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German Pages 170 [169] Year 2023
Jo ü rg Zimmer
Dialektik der Gegenwart Grundprobleme ihrer Begru ü ndung
AISTHESIS VERLAG
AV
Jörg Zimmer
Dialektik der Gegenwart Grundprobleme ihrer Begründung
AISTHESIS VERLAG Bielefeld 2023
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Aisthesis Verlag Bielefeld 2023 Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld Lektorat: Hanns-Martin Rüter, Aisthesis Verlag Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.de Alle Rechte vorbehalten Print ISBN 978-3-8498-1901-9 E-Book ISBN 978-3-8498-1902-6 www.aisthesis.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ...........................................................................................................................
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Einleitung Gegenwart denken. Ein Versuch über die Dialektik ..............................................
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I
Grundgedanken. Hegel und das Problem der Dialektik ........................... Dialektik als Theorie des Widerspruchs ........................................................ Die Substanz als Subjekt ................................................................................... Dialektik als spekulative Philosophie: ‚Das Wahre ist das Ganze‘ ........... Gegenständliche Tätigkeit: Hegelkritik beim frühen Marx .....................
16 16 21 27 32
II
Die Präsenz des Seins ........................................................................................ Das Feld der Erfahrung: Die Priorität des Raums vor der Zeit ............... Sein als Gegenwart ............................................................................................ Gegenstand der Intuition: Der Spiegel als notwendige Metapher ..........
37 38 43 48
III Reflexionsverhältnisse ...................................................................................... Der transzendentale Sinn der Reflexion ...................................................... Hegels Begriff der Reflexion ............................................................................ Die logische Struktur der Reflexion und ihre Aufhebung in das gegenständliche Reflexionsverhältnis der Gegenwart ....................
54 55 60
IV Strukturen der Negativität ............................................................................... Die Wirklichkeit des Scheins .......................................................................... Möglichkeit in Prozessen und Kompossibilität: Konstellationen der Gegenwart .................................................................................................... Dialektik der Grenze: Problem und Horizont der Totalität ....................
69 70
64
74 80
V
Theorie und Praxis I: Priorität des Ethischen ............................................. 86 Die exzentrische Situation des Menschen als materiales Apriori der Praxis ............................................................................................................. 86 Situationsethik und Begriff der Freiheit ........................................................ 90 Dialektik des Wertbegriffs ............................................................................... 100
VI Theorie und Praxis II: Primat des Politischen ............................................. 105 Kategoriale Aspekte der Kritik der Politischen Ökonomie ....................... 105 Politik als Ordnung der Kompossibilität ...................................................... 118 VII Den Augenblick festhalten: Das Kunstwerk in der Gegenwart ............... Die evozierende Funktion des Kunstwerks und das Konzept der ästhetischen Wirkung ................................................................................ Reflexionsgehalt und Bedeutungsverlust der Kunst: das Problem des Realismus ...................................................................................................... Die Bilderwelt der Gegenwart ........................................................................ Ästhetik als Theorie der Emanzipation der Sinne .......................................
130 132 138 143 151
Schluss: Dialektik als begreifendes Denken ............................................................ 156 Die Theorieform der Philosophie: Staunen, Zweifeln, Begründen ........ 156 Begreifendes Denken ........................................................................................ 161
Häufig zitierte Werkausgaben: HW
Hegel, G. W. F.: Hauptwerke in sechs Bänden (nach der historischkritischen Ausgabe). Hamburg 1999 Hegel, G. W. F.: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832W 1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Ffm. 1969 ff. MEW Marx-Engels-Werke, Berlin 1956 ff.
Vorwort
Den Grundgedanken der folgenden Studie habe ich zum ersten Mal vor zwanzig Jahren in einem Aufsatz vorgetragen, in dem es um die Widerspiegelungstheorie von Hans Heinz Holz ging.1 Ich behandelte das Problem der Gegenwart im Kontext dialektischer Theorie also zunächst als einen Aspekt der Widerspiegelungstheorie. In den Schlussbemerkungen zu dieser Debatte schrieb Holz damals: „Insofern hat Jörg Zimmer recht, wenn er der Gegenwart in emphatischem Sinn – Präsenz als Zeit dimension und als Anwesenheit – einen genuinen ontologischen Status zuerkennt, der sich nicht im Strom der Zeit auflöst. (…) Aus dieser richtigen Einsicht hat Zimmer ein Konzept entwickelt, das ein weiterführendes Programm enthält. Indem er die Intensität der Gegenwart voll und uneingeschränkt als das Sein selbst annimmt, kann er versuchen, die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit der Seienden aus der Verfassung des Jetzt entspringen zu lassen, also im Begriff der absoluten Gegenwart die Dialektik von Hier und Dort, von Jetzt und Dann und damit den Zukunfts modus zu verankern. Damit rückt der Seinsmodus der Möglichkeit ins Zentrum der Ontologie, in den die Extensionalität der Zeit intensional zurückgenommen werden kann. Wenn in der Spiegelung sich die Struktur der Komplementarität von Extensionalität und Intensionalität (als Aspekten des Seins) präzis abbildet – was ich annehme und was allerdings noch durch weitere Analysen erhärtet werden muss –, dann hat Zimmer mit der ‚Dialektik der Gegenwart‘ eine wesentliche Perspektive des Widerspiegelungs-Theorems in den Blick gebracht.“2 Ein ‚Programm‘ war mit dem Aufsatz in der Tat formuliert, von einem ausgearbeiteten ‚Konzept‘ jedoch konnte damals noch keine Rede sein. Die ‚Dialektik der Gegenwart‘, die ich dann in den darauffolgenden Jahren nicht zuletzt durch die Ermutigung meines Lehrers in vielen Aspekten auszuarbeiten begann (die vielen Hinweise, die ich in der vorliegenden Studie auf eigene Vorarbeiten gebe, sollen diesen systematischen Problemzusammenhang meiner philosophischen Arbeit Vgl. Jörg Zimmer, „Die Präsenz des Seins. Dialektik der Gegenwart in der Widerspiegelungstheorie“. In: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Bd. 19 (2002), S. 11 ff. 2 Hans Heinz Holz, „Bemerkungen zum Schluss – keine Schlussbemerkungen“. In: Topos 19 (2002), S. 93 f. 1
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Vorwort
transparent machen), hat sich zu dem entwickelt, was ich mit dem schönen Ausdruck Hans Blumenbergs eines meiner ‚Lebensthemen‘ nennen möchte. Ich beanspruche mit den folgenden Untersuchungen nicht, eine systematisch durchgearbeitete Theorie der Dialektik zu entwickeln, sondern lediglich, das Problem einer ‚Dialektik der Gegenwart‘ als Problem systematisch durchgearbeitet vorzustellen. Der Leser wird in diesem Buch nur wenig über die klassischen Fragen der Philosophie der Gegenwart erfahren: Zeit und Ewigkeit, Probleme um den Begriff des ‚kairos‘ und überhaupt religionsphilosophische Fragen werden allenfalls am Rande behandelt. Im Zentrum steht die systematische Frage, wie die Grundprobleme der Dialektik vom Standpunkt der Gegenwart aus innovativ reformuliert werden können. Dieses Buch hat mich über viele Jahre begleitet, und daher haben auch viele Menschen auf seine Entstehung eingewirkt, denen ich zu Dank verpflichtet bin. Ich möchte es jedoch meiner immer gegenwärtigen Freundin Youn Ji-Young widmen. Sie ist unmittelbar vor dem Beginn der Niederschrift nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben. Sie hat nach einem Studium der Koreanistik in ihrer Heimat, nach vielen Jahren eines Lebens in Katalonien, bei mir nochmals studiert. So haben wir uns kennengelernt. Wir sind nach dieser Studienzeit Freunde geworden, und Ji-Young hat aus ihrer Kenntnis der fernöstlichen Kulturen in unseren Gesprächen viel zu meinem Verständnis der Gegenwart beigetragen. Unsere gemeinsame Sprache war weder ihre noch meine Muttersprache, sondern Katalanisch, die Sprache des Landes, in dem wir beide als Migranten lebten. So entstand eine besondere Verbundenheit zwischen uns, und in viele Gedanken, die dieses Buch enthält, sind dankbare Erinnerungen an Ji-Young eingegangen. Sie wird mir immer gegenwärtig bleiben. Ich erinnere mich noch an das lange Gespräch, das wir über eine Widmung führten, die Hans Heinz Holz mir in mein Exemplar seines Buches ‚Widerspruch in China‘ schrieb. Diese Worte fassen alles zusammen, worum es mir in diesem Buch zur Dialektik geht: Am Ursprung der Widerspruch: Am Einen das Andere Aus dem Jetzt die Zeit. Girona, im Februar 2023 Jörg Zimmer
Einleitung Gegenwart denken. Ein Versuch über die Dialektik
Menschliche Grunderfahrungen finden ihren frühen Ausdruck im Mythos und die Entfaltung ihrer Bedeutungslatenzen in seiner Gestaltung in Kunst und Literatur. Der Mythos von Narziß und Echo in der Form, in der ihn Ovid gestaltet hat, ist ein solcher Ausdruck der Urerfahrung der Spiegelung als einer Erfahrung, in der nicht nur, wie bis heute oft einseitig hervorgehoben, der Selbstbezug des Menschen, sondern auch das Strukturganze der Spiegelung sich darstellt.3 Er erzählt jedoch nicht nur den Mythos der Erfahrung der Spiegelung, sondern auch die Geschichte des Verhältnisses zweier Modi der Rückkoppelung: Ovid haben wir den Einfall zu verdanken, „akustischen und optischen Reflex zu kontrastieren“.4 Echo steht für das asynchrone Reflexionsverhältnis: Sie kann nie als Erste sprechen, muss warten und kann nur reagieren. Von den Worten, die sie ansprechen, kann sie immer nur fragmenta risch die letzten wiedergeben, oder, ins Prinzipielle der Sinnesmodalitäten gefasst, könnte man mit Hans Blumenberg sagen: „Das Auge kann suchen, das Ohr nur warten.“5 Während die Spiegelung des Narziß einen notwendigen Selbstbezug zum Ausdruck bringt, beschreibt der Dichter in Echo die Form des notwendigen Fremdbezugs, der eines der beiden Momente des einen Reflexionsverhältnisses ist und hier sozusagen in verteilte Rollen zerlegt wird. Der stimmliche Reflex trägt den Index der Zeitlichkeit, als Klage, aber eben auch als Erwartung, wie Echos Antworten auf Narziß zeigen. Die Spiegelung des Narziß dagegen reflektiert die unmittelbare Präsenz und Gegenwart eines Ganzen, das allerdings nur im Augenblick der Spiegelung da ist, nicht nachklingt, sondern vollkommen und augenblicklich verschwindet. In Echo bildet Ovid die diachrone Dimension der Negativität aus, deren andere, synchrone Dimension die Spiegelung ist. In der Spiegelung ist alles Gegenwart und nichts als Gegenwart. Echo dagegen bleibt der Zugang zur Gegenwart verschlossen: Zu dieser Interpretation des Mythos vgl. Joachim Schickel, Ovid. Die Sinnlichkeit des Spie gels, Stuttgart 1975, S. 31 ff.; zur Interpretationsgeschichte A.-B. Renger (Hg.), Mythos Narziss. Texte von Ovid bis Jaques Lacan, Leipzig 1999. 4 Schickel, a. a. O., S. 39. 5 Hans Blumenberg, „Licht als Metapher der Wahrheit“. In: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Ffm. 2001, S. 163. 3
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Einleitung
denn aller Klang ist Widerhall. Vielleicht ist die Komplexität und Dichte dieser Phänomene als Ganzes nur poetisch evozierbar: Die Spiegelung enthält notwendig Distanz und Entzweiung, gibt aber ein Ganzes und Gegenwärtiges, während das Echo als Resonanz zwar unmittelbar eingeht, mit dem Ohr des Rufenden verschmilzt, aber zum Ergebnis eine unüberbrückbare Distanz und Ferne hat, die sich deshalb in melancholischer Klage zum Ausdruck bringt. Ovid zeigt, dass diese beiden Dimensionen der Negativität nicht kongruent aufeinander abbildbar sind, sich gegenseitig nicht erreichen und daher in ihrer Komplementarität begriffen werden müssen. An einer Stelle wird die Vieldeutigkeit der gesamten Erzählung besonders deutlich: „Leichtgläubiger! Was hascht du umsonst nach einem flüchtigen Trugbild? Was du ersehnst, ist nirgends; wende dich ab, und, was du liebst, ist verschwunden. Das da, was du siehst, ist dein Spiegelbild, ein Schatten ohne eigenes Ich. Er kommt mit dir, bleibt und wird gehen, wenn du zu gehen vermöchtest.“6 Im unnachahmlichen Rythmus der metrischen Gestaltung Ovids lautet der entscheidende Satz: credule, quid frustra simulacra fugacia captas? Man kann diese Stelle wie einen Palimpsest lesen: Auf der inhaltlichen Ebene bezieht sich der Text auf die Täuschung über die Realität des Bildgehaltes (Narziss erkennt noch nicht, dass er nicht einen Anderen, sondern sich selbst im Spiegel erblickt). Auf der formalen Ebene bezieht sich die Anrede auf die Struktur und das Wesen des Spiegelbildes selbst: Es geht nicht nur um die Präsenz, sondern auch um die Flüchtigkeit des Spiegelbildes. Es ist nur im Verhältnis der Spiegelung da, gibt nicht die Wirklichkeit, sondern ihre virtuelle Erscheinung, die selbst ‚nirgends‘ ist, aber überall alles gibt, solange das Verhält nis besteht. Echo dagegen kann den Augenblick nicht festhalten, ihm keine Dauer geben: Klang und Widerhall verklingen unaufhaltsam. Ovid zeigt durch den Kunstgriff der Selbstspiegelung, dass sich in der Spiegelung des Bewusstseins immer sein Anderes und es selbst als Bild zeigt. Auf der formalen Ebene evoziert das poetische Bild der Spiegelung den transzendentalen Schein der Priorität des Bewusstseins und macht ihn so durchschaubar7: Der Umstand, dass der Wirklichkeit nur im Spiegelbild habhaft zu werden ist, bedeutet nicht, dass Sein als reines Korrelat der Bewusstseinstätigkeit aufgefasst werden muss: Es scheint nur so, dass man in jedem Spiegelbild nur sich selbst erkennt; tatsächlich sieht man immer Ovid, Metamorphosen III, 432-437. Herausgegeben und übersetzt von Gerhard Fink, Düsseldorf/Zürich 2003, S. 137 (die gesamte Erzählung von Narziss und Echo ebd., III 339-510). 7 Schickel hat auf die für eine doppelte Bedeutungsebene des Mythos wichtige Konjektur im Ovid-Kommentar von Heinsius hingewiesen (Schickel, a. a. O., S. 37 f.). Danach könnte das berühmte Iste ego sum auch als In te ego sum gelesen werden und gäbe dann den Blick auf die Auflösung der transzendentalen Täuschung frei: In te ego sum! Sensi; nec me mea fallit imago. Das Bild täuscht nicht länger, weil begriffen ist, dass Ich eben nur im Bild, das ein gegenwärtiges Verhältnis ausdrückt, Ich ist. Insofern gibt die Konjektur den Blick auf die präsentische Natur des Reflexionsverhältnisses frei. 6
Einleitung
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beides, sich selbst als spiegelnde Perspektive und das entsprechend Bespiegelte. Man sieht immer das gegenwärtige Verhältnis, und in der Auflösung dieses Verhältnisses verschwindet nicht die bespiegelte Wirklichkeit, sondern ihr gegenwärtiges Bild. Im Licht solcher Erkenntnis bekommt der von der Gegenwart gebannte Narziß wieder Stimme, und Echo kehrt zurück. „Wehe“, ruft sie ihm nach, und sein im Bewusstsein der Vergänglichkeit alles in der Gegenwart Gegebenen ausgesprochenes ‚Lebe wohl‘ klingt in ihr nach. Auch der Schluss von Ovids Erzählung gibt insofern Aufschluss über die Inkongruenz synchroner und asynchroner Reflexionsverhältnisse: Echo ist der Zugang zur Gegenwart verschlossen, während Narziß als Symbol reiner Gegenwart unfähig ist zu trauern. Die Spiegelung bedeutet punktuelle und absolute Präsenz des Seins, sie ist immer ein gegenwärtiges Ganzes, aber eben in der ebenso absoluten Vergänglichkeit des Bildes. Echo und Narziß verwandeln sich beide in Natur: Das Echo aber bleibt, während die Spiegelung verlischt. Diese Deutung der Erzählung von Ovid habe ich zuerst in dem genannten Aufsatz zur „Präsenz des Seins“ entwickelt.8 In diesem Mythos sind literarisch alle jene Probleme angesprochen und gestaltet, um die es im Gang philosophischer Begründung in den folgenden Untersuchungen geht: Grundproblem ist die Inkongruenz und das Verhältnis von synchroner und asynchroner, von simultaner und ungleichzeitiger Wirklichkeit. Diese Fragestellung von der Gegenwart und ihrer dialektischen Struktur aus zu entwickeln bedeutet, die Prioritäten anders zu setzen als in der klassischen Dialektik: Gegenwart wird nicht mehr primär als Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft verstanden, sondern als Ort und Treffpunkt ausgewiesen, in dem und von dem her sich Vergangenheit und Zukunft als das schlechthin Apräsente allererst erschließen. Dabei ist klar und muss von Anfang an hervorgehoben werden, dass es nicht darum geht, eine Dimension der Negativität gegen die andere auszuspielen: Gegenstand dialektischen Denkens sind Strukturen der Negativität, d. h. sowohl die Einheit von Verhältnissen, die in einer Gegenwart wirklich ist, und die in Prozessen sich vollziehende Veränderung sind selbstverständlich beide zusammen Gegenstand dialektischer Theoriebildung, und die Grundfrage des Versuchs, Dialektik von der Gegenwart her zu denken und zu begründen, ist vielmehr, wie diese beiden Dimensionen der Negativität, der Zusammenhang des Wirklichen und seine Prozessualität, vom Strukturganzen der Gegenwart her anders ins Verhältnis gesetzt werden können als dies in der Theoriegeschichte der Dialektik bisher geschehen ist. Denn die Akzentuierung der Prozessualität, die in der Geschichte der Dialektik dominant gewesen ist, bedeutet eine systematische Vorentscheidung der Frage, ob Gegenwart primär als Übergang oder Treffpunkt der Zeitmodi zu begreifen ist. Und der Versuch, dieses Verhältnis von der Simultaneität des Jetzt zu denken, bedeutet,
Zimmer, „Die Präsenz des Seins“, a. a. O., S. 13-17.
