ich der reinen Apperzeption stellt, als Ausdruck der Spontaneitt in der Verbindung der Vorstellungen, die Bedingung aller Erkenntnis dar.
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4 Das Verfehlen des Unbedingten
er bedeutet doch nicht dasselbe. „Das Denken wird in beiden Prmissen in ganz verschiedener Bedeutung genommen“ (B 411 Anm.): Im Obersatz ist die Rede von der Beziehung des Denkens auf empirisch (in der Anschauung) gegebene, bestimmbare Objekte. Der logischen Form des kategorischen Urteils (Subjekt-Prdikat) entspricht dann tatschlich die Kategorie der Inhrenz und Subsistenz, die Kategorie der Substanz. Im Untersatz ist dagegen die Rede von der Selbstbeziehung des Denkens, von der Beziehung aller Gedanken und Vorstellungen auf das denkende Ich. Der Untersatz ist „ein identischer Satz“, ein analytisches Urteil, woraus nichts „ber die Art meines Daseins“, ber die Existenzweise des logischen Subjekts ,Ich‘ gefolgert weden darf (B 412 Anm.).6 Es wird dadurch geschlossen, dass der fr den Gegenstandbezug notwendige Anschauungsbezug ausgeblendet wird, und die Bedeutung des Mittelbegriffs in den beiden Prmissen gleichgesetzt wird. Das logisch-grammatische Subjekt des Urteils ,Ich denke‘ wird damit als ein substantieller Trger von Eigenschaften unterstellt, das Ego im Satz ,ego cogito‘ als eine res cogitans, ein denkendes Ding. Die Verwechselung, die dem Schluss zugrunde liegt und zu der schon die logische Form des Urteils ,Ich denke‘ verleitet, ist der Schein, dass die Reihe der Gedanken und Vorstellungen ihr Bestehen in einem realen Grund habe. Die Einheit der Apperzeption wird als eine gegenstndlich gegebene unterstellt. Das denkende Subjekt, bloß als ein solches betrachtet, abgesehen von allen sinnlichen Bedingungen der Existenz, wird als ein reales Substratum genommen, ein subsistierendes Wesen, ein Subjekt (rpo-je_lemom) im alten Sinne. Auch die Schlsse, die zu den brigen Ideen der ersten Klasse fhren, sind ebensolche Paralogismen. „Die logische Erçrterung des Denkens berhaupt wird flschlich fr eine metaphysische Bestimmung des Objects gehalten“ (B 409). Das Subjekt der Gedanken ist logisch einfach, dasselbe fr alle Teilvorstellungen eines ganzen Gedankens. Diese logische Bedingung des Denkens wird aber verwechselt mit der Einfachheit einer Substanz (vgl. B 407 f.; A 351 ff.). Die logische Identitt der Apperzeption wird weiter verwechselt mit der numerischen Identitt einer Person als beharrlicher Substanz (vgl. B 408 f.; A 361 ff.). Schließlich wird die Differenz des Ich der Apperzeption als logischer Bedingung von den bedingten Gegenstnden im Raum umgedeutet in die abgesonderte Existenz des denkenden Wesens, unabhngig von der kçrperlichen Natur und gar vom eigenen Kçrper (vgl. B 409; A 366 ff.). Die Verwechselung der logischen 6
Dasselbe gilt von den Unterstzen in allen vier Paralogismen. Vgl. B 407 ff.
4.1 Die Paralogismen der reinen Vernunft
117
Abstraktion von allen empirischen, sinnlichen Bedingungen mit einer aparten, bersinnlichen Existenz charakterisiert insgesamt den dialektischen Schein der rationalen Psychologie: Folglich verwechsele ich die mçgliche Abstraction von meiner empirisch bestimmten Existenz mit dem vermeinten Bewußtsein einer abgesondert mçglichen Existenz meines denkenden Selbst und glaube das Substantiale in mir als das transscendentale Subject zu erkennen, indem ich bloß die Einheit des Bewußtseins, welche allem Bestimmen als der bloßen Form der Erkenntniß zum Grunde liegt, in Gedanken habe (B 427).
Inwiefern ist aber die Verwechselung unvermeidlich? Inwiefern liegt ein notwendiger, transzendentaler Schein vor? Den nher betrachteten ersten Schluss machte die Verdoppelung des Mittelbegriffs (quaternio terminorum) zu einem Fehlschluss, einem „sophisma figurae dictionis“ (B 411; A 402). Es handelt sich aber nicht um einen bloß formallogischen Fehler, nicht um eine bloße quivokation des Mittelbegriffs, nicht um ein Wortspiel. Es ist der Vernunft natrlich, das bestndige logische Subjekt nach der entsprechenden Kategorie, dem ontologischen Pendant, zu bestimmen. Vor dem Schein kann nur die transzendentale Kritik schtzen, die die Bedingungen des Bezugs auf Gegenstnde thematisiert und die transzendentale Differenz von Denken und Anschauung im Blick hat. Die Kritik unterscheidet nmlich die Beziehung des Denkens auf die Anschauung, den empirischen Gebrauch der Kategorien, von der transzendentalen Beziehung des Denkens auf sich selbst. In dieser letzteren liegt kein Objektbezug und folglich keine Erkenntnis. Die Beziehung auf einen unbedingten Grund des Denkens ist aber eine notwendige Forderung der Vernunft zu aller bedingten Prdizierung in Urteilen (vgl. zur Ableitung der Idee im Vorigen 2.2.2). Das Ich der reinen Apperzeption ist zwar als der „Grund der Mçglichkeit der Kategorien“ (A 401) nicht selbst durch diese bestimmbar und erkennbar. Es wird aber gedacht „als Subject der Gedanken oder auch als Grund des Denkens“, nach der logischen Funktion, die die Kategorie der Substanz bzw. der Ursache mit sich zieht (B 429). Die Hypostasierung des transzendentallogischen Prinzips der Einheit der Apperzeption, die „Subreption des hypostasierten Bewusstseins“ (A 402), ist insofern nach Kant unvermeidlich. Hierin liegt der „transscendentale Grund, der Form nach falsch zu schließen“. Gemß der A-Auflage darf sogar im ersten Paralogismus die Konklusion „Die Seele ist Substanz“ zugelassen werden (A 350). Sie bezeichnet jedoch „nur eine Substanz in der Idee, aber nicht in der Realitt“ (A 351). Es wird nmlich nur „der nackte Verstandesbegriff von Substanz“ (A 401) auf ein Verstandeswesen (Noumenon) angewandt, ohne Anschauungs- und
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4 Das Verfehlen des Unbedingten
daher ohne Realittsbezug; ebenso bei den anderen Schlssen.7 Das bedingte Zulassen der Konklusionen der Paralogismen bedeutet nun kein Zugestndnis an die rationalistische Metaphysik, das dann in der B-Auflage zurckgenommen werde.8 Es bedeutet bloß, dass ich mich als das bestndige Subjekt des Bewusstseins nur denke „wie ein jedes Object berhaupt, von dessen Art der Anschauung ich abstrahire“ (B 429). Es bedeutet nur, dass ohne den Anschauungsbezug geschlossen wird auf die Anwendung der Kategorie als bloßer, nackter Denkform. Es geht einfach um die grundlegende Unterscheidung Kants zwischen einem „Gegenstand in der Idee“ und einem „Gegenstand schlechthin“ (B 698; vgl. im Vorigen 3.3.1); einfach um Kants Festhalten an der ,natrlichen Ontologie‘ auch im Bereich der problematischen Noumena (vgl. im Vorigen 2.2.4). Am transzendentalen Schein der Schlsse, der nicht mehr betrgt aber trotzdem nicht verschwindet, hngt dann der regulative Gebrauch der psychologischen Ideen. Der „Vernunftbegriff (Idee) von einer einfachen Substanz, die, an sich selbst unwandelbar (persçnlich identisch), mit andern wirklichen Dingen außer ihr in Gemeinschaft stehe; mit einem Worte: von einer einfachen selbststndigen Intelligenz“ (B 710) fungiert als regulatives Prinzip der Systematisierung der inneren Erfahrung. Nach Kant luft jeder Versuch, das denkende Subjekt als solches zu bestimmen, unvermeidlich in einen Zirkel hinein. Dieses ist nmlich als Grund der Mçglichkeit der logischen Funktionen und Kategorien in jedem Urteil vorausgesetzt; sodass „wir uns daher in einem bestndigen Cirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen mssen, um irgend etwas von ihm zu urtheilen“. Diese „Unbequemlichkeit“ (B 404) lsst sich nach Kant vermeiden, indem das „Ich als Subject“ sorgfltig getrennt wird vom „Ich als Object“ (FM 270): das Ich der reinen Apperzeption vom Ich als Gegenstand der inneren Anschauung, das transzendentale Subjekt, das fr die Spontaneitt in der Verbindung der 7 8
„Nun ist die bloße Apperception (Ich) Substanz im Begriffe, einfach im Begriffe etc., und so haben alle jene psychologische Lehrstze ihre unstreitige Richtigkeit.“ (A 400). Eine inhaltliche Verschiebung von einer „gegenstandsbezogenen“ Deutung des Ich in der ersten Auflage zu einer „handlungsbezogenen“ in der zweiten hat Rolf-Peter Horstmann behauptet in seinem Aufsatz „Kants Paralogismen“. Vgl. dagegen Emundts, „Die Paralogismen und die Widerlegung des Idealismus“, 301; Rosefeldt, „Kants Ich als Gegenstand“, 286. – Fr eine ausfhrliche Darstellung der Entwicklung von Kants Auffassungen, der noch in Vorlesungen der 70er Jahre am Substanzcharakter der Seele festhielt, hin zur Kritik vgl. Ameriks, Kant’s Theory of Mind, 12 ff., 27 ff., 85 ff., 129 ff., 177 ff., 189 ff., 234 ff.
4.1 Die Paralogismen der reinen Vernunft
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Vorstellungen steht, vom empirischen, rezeptiven Subjekt. Das letztere ist selbst eine Erscheinung des inneren Sinnes; das reine Ich ist als unbedingter Gegenstand der Idee ein Noumenon. Zu dieser Auflçsung des Scheins durch die Trennung von Phaenomena und Noumena, von empirischem und transzendentalem Ich, ist folgendes zu bemerken. 1. Es ist nicht der Fall, dass der dialektische Schluss „einen Fehler im Inhalte begehe (denn er abstrahirt von allem Inhalte oder Objecte)“ (A 397). Der Schluss hat ja keinen empirischen, sondern nur einen notwendigen transzendentallogischen Inhalt (Prmissen). Trotz dieser Notwendigkeit ist der Schluss ein Paralogismus, der nmlich „allein in der Form fehle“ (A 398). Nicht die transzendentale Logik, die im Bereich der Vernunft in den Schein fhrt, sondern nur die formale Logik kann nach Kant einen Kanon fr die Vernunft abgeben (vgl. im Vorigen 1.2.2). Der Schein wird jedoch, wie gesehen, nicht formallogisch aufgelçst, sondern durch den Rckgriff auf die transzendentalen Unterscheidungen. Die Auflçsung des Scheins rekurriert auf den „analytischen Theil[] der transscendentalen Logik“ (A 348; vgl. B 406, 412): die Kategorien sind fr sich bloße Denkformen, ohne den Bezug auf die Anschauung kann kein Objekt gegeben werden. Erst in Rekurs darauf kann die Verdoppelung des Mittelbegriffs des Schlusses aufgezeigt werden. Auf die Problematik des Verhltnisses zwischen formaler und transzendentaler Logik, die sich hier abzeichnet, wird die folgende Besprechung der Antinomie der Vernunft zurckkommen (vgl. 4.3.2). Anders als im Fall der Antinomie verrt jedenfalls im Fall des transzendentalen Paralogismus der Schein nicht sich selbst, sodass er selbst zu seiner Auflçsung zwnge. Trotzdem kann der Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus auch hier nicht nur als eine Voraussetzung, sondern ebenso als ein Ergebnis der Auflçsung des Scheins betrachtet werden. Erst in der transzendentalen Dialektik richtet sich das Denken notwendig auf seinen unbedingten, transzendentalen Grund als solchen. Das Denken bezieht sich auf die Einheit der Apperzeption nicht mehr als auf eine formale Bedingung, sondern als auf seinen Gegenstand. Durch die Auflçsung des entstehenden Scheins gewinnt es einen Vernunftbegriff vom Subjekt in Abgrenzung von den verstandesmßig bestimmbaren Objekten. Erst zur Vermeidung des Scheins ist es erforderlich, die transzendentale Bedingung als Noumenon jenseits der Grenze der Phaenomena zu verorten. Vom vierten Paralogismus der Seelenlehre heißt es, dass er nçtigt, „die einzige Zuflucht, die uns brig bleibt, nmlich zu der Idealitt aller Erscheinungen, zu ergreifen, welche wir in der transscendentalen sthetik unabhngig von diesen Folgen, die wir damals nicht voraussehen konnten,
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dargethan haben“ (A 378 f.). Im Kapitel 3 wurde das wechselseitige Voraussetzungsverhltnis von Analytik und Dialektik nher erlutert. Nach seiner Aufdeckung kann nun der transzendentale Schein nicht mehr betrgen, er verschwindet ja aber auch nicht. Die Bedeutung ihrer Idee kann die Vernunft nicht anders denken denn als Beziehung auf ein „transscendentale[s] Ding“ (B 710), auf das Analogon von einem wirklichen Ding. Dadurch dient der Gegenstand der Idee, die „Substanz in der Idee“ bzw. das Noumenon, als das „Schema des regulativen Princips“ (B 702) der Vernunft. Die Vorstellungen der unmçglichen Wissenschaft der rationalen Psychologie dienen als regulative Leitideen einer empirischen Psychologie, d. h. der Wissenschaft vom empirischen Ich: Wir wollen den genannten Ideen als Principien zu Folge erstlich (in der Psychologie) alle Erscheinungen, Handlungen und Empfnglichkeit unseres Gemths an dem Leitfaden der inneren Erfahrung so verknpfen, als ob dasselbe eine einfache Substanz wre, die mit persçnlicher Identitt beharrlich (wenigstens im Leben) existirt, indessen daß ihre Zustnde, zu welchen die des Kçrpers nur als ußere Bedingungen gehçren, continuirlich wechseln (B 700)
2. Die dialektischen Schlsse der rationalen Seelenlehre werden nicht in der Gestalt der Antinomie entwickelt, sondern eben als (wenn auch transzendentale) Fehlschlsse entlarvt. Damit tritt aber der Schein als nicht ganz so unvermeidlich auf wie im Fall der Antinomie. Zum einen kann nmlich die einseitige Forderung nach einem immateriellen Seelending nicht die unvermeidliche, zwingende Folge des Rckgangs auf die Totalitt der Bedingungen der Gedanken sein. Zum anderen kann auch die Aufgabe des an sich widerspruchsfreien Begriffs von einem solchen Ding ebenfalls nicht ganz zwingend sein. Die Mçglichkeit einer Antinomie, eines Streits der Behauptungen, auch auf dem Feld der Psychologie wird von Kant jedenfalls doch angedeutet. So wird in einer Anmerkung der B-Auflage eine materialistische Position als die „andere Mçglichkeit[]“ erwogen, welche den trotzigen rationalistischen Metaphysiker, der auf die Widerspruchslosigkeit seiner Behauptungen besteht, „in große Verlegenheit“ zu bringen vermag (B 416 Anm.). Das wre die Strategie der Antinomie: die ebensogroße Mçglichkeit der Gegenthese erschttert die dogmatische These. Vom Streit kann dann ebenso wenig skeptisch abgesehen als an einer der Thesen festgehalten werden. Kant wendet jedoch diese seine Strategie, die skeptische Methode, im Haupttext nicht an. Die materialistische Position wird als Gegenpol nicht entwickelt, obwohl von einer Entgegensetzung des Materialismus mit dem Spiritualismus bzw. Pneumatismus die Rede ist (vgl. B 421).
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In der zweiten kosmologischen Antinomie (von den einfachen Substanzen vs. der unendlichen Teilung der Materie) kehrt dann zwar in gewissem Sinne das Problem der Psychologie zurck (vgl. B 471, 491); am Anfang des Antinomiekapitels hlt Kant jedenfalls rckblickend fest, „daß der transscendentale Paralogism einen bloß einseitigen Schein in Ansehung der Idee von dem Subjecte unseres Denkens bewirkte, und zur Behauptung des Gegentheils sich nicht der mindeste Schein aus Vernunftbegriffen vorfinden will. Der Vortheil ist gnzlich auf der Seite des Pneumatismus“ (B 433). Das Verdienst der Kritik wird im Paralogismuskapitel trotzdem darin gesehen, dass sie durch die Grenzziehung den Weg zwischen der Scylla des „seelenlosen“ Materialismus und der Charybdis des schwrmerischen Spritualismus schlgt (B 421). Das Verdienst wird an einer Stelle der A-Version sogar gerade darin gesehen, „unser denkendes Selbst“ als Gegenstand eines Vernunftbegriffs, d. h. durch seine Verortung im Reich der Noumena, „wider die Gefahr des Materialismus zu sichern“ (A 383). 3. Der Materialismus, der nichts als Materie, nur kçrperliche Wesen kennt, ein monistischer Spiritualismus, der das Dasein der Materie leugnet, und der ontologische Dualismus der cartesianischen Tradition, der Dualismus von res cogitans und res extensa, von denkenden und kçrperlichen Wesen, sind nach Kant die drei Spielarten des transzendentalen Realismus (vgl. A 379 f.). Den ontologischen Dualismus nennt Kant den „transscendentalen Dualism“ (A 389; vgl. A 379). Gegen diese Position sind fr die Kritik denkende und kçrperliche Wesen keine grundverschiedenen Dinge an sich, sondern Erscheinungen des inneren bzw. der ußeren Sinne. Nun ist die Frage nicht mehr von der Gemeinschaft der Seele mit anderen bekannten und fremdartigen Substanzen außer uns, sondern blos von der Verknpfung der Vorstellungen des inneren Sinnes mit den Modificationen unserer ußeren Sinnlichkeit, und wie diese unter einander nach bestndigen Gesetzen verknpft sein mçgen, so daß sie in einer Erfahrung zusammenhngen (A 385 f.)
Kants ,transzendentaler Monismus‘ (Michael Wolff )9 ist allerdings eingebettet in die grundlegende Dichotomie des transzendentalen Idealismus: die Dichotomie von Phaenomena und Noumena. 9
Vgl. Wolff, „Empirischer und transzendentaler Dualismus“, 273 f.. In der AAuflage beschreibt Kant seine Position als einen empirischen Dualismus, einen „Dualism […] im empirischen Verstande“ (A 379), der zwei Arten von empirischen, phnomenalen Substanzen kennt, nmlich die des inneren und die der ußeren Sinne. In der B-Auflage hlt Kant jedoch, wie gesehen, fest, dass es in der inneren Anschauung nichts Beharrliches gibt, das die Substantialitt des empiri-
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Als den gemeinsamen, entscheidenden Fehler der Schlsse der rationalen Psychologie entlarvt Kant, wie gesehen, die Ontologisierung einer logischen Abstraktion. Es wird von allen sinnlichen, empirischen Bedingungen des Denkens abstrahiert und dadurch dann das Resultat dieser Abstraktion als etwas festgehalten, was eine abgesonderte Existenz fhrt. Kants Auflçsung des Scheins befestigt aber gerade diese Abstraktion und macht das Abstrahierte zur vorgeordneten Bedingung. Das empirische, rezeptive Ich wird getrennt vom Ich der reinen Apperzeption, als unbedingter Bedingung und als dem Gegenstand des Vernunftbegriffs. Nach Kant selbst soll die Trennung die Idee der unsterblichen Seele als denkmçgliche absichern und dann in der Gestalt eines Postulats der praktischen Vernunft aufrechterhalten. Damit wird zwar freilich nicht die traditionelle Vorstellung von einem Leben nach dem Tode rehabilitiert, wohl aber ein Analogon davon (vgl. im Folgenden 5.3). Kants Kritik an den Abstraktionen der rationalen Psychologie scheint jedoch vielmehr diese eigene Konstruktion selbst und vielleicht sogar die transzendentale Analytik zu treffen: die Scheidung von Spontaneitt und Rezeptivitt, von reiner Verstandesform und empirischem Inhalt. Nach der Auflçsung des Scheins beziehen sich die Ideen der ersten Klasse nicht auf einen bersinnlichen Gegenstand, sondern auf die Erkenntniskraft, somit auf die Einheit der Apperzeption (vgl. Refl 5553). Das „Ich denke“ bezeichnet nur „die Form der Apperception, die jeder Erfahrung anhngt und ihr vorgeht“ (A 354), nur das Vehikel aller Denkformen oder, mit Jacobi, „die Form einer Form“;10 womit aber „das ,ich denke‘, das alle meine Vorstellungen begleiten soll, der letzte blasseste Schatten ist eben jener unsterblichen Seele“.11
schen Ich bloß als Gegenstandes des inneren Sinnes verbrgen wrde. Die Beharrlichkeit des empirischen Ich in diesem Leben ist allerdings klar, „da das denkende Wesen (als Mensch) sich zugleich ein Gegenstand ußerer Sinne ist“ (B 415). „Kant gibt damit den empirischen Dualismus, wenigstens in seiner ursprnglichen Form, auf – was nicht bedeutet, dass er den transzendentalen Monismus aufgibt“ (Wolff, ebd., 274). 10 Jacobi, David Hume ber den Glauben, 61. 11 Adorno, Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie, 324.
4.2 Das Ideal der reinen Vernunft
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4.2 Das Ideal der reinen Vernunft Den Schlussstein der metaphysica specialis bildete die rationale Theologie, die Lehre von dem hçchsten Wesen. Fr Kant steht unter dem dritten Titel des Systems aller transzendentalen Ideen das transzendentale Ideal. Ein Ideal berhaupt bezeichnet eine „Idee nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares oder gar bestimmtes Ding“ (B 596). Eine Idee kann nicht in der Erfahrung in concreto dargestellt werden wie die Kategorien; wie z. B. die Kategorie der Kausalitt in den empirischen Kausalverknpfungen. Eine Idee schreibt daher der Erfahrung nur die Regel vor, nach der ihre Vollstndigkeit gesucht werden kann. Ein Ideal stellt dagegen diese Vollstndigkeit in individuo vor; freilich nicht in der Anschauung, nicht an einem real existierenden Gegenstand. Als Vorstellung eines einzelnen Dinges dient es aber nicht bloß als Regel, sondern sogar „zum Urbilde der durchgngigen Bestimmung des Nachbildes“. Es entspricht damit den platonischen Ideen als Urbildern der Dinge. In diesem Sinne gibt es sthetische und ethische Ideale. Als Beispiel fhrt Kant das Ideal des Weisen an in seinem Verhltnis zur Idee der Weisheit: „der Weise (des Stoikers) ist ein Ideal, d. i. ein Mensch, der bloß in Gedanken existirt, der aber mit der Idee der Weisheit vçllig congruirt.“ (B 597). Das transzendentale Ideal der reinen Vernunft ist nun „das einzige eigentliche Ideal, dessen die menschliche Vernunft fhig ist“ (B 604). Die entsprechende Idee hat sich ergeben als Totalittsbegriff aus der Reihe der disjunktiven Prosyllogismen (vgl. im Vorigen 2.2.2). Sie steht fr den Inbegriff der mçglichen Prdikate aller Gegenstnde des Denkens berhaupt und somit fr den Grund der durchgngigen Bestimmung eines jeden Gegenstandes und des durchgngigen systematischen Zusammenhangs der Bestimmungen. Wenn die erste Klasse der transzendentalen Ideen auf die unbedingte Einheit des denkenden Subjekts geht und die zweite Klasse auf die unbedingte Einheit des erscheinenden Objekts, so geht die dritte Klasse noch auf die Einheit beider: auf die absolute systematische Einheit allen Denkens. Das transzendentale Ideal ist der Begriff vom Unbedingten schlechthin oder „de[r] hçchste[] Vernunftbegriff von einem Wesen aller Wesen“ (B 392). Es ist somit der Schlussstein von Kants eigener Systematik der transzendentalen Ideen. Unter dem dritten Titel dieser Systematik stehen nicht vier Ideen nach den Titeln der Kategorien sondern gerade nur ein Ideal, die Idee der durchgngigen Bestimmtheit in individuo: in einem Wesen aller Wesen. Das transzendentale Ideal ist deshalb das einzige eigentliche Ideal, „weil nur in diesem einzigen Falle ein
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an sich allgemeiner Begriff von einem Dinge durch sich selbst durchgngig bestimmt und als die Vorstellung von einem Individuum erkannt wird“ (B 604). 4.2.1 Die drei Gottesbeweise Der Gegenstand des transzendentalen Ideals ist ein Urwesen (ens originarium), d. h. das Substrat aller mçglichen Bestimmungen der Dinge, damit auch das hçchste Wesen (ens summum), worber kein anderes steht, und das Wesen aller Wesen (ens entium), deren Bedingung es enthlt (vgl. B 606 f.). Dieses Wesen ist Gott als der Gegenstand einer rationalen Theologie. Die Disziplin beruht auf einem Beweis vom Dasein des hçchsten Wesens, das sie mit allen Prdikaten der hçchsten Vollkommenheit bzw. der „unbedingten Vollstndigkeit“ (B 608) ausstatten kann. Fr diesen Beweis, den Schluss auf die Existenz Gottes, stehen nun nicht mehr und nicht weniger als drei Mçglichkeiten zur Verfgung. Die vollstndige Disjunktion rechtfertigt Kant folgendermaßen: Entweder wird in Abstraktion von aller Erfahrung, „aus bloßen Begriffen“, auf das Dasein des hçchsten Wesens geschlossen oder der Schluss geht aus der Erfahrung aus. Im zweiten Fall wird entweder die „bestimmte Erfahrung“ zugrunde gelegt, d. h. die bestimmten Zge der Sinnenwelt, die auf eine „hçchste Ursache“ von ihr schließen ließen, oder aber die „unbestimmte Erfahrung“, d. h. es wird daraus, dass irgend etwas existiert, auf die Existenz des Hçchsten geschlossen (B 618). Die drei mçglichen Beweisarten nennt Kant der Reihe nach den ontologischen, den physikotheologischen und den kosmologischen Beweis vom Dasein Gottes. Die Kritik entlarvt sie als die drei Fehlschlsse der rationalen Theologie in ihren drei Gestalten der Ontotheologie, Kosmotheologie und Physikotheologie (vgl. B 660). Unsere Darstellung konzentriert sich wieder auf die Frage nach dem transzendentalen Schein der dialektischen Schlsse. Zum Zweck der Entlarvung der Fehlschlsse fhrt die Kritik alle drei Beweise auf den ontologischen Beweis zurck. Alle Beweiskraft des kosmologischen und des physikotheologischen Beweises liege nmlich im ontologischen, den sie heimlich voraussetzen. Das absolut notwendige Dasein, das sie behaupten, kann immer nur ein Dasein bedeuten, das aus bloßen Begriffen eingesehen wird. Der kosmologische und der physikotheologische Beweis sind in ihrem Fortgang gezwungen, die Erfahrung als ihren Beweisgrund zu verlassen. Sonst bringt es der kosmologische Beweis nur bis zum notwendigen Dasein von irgendeinem Wesen (wie schon die
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These der vierten kosmologischen Antinomie; vgl. weiter unten 4.3.1) und kann von hier nicht bergehen zum Dasein eines hçchsten, vollkommenen Wesens. Ebenso ist der Sprung nicht zu schaffen von der Ordnung und Einheit der Welt auf die Notwendigkeit eines Schçpfers (physikotheologischer Beweis) ohne Rekurs auf den kosmologischen und damit wieder auf den ontologischen Beweis (vgl. B 635, 653, 657 f.). Den ontologischen Beweis stellt nun Kant dar als den Schluss aus dem „Begriff des allerrealesten Wesens“ (B 624) auf sein Dasein. Das hçchste Wesen ist nmlich das, was alle Realitt enthlt, d. h. alle realen Prdikate. Diese sind alle mçglichen positiven Eigenschaften der Dinge; sie drcken ein Etwas (eine Sachheit) aus, und der Gegenstand, dem das Prdikat zukommt, ist ein solches Etwas (transzendentale Bejahungen oder Setzungen). Dagegen bedeuten ihre Negationen nur den Mangel einer Eigenschaft (transzendentale Verneinungen oder Aufhebungen) (vgl. B 602). So ist etwa das Prdikat ,finster‘ seiner logischen Form nach bejahend, in Wahrheit bedeutet es aber nur die Abwesenheit vom Licht und ist bloß verneinend, whrend seine Negation ,nichtfinster‘ wahrhaft bejahend ist. Demnach (im Sinne der metaphysischen Tradition) sind die wahren (transzendentalen) Verneinungen „nichts als Schranken“ der Realitt (B 604). Die endlichen Dinge sind insofern endlich und beschrnkt, als sie mancher der Realitten ermangeln. Unter den realen Prdikaten muss nun auch das Dasein, die Existenz, gedacht werden; daher muss das ens realissimum notwendig existieren. Es wird aus dem Begriff des vollkommenen Wesens, das keinen Mangel aufweist, auf sein notwendiges Dasein geschlossen. Ein Beweis auf derselben Grundlinie – aus dem Begriff des absoluten Maximums auf das Dasein dieses grçßten Wesens – geht zurck auf Anselm von Canterbury. Von besonderem Stellenwert wurde aber der ontologische Beweis fr die neuzeitliche rationalistische Metaphysik, bei Descartes und in seiner Nachfolge. Er verbrgte dabei nmlich die berbrckung von Denken und Sein.12 Als Vertreter des ontologischen Beweises nennt Kant Descartes und Leibniz (vgl. B 630). Kants Widerlegung des ontologischen Beweises beruht nun auf folgendem Gedanken: „Sein ist offenbar kein reales Prdicat, d. i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen kçnne. Es ist bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst. Im logischen Gebrauche ist es lediglich die Copula eines Urtheils.“ (B 626). Wenn in einem Urteil ,S ist P‘ ein Prdikat P einem Subjekt S 12 Vgl. hierzu Rçd, Der Gott der reinen Vernunft; Henrich, Der ontologische Gottesbeweis.
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zugesprochen wird, so wird dieses Prdikat in Beziehung auf das Subjekt gesetzt. Der Begriff des Subjekts wird mit dem Begriff des Prdikats verknpft, aber unabhngig davon, ob der entsprechende Gegenstand existiert. Die Kopula des Urteils bedeutet dann diese Setzung des Prdikats in Beziehung auf das Urteilssubjekt, die Verknpfung der beiden Begriffe bzw. die subjektive Einheit des Bewusstseins, in dem die Begriffe verknpft werden. Die Existenz bedeutet dagegen das Setzen (die Position) des Urteilssubjekts selbst; sein Setzen schlechthin (absolut) oder an sich selbst. Damit werden auch alle Prdikate schlechthin gesetzt, die sonst nur in Beziehung auf das Subjekt gesetzt wurden. Es existiert dann der Gegenstand des Subjektbegriffs, und zwar mit allen Eigenschaften, die als Prdikate auf diesen Begriff bezogen wurden. Die Existenz ist keineswegs eine solche Eigenschaft, ein weiteres Prdikat. Sie sagt ja nichts ber den Gegenstand aus, sie fgt nichts zu dem Begriff des Subjekts hinzu; sie sagt nur etwas ber diesen Begriff: dass er nmlich keine leere Vorstellung sei, sondern „die Vorstellung eines existirenden Dinges“ (BDG 72).13 Fr einen Gegenstand der Erfahrung bedeutet seine absolute Setzung, dass er den Sinnen gegeben wird. Das heißt allerdings nicht, dass etwa eine isolierte Wahrnehmung zu dem Begriff hinzukommt. Das Dasein des Gegenstandes bedeutet vielmehr „den Zusammenhang mit irgend einer meiner Wahrnehmungen nach empirischen Gesetzen“ (B 629).14 Das Dasein eines Gegenstandes wird berhaupt erst wahrgenommen bzw. aus 13 Zur vorkritischen Schrift von 1762 Der einzig mçgliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, woraus hier zitiert wird, vgl. den folgenden Abschnitt 4.2.2. Wenn auch in der Kritik etwas missverstndlich von einem Hinzukommen des Gegenstandes zum Begriff gesprochen wird (vgl. B 627), so wird keine Einsicht der frhen Schrift verlassen, wie Ernst Tugendhat und Ursula Wolf annehmen (Tugendhat/Wolf, Logisch-semantische Propdeutik, 188). Das Hinzukommen des Gegenstandes bedeutet die absolute Position als Setzung des Gegenstandes „in Beziehung auf meinen Begriff“ (B 627) im Gegensatz zur Setzung der Prdikate in Beziehung auf den Gegenstand, d. h. dem Hinzukommen der Eigenschaften zum Inhalt des Begriffs. – Kants Auffassung von Existenz und Prdikation nimmt diejenige von Gottlob Frege und Bertrand Russell vorweg (vgl. Tugendhat/Wolf, ebd.). Nach Frege und Russell wird ein Prdikat als ungesttigte Funktion ausgedrckt, P(x), und ein Existentialsatz durch den Existenzoperator, 9xP(x). Der gewichtige Unterschied zu Kants Auffassung besteht jedenfalls darin, dass der Gegenstandsbezug nach Kant eine Frage der transzendentalen Logik und der Flle der Kopula (S ist P, als Substanz und Akzidenz), nach Frege und Russell eine Frage der Erfllung der ungesttigten Ausdrcke durch die Namen von Gegenstnden ist (S(a), P(a)). 14 Vgl. noch das zweite Postulat des empirischen Denkens, d. h. den Grundsatz, der der Kategorie des Daseins entspricht (B 266).
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Wahrnehmungen geschlossen „in dem Context der gesammten Erfahrung“ (B 628 f.), im Kontext des durchgngigen Zusammenhangs der Erfahrung nach apriorischen und empirischen Gesetzen. Die Einheit der Erfahrung steht unter den Kategorien; der Gegenstand ist nur als kategorial bestimmter: als beharrliche Substanz, die in kausalen Wechselwirkungsverhltnissen steht. Das Existentialurteil ,S ist‘ bedeutet also, dass dieses Sein des S mit bestimmten Wahrnehmungen zusammenhngt nach den allgemeinen und besonderen Bedingungen der Erfahrung. Die Kopula des objektiv gltigen empirischen Urteils ,S ist P‘ bedeutet dann die Beziehung der Begriffe S und P auf die objektive Einheit des Bewusstseins in der Synthesis der Anschauungen (vgl. B 140 ff.): die Verknpfung von S und P im Kontext der gesamten Erfahrung. Der Gegenstand des Subjektbegriffs S ist dann schlechthin gesetzt. Den Gegenstandsbezug des Urteils (m. a. W. die Setzung des Gegenstandes) garantiert nicht etwa eine isolierte sinnliche Anschauung, sondern der Bezug der Anschauung auf die transzendentale Einheit der Apperzeption als Einheit der Erfahrung.15 Die absolute Setzung verliert nun ihren Sinn, wenn der Zusammenhang der Erfahrung verlassen wird. „[E]ine Existenz außer diesem Felde kann zwar nicht schlechterdings fr unmçglich erklrt werden, sie ist aber eine Voraussetzung, die wir durch nichts rechtfertigen kçnnen“ (B 629). Dem Ontotheologen entgeht aber schon die Unterscheidung der Setzung beziehungsweise von der Setzung schlechthin. Die Form des Existentialurteils verfhrt ihn dazu, das Sein, was nur die Kopula eines Urteils ist, mit einem Prdikat zu verwechseln. Liegt aber hier ein transzendentaler Schein vor oder vielmehr die vermeidbare Missachtung einer fundamentalen logischen Unterscheidung? Die formale Logik kann natrlich alles Mçgliche als Urteilsprdikat akzeptieren: das Sein der Kopula in einem Existentialurteil oder gar das Subjekt selbst in einem tautologischen Urteil. „Zum logischen Prdicate kann alles dienen, was man will, sogar das Subject kann von sich selbst prdicirt werden; denn die Logik abstrahirt von allem Inhalte.“ (B 626). Ein reales Prdikat bedeutet aber im Gegensatz zu einem bloß logischen eine positive Bestimmung, eine Eigenschaft eines Dinges, ein Etwas, was 15 Zur Interpretation der Textstelle B 626 vgl. Martin Heideggers Aufsatz „Kants These ber das Sein“. Heidegger macht allerdings an Kants Unterscheidung von transzendentaler Bedingung und empirisch Bedingtem, von transzendentaler Gegenstndlichkeit und empirischem Gegenstand, von Sein berhaupt als absoluter Position und Etwas, die von ihm so genannte ontologische Differenz von Sein und Seiendem fest.