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Einleitung
Gegenwart gegenüber der Historizität nicht länger als transitorischen Augenblick auf dem Weg zu einem Ziel zu betrachten, sondern ihr ein eigenes Existenzrecht auszuweisen. Obwohl dialektische Denkstrukturen in der Geschichte der Metaphysik von Anfang an nachzuweisen sind9, gibt es Dialektik als Methode, d. h. als Reflexion auf das Verhältnis endlicher Verstandesaussagen zu Strukturen der Vernunft erst seit 250 Jahren. Kant bestimmte sie in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ als Logik des Scheins, als kritische Methode also, um den Schein aufzudecken, in den die Vernunft sich verwickelt, wenn sie beansprucht, über den Bereich der Erfahrung hinaus erfahrungstranszendente Sachverhalte zu denken. In dieser Perspektive ist (transzendentale) Dialektik Metaphysikkritik geworden. Diese Bedeutung der Dialektik als Kritik ist in beinahe allen Theorieprojekten im 20. Jahrhundert leitend geblieben, die mit dem Anspruch auf Emanzipation verbunden waren: sie wirkt beim frühen Lukács in ‚Geschichte und Klassenbewusstsein‘ ebenso wie in – hier sogar explizit im Titel – Sartres ‚Kritik der dialektischen Vernunft‘ oder Adornos ‚Negative Dialektik‘. So verdienstvoll diese Werke und Theorietraditionen in vielerlei Hinsicht auch sind – sie können für den hier vorgelegten Versuch, eine ‚Dialektik der Gegenwart‘ zu entwerfen, insofern nicht anschlussfähig sein, als sie alle in der Nachfolge Kants Dialektik als Metaphysikkritik und näher als Ontologiekritik verstehen. Ein Grundgedanke der vorliegenden Untersuchungen jedoch ist es gerade, Dialektik als ein onto-logisches Modell aufzufassen, mit dem nicht nur die Relationalität in den Begriff des Seins aufgenommen werden soll, sondern diese Einheit substantieller Verhältnisse als nur in der Form von Reflexionsverhältnissen darstellbar verstanden wird.10 Dieser Versuch folgt Hegel, der in seiner ‚Wissenschaft der Logik‘ Kants nur kritisch-negatives Projekt der Dialektik als Logik des Scheins, die Doppeldeutigkeit in der Formulierung Kants erkennend, positiv wendet und die Wirklichkeit des Scheins bzw. die Strukturen der Negativität ins Zentrum dialektischen Denkens stellt und die Denkbestimmungen entwickelt, mit denen Dialektik sowohl als Kritik als auch als positiv-vernünftige Methode des Zusammenhangs der Wirklichkeit verstanden werden kann. Es ist dieses onto-logische Verständnis der Dialektik als Kritik und Methode, an den der folgende Versuch anknüpft, den Problembestand einer ‚Dialektik der Gegenwart‘ systematisch darzustellen. Dialektik hat es mit der Aufklärung von Strukturen der Negativität zu tun. Platon hatte im ‚Sophistes‘ diese Negativität in dem wörtlichen Sinn verstanden, die Wirklichkeit des me on, also des ‚Nicht-Seienden‘ zu suchen. Damit ist letztlich Hans Heinz Holz, Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, 5 Bde. Darmstadt 2011. 10 Vgl. hierzu näher Jörg Zimmer, „Ontologie und Dialektik“. In: Jan Urbich/Jörg Zimmer (Hg.), Handbuch Ontologie, Stuttgart 2020, S. 459 ff. 9
Einleitung
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eine Frage berührt, die bis heute ein Grundproblem der Dialektik darstellt: das vom Verstand Fixierte, um die schöne Formulierung Hegels aufzugreifen, muss durch Verflüssigung der Begriffe wieder in Bewegung gebracht werden. Wirklichkeit des Nicht-Seienden meint, als Anweisung an dialektisches Denken, die Fixierung auf das endlich Dingliche und die einfache Identität in der Entwicklung von Formen dialektischen Denkens zu überwinden. Damit sind Dimensionen der Negativität angesprochen, die jede Theorie der Dialektik in Denkbestimmungen modellieren muss: Veränderung in der Zeit, Vermittlung jedes Identischen in der Beziehung auf sein Anderes, ein Begriff der Totalität als Einheit dieser Dimensionen der Negativität. Genau diese Grundprobleme werden in den folgenden Untersuchungen vom Begriff der Gegenwart her zu reformulieren versucht. In praktischen Zusammenhängen sind wir keine Dialektiker: Wenn wir jedes Mal erst denken würden, dass wir nicht zweimal in denselben Fluss steigen können, würden wir niemals schwimmen lernen. Im Umgang mit Wirklichem sind Menschen darauf angewiesen, Identität festzuhalten: Ohne sie könnten wir weder etwas wissen noch uns praktisch in der Wirklichkeit orientieren und verhalten. Wir schwim men immer in demselben Fluss, und die von Heraklit ausgesprochene Einsicht in die innere Widersprüchlichkeit alles Wirklichen ist durch unmittelbare Erfahrung nicht zu haben: sie entspringt vielmehr einer Denkerfahrung, und deshalb auch ist Dialektik immer ein Ergebnis nicht von unmittelbaren Erfahrungen, sondern von Denkprozessen. Ihre Grundprobleme entspringen zwar der Erfahrung, sind jedoch durch Erfahrung nicht gedeckt und also transempirisch. Das ist auch der Unterschied zur ‚vormaligen‘ Metaphysik: Strukturen der Dialektik sind nicht erfahrungstranszendent, jedoch auch nicht unmittelbar empirisch gegeben, sondern die Theorie ist darauf angewiesen, Veränderungen und Beziehungen, in denen sich die Wirklichkeit alles Seienden darstellt, in Denkformen einzuholen. Dialektik muss sich also dem Problem stellen, Nicht-Identität denkbar zu machen, sie muss dabei jedoch die Horizonte der Negativität – In-Beziehung-Sein, Prozessualität und Totalität – auch in ein systematisches Verhältnis setzen: Veränderung trägt den Index der Zeitlichkeit, Totalität dagegen ist immer Simultaneität im Raum und damit Gegenwart. Die folgende Studie versucht, gegen die dominante Tendenz in der Theoriegeschichte der Dialektik, das Verhältnis der Dimensionen der Negativität vom Primat der Entwicklung und des mit ihm unvermeidlich mitgedachten ‚Abschlussgedankens‘ her zu begreifen, Dialektik als Strukturmodell der Simultaneität zu verstehen. Innerhalb eines solchen Modells werden Veränderung und Prozessualität dann als Restrukturierung des Ganzen bzw. als Iteration von Totalität denkbar gemacht. Dass eine solche systematische Umorientierung auch Konsequenzen für das politische Denken hat, wird ebenfalls Gegenstand der Untersuchung sein. Dass der Augenblick es sei, der Identität und Nicht-Identität vereinigt und das Jetzt als Punktualität des Widerspruchs verstanden werden muss, hat schon
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Einleitung
Aristoteles gesehen. Er zeigte, dass das Jetzt als Gegenwart nicht in die Sukzession und das Kontinuum der Zeit aufgesogen werden kann, weil es einen, wenn auch der Erfahrbarkeit entzogenen, so doch denkbaren Eigenbereich darstellt. Damit ist einer Theorie der Gegenwart ein Hinweis gegeben, von wo aus die Priorität der Gegenwart als genuiner Ort der Negativität begründet werden kann. Gegenwart wird zum Ort des Umschlagens, die Simultaneität eines gegenwärtig gegebenen Zusammenhangs von Verhältnissen enthält das Moment der Veränderung, und das bedeutet, dass die Kategorie Möglichkeit ins Zentrum dialektischer Theorie rückt. Als Kom possibilität ist Möglichkeit nicht mehr primär vom Prozess her zu denken, sondern als Konstellation einer gegenwärtigen Situation von Bedingungen und Kräften, die in ihr wirken. Wenn man die Beziehung und den Zusammenhang nicht primär von der Veränderung her versteht, sondern umgekehrt von der gegenwärtig gegebenen Beziehungseinheit der Wirklichkeit aus Veränderung denkt, ergeben sich strukturelle Modifikationen für das Ganze einer Theorie der Dialektik. Sie sind Gegenstand der folgenden Überlegungen. Die folgenden Texte sprechen für sich und müssen nicht einleitend kommentiert werden. Ich will nur ihren Zusammenhang in einem Argumentationsgang kurz angeben: Zunächst geht es darum, anhand der programmatischen Vorrede Hegels – dem Klassiker der modernen Dialektik – zur ‚Phänomenologie des Geistes‘ und der Hegelkritik von Marx die Grundprobleme der Dialektik zu bestimmen. Die folgenden Kapitel stellen den Versuch dar, das in der Gegenwart gegebene Seinsverhältnis auf verschiedenen Ebenen zu diskutieren: ontologisch, indem Relationalität spiegeltheoretisch in den Begriff des Seins aufgenommen wird, sodann als transzendentales Reflexionsverhältnis, in dem sich Seinsverhältnisse sowohl im Bewusstsein als auch in der gegenständlichen Tätigkeit geben, um schließlich die logischen Denkformen zu rekonstruieren, in denen diese Reflexionsverhältnisse gedacht werden können. Diese Denkbewegung beschreibt den kategorialen Grundbestand der theoretischen Dialektik, dessen Darstellung vom Problem der Gegenwart her die Theorie der Praxis folgt, die im Wesentlichen darin besteht, Praxis aus der Grundstruktur der gegenwärtigen Widersprüche (ethisch gesprochen die Situation, in der Einzelne entscheiden, politisch gesprochen der Zusammenhang der Kompossibilität, in dem sich diese Widersprüche politisch ordnen und zum Austrag bringen) zu begreifen. Den Abschluss bilden Untersuchungen, die nach der Bedeutung von Kunst und Philosophie für eine Gegenwart fragen, in der diese beiden Medien kritischer Reflexion der Wirklichkeit zwar einem wachsenden Bedeutungsverlust ausgesetzt sind, aber deshalb doch keineswegs an Relevanz verloren haben. Der Titel dieses Buches muss in seiner doppelten Bedeutung gelesen werden: Dialektik der Gegenwart meint zum einen die dialektische Struktur von Gegenwart überhaupt, aber zum anderen auch die Frage, welche Gestalt Dialektik in und für die Gegenwart im 21. Jahrhundert annehmen muss, um das kritisch unterscheidende und differenzierende Potential
Einleitung
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zu entfalten, das sie immer gehabt hat und das wir heute wie kaum je zuvor wieder geltend machen müssen, um die Probleme gestalten zu können, die das Leben der Menschen in unserer Gegenwart bedrohen.
I Grundgedanken. Hegel und das Problem der Dialektik
Ohnehin ist die Form des Satzes oder bestimmter des Urteils ungeschickt, das Konkrete – und das Wahre ist konkret – und Spekulative auszudrücken; das Urteil ist durch seine Form einseitig und insofern falsch. (…) Der Kampf der Vernunft besteht darin, dasjenige, was der Verstand fixiert hat, zu überwinden. Hegel, Enzyklopädie §§ 31 und 32
Hegels ‚Vorrede‘ zur „Phänomenologie des Geistes“ ist der programmatisch formulierte Entwurf seiner Philosophie. Sie bezieht sich nicht nur auf dieses Werk, sondern entwirft den systematischen Horizont des Ganzen seiner als spekulative Philosophie vorgetragenen Dialektik, deren erster, den spekulativen Standpunkt in der Rekonstruktion der Erfahrung begründender Teil die „Phänomenologie des Geistes“ darstellt. Deshalb kann man an diesem Programmentwurf auch die klassischen Fragen und Probleme dialektischen Denkens rekonstruieren. Hegel ist der moderne Klassiker der Dialektik schlechthin, sodass sich durch die Analyse seiner in der „Vorrede“ noch nicht systematisch durchgearbeiteten, jedoch pointiert formulierten Grundgedanken auch die Elemente einer Dialektik gewinnen lassen, die unsere Zeit und Gegenwart – um sein berühmtes Wort zu gebrauchen – ‚in Gedanken erfasst‘ begreift. Man muss dieses Wort sehr genau verstehen: Philosophie ist nicht ihre Zeit in Gedanken gefasst (das kann sie auch in der Form jeder philosophischen Modeerscheinung sein), sondern ihre Zeit in Gedanken erfasst – und als solche muss sie wesentliche Momente der Epoche in der Form des Begriffs reflektieren.
Dialektik als Theorie des Widerspruchs Jeder Versuch, Dialektik zu begründen, beginnt mit dem Widerspruch. An ihm entspringt das Grundproblem, das die dialektische Denkbewegung zu entfalten hat. In den Anfängen dialektischen Denkens ist in der Philosophie des späten Platon die grundlegende Einsicht formuliert worden, dass das Eine nicht gedacht werden könne ohne das Andere bzw. das Verhältnis zum Anderen. Das gilt ebenso für metaphysische wie für politische oder sozialphilosophische Begriffe: Einheit gibt es nicht ohne Vielheit, der Begriff des Herrn setzt den des Knechtes – und umgekehrt. Logisch gesprochen bedeutet dies, dass jede begriffliche Setzung zugleich auch ihren
I Grundgedanken
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Gegensatz setzt. Das Identische ist etwas Bestimmtes und als solches verschieden von Anderem. Diese Einsicht allein führt aber noch nicht zu Strukturen dialektischen Denkens: Erst als Unterschied wird die der Sache nur äußerliche, gegen das Andere gleichgültige Verschiedenheit zur Einheit der Identität mit seinem Anderen. Denn erst, wenn die als Verschiedene nebeneinanderstehenden und auseinanderfallenden Identitäten in einem gedachten Zusammenhang zu Unterschiedenen im Verweisungszusammenhang des Ganzen werden, kann über den logischen Widerspruch hinaus der dialektische Sinn des Widerspruchs gesehen und entwickelt werden. Ein dialektisches Verständnis des Widerspruchs beginnt damit, den Widerspruch in der Sache selbst aufzusuchen. Erst ein Identisches, das in Zusammenhängen steht, ent hält sein Anderes und damit den Widerspruch in sich. Genau das spricht Hegel am Anfang der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“ aus, wenn er den starren Gegensatz von ‚Wahrem‘ und ‚Falschem‘ kritisiert und die Verflüssigung der die Wirklichkeit in starren Identitäten fixierenden Verstandesbegriffe fordert. In der „Wissenschaft der Logik“ definiert er Dialektik geradezu als dieses Übergehen des Identischen in Anderes, das ontologisch gesehen das Werden, logisch betrachtet die Form der Verflüssigung der fixen Begriffe meint: „Dialektik aber nennen wir die höhere vernünftige Bewegung, in welche solche schlechthin getrennt scheinende, durch sich selbst, durch das, was sie sind, ineinander übergehen…“11 Ein expliziter Gebrauch des Wortes „Dialektik“ ist in den Schriften Hegels eher selten, sodass die systematische Stelle in der Seinslogik, nämlich im Zusammenhang des Werdens, hier als symptomatisch angesehen werden kann: Dialektik ist für Hegel das prozessuale Hinausgehen über die endlichen Bestimmungen des Denkens, aber immer verstanden als die Sache, die aus ihren inneren Widersprüchen heraus über sich hinausweist. Diese Grundbestimmung zeigt an, dass Hegel Dialektik wesentlich vom Werden und aus der Prozessualität bzw. Zeitlichkeit heraus versteht.12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, in: Hauptwerke in sechs Bänden, Hamburg 1999, Bd. 3, S. 92; im Folgenden wird diese Ausgabe, die die Hauptwerke Hegels nach der kritischen Edition der „Gesammelten Werke“ wiedergibt, im laufenden Text als „HW“ zitiert; Schriften Hegels, die in dieser Ausgabe nicht enthalten sind, werden nach der Ausgabe der „Werke“., ed. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Ffm. 1969 ff. zitiert, ebenfalls im laufenden Text als „W“. 12 Dieses Grundverständnis der Dialektik hält sich im 20. Jahrhundert durch, und in dieser Frage fallen selbst wenig orthodoxe, heideggerisierende Dialektikvorstellungen wie die des jungen Herbert Marcuse schon einmal in den Ton orthodoxer Handbücher: „Die dialektische Methode als Methode der Philosophie ist nichts anderes als das Aussprechen und Darstellen der notwendigen Bewegtheit, des notwendigen Werdens der Wirklichkeit selbst. (…) Sie soll alles Seiende aus seiner scheinbaren Starrheit und Isoliertheit herauslösen, es als notwendiges Moment im Ganzen, als Resultat eines Werdens und damit in 11
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I Grundgedanken
Es ist ein verbreitetes Missverständnis, dass die Dialektik das Prinzip der Identität und also des verbotenen Widerspruchs nicht respektiert. Dass etwas sein Anderssein und damit den Widerspruch in sich enthalte, Identität also Nicht-Identität an sich habe und in einer Hinsicht identisch bleibt, in anderer Hinsicht jedoch ein Anderes ist bzw. wird, lässt sich an Heraklits Flussmetapher erhellen13: Dass ich nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann bedeutet, dass in der Zeit sich sowohl der Fluss als auch ich verändern, aber auch, dass ich diese Veränderung nur feststellen kann, weil ich denselben Fluss in seiner Identität festhalten und mich als denselben Menschen, also als in Veränderung begriffene Identität begreifen kann. Das von Aristoteles festgestellte Prinzip der formalen Logik ist also ein großer Fortschritt in der Geschichte des Denkens: Ohne Identität festzuhalten, kann man nichts Bestimmtes denken und sich auch nicht praktisch in der Wirklichkeit orientieren. Dialektik richtet sich nicht gegen diese denknotwendige Grundstruktur der formalen Logik, sondern fragt über sie hinaus: „Seit den Anfängen der Philosophie antwortet die Ausarbeitung von Formen dialektischen Denkens auf den Grundwiderspruch in unserer Erfahrung, dass wir, um überhaupt denken zu können, Identitäten (Identität/Unterschied) festhalten müssen, und dass wir zugleich dauernd die Veränderung des als identisch Gedachten, also Nicht-Identität erleben. Wie also Veränderung (und d. h. auch Zeit, Tätigkeit, Geschichte) begriffen werden könne, ist die Frage, aus der die Theorie der Dialektik entspringt.“14 Auch diese Stellungnahme akzentuiert den zeitlichen und prozessualen Grundcharakter und Ausgangspunkt dialektischer Philosophie. Hegel spricht gleich eingangs aus, dass es in der Philosophie und folglich auch in Vorreden über philosophische Werke nicht um Standpunkte und Tendenzen geht, die einfach eingenommen und angegeben werden könnten: „Denn wie und was von Philosophie in einer Vorrede zu sagen schicklich wäre, – etwa eine historische Angabe der Tendenz und des Standpunkts, des allgemeinen Inhalts und der Resultate, eine Verbindung von hin und her sprechenden Behauptungen und Versicherungen über das Wahre – kann nicht für die Art und Weise gelten, in der die philosophische Wahrheit darzustellen sey.“ (HW 2, 9) Im Unterschied zur Einzelwissenschaft (Hegel nennt als Beispiel die Anatomie als ein „Aggregate von Kenntnissen“) bewegt seinem eigentlichen Wesen begreifen, mit welcher Erkenntnis der wesentlichen Gewordenheit alles Seienden auch seine wesentliche ‚Grenze‘, seine ‚Negativität‘, sein Übergehen in ein neues, ‚höheres‘ Seiendes gewonnen ist.“ (Herbert Marcuse, „Zum Problem der Dialektik I“ (1930), in: Schriften I, Ffm. 1978, S. 413 f.) 13 „In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht.“ (Frg. B 49 a, zitiert nach Heraklit, Fragmente. Griechisch und Deutsch herausgegeben von Bruno Snell, Zürich 1989, S. 19) 14 Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte der Dialektik in der Neu zeit, Stuttgart/Weimar 1997, Bd. 1, S. 2; auch in Hans Heinz Holz, Dialektik. Problem geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 2011, Bd. 3, S. 19.