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das Ding ist. Die Unterscheidung von logischen und realen Prdikaten fllt also nicht innerhalb der formalen Logik, sondern bedarf einer berlegung, die auch den mçglichen Gegenstandsbezug der Vorstellungen bercksichtigt. Die formale Logik brgt nicht selbst fr die objektive Bedeutung ihrer Formen. Der Fehler des Beweises betrifft diese objektive Bedeutung und nicht die Missachtung einer Schlussregel oder eine bloße quivokation. Wenn aber der Fehler des ontologischen Beweises kein bloß formallogischer ist, so macht das ihn lange nicht zu einer unvermeidlichen, notwendigen Illusion. Zu der Verwechselung der Kopula mit einem realen Prdikat besteht ja keine notwendige Verleitung in der Natur der Vernunft. Es handelt sich nicht um die Verwechselung einer subjektiven Notwendigkeit mit einer im Objekt gegrndeten oder um die Verwechselung von Phaenomena und Noumena. Die Widerlegung des ontologischen Beweises greift daher auch nicht auf den Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus zurck und ist wohl unabhngig von diesem Lehrbegriff. Kant stellt den Fehlschluss auch nicht wirklich als einen unvermeidlichen dar. Er schreibt: „Ich wrde zwar hoffen, diese grblerische Argutation ohne allen Umschweif durch eine genaue Bestimmung des Begriffs der Existenz zu nichte zu machen, wenn ich nicht gefunden htte, daß die Illusion in Verwechselung eines logischen Prdicats mit einem realen (d. i. der Bestimmung eines Dinges) beinahe alle Belehrung ausschlage.“ (B 626). Diese Beschreibung deutet wohl keinen transzendentalen Schein an – von dessen Trug man natrlich belehrt werden kann, der aber trotzdem nicht „zu nichte“ gemacht wird – sondern eine bloß subjektive Illusion von relativ großer berredungskraft. Vom ontologischen Beweis heißt es deshalb auch, dass er „etwas ganz Unnatrliches und eine bloße Neuerung des Schulwitzes“ enthalte (B 631). Der kosmologische Beweis ist dann eher eine „natrliche[] Schlußart“, welche „die meiste berredung bei sich fhrt“ (B 632). Der physikotheologische Beweis ist schließlich sogar noch am wenigsten vernnftelnd: „Dieser Beweis verdient jederzeit mit Achtung genannt zu werden. Er ist der lteste, klrste und der gemeinen Menschenvernunft am meisten angemessene“ (B 651). Kant scheint hier die berredungskraft der Beweise nach einem Grad der Scheinbarkeit zu messen. Ein solcher Grad macht natrlich die Beweisgrnde keineswegs zu mehr oder weniger gltigen. Er kann sie aber auch nicht aus bloß scheinbar tendenziell zu einem notwendigen Schein verwandeln (zur objektiven Wahrscheinlichkeit, der subjektiven Scheinbarkeit und dem notwendigen natrlichen Schein vgl. im Vorigen 1.3). Bezeichnend ist folgende Bemerkung zur Kosmotheologie: „In diesem kosmologischen Argumente
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kommen so viel vernnftelnde Grundstze zusammen, daß die speculative Vernunft hier alle ihre dialektische Kunst aufgeboten zu haben scheint, um den grçßtmçglichen transscendentalen Schein zu Stande zu bringen.“ (B 634). Der Ausdruck ,transzendentaler Schein‘ wird wohl hier etwas lax verwendet: Der transzendentale Schein im strikten Sinne, den ihm Kant sonst gibt, wchst natrlich nicht durch unsaubere Kunststcke. Die Rede von der Natrlichkeit des Scheins der Kosmo- und Physikotheologie deckt sich auch nicht mit Kants terminologischer Festlegung der natrlichen Illusion. Der ontologische Beweis, der am wenigsten natrliche, soll ja hier, wie gesehen, alle eigentliche Beweiskraft tragen. Der transzendentale Schein resultiert nach Kant aus einem notwendigen transzendentalen Grundsatz der Vernunft, der ihren logischen Gebrauch im Schließen absttzt (vgl. im Vorigen 2.2). Nach diesem Grundsatz schließt die Vernunft aus der Reihe des Bedingten auf das Unbedingte. Dabei gewinnt sie ihre transzendentalen Ideen, mndet aber in den Schein. Der Grundsatz darf zwar nicht als objektives Prinzip, die Ideen nicht als gegenstandskonstitutive Prinzipien, genommen werden. Der Schein verschwindet aber nicht. Die Trennung von Phaenomena und Noumena, die ihn auflçst, reproduziert gerade die Vergegenstndlichung des Unbedingten: der regulative Gebrauch der Idee bedeutet, dass diese genommen wird, als ob sie sich auf einen bersinnlichen Gegenstand bzw. auf eine vollstndige Reihe beziehen wrde. Demnach hngt folgendes untrennbar miteinander zusammen: (1) die Ableitung der Ideen gemß den Schlussarten (der Gegenstand des ersten Buches der Dialektik), (2) die dialektischen Schlsse der Vernunft und die Notwendigkeit des Scheins (der Gegenstand des zweiten Buches), (3) die regulative Funktion der Ideen (der Gegenstand des Anhangs zur Dialektik). Bei den Fehlschlssen der Onto-, Kosmo- und Physikotheologie wird aber dieser Zusammenhang vermisst. Ihre Begriffe vom hçchsten Wesen hngen nicht unbedingt zusammen mit der systematischen Ableitung des transzendentalen Ideals. Die Beweise kçnnen den Gottesbegriff des Ideals (die Idee der systematischen Einheit aller Gegenstnde des Denkens berhaupt) zugrunde legen, mssen das aber nicht. Beim ontologischen Beweis als dem tragenden Fehlschluss besteht der Schein jedenfalls gerade nicht in der Hypostasierung eines notwendigen transzendentallogischen Prinzips, sondern in einer primitiveren Verwechselung. Kant behandelt ausfhrlich das transzendentale Ideal, seinen Zusammenhang mit der disjunktiven Schussart und die Natrlichkeit des entstehenden Scheins im Zweiten Abschnitt des theologischen Hauptstcks der transzendentalen Dialektik. Der Dritte Abschnitt kommt auf die drei
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mçglichen Beweisarten der rationalen Theologie, und die folgenden Abschnitte gehen dann auf die drei Beweise ein. Dabei bleibt die Verbindung zur allgemeinen Betrachtung des Zweiten Abschnitts gerade problematisch. Direkt nach den Abschnitten zum ontologischen und zum kosmologischen Beweis schiebt Kant jedoch eine Betrachtung ein unter dem Titel „Entdeckung und Erklrung des dialektischen Scheins in allen transscendentalen Beweisen vom Dasein eines nothwendigen Wesens“ (B 642 ff.). Transzendental sind die beiden ersten Beweise deshalb, weil sie von keinen empirischen Prinzipien ausgehen; im Gegensatz zum darauf folgenden physikotheologischen Beweis, der ja die „bestimmte Erfahrung“ voraussetzt. In der eingeschobenen Betrachtung stellt Kant nun die Frage nach der „Ursache des dialektischen, aber natrlichen Scheins, welcher die Begriffe der Nothwendigkeit und hçchsten Realitt verknpft und dasjenige, was doch nur Idee sein kann, realisirt und hypostasirt“ bzw. nach der „Ursache der Unvermeidlichkeit“ des Scheins (B 643). Die Antwort scheint zunchst „das kosmologische Argument“ (ebd.) zu bieten, d. h. der Schluss auf ein notwendiges Dasein, der schon der These der vierten Antinomie zugrunde lag. Diese kosmologische These ließ es aber „unausgemacht“, ob das notwendige Dasein nicht der Welt selbst zukomme und keinem von ihr unterschiedenen Wesen (B 484). Die theologische Idee geht insofern ber die kosmologische hinaus, als hier das notwendige Wesen als das Prinzip der hçchsten systematischen Einheit der Erkenntnis auftritt. Es ist der Gegenstand des Ideals. Daher muss „das Absolutnothwendige außerhalb der Welt“ angenommen werden, als der Grund der „grçßtmçglichen“ systematischen Einheit, zu der keine empirische Einheit kongruiert (B 645). „Das Ideal des hçchsten Wesens ist“ dabei „ein regulatives Princip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus einer allgenugsamen nothwendigen Ursache entsprnge“, welches Prinzip die empirische Erkenntnis leitet in ihrem Streben nach Einheit und Systematizitt. „Es ist aber zugleich unvermeidlich, sich vermittelst einer transscendentalen Subreption dieses formale Princip als constitutiv vorzustellen und sich diese Einheit hypostatisch zu denken“: in der Existenz eines Urdings namens Gott (B 647). Dem ontologischen Beweis war aber keine solche transzendentale Subreption anzumerken, sondern eine andersartige Verwechselung. An dieser hngt kein unvermeidlicher Schein, der nach seiner Entwaffnung eine unentbehrliche regulative Funktion trgt. Der ontologische Beweis, in der Form, wie ihn Kant im Vierten Abschnitt prsentiert, kann nicht der eigentliche und tragende Fehlschluss sein.
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4.2.2 Der vierte Beweis In der Entwicklung seines Denkens ist Kant relativ frh zur Ablehnung des ontologischen, des kosmologischen und des physikotheologischen Beweises gelangt. Diese Einsicht war nicht erst aufgrund der eigenen reifen Position des transzendentalen Idealismus mçglich. Vielmehr hat die Ablehnung der Beweisgrnde der rationalen Theologie den Weg zur eigenen Position vorbereitet. Selbst die Kritik an den drei Beweisen in der Kritik der reinen Vernunft setzt, wie gesehen, den Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus nicht voraus. Vielmehr kann sie auf schon frher gewonnene Einsichten zurckgreifen. Die entscheidende vorkritische Schrift hierzu ist die Abhandlung Der einzig mçgliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes von 1763. In dieser Schrift werden bereits die Beweise verworfen, die in der Kritik der ontologische und der kosmologische genannt werden. Den ersten Beweis nennt Kant hier bloß den „Cartesianischen“ (BDG 156), den zweiten verbindet er mit der „Schule der Wolffischen Philosophen“ (BDG 157). Die Beweiskraft des physikotheologischen Beweises, den insbesondere Kants Hochschullehrer Knutzen vertrat, wird ebenfalls entschieden eingeschrnkt. Kant bietet jedoch den einzig mçglichen Beweisgrund zu einer strikten Demonstration. Diese wre ein raffinierter „ontologische[r]“ Beweis (BDG 160). Die Ablehnung des „Cartesianischen“ und die Idee des eigenen ontologischen Beweises grnden sich gerade auf die Einsicht, dass das Dasein „gar kein Prdikat“ (BDG 72) sei, sondern die „absolute Position“ (BDG 73) eines Dinges samt seiner Prdikate im Gegensatz zur Setzung der Prdikate in Beziehung auf das Ding. Kant unterscheidet demnach ferner die logischen Beziehungen zwischen den Prdikaten nach dem Satz des Widerspruchs von den Prdikaten selbst, wovon jedes ein Etwas ist. Jene – die logischen Beziehungen – bezeichnen das „Formale der Mçglichkeit“, diese aber – „die Data oder das Materiale“ – das „Reale der Mçglichkeit“ (BDG 77 f.). Die Mçglichkeit setzt daher außer der Widerspruchsfreiheit noch irgendwelche Daten voraus, und ohne jedes Dasein, ohne die absolute Setzung von manchen Daten, gibt es auch keine Mçglichkeit. Das notwendige Dasein ist nun dasjenige, was „das Materiale zu allem Denklichen“ (BDG 82) enthlt: die Daten zu allem Mçglichen, den Vorrat aller mçglichen realen Prdikate der Dinge. Das notwendige Wesen enthlt damit den Realgrund der inneren Mçglichkeit aller anderen Wesen. Es ist das hçchste Wesen, das alle Realitt enthlt; es enthlt alle realen Eigenschaften und keine Negationen. Die Mngel der anderen Wesen ergeben sich dagegen daraus, dass zu diesem ihrem Realgrund, zum
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Vorrat aller mçglichen Daten, die logische Beziehung der Negation hinzukommt: manche der realen Prdikate werden in ihnen negiert (vgl. BDG 85 ff.). Von diesem Urwesen sind alle Dinge der Natur abhngig als von dem Grund ihrer Bestimmungen, vom Prinzip ihrer inneren Mçglichkeit. Die Dinge verhalten und ordnen sich aber nach den Gesetzen, die sich notwendigerweise aus diesen inneren Bestimmungen ergeben. Die Einheit und Ordnung der Natur ist insofern nicht abhngig vom Urwesen als von einem subjektartig handelnden Urheber (vgl. BDG 96 ff.). Darauf baut der vorkritische Kant, der schon vor Laplace eine mechanische Kosmogonie entworfen hatte,16 seine Ablehnung der „gewçhnlichen Methode der Physikotheologie“ (BDG 116). Indem das hçchste Wesen die hçchste Realitt enthlt, mssen ihm zwar nach Kant auch „die Eigenschaften eines Geistes, Verstand und Willen“, zugesprochen werden (BDG 87). Die notwendige Ordnung und Einheit der Natur ist aber nicht das Werk eines solchen gçttlichen Verstandes und Willens. Zu suchen ist „der Grund dieser Einheit zwar in einem weisen Wesen, aber nicht vermittelst seiner Weisheit“ (BDG 103). Jacobi hat nicht nur mit „Herzklopfen“,17 sondern auch mit einem gewissen Recht erkannt, dass der einzig mçgliche Beweisgrund Kants eigentlich nur den Gott des Spinoza bewies: ein immanentes Prinzip und keinen transzendenten Schçpfer.18 16 In der Schrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 (NTH). Vgl. auch BDG 137 ff. 17 Jacobi, David Hume ber den Glauben, 47. 18 Nach Jacobis Schilderung seines Werdegangs (ebd. 44 ff.), war die kantische vorkritische Schrift entscheidend fr die Herausbildung seiner Position: Alle rational demonstrierende Philosophie endet in den Spinozismus. – Allerdings soll nach Kant folgendes eine „offenbare Folgerung[]“ des Beweises sein, deren Ableitung sich wohl erbrige: „Gott ist nicht die einige Substanz, die da existirt, und alle andre sind nur abhngend von ihm da u.s.w.“ (BDG 90 f.). Der Gott der vorkritischen Schrift ist nicht wirklich identisch mit Jacobis „Absolute[m] Seyn[]“ (David Hume ber den Glauben, 44), sondern ist doch ein besonderes Seiendes, dem die Realitten als Prdikate zukommen und dessen Dasein den Realgrund seiner eigenen Mçglichkeit und der Mçglichkeit aller anderen Seienden enthlt. – Die Schrift Der einzig mçgliche Beweisgrund bestimmt auch nicht alle Ordnung der Natur als notwendig. Insbesondere die organische Natur weise eine zufllige bzw. knstliche Ordnung auf, die auf die Willkr und die Weisheit des gçttlichen Urhebers deute (ohne freilich einen Beweisgrund zu seiner Demonstration zu ermçglichen). Die „Absicht“ der Schrift ist jedoch „zu zeigen, daß man den Naturdingen eine grçßere Mçglichkeit nach allgemeinen Gesetzen ihre Folgen hervorzubringen einrumen msse, als man es gemeiniglich thut“ (BDG 115). Als Regel oder gar Forschungsprogramm gilt: „Man vermuthe nicht allein in der
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Der Gottesbegriff der Frhschrift nimmt offenbar das transzendentale Ideal vorweg. Die dritte Gestalt des Unbedingten ergibt sich ja in der Kritik aus der Reihe der disjunktiven Prosyllogismen als ein Grund, der die Totalitt der mçglichen Prdikate der Dinge enthlt. Im entsprechenden Kapitel der transzendentalen Dialektik wird, wie gesehen, den drei Beweisen eine ausfhrliche Behandlung des transzendentalen Ideals vorausgeschickt. Dieser Zweite Abschnitt scheint nun gerade den Beweisversuch der Frhschrift zum Gegenstand zu haben. Es ist Kants eigener frherer Gottesbeweis, der hier als eine transzendentale Subreption dargestellt wird.19 Die Hypostasierung des Vorrats aller Bestimmungen ist nach Kant untrennbar von der schlusslogischen Ableitung des transzendentalen Ideals und insofern ein unvermeidlicher, notwendiger Schein. Sie ist ebenso untrennbar von der unentbehrlichen regulativen Funktion der Idee, dem Thema des Anhangs zur Dialektik. Der Zweite Abschnitt des theologischen Hauptstcks der Dialektik ist demnach kaum eine allgemeine Einleitung zu den darauf folgenden Beweisen der rationalen Theologie. Vielmehr enthlt dieser und ausschließlich dieser Abschnitt die Lehre vom notwendigen transzendentaldialektischen Schluss auf die Idee der dritten Klasse. Was danach kommt, ist eher die „mhsame[] Abhçrung aller dialektischen Zeugen“ (B 731). Diese Zeugen werden freilich nicht bloß aus der Tradition aufgegriffen, sondern systematisch erschçpfend dargestellt. Ihre „Abhçrung“ ist allerdings ein eher in Hinblick auf das negative, destruktive Werk der Dialektik notwendiger Gehalt. Die positive Funktion des Schlusses auf die Idee kann allein der vorausgeschickte vierte Beweis tragen. Die Ableitung des Ideals als des notwendigen transzendentallogischen Pendants zur disjunktiven Schlussart, nach der Lehre des ersten Buches der transzendentalen Dialektik, wurde im vorigen behandelt (2.2.2). Der Abschnitt des zweiten Buches „Vom transzendentalen Ideal“ erlutert zunchst ausfhrlicher, als es im ersten Buch geschah, diese Notwendigkeit. Das Bestimmen eines Gegenstandes geschieht in disjunktiven Schlssen: Von je zwei logisch entgegengesetzten Prdikaten wird dem Gegenstand das eine zukommen und das andere nicht. Dieses Verfahren unorganischen, sondern auch der organisirten Natur eine grçßere nothwendige Einheit, als so gerade zu in die Augen fllt“ (BDG 126). Diese Fragen fhren bis zur Kritik der Urteilskraft und der Antinomie der teleologischen Urteilskraft (vgl. im folgenden 5.3). 19 Vgl. hierzu Goldmann, Mensch, Gemeinschaft und Welt in der Philosophie Immanuel Kants, 73 ff.; Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 140 ff.; Dsing, Art. „Ideal, transzendentales“.
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setzt außer den Regeln der formalen Logik noch den Inhalt (die Daten) voraus: Prdikate, die sich zur Vergleichung mit dem Gegenstand darbieten. Neben der analytischen, formallogischen Bedingung tritt als weitere Bedingung die Synthesis der Daten. Die vollstndige, durchgngige Bestimmung eines Gegenstandes setzt nun voraus, dass er mit allen mçglichen Prdikaten verglichen wird. Der Obersatz, der am gedachten Abschluss der prosyllogistischen Reihe steht, soll alle mçglichen Prdikatenpaare, alle solchen Disjunktionen, enthalten. Er soll die vollstndige Einteilung jedes Begriffs, die vollstndige Hierarchie von Gattungen und Arten, enthalten. Formallogisch wre aber der eingeteilte Oberbegriff, der alle mçglichen Begriffe unter sich enthielte, ganz leer. Er muss dagegen als ein Inbegriff gedacht werden, der alle mçglichen Prdikate in sich enthlt. Als „ein gemeinschaftliches Correlatum“, das den „Stoff zu allen mçglichen Prdikaten“ enthielte, ermçgliche dieser Inbegriff ihre durchgngige Vergleichbarkeit, „eine Affinitt alles Mçglichen“ (B 600 Anm.). Er verbrge den durchgngigen Zusammenhang aller Bestimmungen der Dinge und erst recht die durchgngige Bestimmung eines jeden Dinges. Er wre die synthetische, transzendentallogische Voraussetzung eines durchgngigen analytischen Zusammenhangs von Ober- und Unterbegriffen und verbrge damit die systematische Einheit aller Erkenntnis. Werden nun die Prdikate nher betrachtet, so muss der Inbegriff aller Mçglichkeit alle diejenigen Prdikate nicht enthalten, die aus anderen bloß abgeleitet sind. Er wird vielmehr nur die ursprnglichen Daten enthalten (vgl. B 601 f.). Hier kommt auch die vorher angefhrte Unterscheidung von transzendentaler Bejahung und transzendentaler Verneinung ins Spiel. Die Prdikate der zweiten Art drcken nur einen Mangel aus; sie sind bloß abgeleitet aus denen der ersten Art – den realen Prdikaten, den eigentlichen Daten – und der logischen Negation. Der Inbegriff aller Daten wird alle realen Prdikate enthalten und nicht ihre Entgegensetzungen. Er wird damit keine einander entgegengesetzten und dadurch einander ausschließenden Prdikate enthalten, sondern nur solche, die in einem Ding zusammen bestehen kçnnen. Er kann damit einen einzelnen Gegenstand bezeichnen: das Wesen von der hçchsten Realitt. Dessen Begriff ist das Ideal der reinen Vernunft. „Wenn also der durchgngigen Bestimmung in unserer Vernunft ein transscendentales Substratum zum Grunde gelegt wird“ (B 604), dann ist dieses die Totalitt der positiven Daten; bei den endlichen Dingen kommen zu diesem Substrat die transzendentalen Verneinungen als Schranken hinzu. Das Ideal der durchgngigen Bestimmtheit ist die Forderung der Vernunft zu jeder partiellen, empirischen Bestimmung eines jeden Ge-
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genstandes der Erkenntnis durch den Verstand. Die Vernunft erstrebt damit die durchgehende Zusammenstimmung des Verstandes mit sich selbst. Indem nun die Vernunft aus ihrem „dringenden Bedrfnis“ (B 611) eine Versicherung macht, vermeint sie, ihr Ideal „realisir[en]“ zu kçnnen: ihm objektive Realitt zu verschaffen. Daraufhin „hypostasirt“ die Vernunft ihr Ideal – es meint ein hçchstes Wesen – und „personificirt“ es sogar – die hçchste Realitt und der Grund aller Bestimmbarkeit der Dinge kann nur in einem hçchsten Verstand liegen (B 611 Anm.). In dieser Argumentation Kants steckt offenbar ein vierter Beweis, und zwar kein anderer als Kants frher eigener. Kant prsentiert sie im Zweiten Abschnitt des theologischen Hauptstcks. Jedoch bemerkt er, dass die Vernunft, bei allem ihrem Bedrfnis, doch merken sollte, dass sie hier „ein bloßes Selbstgeschçpf ihres Denkens“ hypostasiert (B 611 f.; vgl. B 608). Deshalb vervollstndigt er die Argumentation durch das kosmologische Argument (vgl. B 612): Indem die Vernunft zu allem zufllig Bestimmten ein notwendiges Dasein fordert, kann sie dann dieses Unbedingte nur als dasjenige festhalten, was die Bedingungen aller bedingten Gegenstnde enthlt, damit als den Gegenstand ihres Ideals. Mit diesem Argument beginnt der Dritte Abschnitt – „Von den Beweisgrnden der speculativen Vernunft, auf das Dasein eines hçchsten Wesens zu schließen“ (B 611 ff.) –, der zu den drei Beweisarten berleitet. Das Argument entspricht nach Kant dem „natrliche[n] Gang“ der menschlichen Vernunft (B 612, 614). Es wird aber auch nicht als an sich einwandfrei dargestellt. Es kann ihm zwar „eine gewisse Grndlichkeit nicht gestritten werden“. Dennoch „erscheint obiger Schluss bei weitem nicht in so vortheilhafter Gestalt und bedarf Gunst, um den Mangel seiner Rechtsansprche zu ersetzen“. Indem der Schein freilich einseitig bleibt – und nicht in der Gestalt der Antinomie auftritt – kann er nicht wirklich unvermeidlich sein. Wir kçnnen ja immer „diese ganze Sache dahin gestellt sein“ lassen, von der hypertrophen Forderung der Vernunft skeptisch absehen (B 615). Wenn jedoch Kant an irgendeinem Schluss der rationalen Theologie einen notwendigen Schein, eine „natrliche[] Illusion“ (B 610) festmacht, dann an der Hypostasierung des transzendentalen Ideals, in welcher der eigene frhe raffinierte ontologische Beweis anklingt. Im Gegensatz zum sonstigen ontologischen (cartesianischen) Beweis beruht der implizite vierte Beweis nicht auf der Missachtung einer fundamentalen logischen Unterscheidung: von logischen und realen Prdikaten, von Sein der Kopula und Etwas einer Eigenschaft. Der Beweis geht vielmehr gerade von dieser Unterscheidung aus. Es wird nicht die Existenz als eine Realitt, als ein reales Prdikat unter den anderen, genommen, sondern bloß der Vorrat
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dieser realen Prdikate als eine reale – und nicht bloß logische – Bedingung aller Bestimmung unterstellt. Fr den vorkritischen Kant von 1763 war diese Unterstellung noch ein gltiger Schluss. Vom kritischen Standpunkt aus ist sie aber unhaltbar. Die absolute Position kann ja, wie gesehen, nur noch das Gegebensein im Kontext der gesamten sinnlichen Erfahrung bedeuten. Die Natrlichkeit der Idee ergibt sich jedenfalls „[…] aus den Verhandlungen der transscendentalen Analytik von selbst“ (B 609). 4.2.3 Logische und reale Opposition Dasjenige, was als „die Data oder das Materiale“ jeder Bestimmung der erfahrbaren Gegenstnde zugrunde liegt, ist zunchst das Material der Sinne. Indem der Verstand dieses Material verknpft, kommt er auf die Prdikate der sinnlichen Erscheinungen. Diese kçnnen aber zueinander nicht nur im Verhltnis der logischen Entgegensetzung (Widerspruch) stehen, sondern auch im Verhltnis der realen Entgegensetzung (realer Widerstreit, Realrepugnanz).20 Logisch entgegengesetzt sind zwei Prdikate, wenn das eine der logischen Negation des anderen gleichkommt. Die Verknpfung der beiden in einem Gegenstand fhrt zur Aufhebung dieses Gegenstandes: er ist dann nmlich „gar nichts (nihil negativum irrepraesentabile)“ (NG 171; vgl. B 347 ff.). Zwei real entgegengesetzte Prdikate stehen dagegen zueinander in einem andersartigen Verhltnis der Negativitt, das Kant dem mathematischen Begriff der negativen Grçßen nachbildet. Zwei real entgegengesetzte Prdikate bezeichnen nmlich beide ein Etwas; ihre Folgen kçnnen sich aber gegenseitig aufheben. Auf diese Weise kann z. B. die Ruhe als Mangel der Bewegung aus der Wirkung entgegengesetzter Krfte resultieren (vgl. B 321; NG 171). Der Mangel eines realen Prdikats muss daher nicht zwangslufig auf eine Schranke der Realitt, auf die pure Abwesenheit der Grnde, zurckgefhrt werden. Er kann vielmehr auch darauf beruhen, dass ein realer Widerstreit der Grnde die Aufhebung ihrer Folgen bewirkt. Die Verneinung des Prdikats nennt Kant in diesem Fall „Beraubung (privatio)“ und unterscheidet sie von dem bloßen „Mangel (defectus, absentia)“ (NG 177 f.). Die Aufhebung der Folgen aufgrund eines realen Widerstreits der Grnde ist – anders als die Aufhebung des Gegenstandes selbst im Fall des Widerspruchs – nicht gar nichts, sondern doch ein 20 Zu Kants Lehre von der realen Entgegensetzung und zu ihren Schwierigkeiten vgl. Wolff, Der Begriff des Widerspruchs, 62 ff., 119 f.
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mçglicher Zustand des Gegenstandes, nmlich die Verneinung einer Bestimmung: ein „nihil privativum, repraesentabile“ (NG 172; vgl. B 347 ff.). Kant vergleicht dieses Nichts mit dem mathematischen „Zero =0“ (NG 172). Die Lehre von der realen Entgegensetzung hat Kant zum ersten Mal in der Schrift Versuch den Begriff der negativen Grçßen in die Weltweisheit einzufhren von 1763 entwickelt. Zu seiner endgltigen, kritischen Position in Hinblick auf das Verstndnis des Inbegriffs der Realitt ist aber Kant erst allmhlich gekommen. Die um einige Monate frhere Schrift Der einzig mçgliche Beweisgrund kennt zwar die Unterscheidung von logischer und realer Entgegensetzung. Das hçchste Wesen darf keine Realrepugnanz enthalten, da es keinen Mangel enthlt. Daher muss es aber einfach einige der realen Prdikate, welche sich in ihrer Wirkung mit anderen gegenseitig annullieren wrden, nicht als Prdikate in sich enthalten, sondern nur als Folgen; es bleibt der Grund aller Realitt der endlichen Dinge (vgl. BDG 86). In der Kritik der reinen Vernunft wird dagegen im Anhang der Analytik „Zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ der reale Widerstreit von der logischen Opposition unterschieden vor dem Hintergrund der Trennung von Phaenomena und Noumena (vgl. B 320 f.). Die „Leibnizwolffianische“ Schulmetaphysik kennt nach Kant den realen Widerstreit deshalb nicht, weil sie die Trennung verfehlt und die Dinge als bloße Verstandeswesen nimmt. Im Bereich der letzteren kann es auch nach Kant keine reale Opposition geben, worauf weiter unten zurckgekommen werden soll. Indem jedenfalls die Anhnger von Leibniz nur den logischen Widerspruch und daher keinen Widerstreit von Realitten (wahren Bejahungen) kennen, kçnnen sie „alle Realitt, ohne irgend einen besorglichen Widerstreit, in einem Wesen […] vereinigen“ (B 329 f.). Diese Vorstellung kann die Kritik nicht mehr zulassen. Die durchgngige begriffliche Bestimmung eines Gegenstandes der Erfahrung muss zwar tatschlich auf den Inbegriff der empirischen Realitt, d. h. aller Prdikate der Erscheinung, rekurrieren (B 609 f.). Dieser Inbegriff kann aber keineswegs ein vollkommenes Wesen bezeichnen. Aufgrund des realen Widerstreits der Prdikate, ist es ja unmçglich, dass in einem Gegenstand alle diese Prdikate zur Geltung kommen. Ebenso wenig darf eine jede Einschrnkung dieses Inbegriffs (die wahre Verneinung eines realen Prdikats) als ein Mangel an Vollkommenheit des entsprechenden Gegenstandes, als eine Schranke der Realitt, verstanden werden. Die Bestimmung der Phaenomena ist angewiesen auf das Ganze der Erfahrung, auf „die einige allbefassende Erfahrung“ (B 610). Das Material
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der Empfindung ist ja erst gegeben innerhalb der Anschauungsformen Raum und Zeit als Totalitten und seine Ordnung erst im Rahmen der „allbefassenden reinen Apperception“ (A 123). Worin besteht nun der Fehler des transzendentaldialektischen Schlusses? Das Aggregat von Bestimmungen, zu dem es der Verstand bringt, wird dabei, erstens, als ein gegliedertes Ganzes unterstellt: es wird „die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in die collective Einheit eines Erfahrungsganzen dialektisch verwandel[t]“ (B 610). Das bedingende Ganze wird dann, zweitens, als gegenstndlich gegeben angenommen und, drittens, ber das Ganze der Erfahrung hinaus, ausgeweitet auf eine reale Bedingung aller Gegenstnde des Denkens berhaupt. Darin besteht nach Kant die transzendentale Subreption. Wie ein jeder Gegenstand der Sinne „den Inbegriff aller empirischen Realitt als Bedingung seiner Mçglichkeit voraussetzt“ (ebd.), so liege auch einem jeden Gegenstand des Denkens berhaupt der Inbegriff aller Realitt berhaupt zugrunde. Dieser schwebt nun als ein Ding vor, das der Grund aller anderen Dinge sei. Die „formale Bedingung des Denkens“ – dass dieses nmlich immer einen Vorrat von Daten voraussetzen muss – wird in eine „materiale und hypostatische Bedingung des Daseins“ verwandelt (B 648). Die transzendentale Idee ist dennoch ein notwendiges Produkt der Vernunft, und sie meint mehr als eine bloß formallogische Vorschrift. Wenn die Erscheinung den „unbestimmte[n] Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (B 34) bedeutet, so ist deren durchgngige Bestimmung der terminus ad quem des Erkenntnisprozesses. Zu diesem Zweck muss nun das Denken tatschlich mehr als ein Aggregat der mçglichen begrifflichen Bestimmungen zugrunde legen: es muss auf einen systematischen Zusammenhang, auf ein gegliedertes Ganzes der empirischen Begriffe und Regeln des Verstandes rekurrieren. Jede partielle Bestimmung erfolgt im Horizont eines durchgngigen Zusammenhangs der Bestimmungen. Der Erkenntnisprozess, d. h. das fortschreitende Bestimmen des Bestimmbaren, beruht dann aber darauf, dass die Objekte selbst einen in sich wachsenden Zusammenhang ihrer Bestimmungen ermçglichen. Der durchgngige systematische Zusammenhang kann jedoch nach Kant nur dann als ein objektiv fundierter gedacht werden, wenn dieses logische System als in einem realen Grund, im Unbedingten als einem Objekt, fundiert gedacht wird (vgl. im Vorigen 2.2.3). Die Vergegenstndlichung der Idee ist insofern unvermeidlich, der Schein ist insofern ein transzendentaler Schein. Es geht nmlich
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[…] ganz natrlich zu, daß, da die systematische Einheit der Natur auf keinerlei Weise zum Princip des empirischen Gebrauchs unserer Vernunft aufgestellt werden kann, als so fern wir die Idee eines allerrealsten Wesens als der obersten Ursache zum Grunde legen, diese Idee dadurch als ein wirklicher Gegenstand und dieser wiederum, weil er die oberste Bedingung ist, als nothwendig vorgestellt, mithin ein regulatives Princip in ein constitutives verwandelt werde (B 647 f.).
Das angemessene regulative Prinzip hngt am transzendentalen Schein, der nicht mehr betrgt, aber dennoch nicht verschwindet. Es ist nmlich dem systematischen Zusammenhang nachzugehen als ob er im Unbedingten als einem Objekt, in „einer allgenugsamen nothwendigen Ursache“, grnde (B 647). Das Objekt ist „ohne einen besorglichen Widerstreit“ denkbar, indem es nicht als der Inbegriff der Prdikate der Erscheinung gedacht wird, sondern als ein realer Grund, und dieser Inbegriff als dessen Folge. Das hlt Kant fest schon in der Darstellung des Zweiten Abschnitts, innerhalb der Argumentation, die hier der vierte Beweis genannt wurde: Der Gegenstand des Ideals, die hçchste Realitt, ist, „genau zu reden“ (B 607), nicht als ein Inbegriff zu denken, dessen Einschrnkungen und Teilungen die endlichen Dinge wren, sondern eben als ein Grund und die empirische Realitt als dessen Folge. Die Prdikate der sinnlichen Erscheinungen kçnnen dem hçchsten Wesen selbst nicht als Prdikate zukommen. Die Entlarvung und Entwaffnung des Scheins des vierten Beweises beruht – anders als bei der Widerlegung des ontologischen (cartesianischen) Beweises – gerade auf der Unterscheidung von Phaenomena und Noumena. Der Inbegriff der empirischen Realitt kann nmlich, aufgrund der realen Entgegensetzungen der Erscheinungen, gar nicht in einem Ding enthalten sein; der Inbegriff der Realitt berhaupt kann zwar doch als ein Gegenstand gedacht werden, aber eben nur gedacht werden. Wenn die Reihe der disjunktiven Schlsse bei der begrifflichen Bestimmung eines Gegenstandes der Erfahrung ansetzt, dann kann sie gar nicht auf das Unbedingte hinauslaufen. Die Reihe muss an einem Gegenstand berhaupt oder des bloßen Denkens ansetzen. Damit aber […] schließe ich nach der dritten Art vernnftelnder Schlsse […] von Dingen, die ich nach ihrem bloßen transscendentalen Begriff nicht kenne, auf ein Wesen aller Wesen, welches ich durch einen transscendenten Begriff noch weniger kenne (B 398).
Die Realitt in der Erscheinung wird, nach der schematisierten Kategorie der Realitt, als dasjenige bestimmt, „was einer Empfindung berhaupt korrespondiert“ und „ein Sein (in der Zeit)“, eine erfllte Zeit, anzeigt (B 182). Realitten in diesem Sinne, die in einem Gegenstand der Erfahrung
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zusammentreffen, kçnnen einander widerstreiten und sich gegenseitig in ihren Folgen ausschalten. Dieses Verhltnis kann aber nur unter solchen Realitten in der Erscheinung (realitates phaenomena) stattfinden. Angesichts der Beispiele, die Kant in der vorkritischen Schrift ber die Negativen Grçßen alle anfhrt, ist diese Beschrnkung gar nicht selbstverstndlich (vgl. NG 179 ff.). Nach der Ansicht des kritischen Kant hngt aber wohl die Realrepugnanz an den Verhltnissen der Dinge in Raum und Zeit. Mit dem Kantianer Schiller zu reden: „Leicht bei einander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“.21 Begriffe, die nur als solche, in einer bloß logischen Reflexion, miteinander verglichen werden, kçnnen in keinem realen Widerstreit zueinander stehen. Unter bloßen Begriffen kann kein „wechselseitige[r] Abbruch[]“ vorkommen, „da ein Realgrund die Wirkung des andern aufhebt, und dazu wir nur in der Sinnlichkeit die Bedingungen antreffen, uns einen solchen vorzustellen.“ (B 330). In Bezug auf die Noumena, die nach bloßen Begriffen bestimmten Verstandeswesen, kann demnach nur die logische Entgegensetzung stattfinden, und zwar zwischen einem wahrlich bejahenden Prdikat und seiner Verneinung, da Kant an dieser Unterscheidung festhlt.22 Im Gegensatz zur Realitt in der Erscheinung („realitas phaenomenon“) kann ein reales Prdikat im bloßen Denken („realitas noumenon“) nur schlicht negiert werden, nicht durch ein anderes in seiner Folge aufgehoben werden (B 320). Das transzendentale Ideal bleibt daher als Begriff von einem Noumenon – freilich als eine Idee der Vernunft ohne verbrgte objektive Realitt – aufrechterhalten. Es bezeichnet das Wesen von der hçchsten Realitt. Diesem werden alle empirischen Prdikate der Erscheinungen als Prdikate nicht zukommen. Es wird aber wohl als der Inbegriff von transzendentalen Prdikaten (realitates noumena) vorgestellt, die als bloße Denkbestimmungen nicht unter sinnlichen Bedingungen stehen und daher „leicht beieinander wohnen“. Die Verdinglichung der Idee der durchgngigen Bestimmtheit ist gerade dadurch mçglich, dass der Bereich der raumzeitlichen Sinneswesen (Phaenomena) von dem der bloßen Verstandeswesen (Noumena) – oder die Anschauung, in der als in einem Inbegriff Gegenstnde gegeben werden, von den bloßen Begriffen – getrennt wird. Kant kann die Vor21 Wallensteins Tod, 2. Aufzug, 2. Auftritt. 22 Vgl. Refl 4796 aus der Entstehungszeit der Kritik (1775/76): „Logische position: affirmation, transscendentale position: realitaet. Die opposition der realitaeten gegen einander ist real. Die opposition der realitaeten gegen negationen ist logisch.“
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stellung der metaphysischen Tradition vom Inbegriff der Realitt retten, indem er diese Trennung vollzieht sowie an der Unterscheidung von transzendentaler Bejahung und transzendentaler Verneinung festhlt. Diese Unterscheidung entspricht ja der Unterscheidung jener Tradition zwischen Realitt und Schranke der Realitt, allerdings nur fr den Bereich der durch bloße Begriffe bestimmten Noumena.23 Auf Kants Konzept der bloß logischen Reflexion, als Vergleichung fixer bloßer Begriffe, wird die folgende Diskussion der Antinomie der Vernunft zurckkommen (vgl. 4.3.2). Im vorigen Kapitel wurde hingewiesen auf die Nichtidentitt vom Ding an sich oder dem transzendentalen Objekt einerseits und dem Noumenon als dem Gegenstand einer Idee andererseits (vgl. 3.4). Alle Erkenntnis setzt nach dem Obigen notwendig voraus, dass „die Data oder das Materiale“ gegeben sind. Daraus lsst sich zurckschließen auf einen Grund des bestimmbaren Stoffes, auf eine Quelle des Materials der Sinne: auf „[d]as den Erscheinungen zum Grunde liegende transscendentale Object“ (B 641). Dieses bleibt aber gnzlich unerkennbar, „fr uns unerforschlich, obzwar die Sache selbst brigens gegeben, aber nur nicht eingesehen ist“. Ein realer Grund der Erscheinungen muss zwar notwendig angenommen werden, aber nur negativ in Bezug auf unsere Sinnlichkeit. Er lsst sich gar nicht begrifflich positiv bestimmen, geschweige denn als ein Wesen von notwendiger Existenz. „Ein Ideal der reinen Vernunft kann aber nicht unerforschlich heißen, weil es weiter keine Beglaubigung seiner Realitt aufzuweisen hat, als das Bedrfniß der Vernunft, vermittelst desselben alle synthetische Einheit zu vollenden.“ (B 642). Die „Realitt“ des Ideals meint hier seine subjektive Gltigkeit als eines regulativen Prinzips der theoretischen Vernunft. Sie wird gerechtfertigt aus dem Be23 Michael Wolff beschreibt die Auffassung der traditionellen Metaphysik von dem Inbegriff und den Schranken der Realitt folgendermaßen: „Man stellt sich den ,Inbegriff der Realitt‘ sozusagen als großen metaphysischen Kuchen vor, von dem die Dinge als Bestimmungstrger mehr oder weniger große Portionen abkriegen. Die Beschrnkungen dieser Portionen sind die Schranken der Realitt.“ Mit seiner Lehre von der Realrepugnanz hat Kant „begonnen, die metaphysische Alternative zwischen ,Realitt‘ und ,Schranke der Realitt‘ als unzulnglich zu erweisen“. Diese Alternative ist aber nach der kritischen Lehre ungltig „nur fr den Gegenstandsbereich der Erscheinungen, nicht aber fr den Gegenstandsbereich der ,Dinge an sich‘ […] Der ,kritische‘ Kant lßt, fr den Bereich der ,Dinge an sich‘, den ,Inbegriff der Realitt‘ wieder auferstehen im Begriff des transzendentalen ,Ideals‘ […] Das ,transzendentale Ideal‘ ist sozusagen der aufgehobene metaphysische Kuchen, aufgehoben in der Speisekammer der ,Dinge an sich‘.“ (Wolff, Der Begriff des Widerspruchs, 74 f.).
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drfnis der Vernunft, sich bei der fortschreitenden Bestimmung des Bestimmbaren im Erkenntnisprozess durch die Idee der durchgngigen Bestimmtheit leiten zu lassen. Der Gegenstand des Ideals wird als das durchgngig bestimmte, notwendige Wesen gedacht. Dieses Wesen ist aber nur der problematische Gegenstand der subjektiv gltigen Idee. Durch die Trennung von Phaenomena und Noumena kann es jedenfalls jenseits der Sinnenwelt (jenseits der harten, realen Entgegensetzungen der Erscheinungen) als das Wesen von der hçchsten Realitt gedacht werden. Der Gedanke von einem solchen Wesen aller Wesen ist nach Kant notwendig als der Gedanke von einem realen Grund der durchgngigen systematischen Einheit aller Begriffe und Gesetze, die in der Erkenntnis von Erscheinungen ihren Ort haben. Dieser Grund wird aber selbst gedacht als der Inbegriff von transzendentalen Prdikaten, von reinen Begriffen der hçchsten Vollkommenheit (etwa Notwendigkeit, Unendlichkeit, Ewigkeit; vgl. B 669). Die transzendentale Theologie, die Lehre von Gott aus reinen Begriffen, kann demnach zwar keine apodiktische Wissenschaft mehr sein. Ihr Gegenstand wird aber durch seine Verortung im Reich der unerkennbaren Noumena als denkmçglich gerettet. Wie im Fall der rationalen Psychologie, spielt Kant auch am Ende des theologischen Hauptstcks der Dialektik auf die Mçglichkeit einer Antinomie an. Neben der Widerlegung der Gottesbeweise ist nmlich auch die Widerlegung „alle[r] entgegengesetzte[n] Behauptungen“ mçglich und nçtig. Der unentbehrliche negative Gebrauch der Lehre vom transzendentalen Ideal erstreckt sich noch ber die Zurckweisung aller Erkenntnisansprche hinaus. Er bedeutet weiter die Reinigung des Gegenstandes der Idee von allen Prdikaten der Erscheinungen, die sorgfltige Trennung von Phaenomena und Noumena. Der Kritik fllt zu, den Begriff des hçchsten Wesens „auf seiner transscendentalen Seite als den Begriff eines nothwendigen und allerrealsten Wesens genau zu bestimmen und, was der hçchsten Realitt zuwider ist, was zur bloßen Erscheinung (dem Anthropomorphism im weiteren Verstande) gehçrt, wegzuschaffen“ (B 668). Der Gegenstand der Idee wird daher gar nicht als der Inbegriff der Mçglichkeit der endlichen Dinge gedacht, sondern als ihr Grund. Aus der sorgfltigen Abgrenzung des noumenalen Gegenstandes der Idee gegenber den Phaenomena ergibt sich damit auch das positive Resultat der Kritik, die den Begriff des hçchsten Wesens als „ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal“ (B 669) dartut. Auf der Grundlage der Trennung von Phaenomena und Noumena ist dann doch ein „subtilere[r] Anthropomorphism“ (B 728) erlaubt. In
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theoretischer Hinsicht ist nmlich, gemß der Physikotheologie, eine anthropomorphistische Bestimmung des noumenalen Grundes als „einer hçchsten Intelligenz“ (B 727), in der Analogie zu der unseren, zulssig, insofern diese Bestimmung dem regulativen Prinzip der systematischen Einheit aller Naturformen und –gesetze „befçrderlich“ ist (B 725). Die Bestimmung des hçchsten Wesens als einer hçchsten Intelligenz (mit Verstand und Willen) ist dann vor allem erforderlich im Rahmen der von Kant entworfenen Ethikotheologie. Ein Postulat der praktischen Vernunft verschafft dabei dem problematischen Ideal, freilich nur in praktischer Hinsicht, d. h. im Interesse des sittlichen Handelns, die mangelnde objektive Realitt (vgl. B 669; im Folgenden 5.1 und 5.3).24
4.3 Die Antinomie der reinen Vernunft Die Antinomie der Vernunft bildet, in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht, den Ausgangspunkt der transzendentalen Dialektik, sowie der Vernunftkritik berhaupt. Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punct gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: „Die Welt hat einen Anfang —: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freyheit im Menschen, – gegen den: es ist keine Freyheit, sondern alles ist in ihm Naturnothwendigkeit“; dies war es welche mich aus dem dogmatischen 24 Zum negativen Nutzen der transzendentalen Theologie als kritischer Metaphysik in der Wendung gegen alle „Hyperphysik“, d. h. alle „Theorie von der Natur des bersinnlichen“, und im Blick auf die Ethikotheologie vgl. eine Anmerkung aus dem Aufsatz Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie von 1796 (VT 400 f. Anm.): Auch Eigenschaften wie Verstand und Wille kçnnen, als anthropomorphistische Vorstellungen, die ja sonst nur in Verbindung mit sinnlich anschauenden und begehrenden Wesen statthaben, dem hçchsten Wesen nach seinem transzendentalen Begriff nicht zukommen. Der Gegenstand der Idee wird nicht als Inbegriff, sondern als „Grund aller Realitt“ gedacht. Dem objektiv unerforschlichen Grund kçnnen dann aber subjektiv in praktischer Hinsicht alle jene Eigenschaften zugesprochen werden, die ihm in dieser Hinsicht zugesprochen werden mssen. Es kann damit in praktischer Hinsicht „eine Analogie des gçttlichen Verstandes und Willens mit dem des Menschen und dessen praktischer Vernunft angenommen werden“; und zwar eine solche Analogie, die den Gottesbegriff ermçglicht, „welchen uns selbst zu machen die praktische reine Vernunft nçthigt.“ – Kant unterscheidet von der transzendentalen Theologie (als Onto- und Kosmotheologie) die „natrliche Theologie“. Diese bestimmt Gott „durch einen Begriff, den sie aus der Natur (unserer Seele) entlehnt, als die hçchste Intelligenz“ (B 659). Ihre beiden Disziplinen sind eben die Physiko- und die Ethikotheologie.
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Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben. (An Christian Garve, 21. 9. 1798, AA 12, 257 f.; vgl. Prol § 50)
Auch in systematischer Hinsicht macht aber der Skandal der Antinomie und seine Aufhebung den Hauptkern der Dialektik aus, wie schon im Vorigen (Kapitel 3, insbes. 3.5) gezeigt wurde. Die bisher behandelten Arten der dialektischen Vernunftschlsse gingen nmlich auf besondere metaphysische Gegenstnde: auf ein immaterielles Wesen in uns als Bedingung des Denkens oder auf ein Wesen aller Wesen als Bedingung aller Gegenstnde des Denkens berhaupt. Die metaphysische Psychologie und Theologie wurden traditionell auch hufig unter dem Namen Pneumatik zusammengefasst. Dagegen handelt es sich bei der zweiten Art der Vernunftschlsse zunchst nicht um den Anspruch der Vernunft, einen nichtempirischen, bersinnlichen Gegenstand zu erfassen (B 441; vgl. B 506 f.). Die Ideen der zweiten Klasse entstehen vielmehr aus der Anwendung der Vernunft „auf die objektive Synthesis der Erscheinungen“ (B 433). Sie haben es „lediglich mit der Sinnenwelt (nicht mit Noumenis) zu tun“ (B 447), aber wohl mit dem Ganzen der Synthesis der Erscheinungen, mit der Totalitt in der Synthesis des empirischen Objekts. Das Denken der Totalitt mndet nun in eine „Antithetik“ (B 433), in den Schluss auf einander widersprechende Behauptungen. Anders als bei der ersten und dritten Art der dialektischen Vernunftschlsse, liegt hier also nicht der einseitige Schein von Trugschlssen vor. Die Vernunft kann daher weder in dem „Schlummer“ eines solchen einseitigen Scheins beharren, noch dem maßlosen Anspruch einfach den Rcken kehren und zu ihrem Tagesgeschft zurckkehren. Die Antithetik stellt den einzigen Fall dar, wo das Verfahren der Vernunft sich selbst verfngt. Damit wacht die Vernunft von ihrem Schlummer auf. Sie kann sich dann strzen in die „skeptische[] Hoffnungslosigkeit“ angesichts ihrer Widersprchlichkeit, oder aber in den „dogmatischen Trotz“, der fr sein Gegenteil taube ist. Beides bedeutet ihre Preisgabe, den „Tod einer gesunden Philosophie“ (B 434). Der einzige Ausweg ist die kritische Auflçsung des Widerstreits der Vernunft mit sich selbst. Das Ganze der Synthesis der Erscheinungen ist nun das Weltganze. Die Antinomie der Vernunft entsteht nach Kant auf dem Gebiet der Kosmologie. Im Hintergrund von Kants Antinomielehre steht, wie gesehen (im Vorigen 3.1), die sich im 18. Jh. auftuende Kluft zwischen metaphysischer und empirisch-mathematischer (Newtonscher) Kosmologie.
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Die rationale Kosmologie war, vor der Psychologie und der Theologie, die erste Teildisziplin der metaphysica specialis in der Leibniz-Wolffschen deutschen Schulphilosophie. Die folgende Besprechung der Antinomielehre greift die Fragestellung der vorigen Abschnitte zur Paralogismenlehre und zum Ideal auf. Sie konzentriert sich demnach auf die Frage nach der logischen Struktur der Antinomie und nach ihrem notwendigen, transzendentalen Schein.25 4.3.1 Mathematische und dynamische Weltbegriffe Wenn es die Ideen der ersten Klasse mit den „subjectiven Bedingungen aller Vorstellungen berhaupt“ und die der dritten Klasse mit den „objectiven Bedingungen der Mçglichkeit der Gegenstnde berhaupt“ zu tun haben, so beziehen sich die Ideen der zweiten Klasse auf die „objectiven Bedingungen in der Erscheinung“ (B 432 f.). Statt auf die „Bedingungen eines Gedankens berhaupt“ (erste Klasse) oder die „Bedingungen des reinen Denkens“ (dritte Klasse), gehen die Ideen der zweiten Klasse auf die „Bedingungen des empirischen Denkens“ und deren Totalitt (A 397). Sie totalisieren die Synthesis der Erscheinungen, damit aber die empirische Verstandeserkenntnis. Hier zeigt sich also vorrangig die Forderung der Vernunft nach dem Unbedingten als die Fortsetzung und Absttzung der Leistungen des Verstandes selbst (vgl. im Vorigen 3.2). Fr die Einheit in den Reihen der Synthesis der Erscheinungen stehen die reinen Verstan25 Zum historischen Hintergrund der kosmologischen Probleme, an denen sich bei Kant die Antinomie entfaltet, vgl. Martin, Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, 48 ff. – Zu den Vorlagen fr Kants Begriffe „Antinomie“ und „Antithetik“ in der Jurisprudenz und Theologie der Zeit vgl. Hinske, Art. „Antinomie“; ders., „Kants Begriff der Antithetik“, 48 – 59. – Eine Rekonstruktion der Antinomienlehre in der Formelsprache der modernen mathematischen Logik liefert Wolfgang Malzkorn, Kants Kosmologie-Kritik. Dabei wird das Gebot der hermeneutischen Billigkeit („principle of charity“, 118) dahingehend verstanden, dass Kants Beweise durch substantielle Prmissen ergnzt werden, um mçglichst syntaktisch korrekte Ableitungen zu ergeben; gerettet wird die Theorie allerdings schließlich nicht. Eine sensiblere Formalisierung der Beweise, die den semantischen Aspekt bercksichtigt, bietet Brigitte Falkenburg, Kants Kosmologie, 213 ff. Auf eine eingehende Diskussion der beiden Arbeiten muss hier leider verzichtet werden. – Zum Verhltnis der Antinomienlehre zur modernen physikalischen Kosmologie und Teilchenphysik vgl. Mittelstaedt/Strohmeyer, „Die kosmologischen Antinomien“; Falkenburg, „Kants zweite Antinomie“; dies., Kants Kosmologie, 341 ff.; Hçffe, Kants Kritik der reinen Vernunft, 249 f.
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desbegriffe. Indem die Vernunft, ihrem Grundsatz folgend, die Vollstndigkeit der Reihen fordert, kommt sie auf ihre transzendentalen Ideen. Diese sind dann aber „eigentlich nichts, als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien“ (B 436). Die Systematik der kosmologischen Ideen folgt daher der Systematik der Kategorien. Es ergeben sich vier Ideen nach den vier Klassen der Kategorien und dem jeweils entsprechenden Regress in einer Reihe der Synthesis der Erscheinungen (vgl. B 438 ff.). Der Regress steigt, gemß der hypothetischen Schlussart, in jedem Schritt von einer Folge zu ihrem Grund auf; er schreitet vom Bedingten zur Bedingung und damit zu immer weiteren Bedingungen fort. Die Reihe stellt den Fortschritt der empirischen Erkenntnis dar. Dazu bildet die Vernunft die Idee von deren absoluter Vollstndigkeit: (1) Nach den Kategorien der Quantitt werden die Erscheinungen als extensive Grçßen in Raum und Zeit gefasst. Die Idee geht auf die Vollendung der Reihe der verflossenen Zeit sowie der Reihe der sukzessiven Messung des Raumes. Die erste kosmologische Idee, der erste Weltbegriff, ist einerseits derjenige vom Ganzen der Geschichte der Welt, andererseits derjenige vom Ganzen ihrer rumlichen Ausdehnung. (2) Nach den Kategorien der Qualitt sind die Erscheinungen intensive Grçßen: sie haben eine Grçße oder einen Grad nicht nur nach ihrer Ausdehnung, sondern auch nach anderen Beschaffenheiten. Die Reihe betrifft aber hier die sukzessive Teilung der Materie als des Realen im Raum, d. h. wieder als extensiver Grçße, aber nun im Kleinen statt im Großen. Der Regress geht in jedem Schritt von einem zusammengesetzten Ganzen auf seine Teile als seine Bedingung fort. Der zweite Weltbegriff ist derjenige von der absoluten Vollstndigkeit in der Teilung des Zusammengesetzten. (3) Unter den Kategorien der Relation bietet die Kategorie der Kausalitt, die ja dem hypothetischen Urteil entspricht, den prototypischen Fall des Regresses. Der dritte Weltbegriff geht auf die Vollendung der Kausalreihen. Die Kategorie der Substanz bietet sich nach Kant dagegen nicht, da das „Substantiale“ (B 441) als das schlechthin Subsistierende von vornherein aus der Reihe der Erscheinungen herausspringe. Der systematische Ort fr diese Gestalt des Unbedingten ist freilich die erste Klasse, die Klasse der psychologischen Ideen. Mit der Kategorie der Substanz hngt jedenfalls auch der zweite Weltbegriff zusammen: er geht auf die Teilung der Substanzen in der Erscheinung. Die Kategorie der Gemeinschaft bzw. Wechselwirkung der Substanzen bietet sich nach Kant auch nicht fr einen
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Regress. Tatschlich kann sie zu keiner weiteren Reihe fhren, neben der Reihe der rumlichen Ausdehnung der Welt und derjenigen der Kausalverknpfung. (4) Unter den Kategorien der Modalitt bietet sich, schließlich, das Paar der Notwendigkeit und Zuflligkeit. Das Zufllige bzw. Vernderliche am Dasein der bedingten Erscheinungen ist das von Anderem abhngige, und fhrt daher zu einer Reihe von Abhngigkeiten, d. h. relativen Notwendigkeiten. Auf die absolute Vollstndigkeit dieser Reihe geht der vierte Weltbegriff. Die ersten beiden Weltbegriffe beziehen sich demnach auf die Zusammensetzung der Erscheinungen in Raum und Zeit, die beiden letzteren auf den gesetzlichen Zusammenhang ihres Daseins; die ersten beiden totalisieren die mathematische Zusammensetzung (compositio) der Erscheinungen, die beiden letzteren ihre dynamische Verknpfung (nexus). Die vier Weltbegriffe werden, ebenso wie die Klassen der Kategorien und Grundstze (vgl. B 110, 201), in die mathematischen und die dynamischen eingeteilt. Die „Welt“ im engeren Sinne bedeutet das „mathematische Ganze“ der Erscheinungen, das Weltganze als ein „dynamisches Ganzes“ nennt Kant „Natur“ (B 446). Es besteht nun, allgemein betrachtet, eine doppelte Mçglichkeit, die Vollstndigkeit der Reihe zu denken. Die Totalitt der Bedingungen kann nmlich einerseits als eine unendliche Menge gedacht werden: die Reihe ist dann „unendlich, und gleichwohl ganz gegeben“ (B 445). Es kann andererseits ein erstes Glied der Reihe gedacht werden: dann ist die Reihe endlich, abgeschlossen. An der ersten, unbedingten Bedingung hat die Reihe ihren Anfang und der Regress sein Ende. Die vier Weltbegriffe fhren demnach zu vier Paaren antithetischer Behauptungen: (1) Der These von einem Ersten der Weltreihe, jeweils als zeitlichem Anfang und als rumlicher Grenze, steht die Antithese von einer, der Zeit und dem Raum nach, unendlichen Welt entgegen. (2) Der These vom Einfachen, d. h. von einfachen Teilen als ersten Constituentia des Zusammengesetzten bzw. als letzten Gliedern seiner Teilung, opponiert die Antithese von der unendlichen Teilbarkeit der Materie. (3) Gegen die These von der Freiheit als Selbstttigkeit, d. h. als erster, unbedingter Ursache einer Kausalreihe, leugnet die Antithese jeden absoluten Anfang in diesen Reihen als eine Unterbrechung der Geltung des Kausalprinzips.
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(4) Gegen die These vom unbedingt notwendigen Dasein, das entweder einem notwendigen Wesen als erstem Glied der Reihe oder aber der ganzen Weltreihe selbst im Unterschied zu den einzelnen Gliedern zukommen kann, erkennt die Antithese keinen Abbruch der Reihe der zuflligen Weltbegebenheiten an. Die auffllige Asymmetrie zum allgemeinen Prinzip der Vollendung der Reihen, die im vierten Fall besteht, sei hier zunchst dahingestellt (vgl. weiter unten 4.3.3). Die entsprechende These vom notwendigen Wesen weist offenbar auf den Gegenstand der Theologie hin, ebenso wie die These von einfachen Substanzen auf die Seele als den Gegenstand der rationalen Psychologie (vgl. B 471, 491). Kant hlt jedoch fest, dass die kosmologischen Ideen, im Gegensatz zu denen der beiden anderen Klassen, die Reihe der Erscheinungen zunchst nicht verlassen, wenn sie diese auch in der Konsequenz berschreiten. Unter (2) wird nmlich das Einfache als „Element des Zusammengesetzten“ behauptet, als letztes Glied seiner Teilung, und wrde schicklicher als Atom denn als Monade bezeichnet werden (B 470). Unter (4) wird das notwendige Wesen nicht außerhalb der Sinnenwelt gesucht, sondern als mit ihr verknpft: es wird behauptet als ein Teil der Welt oder als das Weltganze selbst. An den vier in sich zwiespltigen Weltbegriffen entfaltet sich demnach die Antinomie der Vernunft. „Antinomie“ bedeutet dabei zunchst den „Widerstreit der Gesetze […] der reinen Vernunft“ (B 434), im Einklang mit der wçrtlichen Bedeutung von !mtimol_a (!mt_ + m|loi). Der transzendentale Grundsatz der Vernunft ist in sich entzweit. Er fordert einerseits die Vollstndigkeit oder Vollendung der Reihen. Andererseits, indem er eben die Vollstndigkeit fordert, drngt er ber alles Bedingte und Endliche, ber alle Schranke und Grenze hinaus. Dem Gesetz der Vernunft, das den Abschluss des Regresses fordert, widerstreitet das Gesetz, das auf seine Erweiterung ohne Ende drngt. Das zweite Gesetz ist „ein Principium des reinen Empirismus“, das erste dagegen ein Prinzip des „Dogmatismus“ (B 494). In diesem kommt das systematische Interesse der Vernunft zum Ausdruck. Durch das Prinzip des Empirismus befçrdert dagegen die Forderung der Vernunft eigentlich das Interesse des empirisch forschenden Verstandes. Der Widerstreit der Gesetze der Vernunft hngt mit einem Widerstreit von Verstand und Vernunft zusammen: Eine solche dialektische Lehre wird sich nicht auf die Verstandeseinheit in Erfahrungsbegriffen, sondern auf die Vernunfteinheit in bloßen Ideen beziehen, deren Bedingungen, da sie erstlich als Synthesis nach Regeln dem Verstande und doch zugleich als absolute Einheit derselben der Vernunft congruiren soll, wenn sie der Vernunfteinheit adquat ist, fr den Verstand zu
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groß und, wenn sie dem Verstande angemessen, fr die Vernunft zu klein sein werden; woraus denn ein Widerstreit entspringen muß, der nicht vermieden werden kann, man mag es anfangen, wie man will. (B 450)
Keine vollzogene Synthesis des Verstandes kann die Vernunft befriedigen („zu klein“). Die Synthesis des Verstandes darf aber nicht berflogen werden, und eine unendliche vollzogene sukzessive Synthesis ist unmçglich. Die Vernunft fordert die Totalitt der Reihe. Die Reihe ist aber gebildet nach einer Regel des Verstandes. Ein reiner Verstandesbegriff liefert nmlich die Relation, nach der die Erscheinungen in der Reihe geordnet werden, d. h. die Relation, die zwei aufeinanderfolgende Glieder der Reihe als Bedingung und Bedingtes miteinander verbindet. Diese Relation ist das mathematische Verhltnis von Ganzem und Teil und vice versa, im Fall der beiden ersteren kosmologischen Reihen, oder aber das dynamische Verhltnis der gesetzmßigen Abhngigkeit im Fall der beiden letzteren. Die Verstandesregel der Reihenbildung sieht nun keinen Fall ihrer Unterbrechung vor; die Reihe kann ins Unendliche fortgesetzt werden. Die Vernunft muss daher die Forderung der Vollstndigkeit mit der Unabschließbarkeit der Reihe zusammenbringen. Aus diesem unvermeidlichen Widerstreit von Verstand und Vernunft ergibt sich die Entzweiung der Gesetzgebung der Vernunft: auf der einen Seite steht die einseitige Forderung der Vollstndigkeit, auf der anderen Seite fordert die Vernunft die absolute Totalitt als eine unendliche Menge von Bedingungen. Die Entzweiung der Gesetzgebung der Vernunft (Antinomie) fhrt nun zum Widerstreit der Behauptungen (Antithetik): die vier Thesen folgen dem Prinzip des Dogmatismus, die vier Antithesen dem Prinzip des Empirismus. Die vier Paare einander widersprechender Stze nennt Kant dann jedenfalls auch Antinomien. 26 Bei jedem Paar liefert er fr die eine sowie fr die andere Seite einen logisch stimmigen Beweis, der apagogisch verluft, d. h. ber die Widerlegung der Gegenthese: Aus dem Widerspruch in der Verbindung von Vollstndigkeit und Unbegrenztheit, von Totalitt und Unendlichkeit der Reihe, folgert die Vernunft den Abschluss der Reihe. Ein solcher Abschluss verstçßt wiederum gegen die Synthesis der Erfahrung nach den Regeln des Verstandes. Das Gegenteil der These (die Reihe als unendliches Ganzes) wird jedes Mal als in sich widersprchlich gezeigt; das Gegenteil der Antithese (der Abschluss der Reihe) widerspricht 26 Vgl. B 453 Anm.; Prol 341; FM 292; Refl 5412, 5962, 6317, 6337, 6418, 6419, 6421. Der Terminus Antinomie tritt bei Kant nicht nur im Singular auf, wie Dieter Henrich behauptet (Der ontologische Gottesbeweis, 153).
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den Prinzipien der fortschreitenden Synthesis der Erfahrung. These und Antithese mssen daher beide angenommen werden, sie schließen sich aber natrlich gegenseitig aus. Folglich gert die Vernunft „in eine[n] unaufhçrlich schwankenden Zustand[]“ (B 503). Der nchste Abschnitt wird darauf eingehen, wie das Problem nach Kant gelçst wird. Zunchst ist aber zur Struktur des Problems folgendes abschließend zu bemerken: 1. Alle vier Antinomien lassen sich zurckfhren auf einen unvermeidlichen Widerstreit der Vernunft mit sich selbst bzw. von Vernunft und Verstand: die Forderung der Vernunft nach der Totalitt wird unvermeidlich in sich entzweit, wenn sie auf die Reihe der Synthesis der Erscheinungen angewandt wird. Als Kern der Antinomie hat sich das antinomische Verhltnis von Totalitt und Unendlichkeit gezeigt. Diese beiden Bestimmungen mssen nmlich einerseits notwendig verknpft werden: nach ihrem Konstruktionsprinzip kann die Reihe nicht endlich sein. Darauf sttzt sich jedes Mal der Beweis der Antithese. Andererseits schließen sich die beiden Bestimmungen gegenseitig aus. Darauf sttzt sich jedes Mal der Beweis der These. Dieser Kern liegt demnach den vier Paaren einander widersprechender Behauptungen und ihren Beweisen zugrunde.27 2. Der Widerspruch zwischen Totalitt und Unendlichkeit, auf den sich jedes Mal der Beweis der These sttzt, betrifft nicht etwa die Mathematik. Es geht nicht darum, ob diese ber einen Begriff von einer unendlichen Menge verfgen kann. Der Widerspruch betrifft vielmehr die Synthesis der realen Welt. Er bedeutet z. B. dass eine unendliche Kausalreihe mit der vollstndigen, hinreichenden kausalen Bestimmung unvereinbar sei oder dass eine vollzogene unendliche Teilung der Materie nur eine Reihe von mathematischen Operationen zurcklassen wrde und nichts, an dem die Zusammensetzung durch die inversen Operationen 27 Vgl. hierzu Kulenkampff, Antinomie und Dialektik, 81 ff. Zur „Antinomie von Totalitt und Unendlichkeit“ vgl. auch Adorno, Negative Dialektik, 37: „das ruhelose ad infinitum sprengt das in sich ruhende System, das doch der Unendlichkeit allein sich verdankt.“ – Nach einer verbreiteten Interpretationslinie handelt es sich im Antinomiekapitel, sowie in der Kritik berhaupt, um ein Aggregat von spezifischen (hier kosmologischen) Problemen, wobei die von Kant behauptete architektonische Einheit knstlich und nicht berzeugend sei. Typisch fr diese Einstellung ist Jonathan Bennett, der vom Antinomiekapitel kategorisch urteilt: „The chapter is in fact a medley, and the several sorts of unity claimed for it are all spurious“ (Kant’s Dialectic, 114). Kants These, dass die Antinomie in der Natur der Vernunft liegt, d. h. in ihrer systematischen bzw. architektonischen Verfassung, ist aber erstens ganz zentral und zweitens wohl gegrndet.
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wieder ansetzen kçnnte. Kants Lçsung der Antinomie luft, wie noch zu sehen sein wird (vgl. weiter unten 4.3.3), gerade darauf hinaus, dass die reine Mathematik, als der eigentliche Ort des Unendlichen, von der Naturlehre abgehoben wird.28 3. Die Entzweiung der Gesetze der Vernunft wird schçn dargestellt im Abschnitt „Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite“ (B 490 ff.). Das theoretische Interesse der Vernunft ist nmlich in sich gespalten: die Thesen befriedigen die architektonische (systematische) Natur der Vernunft, indem sie aber das sichere Feld der Erfahrung verlassen, wogegen die Antithesen der empirischen Forschung des Verstandes entgegenkommen. Dieser Vorteil wiegt nach Kant schwerer (vgl. B 496). Das praktische Interesse der Vernunft findet sich dagegen ausschließlich auf der Seite der Thesen. Diese kommen ja der Metaphysik der christlichen Tradition entgegen, indem sie fr die Schçpfung als Weltanfang, fr Gott als das notwendige Wesen, fr die Seele des Menschen als unteilbare und unverwesliche Substanz sowie fr die Freiheit des Willens Platz schaffen. Die Ideen als Begriffe der traditionellen metaphysischen Gegenstnde ziehen nun die „moralischen Ideen“ nach sich (ebd.), woran das praktische Interesse der Vernunft sich klammert. Die Seite der Thesen hat schließlich auch den „Vorzug der Popularitt“ (B 495). Dieser ist jedenfalls ein zweifelhafter Vorzug. Im Grunde heißt er nmlich, dass der gemeine Verstand faul und dogmatisch ist und die „Gemchlichkeit“ (ebd.) zu schtzen weiß, die ihm die Gewissheit eines Ersten verschafft. Diese Haltung muss freilich nicht notwendig auf die dogmatische Versicherung eines transzendenten Ersten fhren. Sie kann auch zu Positionen fhren, 28 Georg Cantor, der Begrnder der Mengenlehre und der transfiniten Mathematik, hat gegen Kants Antinomienlehre scharf polemisiert: „Es drfte kaum jemals […] mehr zur Diskreditierung der menschlichen Vernunft und ihrer Fhigkeiten geschehen sein“ („ber die verschiedenen Standpunkte in Bezug auf das aktuelle Unendliche“, 375). Auch nach Bertrand Russell ist Kants Lehre durch Cantors mathematische Theorie obsolet geworden (Russell, The Principles of Mathematics, § 250). Der Mathematiker Ernst Zermelo hat aber als Herausgeber der Schriften Cantors zu dessen Polemik mit Recht bemerkt, dass Kants Antinomien nicht den mathematischen Unendlichkeitsbegriff betreffen, sondern seine Anwendung auf das Weltganze („ber die verschiedenen Standpunkte“, 377 Anm.). Zu Cantors, Russells und Zermelos Stellungnahmen zu Kants Antinomienlehre vgl. Falkenburg, Kants Kosmologie, 164 f., 206. – Fr die moderne physikalische Kosmologie stellt sich das Kantische Problem nicht unmittelbar, weil sie Weltbegriffe zugrunde legt, fr die bestimmte Voraussetzungen der Kantischen Beweise (euklidische Geometrie; sukzessive Synthesis der Weltteile in einer Reihe) nicht gelten. Siehe hierzu Mittelstaedt/Strohmeyer, „Die kosmologischen Antinomien“.
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die im Empirischen ein solches letztes Fundament behaupten. In der Antinomie treten aber die Maximen der Vernunft gegeneinander, die beide ber jede empirisch erreichte Grenze hinausdrngen. Es zeichnet sich jedenfalls eine Ambivalenz ab bezglich der Frage, welche Seite denn jedes der beiden einander widerstreitenden Momente des Denkens, Verstand und Vernunft, whlen wrde. Diese Ambivalenz ist tatschlich von Bedeutung. Thesen und Antithesen sind nicht eindeutig einer transzendenten Metaphysik einerseits und der empirischen Forschung ohne dogmatische Beschrnkungen (im Zuge der neuzeitlichen mathematisch-empirischen Naturwissenschaft) andererseits zuzuordnen. Die These der zweiten Antinomie kann etwa durchaus von einem naturalistischen Atomismus, d. h. einer materialistischen Position, gedeckt werden, wogegen die Antithese einen absoluten Anspruch der reinen Mathematik in Blick auf die reale Naturerkenntnis zum Ausdruck bringt. Die These der dritten Antinomie behauptet die erste (spontane) Ursache zunchst im Interesse der vollstndigen kausalen Bestimmung der Erscheinung, und nicht gleich als eine praktische Erforderung. Selbst der emphatische Freiheitsbegriff dieser These – die Differenz des spontanen Subjekts von der Sphre der Naturnotwendigkeit – ist schließlich eine Existenzbedingung von Verstand und Vernunft berhaupt (vgl. B 574 f.; GMS 448), damit aber auch eine praktische Bedingung gerade des freien Experimentierens mit der Natur und der von jedem Dogma ungetrbten empirischen Forschung.29 Nach dem Interesse der Vernunft kann der Streit berhaupt nicht entschieden werden. Auch wenn die Vernunft gençtigt wird, „Partei zu nehmen“ (B 493), kann sie nicht umhin, an beiden Bestimmungen festzuhalten. Das Interesse darf aber auch gar nicht den Streit entscheiden (vgl. B 503 f.). Im hohen Gerichtshof der Vernunft muss ja, nach Kants beliebter Metapher, der Richter unparteiisch sein; kein Interesse darf seinen klaren Blick trben. Sonst wrde die Vernunft sich selbst preisgeben; indem sie etwa ihr praktisches Interesse wider ihre eigene Einsicht in die Widerlegbarkeit der These und die Unvermeidlichkeit der Antinomie gewaltsam und dogmatisch durchsetzt. Die Notwendigkeit, den Streit rational zu 29 Vgl. B XIII zur Praxis des Experiments nach einem freien Entwurf der Vernunft, welche „die Natur nçthigen msse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gngeln lassen msse“. Die Vernunft nhert sich der Natur „nicht in der Qualitt eines Schlers, der sich alles vorsagen lßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nçthigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt“.
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Ende auszutragen statt eine Seite zu whlen, wurde im vorigen Kapitel erlutert (3.5). Einzig ber die kritische Auflçsung des Streits kann die Vernunft nach Kant dann doch ihrem Interesse bzw. ihrem Bedrfnis30 nachkommen. Auf die Begriffe des Interesses und des Bedrfnisses der Vernunft wird das letzte Kapitel der Arbeit nher eingehen (5.1; 5.3). 4.3.2 Analytische und dialektische Opposition Die Antinomie der Vernunft ist der Schwerpunkt der transzendentalen Dialektik. In ihrem Ausgriff auf das Unbedingte muss die Vernunft die immer bedingte sinnliche Erfahrung verlassen. Daher braucht sie aber auch nicht mehr zu frchten, dass ihre Behauptungen von der Erfahrung widerlegt werden kçnnen. Im Bereich ihres bloßen Denkens muss sie nur darauf Acht geben, dass sie sich nicht widerspricht. Auf den Gebieten der rationalen Psychologie und Theologie bringt es die Vernunft nun, wie gesehen, nur auf einseitige Behauptungen. Dabei kçnnte sie gegen alle Kritik trotzig darauf beharren, dass diese Behauptungen mindestens widerspruchsfrei sind. Die auf dem Gebiet der Kosmologie entstehende Antinomie rckt aber die Vernunft von diesem ihrem Selbstvertrauen ab. Die Vernunft, die sich in ihrem reinen Denken nur an das Gebot der Widerspruchsfreiheit hlt, bringt es auf einander widersprechende Behauptungen. Die Logik des Scheins unterluft damit sich selbst. Die Kritik sieht dabei nur zu, wie ein Streit zustande kommt, der sich zugunsten keiner der beiden Parteien entscheiden lsst. Die Position des transzendentalen Idealismus kommt erst dann ins Spiel als der einzige Ausweg: dadurch wird nmlich der Gegenstand des Streits fr nichtig erklrt und der Streit der Vernunft mit sich selbst kritisch entschieden (vgl. im Vorigen 3.5). Die Vernunft kommt aus der misslichen Lage, aus ihrem „schwankenden Zustand“, heraus, indem gezeigt wird, dass beide Seiten eine falsche Voraussetzung teilen, auf der ihr Streit beruht. Diese gemeinsame Voraussetzung ist die Annahme, dass die Reihe der Synthesis der Erscheinungen ein Bestehen an sich habe. Wenn dies zutrfe, wie beide Parteien stillschweigend annehmen, dann msste die Reihe tatschlich das Unbedingte, d. h. die Totalitt der Bedingungen, enthalten. Die Reihe msste auf die eine oder andere Weise vollstndig sein: sie msste eine unendliche Menge von Bedingungen enthalten oder aber eine letzte unbedingte Be30 „Alles Interesse setzt Bedrfniß voraus, oder bringt eines hervor“ (KU 210).
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dingung. Die Reihe der bedingten sinnlichen Erscheinungen ist aber „an sich nichts“ (B 66). Sie ist nur „in der Apprehension“ (B 527) gegeben, und ihre Einheit grndet in der transzendentalen Einheit des Bewusstseins. Der Gegenstand der Erkenntnis ist keine fertige Welt, kein gegebenes, vollstndiges Ganzes. Er ist vielmehr das Produkt einer fortschreitenden Synthesis. Wenn die falsche Annahme wegfllt, dann ist das Dilemma der Vernunft nicht mehr zwingend. Die Reihe des Bedingten wird vom Unbedingten als ihrem problematischen Grund getrennt und ist weder auf die eine noch auf die andere Weise vollstndig. Der Widerspruch zwischen den beiden Behauptungen – das kontradiktorische Verhltnis, wonach die eine wahr und die andere falsch sein muss – ist nach Kant nur scheinbar: es beruht auf dem transzendentalen Schein, dass der Reihe ein Bestehen an sich und folglich Vollstndigkeit zukomme. Nehme ich aber diese Voraussetzung oder diesen transscendentalen Schein weg […], so verwandelt sich der contradictorische Widerstreit beider Behauptungen in einen bloß dialektischen (B 532 f.).
Die kontradiktorische Entgegensetzung, d. h. den Widerspruch, bezeichnet Kant als analytische Opposition. Die scheinbare kontradiktorische Entgegensetzung, aufgrund des transzendentalen Scheins, bezeichnet er dagegen als dialektische Opposition. 31 Fr Kants Darstellung des Streits und seiner Auflçsung ist dabei die apagogische Form wesentlich, in der die Beweise prsentiert werden. Kant legt nmlich Wert darauf, dass die Beweise von These und Antithese nicht erschlichen, sondern (unter der natrlichen, aber tuschenden Annahme) richtig waren (vgl. B 458, 535; Prol 339 f.). Es wird jedes Mal auf die eine Behauptung geschlossen, indem die andere widerlegt wird, nach dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten. Das ist der Schluss „per judicia contradictorie opposita“ (Log § 48). Der Beweisgrund ist dabei gerade das scheinbar kontradiktorische Verhltnis. Mit diesem steht und fllt die Richtigkeit der Beweise. Durch deren apagogische Form wird die missliche Lage der Vernunft zugespitzt. Aus der Annahme der ersten Behauptung folgt nmlich die zweite, und umgekehrt nach demselben Verfahren. Die Vernunft kann gar nicht bei der einen Behauptung stehen bleiben, sondern muss eben „unaufhçrlich schwanken“. Im Kapitel der Methodenlehre ber die „Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihrer Beweise“ (B 810 ff.) hebt Kant die „apagogische Be31 „Man erlaube mir, daß ich dergleichen Entgegensetzung die dialektische, die des Widerspruchs aber die analytische Opposition nennen darf.“ (B 532).
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weisart“ als „das eigentliche Blendwerk“ der dogmatischen Metaphysik heraus (B 821). Der eigentliche Ort dieser Beweisart ist die Mathematik. Dort ist sie eine durchaus legitime und elegante Art, Stze zu beweisen, zu denen der direkte Weg ber ihre Bedingungen zu kompliziert ist oder im Dunkeln liegt. In der Philosophie besteht dagegen immer die Gefahr, dass ein transzendentaler Schein den Widerspruch vortuscht, der als evidenter Beweisgrund dient. Jeder Beweis in der Philosophie muss direkt erfolgen: er muss die Grnde ans Licht bringen, worauf das Behauptete beruht. Statt auf die Sache zu gehen und deren Grnde zu ermitteln, argumentieren die Dogmatiker mit ihren apagogischen Beweisen, welche die Evidenz der Mathematik nachahmen, im Grunde formal. Sie missbrauchen ein bloß formales oder logisches Kriterium der Wahrheit, den Satz des ausgeschlossenen Dritten (vgl. Log 53), als hinreichendes Kriterium.32 Diese Kritik am dogmatischen Verfahren baut Kant in die Darstellung der Antinomie ein. Die Beweise von These und Antithese sttzen sich auf das scheinbar kontradiktorische Verhltnis und sind formal korrekt. Dieses Verhltnis beruht aber auf der versteckten Annahme vom ,an sich‘–Charakter der Reihe: auf dieser Annahme beruht das Bestehen der Totalitt, d. h. des Gegenstandes, den beide Seiten zugrunde legen. Es herrscht hier wieder ein Paralogismus, ein „sophisma figurae dictionis“ (B 528). Die ganze Antinomie der reinen Vernunft beruht auf dem dialektischen Argumente: Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben; nun sind uns Gegenstnde der Sinne als bedingt gegeben; folglich etc. (B 525).
Im Licht des transzendentalen Idealismus bedeutet der Untersatz dieses hypothetischen Schlusses, dass uns die Gegenstnde als Erscheinungen in 32 Kant lsst zwar den apagogischen Beweis in der Mathematik zu, dennoch ist seine Kritik am Gebrauch des Verfahrens in der Philosophie parallel zur intuitionistischen Position im Grundlagenstreit der Mathematiker im 20. Jh.: Der indirekte Beweis, die Anwendung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten, ist nicht zulssig in Bezug auf unendliche Bereiche, wo finite Konstruktionsverfahren nicht mçglich sind. Vgl. Vuillemin, „Das Problem der Identitt in der Beweistheorie und die Kantische Fragestellung“, 301 f. – Fr Kant sind in der Mathematik die indirekten Beweise unbeschrnkt gltig, da er ja die Mathematik an die Konstruktion in der reinen Anschauung bindet (vgl. im Vorigen 2.3). Aus diesem Grund braucht die Mathematik nach Kant auch keine Antinomien zu befrchten (vgl. B 452). Dieser Rahmen wird natrlich von der modernen Mathematik nach Cantor gesprengt. Daher hatte diese aber mit den mengentheoretischen Antinomien zu ringen. Unter anderen hat Ernst Zermelo auf den sachlichen Zusammenhang zwischen diesen Antinomien und den kosmologischen Kants hingewiesen (vgl. Martin, Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, 62 ff.).