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sich „die Philosophie wesentlich im Elemente der Allgemeinheit (…), die das Besondere in sich schließt“ (HW 2, 9). Diese Unterscheidung von Einzelwissenschaften und Philosophie als verschiedene Theorieformen ist bis heute grundsätzlich gültig: Wissenschaftliche Einzelerkenntnisse beziehen sich auf einen definierten und methodisch gesicherten Bereich der Wirklichkeit, während Philosophie ihre Gegenstände aus Begriffen denkt, die nicht an der empirischen Wirklichkeit gewonnen werden können, sondern im Vollzug des Denkens selbst begründet werden müssen. Für die dialektische Philosophie kommt hinzu, dass das Allgemeine der Begriff der Sache ist oder, wie Hegel sich ausdrückt, das Allgemeine des Begriffs ‚das Besondere in sich schließt‘. Dies Letztere ist alles Andere als trivial: Es geht nicht darum, den Gegenständen des Denkens nominalistisch die Begriffe wie Etiketten anzuheften, die ihnen äußerlich bleiben, sondern das ‚begreifende Denken‘, wie Hegel sich ausdrückt (Begriff kommt von begreifen, wird also von Hegel beinahe wie ein haptischer Umgang mit den Dingen verstanden), ist ein begriffliches Eindringen in die eigene, widersprüchliche Wirklichkeit der Sache selbst. Weil Philosophie nicht an der empirischen Realität verifiziert oder falsifiziert werden kann, deshalb können ihre systematischen Ausformungen auch nicht einfach wahr oder falsch sein (Wahr- und Falschsein gehört in den Bereich wissenschaftlicher Wahrheit im Sinne der Richtigkeit oder Unrichtigkeit): „So fest der Meynung der Gegensatz des Wahren und des Falschen wird, so pflegt sie auch entweder Beistimmung oder Widerspruch gegen ein vorhandenes philosophisches System zu erwarten“; sie „begreifft die Verschiedenheit philosophischer Systeme nicht so sehr als die fortschreitende Entwiklung der Wahrheit“ und kann deshalb konkurrierende philosophische Theorien auch nicht als „gegenseitig notwendige Momente“ dieser Entwicklung begreifen (HW 2, 10). Aber eben darum geht es in der Philosophie: um einen Prozess differenzierender Auseinandersetzung und nicht, um Schopenhauers Definition der Dialektik zu zitieren, um die Kunst, Recht zu behalten. Dialektik ist nicht die Lust am Widersprechen, sondern am Widerspruch als Motor der Entwicklung der Sache selbst im Denken.15 Hegel spricht diese innere Widersprüchlichkeit der Sache selbst im Begriff der Grenze an. Jedes Setzen einer Grenze im bestimmenden Denken zeigt die Doppelaspektivität des Grenzeseins jedes endlichen Seienden: denn in jeder Bestimmung wird nicht nur das positive Diesseits der Grenze definiert, sondern auch das negative Jenseits bzw. Hinaussein über diese Grenze in Zusammenhängen und Prozessen produziert, in denen jedes endliche Seiende steht. Dialektik als begreifendes Denken Jörg Zimmer, „Zur Phänomenologie des lebendigen Widerspruchs“. In: Erich Hahn/Silvia Holz-Markun (Hgg.), Die Lust am Widerspruch. Theorie der Dialektik – Dialektik der Theorie. Symposium aus Anlass des 80. Geburtstages von Hans Heinz Holz, Berlin 2008, S. 143 ff.
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ist also die Versenkung in die Sache selbst; Hegel nennt das mit einem sehr schönen Ausdruck, sich in ihr ‚zu vergessen‘. Gerade dieses Verlorensein in die innere Widersprüchlichkeit der Sache geht dem verständigen Denken ab: „Ebenso ist die Verschie denheit vielmehr die Gränze der Sache; sie ist da, wo die Sache aufhört, oder sie ist das, was diese nicht ist. Solche Bemühungen mit dem Zwecke oder den Resultaten, so wie mit den Verschiedenheiten und Beurtheilungen des einen und des andern, sind daher eine leichtere Arbeit, als sie vielleicht scheinen. Denn statt mit der Sache sich zu befassen, ist solches Thun immer über sie hinaus, statt in ihr zu verweilen und sich in ihr zu vergessen greifft solches Wissen immer nach einem Andern, und bleibt vielmehr bei sich selbst, als daß es bei der Sache ist und sich ihr hingibt.“ (HW 2, 11) Das bestimmende Denken bleibt der Sache äußerlich, indem es sie nicht aus sich selbst heraus begreift, sondern Kriterien an sie anlegt, die nicht aus der Erfahrung der Sache selbst, sondern aus der Verfassung des Denkens hergenommen sind. Dem begreifenden Denken dagegen geht es um das Einholen dieser Erfahrung, und wenn Hegel von Erfahrung spricht, meint er die entwickelte und sich entwickelnde Bezie hung von Denken und Sein. Dialektik ist also allgemein gesprochen eine Theorieform, die von der Wahrnehmung von Widersprüchen in der Wirklichkeit ausgeht und so über das denknotwendige Prinzip der Identität, das diese Widersprüche ausblenden muss, hinausgeht: In diesem Hinausgehen aber entsteht sowohl der zeitliche, diachrone Horizont der Veränderung der Dinge als auch der synchrone Horizont ihres Eingelassenseins in Zusammenhänge. Wahrheit im dialektischen Sinn meint immer, ausgehend von übersehbaren Zusammenhängen die weiterführende, integrierende Perspektive umfassenderer Sinnzusammenhänge zu suchen. Letztlich führt das zu einem transempirischen, d. h. durch Erfahrung weder gedeckten noch irgendwie anders als nur im Begriff einholbaren Gesamtzusammenhang der Totalität. Die Wirklichkeit der Sache muss im Bedeutungs- und Verweisungszusammenhang von Welt eingeholt und interpretiert werden. Indem dialektische Philosophie über Identität hinausgeht, entsteht ihr und nur ihr also unhintergehbar das Problem der Totalität: Welt ist ein unendlicher Verweisungszusammenhang von Bedeutungen, ein unerschöpfliches Ganzes von Sinnbeziehungen, die jedoch nur vom Ursprung des Widerspruchs her erschlossen werden können und nur am konkreten Widerspruch der Erscheinungen und der sie erschließenden Wissensformen Wirklichkeit gewinnen. Deshalb kann für Hegel die „wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt (…) allein das wissenschafftliche System derselben seyn“ (HW 2, 11). Und deshalb auch ist das Wahre das Ganze. In jedem Fall jedoch versteht Hegel, wie er im Gespräch mit Goethe sagte, die Dialektik „als den organisierten Widerspruchsgeist.“16 Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Ffm. 1974, S. 45.
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Die Substanz als Subjekt Von der Philosophie als einem System zu sprechen, hat heute einen negativen Beigeschmack. Im sogenannten Zeitalter ‚nachmetaphysischen Denkens‘17 scheint wissenschaftliche Verfahrensrationalität die einzig noch übrige Form rationalen Denkens zu sein. Die Systemphilosophie, die heute weithin mit der Philosophie des deutschen Idealismus identifiziert wird, verfällt der Kritik, eben keine wissenschaftliche Philosophie, sondern allenfalls philosophische Artikulation eines ‚Weltbildes‘ zu sein. Hegel bindet dagegen – an dieser Stelle durchaus im Einklang mit Fichte und Schelling – die Wissenschaftlichkeit der Philosophie an die Form des Systems. Fichte etwa hatte in der ‚Wissenschaftslehre‘ die systematische Darstellungsform der Philosophie als Konstruktion des Ganzen der Erfahrung aus einem Prinzip (der reinen Tätigkeit des Ich) definiert. Hegel nun versteht unter der systematischen Form der Philosophie das Ganze des Wissens als Konstruktion der Totalität aus dem Begriff – und bindet die Wissenschaftlichkeit der Philosophie damit an den Anspruch auf diese systematische Form der Darstellung. Als unwissenschaftlich kann so eine Forderung nach systematischem Zusammenhang nur bezeichnen, wer den Unterschied der Theorieform von Philosophie und Einzelwissenschaften nicht im Blick hat. Denn wenn Hegel vom Ganzen des Wissens als einem systematischen Zusammenhang spricht – dessen Darstellung dann die ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘ und eben nicht eine Enzyklopädie wissenschaftlicher Erkenntnisse ist, die ja heute weder mit dem einen Band Hegels noch den gut zwanzig Bänden allgemeiner Nachschlagewerke auskäme, sondern ein riesiges digitales Speicherzentrum sein müsste –, dann meint er nicht ein Ensemble von Einzelerkenntnissen, sondern den aus dem Begriff entwickelten Zusammenhang des Wissens. Das darf den Resultaten der Einzelwissenschaften zwar nicht widersprechen, tritt mit ihnen jedoch auch gar nicht in Konkurrenz, weil sie ohnedies nicht auf das Ganze und den Zusammenhang des Erkennbaren, sondern auf methodisch gesicherte Erkenntnisse von klar abgegrenzten Gebieten der Wirklichkeit sich beziehen. Die Wissenschaftlichkeit einer Einzelwissenchaft besteht in der methodischen Absicherung und Transparenz der Verfahren zur Erforschung eines Wirklichkeitsbereichs, die der Philosophie in der Begründung einer Einheit der Denkformen, durch die wir Wirklichkeit als solche bzw. eine zusammenhängende Welt als Horizont von Totalität erkennen können. Deshalb bindet Hegel die Wissenschaftlichkeit der Philosophie an die systematische Form ihrer Darstellung: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt, kann allein das wissenschafftliche System derselben seyn. (…) Die innere Vgl. Jörg Zimmer, „So viele Fragen. Zu Jürgen Habermas’ ‚Auch eine Geschichte der Philosophie‘“. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, H. 124 (2020), S. 160 ff.
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Nothwendigkeit, dass das Wissen Wissenschaft sey, liegt in seiner Natur, und die befriedigende Erklärung hierüber ist allein die Darstellung der Philosophie selbst.“ (HW 2, 11) Hier ist etwas Wesentliches über den Begriff der Philosophie und auch über die Form der Begründung dialektischen Denkens ausgesagt: Philosophie ist Begründung eines zusammenhängenden Ganzen des Wissens, und die ‚innere Notwendigkeit‘ als Kriterium für Wissenschaftlichkeit besteht in der ‚Natur‘, also dem Wesen philosophischen Wissens, ein auf Konsistenz eines Zusammenhangs von Aussagen über Wirklichkeit zielendes Wissen und gerade kein ‚Aggregat‘ von Einzelerkenntnissen zu sein. Die in der „Vorrede“ ausgesprochene Forderung nach systematischer Darstellung hat also durchaus programmatischen Charakter – und Hegel hat sein Programm von der „Phänomenologie des Geistes“ über die „Wissenschaft der Logik“ bis zur „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ auch einzulösen versucht. Man kann selbstverständlich Dialektik auch anders zu begründen versuchen als Hegel dies getan hat – denn die Form, die er ihr gegeben hat, war ebenfalls ihre Zeit ‚in Gedanken erfasst‘ –, aber jede Form der Dialektik muss notwendig einen systematischen Charakter haben, weil das Grundproblem der Dialektik, über die isolierende Fixierung von Identität hinauszugehen, den Horizont der Totalität eines Gesamtzusammenhangs eröffnet, der gedacht werden muss, weil er nicht erfahren werden kann. Es geht nicht an, Methode und System einfach auseinanderzureißen18, weil in der Dialektik beides miteinander verschränkt ist. Hegels Philosophie ist Ausdruck einer Zeit revolutionärer Umwälzung, und er spricht in der „Vorrede“ deutlich aus, dass er diesen Zusammenhang seines Denkens mit der Französischen Revolution nicht nur bewusst reflektiert hat, sondern programmatisch in die Konzeption seiner Philosophie aufnimmt19: „Es ist übrigens nicht schwer, zu sehen, daß unsre Zeit eine Zeit der Geburt und des Uebergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins Ernst Bloch hat in der Hegeldebatte während der 1950er Jahre in der DDR entschieden gegen diese materialistische Trennung von Methode und System argumentiert und darauf bestanden, dass auch materialistische Konzeptionen der Dialektik die Form eines Systems haben müssen: Vgl. Ernst Bloch, „Problem der Engelsschen Trennung von ‚Methode‘ und ‚System‘ bei Hegel“, in: Gesamtausgabe, Bd. 10, Ffm. 1969, S. 461 ff., vgl. auch ders., „Hegel und die Gewalt des Systems“, ebd., S. 481 ff.; Blochs eigene Konzeption als offenes System vgl. ders., Experimentum Mundi, Gesamtausgabe Bd. 15, Ffm. 1975. 19 Diese Verbindung von Hegels Philosophie zur Französischen Revolution wurde von Joachim Ritter in die Diskussion gebracht und ist inzwischen gut erforscht: Vgl. Joachim Ritter, „Hegel und die französische Revolution“. In: Ders., Metaphysik und Politik. Stu dien zu Aristoteles und Hegel, Ffm. 1977, S. 183 ff.; vgl. auch Hans Heinz Holz, Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, a. a. O., Bd. 5, S. 47 ff. und ders., Die Algebra der Revolution. Von Hegel zu Marx. Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie Bd.1, Berlin 2010, S. 68 ff. und S. 95 ff. 18
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und Vorstellens gebrochen, und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken (…) Aber wie beym Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Athemzug jene Allmähligkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht, – ein qualitativer Sprung – und itzt das Kind gebohren ist, so reifft der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, lößt ein Theilgen des Baues seiner vorgehenden Welt nach dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas Anderes im Anzuge ist. Diss allmählige Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der ein Blitz in einemmahle das Gebilde der neuen Welt hinstellt.“ (HW 2, 14f.) Dieses Zitat zeigt den Zusammenhang zwischen einem revolutionären Ereignis und einem Zeitraum des Übergangs, den dieses Ereignis auslöst. Hegel unterstreicht, dass Revolutionen nicht einfach Ereignisse sind (sie lassen sich nicht auf den Sturm auf die Bastille von Paris oder das Winterpalais von Petrograd reduzieren), sondern Prozesse, in denen allmählich alle Bereiche der Wirklichkeit in die grundsätzliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse hineingezogen werden. Hegel ist sich sehr bewusst, in so einem Zeitraum des Übergangs zu leben – und deutet an, dass Dialektik gerade in solchen Zeiten der Krise und des Übergangs entsteht und sich entwickelt. Es sind Zeiten, in denen Widersprüche in der Gesellschaft sich zuspitzen und es dialektischer Denkfiguren bedarf, um diese Widersprüche begreifen zu können. Hegel entfaltet seine eigene Metapher von der Geburt des Kindes, um diesen Zusammenhang näher auszuführen und auch auf sein Philosophieren zu übertragen: „Allein eine vollkommne Wirklichkeit hat diß Neue so wenig als das eben gebohrne Kind; und diß ist wesentlich nicht außer Acht zu lassen. Das erste Auftreten ist erst seine Unmittelbarkeit oder sein Begriff. (…) So ist die Wissenschaft, die Krone einer Welt des Geistes, nicht in ihrem Anfange vollendet. Der Anfang des neuen Geistes ist das Produkt einer weitläufigen Umwälzung von mannichfaltigen Bildungsformen, der Preis eines vielfach verschlungenen Weges und eben so vielfacher Anstrengung und Bemühung. Er ist das aus der Succeßion wie aus seiner Ausdehnung in sich zurückgegangene Ganze, der gewordne einfache Begriff desselben.“ (HW 2, 15) Hegel baut zunächst die Parallele zwischem dem Blitz der Französischen Revolution und der Unmittelbarkeit des Begriffs auf. Damit stellt er selbst den Zusammenhang zwischen dem revolutionären Prozess und der Form des Begriffs her, in der Hegel hier programmatisch die Entwicklung seiner Philosophie ankündigt. In diesem Prozess ist Dialektik also noch etwas Unvollkommenes, das erst als ‚in sich zurückgegangenes Ganzes‘, also nicht als Unmittelbares, sondern als Vermitteltes und in sich Reflektiertes tatsächlich zu einem Begriff dieses Ganzen bzw. zum Ausdruck einer Zeit wird. Zum Abschluss dieser Passage der „Vorrede“ kommt Hegel noch einmal auf die emanzipatorische Funktion dieses dialektischen Wissens
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zurück: „Erst was vollkommen bestimmt ist, ist zugleich exoterisch, begreifflich, und fähig, gelernt und das Eigenthum Aller zu seyn.“ (Ebd.) Diese ‚vollkommene‘ Bestimmung – man denke an die notio completa einer Sache bei Leibniz – muss selbstverständlich als unendlicher Prozess der Fortbestimmung verstanden werden. Mit dem emanzipatorischen Begriff des Wissens richtet sich Hegel gegen die romantische „Überzeugung des Zeitalters“, nach der das Absolute „nicht begriffen, sondern gefühlt“ werden soll (HW 2, 12). Die Form des Begriffs, an den Hegel die Wissenschaftlichkeit der Philosophie bindet, ist also Ausdruck seiner antiromantischen Haltung, die sich in dem historischen Zeitraum des Übergangs nicht der Restauration zuschlägt, sondern auf der Seite der Französischen Revolution bleibt. In die Zeit zwischen der „Phänomenologie“, bei deren Abschluss Napoleon in Jena an Hegels Haus vorbeigeritten sein soll, und der „Wissenschaft der Logik“ von 1812 liegt in Deutschland die Zeit der sogenannten Befreiungskriege, in der Hegel an einem ganz anderen Verständnis von Befreiung festhielt, als ihn der Nationalismus der Epoche haben wollte. Aus Nürnberg schrieb Hegel zu Weihnachten 1813 an seinen Freund Niethammer, als nun die antinapoleonischen Koalitionstruppen in der Gegenrichtung durchzogen: „Ludwig erwarte ich auf die Feiertage. Ihr neulicher Brief traf ihn gerade hier. Er war hier unter anderem, um unsre Befreier durchziehen zu sehen (wenn einmal par hazard Befreite zu sehen sein werden, werde ich mich auch auf die Beine machen).“20 Par hasard, also bloß zufällig kann es Befreite nur geben, solange der Begriff der Befreiung wirklich Befreite gar nicht vorsieht. Nach dieser Reflexion auf den historischen Kontext seiner Philosophie kommt Hegel auf eine der programmatischen Grundaussagen zu sprechen, die Dieter Henrich sehr treffend charakterisiert hat: „‚Die Substanz ist als Subjekt zu bestimmen‘. Dieser Grundsatz Hegels formuliert sein philosophisches Programm vollständig und profiliert es gegen seine wichtigsten Alternativen.“21 Hegel selbst formuliert seine zentrale These so: „Es kömmt nach meiner Einsicht, welche sich durch die G. W. F. Hegel, Briefe, hg. Von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1953, Bd. II, S. 14; in seinen brieflichen Polemiken gegen den deutschnationalen Geist der Zeit kommt ein sprachgewandt seine Verachtung zum Ausdruck bringender Hegel ans Licht, der dieser Art von Befreiung nur ein Gutes abgewinnen kann, nämlich dass es wieder Kaffee zu kaufen gibt und man „des Surrogatsaufens enthoben“ ist (ebd., S. 29). Unübertrefflich ist Hegels lautmalerische Verachtung des Wiener Kongresses, als er vom „gelobten Lande des Deutschdumms“ (statt Deutschtums) spricht und nicht den geringsten Zweifel an seiner Haltung lässt: „Der ganze Kongreß aber soll mit einer großen Feierlichkeit beschlossen werden, einer Prozession unter Fackelschein, Glockengeläute und dem Getöne von Batterien ultimarum regum, in der der deutsche Pippel über den Gänsedreck geführt werde.“ (Ebd., S. 43) 21 Dieter Henrich, Hegel im Kontext, Ffm. 1971, S. 95. 20
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Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken.“ (HW 2, 18) Über diese Textstelle ist viel geschrieben und nachgedacht worden, die implizite Kritik sowohl an Spinoza als auch an der modernen Subjektphilosophie liegt offen zutage. Richtet man jedoch die Aufmerksamkeit bei diesem Kernsatz von Hegel auf seinen dialektischen Gehalt, so zeigt sich, dass Hegel gegen die Einfachheit der absoluten Substanz und gegen eine Grundlegung der Philosophie aus dem isoliert als Prinzip gefassten Subjekt die Beziehung von Sein und Bewusstsein zum Ausgangspunkt philosophischer Begründung macht. Dialektik ist Denken der Relationalität allen Seins: sie wird unmittelbar erfahrbar in der sinnlichen Gewissheit, mit der die „Phänomenologie“ anhebt, und sie trägt die gesamte ‚Darstellung des Systems‘ bis hin zum logischen Begriff der absoluten Idee, der das Integral für die Totalität als Beziehungseinheit alles Wirklichen darstellt. Von der ersten Erfahrungsevidenz eines von mir unterschiedenen sinnlich Gegebenen bis zum transempirischen Begriff des Ganzen als bewegte Einheit von Beziehungen lässt sich die gesamte Philosophie Hegels aus dem dialektischen Grundgehalt des Satzes aus der „Vorrede“ verstehen, das Wahre sei nicht nur als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen: nämlich als ihre Beziehung, die im Subjekt zum Bewusstsein kommt. Deshalb kann sich die Wahrheit dieser These auch nur in der ‚Darstellung des Systems‘, also in der konsistenten Entfaltung eines Begründungsprozesses als Wahrheit erweisen. Hegel spricht von einer ‚Einsicht‘, also von einer Hypothese, die nur in der systematischen Entwicklung begründet werden kann. Das wirft ein eindrucksvolles Licht auf sein Philosophieverständnis: Es geht nicht um Beweise der Wahrheit, sondern darum, Einsichten bzw. Grundgedanken in Begründungsgängen plausibel zu machen. Die wesentliche Relationalität alles Seienden und das ausgenommen Besondere des In-Beziehung-Seins des Selbstbewusstseins führt Hegel dann im Anschluss näher aus: „Die lebendige Substanz ist ferner das Seyn, welches in Wahrheit Subject, oder was desselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des sich selbst Setzens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subject die reine einfache Negativität, ebendadurch die Entzweyung des Einfachen, oder die entgegensetzende Verdopplung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist; nur diese sich wie derherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Andersseyn in sich selbst – nicht eine ursprüngliche Einheit als solche, oder unmittelbare als solche, ist das Wahre.“ (HW 2, 18) Man muss diese sehr verschachtelten Sätze aus Hegels Terminologie in unsere Theoriesprache übersetzen und in ihre Aspekte zerlegen, um ihren sehr konzentrierten Sachgehalt auseinanderlegen zu können: Hegel spricht zunächst von der lebendigen Substanz als Subjekt, also dem Leben in seiner selbstbewussten Gestalt. Dieses reflektierte Leben hat Wirklichkeit und damit Wahrheit nur, indem es sich verwirklicht: Gemeint ist eine ‚Bewegung des sich selber Setzens‘, also eine Tätigkeit,
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durch die sich dieses Selbstbewusstsein eine von ihm unterschiedene, äußere Wirklichkeit gibt (in Hegels Sprache: es wird sich selbst zu etwas Anderem). Dieser Selbstunterschied vollzieht sich, wie Hegel in der „Phänomenologie“ ausführt, in der Beziehung auf ein anderes Selbstbewusstsein (heute spricht man von Intersubjektivität) oder aber in Beziehung auf die Produkte des Subjekts (ganz konkret als Produkte der menschlichen Arbeit, aber auch im Sinne jeder Art von Objektivierung in der menschlichen Kultur, paradigmatisch z. B. in der Kunst). Damit ist auch schon bei Hegel festgehalten, dass sich die menschliche Wirklichkeit in gesellschaftlichen Verhältnissen, nämlich der Produktion und ihrer sozialen Organisationsformen entwickelt. Beide Dimensionen des Sich-Anders-Werdens bedeuten das Setzen einer menschlichen Wirklichkeit durch bewusste Tätigkeit – und deshalb auch als Werden und folglich als Bewegung in Prozessen und in Verhältnissen, in denen sich das selbstbewusste Leben ‚verdoppelt‘ (sich von sich unterscheidet, denn es bleibt auch dann Bewusstsein, wenn es sich objektiviert, bleibt also von diesen Objektivierungen unterscheidbar). Wieder zeigt sich an einer systematisch so zentralen Stelle, dass Hegel bei der Grundlegung der Dialektik den Akzent auf die Bewegung und Veränderung setzt und setzen muss, weil er bei seiner Begründung vom Bewusstsein ausgeht. An die Stelle des ‚Gegensatzes‘ von Subjekt und Objekt tritt der Selbstunterschied in der Selbstbeziehung am Anderen, sei es das Andere als anderes Subjekt oder als Produkt seiner Tätigkeit. So überwindet Hegel die gleichgültige Verschiedenheit nur nebeneinander existierender Identitäten. Dieses Verhältnis hat jedoch in der Dialektik nicht nur das Moment der Entwicklung, sondern existiert auch in der Simultaneität von Reflexionsverhältnissen. Die zentrale Bedeutung der Reflexion hält Hegel selbst fest: Die ‚gesetzte‘, durch Tätigkeit produzierte äußere Wirklichkeit muss in der Form des Wissens angeeignet werden. Das Selbstbewusstsein besitzt diese Wirklichkeit nur, indem es seine Beziehungen zu ihr reflektiert. Daher ist bei Hegel und überhaupt in der Dialektik der zentrale Begriff der Reflexion nicht nur im Sinne einer transzendentalen Reflexion zu verstehen: Es geht nicht darum, sich der unmittelbaren Einheit des Ich zu versichern (oder, um es mit Kants transzendentaler Apperzeption zu formulieren, jederzeit versichern zu können), sondern um Reflexionsverhältnisse, also um das Selbstverhältnis im Verhältnis zum Anderen. Deshalb spricht Hegel von ‚Reflexion im Anderssein‘ und nicht von einer ursprünglichen Identität, sei es des Subjekts oder der Substanz. Gleichheit im dialektischen Sinn ist immer das Verhältnis von Identität und Nichtidentität bzw. das Resultat von Reflexionsverhältnissen. ‚Das Wahre‘ ist nichts unmittelbar Feststellbares, sondern etwas Vermitteltes, das durch Reflexion von Beziehungen sich entwickelt. Hegel spricht von der Wahrheit nicht zufällig als vom ‚Wahren‘, das den dynamischen Charakter eines Prozesses betont: Wahrheit ist immer Ergebnis einer Tätigkeit. Hegel unterstreicht also auch an dieser Stelle den prozessualen Charakter dialektischen Denkens, obwohl in der
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Rede von Reflexionsverhältnissen nicht nur der Gedanke einer Bewegung der Fortbestimmung ausgedrückt ist, sondern auch die Simultaneität eines gegenwärtigen Verhältnisses. Um beide Aspekte denken zu können, muss Hegel Dialektik nun in der Form spekulativen Denkens weiterentwickeln: Der vielleicht berühmteste Satz der „Vorrede“ – ‚Das Wahre ist das Ganze‘ – bringt diesen spekulativen Grund gedanken zum Ausdruck.
Dialektik als spekulative Philosophie: ‚Das Wahre ist das Ganze‘ Über diesen spekulativen Satz 22 ist ebenfalls viel nachgedacht und geschrieben worden. Er bedeutet aber gerade nicht, dass die Philosophie nach der Ansicht Hegels im Besitze des Ganzen und damit der Wahrheit sei, sondern umgekehrt: In dem Satz ist die Relativität aller endlichen Aussagen über die Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht, weil nur das Ganze auch das Wahre ist. Es gibt daher nur den Prozess der Fortbestimmung als Annäherung an dieses Wahre. Man braucht jedoch, um diese Relativität nicht zu einem gegen das Wahre gleichgültigen Relativismus werden zu lassen, den Grenzbegriff der Totalität, in dessen Horizont sich jede ‚Anstrengung des Begriffs‘ in seiner Begrenztheit begreifen lässt. Der Geist findet seine Wahrheit nur im widersprüchlichen Verhältnis zur Wirklichkeit, also nur in der Reflexion dieses Verhältnisses und auch nur in der Form der Negativität des endlichen Wissens. Das spricht Hegel deutlich aus: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subject, oder sich selbst Werden, zu seyn.“ (HW 2, 19) Der Begriff ‚Wesen‘ bezeichnet bei Hegel das reflektierte InBeziehung-Sein, und damit meint das Ganze einen Grenzbegriff des Absoluten als bewegte Totalität von Verhältnissen. Resultat ist dieses Ganze, weil es als Subjekt, als von der tätigen Setzung und Reflexion dieser Verhältnisse Erzeugtes und damit wesentlich als Werden aufgefasst wird. Man sieht auch hier, dass Hegel die Dialektik selbst als Theorie der Totalität wieder primär von der Zeitlichkeit her konzipiert: Es ist das sich verwirklichende, seine Beziehungen zur Wirklichkeit setzende und sie reflektierende Subjekt, in dessen Selbstbewusstsein sich das Wahre entwickelt: „Denn die Vermittlung ist nichts anders als die sich bewegende Sichselbstgleichheit, oder Zum Begriff spekulativer Sätze vgl. Hans Heinz Holz, „Natur und Gehalt spekulativer Sätze“. In: Ders., Speculum Mundi. Schriften zur Theorie der Metapher, spekulativen Dia lektik und Sprachphilosophie. Aus dem Nachlass herausgegeben von Jörg Zimmer, Bielefeld 2017, S. 155 ff.
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sie ist die Reflexion in sich selbst, das Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negativität oder das einfache Wesen.“ (HW 2, 19)23 Damit wird auch der politische Gehalt dieses spekulativen Verständnisses der Vernunft explizit ausgesprochen. Hegel kommt auf seine Geburtsmetapher zurück: „Wenn der Embryo wohl an sich Mensch ist, so ist er es aber nicht für sich; für sich ist er nur als gebildete Vernunft, die sich zu dem gemacht hat, was sie an sich ist.“ Erst in dieser Verwirklichung als Vernunft wird der Mensch „selbstbewußte Freiheit.“ (HW 2, 20) Und weil nur das entwickelte Ganze auch das Wahre ist, ist „das Wahre nur als System wirklich“: „Das reine Selbsterkennen im absoluten Andersseyn, dieser Aether als solcher, ist der Grund und Boden der Wissenschaft…“ (HW 2, 22) Um die Gesamtanlage der Dialektik bei Hegel zu charakterisieren, muss man die „Einleitung“ der „Phänomenologie“ einbeziehen, um den systematischen Zusammenhang zur „Wissenschaft der Logik“ verstehen zu können. Die „Vorrede“ bezieht sich auf das Gesamtprojekt von Hegels Philosophie, die „Einleitung“ dagegen auf sein Verständnis von Bewusstsein, das Hegel in der „Phänomenologie“ entwickelt und damit sein philosophisches Programm mit der modernen Erkenntniskritik kritisch vermittelt. Gleich die Anfangspassage setzt sich mit diesem methodischen Paradigma der modernen Philosophie auseinander: Klassisch beginnt diese Reflexion auf die Methode mit Descartes, der den Irrtum ausschließen will, bevor das Erkennen beginnt. Erkenntniskritik ist aber bis Kant das moderne Grundverständnis der Philosophie, methodische Begründung gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis zu sein. Man will schwimmen lernen, bevor man ins Wasser geht. Hegel dagegen versteht den Irrtum als Movens der Erkenntnis und hält es der berühmten Formulierung in der Einleitung gemäß für den größten Irrtum, sich nicht irren zu wollen. Irren macht Lernen und Bildung möglich, und Erkenntnis ist die Selbstkorrektur des Bewusstseins in der Auseinandersetzung mit den Gegenständen der Wirklichkeit. Wenn das Erkennen wie in der neuzeitlichen Philosophie üblich geworden als Werkzeug bzw. als Mittel verstanden wird, bleibt es seinen Gegenständen äußerlich: Werkzeuge traktieren ihren Arbeitsgegenstand, werden als Mittel auf Zwecke angewandt, die den Gegenständen äußerlich bleiben. Das begreifende Denken der Dialektik jedoch will Wirklichkeit nicht behandeln, sondern verstehen.
Und gleich im auf dieses Zitat folgenden Satz macht Hegel sein gegenüber Kant neu artiges Dialektikverständnis deutlich: „Es ist daher ein Verkennen der Vernunft, wenn die Reflexion aus dem Wahren ausgeschlossen und nicht als positives Moment des Absoluten erfaßt wird.“ (Ebd.) In der transzendentalen Dialektik tut Kant eben dies: als ‚Logik des Scheins‘ schließt sie die Reflexionsbegriffe der Metaphysik aus dem legitimen Gebrauch der Vernunft aus. Hegel dagegen sucht ein ‚positives‘ Verständnis der ‚Logik des Scheins‘: spekultive Logik ist eine Logik der Reflexion.
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Diese Grundkritik am modernen Paradigma der Erkenntnis prägt Hegels Begriff der Erfahrung: Er versteht Erfahrung nicht als den Bereich raum-zeitlicher Gegebenheit von Gegenständen, auf die Begriffe bzw. Kategorien appliziert werden, sondern als Einheit von Bewusstsein und Sein, deren Beziehungen im Selbstbewusstsein erscheinen und reflektiert werden. Methode ist also methodos, was auf Griechisch hodós, ‚Weg‘ hindeutet. Zwei dialektische Strukturmomente der Erfahrung sind folglich festzuhalten: Bewusstsein als Ort der Erfahrung ist nicht Prinzip, sondern das Übergreifende einer Beziehung, in der es selber steht und sich entwickelt; und weiter ist Erfahrung als Bildungsprozess zu verstehen. Die Prüfung des Wissens erfolgt nicht an einem der Sache äußerlichen Kriterium, sondern das Erkennen überprüft sich, indem das Bewusstsein sein Verhältnis zu den Gegenständen der Erfahrung kritisch reflektiert. Der Grundgedanke von Hegels Theorie der Erfahrung beruht auf zwei wesentlichen Aussagen über Bewusstsein: Es verwirklicht sich, indem es Grenzen setzt und überschreitet – und daher ist Bewusstsein in der Reflexion der Grenze immer schon über diese Grenze hinaus. Bewusstsein ist Prozess, Entwicklung, Bildung seines Verhältnisses zur Wirklichkeit. Und deshalb ist Bewusstsein nicht Prinzip, sondern immer Resultat einer Erfahrung. Aus diesem Grund gibt es in der „Phänomenologie“ keine Prinzipien a priori, sondern nur ein Anfangen. In der sinnlichen Gewissheit entspringt das Wesen der Erfahrung, die unmittelbare Vermitteltheit von Sein und Bewusstsein.24 Hegel macht am Anfang seiner Denkbewegung keine andere Voraussetzung als die unmittelbare Grundtatsache des Bewusstseins, Anderes in sich aufzunehmen und zu verwandeln, indem es sein Verhältnis zu diesem Anderen reflektiert und korrigiert. Die „Phänomenologie“ ist die Selbstaufklärung des Bewusstseins über sich und seine Grenzen. Erfahrung wird historisch-genetisch verstanden (wie im nächsten systematischen Schritt auch die Logik als genetische Entwicklung der Denkformen entwickelt wird). Das Grundproblem der „Phänomenologie“ ist also der folgende dialektische Grundgedanke: Denken ist Maßstab seiner selbst und seines Gegenstandes, Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas und Bewusstsein seiner selbst, Selbstbewusstsein. Daher fällt die Prüfung des Bewusstseins ins Bewusstsein. Die Veränderung des Gegenstandes im Bewusstsein verändert im Vollzug seiner Erfahrung auch das Wissen von ihm. Hegel stellt also die Transzendenz des Bewusstseins fest, indem es Grenzen setzt und in der Reflexion überschreitet. Das Wissen korrigiert sich, weil die Wirklichkeit sich nicht in die Grenze einschließen lässt, sondern dem Bewusstsein Widerstand entgegensetzt, weil sie sich komplexer erweist als die endliche Vorstellung von ihr. Das Bewusstsein muss sich also ständig erweitern, sein Vgl. Jörg Zimmer, „Dialektik und Erfahrung. Über ursprüngliche ‚Reflexion der Reflexion‘ in Hegels Theorie der sinnlichen Gewißheit“. In: Topos. H. 7: Dialektik-Konzepte. (1996), S. 11 ff.
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Verhalten und Verhältnis zur Wirklichkeit verändern, um die Wirklichkeit angemessener denken zu können. Dieser Exkurs zur „Einleitung“ war nötig, um den systematischen Zusammenhang besser verstehen zu können, den es zwischen der „Phänomenologie“ und der „Wissenschaft der Logik“ gibt. Was sich in der Folge von Bewusstseinsgestalten in der „Phänomenologie“ im Feld der Erfahrung darstellt, wiederholt sich im Element des Begriffs in der „Logik“: die Erfahrung, die das Bewusstsein in seiner Beziehung zur Wirklichkeit macht, wird nun als das Verhältnis von Sein und Denken in der Entwicklung seiner logischen Formen als Selbstdifferenzierung des Denkens expliziert. Hegel spricht diesen Zusammenhang in der „Vorrede“ selbst explizit aus: „Das unmittelbare Daseyn des Geistes, das Bewußtseyn, hat die zwey Momente, des Wissens und der dem Wissen negativen Gegenständlichkeit. Indem in diesem Elemente sich der Geist entwickelt und seine Momente auslegt, so kommt ihnen dieser Gegensatz zu, und sie treten alle als Gestalten des Bewußtseyns auf. Die Wissenschaft dieses Wegs ist Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtseyn macht.“ (HW 2, 29) Im Bewusstsein als unmittelbare Gegebenheit des dialektischen Verhältnisses und seiner Reflexion ergibt sich die Negativität des Seyns, d. h. seine unhintergehbare Vermitteltheit: „Das Seyn ist absolut vermittelt; es ist substantieller Inhalt, der ebenso unmittelbar Eigenthum des Ich, selbstisch oder der Begriff ist. (…) In diesem breiten sich nun die Momente des Geistes in der Form der Einfach heit aus, die ihren Gegenstand als sich selbst weiß. (…) Ihre Bewegung, die sich in diesem Elemente zum Ganzen organisirt, ist die Logik oder spekulative Philosophie.“ (HW 2, 30) Dialektische Philosophie hat es logisch-ontologisch mit dem Verhältnis von Denken und Sein zu tun, und der Begriff ist immer dann, wenn Hegel ihn im Singular benutzt, der Ausdruck einer Grundstruktur (das in der logischen ‚Form der Einfachheit‘ ausgedrückte reflekierte substanzielle Verhältnis): So wie das Bewusstsein das Verhältnis zur Wirklichkeit, in dem es steht, zugleich übergreift, weil es sich in diesem Verhältnis weiß, so muss auch im Element des Begriffs, also in der Logik jede einzelne Begrifflichkeit als Ausdruck des Verhältnisses von Denken und Sein begriffen werden. ‚Sein‘ etwa ist in der Logik Denken des Seins. In der „Wissenschaft der Logik“ wird diese Struktur zu einem zusammenhängenden Ganzen ‚organisiert‘. Hegel identifiziert Logik mit spekulativer Philosophie, und da dieser Begriff oft missverstanden wird, muss sein Gehalt näher bestimmt werden. Umgangssprachlich bezeichnet Spekulation ein vom Empirischen abgehobenes Umherschweifen der Gedanken und ist heute negativ besetzt. In der Philosophie jedoch kommt der Ausdruck von lateinisch speculari, was ‚sich umschauen‘ bedeutet und eine Übersetzung des griechischen Wortes theorein ist, was anschauen bedeutet. Der Begriff Spekulation hat nichts mit Abgehobenheit vom Bereich der Erfahrung zu tun, sondern bezeichnet sehr genau, was philosophische Theorie eigentlich bedeutet: nämlich von der Nähe unmittelbarer Erfahrung zurückzutreten und sozusagen
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eine höhere Warte einzunehmen (specula bedeutet im Lateinischen Aussichts- oder Wachturm bzw. eine hohe Stelle zum Ausschau halten). In diesem Sinn hat die „Wissenschaft der Logik“ als spekulative Philosophie die reflektierte Erfahrung der „Phänomenologie“ in sich. Spekulative Philosophie handelt von philosophischen Aussagen, die transempirsch sind, weil sie durch die unmittelbare Erfahrung nicht überprüft werden können. Das heißt aber nicht, dass sie von der Erfahrung abgehoben wären bzw. nichts mit ihr zu tun hätten. Hegel wendet sich gegen Kants Einschränkung der Vernunft auf den Bereich der Erfahrung und will, wie schon angedeutet, in seiner Logik den Sinn der Dialektik als über Erfahrung hinausgehende spekulative Vernunft positiv wenden. Jene metaphysischen Fragen, von denen Kant sagte, dass sie zwar nicht zum legitimierbaren Bereich des auf Erfahrung beschränkten Verstandes gehörten, von denen die Vernunft aber dennoch immer wieder ‚belästigt‘ wird, können in der Dialektik in der Form einer spekulativen Theorie als Fragen behandelt werden. Es geht wieder um die unterschiedliche Theorieform von Einzelwissenschaften und Philosophie. Wissenschaftliche Theorien beziehen sich immer auf Sachverhalte in methodisch begrenzbaren Ausschnitten aus der Wirklichkeit, während philosophische Fragestellungen wie die nach dem Ganzen notwendig spekulativ, weil transempirisch sind: In der Philosophie geht es nicht um empirische Beweisbarkeit, sondern um Begründungsstrukturen. Der Katalog von Grundfragen der Dialektik, den Hegels „Vorrede“ programmatisch aufmacht, zeigt in diesem Sinn den notwendig spekulativen Horizont jeden dialektischen Denkens, sofern es Philosophie ist. Diese Aufgabe artikuliert die „Vorrede“ als programmatischer Entwurf oder, wie Hegel sich selbst ausdrückt, als „anticipirte Versicherung“: „Diese Natur der wissenschafftlichen Methode, theils von dem Inhalte ungetrennt zu seyn, theils sich durch sich selbst ihren Rythmus zu bestimmen, hat, wie schon erinnert, in der speculativen Philosophie ihre eigentliche Darstellung.“ (HW 2, 41) Hegels Grundgedanken zur Dialektik lassen sich dahin zusammenfassen, dass dialektisches Denken über die Identität hinaus nach Strukturen der Negativität fragt. Contradictio est regula veri (W 2, 533), wie es in den Habilitationsthesen von 1801 heißt. Widersprüche entwickeln sich für Hegel im Denken, und das bedeutet, dass die dialektische Frage über Identität hinaus eine notwendig spekulative Dimension hat: Denn sobald das Denken Zusammenhänge reflektiert, entsteht der Horizont des Ganzen oder der Begriff des Gesamtzusammenhangs, der jedoch prinzipiell und nicht nur in Hegels Konzeption transempirisch ist. Hegels Philosophie ist in vielerlei Hinsicht weitergedacht worden. Dialektisch ist eine produktive Fortsetzung Hegels jedoch nur dann, wenn sie die beiden dialektischen Grundprobleme, nämlich Wirkliches über Identität hinaus als Veränderung und als Verhältnisstruktur zu denken, weiterzuentwickeln imstande ist. Hegels Einsatz beim Bewusstsein, das eine Tätigkeit ist und deshalb eine immanente Vollzugs- oder Verlaufsform hat, führt dazu, Dialektik primär von der Bewegung der Veränderung her zu denken. Daran
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kann und soll auch gar nicht gerüttelt werden, denn Dialektik ohne Veränderung wäre schlicht undenkbar. Das Problem der Dialektik ist jedoch, dass gegenüber dem diachronen Moment der Negativität (der Zeitlichkeit) das synchrone Moment der Simultaneität der Verhältnisse systematisch nachrangig behandelt worden ist. Aufgabe der Dialektik der Gegenwart ist es, die Gleichzeitigkeit von in einer Gegenwart versammelten Beziehungen systematisch gleichrangig zu behandeln – und das heißt zunächst, Gegenwart aus ihrer Eingeschlossenheit in den Zeitverlauf zu lösen und in ihrer relationalen Struktur begreifbar zu machen. Aufgabe der folgenden Studie ist es, die theoretischen Aspekte einer Konzeption zu entwickeln, die Dialektik vom Gedanken der Eigenbedeutsamkeit der Gegenwart her zu begreifen gestattet. Eine Möglichkeit, hinter das Bewusstsein zu kommen, ohne seine fundamentale Bedeutung für die Theorie der Dialektik infrage zu stellen, stellt der Gedanke der ‚gegenständlichen Tätigkeit‘ von Marx dar. Er hinterfragt Hegels Grundlegung aus dem Bewusstsein, und denkt zugleich die dialektischen Grundgedanken Hegels weiter, nämlich alles Wirkliche als Verhältnis und Veränderung zu verstehen. Marx’ Antwort auf Hegel bedeutet nicht einfach Kritik, sondern hat die dialektische Form der bestimmten Negation.