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der empirischen Synthesis der Anschauungen gegeben werden. Das Gegebensein von empirischen Bedingungen reicht dann so weit wie diese sukzessive Synthesis selbst; die Reihe ist nicht unabhngig vom Regress in ihr gegeben, nicht außerhalb der Zeit als der Form der Endlichkeit der Erkenntnis. Im Obersatz bleibt dagegen das Gegebensein des Bedingten unbestimmt. Wenn etwas berhaupt oder an sich gegeben sein soll, unabhngig von der Form der Erkenntnis, dann werden tatschlich alle Bedingungen seines Gegebenseins mit vorausgesetzt. Das Gegebensein des Bedingten macht die Bedingung oder Mitte des hypothetischen Schlusses aus, und es liegt eine Verdoppelung dieser Mitte vor (zur Form des hypothetischen Schlusses vgl. im Vorigen 2.2.1). Der Paralogismus, als tatschlicher Grund des Schlusses, wird nun in den Beweisen verdeckt. Die Beweise schließen ja nicht direkt, sondern ber das kontradiktorische Verhltnis, das seinerseits auf dem transzendentalen Fehlschluss beruht. Dieser steckt im scheinbar unverdchtigen formalen Aspekt der Beweise. Neben diesem formalen Aspekt, dem scheinbaren kontradiktorischen Verhltnis, haben aber die Beweise wohl auch eine inhaltliche Seite. Sie besteht in der Widerlegung des jeweiligen Gegenteils: Die Verbindung von Vollstndigkeit und Unendlichkeit der Reihe ist in sich widersprchlich, und ein Abschluss der Reihe widerspricht den Prinzipien des Aufbaus derselben. Diese Widerlegungen bleiben wohl gltig. Es kann aber nicht mehr das kontradiktorische Gegenteil der einen Behauptung, worauf die Widerlegung zu schließen erlaubt, mit der anderen Behauptung identifiziert werden. Dann muss aber noch auf jeden Fall das Verhltnis zwischen These und Antithese, das als dialektische Opposition oder scheinbarer Widerspruch bezeichnet wurde, (und damit auch das Verhltnis zwischen ihren kontradiktorischen Gegenteilen) nher erlutert werden. Diese Erluterung unternimmt Kant im zweiten Teil (B 530 ff.) des siebten Abschnitts des Antinomiekapitels, desjenigen Abschnitts, der die „Kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst“ herbeifhrt (B 525 ff.).33 Die Erluterung muss er dann spter fr den Fall der dynamischen Weltbegriffe ergnzen (B 556 ff.). 33 Der Aufbau dieses Abschnitts kann zu Missverstndnissen fhren. Im ersten Teil deckt Kant den behandelten Paralogismus auf, als gemeinsamen falschen Beweisgrund von These und Antithese. Es sei damit aber noch nicht entschieden, dass die Kontrahenten „in der Sache selbst“ (B 529) Unrecht haben, wobei das scheinbar kontradiktorische Verhltnis ihnen vortusche, dass einer von beiden Recht haben muss. Der zweite Teil des Abschnitts erlutert dann dieses Verhltnis, fhrt die Unterscheidung von analytischer und dialektischer Opposition ein und kann damit erklren, wieso die Widerlegungen gltig und die Beweise „grndlich“
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Die Auflçsung der Antinomie ist nmlich unterschiedlich fr die zwei Klassen der mathematischen und der dynamischen Weltbegriffe. Die Einteilung wird gerade deshalb wichtig. Bei der mathematischen Synthesis der Erscheinungen, bei der Hinzusetzung wie der Teilung von Grçßen, mssen nmlich Bedingung und Bedingtes (Teil und Ganzes oder vice versa) gleichartig sein. Die Reihe kann nur sinnliche Bedingungen enthalten. Wenn nun die Annahme entfllt, dass die Reihe als etwas an sich Bestehendes die Totalitt der Bedingungen enthalte, d. h. dass sie sich bis zum Unbedingten erstrecke, auf die eine oder auf die andere Weise vollstndig sei, dann erweisen sich beide Behauptungen, These und Antithese, als falsch. Bei der dynamischen Synthesis kçnnen dagegen Bedingung und Bedingtes (Grund und Folge) auch als ungleichartig vorgestellt werden. Es kann nmlich auch eine intelligible Bedingung des sinnlichen Bedingten gedacht werden, die dann aber außerhalb der Reihe der sinnlichen Bedingungen liegen wird. Die Reihe der Erscheinungen wird damit vom problematischen Unbedingten getrennt. Indem sich die Antithese auf die unabschließbare Reihe bezieht und die These auf das Unbedingte jenseits dieser, kçnnen die einander entgegengesetzten Behauptungen „in der auf solche Weise berichtigten Bedeutung alle beide wahr sein“ (B 560). Die Geltung der Antithese wird auf den Bereich der Phaenomena beschrnkt, und die Geltung der These in den Bereich der Noumena hinbergerettet. (a) Die mathematischen Antinomien vergleicht also Kant mit Paaren von nicht kontradiktorischen, sondern kontrren Urteilen: These und Antithese kçnnen zwar nicht beide wahr sein, sie kçnnen aber doch […] alle beyde falsch seyn […] – wie in der Logik zwey einander als Widerspiel entgegengesetzte (contrarie opposita) Urtheile – und in der That sind sie es auch, weil von Erscheinungen, als von Dingen an sich selbst, geredet wird. (FM 291) (B 535) waren. Es darf nicht bersehen werden, dass der sogenannte Paralogismus eben nicht direkt der Beweisgrund war, sondern nur insofern er der dialektischen Opposition zugrunde liegt. – Hegel hat bekanntlich die apagogische Form von Kants Beweisen kritisiert und als berflssigen „Umweg“ bezeichnet (Wissenschaft der Logik I.1, GW 21, 182). Nach ihm verdeckt sie nmlich, dass die entgegengesetzten Bestimmungen direkt ineinander bergehen (vgl. ebd. 187). Vgl. Hegels ausfhrliche Diskussion der zweiten (ebd. 179 – 189) und der ersten Antinomie (ebd. 228 – 232), sowie Wolff, Der Begriff des Widerspruchs, 128 – 138. Der apagogische „Umweg“ dient jedenfalls, wie gesehen, der Kantischen Strategie. Die entgegengesetzten Behauptungen gehen ineinander ber nach korrekten indirekten Beweisen, aber nur unter der Voraussetzung, dass ihr Verhltnis zueinander flschlich als Widerspruch gedeutet wird. Vgl. hierzu ebd. 53.
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Die beiden Urteile verhalten sich in Wahrheit nicht kontradiktorisch zueinander, „darum weil eines dem andern nicht bloß widerspricht, sondern etwas mehr sagt, als zum Widerspruche erforderlich ist.“ (B 532). (b) Andererseits […] kçnnen Satz und Gegensatz auch weniger enthalten, als zur logischen Entgegensetzung erfordert wird, und so beyde wahr seyn, – wie in der Logik zwey einander bloß durch Verschiedenheit der Subjecte entgegengesetzte Urtheile (judicia subcontraria) – wie dieses mit der Antinomie der dynamischen Grundstze sich in der Tat so verhlt, wenn nmlich das Subject der entgegengesetzten Urtheile in beyden in verschiedener Bedeutung genommen wird, z. B. der Begriff der Ursache, als causa phaenomenon […], aber […] in dem Gegensatze […] dasselbe Subject als causa noumenon (FM 291).
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Die dynamischen Antinomien vergleicht demnach Kant mit Paaren von subkontrren Urteilen: sie kçnnen nicht beide falsch, aber doch beide wahr sein. Anders als bei den normalen kontrren und subkontrren Urteilspaaren, begegnet aber bei den dialektischen Oppositionen der notwendige Schein des Widerspruchs.34 Es gilt nun zu untersuchen, wie weit der Vergleich reichen kann. Ad (a). Zum Vergleich mit der ersten Art der dialektischen Opposition bringt Kant das Beispiel von ,Gutriechen‘ und ,Nichtgutriechen‘ als Prdikaten von Kçrpern (vgl. B 531). Diese Prdikate, und die entsprechenden Urteile, sind kontradiktorisch entgegengesetzt unter der Bedingung, dass ber Kçrper geurteilt wird, die berhaupt riechen. Diese Bedingung ist das „etwas mehr“, aufgrund dessen in Wahrheit eine kontrre Opposition vorliegt. Wenn die Bedingung nmlich wegfllt, indem ein Drittes zutrifft –dass der Kçrper in Frage gar keinen Geruch hat, weder einen guten noch einen blen–, dann sind beide Urteile falsch. Auch wenn die sprachliche Form ein kontradiktorisches Verhltnis vortuschen kann, so kann dieser Schein immer behoben werden. Wenn G(k) das Urteil ist ,Der Kçrper k riecht gut‘ oder besser ,Der Kçrper k ist wohlriechend‘, dann ist das kontradiktorische Gegenteil G(k) natrlich nicht ,Der Kçrper k riecht nicht gut‘, sondern ,Es trifft nicht zu, dass der Kçrper k gut riecht‘ bzw. ,Der Kçrper k ist nicht wohlriechend‘ und enthlt beide Flle unter sich: dass der Kçrper nichtgut (bel) rieche und dass er gar nicht rieche. Wie verhlt es sich aber mit den mathematischen Antinomien? In der ersten Antinomie wird die Welt bestimmt als das Ganze, dessen Teile alle partiellen Zusammensetzungen der Erscheinungen sind, welche eine Reihe 34 Vgl. hierzu und zum Folgenden Wolff, Der Begriff des Widerspruchs, 45 – 61.
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bilden und wovon jedes eine bestimmte endliche Grçße hat. Die Welt selbst ist wohl kein weiterer Gegenstand der Erfahrung, neben diesen Teilen. Gemß den in den Beweisen gelieferten Widerlegungen, kann sie nun ihrer Grçße nach weder unendlich sein, da eine vollendete Unendlichkeit unmçglich ist, noch aber endlich, da sie in Raum und Zeit unmçglich begrenzt ist. Gemß der Lçsung, existiert die Welt daher gar nicht unabhngig von der im Regress jeweils erreichten Zusammensetzung. Die Welt ist einerseits nicht endlich, da in diesem Regress keine absolute Grenze angetroffen werden kann, andererseits aber auch nicht unendlich, denn der Regress kann auch nie eine unendliche Menge befassen. „Beydes ist dann falsch, weil mçgliche Erfahrung weder eine Grenze hat, noch unendlich seyn kann, und die Welt als Erscheinung nur das Object mçglicher Erfahrung ist.“ (FM 290). Das Dritte ist hier die Tatsache, dass die Welt gar nicht als eine definite Grçße an sich gegeben ist, weder als eine endliche noch als eine unendliche. Was ist dann aber hier das „etwas mehr“, aufgrund dessen beide Urteile falsch sein kçnnen? Im Fall des normalen kontrren Urteilspaars war dieses Mehr eine implizite Bestimmung des unproblematisch vorausgesetzten Gegenstandes, bei deren Mangel die kontradiktorische Entgegensetzung aufhçrt. Anders im Fall der Antinomie. Zum einen kann hier die kontradiktorische Form nicht behoben werden. Die entgegengesetzten Urteile E(w): ,Die Welt ist ihrer Grçße nach endlich‘ und E(w): ,Die Welt ist ihrer Grçße nach unendlich (nichtendlich)‘ sind ihrer Form nach notwendig kontradiktorisch. Zum anderen ist das Mehr, aufgrund dessen dem Inhalt nach beide Urteile trotz ihres Widerstreits falsch sind, gerade die Annahme, dass hier ein Gegenstand vorausgesetzt werden darf. Kant erlutert diesen Umstand in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, sowie in den Prolegomena (B 768, 820 f.; Prol 341 ff.; vgl. weiter FM 287; Refl 5962). Er hlt nmlich fest, dass der Gegenstand ,Welt‘ widersprchlich bestimmt ist: als eine Reihe von Erscheinungen, die zugleich als ein absolutes vollstndiges Ganzes, als ein Ding an sich, genommen wird. Dieser Widerspruch ergibt sich im Licht der Lçsung, unter der Voraussetzung des transzendentalen Idealismus. Insofern der auf diese Weise bestimmte Gegenstand (die Reihe der Erscheinungen als gegebenes Ganzes, mithin als Ding an sich) einen wirklichen Widerspruch (eine analytische Opposition) enthlt, ist er etwas Unmçgliches, ein Nichts, und zwar ein „nihil negativum“ (B 348). Ihm kçnnen daher berhaupt keine Prdikate zukommen: „non entis nulla sunt praedicata“ (B 821). Die negativen Urteile ,Die Welt ist nicht endlich‘ und ,Die Welt ist nicht unendlich‘, als die wahrhaft kontradiktorischen Gegenteile der falschen
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affirmativen Urteile, treffen zwar zu. Das ist aber der Fall, weil die negativen (verneinenden) Urteile, anders als die limitativen (unendlichen) und affirmativen (bejahenden), nicht voraussetzen, dass ihr Gegenstand existiert.35 Ihrer bloßen Form nach sind aber die negativen Urteile ,Die Welt ist nicht endlich‘ und ,Die Welt ist nicht unendlich‘ genauso kontradiktorisch zueinander wie die entsprechenden limitativen Urteile ,Die Welt ist nichtendlich‘ und ,Die Welt ist nichtunendlich‘ (symbolisch beide Male E(w) und E(w)36) und wie die affirmativen Urteile ,Die Welt ist endlich‘ und ,Die Welt ist unendlich‘ (E(w) und E(w)). Nicht kontradiktorisch sind alle drei Paare nur aus dem Grund, dass der Gegenstand in Frage nicht existiert. Kant scheint aber außer Acht zu lassen, dass der Gegenstand hier nicht nur Nichts sein kann, wie etwa ein viereckiger Kreis. Es ist ja offenbar nicht der Fall, dass die Zusammensetzung von Teilen definit-endlicher Grçße selbst keine extensive Grçße habe. Die Grçßenbestimmung der Welt kann nach Kant nur im Regress selbst stattfinden. Der Regress besteht nmlich im stndigen „Bestimmen der Grçße“ durch das berschreiten jeder jeweils erreichten Grenze und kommt zu „keine[m] bestimmten Begriff“ (B 551), einer definit-endlichen oder definit-unendlichen Weltgrçße. Damit das nur bedeutet, dass die Welt weder endlich noch unendlich ist, nicht aber dass sie sowohl nichtunendlich als auch nichtendlich ist, damit also die negativen Urteile zutreffen, nicht aber die limitativen (oder dann aber auch die quivalenten affirmativen), ist die Deutung nçtig, dass ein nichtexistenter Gegenstand zugrunde gelegt wird. Was bedeutet dann aber diese d
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35 Kant bindet den heute sogenannten existential import der Urteile an die Qualitt statt an die Quantitt. Vgl. Thompson, „On Aristotle’s Square of Oppositions“, 257 f.; Wolff, Die Vollstndigkeit der kantischen Urteilstafel, 159 f.; 290 ff., die sich auf die Textstelle B 737 sttzen. – Schulthess’ formale Rekonstruktion der ersten Antinomie (Relation und Funktion, 320 ff.), wonach die entgegengesetzten Urteile allgemeine Urteile ber eine leere Klasse seien (8w E(w) und 8w E(w)), entspricht nicht der Kantischen Argumentation. 36 Die symbolische Schreibweise dient hier nur der Veranschaulichung. E(w) ist dabei der Ausdruck fr das bejahende Urteil ,Die Welt ist unendlich‘ (1), d. h. die Zuschreibung zum Objekt Welt des positiven Prdikats ,unendlich‘, ebenso wie fr das unendliche Urteil ,Die Welt ist nichtendlich‘ (2), d. h. die Zuschreibung zum Objekt Welt des negativen Prdikats ,nichtendlich‘, und schließlich fr das negative Urteil ,Die Welt ist nicht endlich‘ (3), d. h. die Nichtzuschreibung zum Objekt Welt des positiven Prdikats ,endlich‘. Die Urteile (1) und (2) sind nach Kant in jeder Hinsicht miteinander austauschbar. Ob sie auch mit (3) austauschbar sind, hngt eben nur davon ab, ob das Objekt als existent vorausgesetzt werden darf. d
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Nichtexistenz des Gegenstandes? Wird hier auf einen logisch unmçglichen (widersprchlichen) Gegenstand, auf ein Hirngespinst, Bezug genommen? Es wird eher aus der Tatsache, dass dem Gegenstand Welt unvermeidlich die einander entgegengesetzten Prdikate endlich und unendlich zukommen mssen, sowie der Forderung, dass die Widerspruchsfreiheit gewahrt werden soll, darauf geschlossen, dass die Bestimmung der Totalitt mit der Reihe der Erscheinungen unvereinbar ist, dass auf den Weltbegriff verzichtet werden muss. Die Position des transzendentalen Idealismus, wonach die Erscheinungen kein Bestehen an sich, d. h. außerhalb des Regresses, haben, kann dann diesen Verzicht rechtfertigen. Kant deutet die dialektische Opposition der mathematischen Antinomie als nur scheinbaren Widerspruch. Dieser kommt dadurch zustande, dass der notwendige Vernunftbegriff von der Totalitt der Synthesis der Erscheinungen eine Verwechselung der Erscheinungen mit Dingen an sich mit sich fhrt und sich nur scheinbar auf einen Gegenstand bezieht. Der Schein wird nicht mehr betrgen, wenn er durchschaut ist und daher feststeht, dass die Totalitt der Reihe nicht als unabhngig vom Regress gegeben vorausgesetzt werden darf. Der Schluss auf die Totalitt ist aber kein vermeidbarer, bloß subjektiver Argumentationsfehler. Er ist vielmehr eine „natrliche Tuschung“ (B 528), insofern die Beziehung der bedingten Erscheinungen auf die Totalitt unentbehrlich ist. Die dialektische Opposition als persistente scheinbare Kontradiktion ist dann jedenfalls der Index eines subjektiv unabweisbaren Problems: der notwendigen Beziehung des Bedingten auf die Totalitt der Bedingungen, die wiederum nicht gegenstndlich gegeben ist. Dem Schein kann nach Kant jedenfalls keine objektive Bedeutung zugemessen werden, insofern sich These und Antithese in Wahrheit auf gar kein Objekt beziehen. Ad (b). Kants Beispiel fr eine subkontrre Entgegensetzung ist in der Logik das Paar der Urteile ,Einige Menschen sind gelehrt‘ und ,Einige Menschen sind nicht gelehrt‘. Das Verhltnis zwischen den Prdikaten ist zwar kontradiktorisch. Ihre nur partikulre Zuschreibung macht aber die Urteile (i- und o-Urteil) miteinander vertrglich. Sie kçnnen zwar nicht beide falsch sein: dann wren alle Menschen nicht gelehrt und gelehrt zugleich. Sie kçnnen aber doch beide wahr sein: Einige Menschen sind gelehrt und einige andere Menschen sind es nicht. Subcontrre Urtheile sind solche, von denen das eine besonders (particulariter) bejaht oder verneint, was das andre besonders verneint oder bejaht. […] Bei den subcontrren Urtheilen findet keine reine, strenge Opposition statt, denn es wird in dem einen nicht von denselben Objecten verneint oder bejaht, was in dem andern bejaht oder verneint wurde. „ (Log § 50).
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Die beiden Urteile sagen etwas weniger, als zum Widerspruch erforderlich ist, denn sie setzen nicht fest, dass sich die kontradiktorischen Prdikate auf dieselben Gegenstnde beziehen. Mit diesem Fall vergleicht nun Kant die dynamischen Antinomien. „Die zwey dynamischen Antinomien sagen weniger, als zur Opposition erfordert wird, z. B. wie zwey particulre Stze. Daher beyde wahr seyn kçnnen.“ (FM 292). Die dritte Antinomie bezieht sich auf die Kausalreihen. Ein jeder Abbruch solcher Reihen, eine selbstttige (spontane) Ursache, die daher nicht selbst wiederum als gesetzmßige Wirkung einer weiteren Ursache anzusehen ist, widerspricht dem Kausalprinzip, dem Grundsatz von Ursache und Wirkung, nach welchem die Reihe aufgebaut ist. Andererseits „widerspricht der Satz, als wenn alle Causalitt nur nach Naturgesetzen mçglich sei, sich selbst in seiner unbeschrnkten Allgemeinheit“ (B 474). Damit die Wirkung hinreichend kausal bestimmt ist, ist nmlich die Vollstndigkeit der Reihe erforderlich, die aber unmçglich ist ohne eine erste, spontane Ursache. Gemß Kants Lçsung kann die Reihe als eine Reihe von nur sinnlichen Bedingungen das Unbedingte nicht enthalten. Die unbedingte Bedingung steht aber als problematisches Noumenon außerhalb der Reihe der Erscheinungen. Alle Erscheinungen, darunter auch das vernnftige Sinneswesen Mensch, stehen notwendig in der Zeit und unter Bedingungen, die unabschließbare Kausalreihen bilden. Die Spontaneitt der Vernunft selbst steht aber außerhalb der Zeit, anders als ihre Wirkungen, die ansonsten mit vorhergehenden und nachfolgenden Begebenheiten der Sinnenwelt kausal verknpft sind. Die Antithese, die eine Kausalitt aus Freiheit in der Sinnenwelt leugnet, und die These, die jene zur Erklrung der Erscheinungen fordert, kçnnen zusammen bestehen. Die Stze „sagen etwas weniger, als zum Widerspruch erforderlich ist“, insofern der zweite Satz einen anderen Gesichtspunkt auf die Gegenstnde der Sinnenwelt bezieht, und sie als Dinge an sich selbst betrachtet. Der bloßen Form nach ist jedoch das Verhltnis von These und Antithese auch hier nicht subkontrr, sondern kontradiktorisch. Die Stze sind nmlich nicht beide partikulr. Die These ist zwar partikulr bejahend (ein i-Urteil): „Die Causalitt nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige […]. Es ist noch eine Causalitt durch Freiheit“ (B 472). Die Antithese ist aber allgemein verneinend (ein e-Urteil): „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur“ (ebd.). Dabei kommt es eben darauf an, dass alle Begebenheiten nach Kausalgesetzen erklrt werden kçnnen. Die kontradiktorische Form der Konjunktion kann nicht dadurch abgestreift werden, dass auch die Antithese eine partikulre
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Form annimmt. Der kontradiktorische Charakter hngt vielmehr davon ab, […] ob es ein richtig disjunctiver Satz sei, daß eine jede Wirkung in der Welt entweder aus Natur, oder aus Freiheit entspringen msse, oder ob nicht vielmehr beides in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit zugleich stattfinden kçnne. (B 564)
Es kann nmlich „dieselbe Ursache“ (B 580) in einer Beziehung, als causa phaenomenon, in der Reihe der Erscheinungen stehen und in einer anderen Beziehung, als causa noumenon, außerhalb der Reihe. Dieselbe Ursache, die als Erscheinung und Glied der Reihe notwendig die Folge von einem weiteren Grund in der Reihe darstellt, kann, als der intelligible Grund der Erscheinung selbst genommen, die Reihe vervollstndigen. Das Verhltnis ist insofern nicht kontradiktorisch, als der Gegenstand in zwei verschiedenen Hinsichten genommen wird. Auch nach der klassischen aristotelischen Definition ist es eine Bedingung des Widerspruchs, dass der Gegenstand stets in derselben Hinsicht betrachtet wird.37 Die Frage nach der logischen Form der dialektischen Opposition verlagert sich damit auf die Frage, wie die causa phaenomenon und die causa noumenon als die beiden Hinsichten eines und desselben Gegenstandes, des Menschen als Sinnes- und Vernunftwesens, zu denken sind. Die Antinomie, dass jede Kausalreihe in der Erscheinung sowohl als unendlich unabschließbar wie als abgeschlossen gedacht werden muss, wird dadurch behoben, dass die Reihe in der Erscheinung, in der Zeit, nie als vollstndiges Ganzes gegeben ist, whrend der problematische unbedingte Grund außerhalb der Zeitreihe gedacht wird. Die dialektische Opposition der dynamischen Antinomie ist nach Kant ein nur scheinbarer Widerspruch, der auf einer Verwechselung von Erscheinungen und Dingen an sich beruht: Er beruht darauf, dass das Unbedingte vom Bedingten nicht getrennt wird, sondern in der illusorischen Totalitt gesucht wird, ob als die ganze Reihe der bedingten Glieder oder als das die Reihe vollendende letzte Glied. Der Schein ist jedoch insofern subjektiv unvermeidlich, als die Reihe der Ableitung der Erscheinungen aus ihren Ursachen notwendig auf die Totalitt der Ableitung bezogen wird. Zu den Ausfhrungen dieses Abschnitts ber die Auflçsung der Antinomie folgen nun zwei Schlussbemerkungen. 1. Im Fall der Ideen der ersten und dritten Klasse kommt es gar nicht zu einer Antinomie. Die dialektischen Schlsse der rationalen Psychologie 37 Metaphysica IV 3, 1005b 19 f.
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und Theologie lçst Kant dadurch auf, dass der bersinnliche Gegenstand der Idee zwar denkmçglich ist, aber gar nicht durch Kategorien erkannt werden kann. Im Fall der kosmologischen Ideen kçnnen wir aber „die Schuld“ dafr, dass wir die Fragen, welche die Ideen stellen, nicht beantworten kçnnen, berhaupt nicht „auf die Sache schieben, die sich uns verbirgt“ (B 510). Diese Ideen gehen nicht auf einen bersinnlichen Gegenstand, der als unbekannt gelten darf. Sie gehen vielmehr auf die Synthesis der Erfahrung als den empirisch gegebenen Gegenstand und stellen nur die Frage nach der Totalitt dieser Synthesis. Die Antwort auf diese Frage kann auch nicht in irgendeiner mçglichen Erfahrung verborgen sein. Auch in der Totalitt der Anschauung, in der „vollstndigen Anschauung“ (ebd.), wenn diese mçglich wre, wrde die Vernunft den Gegenstand ihrer Idee nicht antreffen kçnnen. Der Gegenstand der Erfahrung ist nmlich kein eindimensionales, in der Anschauung gegebenes, Material, sondern eben das Produkt einer Synthesis. Der Begriff von der Totalitt der Synthesis der Erfahrung wird nur in der Vernunft selbst angetroffen. Die kosmologische Frage muss daher […] aus der Idee allein aufgelçset werden kçnnen; denn diese ist ein bloßes Geschçpf der Vernunft, welche also die Verantwortung nicht von sich abweisen und auf den unbekannten Gegenstand schieben kann. (B 507)
Die Forderung, dass die Frage nach der Totalitt aus deren Begriff selbst beantwortet werden muss, erhebt Kant im vierten Abschnitt des Antinomiekapitels. Dieser handelt „Von den transscendentalen Aufgaben der reinen Vernunft, in so fern sie schlechterdings mssen aufgelçset werden kçnnen“ (B 504 ff.). Wird aber die Lçsung, die Kant schließlich bietet, dieser Forderung tatschlich gerecht? Auf den vierten Abschnitt folgt im fnften Abschnitt die „Sceptische Vorstellung der kosmologischen Fragen“ (B 513 ff.). Dann wird im sechsten Abschnitt „Der transscendentale Idealism als der Schlssel zu Auflçsung der kosmologischen Dialektik“ in Erinnerung gerufen (B 518 ff.), und im siebten Abschnitt erfolgt schließlich die „Kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst“ (B 525 ff.). Gemß der skeptischen Vorstellung ist nun fr den empirischen Regress, fr die empirische Synthesis des Verstandes, der Vernunftbegriff der vollendeten Reihe stets entweder zu groß (als Begriff einer aktual-unendlichen Reihe) oder zu klein (als Begriff einer definit-endlichen Reihe). Diese Vorstellung entspricht der Erklrung der Ideen fr transzendent im ersten Buch der Dialektik: sie seien nmlich transzendent, weil sie einfach empirisch unerreichbar sind, weil ihnen freilich nichts in der Erfahrung kongruiert, die Totalitt nicht als ein
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weiterer Gegenstand der Erfahrung gegeben ist. Auf die skeptische Vorstellung sttzt sich dann aber auch die Lçsung. Der Schluss auf die Totalitt zeigt sich als ein Paralogismus, indem bestimmt wird, dass die Reihe der Synthesis der Erscheinungen immer nur soweit reicht, wie der empirische Regress in ihr. Es wird gerade vermieden, eine begriffliche Bestimmung von der Totalitt der Reihe festzuhalten. Der Begriff von der Totalitt der Synthesis bietet selbst die Lçsung nur in dem Sinne, dass die Trennung von Phaenomena und Noumena (die Position des transzendentalen Idealismus) diesen Begriff als unrechtmßig gebildet erweist. Die Antinomie der Vernunft wurzelt, wie gesehen, in einem Widerstreit von Verstand und Vernunft. Der in sich entzweite Vernunftbegriff entspringt aus der Verbindung der Forderung der Vernunft nach Vollstndigkeit (Totalitt) mit der Reihe der Synthesis der Erscheinungen nach den Regeln des Verstandes. Durch die Trennung von Phaenomena und Noumena, von sinnlicher und intelligibler Welt, kann nun Kant die Verbindung als einen Paralogismus betrachten. Die „Dialektik, die in unserem Begriffe selbst liegt“ (B 510), wird damit auf eine Verwechselung von Phaenomena und Noumena zurckgefhrt. Der empirische Regress nach den Regeln des Verstandes erstreckt sich nur auf endliche und bedingte Erscheinungen; die Forderung der Vernunft behlt ihre Gltigkeit im Bereich des Intelligiblen. Im Fall der mathematischen Synthesis der Erscheinungen ist nmlich die Reihe kein vollstndiges Ganzes, weder ein endliches noch ein unendliches, im Großen wie im Kleinen; der intelligible Grund der Sinnenwelt, außerhalb von Raum und Zeit, lsst sich dabei gar nicht mathematisch bestimmen. Im Fall der dynamischen Antinomien lsst sich dem intelligiblen Grund, im Gegensatz zu jedem Glied der Reihe, problematisch die Selbstttigkeit bzw. das notwendige Dasein zuschreiben.38 2. Weder die formale noch die transzendentale Logik kçnnen nach Kant ein Organon zur Erweiterung des Wissens abgeben. Als ein solches Organon missbraucht, werden sie in der Dialektik zur Logik des Scheins. In den Beweisen der Antinomien werden, wie gesehen, die formallogischen 38 Vgl. in Kants Handexemplar der Kritik die Reflexion CLXX E 50 f. zu A 490/B 518: „In den cosmologischen Ideen sagen beyde erste Stze fr die Entgegensetzung zu viel, die beyde letzte zu wenig. Die erste sagen: alles ist entweder in der Zeit ewig oder hat einen Anfang, und es sollte heißen: oder es ist nicht ewig und existirt als Ding an sich selbst in gar keiner Zeit. In den letztern wird zu wenig gesagt. Daher kann beydes wahr seyn; e. g. alles in der Welt ist entweder abhngig oder unabhngig (alles nothwendig). Jenes ist wahr von Phnomenen, dieses von Noumenen außer der Welt.“
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Gesetze (der Satz des Widerspruchs oder des ausgeschlossenen Dritten) als hinreichende Wahrheitskriterien missbraucht, indem aus transzendentallogischen Grnden die Totalitt als das zu erkennende Objekt unterstellt wird. Fr die Vernunft, das oberste Erkenntnisvermçgen, gibt nun nach Kant nur die formale Logik einen Kanon ab, und nicht, wie fr den Verstand, auch die transzendentale Logik (vgl. im Vorigen 1.2.2). Indem nmlich die Vernunft ihrem transzendentalen Grundsatz folgt, schließt sie auf das Unbedingte. Die Schlsse der reinen Vernunft auf das Unbedingte werden nun in der transzendentalen Dialektik als scheinbar entlarvt, als Fehlschlsse: sie sind dem transzendentallogischen Inhalt nach notwendige, dennoch der Form nach falsche Schlsse. Wie steht es aber mit dem negativen Werk der Entlarvung dieses Scheins? Der Schein beruht nach Kant keineswegs auf der Missachtung oder der falschen Anwendung von formallogischen Regeln, sondern auf dem Auslassen der transzendentalen Unterscheidung von Phaenomena und Noumena. Die Aufdeckung des Scheins kann daher nicht einer formallogischen Kritik berlassen werden, sondern ist das Werk der transzendentalen Kritik. Die Form der Schlsse ist ja unter Auslassen der transzendentalen Unterscheidung richtig. Nicht die Missachtung der Form, sondern das Vertrauen in dieser allein ist gerade das Tuschende.39 Es geht hier nmlich um den Objektbezug der Erkenntnis. Zur Beurteilung der Richtigkeit oder Falschheit reicht die formale Logik als Kanon nicht aus. Vielmehr ist die transzendentale Reflexion erforderlich, die die zwei Stmme der Erkenntnis (Anschauung und Begriff ) und damit auch die Phaenomena und die Noumena auseinander hlt (vgl. im Vorigen 3.4). Der Schein des Objektbezugs hat seinen Sitz im notwendigen transzendentalen Gebrauch der Vernunft. Hierin besteht auch der „transzendentale Grund, der Form nach falsch zu schließen“, sodass ohne die transzendentale Kritik der Schluss auf das Unbedingte nicht als Fehlschluss bestimmt werden kann. Es ergibt sich dabei allerdings eine Schwierigkeit fr Kants Verstndnis des Verhltnisses von logischer und transzendentaler Reflexion bzw. von formaler und transzendentaler Logik. Fr die Beurteilung der Erkenntnisse ihrer bloßen logischen Form nach ist nmlich nach Kant die bloß logische Reflexion allein zustndig, d. h. die Vergleichung der Begriffe abgesehen davon, ob und wie sich diese auf Gegenstnde beziehen (vgl. B 318). Das Verfahren, nach dem die transzendentaldialektischen Schlsse der Vernunft (im Bereich der Kosmologie oder auch der Psychologie) als Para39 Vgl. Refl 3303: „bloße form ist trglich, nicht blos der Vernunftschlsse“.
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logismen bestimmt werden, ist aber eigentlich mit dieser Vorlage unvereinbar: Die „Einerleiheit“ oder „Verschiedenheit“ im Mittelbegriff, wonach der Schluss der Form nach richtig oder eben falsch ist (ein Fehlschluss der Redeform, sophisma figurae dictionis), lsst sich ja nur unter Rekurs auf den Objektbezug und die transzendentale Kritik bestimmen. Im Fall der Antinomie der Vernunft kann nun diese Bemerkung weitergefhrt werden. Das Verfahren der Kritik ist ja in diesem Fall nicht dasselbe wie bei den beiden anderen Disziplinen der metaphysica specialis. Der kosmologische Schluss auf die Totalitt wird nicht gleich als Paralogismus bestimmt. Vielmehr verfngt die Logik des Scheins sich selbst (vgl. im Vorigen 3.5). Die Logik der trgerischen bloßen Form ist ja nur darauf bedacht, Widersprche zu vermeiden, und schließt, indem sie sich auf den Satz des ausgeschlossenen Dritten sttzt, von der Widerlegung einer Behauptung auf ihr Gegenteil. Dabei gert sie aber gerade in die Antinomie, in den zu vermeidenden Widerspruch. Gemß der skeptischen Methode sieht die Kritik solange nur zu, wie die Logik des Scheins von selbst in eine ausweglose Situation gert. Erst dann greift die transzendentale Kritik ein, um den Ausweg zu bieten. Die Form des Schlusses, die rein formallogisch zunchst einwandfrei war und nun von der transzendentalen Kritik problematisiert wird, war dabei apagogisch. Es wurde nicht direkt vom Bedingten auf das Unbedingte geschlossen, sondern ber das kontradiktorische Ausschlussverhltnis der beiden Behauptungen. Diese kontradiktorische Entgegensetzung erweist sich nun als eine nur scheinbare und in Wahrheit kontrre oder subkontrre. Der bloßen Form nach waren aber die dialektischen Oppositionen von echten Widersprchen nicht unterscheidbar. Durch eine bloß logische Reflexion, d. h. die Komparation der Prdikate, die den Gegenstandsbezug ausblendet, lsst sich gerade nicht bestimmen, ob eine echte, analytische, oder aber eine scheinbare, dialektische, Opposition vorliegt.40 Die bloße Form ist amphibolisch. Das gilt eigentlich auch in 40 In der Reflexion 5962 (der Jahre 1780 – 1789) unterscheidet Kant in Blick auf die erste Antinomie „die logische auflosung der antinomie“, wonach These und Antithese in Wahrheit im Verhltnis der kontrren Entgegensetzung zueinander stehen und beide falsch sein kçnnen, von der „transscendentale[n] auflosung der antinomie“, wonach beide Stze im Licht der transzendentalen Unterscheidung von Phaenomena und Noumena „eine unmogliche Bedingung enthalten“ und tatschlich beide falsch sind. Es wurde jedoch im Vorigen deutlich, dass schon die logische Auflçsung, d. h. die Bestimmung der wahren Natur der Entgegensetzung, auf nichts anderem beruht als auf der transzendentalen Auflçsung: nicht auf einer Bestimmung des Verhltnisses zwischen den Prdikaten, nach einer logischen
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Blick auf die im Vorigen (4.2.3) behandelte Unterscheidung von logischer (analytischer) und realer Entgegensetzung. Ob zwei der Form nach positive Prdikate einander real widerstreiten, lsst sich ja ohne Rekurs auf den Gegenstandsbezug nicht entscheiden. Es lsst sich aber eigentlich auch nicht aus der bloßen Form der Negation entscheiden, ob eine logische oder aber eine reale Entgegensetzung vorliegt. Um Kants eigenes Beispiel zu bemhen, lassen sich etwa „bel des Mangels (mala defectus) und bel der Beraubung (mala privationis)“ (NG 182) – d. h. bel, die wie Verneinungen oder aber wie negative Grçßen dem Guten entgegengesetzt sind – doch nicht der bloßen Form nach voneinander unterscheiden. Kants Konzept einer selbstgengsamen logischen Reflexion setzt aber voraus, dass bloße Begriffe, in Absehung von ihrem Gegenstandsbezug, hinsichtlich Einstimmung und Widerstreit verglichen werden kçnnen, ohne Bedenken darber, dass sie unter bestimmten Bedingungen dialektisch oder real entgegengesetzt sein kçnnten. In der transzendentalen Dialektik wird, nach dem Obigen, nicht nur die transzendentale, sondern auch die formale Logik zur Logik des Scheins. Die formale Logik kann nicht umhin, die dialektischen Oppositionen als Widersprche zu verbuchen und den tatschlichen Widerspruch im Weltbegriff zu bersehen, den die transzendentale Kritik nach Kant ans Licht bringt. Damit zeugt aber die transzendentale Dialektik gerade davon, dass sich Kants Bestimmung des Verhltnisses von formaler und transzendentaler Logik nicht wirklich aufrechterhalten lsst.41 Den Kanon fr die Vernunft kann nicht allein die formale Logik abgeben. Kant bestimmt die formale Logik als allgemeinen Kanon des Denkens, dessen Prinzip, der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, unbedingt gltig ist, d. h. abgesehen davon, ob und wie sich das Denken auf Gegenstnde bezieht (vgl. im Vorigen 1.2.3). Demnach muss rein analytisch, aus der Zergliederung der Gedanken, ohne Rekurs auf ihren Gegenstandsbezug, bestimmt werden kçnnen, ob ein Gedanke (Begriff bzw. Urteil) logisch mçglich (nichtwidersprchlich) sei oder dagegen ein absolut unmçglicher Gedanke (widersprchlich) sei, falls nmlich in diesem eine analytische Opposition liegt. Wenn sich aber ein echter Widerspruch nicht Vergleichung, sondern auf der Bestimmung der Natur des zugrunde gelegten Gegenstandes. 41 Vgl. hierzu Wolff, „Der Begriff des Widerspruchs in der ,Kritik der reinen Vernunft‘. Zum Verhltnis von formaler und transzendentaler Logik“; Sedgwick, „Hegel on Kant’s Antinomies and Distinction between General and Transcendental Logic“; Arndt, „Hegels Begriff der Dialektik im Blick auf Kant“, 109.
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analytisch, der bloßen Form nach, nachweisen lsst, dann ist die mçgliche Bedeutung, die die Tatsache haben kann, dass der Form nach ein Widerspruch vorliegt, gar nicht mehr selbstverstndlich. Ebenso wenig selbstverstndlich ist dann selbst die Unterscheidung von analytischer und dialektischer Opposition als echter und unechter Kontradiktion. In der Besprechung der zwei Arten der Antinomien wurde im Vorigen, insbesondere im Fall der mathematischen Antinomien, die Schwierigkeit aufgezeigt, die im Versuch Kants liegt, die dialektische Opposition als nur scheinbare Kontradiktion zu erweisen. Der bloßen Form nach – so lsst sich nun, etwas frei gegenber Kants eigenem Selbstverstndnis, das Fazit formulieren – kann nicht bestimmt werden, ob ein vermeidbarer Widerspruch vorliegt, der aufgrund eines subjektiven Fehlers entsteht und einfach eine Sackgasse der Argumentation darstellt, oder aber eine unvermeidliche Antinomie vorliegt, die eine nicht bloß subjektive Bedeutung hat und vielleicht produktiv sein kçnnte. 4.3.3 Die Produktivitt der Antinomie Der subjektiv unvermeidliche Schein des Gegenstandsbezugs wird nach Kant tatschlich produktiv, und zwar im unentbehrlichen regulativen Gebrauch der Ideen. Dieser Gebrauch hngt ja, wie gesehen (2.2.4), daran, dass der Schein des Bezugs auf ein Unbedingtes zwar nicht mehr betrgt, aber dennoch nicht verschwindet. Der formallogische Gebrauch der Vernunft bençtigt nmlich zu seiner Absttzung den transzendentalen Gebrauch, d. h. den Grundsatz, wonach zum Bedingten die ganze Reihe seiner Bedingungen gegeben sei. Der Grundsatz kann bloß nicht mehr objektiv, sondern nur subjektiv gltig sein: er kann gar keinen objektiven Grund der Reihe bestimmen, sondern nur dem Verstand die Richtung hin zur angestrebten Vollstndigkeit der Reihe weisen. Der Grundsatz der Vernunft kann sich nicht auf Objekte, sondern nur auf den Verstand selbst beziehen: er gibt nur die Regel ab, wie der Regress anzustellen sei, nmlich so, als ob die gesuchte Totalitt der Reihe an sich gegeben sei. Die Totalitt wird nicht (apodiktisch) bewiesen, sondern nur problematisch (hypothetisch) angenommen. Durch diese berichtigte Bedeutung ihres Grundsatzes kann die transzendentale Logik auch im Bereich der Vernunft in einem gewissen Sinne doch einen „Kanon“ (B 385) abgeben. Darauf wird das letzte Kapitel der Arbeit zurckkommen (5.2). Der transzendentale Grundsatz der Vernunft kann jedenfalls kein „constitutives“, sondern nur ein „regulatives Princip der Vernunft“ (B 537)
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sein. Er enthlt keine Bestimmung des empirischen, geschweige denn eines berempirischen, Objekts, sondern „ist eigentlich nur eine Regel“ (B 536) des eigenen Gebrauchs der Vernunft. Da das Unbedingte nicht […] gegeben wird, sondern bloß im Regressus […] aufgegeben werden kann: so behlt der gedachte Grundsatz der reinen Vernunft in seiner dergestalt berichtigten Bedeutung annoch seine gute Gltigkeit, zwar nicht als Axiom, die Totalitt im Object als wirklich zu denken, sondern als ein Problem fr den Verstand, also fr das Subject, um der Vollstndigkeit in der Idee gemß den Regressus in der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten anzustellen und fortzusetzen. (ebd.)
Das Unbedingte kann jedoch im Regress eben nicht erreicht werden, die Aufgabe der Vernunft kann eben nicht gelçst werden, das Problem bleibt „ein Problem ohne alle Auflçsung“ (B 384). Der Grund fr diese Unlçsbarkeit ist aber im Fall der kosmologischen Ideen die Antinomie, die unvermeidlich auftritt, wenn versucht wird, die Totalitt der Reihe zu denken, wenn nmlich die Vernunft die Idee „zu Stande bringen will“. Die psychologische sowie die theologische Idee enthalten dagegen keinen Widerspruch, sodass nach Kant „nicht das Mindeste […] uns hindert, diese Ideen auch als objectiv und hypostatisch anzunehmen“ (B 701). Der berempirische Gegenstand dieser Ideen kann zwar nicht erkannt werden, aber doch als ein Gegenstand gedacht werden und als das „Schema“ des regulativen Prinzips der Vernunft dienen (B 710). Was ist dann aber mit dem regulativen Prinzip im Fall der Antinomie? Die Antinomie der Vernunft beruht, nach dem Vorigen, auf einem Widerstreit der beiden Momente des Denkens, einem Widerstreit von Verstand und Vernunft: auf der Asymmetrie zwischen der Forderung der Vernunft nach Vollstndigkeit einerseits und den Verstandesregeln andererseits, unter denen die Reihe steht. Dieser unvermeidliche Widerstreit gipfelt in die zwei miteinander unvereinbaren Behauptungen. Das regulative Prinzip wird nun generell von der Seite der Antithesen geboten. Die Reihe soll, nach dem „Prinzip des Empirismus“, stndig erweitert werden, „als ob sie an sich unendlich und ohne ein erstes oder oberstes Glied sei“ (B 700). Es wurde jedoch gezeigt, dass diese Seite die Antinomie von Vollstndigkeit und Unendlichkeit und den Widerstreit von Verstand und Vernunft in sich selbst trgt. Die regulative Funktion der Idee speist sich aber gerade aus diesem, nun entschrften, Widerstreit: Die Forderung der Vernunft nach dem Unbedingten treibt den Verstand an, die Synthesis der Erfahrung ber jede im Regress erreichte Grenze weiterzufhren, whrend umgekehrt das Verlangen des Verstandes nach empirischer Bindung der
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Erkenntnis die Vernunft daran hindert, den Regress zu verlassen, die Reihen der Erfahrung zu berfliegen. In diesem Sinne wird im regulativen Gebrauch der Vernunft ihre Antinomie selbst produktiv. Die innere Gegenlufigkeit des Grundsatzes der Vernunft, die zu den zwei konstitutiven, „vernnftelnden“ Behauptungen gefhrt hat, wird gebeugt in die Regel des Regresses: Die Fortsetzung des Regresses beruht einerseits darauf, dass die Totalitt in Aussicht gestellt wird, und andererseits darauf, dass die Erwartung stndig enttuscht wird, dass nmlich jeder vermeinte Abschluss einer Bornierung gleichkommt, die den Weg zur Totalitt gerade sperrt. Die unablssige Forderung nach dem Unbedingten wird damit gebeugt in eine unablssige Kritik des Scheins, d. h. in die Kritik eines jeden vermeintlichen Ersten, ob dieses naturalistisch oder aber im Sinne einer transzendenten Metaphysik gedacht wird, ob eine empirisch erreichte Grenze als absolute Grenze gedeutet wird oder aber ein hyperphysischer Abschluss dogmatisch postuliert wird. Im unabschließbaren Regress findet eine unabschließbare wechselseitige Kritik von Verstand und Vernunft statt. Der Widerstreit der beiden Momente des Denkens kann ja nicht einfach beseitigt werden. Die Auflçsung des Streits der „vernnftelnden“ Parteien schafft vielmehr eine Form, worin sich der Widerstreit bewegen kann. Es gilt nun kurz zu betrachten, wie diese Form in den beiden Fllen (a) der mathematischen und (b) der dynamischen Antinomien aussieht. (a) Die Auflçsung der beiden mathematischen Antinomien postuliert jedes Mal, nach dem berichtigten „Principium des Empirismus“, einen potentiell unendlichen Regress. Dieser beruht jedoch, wie gesehen, gerade auf dem entschrften Widerstreit. Im Fall der zweiten Antinomie tragen sogar beide Seiten, und nicht nur die Seite der Antithese, eine regulative Funktion. Die Antithese fungiert regulativ insofern die Materie unter dem Gesichtspunkt der bloßen Raumerfllung betrachtet wird. Dann wird „die Erscheinung als quantum continuum“ angesehen: sie wird betrachtet, als ob die unendliche Teilung mçglich wre. Ein organischer, d. h. „gegliederte [r] Kçrper“, dessen Teile eben gegliedert und nicht bloß zusammengehuft sind, wird aber „als quantum discretum“ angesehen. Eine Gliederung ins Unendliche wrde dann eine vollzogene unendliche Teilung voraussetzen, die ja unmçglich ist, daher mssen „in der mçglichen Erfahrung“ erste, unorganische Teile angenommen werden, wenn auch die wirkliche Erfahrung solche nicht aufweist (B 555).42 Diese Teile wren dann natrlich, 42 Damit wehrt Kant einen „Panorganizismus“ in der Leibniz-Nachfolge ab. Vgl. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II, 327 ff. – Mit diesem Problem der zweiten
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nach dem gltigen regulativen Prinzip der Antithese, als Erscheinungen im Raum prinzipiell immer weiter teilbar. Der potentiell unendliche Regress betrifft aber nur die Teilung der Materie als rumlich ausgedehnter, als extensiver Grçße, und nicht ihre Gliederung. Im Fall des ersten Weltbegriffs, des Weltganzen, geht der Regress „in unbestimmbare Weite“ (in indefinitum). Im Fall des zweiten Weltbegriffs, der Teilung eines gegebenen Ganzen, geht er doch „ins Unendliche“ (in infinitum), wenngleich das Unendliche auch dann nie aktuell gegeben ist (B 541; vgl. im Vorigen 2.2.4). In beiden Fllen impliziert die kantische Lçsung, dass der eigentliche Ort des Unendlichen die ideale Welt der Mathematik ist.43 „Der wahre (transscendentale) Begriff der Unendlichkeit“ ist nmlich nach Kant dadurch bestimmt, „daß die successive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantum niemals vollendet sein kann.“ Aus dieser Bestimmung ergibt sich „der mathematische Begriff des Unendlichen“, als der Begriff „eine[r] Menge (von gegebener Einheit), die grçßer ist als alle Zahl“ (B 460). Raum und Zeit – die Medien der mathematischen Konstruktionen – sind wohl (im Großen wie im Kleinen) aktuell-unendliche Grçßen: sie werden vorgestellt als „unendliche gegebene Grçße[n]“ (B 39) bzw. als „unendliche Menge[n]“ (B 40). Als solche Grçßen sind aber Raum und Zeit nur „entia imaginaria“, nmlich leere Formen der Anschauung (vgl. B 347 ff ). Aus der Anwendung der mathematischen Idealitt auf die empirischen Bedingungen zur Komposition der realen Welt entsteht dagegen die Antinomie.44
Antinomie, ebenso wie mit der Frage der dritten Antinomie nach der Erstreckung des Kausalprinzips, wird jedenfalls die sptere Antinomie der teleologischen Urteilskraft vorweggenommen. Nach der Kritik der Urteilskraft muss nmlich die teleologische Urteilskraft gemß zwei regulativen Maximen verfahren, die einander entgegengesetzt und dennoch beide gltig sind: insofern nicht alle Naturprodukte nur als rumliche Aggregate unter mechanischen Gesetzen (nach Kausalursachen) betrachtet werden drfen, sondern mindestens einige davon auch als gegliederte, zweckmßige Ganzheiten (nach Finalursachen) beurteilt werden mssen (vgl. KU § 70). 43 Vgl. Stekeler-Weithofer, Art. „Dialektik“, 246. Zu Kants Begriff des Unendlichen vgl. Falkenburg, Kants Kosmologie, 164 ff. 44 Was die erste Antinomie betrifft, so hatte dagegen Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 die aktuale Unendlichkeit der Welt „sowohl dem Raume, als der Zeit nach“ gelehrt (NTH 306 ff.). Was die zweite Antinomie betrifft, so hatte die Physische Monadologie von 1756 das Bestehen der Kçrper aus physischen Monaden gelehrt, trotz der unendlichen Teilbarkeit des Raumes, den diese Monaden erfllen (MoPh 477, 480).
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(b) Bei den dynamischen Antinomien wird ebenfalls nach dem „Principium des Empirismus“ ein potentiell unendlicher Regress postuliert, wobei die intelligiblen ersten Grnde, welche die Thesen fordern, nicht geleugnet, sondern außerhalb der Reihe verortet werden. Der Regress wird zum Behuf der fortschreitenden empirischen Erkenntnis angestellt, als ob die dynamischen Weltreihen an sich unendlich seien. Doch dort, „wo die Vernunft selbst als bestimmende Ursache betrachtet wird“, wird er dann andererseits, zum Behuf des praktischen Handelns, so angestellt, als ob die Reihen einen intelligiblen ersten Grund htten (B 713). Eine nhere Betrachtung der dritten Antinomie ergibt nun aber, dass hier beide Seiten, These und Antithese, nicht bloß eine regulative Funktion ausben, sondern eigentlich beide von konstitutiver Bedeutung fr die Mçglichkeit der theoretischen Erfahrungserkenntnis selbst sind. Die Antithese besagt nmlich im Grunde nichts anderes als der Verstandesgrundsatz der Kausalitt, die zweite Analogie der Erfahrung (vgl. B 232 ff.): dass die Synthesis der Erscheinungen zu einem nexus keine Ausnahmen gestattet. Auf der anderen Seite beinhaltet die These nicht bloß die Behauptung einer ersten Ursache, eines ersten Gliedes der Reihe. Vielmehr ist die behauptete Selbstttigkeit der Vernunft auch dasjenige, worin das Kausalprinzip selbst, d. h. die Regel, nach der die Reihe aufgebaut ist, allein grnden kann. Die Behauptung der These steht dann nicht nur fr den Abschluss, sondern schon fr die Ordnung und Einheit der Reihe. Damit ist aber die Behauptung der These zugleich die Voraussetzung fr die Geltung der Antithese. Die transzendentale Freiheit bzw. die Spontaneitt des Subjekts ist ja – nach der Lehre des transzendentalen Idealismus – die Bedingung der Gltigkeit der Kategorien und Grundstze, darunter des Kausalprinzips (vgl. Refl 4904, 5441, 5121; B 575). „Wenn wir der Tuschung des transscendentalen Realismus nachgeben wollen, so bleibt weder Natur, noch Freiheit brig.“ (B 571). These und Antithese sind daher im Grunde nicht nur einander entgegengesetzt, sondern implizieren sich auch gegenseitig.45 Dieses Verhltnis verschrft wohl die Unver45 Zu dieser „Tiefenstruktur der Kantischen Freiheitsantinomie“ vgl. Ritsert, Kleines Lehrbuch der Dialektik, 67 ff.. Die logische Struktur des wechselseitigen Ausschlusses (Negation) und zugleich der wechselseitigen Implikation nennt Ritsert im Anschluss an Thomas Kesselring „strikte“ oder „produktive Antinomie“ (72). Produktiv ist diese Struktur, insofern sie Prozesse in Gang zu setzen und zu halten vermag. – Zum Begriff der strikten Antinomie vgl. Kesselring, Die Produktivitt der Antinomie. Hegels Dialektik im Lichte der genetischen Erkenntnistheorie und der formalen Logik, 98 ff. Der Ausdruck „strikte Antinomie“ ist Diskussionen entlehnt um die logischen bzw. semantischen Antinomien, die in der mathematischen Logik
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meidlichkeit der Antinomie. Nach Kants Auflçsung der Antinomie ist natrlich, wie gesehen, die Entgegensetzung von These und Antithese nur scheinbar widersprchlich: Das selbstttige und durch seine Selbstttigkeit die Einheit der Reihe bedingende Subjekt wird von der Reihe der bedingten Erscheinungen getrennt. Was endlich die vierte Antinomie angeht, so wurde im Vorigen darauf hingewiesen, dass sie in ihrer Struktur von den brigen abweicht. Es steht hier nmlich nicht auf der Seite der These die Behauptung eines ersten, die Reihe abschließenden, Gliedes und auf der Seite der Antithese die Behauptung der unendlichen Totalitt. Vielmehr spaltet sich die These in zwei Behauptungen auf: das unbedingt Notwendige sei entweder ein Teil, d. h. ein erstes Glied, der Reihe oder aber „die ganze Weltreihe selbst“ (B 482), wobei dann alle ihre Teile als solche zufllig seien. Dagegen besteht die Antithese darauf, dass eben alle Teile zufllig sind und die Reihe keinen Abbruch duldet. Wie nun These und Antithese in ihrer Formulierung vom allgemeinen Schema abweichen, so auch in ihren Beweisen. Bei den brigen Antinomien werden nmlich These und Antithese apagogisch bewiesen: die These jeweils aus einem Widerspruch in der Verbindung von Totalitt und Unendlichkeit, und die Antithese aus der Unmçglichkeit des Abbruchs der Reihe. Im Hinblick auf den zweiten Teil der These, der einer pantheistischen Position entspricht, kann aber hier diese Strategie nicht helfen. Der Beweis der These schließt deshalb vielmehr direkt, und der der Antithese praktisch auch. Sie schließen sogar „aus eben demselben Beweisgrunde“ (B 487): Daraus, dass die ganze Reihe der Bedingungen nichts außer sich lsst, schließt der Verfechter der These darauf, dass die Reihe das Unbedingte (als einen Teil oder als die Ganzheit selbst) enthlt, und derjenige der Antithese darauf, dass eben außer den bedingten Gliedern nichts ist. Dieser „seltsame[] Contrast“ (ebd.) verschrft wohl auch in diesem Fall die Unvermeidlichkeit der Antinomie. Die Lçsung bietet noch und Grundlagenforschung des 20. Jh. aufgetaucht sind. Die entsprechende Struktur kann aber auch auf Hegels Dialektik bezogen werden, auf Hegels Begriffe der Negativitt und des Widerspruchs (vgl. ebd. 112 ff.). – In Bezug auf alle vier kantischen Antinomien gilt, dass ihr im Vorigen (4.3.1) herausgearbeiteter Kern als eine strikt antinomische Struktur bezeichnet werden kann. Wird nmlich der Grundsatz der Vernunft auf die Reihe der Synthesis der Erscheinungen angewandt, so impliziert die Totalitt der Reihe deren Unendlichkeit, whrend die beiden Bestimmungen zugleich einander negieren. Deshalb ist die Antinomie ja unvermeidlich, und keine beliebige Konjunktion von unvereinbaren Behauptungen. Deshalb kann die Antinomie auch produktiv werden, indem das Verhltnis von Totalitt und Unendlichkeit zum Motor eines Prozesses wird.
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einmal einzig die Trennung: These und Antithese kçnnten beide wahr sein, wenn der unbedingte Grund weder als ein erstes Glied noch als die ganze Reihe selbst angesehen wird, sondern außerhalb der Reihe angenommen wird. Dieser Grund wird dann als der intelligible Grund der ganzen Sinnenwelt angenommen, als der transzendentale Grund der ganzen Reihe der Erscheinungen. Er stellt das objektive Korrelat dar zum transzendentalen Grund der Einheit der Reihe im Subjekt (vgl. B 591 ff.). Auch im Fall der vierten Antinomie bietet die Antithese das regulative Prinzip fr die fortschreitende empirische Forschung, die immer nur mit bedingten Erscheinungen zu tun hat. Die Auflçsung schafft jedoch wohl auch Raum fr die Wahrheit der These. Diese weist hin auf das regulative Prinzip der theologischen Idee: Die Erscheinungen sind zwar zu betrachten, als ob ihr Zusammenhang wechselseitiger Abhngigkeit eine absolute Einheit ausmache, aber zugleich als ob der letzte Grund dieses durchgngigen Zusammenhangs (nach reinen und empirischen Gesetzen) außerhalb der Erscheinungen selbst zu finden sei, und zwar in einer absoluten „ursprngliche[n] und schçpferische[n] Vernunft“ (B 700).46 Auf den regulativen Gebrauch dieser Idee bezieht sich dann in erster Linie Kants „Anhang zur transzendentalen Dialektik“ (B 670 ff.). Darauf wird das letzte Kapitel der Arbeit eingehen (5.2.2). Insofern der Bezug der bedingten Erkenntnis auf die Totalitt der Bedingungen unentbehrlich ist, wird nach Kant die Forderung der Vernunft im Modus des Als ob fr die fortschreitende empirische Erkenntnis produktiv. Damit wird aber auch der unvermeidliche Widerstreit von Verstand und Vernunft ebenso produktiv, und zwar als Motor des Regresses. Der Schein des Widerspruchs, worin der Widerstreit gipfelte, wird aber aufgelçst durch die Trennung des Bedingten vom Unbedingten, die Trennung von Phaenomena und Noumena: Die Totalitt der Reihe der Bedingungen, in welcher allein die Vernunft das Unbedingte suchen kann, welche aber die einander widersprechenden Bestimmungen nach sich zieht, hat nur scheinbar ein Bestehen. 46 An anderer Stelle wird das regulative Prinzip, worin die angemessene Bedeutung des Ideals der reinen Vernunft besteht, dahingehend formuliert, dass eben im unendlichen Regress beide Seiten der vierten Antinomie regulativ fungieren: Das notwendige Urwesen muss außerhalb der Welt gesetzt werden, „da wir denn die Erscheinungen der Welt und ihr Dasein immer getrost von anderen ableiten kçnnen, als ob es kein nothwendiges Wesen gbe, und dennoch zu der Vollstndigkeit der Ableitung unaufhçrlich streben kçnnen, als ob ein solches als ein oberster Grund vorausgesetzt wre.“ (B 646 f.)
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Demnach unterscheidet Kant die unvermeidliche Antinomie als dialektische Opposition, als nur scheinbaren Widerspruch, von der echten Kontradiktion, der analytischen Opposition. Das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs wird daher durch die Antinomie gar nicht verletzt. Das Prinzip gilt nach Kant nicht nur formal, nmlich als Bedingung jedes logischen Gedankengangs. Als solches Prinzip wird es natrlich auch in den Beweisgngen der beiden Seiten der Antinomie vorausgesetzt und respektiert, die trotzdem diese Antinomie zustande bringen. Das Prinzip besitzt nach Kant vielmehr auch „transscendentale Gltigkeit“ (E 193). Diese erstreckt sich sogar nicht nur auf die Gegenstnde des Verstandes, auf die Erscheinungen als Gegenstnde der gltigen Erkenntnis. Das Prinzip ist keine transzendentale Bedingung der mçglichen Erfahrung, kein synthetischer Grundsatz, und bedarf deshalb wohl auch keines Beweises.47 Gerade weil es als Prinzip der formalen Logik rein analytisch feststeht und von allem Objektbezug absieht, gilt es nach Kant vielmehr von allen mçglichen Objekten des Denkens. Es gilt daher, als solches transzendentales (ontologisches) Gesetz, auch im Bereich der Vernunft, die auf den Verstand und seine Erkenntnis reflektiert. Der Vernunftbegriff der absoluten Totalitt bringt zwar mit sich die Antinomien; diese werden aber aufgelçst, indem der Bereich der Vernunft als Bereich der Noumena vom Bereich der Phaenomena und des gltigen Wissens unterschieden wird. Die Gegenstnde ihrer Ideen kann die Vernunft als intelligible Grnde der Erscheinungen dann zwar nicht erkennen, aber doch widerspruchsfrei und hypostatisch als solche Noumena denken. Die Auflçsung der Antinomie durch die Trennung von Phaenomena und Noumena erlaubt, auch im Bereich der sich auf sich und nicht auf Gegenstnde der Erfahrung beziehenden Vernunft die ,natrliche Ontologie‘ aufrechtzuerhalten (vgl. im Vorigen 2.2.4), sodass die traditionellen metaphysischen Gegenstnde (Freiheit des Willens, notwendiges Wesen) als Noumena gerettet werden. In der Diskussion des vorigen Abschnitts (4.3.2) wurde jedenfalls die Schwierigkeit aufgezeigt, die in Kants Versuch liegt, analytische und dialektische Opposition als echte und unechte Kontradiktion voneinander 47 Der Satz des Widerspruchs ist nach Kant der oberste Grundsatz aller analytischen Urteile (vgl. B 189 ff.). Er wird den synthetischen Grundstzen des reinen Verstandes vorangestellt, deren Beweise und deren oberster Grundsatz sich auf der transzendentalen Deduktion der Kategorien sttzen. Zur Schwierigkeit bezglich der Analytizitt des Satzes vom Widerspruch selbst vgl. Wolff, „Der Begriff des Widerspruchs in der ,Kritik der reinen Vernunft‘“ sowie die daran anschließende Diskussion im selben Band.
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abzuheben und die absolute Gltigkeit der formalen Logik rein analytisch zu rechtfertigen. In den Hnden des Verstandes, insofern dieser in der Totalisierung seiner Erkenntnis seinen Gesetzen blind gehorcht, wird auch die formale Logik zur Dialektik, zur Logik des Scheins. Die Vernunft, die auf den Verstand reflektiert, kann den Ausweg eigentlich nur bieten, indem sie die logischen Gesetze als formal erkennt und die Bedeutung der logischen Formen (der Form des Widerspruchs) vom Gegenstandsbezug abhngig macht. Die Schwierigkeit betrifft nun auch den Ausweg selbst: die Trennung des Erkennbaren vom bloß Denkbaren. Die kosmologischen Ideen kçnnen nmlich ohne den Widerspruch gar nicht zustande gebracht werden. Das Unbedingte in der kosmologischen Reihe kann gar nicht gedacht werden ohne die Antinomie, denn es meint ja die Vervollstndigung der Synthesis des Verstandes.48 Im Fall der psychologischen und der theologischen Idee konnte sich dagegen die Vernunft von der Synthesis des Verstandes loslçsen, und ihren Als-Ob-Gegenstand im bloßen Denken widerspruchsfrei bestimmen. Im Fall der mathematischen Weltbegriffe ist das berhaupt nicht mçglich. Ein intelligibler Grund kann nur außerhalb der Reihe als vçllig unbestimmter gedacht werden. Im Fall der dynamischen Weltbegriffe wird zwar der unbedingte Grund problematisch als selbstttig bestimmt, als ungleichartige Ursache oder Prinzip der Reihe. Er wird aber außerhalb der Reihe gedacht, damit nur negativ als etwas Nichtzeitliches bestimmt. Der Grund kann gar nicht positiv als solche Ursache oder Prinzip bestimmt werden, sein Verhltnis zur Reihe kann gar nicht positiv als ein Verhltnis von Bedingung und Bedingtem bzw. von Ursache und Wirkung bestimmt werden, ohne dass damit wieder die antinomische Totalitt aufgestellt wird. Die dem Begriff einer absoluten Totalitt innewohnenden Antinomien kann Kant nur um den Preis vermeiden, dass der Gegenstand der Idee in ein problematisches Jenseits der Erfahrung gerckt wird. Daraus ergibt sich ein hnliches Resultat wie bei der Diskussion der Paralogismen und des Ideals: Gerade die Weise, wie die Antinomie aufgelçst wird, verfestigt die Vergegenstndlichung des Unbedingten.
48 Der kosmologische Weltbegriff der Kritik ist gerade nicht „[…], wenn man Widerspruchsfreiheit fordert, ein intelligibles Konzept ohne jede Bedeutung, d. h. der leere Begriff eines ens rationis“, wie Falkenburg annimmt (Kants Kosmologie, 201).
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4.4 Schein – Erscheinung – Wahrscheinlichkeit (II) Der Begriff des notwendigen, transzendentalen Scheins ist der Kernbegriff der transzendentalen Dialektik. Er steht im Zentrum ihrer negativen Lehre, von den unvermeidlichen Fehlschlssen und den Widersprchen der reinen Vernunft, ebenso wie ihrer positiven Lehre, vom unentbehrlichen regulativen Gebrauch der Vernunftbegriffe. Der Schein verschwindet nicht. Deshalb kann er eine positive Funktion erlangen; er droht aber auch immer von neuem mit „Verirrungen“ (B 355). Die Vorstellung, dass die absolute Einheit der Verstandeserkenntnis in einem bersinnlichen Objekt grnde, dient als Schema des regulativen Vernunftgebrauchs; ohne dass die Vernunft einen solchen Grund tatschlich setzen darf. Kant bezeichnet die Ideen als „nothwendige Probleme oder Fragen“ (Refl 5553). Sie seien ein „chtes Product oder Problem der reinen Vernunft“ (B 392). Das Problem liegt in der Natur der Vernunft. Es ist in seiner Entstehung unabweisbar, und es bleibt auch ebenso notwendig ein Problem. Ein Problem bedeutet hier wohl auch Aufgabe: die Ideen sind aufgegeben. Diese Aufgabe kann aber nicht drauflos angegangen werden, sondern steht eben im Spannungsfeld der Dialektik als eines sisyphischen Unternehmens. Die Erfahrung weist von sich ab, zum Unbedingten. Dort scheitert aber die Vernunft im Versuch, Fuß zu fassen, und wird auf die Erfahrung zurckverwiesen. Die Vernunft fordert nmlich zum Bedingten mit allem Recht das Unbedingte. Indem sie aber dabei das Feld der Erfahrung verlassen muss, endet ihr Ausgriff darin, dass sie sich in Antinomien oder aber mindestens in leere Behauptungen verwickelt. Der Bezug auf das Unbedingte ist notwendig, und dennoch Schein. Der Begriff des notwendigen Scheins markiert den fragilen Status des Bereichs der Ideen.49 Die Ideen sind einerseits keine Hirngespinste, keine Begriffe von beliebigen, imaginren Gegenstnden. Vielmehr ist das Bedingte als solches angewiesen auf den Gedanken des Unbedingten. Andererseits bezeichnen die Ideen gar nicht ohne weiteres das wahre Sein jenseits der Erscheinungen.50 Das Gebiet der Erscheinungen als Insel der Wahrheit umgibt vielmehr der Ozean des Scheins (vgl. B 295), der den Ideen notwendig anhaftet. Der transzendentale Schein besteht ja darin, dass die Vernunft, 49 Vgl. hierzu die schçnen Ausfhrungen Adornos in der Negativen Dialektik, 385 f. 50 Das ist der Standpunkt der sogenannten metaphysischen Kantdeutung. Vgl. u. a. Martin, Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie (insbes. Kap. V: Die Weisen des Seins, 151 ff.); Picht, Kants Religionsphilosophie (zum „wahren Sein“ etwa 586).
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ihrem Grundsatz und ihrem Bedrfnis nach, vom Bedingten auf das Unbedingte schließt. Der Schluss ist zwar subjektiv notwendig, aber auch nur subjektiv gltig. Er fhrt nicht bloß zu keiner Erkenntnis, sondern erlaubt der Vernunft berhaupt nicht, sich auf einen bersinnlichen Gegenstand zu beziehen, geschweige denn auf die Bedingung unserer Sinnlichkeit, nmlich auf dasjenige Ansich, „was da erscheint“ (B XXVII). Diese Spannung wurde schon im Vorigen erlutert (4.2.3). Im Vorigen wurde auch schon festgehalten, dass Kant den Schein, als das Thema der Dialektik, von zwei weiteren Begriffen unterschieden weiß: (a) von der Erscheinung sowie (b) von der Wahrscheinlichkeit (1.3; vgl. B 349). Es kann nun nher darauf eingegangen werden, was diese Abgrenzung bedeutet. (a) Durch die Ideen kann kein Gegenstand bestimmt werden, da ihnen jeder Anschauungsbezug fehlt und sie daher nicht dargestellt werden kçnnen. Ihnen kann keine kongruierende sinnliche Anschauung zur Seite gestellt werden. Diese Erforderung der Darstellung (exhibitio) der Begriffe (vgl. KU 192; EEKU 220; FM 325) kann fr die Ideen nicht erfllt werden, anders als fr die empirischen Begriffe oder aber auch fr die Kategorien, denen die Schemata der Urteilskraft zur Verfgung stehen. Der transzendentale Schein ist daher keine Erscheinungsform eines bersinnlichen Gegenstandes, keine Erscheinungsform des Unbedingten. Im Gegensatz zu der Erscheinung wird der Schein dahingehend bestimmt, dass „hinter dem nichts wahres ist“ (Refl 5395). Der transzendentale Schein ist ein „Phnomen des Verstandes“ (B 609); sein notwendiges Produkt, aber keine Erscheinung von etwas außerhalb diesem. Der unvermeidliche Schein des Widerspruchs bei den Antinomien ist nach Kant, wie gesehen, nur der Index eines subjektiv unumgnglichen Problems und hat keine objektive Bedeutung: etwa als Vorschein eines Unbedingten, das sich seiner Vergegenstndlichung entzieht.51 Wenn aber die „Darstellung von Ideen […b]uchstblich genommen und logisch betrachtet“ unmçglich ist, so ist diesem Bedrfnis doch auf eine negative Weise in der sthetischen Sphre nachzukommen (KU 268). Es ist nmlich gerade die „Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen lsst“ (KU 245). Das Unvermçgen der Einbildungskraft, in einer sinnlichen Vorstellung die Totalitt der Natur zu erreichen, d. h. dem 51 Vgl. hierzu Arndt, Dialektik und Reflexion, 62; ders., „Hegels Transformation der transzendentalen Dialektik“, 57. Zur Umdeutung der Figur in den nachkantischen Diskussionen vgl. ders., „Hegels Begriff der Dialektik im Blick auf Kant“, 111; ders., Dialektik und Reflexion, 121.
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Vernunftbegriff zu kongruieren, und ihre vergebliche Bestrebung danach kçnnen als die Darstellung der Idee gedacht werden. Die Kritik der Urteilskraft bestimmt nmlich das mathematisch oder dynamisch Erhabene als einen Gegenstand der Natur, dessen Vorstellung diese Bestrebung und das Gefhl der „Unerreichbarkeit“ der Totalitt provoziert (KU 268). Von den Ideen sind berhaupt nur „indirecte Darstellungen“ mçglich. Kant unterscheidet das Symbol einer Idee vom Schema, das einen reinen Verstandesbegriff direkt darstellt. Dem Vernunftbegriff korrespondiert zwar keine sinnliche Anschauung; ihm kann aber eine solche untergelegt werden, die ihn „nur symbolisch vor[]stellt“: nur „vermittelst einer Analogie“ zwischen den Regeln, wie wir ber den bestimmten sinnlichen Gegenstand und ber den bersinnlichen Gegenstand der Idee reflektieren (KU 352). (b) Die Dialektik als Logik und Kritik des Scheins ist keine Logik der Wahrscheinlichkeit, wie in der aristotelischen, topischen Tradition, welcher Kant den Begriff der Dialektik entlehnt. Im Gegensatz zum „Scheinbaren (verosimile)“ bezeichnet fr Kant die Wahrscheinlichkeit (probabile) eine „Modalitt des Frwahrhaltens“, bei der durch einen graduellen Fortschritt ber gleichartige Grnde „eine Annherung zur Gewißheit mçglich ist“. Ein solcher Fortschritt und eine solche Annherung zur Gewissheit kann aber nicht stattfinden in Bezug auf die Erkenntnis des bersinnlichen Gegenstandes der Idee, der „von dem sinnlich Erkennbaren, selbst der Species nach (toto genere) unterschieden“ ist (FM 299). Das Unbedingte wird nur in der Vernunft selbst angetroffen. Der Grundsatz, wonach die Vernunft auf das Unbedingte schließt, ist wohl scheinbar objektiv und apodiktisch und in Wahrheit nur subjektiv und hypothetisch gltig. Empirische Erkenntnisgrnde sind aber hier unmçglich, und jeder Rekurs auf eine andere Erkenntnisquelle, etwa auf ein Gefhl, bleibt der bloßen, nicht mitteilbaren, Subjektivitt verhaftet. Das Unbedingte kann daher nicht durch wahrscheinliche Schlsse angenhert werden. Die Wahrscheinlichkeit bedeutet nmlich eine partielle objektive Erkenntnis, wogegen im Feld des bersinnlichen nur subjektive Grnde angefhrt werden kçnnen.52 Der Mittelweg, den etwa der „vornehme“ 52 Vgl. Refl CLXXXI E 54 zu A 642 [s. B 670] in Kants Handexemplar der Kritik: „Ob, wenn es keine Demonstration vom Daseyn Gottes giebt, nicht wenigstens eine große Probabilitt gebe. Diese ist des Objects gar nicht wrdig, auch auf diesem Wege gar nicht mçglich. Probabilitt im absolut Nothwendigen ist widersprechend. Alle Nothwendigkeit einer Sache als Hypothese ist subjectiv, nmlich Vernunftsbedrfnis unserer Speculation.“ (AA 23, 43.) Vgl. Refl 2672:
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Gefhlsphilosoph J.G. Schlosser zwischen den dogmatischen Beweisen und dem skeptischen Verzicht einschlagen will, bringt nach Kant daher gar nichts: Der Moderatism, welcher auf die Halbscheid ausgeht, in der subjectiven Wahrscheinlichkeit den Stein der Weisen zu finden meint und durch Anhufung vieler isolirten Grnde (deren keiner fr sich beweisend ist) den Mangel des zureichenden Grundes zu ersetzen whnt, ist gar keine Philosophie (VNAEF 415; vgl. VT 396 f. Anm.).
Auch der unendliche Regress, den die Ideen regulativ leiten, ist keine unendliche Annherung an das Unbedingte. In Fall der psychologischen und der theologischen Idee liegt ja der Als-Ob-Gegenstand der Idee jenseits der Reihe der empirischen Bedingungen. Im Fall der kosmologischen Ideen geht es doch nur um die Reihe der Erscheinungen. Bei den dynamischen Weltbegriffen ist aber die gedachte unbedingte Bedingung ganz „ungleichartig“ im Vergleich zu den Bedingungen in der Reihe und kann daher im Rckgang durch diese gar nicht nher gebracht werden. Im Fall der mathematischen Weltbegriffe spricht zwar Kant an peripheren Stellen von einer Annherung zur Idee (vgl. Refl 2840; Logik 92). Die gesuchte Totalitt kann aber auch in diesem Fall nicht wirklich stndig nher gebracht werden. Das Verlangen nach der Totalitt ist vielmehr in sich antinomisch. Statt einer unendlichen Annherung bedeutet der Regress eher die unendliche Enttuschung der unnachgiebigen Forderung. Im unendlichen Regress findet, wie gesehen, in allen Fllen eine unendliche wechselseitige Kritik von Verstand und Vernunft statt: Der Verstand erweist sich ad infinitum unfhig, der berechtigten Forderung der Vernunft nachzukommen. Seine Synthesis ist dafr stets „zu klein“, und das zwingt zum stndigen berschreiten der jeweils empirisch erreichten Grenze. Umgekehrt darf die Vernunft die Synthesis des Verstandes nicht berfliegen, sodass das Hinausgehen ber jede Grenze nur als Fortsetzung des Regresses geschieht. Darin besteht aber die kritische Auflçsung der Dialektik. Die Vernunft strzt nicht in die skeptische Resignation, sondern hlt sich an die Idee ihres unbedingten Grundes als die Aufgabe, die sie sich selbst stellt. Die Vernunft hlt sich an ihren Grundsatz; an denselben Grundsatz, der den Schein erzeugt. Die Logik des Scheins schlgt aber in die Kritik des Scheins um. Die unablssige Forderung nach dem Unbedingten wird zur Kritik des bestndigen Scheins, dass sie schon erfllt sei. „Es giebt keine Warscheinlichkeit in Urtheilen der reinen Vernunft ber Ideen und deren realitaet.“
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4 Das Verfehlen des Unbedingten
Die berechtigte Forderung der Vernunft kann weder innerhalb der Erfahrung noch irgendwo außerhalb ihrer noch annhernd befriedigt werden. Die Vernunft wendet sich aber gegen ihre eigene Faulheit und Verkehrung:53 gegen das Beharren in partikularen Wissensgebilden, sowie gegen jede dogmatische Versicherung, dass sie jenseits der Erfahrung schon befriedigt sein kçnnte. Der unendliche Aufstieg zum Unbedingten wird zur unendlichen Kritik des Scheins. Die transzendentale Dialektik begrndet damit eine kritische, negative Metaphysik (vgl. im Folgenden 5.4).