Gegenständliche Tätigkeit: Hegelkritik beim frühen Marx Wir werden selbstverständlich nie wissen, wie Hegel beim Lesen der Texte von Marx über sie geurteilt haben würde. Bei vielen möglichen Einwänden, die man sich denken kann, müsste Hegel jedoch eines zugestehen: Auch Marx begreift Dialektik wesentlich als den philosophischen Versuch, den Begriff des Verhältnisses in den des Seins aufzunehmen. Die Insistenz auf Strukturen der Dialektik zeigt sich an einem ebenfalls programmatischen Text, den „Thesen über Feuerbach“ von Marx: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätig keit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt. Feuerbach will sinnliche – von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedne Objekte: aber er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit.“25 Karl Marx, „Thesen über Feuerbach“. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Berlin 1983, S. 5. Die Schriften von Marx werden im Folgenden nach dieser Ausgabe als MEW im laufenden Text zitiert.
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Die Feuerbachthesen sind ein Gründungsdokument des dialektischen Materialismus, und Marx beginnt deshalb mit der Abgrenzung gegen alle Formen des Materialismus, die bisher in der Geschichte der Philosophie aufgetreten sind (er hatte über den durch Demokrit und Epikur vertretenen antiken Materialismus promoviert), bezieht sich jedoch vor allem auf den modernen erkenntnistheoretischen Materialismus, mit dem der anthropologische Materialismus Feuerbachs etwas Entscheidendes teilt: die Auffassung der Wirklichkeit ‚unter der Form des Objekts‘, also als Korrelat eines Erkenntnissubjekts, das dann materialistisch von der Anschauung aus verstanden wird. Dem setzt Marx die sinnlich-praktische Tätigkeit entgegen, die er gegenständliche Tätigkeit nennt. Die Pointe, die in dieser Wendung steckt, wird leicht überlesen: Im Unterschied nämlich zu einem erkenntnistheoretischen Objektbegriff, der Wirklichkeit als das distanzierte Gegenüber eines aufnehmenden Bewusstseins auffasst, und auch anders als beim ontologischen Dingbegriff, der die Selbständigkeit dieses Wirklichen unterstreicht, meint Gegenständlichkeit ein mate rielles Verhältnis. Anders als in der reinen Erkenntnisbeziehung setzt das Subjekt, als an Gegenständen Tätiges aufgefasst, nicht einfach ein Objekt, sondern konstituiert ein dialektisches Verhältnis der Wechselwirkung: Die sinnlich-praktische Tätigkeit wirkt nicht nur, sondern wird gleichzeitig vom Gegenstand bewirkt (Gegenstand drückt ja schon etymologisch ‚gegenstehen‘ aus und hängt sprachgeschichtlich mit ‚Widerstand‘ zusammen26). Die ‚Anschauung‘ bleibt der erkenntnistheoretischen Vorstellung eines dem Subjekt gegenüberstehenden Objekts verhaftet – und stößt damit nicht bis zum Begriff der Tätigkeit vor. Es ist der Idealismus, der, wie Marx in der zitierten Stelle ausdrücklich sagt, diesen Begriff der Tätigkeit entwickelt – und deshalb ein unverzichtbares Element jeder Dialektik darstellt. Dies bedeutet für das Verhältnis zu Hegel, dass sein Idealismus in das neue Konzept des dialektischen Materialismus aufgehoben werden muss. Das Problem ist dabei, dass der Idealismus die Tätigkeit nicht als gegenständliche Tätigkeit kennt – weshalb diese dann von Marx durchaus im Sinne einer Art von Transzendentalität begriffen wird bzw. eine transzendentale Funktion ausübt. Denn Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Leipzig 1897, Sp. 2263 ff.: „gegenstand gethan haben“ wird noch im 15. Jh. im Sinne von Widerstand leisten gebraucht. Der Eintrag belegt auch die Bedeutung von etwas Entgegengesetztem und hält fest, dass das Wort ‚Gegenstand‘ als „philosophischer kunstausdruck“ im Sinne von lat. obiectum erst im 18. Jh. durch Christian Wolff ins Deutsche kommt und, wie hinzugefügt werden muss, den Unterschied zwischen Objekt und Gegenstand dann einebnet. Jeder Mensch jedoch, der sich auch in unserer Zeit noch ein Gefühl für die Differenziertheit und Genauigkeit der deutschen Sprache erhalten hat, wird die alte Konnotation in Marx’ Wortwahl sofort heraushören: die sinnlich-praktische Tätigkeit konstituiert kein Objekt, sondern ein Verhältnis, in dem das gegen-ständliche Korrelat der Tätigkeit ihr Widerstände entgegensetzt und damit das materielle Verhältnis mitbestimmt.
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das Verhältnis, das im Begriff der gegenständlichen Tätigkeit ausgedrückt ist, wird von Marx ja in strenger Analogie zum Reflexionsverhältnis des Bewusstseins eingeführt – und ist außerdem die Form bewussten Seins, in der das Bewusstsein zwar nicht Prinzip, sehr wohl jedoch Medium des materiellen Verhältnisses ist. Denn die gegenständliche Tätigkeit ist als menschliche Tätigkeit ohne ihre Vermittlung im Bewusstsein nicht denkbar. Diesen Grundlegungscharakter des Konzepts der gegenständlichen Tätigkeit bei Marx hat Hans Heinz Holz hervorgehoben: „Marx hat, ohne den Boden neuzeitlicher Denkerfahrung zu verlassen, durch eine strukturell unscheinbare, jedoch sehr wesentliche Verschiebung in der Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Welt die Neuorientierung auf die geschichtliche Begründung der außerphilosophischen Voraussetzung des Philosophierens vorgenommen. Im Gegensatz zu Feuerbach, der die Sinnlichkeit als seinsgebend dem Denken vorschaltete, setzt Marx an die Stelle der Apperzeption die ‚gegenständliche Tätigkeit‘. (…) Der Ausgang von der sinnlich menschlichen Tätigkeit erlaubt es, die cartesische Gewißheit des ‚Ich bin‘ weiterhin als erkenntnistheoretisch Erstes, Unbezweifelbares beizubehalten – denn immer bin ich es, der tätig wird. Aber in der Praxis fällt die Distanz des erkannten Objekts zum erkennenden Subjekt weg, Subjekt und Objekt sind in ihr zu einer Einheit zusammengeschlossen. In der Praxis stehe ich immer in einer Situation zusammen mit den Gegenständen, auf die sich mein Tun richtet und die den Rahmen meines Tuns bilden…“27 Die Feuerbach-Thesen sind 1846 entstanden. Schon in der Schrift „Ökonomischphilosophische Manuskripte“ aus dem Jahr 1844 aber heißt es in der apodiktischen Form einer grundsätzlichen anthropologischen Aussage: „Das gegenständliche Wesen wirkt gegenständlich, und es würde nicht gegenständlich wirken, wenn nicht das Gegenständliche in seiner Wesensbestimmung läge. Es schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist.“ (MEW Ergbd. I, 577) Das ist nicht nur eine Abgrenzung gegen die anthropologischen Grundannahmen Feuerbachs, der den Menschen als Sinnenwesen auffasst und damit nicht über den bürgerlichen Materialismus der Neuzeit hinausgeht, sondern Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion. Versuch einer Grundlegung der Dialektik, Stuttgart/Weimar 2005, S. 366 f. Diese Situation, so Holz etwas später, „ist immer das Gegenwärtige, von dem aus seine Entstehungsbedingungen und seine Vorgeschichte erinnert und Zukunftsperspektiven antizipiert werden.“ (Ebd., S. 377) In der Fußnote weist er explizit auf mein Konzept einer Dialektik der Gegenwart hin, nämlich auf die „Bedeutung der Gegenwart als Zeitform des Seins“ (ebd.), das tatsächlich vom Begriff der gegenständlichen Tätigkeit bei Marx her begründet werden kann. Zur Bedeutung des Begriffs der gegenständlichen Tätigkeit für die Frage einer dialektisch-materialistischen Ontologie vgl. Daniel Göcht/Jörg Zimmer, „Ontologie des gesellschaftlichen Seins: Georg Lukács und Hans Heinz Holz“. In: Jan Urbich/Jörg Zimmer, Handbuch Ontologie, Stuttgart 2020, S. 207 ff.
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Marx macht zwei wesentliche und neue Aussagen über das dialektische Wesen des Menschen: Der Mensch verwirklicht sich in seinen Beziehungen zur Wirklichkeit, und zwar nicht nur, indem er sich in Beziehung zu seiner Umgebung setzt (das kann auch der Idealismus hinreichend aufklären), sondern weil er sich immer schon gegenständlich in Verhältnissen befindet; und er findet sich in solchen materiellen Verhältnissen, weil gegenständliche Beziehungen nicht nur in seiner Natur liegen, sondern Natur überhaupt als Ensemble solcher gegenständlicher Wechselwirkungsverhältnisse aufgefasst werden muss. Um das Ganze des Gedankens in ein Beispiel der organischen Natur zu fassen (denn im anorganischen Naturverhältnis ist die Wechselwirkung mechanisch und daher für den fraglichen Sachverhalt irrelevant): Tätigkeit bedeutet, sich an ein gegenständliches Anderes zu richten. Das tut eine Pflanze, wenn sie sich zum Licht der Sonne wendet, und ein Tier, indem es sich instinktgebunden zu seiner Umgebung verhält. Der Mensch unterscheidet sich durch seine gegenständliche Tätigkeit nicht dadurch, dass diese Aktivität in vor gefundenen gegenständlichen Verhältnissen geschieht, sondern dadurch, dass dieses Verhältnis durch Bewusstsein vermittelt ist: Ich drehe mich nicht einfach zur Sonne, sondern lasse mich, vermutlich nicht ohne Sonnenschutzvorkehrungen zu treffen, bewusst von ihr bescheinen; ich reagiere nicht einfach auf den Gegenstand meiner Handlung, sondern die bewusste Wahrnehmung dieses Gegenstandes und seiner Wirkung auf mich geht in die Reflexion meiner gegenständlichen Tätigkeit ein. Für die Rekonstruktion dialektischer Grundgedanken bleibt hier nur festzuhalten, dass Marx in bestimmter Negation Hegels den Begriff der Relationalität in den Begriff des Seins überhaupt und näher in den Begriff des Menschen aufnimmt: „Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen. (…) Sobald ich einen Gegenstand habe, hat dieser Gegenstand mich zum Gegenstand. Aber ein ungegenständliches Wesen ist ein unwirkliches, unsinnliches, nur gedachtes, d. h. nur eingebildetes Wesen, ein Wesen der Abstraktion. Sinnlich sein, d. h. wirklich sein, ist Gegenstand des Sinns sein, sinnlicher Gegenstand sein, also sinnliche Gegenstände außer sich haben, Gegenstände seiner Sinnlichkeit haben. Sinnlich sein heißt leidend sein.“ (MEW Ergbd. I, 578 f.) Hatte Hegel die selbstbewusste Wirklichkeit des Menschen einerseits als Selbstverhältnis am Anderen als Produkt der Arbeit, andererseits am anderen Selbstbewusstsein festgemacht, so stellt Marx’ Konzeption auch in dieser Beziehung die bestimmte Negation seines dialektischen Grundgedankens dar: „daß das Verhältnis des Menschen zu sich selbst ihm erst gegenständlich, wirklich ist durch sein Verhältnis zu dem andern Menschen“. (MEW Erg.bd. I, 519) Ganz wie schon in der „Phänomenologie des Geistes“ entwickelt, wird der Doppelaspekt der selbstbewussten Wirklichkeit des Menschen als Einheit von Naturverhältnis im Arbeitsprodukt einerseits, und dem intersubjektiven bzw. gesellschaftlichen Verhältnis andererseits bestimmt. Da ist Marx ganz Hegelianer. Im Zentrum nicht nur von Marxens Hegelkritik, sondern auch seiner frühen Konzeption der Dialektik steht der Begriff der
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gegenständlichen Tätigkeit. Er hat diesen Begriff nicht philosophisch entwickelt. Deshalb kann er an dieser Stelle, also durch Interpretation einer klassischen Vorlage, auch noch nicht entfaltet werden. Ziel der Dialektik der Gegenwart ist es jedoch, seine philosophischen Implikationen systematisch zu entfalten.
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Gegenwärtig sein heißt seit je schon sein und für immer sein. Die Subjektivität ist nicht in der Zeit, da sie vielmehr die Zeit sich zueignet und sie er-lebt, mit dem Zusammenhange eines Lebens in eins fällt. Maurice Merleau-Ponty28
Es war Augustinus, derselbe Autor, der im Übergang von der Antike zum Mittelalter das Zeit- und auch das Geschichtsbewusstsein unserer vom Christentum geprägten Kultur zuerst begrifflich bestimmte, der bei allem Vorrang der Zeitlichkeit dennoch der Zeit selbst ihren Ort in der Gegenwart anwies. Die berühmten Worte aus der Zeitabhandlung des elften Buches der Confessiones lauten: „Zukünftiges und Vergangenes sind nicht; die Behauptung, es gebe drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, trifft nicht im strengen Sinne zu. Im strengen Sinne müßte man wohl sagen: Es gibt drei Zeiten, die Gegenwart von Vergangenheit, die Gegenwart von Gegenwärtigem und die Gegenwart von Zukünftigem. Denn diese drei sind in der Seele in gewissem Sinne, und anderswo finde ich sie nicht: die Gegenwart von Vergangenem als Erinnern, die Gegenwart von Gegenwärtigem als Anschauen (con tuitus), die Gegenwart von Zukünftigem als Erwarten.“29 Vergangenheit und Zukunft als Dimensionen der Zeit haben deshalb in der Gegenwart ihren Ort, weil sie durch die Tätigkeit des Geistes, nämlich im Erinnern und Erwarten, allererst etwas Wirkliches sind. „Was ist“, so kommentiert Kurt Flasch, „ist allein diese dreidimensionale Gegenwart. (…) Damit erhält freilich die Gegenwart, sofern sie als die Einheit von Früher, Jetzt und Zukünftig gedacht ist, einen Vorrang, vereinigt sie doch in sich alle Zeiten und ist sie deren einziger ontologischer Ort.“30 Contuitus meint ein Hinsehen auf etwas Gegenwärtiges. Die „zeitenbegründende Tätigkeit des Geistes“ und ihre „zeitenübergreifende aktive Gegenwart“31, also die Abhängigkeit der Zeiterfahrung von ihrem Ort in der Gegenwart verdeutlicht Augustinus am Beispiel eines Liedes, das zeigt, wie die gegenwärtige Tätigkeit der Seele beim Singen den Verlauf des Liedes hervorbringt: „Das Leben dieser meiner Tätigkeit spaltet sich dann auf in die Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 480. Zitiert nach der Übersetzung von Kurt Flasch in ders., Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Text – Übersetzung – Kommentar, Ffm. 2004, S. 259 (XX.26.) 30 Flasch, ebd., S. 19 f. 31 Ebd., S. 24. 28 29
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Erinnerung an das bereits von mir Vorgetragene und in die Erwartung dessen, was ich noch vortragen werde. Was in der Gegenwart lebt, ist meine Aufmerksamkeit (attentio): Was zukünftig war, wird durch sie hindurch hinübergebracht (traicitur), dass es so das Vergangene werde.“32 Das klassische Beispiel weist uns auf Fragen hin: Was bedeutet Gegenwart eigentlich für unseren Begriff der Erfahrung? Was bedeutet sie für eine Kultur wie die unsere, die so stark vom Primat der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit geprägt ist? Und schließlich: Was bedeutet Gegenwart – also die Priorität des Räumlichen als das jetzt uns Umgebende – für den Begriff der Zeit? Es geht nicht um Weltraum und ‚Weltzeit‘ (sie sind heute nur noch mit Mitteln der modernen Physik denkbar), sondern um ‚Lebenszeit‘ oder auch Eigenzeit, um einen Zeitraum also, der im Feld der Erfahrung liegt und als Gegenwart beschrieben werden kann.