4.5 Die Selbstbegrenzung der Vernunft Als im Vorigen (Kap. 3) der architektonische Aufbau der Kritik der reinen Vernunft behandelt wurde, wurde die These vertreten, dass die Begrenzung der Vernunft eigentlich erst in der transzendentalen Dialektik erfolgt. In der transzendentalen sthetik und Analytik kann nmlich die Grenze der Erkenntnis nur als Schranke in den Blick treten (vgl. 3.3.2). Es wird dort angenommen, dass Raum und Zeit als subjektive Formen der Anschauung nur Erscheinungen und keine Dinge an sich auffangen kçnnen, und dass ebenso die Kategorien, die auf diese Formen angewandt werden mssen, bis zum Ansich nicht vorstoßen kçnnen. In der Dialektik, und namentlich in der Antinomie, wird dagegen die Grenze im eigenen Fortgang der Vernunft erreicht. In ihrem eigenen Fortgang, im Rckgriff auf ihre Bedingungen, stçßt die Verstandeserkenntnis auf den Widerspruch. Dadurch zeigt sich, dass der Preis fr die Zusammenstimmung der Vernunft bzw. des Verstandes mit sich die Unvollstndigkeit der Erkenntnis ist. Die Vernunft muss sich selbst begrenzen; sie muss im Denken einen Raum außerhalb der gltigen Erkenntnis freihalten. Sie wird nicht von einem Anderen begrenzt, zu dem der Weg einfach gesperrt sei. Es gilt nun noch einmal zu betrachten, wie diese Begrenzung vor sich geht. Das Geschft der Vernunft ist, nach dem Vorigen, wie die Arbeit des Sisyphos. Das vergebliche Bemhen, das Unbedingte zu erreichen, machte nach Kant aus der Wissenschaft der Metaphysik „das durchlçcherte Faß der Danaiden“ (FM 310). Es ist, kçnnte man sagen, die Hybris der endlichen Vernunft, sich des Unendlichen mchtig zu dnken. Die Forderung ihrer Natur nach dem Unbedingten steht in einem unvermeidlichen Konflikt zu ihrer Endlichkeit und ihr Scheitern verweist sie auf die restringierenden 53 Zu den Fehlern der faulen Vernunft (ignava ratio) und der verkehrten Vernunft (perversa ratio, vsteqom pq|teqom) vgl. B 717 ff.
4.5 Die Selbstbegrenzung der Vernunft
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Bedingungen ihres Gebrauchs. Das Scheitern der Vernunft beim Versuch, ihre unabweisbare Forderung zu erfllen, ist demnach tragisch: „Man kann sich des Gedanken nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen“ (B 641), schreibt Kant von der Idee des unbedingt notwendigen Wesens. Das Scheitern ist aber zugleich eher komisch: Wo die Vernunft ihren letzten Grund zu erfassen sucht, dort scheitert sie nicht am Unermesslichen ihres Zieles. Es ist nicht der Fall, dass sie als endliche nicht nah genug dran kommt ans Unendliche, oder dass es eine Sperre gibt. Vielmehr verwickelt sich die Vernunft in einen Streit mit sich selbst. Dort wo sie auf das Hçchste ausgreift, greift sie ins Leere. Sie kann sich auf kein sinnliches Material beziehen, sie bezieht sich nur auf sich selbst und gert in Absurditten (Fehlschlsse) oder in die peinliche Situation der Antinomie. Damit aber bringt sich die Logik des Scheins, wie gesehen, von selbst um ihren Wahrheitsschein.54 54 Die skeptische Methode der Antinomienlehre, wobei die Kritik die Position des Scheins selbst einnimmt und zusieht, wie er sich selbst destruiert, hat wohl einen ironischen Zug. Nach der Vorrede der B-Auflage ist die unausrottbare Dialektik der Vernunft „auf sokratische Art, nmlich durch den klrsten Beweis der Unwissenheit der Gegner“, zu entwaffnen (B XXXI). Nach der Methodenlehre seien die streitenden Parteien „Luftfechter“: „die Schatten, die sie zerhauen, wachsen wie die Helden in Walhalla in einem Augenblicke wiederum zusammen, um sich aufs neue in unblutigen Kmpfen belustigen zu kçnnen.“ (B 784). – Im Text der transzendentalen Dialektik kommen eine gewisse Ironie und ein gewisser Humor am aufflligsten in Metaphern und Bildern zum Ausdruck, wie z. B. (1) von den „rstige[n] Ritter[n]“, die den „dialektischen Kampfplatz“ betreten, aber einander mehr ermden als schaden (B 450 f.), (2) von den Parteien, die im Gerichtshof der Vernunft weiter streiten, obwohl sie „zur Ruhe verwiesen worden“ (B 530) sind, (3) vom Kaufmann, der sowenig sein Vermçgen dadurch vermehren kann, dass er „seinem Cassenbestande einige Nullen anhng[t]“, wie man durch den ontologischen Gottesbeweis „aus bloßen Ideen an Einsichten reicher werden“ kann (B 630) oder (4) vom Theologen des ontologischen Beweises, „welcher bloß seinen Anzug und Stimme verndert, um fr einen zweiten gehalten zu werden“ und mit dem kosmologischen Beweis aufzutreten (B 634). – Kant selbst beschreibt in der Kritik der sthetischen Urteilskraft das Komische, den „Scherz“, auf eine Weise, die tatschlich der Figur des Scheiterns der Vernunft in der transzendentalen Dialektik nicht unhnlich ist (vgl. KU § 54 Anm., 332 ff.). Der Grund des Lachens ist nmlich die „plçtzliche[] Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“. Wo „der Verstand […] das Erwartete nicht findet, [gibt er] plçtzlich nach.“ Im Spaß liegt aber etwas Tuschendes, sodass „wenn der Schein in Nichts verschwindet, das Gemth wieder zurcksieht, um es mit ihm noch einmal zu versuchen“. Aus der entstehenden „Schwankung“, aus der „plçtzlichen Versetzung des Gemths bald in einen bald in den andern Standpunkt“, daraus nmlich, dass wir „unsere verfolgte Idee wie einen Ball noch eine Zeit lang hin- und herschlagen“, soll das Lachen
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4 Das Verfehlen des Unbedingten
Gerade weil sich die Vernunft nur auf sich selbst bezieht, muss sie nun auch aus sich selbst die Lçsung bieten kçnnen, den Ausweg aus ihrer misslichen Lage. Die Vernunft stçßt nicht gegen eine substantielle Grenze, sondern zieht dann selbst die Grenze, welche die Sphre der gltigen Erkenntnis vom leeren Raum trennt, der die Sphre umschließt. In diesem Raum begegnet ihr kein außer ihr liegendes Urding, an das sie nicht heranreicht, sondern allein ihr Mangel oder ihr Bedrfnis, das sie zum Unbedingten treibt. Ihr Bedrfnis ist auch das einzige, was ihr brig bleibt, um im leeren Raum zurechtzufinden. Die Vernunft hlt sich nmlich an ihren Ideen, die ihr die Richtung zur Vollstndigkeit der Erkenntnis weisen. Die Vernunft hat das Recht, „sich im Denken, im unermeßlichen und fr uns mit dicker Nacht erfllten Raume des bersinnlichen, lediglich durch ihr eigenes Bedrfniß zu orientiren“ (WDO 137). Auf das Konzept der Orientierung, das Kant in seinem Aufsatz Was heißt: sich im Denken orientieren? entwickelt hat, wird das nchste Kapitel der Arbeit zurckkommen (5.1). Nach Kant muss und kann, wie gesehen, die Auflçsung der Antinomie aus der kosmologischen Idee selbst erfolgen, da letztere nichts anderes als ein Produkt der Vernunft ist. Auch in den Fllen der Psychologie und Theologie schiebt aber die Vernunft die Verantwortung nicht von sich ab, auf einen verborgenen Gegenstand. Sie kann sich ja berhaupt nicht auf einen Gegenstand beziehen. Vielmehr muss und kann sie die Begriffe und Fragen selbst verantworten, die ihr eigenes Bedrfnis oder ihre Natur, d. h. ihre logische Verfassung, ihr diktieren (vgl. B 506 f. Anm.; B 642; B 791): Wegen des mangelnden Gegenstandsbezugs kann es mit aller Gewissheit hervorgehen. Die Verfehlung des Gegenstandes, den man gemeint ist „zu greifen und fest zu halten“ enthlt dabei „etwas Widersinniges“; der Verstand an sich kann „daran kein Wohlgefallen finden“. Freilich geht es beim Scherz um „unsern eignen Missgriff nach einem fr uns brigens gleichgltigen Gegenstande“. Das Unbedingte ist dagegen nicht gleichgltig, und der transzendentale Schein, anders als dieser sthetische, lçst sich nicht schlechthin in Nichts auf. – In Blick auf Kants transzendentaler Dialektik ist Jean Pauls Theorie des Humors als des romantischen Komischen interessant. Dieses soll nmlich aus dem Kontrast von Vernunft und Verstand bzw. aus dem „unendlichen Kontrast zwischen den Ideen (der Vernunft) und der ganzen Endlichkeit“ entstehen. Vgl. Jean Paul, Vorschule der sthetik, §§ 31 ff., 124. – Friedrich Schlegels Begriff der Ironie hngt schließlich mit seiner Transformation der transzendentalen Dialektik zusammen: „Eine Idee ist ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stete sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken“ (AthenumFragment 121 (KFSA 2, 184)).
4.5 Die Selbstbegrenzung der Vernunft
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keine Antwort auf die Fragen geben; diese haben dennoch als unabweisbare Probleme ihren Sitz in der Natur der Vernunft. Vom „fr uns mit dicker Nacht erfllten Raume des bersinnlichen“ besitzt die Vernunft keine Karte; sie hat nur an sich selbst einen Kompass. In dieser Dunkelheit steckt die Critick der Vernunft die Fackel auf, Erleuchtet aber nicht die uns unbekanten Gegenden jenseit der Sinnenwelt, sondern den dunkeln Raum unseres eigenen Verstandes. (Refl 5112)
Nach der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft findet die Vernunft zwar auf dem „Feld des bersinnlichen […] keinen Boden“; dieses Feld ist kein Gebiet der Erkenntnis. Die Vernunft muss dennoch dieses Feld zum Behuf sowohl ihres theoretischen wie ihres praktischen Gebrauchs „mit Ideen besetzen“ (KU 175). Nach derselben Einleitung bezieht sich die Gesetzgebung des Verstandes auf das Gebiet der Natur und die der praktischen Vernunft auf das Gebiet der Freiheit der Subjekte, das sich aus der Beschrnkung des Gebiets der Natur ergibt. Insofern errichten sich beide Gebiete auf demselben Boden, nmlich demjenigen der mçglichen Erfahrung als Inbegriffs bloßer Erscheinungen (vgl. ebd.). Dagegen hat die reflektierende Urteilskraft kein solches Gebiet und kann nur sich selbst ein Gesetz geben; darin besteht ihre „Heautonomie“ im Gegensatz zur „Autonomie“ der beiden anderen Vermçgen (KU 185). Gemß dieser Terminologie kann die behandelte Begrenzung der Vernunft, welche die Abgrenzung der beiden Gebiete erst ermçglicht, als ihre heautonome Selbstbegrenzung bezeichnet werden.55 Dass die Vernunft mit ihren Ideen das Feld des bersinnlichen besetzt, bedeutet, dass ihre Selbstbegrenzung keinem Anderen Platz macht. Sie berlsst diesen Bereich keiner anderen Instanz: Kein vorgebliches unmittelbares Ergreifen des Unbedingten, kein hohes Gefhl und keine nichtsinnliche Anschauung, keine mystische Erleuchtung und Offenbarung, keine dunkle Ahnung, Vorempfindung oder wahrscheinliche Annherung durch sinnliche Analogien und Gleichnisse kann die Lcke schließen, dem Mangel an Einsicht der Vernunft abhelfen. Jedes Umgehen der allgemein verbindlichen begrifflichen Formen feiert nmlich, wie gesehen, die bloße Subjektivitt, die sich nicht mitteilen kann (zur Schranke der passiven Perzeption vgl. im Vorigen 3.4). Die Vernunft hat nicht selbst
55 Von einer „heautonome[n] Selbstdisziplinierung der Vernunft“ spricht Friedrich Kaulbach („Kants Idee der transzendentalen Dialektik“, 20).
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das Unbedingte „erhascht“ (VT 401 Anm.); sie widersteht aber dessen Usurpation, die durch ihre Beseitigung stattfindet.56 Indem sich die Vernunft nur auf sich selbst bezieht und „keinen obiectiven Inhalt ihrer dialectischen Schlsse“ hat (Refl 5553), fllt sie in den Schein. Dieser ist, wie gesehen, kein Vorschein eines Unbedingten, er gestattet keinen Bezug auf etwas außerhalb der Vernunft liegendes. Indem sich aber die Vernunft nur auf sich selbst bezieht, kann sie aus sich selbst ihren Streit mit sich selbst schlichten. Sie vermag, sozusagen, sich am eigenen Schopf zu packen und aus dem selbstverschuldeten Sumpf zu ziehen. Nach ihrem angemessenen Verstndnis haben dann die transzendentalen Ideen eben keinen objektiven Inhalt, sondern „nichts als die Erkenntniskrfte zum obiect“ (ebd.). Wenn sich der Verstand auf die Gegenstnde der Erfahrung bezieht, so bezieht sich ja die Vernunft auf den Verstand selbst. Die reine Vernunft ist in der That mit nichts als sich selbst beschftigt, und kann auch kein anderes Geschfte haben, weil ihr nicht die Gegenstnde zur Einheit des Erfahrungsbegriffs, sondern die Verstandeserkenntnisse zur Einheit des Vernunftbegriffs, d. i. des Zusammenhanges in einem Princip gegeben werden (B 708).
Die Vernunft bezieht sich auf keine berempirischen Objekte, sondern nur auf den Zusammenhang der empirischen Erkenntnis. Außer dieser Sphre (Feld der Erfahrung) ist nichts fr sie Object; ja selbst Fragen ber dergleichen vermeintliche Gegenstnde betreffen nur subjective Principien einer durchgngigen Bestimmung der Verhltnisse, welche unter den Verstandesbegriffen innerhalb dieser Sphre vorkommen kçnnen. (B 790)
Wie im Laufe dieser Arbeit schon mehrmals betont wurde, bedeutet das dennoch nicht, dass die subjektiv-gltige regulative Funktion der Ideen vom transzendentalen Schein des Gegenstandsbezugs abgekoppelt werden kann. Die Unentbehrlichkeit dieser Funktion bedeutet ja, dass der subjektiv-logische Gebrauch der Vernunft, die Suche nach dem Zusammenhang von Begriffen und Regeln, auf den realen oder transzendentalen Gebrauch, auf die Idee eines objektiven Fundaments dieses Zusammenhangs, angewiesen ist. Der Grundsatz des realen Gebrauchs liefert erst berhaupt den Begriff des Unbedingten, dessen die Maxime des logischen Gebrauchs bedarf, damit er dem logischen Regress die Richtung weist (vgl. 56 Vgl. Kants Kritik an Jacobis Sprung in den Glauben im Aufsatz Was heißt: sich im Denken orientiren? (WDO), sowie seine Polemik gegen Schlosser und die Gefhlsphilosophie berhaupt in den Aufstzen Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie und Verkndigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (VT; VNAEF).
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im Vorigen 2.2.4). Die Ideen sind die Produkte dieses transzendentalen Gebrauchs, der „an sich dialektisch“ ist (B 805). Die Ideen entstehen als „geschlossene Begriffe“ (B 366) durch die dialektischen Schlsse der reinen Vernunft: nicht als subjektive Vorschrift, sondern als dasjenige, dessen jene Vorschrift bedarf, nmlich als subjektiv-notwendige Gedanken von der absoluten Totalitt oder von einem realen Grund. Die Notwendigkeit des Gedanken bedeutet, dass der transzendentale Schein auch nach seiner Aufdeckung nicht verschwindet. Er kann nicht mehr betrgen, wird aber nicht getilgt. Er ist nach Kant vergleichbar mit einer optischen Illusion (vgl. B 353 f.).57 Im Abschnitt „Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft“ (B 670 ff.) vergleicht Kant den transzendentalen Schein mit der Illusion, dass das Spiegelbild ein Objekt hinter der Spiegelflche sei. Die endliche Subjektivitt muss in einen Spiegel blicken, um den Zusammenhang zwischen ihren empirischen Regeln zu sehen, der jeweils noch hinter ihrem Rcken steht. Es entsteht dann die „unentbehrlich nothwendig[e]“ Illusion (B 672 f.), als ob vor ihr ein Gegenstand stnde, als objektiver Grund des Zusammenhangs. Dieses „transscendentale Ding“ nennt Kant das „Schema [d]es regulativen Princips“ (B 710). Die regulative Funktion der Idee trgt gerade der entwaffnete Schein; sie hngt an seinem Nichtverschwinden. Die Idee bezeichnet aber nur den denknotwendigen Brennpunkt oder „focus imaginarius“, in den „die Richtungslinien“ aller Verstandesregeln „zusammenlaufen“, nicht einen Gegenstand, der diese wirklich ausstrahlt, aus dem sie „wirklich […] ausgehen“ (B 672). Im Spiegel sieht die Subjektivitt in Wahrheit nur sich selbst und den leeren Raum ihres Mangels. Die Fackel der Kritik erleuchtet die dunklen Rume der endlichen Vernunft, woraus ihr Bedrfnis nach dem Unbedingten entspringt. Die Vernunft sieht ein, dass wenn sie vermeint, eines unendlichen Dinges als 57 Wie Kant im Abschnitt ber den regulativen Gebrauch der Ideen festhlt, kann die „Idee an sich selbst“ gar keine andere als diese berempirische „Bedeutung“ haben. Nur wenn diese Bedeutung als tatschlicher Gegenstandsbezug „verkannt“ wird, entsteht der illegitime, konstitutive oder transzendente „Gebrauch“ der Idee. Die falsche Anwendung bezeichnet Kant dort als einen „Fehler der Subreption“, der einem „Mangel der Urtheilskraft“ und nicht der Vernunft zuzuschreiben ist (B 671). Dennoch liegt der Schluss vom Bedingten auf das Unbedingte, wodurch die Idee berhaupt erst entsteht, in der Natur der Vernunft. Damit liegt auch der untilgbare Schein in der Natur der Vernunft, wenn auch diese sich nicht mehr hintergehen lsst. Der Schluss ist dann nicht mehr apodiktisch gltig, sondern bezeichnet nur ein unabweisbares Problem.
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ihres unbedingten Grundes gewahr zu werden, in Wahrheit das verzerrte Spiegelbild ihrer eigenen Bedrftigkeit und Endlichkeit erblickt. Zugleich sieht sie ein, dass sie als endliche und bedingte auf die Idee eines Unbedingten hinter ihrem Rcken angewiesen bleibt. Geleitet von der Idee, kann dann die Vernunft die Verhltnisse zwischen den zunchst verstreuten Begriffen und Regeln des Verstandes immer weiter erleuchten. Das „Bathos der Erfahrung“ (Prol 373 Anm.) ist dabei die einzige Dunkelheit, in die sie vordringt. Die Selbstbegrenzung der theoretisch erkennenden Vernunft begrndet nun die gegenseitige Abgrenzung der beiden Gebiete von Natur und Freiheit bzw. von Theorie und Praxis. Im Praktischen kann die Vernunft gesetzgebend sein, weil sie von allen sinnlichen Trieben absehen und sich allein auf sich selbst beziehen kann. In der Einstimmung des handelnden Subjekts mit sich selbst als allgemeinem Gesetzgeber besteht nmlich das moralische Gesetz (vgl. im Folgenden 5.3). Die Auflçsung der dritten Antinomie hatte die Nichtunmçglichkeit der Freiheit, die Mçglichkeit der Differenz des Subjekts von der kausalen Erscheinungswelt, verbrgt. Darber hinaus bezeugt das moralische Gesetz die tatschliche vernnftige Selbstbestimmung, damit aber die Wirklichkeit der Freiheit, die Realitt der Idee. Es sei noch einmal an die Schlussworte der Sptschrift ber die Fortschritte der Metaphysik erinnert. Als die zwei Sttzpunkte der kritischen Philosophie werden dort einerseits die theoretisch-dogmatische „Lehre von der Idealitt des Raumes und der Zeit“ und andererseits die praktischdogmatische „Lehre von der Realitt des Freyheitsbegriffes“ festgehalten. Jene Beschrnkung der theoretischen Erkenntnis auf Erscheinungen weist bloß hin „aufs bersinnliche, aber fr uns Unerkennbare“; die in praktischer Hinsicht bestimmbare Idee ist dagegen der „Begriff[] eines erkennbaren bersinnlichen“. Dasjenige, was die beiden Sttzpunkte miteinander verbindet und beide selbst trgt (der „Pfosten“, in dem die beiden „Angeln“ eingesenkt seien) ist nun aber der Vernunftbegriff vom Unbedingten als der Totalitt der Bedingungen. Demnach trgt die Lehre der transzendentalen Dialektik das ganze Gebude der kritischen Philosophie. Die Lehre vom Schein und seiner Zurckweisung begrndet die Begrenzung der theoretischen Erkenntnis und ermçglicht die praktische Bestimmung des Unbedingten, indem sie „in dieser Dialektik selbst Anleitung zum bergange vom Sinnlichen zum bersinnlichen enthlt.“ (FM 311).
5 Der berschritt zum Unbedingten 5.1 Orientierung im Denken Der Zweck der Metaphysik und „Endzweck der reinen Vernunft“ ist nach Kant die „Erweiterung [der Vernunft] von der Grenze des Sinnlichen zum Felde des bersinnlichen“ (FM 272). Die transzendentale Dialektik zeigt, dass dieser „berschritt“ vom Sinnlichen zum bersinnlichen bzw. vom Bedingten zum Unbedingten nicht in der Sphre der theoretischen Erkenntnis, als „ein continuirlicher Fortgang in derselben Ordnung der Prinzipien“, erfolgen kann. Der berschritt darf aber auch nicht als ein „gefhrlicher Sprung“ in eine andere Ordnung realisiert werden (FM 273). Vielmehr enthlt die transzendentale Dialektik, wie gesehen, die „Anleitung“ zur Bestimmung des Unbedingten in der praktischen Sphre. Ein gefhrlicher Sprung, den Gotthold Ephraim Lessing „[s]einen alten Beinen und [s]einem schweren Kopfe nicht mehr zumuthen“ durfte, der „Salto mortale“ zur unmittelbaren Gewissheit des Unbedingten im Glauben, war die Losung Friedrich Heinrich Jacobis im Pantheismusstreit der Jahre 1785/86 gewesen.1 Im Laufe des Streits zwischen ihm und Moses Mendelssohn hatte sich Jacobi auch auf Kant berufen. Kants Eingriff in den Streit und seine Abgrenzung gegenber Jacobi sowie gegenber Mendelssohn ist dafr geeignet, Kants Konzeption zu erhellen. Kants lange erwarteter Eingriff in den Streit war der Aufsatz Was heißt: sich im Denken orientieren?, der im Oktober 1786, ungefhr ein halbes Jahr vor der B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft und ein Jahr vor der Kritik der praktischen Vernunft, in der Berlinischen Monatsschrift erschien. Die Kontroverse zwischen Jacobi und Mendelssohn hatte sich vordergrndig um die Frage entfacht, ob der 1781 verstorbene Lessing Spinozist gewesen sei, hatte aber eine viel breitere Dimension besessen. Nach Jacobi fhrt nmlich jede rational demonstrierende Philosophie, die nichts ohne Beweis und Begrndung annimmt, unvermeidlich in den Spinozismus oder Pantheismus. Indem die Vernunft in einer „Kette bedingter Bedingungen“ fortschreitet, kann sie zu keinem absoluten Anfang 1
Jacobi, ber die Lehre des Spinoza, 30, 20. – Zum Streit vgl. Timm, Gott und die Freiheit; Beiser, The Fate of Reason, Kap. 2 – 4.
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gelangen, zu keinem Unbedingten.2 Gegen die rationalistische Schulmetaphysik, die in die Beweise vom Dasein Gottes und von der Unsterblichkeit der Seele mndete, wendet Jacobi Lessing, der „einem solchen Theismus, den unendlich frçmmeren Atheismus eines Spinoza vorzog“.3 Der Weg der Demonstration und natrlichen Erklrung verbleibt notwendig im Zusammenhang des Bedingten oder der Natur. Das Erkennen und Handeln werden aber damit nach Jacobi grundlos. Er wird spter den Terminus Nihilismus einfhren, um die Immanenz des Ich, den „umgekehrten Spinozismus“ von Fichtes transzendentalem Idealismus, zu bezeichnen.4 Der einzige Ausweg ist nach Jacobi der Sprung zum Unbedingten außerhalb der Kette der Bedingungen, der „Salto mortale“ in das Gefhl und den Glauben. Die unmittelbare Gewissheit des Glaubens rettet dabei nicht nur den Theismus, sondern zunchst die berzeugungen (beliefs) des gesunden Verstandes: das reale Dasein der Gegenstnde der Außenwelt sowie vor allem die Freiheit des Menschen. Der Freund Lessings, jdische Berliner Aufklrer und Vertreter jener Schulmetaphysik Mendelssohn hat Jacobis Attacke als Versuch der Entthronung der Vernunft durch die Schwrmerei und damit als eine Bedrohung der religiçsen Toleranz und der politischen Freiheit angesehen. Der Streit hat sich zugespitzt durch den Tod Mendelssohns, die diesbezglichen Angriffe auf Jacobi und den gegenseitigen Vorwurf des Atheismus. Dabei haben sich beide Seiten Kants Untersttzung erhofft. Um den Vorwurf der Schwrmerei von sich abzuweisen, hat sich Jacobi auf Kant berufen: auf seine vernichtende Kritik der rationalistischen Metaphysik sowie auf die These der Kritik der reinen Vernunft, dass Gott und die Freiheit keine Gegenstnde des Wissens, sondern solche des Glaubens seien.5 Mendelssohn hat seinerseits erwartet, dass Kant die Partei der Vernunft untersttzen wrde,6 und der Druck auf Kant vonseiten seines 2 3 4
5 6
ber die Lehre des Spinoza, 261. Jacobi, Wider Mendelssohns Beschuldigungen, 315. Jacobi an Fichte, 195. – In seinem Spinozabuch, das den Streit eingeleitet hat, erlutert Jacobi in zwei Anmerkungen die Philosophie Spinozas durch Zitate aus der Kritik der reinen Vernunft. Das erste Mal fhrt er die Stellen A 25 und A 32, zur Natur von Raum und Zeit als Totalitten, an, die „ganz im Geiste Spinozas“ seien. Das zweite Mal fhrt er die Stelle A 107 ber das berindividuelle, transzendentale Selbstbewusstsein an zur Erluterung des Spinozanischen absoluten Denkens als Attributs der Einen Substanz (Deus sive Natura). Vgl. ber die Lehre des Spinoza, 96, 105. Wider Mendelssohns Beschuldigungen, 320 f. Vgl. Mendelssohns Brief an Kant vom 16. 10. 1785 (AA W, 413 f.).
5.1 Orientierung im Denken
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Kreises, von den Verlegern der Berlinischen Monatsschrift, hat sich nach seinem Tod erhçht. In seinem Aufsatz greift Kant Mendelssohns Begriff der Orientierung der Vernunft auf. Wenn sich diese in ihrem spekulativen Gebrauch in atheistische oder paradox skeptische Bahnen geleitet sieht, dann kommt ihr nach Mendelssohn der „Gemeinsinn“ zur Hilfe, sodass sie sich orientieren kann.7 Dieses Mittel der Orientierung nennt Mendelssohn dann auch die „gesunde Vernunft“ oder den „schlichten Menschenverstand“.8 Nach Kant besteht jedenfalls das Bedrfnis der Orientierung gerade deshalb, weil es im Feld des bersinnlichen keine objektive Erkenntnis und keine apodiktischen Beweise geben kann. Kants Sorge ist zwar in erster Linie, sich von Jacobis Sprung in das Gefhl und den Glauben abzugrenzen. Er lobt Mendelssohn dafr, dass er den letzten Prfstein des Urteils in der Vernunft gesucht hat. Mendelssohn sei bloß nicht mehr bis zur Einsicht vorgedrungen, dass die Unzulnglichkeit der theoretischen Beweise der Grund ist, der die subjektive Orientierung erforderlich macht (vgl. WDO 140). Die Kritik an Mendelssohn reicht aber tiefer. Kant erkennt die „Zweideutigkeit“ in Mendelssohns Position, die „Blçße“, die er seinem Gegner Jacobi gibt (WDO 134).9 Was ist nmlich jener Gemeinsinn? Ist er ein der Vernunft untergeordnetes intuitives Vermçgen, das ihr gegen die Fehltritte der Spekulation hilfreich ist? Oder aber eine selbstndige Instanz, der sich die Vernunft fgen muss? Mendelssohns Position luft, wie die Jacobis, auf die Preisgabe der Vernunft hinaus: auf deren Unterwerfung unter losgelçste Prinzipien, ob diese unter dem Namen des Gemeinsinns auftreten oder die Gestalt einer dogmatischen Theorie annehmen. Die theoretisch wie politisch relevante Mahnung am Ende von Kants Aufsatz richtet sich an beide Parteien: weder vermeintliche „Facta“ noch der Despotismus dogmatischer „Vernunftgrnde“ (WDO 146) drfen die Vernunft in Beschlag nehmen. Beide Kontrahenten fordern ein objektives Fundament, das entweder der Verstandeserkenntnis (Mendelssohn) oder einem unmittelbaren Gefhl (Jacobi) zugnglich sei. Im Bereich des bersinnlichen begrenzt aber 7 8 9
Mendelssohn, Morgenstunden, 92 ff. (§§ IW f.). An die Freunde Lessings, 307 f., 314. Diese Zweideutigkeit und die Konvergenz der Positionen von Mendelssohn und Jacobi hatte Thomas Wizenmann herausgearbeitet. Er war durch die anonyme Schrift Die Resultate der Jacobischen und Mendelssohnschen Philosophie, kritisch untersucht von einem Freiwilligen (Leipzig 1786) Jacobi zur Seite gesprungen. Kant wrdigt den im Jahr 1787 mit 27 Jahren verstorbenen Wizenmann in: KpV 143 f. Anm.
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nach Kant die Vernunft, wie gesehen (4.5), sich selbst. Weder erreicht sie in ihrem Fortgang das Unbedingte noch gibt sich ihr ein solches kund, das sie bersteigt. Sie kann sich auf gar keinen Gegenstand, sondern nur auf sich selbst beziehen. Im leeren Raum jenseits der Erfahrung trifft die Vernunft nichts, woran sie sich halten kann, sondern nur ihren eigenen „Mangel“. Daher muss und darf sie sich durch ihr subjektives „Bedrfniß“ orientieren (WDO 136). Die „Grnzbestimmung des reinen Vernunftvermçgens“ ist das „einzige[] sichere[] Mittel alle Schwrmerei mit der Wurzel auszurotten“ (WDO 143 Anm.). Alle Behauptungen auf dem Feld des bersinnlichen sind nmlich leere Anmaßungen, und wenn auch eine jede von ihnen keinen Widerspruch in sich enthlt, so zeugt doch ihr unentscheidbarer Widerstreit gegeneinander von der Nichtigkeit aller Versuche auf diesem Feld. Dieses Fazit war aus der Antinomienlehre der Kritik zu ziehen. Jacobi, der „den Spinozistischen Begriff von Gott als den einzigen mit allen Grundstzen der Vernunft stimmigen und dennoch verwerflichen Begriff aufgestellt sieht“ (WDO 143 f.), setzt nach Kant an die Stelle der Vernunft als letzter Instanz einen beliebigen Glauben. Der Spinozistische Begriff ist aber in Wahrheit genauso leer wie der ihm entgegengesetzte Begriff eines von der Welt unterschiedlichen gçttlichen Wesens. Die Selbstbegrenzung der Vernunft ist das Mittel, um „die unvermeidliche Dialektik, womit die allerwrts dogmatisch gefhrte reine Vernunft sich selbst verfngt und verwickelt, aufzulçsen und auf immer zu vertilgen“ (WDO 144 Anm.). Die Grenzziehung ist zugleich das Mittel, das der Vernunft erlaubt, sich im dunklen Raum durch sich selbst zu orientieren. Es ist gerade die Selbstbegrenzung der Vernunft, die den berschritt zum bersinnlichen ermçglicht und die Anleitung dazu enthlt. Nun ist aber die Orientierung der Vernunft durch ihr Bedrfnis unterschiedlich im Fall ihres theoretischen und im Fall ihres praktischen Gebrauchs. Ein Bedrfnis der Vernunft entsteht nach Kant dort, wo ein „nothwendige[s] Problem[]“ vorausgeht (KpV 142 Anm.). Solche notwendigen Probleme sind, wie gesehen, im Theoretischen die transzendentalen Ideen. Das Bedrfnis der Vernunft nach dem Unbedingten ist aber hier „nur bedingt“. Wir mssen gemß der Idee der dritten Klasse (der Physikotheologie) eine verstndige Ursache der systematischen Ordnung der Natur annehmen, „wenn wir ber die ersten Ursachen alles Zuflligen […] urtheilen wollen“ (WDO 139); insofern wir uns die Erfllung des Ziels der vollstndigen Erkenntnis vorstellen wollen. Dazu sind wir nach der Grenzziehung auch berechtigt. Das Bedrfnis der Vernunft, den Gegenstand der Idee anzunehmen, fhrt aber nur zu einer Hypothese, die dem
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empirisch forschenden Verstand als subjektiv gltiges, heuristisches Prinzip dient. Im Praktischen ist dagegen das Bedrfnis der Vernunft „unbedingt“ (ebd.). Hier ist nmlich die Frage nicht was wir wissen kçnnen, sondern was wir tun sollen (vgl. B 828, 833). Das Sittengesetz grndet zwar allein in der Freiheit und zeugt von der objektiven Realitt dieser Idee. Die autonome Vernunft kann aber das hçchste Gut, das nicht in ihrer Kraft liegt, nmlich das Zusammenfallen von Sittlichkeit und Glckseligkeit, auch nur fordern als eine Folge der reinen moralischen Selbstbestimmung. Daher zieht das Sittengesetz notwendig die objektive Realitt der Ideen von Gott und Unsterblichkeit nach sich (zu Kants Ethikotheologie vgl. im Folgenden 5.3). Wir mssen diese Gegenstnde voraussetzen, „weil wir urtheilen mssen“ (WDO 139): was zu tun und wie das hçchste Gut nur anzustreben sei. Die Annahme des Gegenstandes ist hier keine Hypothese, sondern ein Postulat der Vernunft (vgl. WDO 141; KpV 142). Der Grund der Annahme ist aber, mangels objektiver Grnde des Wissens und theoretischer Beweise, nur subjektiv: das notwendige Bedrfnis der Vernunft. Die subjektiv hinreichende berzeugung ist kein unvollkommenes Wissen, sondern der Art nach davon unterschieden. Sie macht einen Vernunftglauben aus, der nicht beliebig, sondern fr alle Subjekte verbindlich ist (vgl. KpV 143 f. Anm.) und der „jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung zum Grunde gelegt werden muß“ (WDO 142). Die Selbstbegrenzung der Vernunft berlsst, wie gesehen, das Feld des bersinnlichen keiner anderen Instanz. Den „Wegweiser oder Compaß“ (ebd.) fr die Orientierung in diesem Feld liefert „das Gefhl des der Vernunft eigenen Bedrfnisses“ (WDO 136). Dieses wird von Kant gar nicht als ein unhinterfragbares Gefhl behauptet, sondern grndet einzig und allein in der Einsicht der Vernunft in ihren Mangel (vgl. WDO 139 f. Anm.). Auf den Begriff des Bedrfnisses der Vernunft, den Kant im Aufsatz Was heißt: sich im Denken orientieren? in den Mittelpunkt stellt, sttzt er sich dann in der Kritik der praktischen Vernunft, wenn er die ausgearbeitete Theorie der Postulate der praktischen Vernunft prsentiert (vgl. insbesondere den Abschnitt „Vom Frwahrhalten aus einem Bedrfnisse der reinen Vernunft“, KpV 142 ff.).10 10 Vgl. auch die Parallelstelle zu WDO 139 aus der Vorrede der zweiten Kritik: „Und dieses Bedrfniß ist nicht etwa ein hypothetisches einer beliebigen Absicht der Speculation, daß man etwas annehmen msse, wenn man zur Vollendung des Vernunftgebrauchs in der Speculation hinaufsteigen will, sondern ein gesetzliches,
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Bei der Besprechung der Antinomienlehre wurde im Vorigen die Entzweiung im Interesse der Vernunft behandelt (4.3.1). Das Interesse eines Vermçgens definiert Kant in der Kritik der praktischen Vernunft als „ein Princip, welches die Bedingung enthlt, unter welcher allein die Ausbung desselben [Vermçgens] befçrdert wird.“ (KpV 119). Fr das theoretische Interesse der Vernunft empfehlen sich, wie gesehen, sowohl die Thesen als auch die Antithesen der Antinomie. Die Thesen befçrdern die systematische Absicht der Vernunft, die Antithesen die noch dringlicher bençtigte unbegrenzte Ausbung des empirisch forschenden Verstandes. Ein praktisches Interesse begleitet dagegen nur die Thesen, insbesondere der dynamischen Antinomien, da die Vernunft in praktischer Absicht der metaphysischen Gegenstnde bedarf. Der Streit der Vernunft mit sich selbst kann aber, wie gesehen, gar nicht dadurch entschieden werden, dass sich das eine Interesse als das hçhere durchsetzt und die ihm entsprechenden Behauptungen Recht behalten. Damit wre der Skandal der Veruneinigung der Vernunft mit sich selbst gar nicht beseitigt, sondern die Vernunft als solche preisgegeben: denn die „Zusammenstimmung [der Vernunft] mit sich selbst“ als die „Bedingung berhaupt Vernunft zu haben“ geht allem ihrem Interesse, das in ihrer zweckmßigen Ausbung und „Erweiterung“ besteht, voran (KpV 120). Der Streit wird nur aufgelçst durch die Selbstbegrenzung der Vernunft und die Trennung von Phaenomena und Noumena, wonach These und Antithese der dynamischen Antinomien beide wahr sein kçnnen. Nach der Grenzziehung bleibt kein Widerspruch mehr bestehen, sondern nur die Frage, ob sich die Vernunft in das Feld der Noumena erweitern darf. Auf dem Grund der Grenzziehung darf dann die Vernunft ihr Urteil auf diesem Feld nach ihrem praktischen „Bedrfniß“ (KpV 121) fllen. Sie folgt ihrem „Interesse“ (ebd.), an der moralischen Willensbestimmung festzuhalten, dem hçchsten Gut als ihrem vollstndigen Zweck objektive Realitt zu verschaffen. Das Urteil gilt freilich nur in praktischer Hinsicht, ohne dass ein Anspruch auf theoretisches Wissen erhoben werden darf. Das „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen“ (KpV 119) bedeutet ihr Vorrecht, urteilen zu drfen, dort wo die theoretische Vernunft ihre Grenzen einsieht und auf ein Urteil verzichten muss. In diesem Sinne ist das Interesse der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch das „oberste“ (KpV 120) im Vergleich zum Interesse des spekulativen Gebrauchs, die Erkenntnis bis zum Unbedingten ausetwas anzunehmen, ohne welches nicht geschehen kann, was man sich zur Absicht seines Thuns und Lassens unnachlaßlich setzen soll.“ (KpV 5).
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zuweiten. Die „Unterordnung“ (KpV 121) der theoretischen Vernunft unter die praktische ist nur mçglich auf der Grundlage der transzendentalen Dialektik, der Auflçsung des Streits und der Selbstbegrenzung der Vernunft. Die Grenzziehung begrndet „ein dauerhaft ruhiges Regiment der Vernunft ber Verstand und Sinne“ (B 493), indem die Vernunft diese anderen Vermçgen – die Verstandeserkenntnis und die sinnliche Perzeption – begrenzt und fr sich selbst als praktische Raum schafft. Das „hçhere [] Interesse“ (FM 316) unserer Vernunft, der Endzweck der Metaphysik, wozu die transzendentale Analytik nur die Zurstung darstellt, nmlich der berschritt zum bersinnlichen, kann nur in der praktischen Sphre befriedigt werden.11 In den folgenden, diese Arbeit abschließenden, Abschnitten wird zunchst die Orientierung der Vernunft durch ihr Bedrfnis im Theoretischen behandelt: es wird die Lehre vom hypothetischen Gebrauch der Vernunftideen zum Behuf der empirischen Forschung diskutiert, die im Anhang zur transzendentalen Dialektik entwickelt wird, sowie kurz auf die damit zusammenhngende Lehre der Kritik der Urteilskraft eingegangen (5.2). Dann wird in Krze der berschritt zum Unbedingten in der praktischen Sphre erlutert (5.3). Zum Schluss wird das System der Metaphysik behandelt, wozu die Kritik als Propdeutik den Grund legt. Unter dem Regiment der Ideen ist nmlich die reine theoretische Philosophie ebenso wie die reine praktische Philosophie als System ausfhrbar (5.4).