Das Feld der Erfahrung: Die Priorität des Raums vor der Zeit Seit Aristoteles Erfahrung zuerst systematisch zu bestimmen versucht hatte, bedeutete empireia den vertrauten, durch eingeübte Fähigkeiten bestimmten Umgang mit den Dingen, eine situativ durch Wiederholung gewonnene Kenntnis des Wirk lichen, die erst als Zusammenhang ein Ganzes von Erfahrung ausmachte: „Aus der Erinnerung entsteht nämlich für die Menschen Erfahrung; denn viele Erinnerungen an denselben Gegenstand bewirken das Vermögen einer Erfahrung…“33 Der antike Begriff der Erfahrung bezieht sich nicht ausschließlich auf Wissen, sondern z. B. auch auf Kunst und Handwerk im weitesten Sinne; sie entspringt einem praktischen Wirklichkeitsverhältnis, das durch wiederholende Einprägung von Fertigkeiten gebildet wird. Die „der Zahl nach vielen Erinnerungen sind eine Erfahrung“ – und insofern ist Erfahrung ein Allgemeines, „das in der Seele zur Ruhe gekommen ist“34. Nun hat in der Neuzeit Kant den Gebrauch der Vernunft und also mögliche Erkenntnis auf Erfahrung eingeschränkt und festgelegt. Er folgt damit der Tendenz der Epoche, Erfahrung an den Wahrnehmungsprozess und die daraus resultierenden Augustinus, a. a. O., S. 275 (n.38). Und dieselbe Struktur sieht Augustinus bis hin zur Geschichte wirksam: „Dasselbe wiederholt sich in einer längeren Tätigkeit, von der dieses Lied vielleicht eine Art Abschnitt ist; es wiederholt sich im ganzen Leben eines Menschen, dessen Teile alle Handlungen dieses Menschen sind. Es wiederholt sich in der ganzen Menschheitsgeschichte (saeculum), deren Teile alle Menschenleben bilden.“ (Ebd., S. 276 f.) 33 Aristoteles, Metaphysik, übersetzt von Hermann Bonitz. In: Philosophische Schriften, Hamburg 1995, Bd. 5, S. 2 (980b/981a). 34 Aristoteles, Zweite Analytik. In: Ebd., Bd. 1, S. 48 (84a). 32
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Wissensformen zu binden. Diese Reduktion der Erfahrung auf methodisch gesichertes Wissen auf der Grundlage von Wahrnehmung, die für den eingeschränkten Bereich empirischer Wissenschaft völlig begründet ist, hat jedoch Konsequenzen für den allgemeinen Begriff der Erfahrung. Denn sie bedeutet, Erfahrung vom Verlauf der Wahrnehmungen her im Wesentlichen als etwas zeitlich Strukturiertes zu verstehen. Kant schreibt zu den ‚Analogien der Erfahrung‘: „Der allgemeine Grundsatz derselben ist: Alle Erscheinungen stehen, ihrem Dasein nach, a priori unter Regeln der Bestimmung unter einander in einer Zeit.“35 Erfahrung beruht folglich „in Ansehung alles möglichen empirischen Bewußtseins (…) auf der synthetischen Einheit aller Erscheinungen nach ihrem Verhältnisse in der Zeit.“36 Da alle Erfahrung in der Bewusstseinsimmanenz, also in der Verlaufsform des Bewusstseins und der Voll zugsform von Bewusstseinsprozessen entsteht, ist sie unhintergehbar an Zeitlichkeit gebunden. ‚Innere‘, d. h. bewusstseinsimmanente Erfahrung ist Erfahrung unserer Zeitlichkeit, zugleich jedoch, wie Kant auch ausdrücklich feststellt, „nur unter Voraussetzung äußerer Erfahrung möglich.“37 Man kann nun diese Aussage Kants, die er selbst gegen den Idealismus als Theorie absoluter Priorität des Bewusstseins vorträgt, so verstehen, dass durch die notwendige Bewusstseinsimmanenz aller Erfahrung der Schein einer Priorität der Zeitlichkeit entsteht. Kant weist jedoch selbst darauf hin, dass die Wahrnehmung in sich den Hinweis auf das Vorhandensein wirklicher Dinge, also von Koexistenz im Raum, enthält: „Folglich ist die Bestimmung meines Daseins in der Zeit nur durch die Existenz wirklicher Dinge, die ich außer mir wahrnehme, möglich“, und das bedeutet: „…das Bewußtsein meines eigenen Daseins ist zugleich ein unmittelbares Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außer mir.“38 Auf dieses Zugleich kommt es an: Denn Kant drückt damit aus, dass alles, was sich in der Erfahrung als Sukzession der Wahrnehmungen in der Zeit manifestiert, eine Simul taneität der Koexistenz im Raum schon voraussetzt. Diese ontologische Vorrangigkeit des Raums als Bedingung für Erfahrung muss begründet werden, weil die Bindung aller Erfahrung an Zeit, nämlich den Verlauf von Bewusstseinsvorgängen, die unmittelbare Evidenz auf ihrer Seite hat. Solange Erfahrung, wie in der Philosophie der Neuzeit geschehen, primär vom Erkenntnisprozess aus betrachtet wird, mag die Frage nach der Priorität des Räumlichen zweitrangig erscheinen. Erst wenn das wirkliche, praktische In-der-Welt-Sein des Menschen in den Blick genommen wird, entsteht jenseits einer formalen Bedingung der Möglichkeit für die Erfahrbarkeit von Erscheinungen die Frage nach der Bedeutung des Raums auf neue Weise. Jenseits der antiken Vorstellung des Raumes als Gefäß Kant, Kritik der reinen Vernunft, ed. Weischedel, A 176. Ebd., A 178. 37 Ebd., B 275. 38 Ebd., B 276. 35 36
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und auch jenseits des absoluten und homogenen Raumes der neuzeitlichen Naturwissenschaft ergibt sich die Frage nach der Relokalisierung des Raumes, d. h. der Bestimmung eines Raumes, der sich erst in der sinnlich-leiblichen Gerichtetheit eines Subjekts überhaupt bildet.39 Ein solcher Relationenraum menschlicher Erfahrung war in der Form einer metaphysischen Theorie zuerst von Leibniz gedacht worden: „Was mich anbetrifft, so habe ich mehr als einmal betont, daß ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte, für eine Ordnung des Miteinanders der Existenzen, so wie die Zeit eine Ordnung ihres Nacheinanders ist. Denn der Raum, wenn man ihn in seiner bloßen Möglichkeit betrachtet, ist eine Ordnung der Dinge, die zur gleichen Zeit und insofern sie zusammen sind existieren…“40 Leibniz begreift den Raum als ‚Ordnung der Koexistenz‘ aufeinander bezogener individueller Dinge. Er ist ein Relationenraum, weil er sich durch die Beziehungen der Dinge – dialektisch gesprochen: das In-Beziehung-Sein alles Seienden – allererst bildet. Das gilt selbstverständlich in besonderem Maße, wenn sich ein Seiendes bewusst im Raum befindet und sein leibliches In-der-Welt-Sein reflektieren kann. Der Erfahrungsraum konstituiert das Feld der Erfahrung, als eine räumlich erstreckte Umgebung, die nicht vor dem in ihr Daseienden schon existiert, sondern mit ihm und in der Wechselwirkung der Seienden entsteht. Dieses körperliche Sich-im-Raum-Befinden ist eine primordiale Erfahrung, durch die sich Zeiterfahrung allererst strukturiert: „Was Zeit ist, lernen wir durch den Raum. Wir bewegen uns von einem Ort zum anderen, es verstreicht Zeit. Was hier und jetzt ist, ist uns nah. Was in der Ferne liegt, gehört in die Zukunft. Es wird erst dann gegenwärtig sein, wenn wir dorthin gekommen sind.“41 Etymologisch betrachtet bedeutet ‚Gegenwart‘ etwas Räumliches, nämlich Anwesenheit.42 In der Geschichte der Philosophie jedoch ist sie im Sinne des ‚Jetzt‘ eher als Zeitdimension betrachtet worden. Platon spricht vom nyn als dem Jetzt im Zeitverlauf und nennt es das ‚Plötzliche‘: Gemeint ist ein Umschlagen von Nichtsein zum Sein oder vom Sein zum Nichtsein, das sich im Werden als punktueller Stillstand der Erfahrbarkeit entzieht; auch Aristoteles versteht das Jetzt als Grenze der Zeit, also die Zeit als Reihe diskreter Jetztpunkte, die nicht erfahren werden können.43 Sowohl die Plötzlichkeit der Veränderung als auch die isolierte Intensität Vgl. Jörg Zimmer, „Der ästhetische Raum“. In: werkundzeit. Zeitschrift des deutschen Werk bundes, H. 1/2 (2005), S. 44 ff. 40 G. W. Leibniz, „Briefwechsel mit Samuel Clarke“. In: Philosophische Schriften, Darmstadt 2013, Bd. V, S. 371. 41 Hans Heinz Holz, Strukturen der Darstellung. Philosophische Theorie der bildenden Künste II, Bielefeld 1997, S. 149. 42 Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, S. 2281 ff.; auch das griechische Wort parousia und lateinisch praesentia enthalten diese Bedeutung von Anwesenheit. 43 Vgl. Platon, Parmenides 151 e – 157b und Aristoteles, Physikvorlesung IV, 218 a. 39
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des Jetzt in der Zeitreihe zeichnen Gegenwart als den der Erfahrung sich entziehenden Augenblick aus, als der er in der europäischen Philosophie weitgehend weiter gedacht worden ist. Um an die Gegenwart als eine eigene Dimension der Wirklichkeit heranzukommen, muss sie jedoch jenseits eines Zeitmodus als etwas zeitlich Erstrecktes gedacht werden, so wie man etwa von der Gegenwart als der aktuellen Zeitspanne der Geschichte spricht. Der Augenblick muss aus seiner Eingeschlossenheit in den linearen Verlauf der Zeit befreit werden und als Zeitraum eine zeitliche Erstreckung bekommen.44 Dieser Raum der Gegenwart ist in der Phänomenologie eingehend erforscht worden.45 Im Denken Husserls, vor allem aber Merleau-Pontys bekommt die Gegenwart ihren räumlichen Sinn zurück. Husserl bricht mit dem Begriff der leeren und homogenen Zeit, indem er das innere Zeitbewusstsein auch als eine Bewusstseinsleistung auffasst, die einen inhaltlich erfüllten, eben gespreizten und insofern fest gehaltenen Augenblick der Gegenwart beschreiben kann. Ähnlich wie Augustinus die Zeiterfahrung am Beispiel des Liedes exemplifiziert, zeigt Husserl die Spreizung des Augenblicks an der Wahrnehmung eines Tones: „Der Ton dauert, er ist jetzt und immer wieder jetzt. Das Jetzt ist immer wieder ein neues, und im neuen Jetzt ist der Ton nicht mehr zugleich im alten Jetzt, sondern ist im alten Jetzt gewesen. (…) Der Ton in seiner Dauer ist immanent gegeben in der Ton-Wahrnehmung, und diese Ton-Wahrnehmung selbst ist ein Dauerndes.“46 In der Wahrnehmung des Tones zeigt sich, dass die Zeit nicht leer, sondern vielmehr erfüllt ist. Husserl nennt diese retentionale Abschattung der Zeit ihren ‚Kometenschweif ‘. Er kann zwar der Gegenwart eine gewisse zeitliche Erstreckung konzedieren, in der sie jenseits der Verflüchtigung des Jetzt zu etwas Erfahrbarem wird, aber sie bleibt auch als dieser Kometenschweif etwas im Fluss der Zeit Gedachtes. Dennoch fasst Husserl seinen Gedanken in zwei sehr interessante Metaphern, nämlich des „Zeitfeldes“, in dem jedes erlebte Jetzt seinen retentionalen und protentionalen „Horizont“ hat und so jenseits der leeren, gleichmäßigen Linearität des Zeitverlaufs zu einem erfüllten Jetzt wird.47 Sowohl Feld, das einen begrenzten Raum bezeichnet, als auch der Horizont Seneca spricht von einem spatium, einer Zeitspanne im Sinne eines Zeitraumes, den die „Vernunft zu strecken weiss“ – ratio dilatat, ein sehr treffender Ausdruck für den angesprochenen Sachverhalt. (Seneca, Die Kürze des Lebens/De brevitate vitae, Düsseldorf und Zürich 2003, S. 21) 45 Vgl. Jörg Zimmer, „Differenzierungen im Begriff ‚Gegenwart‘ bei Husserl und MerleauPonty“. In: Phänomenologische Forschungen 2017/1, S. 39 ff.; vgl. auch ders., „Gegenwart“. In: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 2010, Bd. 1, S. 783 ff. 46 Edmund Husserl, „Analysen zur passiven Synthesis“. In: Husserliana Bd. 10, S. 209. 47 Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913), Tübingen 1993, S. 164 ff.; zur Horizontmetapher bei Husserl vgl. Jörg Zimmer, „Der Horizont des Wahren. Über eine notwendige Metapher in Husserls 44
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als eine Raumwahrnehmung von einem Ort im Raum aus sind also räumlich konnotierte Metaphern. In den späten ‚Analysen zur passiven Synthesis‘ wird Husserl dann zu einem Begriff der Wahrnehmung kommen, der diese als leibhafte Präsenz versteht: „Wahrnehmung ist das Bewußtsein, eine Gegenwart sozusagen selbst beim Schopf zu fassen…“48 Während sich das Bewusstsein in der Zeit vollzieht, ist der Leib im Raum situiert und verhält sich zu dieser seiner Umgebung. Genau hier setzt Merleau-Ponty ein. Gegenwart ist in der leiblichen Wahrnehmung originär gegeben, leibliche Präsenz selbst ist „kein bloßer Akt“, sondern „ihr entspricht eine Welt, die kein Objekt ist, sondern das Feld all unserer Gedanken und ausdrücklichen Wahrnehmungen.“49 In dieser leiblichen Gegenwart vollzieht sich eine Verschränkung von Ich und Welt: Der Mensch ist als Leib nicht einfach im Raum und in der Zeit, sondern er strukturiert sie. Merleau-Ponty spricht von einem Präsenzfeld. Welt und Wirklichkeit ist, was einem in ihr anwesenden Leib gegenwärtig ist. Merleau-Ponty kann diese Struktur des In-der-Welt-Seins auszeichnen, weil er nicht primär von der Wirklichkeit als Korrelat des Bewusstseins, sondern als einem Feld von Beziehungen spricht, in denen sich das leibliche Selbst schon befindet. Diese Gegenwart im Raum ist das Erste und Originäre, in ihr wird leib liche Erfahrung im Unterschied zu einer objektiven, abgehaltenen Wirklichkeit als Bewusstseinskorrelat zu einer räumlichen Umgebung, in der das Ich anwesend ist. Gegenwart ist nicht etwas durch Bewusstsein Konstituiertes, sondern Medium der Reflexion eines Seinsverhältnisses: „Die Gegenwart selbst (im engen Sinne) ist nicht gesetzt. Das Papier und mein Federhalter sind für mich da, doch ich nehme sie nicht ausdrücklich wahr, als ich vielmehr auf meine Umgebung zähle, auf meine Werkzeuge mich verlasse, ich bin bei meiner Arbeit, ich stehe nicht vor ihr. Die Inten tionalitäten, die mich in meiner Umgebung verankern, nennt Husserl Protentionen und Retentionen. Sie gehen nicht von einem zentralen Ich, sondern in gewisser Weise von meinem Wahrnehmungsfelde selber aus…“50 Der privilegierte Status der Gegenwart besteht darin, dass in ihr „Sein und Bewußtsein koinzidieren“51. Wenn Gegenwart als diese Präsenz des Seins aufgefasst werden soll, muss dies begründet werden. Ich habe in einem vor zwanzig Jahren erschienenen Aufsatz dieses Problem anzuzeigen versucht und angedeutet, dass von ihrem Problemgehalt her ein Konzept von Dialektik entwickelt werden könnte.52 In diesem Aufsatz wird
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transzendentaler Phänomenologie“. In: Phänomenologische Studien, Neue Folge, H. 4 (1999), S. 256 ff. Husserl, „Analysen zur passiven Synthesis“, a. a. O., S. 304. Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Ffm. 1987, S. 160. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., S. 473. Ebd., S. 482. Jörg Zimmer, „Die Präsenz des Seins. Dialektik der Gegenwart in der Widerspiegelungstheorie“, a. a. O.
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darauf hingewiesen, dass Entwicklung in der Zeit und Simultaneität im Raum, also diachrone und synchrone Wirklichkeit beide notwendige Dimensionen der Negativität sind, ohne die Dialektik nicht gedacht werden kann. Dialektik ist in jeder Form eine Theorie, die vom Seienden ausgehend diese Dimensionen der Negativität, nämlich die Veränderung und den Zusammenhang des Wirklichen zu erschließen versucht. So bin ich von Hans Heinz Holz auch verstanden worden; er spricht im Zusammenhang meines Versuchs von der „Bedeutung der Gegenwart als Zeitform des Seins“ und hält fest: „Die Situation ist immer das Gegenwärtige, von dem aus seine Entstehungsbedingungen und seine Vorgeschichte er-innert und Zukunftsperspektiven antizipiert werden. Erinnerung und Antizipation sind integrale Momente der Gegenwart, erst in der Erstreckung der Zeit, nicht schon allein in der räum lichen Simultaneität erfüllt sich das Konzept des Gesamtzusammenhangs. Eine rein als Gegenwart gedachte Totalität wäre bewegungslos…“53 Gegenwart ist selbstverständlich immer in einer Hinsicht Übergang, in anderer Hinsicht Treffpunkt von Vergangenheit und Zukunft – und deshalb auch ein Modus der Zeitlichkeit. Die Frage, die ich im Programm einer Dialektik der Gegenwart aufgeworfen habe, zielte jedoch gerade darauf, im theoretischen Entwurf der Dialektik nicht von vornherein die Prozessualität und damit, was die philosophischen Probleme der Praxis angeht, den Entwicklungsgedanken zu priorisieren, sondern Gegenwart im Sinne dieser ‚Zeitform des Seins‘ zu verstehen und damit vom Sein auszugehen, das dialektisch nicht anders als ein Seinsverhältnis gedacht werden kann. Sein als Gegenwart führt dann, wie sich später zeigen muss, auch auf einen modifizierten Begriff der Zeit.
Sein als Gegenwart ‚Sein‘ ist der allgemeinste und damit, wie Hegel in seiner Logik entwickelt hat, auch notwendig der erste Begriff der Philosophie. Aus dieser ebenso notwendigen wie ‚schlechten‘ Allgemeinheit sind dem Begriff semantische Schwierigkeiten entstanden, die in der sprachanalytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts bis in alle Winkel hinein durchleuchtet worden sind. Diesen Fragen kann hier nicht nachgegangen werden.54 In der Metaphysikgeschichte bzw. der Ontologie als Disziplin der europäischen Philosophie lassen sich grob gesprochen zwei Grundlinien unterscheiden, die Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion. Versuch einer Grundlegung der Dialektik, Stuttgart/Weimar 2005, S. 377. 54 Zur kritischen Analyse des Seinsbegriffs überhaupt vgl. Jan Urbich, „Die Bedeutung von ‚sein‘. Philosophische Grundlagen der Semantik von ‚sein überhaupt“‚. In: Jan Urbich/Jörg Zimmer (Hg.), Handbuch Ontologie, a. a. O., S. 317 ff. 53
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man als Seinsmetaphysik und Substanzmetaphysik bezeichnen kann55: Im eleatischen Sinn ist Sein alles, was ist – und schließt damit im strengen Sinn Nicht-Sein, das nach Parmenides als me einai, also Negation des Seins nicht einmal denkbar sein soll, als Gegenstand ontologischen Fragens aus.56 In dieser Allgemeinheit kann ‚Sein‘ nicht bestimmt oder definiert werden, weil es als der allgemeinste Grundbegriff nicht auf andere Begriffe zurückgeführt werden kann. Eben von diesem Problem geht Aristoteles aus, wenn er nicht von Sein schlechthin, sondern von substanziellem Seienden ausgeht, also Seiendes und Seiendheit (ousia bzw. Wesen) unterscheidet und von hier aus verschiedene Aussageweisen über Seiendes (nicht ‚Grün‘, sondern ‚etwas Grünes‘) untersuchen kann. Das ist ein entscheidender Fortschritt in der Ontologie, der sich historisch weitgehend durchgesetzt und ausdifferenziert hat. Die ontologische Grundfrage der Dialektik zielt jedoch darauf, Sein ursprünglich als Seinsverhältnis auszuzeichnen, die Relation also nicht als etwas dem substanziellen Seienden akzidentell Zukommendes zu betrachten wie in der Kategorienlehre des Aristoteles, sondern in den Begriff des Seins aufzunehmen. Dialektische Philosophie muss zu diesem Zweck beide Linien, also sowohl einen allgemeinen Seinsbegriff als auch den konkreten Begriff von Seiendem aufgreifen und zugleich über sie hinausgehen. Hegel beginnt deshalb seine Logik mit dem Begriff des Seins als einem unbestimmten Unmittelbaren, bei dem die logische Selbstbestimmung des Begriffs notwendig beginnen muss, will sie Gedankenbestimmung von etwas sein, also zunächst ‚Sein‘ und dann ‚etwas Seiendes‘ denken. Hegel schreibt in der ‚kleinen‘ Logik: „Das Seyn ist der Begriff nur an sich, die Bestimmungen desselben sind seyende, in ihrem Unterschiede Andre gegeneinander, und ihre weitere Bestimmung (die Form des Dialektischen) ist ein Uebergehen in Anderes. Diese Fortbestimmung ist in einem das Heraussetzen und damit Entfalten des an sich seyenden Begriffs, und zugleich das Insichgehen des Seyns, ein Vertiefen desselben in sich selbst.“ (HW 6, 121) Detlev Pätzold, „Seinsmetaphysik und Substanzmetaphysik“. In: Hans Heinz Holz (Hg.) Formbestimmtheiten von Sein und Denken. Aspekte einer dialektischen Logik bei Josef König, Köln 1982, S. 83 ff. Pätzold bringt das Beispiel aus einem Kinderbuch, das den Unterschied sehr schön zum Ausdruck bringt: „ ‚Was hat sie denn sonst noch gern?‘ sagte Herr Hase. / ‚Sie hat gern Grün‘, sagte das kleine Mädchen‘ / ‚Grün‘, sagte Herr Hase. ‚Grün kannst du ihr doch nicht schenken‘. / ‚Vielleicht etwas Grünes‘, sagte das kleine Mädchen… (ebd., S. 83). 56 Platon hat Parmenides in dem für die Entwicklung dialektischen Denkens sehr wichtigen Dialog Sophistes widersprochen, indem er Nicht-Sein nicht im Gegensatz zu Sein, sondern als Verschiedenheit oder Andersheit entwickelt, also als Beziehung des Seienden (on) zum Nicht-Seienden (me on) begreift: Vgl. dazu näher Kap. IV über ‚Strukturen der Negativität‘.
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Hegel denkt das Sein als das „Absolute“ und zugleich als „reine Abstraction“ (HW 6, 123). Es ist einerseits alles (das Absolute, die Totalität), aber gerade deshalb in dieser Unbestimmtheit Abstraktion von aller Bestimmtheit. Diese Bestimmtheit (der Schritt vom eleatischen zum aristotelischen Seinsbegriff ) vollzieht sich im Wer den, d. h. in der Fortbewegung der Denkbestimmungen. Sein macht für das Denken (und die Logik ist ja die Entwicklung der Denkbestimmungen) notwendig den Anfang, ist jedoch damit ab ovo nicht mehr nur jenes Unmittelbare und Abstrakte, sondern ein ursprünglich Vermitteltes, weil es nicht Sein, sondern Denken des Seins ist. Eben diese Einheit von Sein und Denken spricht das Zitat aus: Sein ist deshalb unmittelbar schon der Begriff, weil es der Gedanke ‚Sein‘ und damit Ausdruck eines Verhältnisses ist. Hier zeigt sich der Realitätsgehalt der Denkbestimmungen, auf den Hegels Logik Anspruch erhebt: sie ‚sind seiende‘. Die gesamte logische Bewegung wird dann als Fortbestimmung dieses Verhältnisses gedacht – als die Form des Dia lektischen also, die das abstrakte Sein in seine Bestimmungen auseinandersetzt oder ‚entfaltet‘ – und damit als ein in sich Reflektiertes in seiner abstrakten, schlechten Allgemeinheit aufhebt. In diesem ‚Übergehen in Anderes‘ erweist es sich als Seins verhältnis, und diese Bewegung bedeutet deshalb ein ‚Insichgehen‘ des Seins, weil es in dieser Differenzierung durch Denkbestimmungen zu einem immer weiter und genauer – Hegel würde sagen: ‚konkreter‘ – in sich selbst Reflektierten wird. Dieses Sein als Seinsverhältnis hat Josef König in einer für die dialektische Philosophie grundlegenden Form aufgegriffen und weiterentwickelt. Seine Position kann hier nicht ausführlich dargestellt werden.57 König argumentiert auch nicht vom Standpunkt der Ontologie aus, sondern bewegt sich programmatisch im ‚Grenzgebiet‘ von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie.58 Dennoch kann man aus seinem Grundgedanken die dialektische Struktur des Seins als Seinsverhältnis erschließen. König versucht nämlich, den Sachverhalt in der Form einer „Logik dieser Relativität“59 auszudrücken, indem er determinierende und modifizierende Prädikate unterscheidet. Determinierende Prädikate kommen als Ausdruck für Eigenschaften einem Ding selbst zu. Modifizierende Prädikate dagegen artikulieren das Wirken einer Sache auf ein Subjekt, drücken also ein Verhältnis aus: „Der Modus scheint daher eine Bestimmung zu sein, die zu einer Sache, die im wesentlichen fer tig und bestimmt ist, irgendwie hinzukommt. (…) Allein das modifizierende Wie Vgl. die Beiträge in Hans Heinz Holz (Hg.), Formbestimmtheiten von Sein und Denken, a. a. O., und die Monographie von Volker Schürmann, Zur Struktur hermeneutischen Spre chens. Eine Bestimmung im Anschluss an Josef König, Freiburg/München 1999. 58 Josef König, Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprach philosophie (1937), Tübingen 1969; dazu Volker Schürmann, „Neue Ontologie: Nicolai Hartmann und Josef König“. In: Jan Urbich/Jörg Zimmer (Hg.), Handbuch Ontologie, a. a. O., S. 197 ff. 59 König, Sein und Denken, a. a. O., S. 5. 57
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ist kein rein Äußerliches, kein rein Hinzukommendes; es ist nicht so etwas wie ein Anstrich oder ein Kleid.“60 An dieser Stelle ist genau das ontologische Grundproblem der Dialektik angesprochen: Der Modus drückt ein nicht nur zufälliges, sondern ein wesentliches Verhältnis aus, aber so, dass ein in sich bestimmtes Seiendes eine Wirkung auf ein Anderes, nämlich das die Wirkung gewärtigende Subjekt ausübt. An das „Wie eines gewissen Wirkens“ nun knüpft König die Frage, ob „Seiendes ihm entgehen“ könne61, sprich: Dieses in seiner Unabhängigkeit supponierte Seiende ist gar nicht anders als in seiner Wirkung und folglich in Beziehung zu Anderem da und gegenwärtig. König spricht von dem ‚bestimmten Eindruck‘, der äquivalent sei zum ‚Eindruck eines Bestimmten‘. Das Wie des Wirkens tritt also hinzu, weil das Wirkliche ein vorgängig Seiendes ist, das auf mich wirkt – aber es ist zugleich dieser bestimmte Eindruck, die Präsenz jenes Seienden, die in der Wirkung zum Ausdruck kommt. Der Eindruck von Seiendem ist nichts, „solange er nicht offenbart; mein-ihnempfangen und sein-mir-sichtig-Machen sind irgendwie eines.“62 König verdeutlicht diesen Sachverhalt am Phänomen des Weckens: „Wie einer, der auf Grund eines Anstoßes erwacht, gleich sehr sowohl von selbst, als auch durch den Anstoß erwacht, so erhebt und rührt sich das Bewußtsein um das Wovon wie von sich aus und wie von selbst und zugleich unter dem Anstoß des Wirkens der Sache. (…) Die Bewegung des Weckens dringt von außen auf den Schlafenden ein und ist insofern von ihm unabhängig; doch aber ist sie eine Welle, die getragen zu werden verlangt von der entgegengesetzt gerichteten Bewegung des Erwachens…“63 Sein ist danach immer nur in der Form seiner Wirkungen da, also in einem intrinsischen Sinn Gegenwart: Sein und Wirken koinzidieren, Sein ist nur in der „Relativität des Seienden auf das Wissen“64 da, und deshalb kann man begründet von Präsenz des Seins sprechen. Gemeint ist damit nicht allein konzises Wissen, sondern die Metapher des Weckens bzw. Erwachens evoziert den umfassenden Sinn dieser Gegenwart, die die ganze Breite und alle Modalitäten von Wahrnehmung der Wirklichkeit umfasst.65 Es geht um die Beschreibung des Seinsverhältnisses selbst, nicht darum, eine bestimmte Ausdrucksform dieses Verhältnisses gegenüber anderen auszuzeichnen. Es geht mit anderen Worten nicht darum, dieses Verhältnis in der Form des Idealismus vom Subjekt her zu konstruieren, sondern um die 62 63 64 65 60 61
Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 24. Ebd., S. 24 f. Ebd., S. 57. Ein Beispiel, das König selbst gibt: Ein Zimmer muss nicht leer sein, um leer wirken zu können. Ein Grund seines Leer-Wirkens können auch in einer emotionalen Disposition liegen (etwa, wenn das Zimmer zwar voller Möbel und Bücher ist, aber dennoch leer wirkt, weil die es bewohnende Person nicht anwesend ist).
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Auszeichnung eines Begriffs medialer Subjektivität, die nicht nur sich selbst, sondern das Ganze des Verhältnisses zum Ausdruck bringt. Es geht weder um Objektivismus (der als Aussagenlogik das Korrelat einer Substanzontologie im Rücken hat) noch in irgendeiner transzendentalen oder existenzialen Bedeutung um Subjektivismus: Alle Artikulationen des Menschen sind Ausdruck einer Wirkung des Seins und also Ausdruck eines Seinsverhältnisses: Modifizierendes Sprechen artikuliert nicht Innerlichkeit, sondern die Erfahrung eines Gegenständlichen, das nur in der Artikulation zu sich kommen kann.66 Man kann sich Königs Pointe sehr schön anhand eines Vergleichs mit Heidegger verdeutlichen. In „Sein und Zeit“ entwickelt Heidegger einen ontologischen Begriff der Subjektivität. Im existenzialen Sinn ist ‚In-Sein‘ zunächst faktisches In-der-WeltSein, eine Charakterisierung, deren ‚Befindlichkeiten‘ in unserem Zusammenhang nicht näher betrachtet zu werden brauchen. Wichtig und in der dialektischen Theorie auch fortbestimmbar ist die Grundbestimmung des Daseins als ein Seinsmodus, der durch ein Verhalten zum Sein im Ganzen gekennzeichnet ist: „Dasein ist Seiendes, das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält. Damit ist der formale Begriff von Existenz angezeigt.“67 Innerhalb dieser formalen Struktur kommt Heidegger zu einem Begriff des Daseins, das wesentlich ein Seinsverhältnis ist: „Es gibt nicht so etwas wie das ‚Nebeneinander‘ eines Seienden, genannt ‚Dasein‘, mit anderem Seienden, genannt ‚Welt‘. (…) Der Mensch ‚ist‘ nicht und hat überdies noch ein Seinsverhältnis zur ‚Welt‘, die er sich gelegentlich zulegt. Dasein ist nie ‚zunächst‘ ein gleichsam in-sein-freies Seiendes, das zuweilen die Laune hat, eine ‚Beziehung‘ zur Welt aufzunehmen. Solches Aufnehmen von Beziehungen zur Welt ist nur möglich, weil Dasein als In-der-Welt-sein ist, wie es ist.“68 Gegenüber dem Reflexionsver hältnis, das schon im deutschen Idealismus philosophisch entwickelt worden war, spricht Heidegger ausdrücklich von einem Seinsverhältnis, einer Subjektivität also, die durch reflektiertes In-Sein das ist, was sie ist. Hier liegt auch das Grundproblem eines dialektischen Begriffs der Subjektivität. Heidegger jedoch zielt nicht auf eine Ontologie der Beziehungen von Seienden, sondern er ontologisiert im Begriff des Daseins das Subjekt selbst als Seinsform der Beziehung. So wird im Unterschied zu König die Konzeption dann doch wieder subjektivistisch, nämlich zu einer Fundamentalontologie des Daseins. Der Begriff medialer Subjektivität jedoch, den König andeutet, geht vom Seinsverhältnis selbst aus, das sich in den Manifestationen der Subjektivität lediglich ausdrückt. Deshalb spricht er auch von einem ‚lediglich So etwa auch in der Sprache der Dichtung: Vgl. Jörg Zimmer, „Evozierendes Denken. Ein Beitrag zur philosophischen Poetik“. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwis senschaft 47/2 (2002), S. 167 ff. und Kapitel VII. 67 Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 1986, S. 52 f. 68 Ebd., S. 55 und 57. 66
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Präsenten‘69: nicht um die Gegenwart des Seins abzuwerten, sondern um zu zeigen, dass mediale Subjektivität ein zugrundeliegendes Seinsverhältnis zum Ausdruck bringt. König entwickelt die ontologische Gesamtstruktur dieses Seinsverhältnisses in der Metapher des Spiegels: „Das Ding, das der Spiegel spiegelt, ist das Ding des Spiegels, also das Andere des Spiegels; und das Andere und das, dessen Anderes es ist, sind zwar Andere (Verschiedene, hetera, diversa), zugleich aber in dem einen von ihnen, nämlich in sozusagen dem besitzenden Anderen, Unterschiedene (diaphora, differentia). Vorhandensein und So-Wirken sind Verschiedene, zugleich aber in dem so-Wirken Unterschiedene.“70 Es liegt im Begriff des Spiegels, dass er medial ist, also voraussetzt, dass etwas, das in ihm erscheint, vorher da sein und damit vorrangig sein muss. Medial sein bedeutet: In und durch etwas kommt ein Anderes – in diesem Fall das gespiegelte Ding – zur Erscheinung, und zwar näher so, dass das Spiegelbild die Präsenz und den perspektivischen Modus der Erscheinung dieses Seienden bezeichnet. Der Spiegel lässt die Verschiedenheit von Ding und Bild sehen, vor allem jedoch zeigt der Spiegel, dass die Verschiedenen in dem Verhältnis, das der Spiegel sichtbar und eben auch einsehbar macht, zu Unterschiedenen werden, also zu Gliedern eines bestimmten Verhältnisses, in dem sich das Eine als das Eine des Anderen erweist und beides intrinsisch zusammenhängt. Damit ist der Doppelaspekt bezeichnet, der mediale Subjektivität ausmacht, nämlich bewusstes Sein und zugleich bewusstes Sein zu sein.
Gegenstand der Intuition: Der Spiegel als notwendige Metapher Der Begriff der Intuition hat eine lange Tradition im Neuplatonismus, wo er den geistigen Akt bezeichnet, im Unterschied zur Reflexion des diskursiven Denkens einen Zusammenhang als Ganzen zu ergreifen. Es geht dabei nicht um Sachverhalte aus der sinnlich gegebenen Wirklichkeit, sondern darum, Geistiges schlagartig intuitiv erfassbar zu machen. Um jeden Verdacht mystischer oder irrationalistischer Theoriezusammenhänge zu zerstreuen genügt der Hinweis, dass auch dem Materialisten Epikur dieser Gedanke der epibolé nicht fremd gewesen ist. In seinem Brief an Herodot schreibt er: „Denn die Häufigkeit des zusammenhängenden Durchschreitens des Ganzen kann nicht existieren, wenn man nicht in der Lage ist, durch kurze Bezeichnungen alles vollständig innerlich zu umgreifen, was man auch im einzelnen
König, Sein und Denken, a. a. O., S. 166 ff. Ebd., S. 68.