11 Den Begriff des Interesses der Vernunft hat Axel Hutter ins Zentrum einer aufschlussreichen Gesamtinterpretation von Kants kritischem Werk gestellt (Das Interesse der Vernunft). Hutter interpretiert jedoch die Unterordnung des theoretischen Interesses unter das praktische dahingehend, dass er das theoretische Interesse der Vernunft mit dem technisch-praktischen Interesse des Verstandes gleichsetzt und die Antinomie in der theoretischen Sphre auf den Widerstreit zwischen diesem Interesse und dem eigentlichen moralisch-praktischen Interesse der Vernunft zurckfhrt (159). Die theoretischen Regeln des Verstandes werden wohl nach Kant als technische Regeln, d. h. als Mittel zu beliebigen Zwecken, der reinen praktischen Vernunft, d. h. dem moralischen Selbstzweck, unterworfen. Die theoretische Vernunft geht aber auf den Zusammenhang der Verstandesregeln und geht daher nicht in der Dimension der gegeneinander und gegen die Zwecke gleichgltigen Mittel auf. Hutter unterschlgt das genuine Moment der theoretischen Vernunft im Unterschied zum Verstand.
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5.2 Die theoretische Vernunft 5.2.1 Transzendentale und empirische Gesetze Die neuzeitliche empirische Naturwissenschaft hat nach Kant den „Heeresweg der Wissenschaft“ (B XII) betreten, indem sie nach ihren eigenen Prinzipien Experimente entwirft und sich der Natur annhert nicht in der Qualitt eines Schlers, der sich alles vorsagen lßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nçthigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. (B XIII)
Die Gesetzmßigkeit der Natur berhaupt, als Bedingung der Naturerkenntnis und dieser experimentellen Praxis, legt dabei die Vernunft selbst, nach ihren Prinzipien, in die Natur hinein. Die Metaphysik als reine Vernunfterkenntnis kann demnach auch, zunchst in der Form der reinen (rationalen) Naturwissenschaft, jenen Heeresweg einschlagen. Es ist nmlich die These der transzendentalen Analytik, dass der menschliche Verstand der Natur ihre allgemeinen Gesetze vorschreibt, statt sich von ihr ber diese belehren zu lassen (vgl. B 160). Die These entspricht einer Revolution der Denkart, wozu die Mathematik und Naturwissenschaft als methodische Vorbilder dienen. Diese Umnderung der Denkart ermçglicht die Analytik und wird vom „Experiment“ der transzendentalen Dialektik besttigt (vgl. im Vorigen 3.4). Kant beschreibt sie als Kopernikanische Wende, wonach sich die Gegenstnde unserer Erkenntnis nach unserem Erkenntnisvermçgen richten mssen (vgl. B XVI f.). „Die Bedingungen der Mçglichkeit der Erfahrung berhaupt sind zugleich Bedingungen der Mçglichkeit der Gegenstnde der Erfahrung“ (B 197), was besagt, dass eine sinnliche Erscheinung (die nach den Ergebnissen der transzendentalen sthetik schon unter den Formen unserer Sinnlichkeit, dem Raum und der Zeit, steht) nur insofern als ein Objekt der Natur, als des Feldes unserer mçglichen empirischen Erkenntnis, gelten darf, als sie unter den formalen Bedingungen der Kategorien und der Grundstze des reinen Verstandes steht. Das System der Grundstze konstituiert demnach die Natur als Natur berhaupt, ihrer Mçglichkeit und Form nach: es macht die Verfassung des Reiches der Natur aus.12 Aus dieser Verfassung lassen sich aber die besonderen Gesetze der Natur nicht ableiten. Zu ihrer Bestimmung „muß Erfahrung dazu kommen“ (B 165):
12 Vgl. Kaulbach, Philosophie als Wissenschaft, 109 ff.
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die Antwort auf die Fragen, welche die Vernunft an die Natur stellt, liegt in der a priori unbestimmten Materie der Erscheinungen. Das Verhltnis der transzendentalen Grundstze als formaler, oberster Gesetze zu diesem untergeordneten Material ist jedoch unterschiedlich fr die zwei Gruppen der mathematischen und der dynamischen Grundstze. Diese Verzweigung weist auf den im Vorigen (2.3) behandelten Unterschied zwischen mathematischer und philosophischer Erkenntnis hin. Die mathematischen Grundstze gehen nmlich „bloß auf die Anschauung“ (B 199), „auf Erscheinungen ihrer bloßen Mçglichkeit nach“ (B 221). Sie sind unbedingt notwendig, eigentlich konstitutiv, indem sie vorschreiben, wie die Erscheinungen als extensive und intensive mathematische Grçßen konstruiert werden kçnnen: dass diese sowohl ihrer Form (rumliche Ausdehnung) als auch ihrer Materie nach (Grad) quantitativ fassbar sind. Dasjenige, was empirisch dazukommt, ist im zweiten Fall ein spezifisches Maß und sonst nur noch das Ergebnis einer Messung, der konkrete Betrag. Die dynamischen Grundstze betreffen dagegen „das Dasein einer Erscheinung“ (B 199), wovon a priori nur bestimmt werden kann, dass es berhaupt in einem Zusammenhang stehen muss. Indem sie „das Dasein der Erscheinungen a priori unter Regeln bringen“ (B 221), machen erst diese Grundstze die Natur berhaupt als Gesetzmßigkeit bzw. als dynamische Verknpfung der Erscheinungen mçglich.13 Whrend aber im Widerspruch zu den mathematischen Grundstzen schon keine Wahrnehmung eines Objekts, keine objektive empirische Anschauung, mçglich ist, sind die dynamischen Grundstze nicht in demselben Sinne fr die Erscheinungen konstitutiv. Ihre Notwendigkeit a priori ist nicht unmittelbar evident (in der Anschauung), sondern „nur unter der Bedingung des empirischen Denkens in einer Erfahrung“ (B 199). Die regelmßige Verknpfung der Wahrnehmungen, die sie als Bedingung der mçglichen Erfahrung postulieren, lsst sich ja nicht konstruieren. Die dynamischen Grundstze erheben eine Forderung, der die wirkliche Erfahrung erst nachkommen muss: sie verweisen auf die spezifischen, tatschlichen, erst empirisch bestimmbaren Regelmßigkeiten. Dieses Verhltnis lsst sich anhand der Analogien der Erfahrung, der ersten Gruppe dynamischer Grundstze, sehr schçn beobachten. Kant 13 Kant unterscheidet (materialiter, substantive) die Natur als dynamisches von der Welt als mathematisches Ganzes (vgl. B 446; im Vorigen 4.3.1), sowie (formaliter, adjective) die Natur als Prinzip des Daseins vom Wesen als Prinzip der Mçglichkeit eines Dinges (vgl. MAN 467). Diese Unterscheidungen gehen offensichtlich auf die hier behandelte Verzweigung der Grundstze zurck.
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bestimmt nmlich den Begriff einer Analogie in der Philosophie in Absetzung von den Analogien der Mathematik. Eine mathematische Analogie erlaubt, aus dem gegebenen Verhltnis zweier Glieder und einem ebenfalls gegebenen dritten Glied das vierte Glied zu bestimmen, das zum dritten Glied im gegebenen Verhltnis steht. Dagegen lsst eine Analogie in der Philosophie das gesuchte vierte Glied selbst unbestimmt und bestimmt nur sein Verhltnis zum dritten Glied nach dem Verhltnis der ersten beiden (vgl. B 222 f.): Nach der Analogie zum Prinzip der Ursache und Wirkung folgt jede Erscheinung von einer weiteren als ihre Wirkung; die Auffindung der weiteren Erscheinung ebenso wie der Regel ihrer notwendigen Verknpfung bleibt dabei der konkreten Erfahrung berlassen. Fr die Konstitution der Gesetzlichkeit der Natur ist diese zweite Analogie, der Grundsatz der Kausalitt, zentral; Kant bestimmt sogar die Natur als den „Inbegriff der Erscheinungen, so fern diese, vermçge eines innern Prinzips der Kausalitt durchgngig zusammenhngen“ (B 446 Anm.). Der Grundsatz lautet in der A-Auflage: „Alles, was geschieht […], setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt“ (A 189) und in B: „Alle Vernderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknpfung von Ursache und Wirkung“ (B 232). In der ersten Formulierung bedeutet „Regel“ eine besondere Regel. In der zweiten Formulierung bedeutet „Gesetz“ das allgemeine (transzendentale) Gesetz oder Prinzip, wonach eben jedes Geschehen gemß einer besonderen Regel erfolgt.14
14 Die Ansicht, dass das konstitutive Kausalprinzip (in der Form von every-eventsome-cause) die Behauptung von Regelmßigkeiten in der Natur (same-causesame-effect) nicht beinhalte, hat Lewis White Beck vertreten („A Prussian Hume and a Scottish Kant“, bes. 127). Vgl. dagegen Longuenesse, Kant and the Capacity to Judge, 369. – Schon das hypothetische Urteil, das der Kategorie der Kausalitt entspricht, bedeutet nach Kant „nur die Consequenz“ (B 98): dass ein notwendiges Verhltnis zwischen antecedens und consequens besteht, abgesehen davon, ob diese beiden fr sich zutreffen oder nicht. Darin unterscheidet sich das hypothetische Urteil von dem Konditionalsatz, d. h. von der wahrheitsfunktionalen material implication der modernen mathematischen Logik. Die Kategorie der Kausalitt, die dem Grundsatz zugrunde liegt, enthlt dann ausdrcklich den Begriff einer (besonderen) Regel: „Das Schema der Ursache und der Causalitt eines Dinges berhaupt ist das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt. Es besteht also in der Succession des Mannigfaltigen, in so fern sie einer Regel unterworfen ist“ (B 183) [Hervorhebung J. P.]. In der zweiten Analogie verluft dann der Beweis, dass es zu jedem Geschehen eine Ursache gibt, gerade durch den Nachweis, dass die Zeitfolge nur durch eine notwendige, regelmßige Verknpfung der Wahrnehmungen objektiv bestimmbar ist (vgl. B 234).
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Kant bezeichnet die dynamischen Grundstze, im Gegensatz zu den mathematischen, als bloß regulative Prinzipien, da sie keine Anweisung zur Konstruktion der Erscheinungen enthalten (vgl. B 222). Angesichts einer Vernderung fungiert etwa der Grundsatz der Kausalitt regulativ, indem er die Suche nach einer Ursache und einer spezifischen empirischen Regel leitet. Andererseits erfolgt erst aufgrund der dynamischen Grundstze die Synthesis der einzelnen Wahrnehmungen zu jenem Zusammenhang, der Erfahrung heißt. Daher sind diese doch konstitutiv in Ansehung der Objekte mçglicher Erfahrung: die zeitliche Abfolge der Wahrnehmungen eines Objekts kann unmçglich dem Grundsatz der Kausalitt oder etwa der ersten Analogie, von der Beharrlichkeit der Substanz, widersprechen. Im Anhang zur transzendentalen Dialektik, der im Folgenden behandelt werden soll, bestimmt Kant die dynamischen Grundstze als „bloß regulative Principien der Anschauung“, die „allerdings constitutiv in Ansehung der Erfahrung“ sind (vgl. B 692). Das „Princip der Affinitt, welches im Verstande seinen Sitz hat, und notwendige Verknpfung aussagt“ (B 794), gehçrt zur Mçglichkeit der Objekte berhaupt, zur Verfassung der Natur. Die Affinitt der Erscheinungen, die der Verstand a priori vorschreibt, ist die Bedingung dafr, dass die empirische Assoziation der Wahrnehmungen durchgngig mçglich und objektiv fundiert ist (vgl. A 113, 122). Die Regeln dieser Assoziation, die sich der Verstand „durch Vergleichung der Erscheinungen“ macht (A 126), kçnnen nmlich auf den Weg der Vergleichung und Verallgemeinerung (von unten hinauf ) nur eine komparative Allgemeinheit erlangen.15 Zu objektiven empirischen Gesetzen werden sie nur, insofern sie sich als Flle der Anwendung der streng allgemeinen und schlechthin notwendigen apriorischen Grundstze fassen lassen (von oben herab).16 Als empirische Gesetze erreichen sie jedoch nie die „Dignitt“ (B 124) und absolute Notwendigkeit der Grundstze: sie bleiben kontingent und jedenfalls durch letztere in ihrer Besonderheit unbestimmbar. 15 Die Gewinnung empirischer Regeln wre bei Kant nach dem Muster der empirischen Begriffsbildung zu denken. Zu letzterer vgl. Log § 6. 16 „Regeln, so fern sie objectiv sind (mithin der Erkenntniß des Gegenstandes nothwendig anhngen), heißen Gesetze. Ob wir gleich durch Erfahrung viel Gesetze lernen, so sind diese doch nur besondere Bestimmungen noch hçherer Gesetze, unter denen die hçchsten (unter welchen alle andere stehen) a priori aus dem Verstande selbst herkommen und nicht von der Erfahrung entlehnt sind, sondern vielmehr den Erscheinungen ihre Gesetzmßigkeit verschaffen und eben dadurch Erfahrung mçglich machen mssen.“ (A 126).
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Der Grundsatz der Kausalitt schreibt eine Gesetzesform vor, die in den besonderen Gesetzen der kausalen Verknpfung realisiert wird; er lsst diese Gesetze a priori offen. „[I]n Ansehung ihrer besondern Gesetze, ihrer Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit, ist […] [die Natur] von allen Einschrnkungen unseres gesetzgebenden Erkenntnißvermçgens frey“ (EEKU 210). Diese Freiheit bedeutet aber, dass die transzendentalen Grundstze von sich aus nicht ausreichen, um eine verlssliche Naturerkenntnis zu begrnden. Ein durchgngiger Zusammenhang der Erscheinungen ist nur nach empirischen Gesetzen mçglich, somit nach empirischen Regeln des Verstandes, die selbst untereinander und mit den obersten apriorischen Gesetzen zusammenhngen und zusammenstimmen mssen. Die empirischen „Regeln, ohne welche kein Fortgang von der allgemeinen Analogie einer mçglichen Erfahrung berhaupt zur besonderen Statt finden wrde“ (KU 184), entziehen sich aber der Nomothetik des reinen Verstandes. Die Einheit des Verstandes und der unter seiner Gesetzgebung stehenden Natur ist insofern bedingt, dass sie nicht bloß als wirkliche vom sinnlichen Material abhngt, sondern schon als mçgliche erfordert, dass jener Fortgang stattfinden kann. Auf die Einheit der Verstandesregeln, auch der empirischen, geht nun die Vernunft. Den durchgngigen, unbedingten Zusammenhang der empirischen Verstandeserkenntnis kann die Vernunft zwar nicht objektiv und apodiktisch fundieren. Sie kann ja das Unbedingte, das sie verlangt, nicht erfassen. Anders als die Verstandesbegriffe und –grundstze sind die Vernunftbegriffe fr keine Gegenstnde konstitutiv. Ihnen kommt dennoch unabweislich eine gewisse Gltigkeit zu. Die Frage nach deren Status wurde schon im Vorigen angestreift (2.2.3; 2.2.4; 4.3.3.; 4.5) und ist nun im Folgenden nher zu betrachten. Kant behandelt den fr die Naturforschung unentbehrlichen Vernunftgebrauch im „Anhang zur transscendentalen Dialektik. Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft“ (B 670 ff.). Darauf folgt der Abschnitt „Von der Endabsicht der natrlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ (B 697 ff.). Dieser nimmt sich hinsichtlich der drei Klassen der Ideen ein Analogon der transzendentalen Deduktion der Kategorien vor, das die „Vollendung des kritischen Geschftes der reinen Vernunft“ darstellt (B 698). Bevor nun auf den Inhalt dieser Abschnitte eingegangen wird, soll jedoch die bisherige Darstellung des Verhltnisses von transzendentalen und besonderen empirischen Gesetzen durch eine abschließende Bemerkung ergnzt werden. Die klassische Mechanik wird nmlich nach Kant nicht empirisch, sondern a priori begrndet. Die Mechanik betrachtet ja die materiellen Objekte nicht in ihrer Besonderheit, sondern als Kçrper
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berhaupt, die durch ihre Masse und Geschwindigkeit charakterisiert werden. Die Gesetze der Mechanik gewinnt Kant direkt aus den Analogien der Erfahrung: aus dem Grundsatz der Kausalitt ergibt sich das erste Newtonsche Axiom, das Trgheitsprinzip, wie aus der dritten Analogie, dem Grundsatz der Wechselwirkung, das dritte Newtonsche Axiom, nmlich das Reaktionsprinzip (vgl. MAN 543 ff.). Diese Begrndung ist Teil von Kants Programm einer Metaphysik der Natur als rationaler Physik. Dabei wird den transzendentalen Grundstzen der bloße Begriff der Materie (des beweglichen Etwas als Gegenstandes der ußeren Sinne) zugrunde gelegt, der als einzige empirische Voraussetzung zum transzendentalen Gerst hinzutritt. Im Rahmen dieses Programms, der Metaphysischen Anfangsgrnde der Naturwissenschaft, erfolgt jedoch die Begrndung der Mechanik erst aufgrund einer Dynamik. Einer ausschließlich „mechanische[n] Naturphilosophie“ zieht Kant nmlich eine „dynamische“ vor (MAN 532). Die „mathematisch-mechanische Erklrungsart“ (MAN 524) der Raumerfllung – welche erste undurchdringliche Kçrperchen, die als tote Materieteile nur durch ußere Krfte bewegt werden, und leere Zwischenrume annimmt – hat zwar den Vorteil der mathematischen Evidenz und Konstruierbarkeit; weder die verschiedenen Gestalten jener angenommenen Kçrperchen noch die der angenommenen leeren Rume ließen sich aber nach Kant durch Experimente bestimmen. „[D]er Experimentalphilosophie weit angemessener“ (MAN 533) ist daher die „metaphysisch-dynamische“ (MAN 525) Erklrungsart, wonach die Materie den Raum nicht durch ihre bloße Existenz (als absolut undurchdringliche) sondern durch ihr eigene Grundkrfte der Zurckstoßung und Anziehung erfllt. Die Gesetze dieser Grundkrfte lassen sich nicht a priori bestimmen; ihr Begriff lsst sich nicht konstruieren. Ihre Annahme erlaubt jedoch gerade ein Forschungsprogramm, das die verschiedenen Krfte und ihre besonderen Gesetze aufsprt und auf einfachere (bis auf die Grundkrfte) zurckfhrt: Damit leitet die Metaphysik der Natur die Praxis der Wissenschaft „auf die Erforschung der dynamischen Erklrungsgrnde […], weil diese allein bestimmte Gesetze, folglich wahren Vernunftzusammenhang der Erklrungen hoffen lassen.“ (MAN 534; vgl. B 676 f.). Diese Bemerkung sollte verdeutlichen, dass das Problem der besonderen Naturgesetze, das Thema des Anhangs zur Dialektik, nicht etwa bloß das Feld der beschreibenden, klassifikatorischen Naturwissenschaft im Gegensatz zur strengen und mathematisierten betrifft. Das Problem ergibt sich schon fr die Physik, die sich ja nicht in der theoretischen Mechanik erschçpft.
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5.2.2 Der hypothetische Vernunftgebrauch In ihrem logischen Gebrauch ist die Vernunft, wie gesehen (2.2.1), die Funktion des Schlusses und damit der Bestimmung des Besonderen aus dem Allgemeinen. Im Anhang zur transzendentalen Dialektik unterscheidet nun Kant zwei Arten der Ausbung dieses Vermçgens: Ist nmlich die allgemeine Regel „an sich gewiss und gegeben“, so muss das Besondere, das darunter fllt, bloß durch die Urteilskraft als ein solches erkannt und unter die Regel subsumiert werden, sodass es dann durch einen Schluss aus der Regel bestimmt wird. Sind dagegen nur besondere Flle gewiss und gegeben und wird die allgemeine Regel dazu gesucht, so kann eine solche nur probeweise, „nur problematisch angenommen“ werden. Lassen sich nun die bekannten Flle tatschlich alle aus der Regel ableiten, so kann diese (zumindest vorlufig) als besttigt gelten und dazu dienen, dass weitere, noch im Dunkel stehende, Flle aufgeschlossen werden, auf die dann nmlich aus der Regel geschlossen wird. Die erste Art, das deduktive Schließen, nennt Kant „den apodiktischen Gebrauch der Vernunft“ (B 674). Die zweite Art, die der empirischen Forschung gemße Denkart der Induktion und Analogie, bezeichnet er als „den hypothetischen Gebrauch der Vernunft“ (B 675). Indem nun die Vernunft die systematische Einheit der Verstandeserkenntnis anstrebt, ist dieses systematische Ganze aller Begriffe und Regeln des Verstandes letztlich das Allgemeine, das sie annimmt, um den jeweils erreichten Zusammenhang unter solchen Begriffen und Regeln auszubauen. Der Vernunftbegriff der systematischen Einheit wird dabei nicht empirisch aus der Naturbetrachtung gezogen; vielmehr leitet er die Experimente, die die Vernunft anstellt, sodass sie als „bestallte Richterin“ die Natur nach dieser Idee befragt (vgl. B 673, 688). Daher ist aber die systematische oder Vernunfteinheit auch „nur projectirte Einheit“ (B 675); jenes Ganze ist nie gegeben, sondern nur aufgegeben: es kann immer nur problematisch angenommen und als Ziel nur angenhert werden. Der angemessene, immanente Gebrauch der Vernunftideen ist hypothetisch und nur regulativ. Der Status der Ideen als regulativer Prinzipien ist in der Kantforschung kontrovers. Von Autoren wie Kemp Smith werden Kants Ausfhrungen im Anhang zur Dialektik als widersprchlich abgetan.17 Die Spannung, die diese Ausfhrungen durchzieht, ist aber keine andere als diejenige, die den 17 Vgl. Kemp Smith, A Commentary to Kant’s ,Critique of Pure Reason‘, 549 f.
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Ideen unabweislich anhaftet und die im Begriff des notwendigen Scheins zum Ausdruck kommt. Die systematische Einheit der Begriffe und Regeln kann nmlich nicht a priori in der „Beschaffenheit des Objects“ aufgesprt werden und kann daher keinen objektiven und konstitutiven, transzendentalen Grundsatz der Vernunft ausmachen. Das regulative Prinzip ist vielmehr vom „Interesse der Vernunft“ hergenommen und kann nur zu subjektiv-gltigen Maximen der Vernunft fhren (B 676, 694). Das logische Prinzip der systematischen Einheit, d. h. die subjektiv-logische Vorschrift (Maxime) der Vernunft, diese zu suchen, setzt jedoch ein transzendentales Prinzip voraus, wonach diese Einheit „als den Objecten selbst anhngend, a priori als nothwendig angenommen wird“, und ist ohne eine solche Voraussetzung, ohne ein objektiv-reales Korrelat, auf die Natur nicht anwendbar (B 678 f.; vgl. B 682, 684, 685, 688). Die Prinzipien der Vernunft „scheinen“ daher, objektiv und transzendental zu sein, und haben dieses „merkwrdig[e]“ an sich, dass dieser Schein unentbehrlich ist (B 691; vgl. B 694). Das regulative Prinzip besteht nicht in der subjektiv-logischen, bloß methodischen, Vorschrift, sondern postuliert dasjenige, dessen jene Vorschrift bedarf: Das regulative Prinzip besteht im subjektiv-notwendigen Gedanken, dass der durchgngige Zusammenhang der Erkenntnis a priori im Objekt fundiert sei. Das Prinzip der Vernunft hat nicht den Status einer bloß subjektiven, denkçkonomischen, positivistischen Devise: es ist keineswegs „ein bloß çkonomischer Handgriff der Vernunft“ (B 681; vgl. B 678). Konstitutiv fr die Objekte kann das Prinzip jedenfalls auch nicht sein, denn ein objektiver Grund der systematischen Einheit der Erkenntnis kann nicht im Objekt berhaupt liegen, nicht in der bloßen Mçglichkeit der raumzeitlichen Gegenstnde. Ein solcher Grund kann nur in der besonderen Beschaffenheit der Gegenstnde gesucht werden, die sich aber a priori nicht bestimmen lsst. Nach dem Obigen sind die mathematischen Grundstze des Verstandes schon fr die Anschauung von Gegenstnden konstitutiv, whrend die dynamischen Grundstze zwar nur regulativ fr die Anschauung, jedoch konstitutiv fr die Erfahrung sind, da sie apriorische Begriffe von Gegenstnden enthalten, ohne welche die Erfahrung und die Gegenstnde der Erfahrung nicht mçglich sind. Der Grundsatz der Vernunft kann dagegen gar nicht konstitutiv sein. Er enthlt nmlich einen apriorischen Begriff vom systematischen Zusammenhang aller empirischen Begriffe von Gegenstnden. Dadurch kann er aber keinen einzelnen dieser Begriffe von Gegenstnden bestimmen, noch kann er vorschreiben, wie weit sich der Zusammenhang erstreckt. Fr das Prinzip der Vernunft
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besteht „kein correspondirendes Schema der Sinnlichkeit“, das seine Anwendung auf die Gegenstnde selbst ermçglichen wrde (B 692). Ohne ein objektives Korrelat zum logischen Prinzip, ohne die Ordnung im Mannigfaltigen der mçglichen Erfahrung, die der transzendentale Grundsatz der Vernunft fordert, gbe es andererseits jedoch „keine empirische Begriffe, mithin keine Erfahrung“ (B 682). Das Prinzip der Vernunft hat daher doch „objective, aber unbestimmte Gltigkeit“ (B 691; vgl. B 693, 697, 708): Es muss zwar irgendwie a priori von den Gegenstnden der Erfahrung gelten; sowohl der Inhalt der empirischen Begriffe und Gesetze als auch der Grad ihres Zusammenhangs bleiben aber a priori unbestimmt. Der Grundsatz der Vernunft ist weder ein subjektiv-logisches noch ein empirisches, von der Erfahrung abgezogenes, Prinzip. Seine objektive Gltigkeit a priori kann aber nur „heuristisch[]“ angenommen werden (B 691): sodass die Vernunft, wenn sie die systematische Einheit postuliert, „nicht bettel[t], sondern gebiete[t], obgleich ohne die Grenzen dieser Einheit bestimmen zu kçnnen“ (B 681). Indem sich die Vernunft nur auf den Verstand direkt beziehen kann, verarbeitet sie zunchst nur nachtrglich die schon zustande gekommenen Erkenntnisse: sie bezieht sich auf gegebene Begriffe und Urteile (bzw. Regeln) des Verstandes, die sie durch Schlsse verbindet und ordnet. Der hypothetische Vernunftgebrauch erschließt aber neue Begriffe und Regeln. Der Zusammenhang der empirischen Begriffe (etwa von Krften der Natur) und Gesetze untereinander ist sogar berhaupt dasjenige, was diesen erst ihre Gltigkeit verschafft; er kommt keineswegs als eine bloß subjektive Zutat, als eine ußerliche Klassifikation, zu ihrer objektiven Gltigkeit hinzu. „Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse, diese aber ist der Probirstein der Wahrheit der Regeln.“ (B 675). Der Zusammenhang der Erkenntnis – die Zusammenstimmung des Verstandes mit sich selbst (und nicht etwa seine Zusammenstimmung mit nackten, unmittelbaren sinnlichen Daten) – ist das Kriterium der Wahrheit der empirischen Urteile: „das Gesetz der Vernunft […] ist nothwendig, weil wir ohne dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhngenden Verstandesgebrauch und in dessen Ermangelung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben wrden“ (B 679; vgl. B 708; vgl. im Vorigen 2.2.3). Die Systematizitt der Erkenntnis ist keine bloß subjektiv-logische Forderung, sondern eine transzendentale Bedingung der Wahrheit der einzelnen Erkenntnisse. Insofern aber das Prinzip der Systematizitt a priori keinen Gegenstand bestimmen kann, ist seine objektive Gltigkeit
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eben „unbestimmt“ und sein transzendentaler Status, nach Kants Prmissen, schwierig.18 Die Grundstze der Vernunft kçnnen insgesamt, wie gesehen (Kap. 4), aus zweierlei Grnden nicht objektiv gltig sein: entweder bloß weil sie leer und unbestimmt bleiben mssen, wenn sie auch an sich widerspruchsfrei sind, oder aber weil sie unvermeidlich in eine Antinomie fhren. In der Forderung der systematischen Einheit liegt nun tatschlich so etwas wie eine Antinomie, wie ein Widerstreit der Gesetze der Vernunft. Die Forderung beinhaltet nmlich einerseits (1) „ein Princip der Gleichartigkeit des Mannigfaltigen unter hçheren Gattungen“: wonach sich die zunchst zerstreuten empirischen Begriffe und Gesetze unter allgemeinere bringen lassen. Die Forderung beinhaltet jedoch andererseits noch (2) „einen Grundsatz der Variett des Gleichartigen unter niederen Arten“ (B 685): wonach sich die zunchst abstrakten Begriffe und Gesetze in besondere spezifizieren lassen, um der Eigenartigkeit der besonderen Phnomene gerecht zu werden. In diesen beiden Prinzipien zeigt die Vernunft „ein doppeltes, einander widerstreitendes Interesse, einerseits das Interesse des Umfanges (der Allgemeinheit) in Ansehung der Gattungen, andererseits des Inhalts (der Bestimmtheit) in Absicht auf die Mannigfaltigkeit der Arten“ (B 682). Es handelt sich noch einmal um den bekannten Widerstreit des „speculativ[en]“ und des „empirische[n]“ Interesses der Vernunft: Die Vernunft drngt einerseits auf „Einfalt“ der Erkenntnis, andererseits auf „Ausbreitung“ des Zusammenhangs (B 683); einerseits auf „Identitt“, andererseits jedoch zugleich auf „Mannigfaltigkeit und Verschiedenheiten der Dinge“ (B 682). Das doppelte Interesse der Vernunft kann zu einem wirklichen „Streit“ fhren, indem die eine Seite das Identische (Gemeinsame) betont und darin die wesentliche Erklrung der Phnomene sucht, wogegen die andere Seite den Unterschied der Arten als entscheidend ansieht (B 695). Die einander entgegengesetzten Stoßrichtungen, nach Identitt und Differenz, vereint nun die Vernunft in ihrer Forderung nach der Totalitt qua systematischer Einheit der Erkenntnis.19 Der systemati18 Hermann Krings („Funktion und Grenzen der Transzendentalen Dialektik in Kants Kritik der reinen Vernunft“) macht den transzendentalen Status der Vernunftidee der systematischen Einheit stark. Auf die Schwierigkeit geht er jedoch nicht ein. Insofern ist die Kritik von Paul Guyer („Der transzendentale Status der Systematizitt“) berechtigt und seine differenzierten Ausfhrungen wertvoll. Guyer unterstellt allerdings als selbstverstndlich ein atomistisches Verstndnis von „der Wahrheit einzelner Aussagen“ (117), das Kant doch nicht beherzigt. 19 Insofern ist „reason’s desire […] for totality“, wie dieses Verlangen in Kants regulativen Ideen zum Ausdruck kommt, nicht einfach gleichbedeutend mit einer
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sche Zusammenhang bedeutet ja die durchgngige „synthetische Einheit der Erfahrung“ als eine Einheit, die vom Unterschied nicht absieht, sondern ihn einbegreift (EEKU 204 Anm.; vgl. im Vorigen 2.2.3). Aus der Vereinigung der beiden einander entgegengesetzten Prinzipien entsteht (3) „noch ein Gesetz der Affinitt aller Begriffe […], welches einen continuirlichen bergang von einer jeden Art zu jeder anderen durch stufenartiges Wachsthum der Verschiedenheit gebietet“ (B 685 f.). Nach der transzendentalen Deduktion der Kategorien erlaubt, wie gesehen, die Affinitt aller Erscheinungen, dass diese berhaupt unter Gesetze gebracht werden kçnnen. Dazu tritt nun die Forderung der Vernunft nach der Affinitt unter den Begriffen und Gesetzen selbst hinzu, die deren systematische Ordnung ermçglicht.20 Bei den drei Prinzipien der „Gleichartigkeit“, „Variett“ und „Affinitt“ bzw. „der Homogenitt, der Specification und der Continuitt“ (B 686) bzw. der „Einheit“, „Mannigfaltigkeit“ und „Verwandtschaft“ (B 690) handelt es sich um drei logische Prinzipien – um die Einheit, Mannigfaltigkeit und Verwandtschaft unter den logischen Formen (Begriffe und Regeln) –, die aber, nach dem Obigen, drei entsprechende transzendentale Prinzipien voraussetzen: „die Sparsamkeit der Grundursachen, die Mannigfaltigkeit der Wirkungen und eine daher rhrende Verwandtschaft der Glieder der Natur“ (B 689). Das dritte Prinzip entspringt aus der Vereinigung der ersten beiden, insofern die absolute Homogenitt, d. h. das Vorhandensein einer gemeinsamen obersten Gattung, bei durchgefhrter Spezifikation der Arten deren durchgngige Verwandtschaft und den stufenartigen bergang bis zu dieser Gattung zur Folge hat (vgl. B 686, 688).21 Das Prinzip der Homogenitt fordert also die Subsumtion unter hçhere Gattungen bis zum obersten genus (von unten nach oben); das Prinzip der Variett schreibt die Fortsetzung der Spezifikation der Arten ohne Ende „orientation […] towards unity and identity“, wie Diana Coole annimmt (Negativity and politics, 42). 20 Vgl. hierzu Lehmann, „Hypothetischer Vernunftgebrauch“, 12 ff. 21 Die drei Prinzipien erinnern freilich an die drei transcendentia der scholastischen Metaphysik nach ihrer kritisch berichtigten Bedeutung der qualitativen Einheit, Vielheit und Allheit (vgl. B 113 ff. (§ 12)). Es wurde schon im Vorigen (3.3.1) darauf hingewiesen, dass diese drei Meta-Kategorien keine Verstandes- sondern nur Vernunftbegriffe sein kçnnen. – Jede synthetische Einteilung a priori ist nach Kant notwendig eine Trichotomie, wobei das dritte Glied aus der Verbindung der ersten beiden entsteht (vgl. KU 198 Anm.; im Vorigen 2.2.2). In Bezug auf die Kategorien entwickelt Kant diesen Gedanken im § 11 der transzendentalen Analytik: „So ist die Allheit (Totalitt) nichts anders als die Vielheit, als Einheit betrachtet“ (B 111).
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vor (von oben nach unten). Whrend nun aber diese beiden Prinzipien an sich unproblematisch sind, ist ihre Vereinigung im Prinzip der Kontinuitt antinomisch: sie impliziert nmlich zwischen je zwei gegebenen Arten eine vollendete, „wahre Unendlichkeit der Zwischenglieder“, die ja unmçglich ist.22 Nicht nur „weil wir von diesem Gesetz gar keinen bestimmten empirischen Gebrauch machen kçnnen“, „sondern auch“ weil es eben antinomisch ist (um Kants Formulierung an dieser Stelle (B 689) umzukehren), kann das Prinzip nicht objektiv gltig sein. Wenn bloß regulative Grundstze als constitutiv betrachtet werden, so kçnnen sie als objective Principien widerstreitend sein; betrachtet man sie aber bloß als Maximen, so ist kein wahrer Widerstreit, sondern bloß ein verschiedenes Interesse der Vernunft, welches die Trennung der Denkungsart verursacht. In der That hat die Vernunft nur ein einiges Interesse, und der Streit ihrer Maximen ist nur eine Verschiedenheit und welchselseitige Einschrnkung der Methoden, diesem Interesse ein Genge zu thun. (B 694)
Insofern die Prinzipien der systematischen Einheit als regulative, subjektivgltige Maximen genommen werden, ist ihr Gegensatz harmlos. Er ist sogar, nicht anders als im Fall der kosmologischen Antinomie (vgl. 4.3.3), fr die empirische Forschung produktiv. Dabei besteht der Witz der im Anhang zur Dialektik entwickelten Lehre gerade darin, dass die Vernunft in ihrem angemessenen Bestreben, ein immanentes System zu errichten, den Verstand nicht einseitig auf durchschlagende Identitt drngt, sondern zugleich auf interne Differenzierung der Erkenntnis, sodass sie erneut einen Widerstreit ihrer Gesetze zur Schau stellt.23 22 Da nach Kant keine infima species mçglich ist (vgl. Log § 11), vielmehr das Gebot der unbeschrnkten Spezifikation gilt, dieses auch zwischen gegebenen Arten als Gebot der Kontinuitt gelten muss, damit auch keine zwei Arten einander die nchsten sein kçnnen, wird die Realisierung eines vollstndigen Systems der Erfahrung unvorstellbar. Insofern weicht Kants Lehre ab vom traditionellen Schema einer vollstndigen Hierarchie von Gattungen und Arten, von Ober- und Unterbegriffen, von der infima species bis zum summum genus (arbor porphyriana). 23 Rudolf Zocher schreibt: „diese Systematisierungsprinzipien leisten offenbar einen vçllig legitimen und undialektischen, wenn auch nur ,regulativen‘ Abschluß der Naturerkenntnis“ und wundert sich daher folgerichtig, dass Kant „[s]onderbarerweise […] diese inhaltliche Verschiedenheit von Ideen als Systematisierungsformen und Ideen als dialektischen Begriffen nicht ausdrcklich hervor[hebt].“ (Zocher, „Zu Kants transzendentaler Deduktion der Ideen der reinen Vernunft“, 57). Zocher bersieht brigens den Zusammenhang des hypothetischen Vernunftgebrauchs zur Schlusslehre, insbesondere zur disjunktiven Schlussart (vgl. hierzu im Text weiter unten), und meint, im Anhang, im Gegensatz zur Ableitung
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Die Vernunft geht ja nicht auf eine leere Allgemeinheit, sondern ist „das Vermçgen der Bestimmung des Besonderen durch das Allgemeine“ (durch einen Schluss). Dabei ist der Verstand „das Vermçgen der Erkenntniß des Allgemeinen“ (im Obersatz des Schlusses), whrend die Urteilskraft als „das Vermçgen der Subsumtion des Besondern unter das Allgemeine“ (im Untersatz) zwischen Verstand und Vernunft vermittelt (EEKU 201). Kants Neufassung des Vermçgens der Urteilskraft in der Kritik der Urteilskraft von 1790 unterscheidet nun von der bestimmenden Urteilskraft, der jene Funktion der Subsumtion unter ein gegebenes Allgemeines zukommt, die reflektierende Urteilskraft, die zum gegebenen Besonderen „das Allgemeine finden soll“ (KU 179). Damit kreuzt sich wohl die Funktion dieses neu konzipierten Vermçgens mit dem behandelten hypothetischen Vernunftgebrauch. In ihrem suchenden Erkennen lsst sich die reflektierende Urteilskraft durch ein Prinzip leiten, das den regulativen Maximen der Vernunft entspricht: „das transscendentale Princip der Urtheilskraft“ ist nmlich die „subjectiv-nothwendige transscendentale Voraussetzung, daß […] [die Natur] sich, durch die Affinitt der besonderen Gesetze unter allgemeinere, zu einer Erfahrung als einem empirischen System qualificire“ (EEKU 209). Dabei bezieht sich jedenfalls die reflektierende Urteilskraft, anders als die Vernunft, nicht nur auf den Verstand, sondern direkt auf die besonderen Wahrnehmungen und auf die Mçglichkeit empirischer Gesetze berhaupt (vgl. EEKU 210). Damit vermittelt die Urteilskraft nicht nur zwischen Verstand und Vernunft, sondern ebenso zwischen Einbildungskraft und Verstand (vgl. EEKU 220 f.), und ihre Forderung geht nicht bloß darauf, dass die Natur „[…], (in der Idee), ein System mçglicher empirischen Erkenntnisse“ (EEKU 208) darbiete, sondern, darber hinaus, darauf, dass dieses „ein fr das menschliche Erkenntnißvermçgen faßliches System sei“ (EEKU 209). Ein nheres Eingehen auf die Kritik der Urteilskraft wrde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen.24 der Ideen als dialektischer Begriffe aus Schlssen, eine Ableitung der Ideen als Systematisierungsprinzipien „aus anderen Formen“ zu erblicken (ebd.). – Auch nach Wolfgang Rçd interferiere in der transzendentalen Dialektik eine Auffassung, „derzufolge ,Vernunft‘ dem systematischen Aspekt von Erkenntnis entspricht“, mit einer davon verschiedenen Auffassung der Vernunft als Vermçgen der trgerischen Ideen (Dialektische Philosophie der Neuzeit, 71; vgl. 61 f.). 24 Zum Zusammenhang zwischen der Lehre des Anhangs und derjenigen der Kritik der Urteilskraft vgl. Horstmann, „Warum muß es in Kants Kritik der Urteilskraft eine transzendentale Deduktion geben?“ und ders., „Zweckmßigkeit als transzendentales Prinzip“. Horstmann stellt einen Bedeutungswandel des Begriffs
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Die Lehre vom regulativen Gebrauch der Ideen im Anhang zur transzendentalen Dialektik schließt sich in erster Linie an der Idee der dritten Klasse an, am Ideal der reinen Vernunft. Diese Idee, als das transzendentallogische Pendant zur disjunktiven Schlussart, ist ja die Idee des systematischen Zusammenhangs und der durchgngigen Verwandtschaft aller Bestimmungen (vgl. im Vorigen 2.2.2; 4.2.2). Der Gottesbegriff, als der Begriff vom intelligiblen Fundament jenes Zusammenhangs, liefert dabei den Als-Ob-Gegenstand, der als das „Schema des regulativen Princips“ dient (B 702; vgl. B 710):25 die Vernunft gebiete, alle Verknpfung der Welt nach Principien einer systematischen Einheit zu betrachten, mithin als ob sie insgesammt aus einem einzigen allbefassenden Wesen als oberster und allgenugsamer Ursache entsprungen wren. (B 714)
Der transzendentale Schein, dass sich die Idee auf einen Gegenstand beziehe, ist unvermeidlich wie „unentbehrlich notwendig“: die regulative Vorstellung, dass alle Regeln des Verstandes miteinander systematisch zusammenhngen, dass ihre „Richtungslinien […] in einen Punkt zusammenlaufen“, bringt mit sich die „Tuschung“, dass die Regeln tatschlich aus diesem Punkt „ausgehen“, aus einem realen Grund ihres logischen Zusammenhangs (B 672 f.; vgl. im Vorigen 2.2.4, 4.5). Eine entsprechende Funktion erlangen die Ideen von der Seele als dem Bezugspunkt aller Erscheinungen des inneren Sinnes zum Behuf ihrer systematischen Erforschung (vgl. B 710 ff.) sowie die Weltbegriffe in Blick „transzendental“ von der ersten zur dritten Kritik fest, aufgrund dessen das subjektiv-gltige Prinzip der reflektierenden Urteilskraft ein transzendentales Prinzip sein kann. Zur Spannung bezglich des transzendentalen Status des Prinzips der systematischen Einheit im Anhang zur transzendentalen Dialektik vgl. ders., „Die Idee der systematischen Einheit“. 25 Indem, wie gesehen, kein sinnliches Schema der Idee mçglich ist, kann das Vernunftprinzip der systematischen Einheit nicht auf Gegenstnde angewandt werden und an diesen etwas bestimmen. Die regulative Funktion des Prinzips erfordert aber ein „Analogon eines solchen Schema“. Die Idee selbst, „die Idee des Maximum der Abtheilung und der Vereinigung der Verstandeserkenntniß in einem Princip“, dient dabei als solches „Analogon von einem Schema der Sinnlichkeit“ (B 693). Die Begriffe und Regeln des Verstandes werden nmlich auf das Schema der Vernunft angewandt, mit dem Ziel, ihm zu kongruieren. Die Idee des Maximums der Abteilung und Vereinigung der Erkenntnis in einem Prinzip entspricht nun der Idee der dritten Klasse: vom Grund bzw. Prinzip des durchgngigen, systematischen Zusammenhangs aller empirischen Bestimmungen. Entsprechende Ideen des Maximums im Fall der kosmologischen Reihen sind die Weltbegriffe, deren regulative Funktion im Vorigen behandelt wurde (4.3.3).
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auf die Reihen der Erscheinungen berhaupt (vgl. B 712 f.; vgl. ausfhrlich im Vorigen 4.3.3). Die Gegenstnde der Ideen kçnnen freilich nicht als wirkliche Gegenstnde und um ihrer selbst willen angenommen werden, sondern werden „nur als Analoga von wirklichen Dingen“ (B 702) vorausgesetzt, und nur zum Behuf der Erweiterung und systematischen Ordnung der empirischen Erkenntnis. Sie werden nur als Gegenstnde „in der Idee“ und nicht „schlechthin“ (B 698) vorausgesetzt.26 Die Setzung eines Gegenstandes schlechthin, die absolute Position, kann ja, wie gesehen (4.2.1), nur seine Setzung im Kontext der mçglichen Erfahrung bedeuten. Auf den Gebrauch der Ideen in Bezug auf die empirische Forschung, „als heuristische[r] Fictionen“ (B 799), beschrnkt sich der Wert der Annahme ihrer Gegenstnde als Hypothese (vgl. den Abschnitt „Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen“, B 797 ff.). Den Nachweis des legitimen Gebrauchs der Ideen nennt Kant […] die transscendentale Deduction aller Ideen der speculativen Vernunft, nicht als constitutiver Principien der Erweiterung unserer Erkenntniß ber mehr Gegenstnde, als Erfahrung geben kann, sondern als regulativer Principien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntniß berhaupt (B 699).
In diesem Nachweis, der im letzten Abschnitt der transzendentalen Dialektik erfolgt, besteht die „Endabsicht der natrlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ (B 697 ff.). Der Endzweck der Vernunft, ihre Erweiterung ins Feld des bersinnlichen, der Nachweis der objektiven Realitt der Ideen, kann dann nur im Praktischen realisiert werden.
5.3 Die praktische Vernunft Das Resultat der dritten Antinomie, die Unentscheidbarkeit der Frage in theoretischer Hinsicht, hatte die Nicht-Unmçglichkeit der Freiheit sichergestellt: die Mçglichkeit der Differenz des Subjekts von der kausalen Welt der Erscheinungen. Die Wirklichkeit der Freiheit bedeutet das Vermçgen einer unbedingten Selbstbestimmung des Willens. Dieses Vermçgen wird vom Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft bezeugt, dem moralischen Gesetz, das die ursprngliche Bestimmung des Begehrungsvermçgens durch die Vernunft ausspricht: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzge26 Zur Unterscheidung vgl. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik III, 604 ff.
5.3 Die praktische Vernunft
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bung gelten kçnne.“ (KpV § 7, 30). Die Freiheit ist nach Kant die Bedingung, die „ratio essendi“ (Realgrund), des moralischen Gesetzes; das Gesetz ist andererseits die „ratio cognoscendi“ (Erkenntnisgrund) der Freiheit (KpV 4 Anm.). Auf diese Weise wird das Unbedingte in der praktischen Sphre als Autonomie bestimmt, als unbedingte Selbstbestimmung des handelnden Subjekts. Das moralische Gesetz, das die Menschen dazu auffordert, den Standpunkt der Allgemeinheit einzunehmen, kann jedoch jederzeit mit den Geboten der sinnlichen Neigungen in Kollision treten, die insgesamt unter dem Prinzip der „eigenen Glckseligkeit“ stehen (KpV 22). Daher nimmt das moralische Gesetz fr die Menschen als endliche (d. h. sinnlich affizierte) Vernunftwesen die Gestalt des Imperativs, des Sollens, der Pflicht an. Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft, das Prinzip der Autonomie des Willens, das fr den Willen jedes mçglichen Vernunftwesens gilt, spezifiziert sich unter der Bedingung der Sinnlichkeit zum „Sittengesetz“ (KpV 31), dem unbedingten, d. h. kategorischen, Imperativ.27 Im moralischen Gesetz grnden nach Kant auch die Prinzipien a priori des Rechts, wenn es auch immer erdenklich ist, dass die Glieder eines politischen Gemeinwesens diese Prinzipien nicht vermçge ihrer Autonomie sich zu eigen machen, sondern mechanisch bzw. hinterlistig sich unterwerfen. Als natrliche Wesen, mit ihren Sinnen und ihren Bedrfnissen, sind die Menschen selbst Glieder in der Kette der Sinnenwelt, im Reich der Erscheinungen. Als vernnftige Wesen, deren freie Selbstbestimmung keiner sinnlichen Bedingung unterliegt, gehçren sie einer „Welt vernnftiger Wesen (mundus intelligibilis)“ (GMS 438) an, einer idealen Gemeinschaft moralischer Personen. Als Brger zweier Welten sehen sie sich aber damit konfrontiert, dass ihre Autonomie erneut eine bloß formale Selbstbestimmung bedeutet, dass sich durch den Grundsatz der Vernunft nur die Form der Handlungen bestimmen lsst. Im Theoretischen standen den formalen Grundstzen des Verstandes a priori die materialen empirischen Gesetze gegenber (vgl. oben 5.2.1). Im Praktischen ist der Grundsatz der Vernunft, das Prinzip der Sittlichkeit, auch nur formal, wogegen alle materialen praktischen Regeln unter das Prinzip der eigenen Glckseligkeit fallen (vgl. KpV § 8). In der vernunftgemßen Selbstbestimmung kann gar nicht eingeschlossen sein, dass die Wirkungen der moralischen Handlungen der Menschen in der Sinnenwelt mit ihren physischen Zwecken, ihrer Glckseligkeit, zusammenfallen. 27 Vgl. hierzu Wolff, „Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist“, 524 f.
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5 Der berschritt zum Unbedingten
Die Kluft zwischen Form und Materie der Willensbestimmung fhrt nun zu einer Antinomie. Das moralische Gesetz ist nmlich zwar bedingungsloser Bestimmungsgrund des Willens und damit des Guten als des Gegenstandes der praktischen Vernunft. Diese fordert nun aber unabweislich das Unbedingte als „die unbedingte Totalitt des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des hçchsten Guts“ (KpV 108). Das hçchste Gut, der ganze Gegenstand der praktischen Vernunft, wre das Zusammenfallen von Tugend (Sittlichkeit) und Glckseligkeit. Da dieses Zusammenfallen, wie gesehen, nicht „analytisch“ verbrgt ist, kann es nur „synthetisch“ zustande kommen: entweder (a) indem die Absicht auf Glckseligkeit „die Bewegursache zu Maximen der Tugend“ abgibt, oder aber (b) indem umgekehrt die sittliche Bestimmung „die wirkende Ursache der Glckseligkeit“ ist (KpV 113). Im Widerstreit dieser beiden Stze besteht also die Antinomie der praktischen Vernunft. Die Elementarlehre der Kritik der praktischen Vernunft (1788) gliedert sich daher ebenso wie die transzendentale Logik der Kritik der reinen Vernunft in eine Analytik und eine Dialektik: die „Analytik der reinen praktischen Vernunft“ (KpV 19 ff.) und die „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ (KpV 107 ff.). Im Theoretischen hatte sich die Dialektik zwischen Verstand und Vernunft abgespielt, zwischen dem Anspruch der Vernunft auf die Totalitt einerseits und dem empirisch bedingten Verstand andererseits. Im Praktischen sind die Gegenspieler dagegen die Vernunft einerseits und die Sinnlichkeit andererseits, jedenfalls nur insofern ihr Prinzip als grundlegende Willensbestimmung auftritt. Die Auflçsung der Antinomie der praktischen Vernunft erfolgt nun durch die Postulate der reinen praktischen Vernunft, welche die objektive Realitt der Ideen von Gott und Unsterblichkeit aufrechterhalten. Die Dialektik der zweiten Kritik enthlt damit die ausgearbeitete Lehre von Kants moralischen Beweisen der beiden Ideen. Eine erste (weniger khne, noch nicht radikal im Prinzip der Autonomie grndende) Gestalt dieser Lehre liegt im „Kanon der reinen Vernunft“ aus der ersten Kritik vor (B 823 ff.). Die Auflçsung der Antinomie der praktischen Vernunft, die hier kurz und umrisshaft geschildert werden soll, vollendet den berschritt der Vernunft zum Unbedingten in der praktischen Sphre und stellt somit die kantische Lçsung der Probleme dar, welche die transzendentale Dialektik der ersten Kritik vorgibt.28 Die erste der beiden einander entgegengesetzten Thesen ist nmlich „schlechterdings falsch“, da die Maximen der Tugend keineswegs auf dem 28 Zur Dialektik der praktischen Vernunft vgl. neuerdings Schwarz, Est Deus in nobis.
5.3 Die praktische Vernunft
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Streben nach Glck fußen kçnnen. Die zweite These ist aber „nicht schlechterdings, sondern nur […] bedingter Weise falsch“ (KpV 114): nur insofern die Unterscheidung von Phaenomena und Noumena unterschlagen wird und das behauptete Verhltnis von Ursache und Wirkung als ein Verhltnis in der Sinnenwelt genommen wird. Die autonome praktische Vernunft kann um den Preis ihrer Autonomie jenes Zusammenfallen, das hçchste Gut, nicht anders fordern denn als eine Folge der Selbstbestimmung. Dazu muss sie folgendes annehmen (allerdings nur in praktischer Hinsicht, ohne jeden Anspruch auf theoretische Erkenntnis): zunchst die unendliche Fortdauer der moralischen Person zum Behuf ihrer moralischen Vervollkommnung und, darber hinaus, im intelligiblen Grund der Sinnenwelt den Garanten des Zusammenfallens von erreichter Tugend, mithin Glckswrdigkeit, einerseits und Glckseligkeit andererseits. Die Realitt, in praktischer Hinsicht, der Idee der Freiheit bringt daher die Restitution der beiden anderen Ideen mit sich, der Ideen von der Unsterblichkeit der Seele und vom Dasein Gottes: als Postulate des moralisch-praktischen Vernunftgebrauchs, als Gegenstnde eines vernnftigen Glaubens. Man mçchte vielleicht Heinrich Heine Recht geben, der hier eine Auferstehung des in der Kritik der reinen Vernunft enthaupteten Gottes erblickte: ein „halb gutmtig[es] und halb ironisch[es]“ Zugestndnis Kants an die Frçmmigkeit seiner Zeitgenossen.29 Es wird allerdings in Kants Moralphilosophie kein anderes Prinzip eingefhrt als die Autonomie der Vernunft, des Organs der Kritik.30 Nicht die Moral wird im Dasein Gottes begrndet, sondern umgekehrt die Gltigkeit der Idee Gottes in der Autonomie des sittlichen Bewusstseins. Aus dem moralischen Gesetz, welches uns unsere eigene Vernunft mit Autoritt vorschreibt, nicht aus der Theorie der Natur der Dinge an sich selbst geht nun der Begriff von Gott hervor, welchen uns selbst zu machen die praktische reine Vernunft nçthigt. (VT 401 Anm.)
29 Heine, Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 89. 30 Vgl. hierzu treffend Adorno, Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie, 206. – Zu den Schwierigkeiten des Verhltnisses von autonomer Moral und Religion bei Kant vgl. Iber, „Religion als Ideal einer wirkmchtigen Moral bei Kant“.
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5 Der berschritt zum Unbedingten
Die Vernunft fordert einzig und allein, dass dasjenige, was die Autonomie als Pflicht vorschreibt, nmlich das Streben nach moralischer Vollkommenheit und nur darber nach dem hçchsten Gut, auch erreichbar sei.31 Dies zu fordern ist die Vernunft berechtigt, weil sie sich, wie gesehen (5.1), auf keine Gegenstnde, sondern nur auf sich selbst bezieht und selbst den Kompass hergeben muss, um sich im Handeln zu orientieren. Man postulirt also nicht Sachen, oder berhaupt das Dasein irgend eines Gegenstandes, sondern nur eine Maxime (Regel) der Handlung eines Subjects. (VNAEF 418 Anm.)
Die Gegenstnde des Vernunftglaubens „machen wir uns […in praktischer Rcksicht] selbst“ (FM 299) gemß den Ideen der Vernunft, und wir „handeln, als ob wir wßten, daß diese Gegenstnde wirklich wren“ (FM 298). Kants Moralphilosophie luft zwar hinaus auf die Rettung von Analoga der traditionellen metaphysischen Gegenstnde und religiçsen Glaubensinhalte. Es handelt sich allerdings um nichts mehr als ebensolche Analoga. „Gott ist nicht eine Substanz sondern die personificirte Idee des Rechts und Wohlwollens“ (OP, AA 22, 108). Auch das Postulat der Unsterblichkeit darf keineswegs zeitlich verstanden werden. Das wrde nmlich heißen, dass sinnliche Vorstellungen auf den Bereich der Noumena projiziert werden. Die Idee meint keinen Zustand nach dem Tod, sondern bezieht sich auf die zeitlose (ewige) praktische Vernunft im Menschen (vgl. EAD 327). Der Vernunftglaube grndet, wie gesehen (5.1), einzig und allein im Bedrfnis der Vernunft, die sich selbst nicht aufgeben und keiner anderen Instanz weichen darf. „Das Princip der selbsterhaltung der Vernunft ist das Fundament des Vernunftglaubens“ (Refl 2446). Im Vorrecht der praktischen Vernunft, urteilen zu drfen, wo sich die theoretische enthalten muss, besteht nach dem Vorigen (5.1) das Primat der ersteren ber die letztere. Das Primat besteht wohl auch darin, dass sich der theoretische Verstand der Vernunft im engeren Sinne unterordnet, die nur in ihrem praktischen Gebrauch ihren „wesentlichen Zwecke[n]“ (B 867) nachzukommen vermag. Die moralisch-praktischen Prinzipien sind unbedingt; ihre Befolgung (und die intelligible Natur des Menschen als vernnftigen Wesens, seine Wrde als moralischer Person) ist „Zweck an sich selbst“ (GMS 428). Die theoretischen Erkenntnisse und Fertigkeiten der „Ver31 Der entscheidende Vorgnger von Kants Begrndung der Gottesidee in der Ethik der Autonomie war Jean-Jacques Rousseau. Vgl. das berhmte „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“ aus dem Emil oder ber die Erziehung, 275 – 334.
5.3 Die praktische Vernunft
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nunftknstler“ (B 867) sind dagegen Mittel zu beliebigen Zwecken; als technisch-praktische Prinzipien unterliegen sie dem moralischen Selbstzweck. Die berbrckung der Kluft zwischen der noumenalen Welt als „Reich der Zwecke“ (GMS 433) einerseits und der Welt der Erscheinungen unter mechanischen Gesetzen des Verstandes andererseits, das Problem der Verwirklichung der Vernunft in der Erfahrung, beschftigt Kant in seiner Theorie des Rechts (den Metaphysischen Anfangsgrnden der Rechtslehre als erstem Teil der Metaphysik der Sitten von 1797), in seinen Aufstzen zur Philosophie der Politik und Geschichte (ber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht fr die Praxis (1793), Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht (1784), Zum ewigen Frieden (1795)) sowie in seinen Ausfhrungen zum Verhltnis von Mechanismus und Teleologie in Natur und Gesellschaft aus der Kritik der Urteilskraft (1790) (vgl. KU §§ 83 f.).32 Dabei fungiert die Kritik der Urteilskraft insgesamt „als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie“.33 Indem der Verstand durch seine allgemeine Gesetzgebung a priori die zu erkennende Natur als Erscheinung konstituiert, gibt er „zugleich Anzeige auf ein bersinnliches Substrat derselben, aber lßt dieses gnzlich unbestimmt.“ Auf dem Prinzip a priori der reflektierenden Urteilskraft beruht dann die sthetische sowie die teleologische Beurteilung der Natur in ihrer Besonderheit, nach ihrer zweckmßigen Gestaltung.34 Dadurch verschafft die Urteilskraft dem „bersinnlichen Substrat (in uns sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellectuelle Vermçgen.“ Schließlich gibt die Vernunft diesem Substrat „durch ihr praktisches Gesetz a priori die Bestimmung; und so macht die Urtheilskraft den bergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs mçglich.“ (KU 196). Umgekehrt kann dadurch 32 Zum Problem der politisch-institutionellen Realisierung der Vernunft in Bezug auf die „Dialektik der Brche in der Kantschen Systematik“ vgl. Psychopedis, Untersuchungen zur politischen Theorie von Immanuel Kant, hier 36. 33 Horkheimer, ber Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. 34 Dieses transzendentale Prinzip (vgl. im Vorigen 5.2.2) ist ein Prinzip der „Zweckmßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit“ (KU 180; vgl. EEKU 216). Die „Naturschçnheit“, der Gegenstand der sthetischen Beurteilung, wird als „Darstellung“ der subjektiven Zweckmßigkeit der Natur fr unsere Fassungskraft verstanden; die „Naturzwecke“, der Gegenstand der teleologischen Beurteilung, als „Darstellung“ der objektiven (freilich im Modus des Als-Ob) Zweckmßigkeit der Natur in ihren organischen Gebilden (KU 193).
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5 Der berschritt zum Unbedingten
die Natur als fr die Wirkung der Freiheit, fr die Realisierung vernnftiger Zwecke, geeignet vorausgesetzt werden (vgl. KU 195 f.). Die beiden Teile der Kritik der Urteilskraft, die Kritik der sthetischen und die Kritik der teleologischen Urteilskraft, gliedern sich nun jeweils, wie die ersten beiden Kritiken, in eine Analytik und eine Dialektik. Es entsteht eine Dialektik der sthetischen ebenso wie eine der teleologischen Urteilskraft: es muss eine Antinomie des Geschmacks (KU §§ 55 ff.) ebenso wie eine Antinomie der teleologischen Urteilskraft (KU §§ 69 ff.) aufgelçst werden.35 Das Problem der Antinomie, das Kant zunchst anhand der Fragen der Kosmologie entdeckt und behandelt hatte, erweitert sich erheblich mit der Entfaltung des kritischen Projekts. Auf das systematische Verhltnis von Analytik und Dialektik in der zweiten und dritten Kritik, im Vergleich zu ihrem in dieser Arbeit behandelten Verhltnis in der ersten Kritik, kann jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Weitere Antinomien stellt und lçst Kant auf in den spteren Schriften: in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793/4) (RGV 116 ff.) sowie in der Metaphysik der Sitten, und zwar sowohl in der Rechtslehre (MS 254 f.) als auch in der Tugendlehre (MS 417 f.).
5.4 Das System der reinen Vernunft Durch die Postulate der praktischen Vernunft wird, nach dem Vorigen, gar nicht das Dasein von irgendwelchen Gegenstnden angenommen, sondern nur eine Maxime der Handlung: sich unerschtterlich an die Pflicht zu halten, zur Realisierung des hçchsten Guts hinzuwirken und die Bedingungen dazu, die nicht in unserer Gewalt sind, als gegeben zu betrachten. Dabei entsteht „[…] freylich wohl die Tuschung […], das, was in subjectiver Beziehung, nmlich fr den Gebrauch der Freyheit des Menschen, Realitt hat, weil es in Handlungen, die dieser ihrem Gesetze gemß sind, der Erfahrung dargelegt worden, fr Erkenntniß der Existenz des dieser Form gemßen Objectes zu halten“ (FM 299 f.). Auch im Theoretischen beziehen sich die Ideen nach ihrem angemessenen Verstndnis – bei aller unvermeidlichen Illusion – nicht auf bersinnliche Gegenstnde, sondern auf die Erkenntniskraft selbst, deren Einheit sie befçrdern. In ihrem angemessenen Gebrauch ermçglichen die Ideen die Philosophie als System. Ein System bedeutet nmlich „die Einheit der mannig35 Zur Antinomie der teleologischen Urteilskraft vgl. McLaughlin, Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, 117 ff.
5.4 Das System der reinen Vernunft
217
faltigen Erkenntnisse unter einer Idee“ (B 860). Es bedeutet ein Ganzes der Erkenntnis, das nach einer Idee der Vernunft „gegliedert“ und nicht empirisch „gehuft“ ist (B 861). Die systematische Ordnung der Erkenntnis, die diese „allererst zur Wissenschaft […] macht“ (B 860), ist begrndet in der Natur der Vernunft selbst. Die Philosophie bestimmt Kant als das „System aller philosophischen Erkenntniß“ (B 866) – d. h. aller Vernunfterkenntnis aus Begriffen im Gegensatz zur mathematischen Erkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe (vgl. im Vorigen 2.3). Diese Bestimmung der Philosophie erfolgt von ihrem idealen Ziel her. Der Bestimmung wrde nmlich erst das vollstndige System aller, reinen wie empirischen, Vernunfterkenntnis aus Begriffen vçllig gengen. In dieser Zielsetzung erschçpft sich der „Schulbegriff“ der Philosophie; die Philosophie nach ihrem „Weltbegriff“ geht noch darber hinaus (ebd.). Sie bezieht nmlich alle Erkenntnis durch deren systematischen Zusammenhang „auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“, worunter die moralisch-praktische Bestimmung des Menschen der hçchste ist (B 867; vgl. B 860). Die Gliederung in einen theoretischen und einen praktischen Teil ist dabei die ursprngliche Einteilung der Philosophie. Der theoretische Teil, die Philosophie der Natur, enthlt sowohl reine als auch empirische Gesetze und Prinzipien; der praktische Teil, die Philosophie der Sitten, deren Gegenstand die Freiheit ist, enthlt dagegen nur reine Gesetze (vgl. EEKU 195), whrend ihre angewandte Lehre diese Gesetze unter den sinnlichen Bedingungen und „Hindernissen“ zu betrachten hat (B 79). Das Ziel der systematischen Vollstndigkeit kann nun in Ansehung der empirischen Erkenntnis nur eine Richtungslinie der Forschung bedeuten; in Ansehung der Erkenntnis a priori, die aus der Vernunft allein fließt, ist das Ziel aber durchaus realisierbar. Die Kritik der reinen Vernunft legt dabei den Grund fr die Transzendentalphilosophie, fr das „System aller Begriffe und Grundstze, die sich auf Gegenstnde berhaupt beziehen“ (B 873; vgl. B 24 ff.). Die systematische Einheit dieser Begriffe und Grundstze a priori steht unter den transzendentalen Ideen. Nach ihrem angemessenen Verstndnis sind diese nmlich keine Begriffe von Gegenstnden, sondern von der Ordnung solcher Begriffe. Nach diesem ihrem Verstndnis, bezogen auf die Erkenntniskraft, haben die transzendentalen Ideen jeweils zum Gegenstand: (1) die Apperzeption, (2) die Apprehension der Erscheinung, (3) den Begriff vom Verstand berhaupt (siehe Refl 5553; vgl. im Vorigen 2.2.2, 3.3.1). Die Einheit der Apperzeption (Idee der ersten Klasse) ist, nach einer bereits zitierten berhmten Anmerkung der Analytik, „der hçchste Punkt, an dem man […] die Transscendental-Philo-
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5 Der berschritt zum Unbedingten
sophie heften muß“ (B 134; vgl. im Vorigen 3.3.1). Die transzendentale Freiheit als Selbstttigkeit (Idee der zweiten Klasse) beschreibt auch jenen hçchsten Punkt; sie bedeutet die Spontaneitt des Verstandes (vgl. im Vorigen 3.5; 4.3.3). Die systematische Vollstndigkeit der reinen Verstandeserkenntnis hngt schließlich an einem Begriff vom Verstand berhaupt (Idee der dritten Klasse) (3.3.1). In Ansehung der Erkenntnis a priori sind die Ideen wohl konstitutiv: zwar nicht fr irgendwelche Gegenstnde, jedoch fr die Systematik. Sie sind Konstitutionsbedingungen der erkennenden Subjektivitt. Regulativ fungieren sie angesichts der fortschreitenden Erfahrung. Die „reine“ im Gegensatz zur „empirische[n] Philosophie“ (B 868) ist daher durchaus systematisch ausfhrbar. Kant unterteilt diese reine Philosophie in die Kritik der Vernunft als „Propdeutik“ (B 869) und in das System der reinen Vernunft, das System der Metaphysik, das darauf folgen kann. Die Bezeichnung Metaphysik kann nach Kant entweder fr das System oder aber fr die ganze reine Philosophie „mit Inbegriff der Kritik“ (ebd.) verwendet werden. Als methodische Klrung der Grundlagen, als „die Metaphysik von der Metaphysik“,36 macht die Kritik die Metaphysik als Wissenschaft und damit als System mçglich. Dieses ist dann aus der systematischen Verfassung der Vernunft selbst, „aus dem Wesen des Denkungsvermçgens selbst genommen“ (MAN 472). Das System der Erkenntnis a priori, das System der Metaphysik, gliedert sich in den theoretischen und den praktischen Teil, in die Metaphysik der Natur und die Metaphysik der Sitten. Die Metaphysik der Natur enthlt die Transzendentalphilosophie als Nachfolgedisziplin der alten Ontologie (metaphysica generalis) und die Anfangsgrnde der Naturwissenschaft; die Metaphysik der Sitten enthlt die Prinzipien a priori von Recht und Ethik. Die Skizze dieses Systems der Metaphysik bietet Kant in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, im Abschnitt ber „Die Architektonik der reinen Vernunft“ (B 860 ff.; siehe Schema). Wenn man sich nun aber der Beschreibung des Systems in dieser Partie zuwendet, dann fllt dort sicherlich zweierlei auf: (a) Das System enthlt „die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntniß aus reiner Vernunft“ (B 869). (b) Als Teile der Metaphysik der Natur enthlt das System immer noch die in der transzendentalen Dialektik destruierten theoretischen Disziplinen der alten metaphysica specialis (rationale Psychologie, Kosmologie, Theologie) (vgl. B 874). Sie sind systematisch geordnet nach den drei 36 Kant an M. Herz, nach dem 11. Mai 1781, AA 10, 269.
5.4 Das System der reinen Vernunft
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Schema. Das System der Metaphysik
Klassen der transzendentalen Ideen, nun doch als Begriffen von (metaphysischen) Gegenstnden. Das Bewahren der Disziplinen kann zunchst verstanden werden in Blick auf die Mçglichkeit der Metaphysik in der Sphre der praktischen Vernunft. Zu diesem Zweck, dem hçchsten der Vernunft berhaupt, muss ja die theoretische Vernunft die Begriffe bereitstellen und die Nicht-Un-
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5 Der berschritt zum Unbedingten
mçglichkeit der entsprechenden Gegenstnde als Noumena dartun. Die Disziplinen kçnnen daher nicht umgangen werden. Das Festhalten an ihnen soll aber auch in Blick auf (a) verstanden werden: in Blick darauf, dass der transzendentale Schein eben nicht verschwindet. Er liegt ja, wie die Begriffe vom Unbedingten als „nothwendige Probleme oder Fragen“ (Refl 5553), in der Natur der Vernunft. Die Kritik des Scheins ist kein ein fr allemal zu vollbringendes Werk, sondern bleibende Aufgabe der Vernunft. Der bestndige Schein und seine bestndige Kritik sind auch, wie gesehen, von der regulativen Funktion der Ideen unabtrennbar. Die Kritik der reinen Vernunft ist damit aber nicht nur die Vorbereitung fr das zu errichtende System; sie ist nicht bloß Propdeutik, sondern begrndet, gerade in der transzendentalen Dialektik, einen Begriff der Philosophie als Kritik, als permanente Kritik.37 Der spte Aufsatz Kants Verkndigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie (1796) definiert sogar die kritische Philosophie als einen „immer […] bewaffnete[n] Zustand“ der Vernunft (VNAEF 416). In diesem Zustand ist die Vernunft immer bereit, den Schein abzuwehren. Die Philosophie soll dadurch „therapeutisch“ wirken (VNAEF 414). Sie soll aber nicht etwa ( la Wittgenstein) von den philosophischen Problemen, den metaphysischen Fragen, heilen. Im Gegenteil sind gerade die Fragen als unabweisbare Probleme das Heil, weil sie die Vernunft beleben und die Menschen davor bewahren, „lebendigen Leibes zu verfaulen“ (ebd.).
37 Vgl. hierzu Arndt, „Figuren der Endlichkeit. Zur Dialektik nach Kant“, 94.
Literaturverzeichnis 1. Schriften Kants Die Werke Kants sowie der Nachlass werden nach der Akademie-Ausgabe (AA) zitiert. Die Angabe erfolgt parenthetisch im Text durch eine Sigle und die Seitenzahl des entsprechenden Bandes. Bei der Kritik der reinen Vernunft wird statt einer Sigle und der Seitenzahl der Akademie-Ausgabe die Originalpaginierung angegeben: nach A fr die erste Auflage (Riga 1781; Text nach AA 4) und B fr die zweite (Riga 1787; Text nach AA 3). Es werden folgende Siglen verwendet: AA Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Kçniglich Preußischen, spter Deutschen, spter Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff. Anth Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798/1800), AA 7, 117 – 333. BDG Der einzig mçgliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763), AA 2, 63 – 163. DfS Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren erwiesen (1762), AA 2, 45 – 61. EAD Das Ende aller Dinge (1794), AA 8, 325 – 339. EEKU Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urtheilskraft, AA 20, 193 – 251. FM ber die von der Kçnigl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin fr das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolff ’s Zeiten in Deutschland gemacht hat?, hg. von F. Th. Rink (1804), AA 20, 253 – 332. GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), AA 4, 385 – 463. GSK Gedanken von der wahren Schtzung der lebendigen Krfte (1746), AA 1, 1 – 181. KpV Kritik der praktischen Vernunft (1788), AA 5, 1 – 163. KU Kritik der Urtheilskraft (1790), AA 5, 165 – 485. Log Immanuel Kant’s Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, hg. von G. B. Jsche (1800), AA 9, 1 – 150.
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2. Sonstige zitierte Literatur bis 1900
VNAEF VT WDO
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Personenregister Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf Anmerkungen. Adorno, Theodor W. 31, 67, 103, 122, 150, 178, 213 Ameriks, Karl 2, 118 Anselm von Canterbury 125 Aristoteles 4 f., 17 f., 23–26, 29 f., 32, 34, 35, 48, 114, 163, 180 Arnauld, Antoine 34 Arndt, Andreas 10, 24, 31, 93 f., 103, 168, 179, 220 Bacon, Francis 5 f., 26 Baum, Manfred 83 Baumgarten, Alexander Gottlieb Beck, Lewis White 69 f., 198 Beiser, Frederick C. 189 Benjamin, Walter 53 Bennett, Jonathan 150 Bernoulli, Jacob 19, 20 Bittner, Rdiger 10, 24 Bolzano, Bernard 69
71
Cantor, Georg 151, 155 Cassirer, Ernst 70, 87 Cicero, Marcus Tullius 15 Clarke, Samuel 74, 99 Coffa, J. Alberto 69 Conrad, Elfriede 20, 35 Coole, Diana 206 Darjes, Joachim Georg 18 Deleuze, Gilles 67 Descartes, Ren 5 f., 16, 26, 34, 71, 75, 111, 121, 125, 131, 135, 139 Dietrich, Albert Johannes 70 Dsing, Klaus 133 Eidam, Heinz Emundts, Dina
91 118
Epikur 75 Euklides von Megara
25
2, 75, 145, Falkenburg, Brigitte 151, 172, 177 Fichte, Johann Gottlieb 89, 190 Frede, Michael 43 Frege, Gottlob 69, 126 Fulda, Hans Friedrich 2 Garve, Christian 74, 144 Goldmann, Lucien 133 Grier, Michelle 2, 63, 66 Guyer, Paul 110, 205 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 31, 32, 65, 66, 70, 157, 174 Heidegger, Martin 127 Heimsoeth, Heinz 171, 210 Heine, Heinrich 213 Heinrich, Klaus 43 Helmholtz, Hermann von 69 Henrich, Dieter 55, 64, 100, 125, 133, 149 Herz, Markus 75, 218 Hinske, Norbert 75, 145 Hobbes, Thomas 33 Hçffe, Ottfried 145 Horkheimer, Max 215 Horstmann, Rolf-Peter 118, 208 f. Hume, David 28, 90 Hutter, Axel 195 Iber, Christian 213 Irrlitz, Gerd 15, 26, 75, 107 Jacobi, Friedrich Heinrich 101, 122, 132, 186, 189–192
232
Personenregister
Jsche, Gottlob Benjamin 38 Jean Paul siehe Richter, Jean Paul Kambartel, Friedrich 79 Kaulbach, Friedrich 11, 75, 95, 185, 196 Kemp Smith, Norman 202 Kesselring, Thomas 173 Klimmek, Nikolai f. 2, 49, 60, 63, 67 Knittermeyer, Hinrich 84 Knutzen, Martin 131 Kopernikus, Nikolaus 55, 95, 196 Kçnig, Peter 83 Krings, Hermann 205 Kroner, Richard 58 Krger, Peter 43 Kulenkampff, Arend 78, 81, 150 Lambert, Johann Heinrich 23, 37, 39 Laplace, Pierre-Simon de 19, 132 Leibniz, Gottfried Wilhelm 15, 74, 75, 99, 113, 125, 137, 145, 171 Lefvre, Wolfgang 30 Lehmann, Gerhard 206 Lessing, Gotthold Ephraim 189 f. Longuenesse, Batrice 38, 43, 44, 198 Lukcs, Georg 44 Malter, Rudolf 60 Malzkorn, Wolfgang 49, 66, 145 Martin, Gottfried 98, 145, 155, 178 Marx, Karl 74 Meier, Georg Friedrich 18, 38 Mendelssohn, Moses 113, 189–191 McLaughlin, Peter 216 Merritt, Melissa McBay 87 Mittelstaedt, Peter 145, 151 Moivre, Abraham de 19 Newton, Isaac 201 Nicole, Pierre Palamedes
74, 76, 95, 99, 144, 34 29
Picht, Georg 30, 84, 178 Platon 4, 26, 28–30, 53, 75, 91, 123 Psychopedis, Kosmas 215 Puder, Martin 70 Pyrrhon von Elis 26 f. Ramus, Petrus 15, 58 Richter, Jean Paul 184 Ritsert, Jrgen 31, 173 Rçd, Wolfgang 31, 125, 208 Rosefeldt, Tobias 118 Rotenstreich, Nathan 65 Rçttgers, Kurt 15 Rçttges, Heinz 79, 102 Rousseau, Jean-Jacques 214 Russell, Bertrand 126, 151 Sallis, John 63 Schiller, Friedrich 140 Schlegel, Friedrich 93, 94, 184 Schleiermacher, Friedrich 29 Schlosser, Johann Georg 101, 181, 186 Schmauke, Stephan 45, 66 Schmucker, Josef 79 Schulthess, Peter 39, 49, 55, 160 Schwarz, Gerhard 212 Sedgwick, Sally 168 Seebohm, Thomas M. 49 Siegmann, Georg 61 Sokrates 183 Spinoza, Baruch de 65, 106, 132, 190 Steckelmacher, Moritz 38 Stekeler-Weithofer, Pirmin 31, 172 Stolzenberg, Jrgen 2 Strawson, Peter Frederick 65 Strohmeyer, Ingeborg 145, 151 Theunissen, Michael 32 Thompson, Manley 43, 160 Tieftrunk, Johann Heinrich 58 Timm, Hermann 189 Tonelli, Giorgio 13–15, 18, 66, 87 Tugendhat, Ernst 126 berweg, Friedrich
25, 29
Personenregister
233
Vico, Giambattista 15 Vossenkuhl, Wilhelm 49 Vuillemin, Jules 155
Wolff, Michael 6, 10, 14, 31, 35, 51, 56, 81, 99, 121, 136, 141, 157 f., 160, 168, 176, 211
Wittgenstein, Ludwig 220 Wizenmann, Thomas 191 Wolf, Ursula 126 Wolff, Christian 15 f., 28, 34, 131, 137, 144
Zeidler, Kurt Walter 101 Zenon von Elea 25, 28 f. Zermelo, Ernst 151, 155 Zocher, Rudolf 66, 207