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präzisieren könnte.“71 Epikur spricht von einer Bezeichnung oder einem Bild, das für das Ganze eines Zusammenhangs steht, der dann allerdings, wie hinzugefügt werden muss, nicht nur diskursiv durch begriffliche Entwicklung entfaltet werden könnte, sondern auch in Begriffen entfaltet werden muss, weil Philosophie ihre Aussagen eben nicht nur intuitiv setzen darf, sondern begrifflich zu begründen hat. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts ist für diese Funktion der Intuition, das Ganze eines gedanklichen Zusammenhangs in einem Bild zu evozieren, der Begriff der notwendigen Metapher entwickelt worden.72 Anders als in der klassischen Rhetorik, wo Metaphern Begriffe lediglich substituieren (also dann auch immer wieder auf Begriffe zurückgeführt werden können), und auch anders als in der Theorie der absoluten Metapher bei Hans Blumenberg73, der im Unterschied zum klassischen Substitutionsgedanken davon ausgeht, dass ‚absolute‘ Metaphern ein prinzipiell Unbegriffliches zum Ausdruck bringen, zielt der Begriff der notwendigen Metapher auf die Funktion intuitiver Einsicht, in einem Bild das Ganze eines gedanklichen Zusammenhangs auszudrücken, also einen Begriff nicht zu substituieren, sondern ihn zu konstituieren.74 Die konstitutive Bedeutung metaphorischen Sprechens für das Denken, also die Erkenntnis, dass es Sachverhalte gibt, die überhaupt nicht anders als durch eine Metapher artikuliert werden können, hatte Bruno Snell in seinen Untersuchungen zum frühgriechischen Denken ‚ursprüngliche‘ Metaphorik genannt. Über seinen Untersuchungsgegenstand hinaus ist seine Beobachtung interessant, dass der Geist über sich selbst in Metaphern spricht. Snell zielt auf ein „philosophisches Problem: Wenn wir davon sprechen, dass die Griechen den Geist entdecken, und doch meinen, dass der Geist dadurch erst wird (grammatisch gesprochen: dass ‚Geist‘ nicht nur affiziertes, sondern auch effiziertes Objekt ist), so zeigt Epikur, „Brief an Herodotos“. In: Von der Überwindung der Furcht, München 1983, S. 66 (Pag. 36). 72 Vgl. hier vor allem Josef König, „Bemerkungen zur Metapher“. In: Ders., Kleine Schriften, Freiburg/München 1994, S. 156 ff. und Hans Heinz Holz, dessen Hauptschriften zum Problem der notwendigen Metaphorik und zur Spiegelmetapher als notwendiger Metapher jetzt zusammengefasst vorliegen in Hans Heinz Holz, Speculum Mundi. Schriften zur Theorie der Metapher, spekulativen Dialektik und Sprachphilosophie. Aus dem Nachlass herausgegeben von Jörg Zimmer, Bielefeld 2017. 73 Vgl. Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, Ffm. 2001. 74 Zur Funktion der Metaphorik für die dialektische Theoriebildung und ihrem historischen Kontext vgl. ausführlicher Jörg Zimmer, Metapher, Bibliothek dialektischer Grund begriffe Bd. 5, Bielefeld 2003; zum Vergleich absoluter und notwendiger Metaphorik, also der Positionen von Blumenberg und Holz vgl. Jörg Zimmer, „Die Grenze des Begriffs. Zur heuristischen Funktion philosophischer Metaphorik“. In: Benjamin Specht (Hg.), Epo che und Metapher. Systematik und Geschichte kultureller Bildlichkeit. Berlin/Boston 2014, S. 106 ff. 71
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sich, dass es nur eine Metapher ist, die wir gebrauchen – aber es ist eine notwendige Metapher und der richtige sprachliche Ausdruck für das, was wir meinen; anders als metaphorisch können wir vom Geist nicht reden.“75 Der Unterschied von affiziertem und effizierten Objekt führt auf den philosophisch zentralen Grundgedanken: Das geistige Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit wird – wie gleich an der Spiegelmetapher zu sehen sein wird – in Analogie zu nicht geistigen Verhältnissen gebracht, und zwar so, dass sich dadurch die Struktur dieses Selbstverhältnisses erschließt bzw. dadurch überhaupt erst geschaffen wird. Ein affiziertes Objekt (das Beispiel Snells: der amerikanische Kontinent vor Kolumbus) gibt es schon vor seiner Entdeckung, ein effiziertes Objekt dagegen entsteht erst durch seine (metaphorische) Entdeckung. Dies ist der Grundgedanke auch bei der intuitiven Funktion der Spiegelmetapher für die Begründung der Dialektik. Der Spiegel eröffnet dem Denken die Dimension der Intuition76: In der Reflexion des Spiegelphänomens ergreift das Denken sowohl das Ganze seines Gegenstandes in seiner Struktur als auch sein eigenes Wesen; das Denken denkt das an der Spiegelung erscheinende Verhältnis. Diese Eigenschaft des Spiegels, Gegenstand der Intui tion zu sein, macht die Spiegelung allererst geeignet, als metaphorischer Ausdruck oder metaphysisches Modell Ausgangspunkt einer philosophischen Theorie sein zu können. Jede philosophische Theorie, will sie mehr sein als Metatheorie der endlichen Verstandestätigkeit, stößt auf das Problem, die Vielheit der Gedanken in die Einheit eines Gedankens zurückführen zu müssen, weil nämlich erst diese Einheit des Gedankens es ermöglicht, dass die Reihe der einzelnen Gedanken und Theorieteile als extensionale Entfaltung eines intensionalen Begriffs des Ganzen erscheinen kann – und das ist es doch, was den wesentlich spekulativen Gehalt einer philosophischen Theorie der Dialektik vom wissenschaftlichen Einzelwissen maßgeblich unterscheidet. Wenn nun das Unterschiedene im Denken Inhalt der Metaphysik ist und die Reflexion die Struktur metaphysischen Fragens darstellt, dann hängt alles davon ab, die Genauigkeit der Analogie, die im Spiegel ausgedrückt ist, zu begründen. In ‚Weltentwurf und Reflexion‘ von Hans Heinz Holz steht die Frage nach exakter Metaphorik und ihrer Funktion für das philosophische Denken an der Schnittstelle von der historisch-systematischen Rekonstruktion des ‚spekulativen Sinns der Dialektik‘ zur Konstruktion der materialistischen Dialektik als Widerspiegelungstheorie. Damit Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 1993, S. 8. 76 Der folgende Textabschnitt ist die leicht überarbeitete Fassung eines Teils einer früheren Publikation: Vgl. ausführlicher Jörg Zimmer, „Lógos akribés. Natur und Gehalt metaphysischer Modelle“. In: Christoph Hubig und Jörg Zimmer (Hg.), Unterschied und Wider spruch. Perspektiven auf das Werk von Hans Heinz Holz, Köln o. J. (2007), S. 27 ff. 75
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wird im Aufbau des Werkes kein Zweifel daran gelassen, dass der Spiegelmetapher Fundierungsstatus für den Begründungsversuch der Dialektik beigemessen wird. Weil dem Ganzen nichts im Feld der Erfahrung entspricht, Begriffe aber immer eines solchen Bezugs auf Gegenstände der Erfahrung bedürfen, „gerät die Metaphysik in die Aporie, dass sich ihre Denkinhalte essentiell von den Begriffen unterscheiden, in denen sich diese Inhalte darstellen.“77 Und da Dialektik nicht als Substanzontologie (deren logisches Korrelat die Aussagenlogik ist), sondern als Strukturontologie von Relationen zu begreifen ist, wird die genaue Metapher in ihrer Funktion „der gegenständlichen Darstellung eines gegenständlich nicht darstellbaren Verhältnisses“78 zum Terminus für ihre Begründung. Kontingente Metaphern ersetzen einen Begriff, notwendige konstituieren ihn. Dieser Umstand setzt nun aber den philosophischen Gebrauch von Metaphern dem Vorwurf aus, in die Nähe der Dichtung zu geraten und wirft die Frage auf, wie er denn in den Status wissenschaftlicher Genauigkeit erhoben werden kann, damit Metaphern als Termini gebraucht werden können. Zu diesem Zweck hat Holz im 12. Kapitel von ‚Weltentwurf und Reflexion‘ aufwendig – sozusagen akribisch – den Unterschied von moderner, auf Messgenauigkeit beruhender Präzision und dem griechischen Bedeutungsgehalt der akribeia herausgearbeitet. Im Letzteren, der Genauigkeit von Analogien, wird der philosophisch genaue Gebrauch von Metaphern begründbar: Holz zeigt am Beispiel von Anaximenes, dass Vergleichsgenauig keit im griechischen Denken in einem „exakten Parallelismus“ besteht, der es gestattet, „funktionale Entsprechung(en)“ zu entdecken.79 Die über ein gelungenes poetisches Bild (das, wenn auch in anderer Weise, auch genau sein muss) hinausgehende akribeia muss als prinzipielle, also „genaue strukturelle Äquivalenz entfaltet werden“, um „semantische Genauigkeit“ beanspruchen zu können.80 Eben diese Kriterien der Genauigkeit jenseits präzisen Abbildens und Messens müssen von der Spiegelmetapher erfüllt werden, um das universelle dialektische Seinsverhältnis eines wechselseitigen Übergreifens von Sein und Denken ausdrücken und eine Theorie konstituierende Exaktheit für sich reklamieren zu können. So ist denn der Abschnitt über die Exaktheit der Spiegelmetapher das Scharnier zum Übergang in die Konstruktion der Dialektik. Die Spiegelmetapher muss intuitive Evidenz gewinnen, um dann in der Konstruktion in allen materialen Einzelheiten entfaltet werden und sich als Modell bewähren zu können: „Diese Evidenz Holz, Weltentwurf und Reflexion, a. a. O., S. 303. Ebd., S. 304. 79 Ebd., S. 330; hinzuzunehmen wäre noch das Kriterium der Proportionalität der Analogie, die Holz am Beispiel Platons rekonstruiert, der ja in gewissem Sinn als Kronzeuge metaphorischen Philosophierens gelten darf (ebd., S. 333 ff.). 80 Ebd., S. 331. 77 78
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kann, da sie nicht aus einem äußeren Vergleich zu gewinnen ist, nur in der inneren Stimmigkeit des Bildes als Bild liegen, also in einer intrinsischen Plausibilität beruhen. Diese zeigt sich in der Prüfung dessen, was das Bild als Bild explikativ leistet, wenn seine Struktur mit äußerster Genauigkeit im Hinblick darauf nachgezeichnet wird, daß sie das Bild der Form eines unanschaulichen Sachverhalts sein soll.“81 Um Missverständnisse auszuschließen: Philosophie arbeitet nicht grundsätzlich mit Evidenzen. Die Evidenz des Schema-Bildes ist nötig, um auf den Weg der diskursiven Entfaltung seiner Implikationen zu kommen. Ein Spiegel ist, formal gesprochen, ein Ding unter anderen Dingen, mit der ausnehmenden Besonderheit allerdings, als Spiegel, d. h. notwendig ein Bild von seinem Anderen zu enthalten. Indem der Spiegel seinen Gegenstand virtuell in sich enthält, drückt er ein Verhältnis aus, das nicht beliebig gesetzt ist: Spiegelung setzt die Präsenz eines Anderen voraus, das im Spiegel erscheint und ohne das der Spiegel nicht Spiegel sein kann. Und schließlich ist im Phänomen der Spiegelung die Perspektivität des virtuellen Bildes enthalten: Denn es verdoppelt nicht einfach den bespiegelten Gegenstand, sondern ist als Spiegelbild immer zugleich Ausdruck des Ortes, von dem aus dieser Gegenstand bespiegelt wird. In diesem genauen Sinn formaler Strukturmerkmale ist der Spiegel als sinnenfälliges Schema, mithin als notwendige Metapher für den ontologischen Grundgehalt der Dialektik zu verstehen, alles Sein als In-Beziehung-Sein, das Eine als das Eine des Anderen zu bestimmen. Der Spiegel weist auf die Möglichkeit eines Modells materialistischer Dialektik hin, weil er das Verhältnis von Sein und Denken als materielles Verhältnis strukturell zum Ausdruck bringt. Die Spiegelstruktur macht einen immanenten Idealismus einsehbar, weil das in ihr ausgedrückte Verhältnis nur im virtuellen Bild erscheinen kann. Subjektivität kann nun als objektive Transzendentalität begriffen werden: ein Begriff des Subjekts als reflexives In-Sein, das kein an sich ort- und bedingungsloses, sondern ein konstitutiv im Sein situiertes Bewusstsein, mithin das Medium der Erscheinung materieller Verhältnisse ist. Diesen Grundgedanken seiner Philosophie kann niemand besser in Worte fassen als Hans Heinz Holz selbst: „Ursprung und Ort der Philosophie ist das philosophierende Subjekt, das seine Stellung zur Welt bestimmt. Die besondere Stellung des Subjekts zur Objektivität ist durch das Denken bestimmt. Daher wird in der Philosophie das Denken selbst Gegenstand des Denkens und erscheint so als die durch das philosophische Denken reflektierte Wirklichkeit. (...) Werden die Gedanken selbst jedoch als Spiegelbilder der außer ihnen existierenden materiellen Dinge und Verhältnisse verstanden (also die Spiegelung als ein wirkliches Verhältnis wirklich Seiender und die Gedanken als Funktionen dieses Verhältnisses), dann wird die Welt wieder in ihr ontologisches Erstgeburtsrecht eingesetzt und die Umkehr als ein im Ebd., S. 345.
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Denken entstehender notwendiger Schein (Spiegel-Schein: das Virtuelle erscheint als das Primäre und Reelle) entlarvt.“82 Idealismus und Materialismus, Metaphysik und materialistische Dialektik werden vermittelbar: die Gigantomachie geht über in die ‚Entschlüsselung‘ der ‚Spiegelschrift‘, in der der philosophische Primat des Denkens von der anerkannten und begründbaren Priorität des Seins her sich zur Sprache bringt, das Eine und Erste der Welt in der Fülle und Vielfalt ihrer Phänomene denkbar wird, ohne die Einsicht preiszugeben, das wir über sie nur im Modus unseres reflektierten Verhältnisses zu ihr verfügen können.
Ebd., S. 357.
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III Reflexionsverhältnisse
Reflexion steht für die Tätigkeit des Philosophierens überhaupt, und ihr sachlicher Problemgehalt ist viel älter als der erst in der Moderne als Konzept für die Grundlegung der Philosophie sich durchsetzende Begriff.83 Vom Problem der Reflexion kann überall da gesprochen werden, wo der Rückbezug des Denkens auf sich selbst und also das in sich unendliche Selbstverhältnis als konstitutives Strukturmerkmal des Denkens in der Philosophie thematisch wird. Aristoteles spricht diese dem Denken immanente Selbstbezüglichkeit im Begriff des nous aus: „Auch selber ist er verstehbar wie die verstehbaren Objekte. Denn bei den Dingen ohne Materie ist das Verstehende und das Verstandene dasselbe“; und weiter heißt es, der Geist sei „allesWirken, als eine Art Präsenthaltung (hexis tis), wie das Licht; denn in gewisser Weise wirkt auch das Licht die Farben der Möglichkeit nach zu Farben in Wirklichkeit.“84 Hier klingt die Lichtmetaphorik und damit die Reflexionsstruktur schon an. Aristoteles gibt die Strukturmomente der Selbstbezüglichkeit des Denkens an: Das Denken des Denkens bezieht sich nicht auf äußere Gegenstände, sondern das Denken wird sich selbst Gegenstand – deshalb sind Denken und Gedachtes hier streng identisch. Denn das Gedachte ist in diesem Fall nichts Selbständiges, sondern ein Inhalt des Denkens, ihm immanent. Zu allem, was der Geist ist und von sich weiß, hat er sich im Vollzug des Denkens selbst gemacht: als nóësis noéseôs bestimmt sich das Denken im Verhalten zu sich und wird sich durch diese Tätigkeit Ursache seiner selbst. Zum ‚Besten‘ aber wird die Vernunft durch die nur im menschlichen Geist anwesende Struktur des sich wissenden Selbstverhältnisses: „Sich selbst also erkennt die Vernunft, wenn anders sie das Beste ist, und die Vernunfterkenntnis (bzw. -tätigkeit) ist Erkenntnis ihrer Erkenntnis (-tätigkeit).“85
Das folgende Kapitel enthält Textteile einer leicht überarbeiteten früheren Publikation im Aisthesis Verlag: Vgl. ausführlicher Jörg Zimmer, Reflexion. Bibliothek dialektischer Grundbegriffe, H. 7, Bielefeld 2001. 84 Aristoteles, De anima/Über die Seele. Griechisch-Deutsch. Übersetzt mit Einleitung und Kommentar von Thomas Buchheim, Darmstadt 2016, S. 193 und 195 (430a). 85 Aristoteles, Metaphysik, a. a. O., S. 264 (1074b). 83
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Der transzendentale Sinn der Reflexion Die Verbindung der Reflexionsproblematik mit der Bewusstseinsphilosophie bzw. dem Begriff des Selbstbewusstseins ist ein Ergebnis der modernen Philosophie. Das paradigmatische Zeugnis, von dem her sich ein transzendentaler Reflexionsbegriff entwickelt hat und an dem sich auch die Kritik an der Möglichkeit des Reflexionsmodells der Philosophie immer wieder entzünden konnte, sind die ‚Meditationen‘ von Descartes. Mit dem cartesischen Experiment des universellen Zweifels bekommt die Reflexion methodischen Charakter. Im radikalen Zweifel stellt Descartes die Frage, was übrig bleibt, wenn alle äußere Realität und alle überlieferten Gewissheiten in Frage gestellt werden und kommt zu dem Ergebnis, dass in allem Zweifel nur die Gewissheit des Zweifelnden selbst unerschütterlich ist. Diese bewusstseinsimmanente Ichgewissheit wird dann zum unverrückbaren, methodisch gesicherten Ausgangspunkt begründeten Wissens von der Welt. Damit leitet Descartes eine Akzentverschiebung in der Bestimmung der Reflexionsproblematik ein, die für die gesamte moderne Subjektphilosophie maßgebend bleiben wird. Denn es geht nun nicht mehr darum, die innere Struktur der Selbstbezüglichkeit des Geistes in der Welt aufzuklären, sondern das Bewusstsein als fixen Mittelpunkt einer Wirklichkeit als Korrelat des Selbstbewusstseins zu fassen: „Nichts als einen festen und unbeweglichen Punkt verlangte Archimedes, um die ganze Erde von ihrer Stelle zu bewegen, und so darf auch ich Großes hoffen, wenn ich nur das geringste finde, das sicher und unerschütterlich ist.“86 Diesen archimedischen Punkt findet Descartes in der bewusstseinsimmanenten Ichgewissheit als zweifelsfreiem Ausgangspunkt der Philosophie: „Und so komme ich (…) schließlich zu dem Beschluß, daß dieser Satz: ‚Ich bin, ich existiere‘, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.“87 Dieses Argument ist innerhalb der cartesischen Argumentation unwiderlegbar, enthält jedoch in der Art seiner Begründung durch den universellen Zweifel selbst gelegene Implikationen, die für die Ausarbeitung des transzendentalen Reflexionsbegriffs prägend sein werden: Denn da, um dieses reine Selbstbewusstsein zu gewinnen, das Ganze der Welt in Frage gestellt werden muss, erhält Descartes die immanent unangreifbare, philosophisch jedoch dennoch pro blematische Priorität eines eigentümlich weltlosen Ich, das dann in der Wiederherstellung der Realität einen Weltbegriff enthält, der von der prinzipiellen Entzweiung von Ich und Welt ausgehen und das Wirkliche ausschließlich als im Bewusstsein gesetzte Objektivität begreifen muss. Es ist für die Wirkungsgeschichte des Descartes von der klassischen deutschen Philosophie bis hin zu Husserl charakteristisch, dass René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwän den und Erwiderungen, Hamburg 1972, S. 17. 87 Ebd., S. 18. 86
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in der Fortbestimmung des Begriffs ‚Selbstbewusstsein‘ der Versuch unternommen wird, die Richtigkeit des cartesischen Grundgedankens zu wahren, seine systemimmanenten Konsequenzen jedoch in anderen Begründungsmodellen zu vermeiden. Der cartesische Begründungsversuch hat jedoch noch weitere Konsequenzen, an denen in der Nachgeschichte Kritik geübt worden ist. Eine immanente Notwendigkeit des Arguments ist die Voraussetzung der Zentralstellung des Subjekts, denn nur so kann der aristotelische Strukturbegriff des Geistes in der Welt zum methodisch festgestellten archimedischen Punkt werden. Wenn Gewissheit sich nur im Vollzug des Zweifels im Bewusstsein herstellt, wird Welt zum Anderen des je sich vollziehenden Bewusstseins. Der Solipsismusvorwurf ist der häufigste, aber keineswegs folgenreichste Einwand gegen Descartes: Ein wirklicher Realitätsverlust liegt vielmehr in der Implikation, dass der Vorstellungsinhalt nur noch vom denkenden Ich und in nichts mehr von der Wirkung der Welt bzw. der Stellung des Denkenden in der Welt abhängen soll. Aufgabe eines dialektischen Begriffs des Selbstbewusstseins und der Reflexion wird es sein müssen, in einer ontologischen Dezentrierung des Ich den Strukturaspekt des In-Seins aller Subjektivität, d. h. die konstitutive Welthaftigkeit des Ich zurückzugewinnen und in seinen Konsequenzen zu entfalten. Eine weitere Implikation der von Descartes festgestellten Reflexivität allen Bewusstseins (der Rückbezug des Denkens auf sich ist dem Denken als Bewusstsein unmittelbar immanent) ist die Feststellung, dass diese reflexive Selbstgewissheit nur im cogito gegeben sein kann: „Das Denken ist’s, es allein kann von mir nicht getrennt werden. Ich bin, ich existiere, das ist gewiß. / Wie lange aber bin ich? Nun, so lange, als ich denke.“88 Es zeigt sich hier dieselbe, dem cartesischen Begründungsmodell immanente Ambiguität, dass nämlich einem unbestreitbar richtigen Grundgedanken bestreitbare Konsequenzen korrespondieren. In der Tat kann es Ichgewissheit nur im Bewusstsein, nämlich im Rückbezug des Subjekts auf sich selbst im Denken geben, woraus jedoch keineswegs mit Notwendigkeit, sondern nur aus den historisch bedingten Begründungszusammenhängen eines bestimmten Wissenschafts typus folgt, dass sich diese Reflexionsstruktur nur in den an der Mathematik orientierten, im Verstand auffindbaren Formen reinen Denkens realisiert. Die klassische Form des transzendentalen Reflexionsbegriffs entwickelt Immanuel Kant. Der berühmte Satz – „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“89 – bezeichnet die notwendige Beziehung alles Mannigfaltigen der Erfahrung auf das Subjekt oder die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins. Diese „ursprüngliche Apperzeption“ ist ein „Actus der Spontaneität“90, d. h. sie enthält keine Rezeptivität, sondern ist reines Bewusstsein oder – dem cartesischen Ebd., S. 20. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, ed. Weischedel, a. a. O., B 132. 90 Ebd. 88 89
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Gedanken entsprechend – rein bewusstseinsimmanent. Dieses Denken des Denkens ist eigentlich in keiner wirklichen Vorstellung tatsächlich mitgedacht, kann aber jederzeit als Grund der Vorstellung aktualisiert werden. Kant hält folglich die formale Identität der Apperzeption bzw. des Subjekts fest, die, wie man deutlich betonen muss, nicht mit seiner empirischen Identität verwechselt oder vermischt werden darf: „Ich bin mir also des identischen Selbst bewußt, in Ansehung des Mannigfaltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesamt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen.“91 Das Denken kann also in jedem Augenblick vom Gedachten zu sich selbst zurückkehren und sich als Grund der synthetischen Einheit seiner Vorstellungen vergegenwärtigen. Diese formale Identität des Grundes aller Vorstellungen wird dann zur methodischen Grundlage objektiven Wissens (also eines Wissens, das die Wirklichkeit in der ‚Form des Objekts‘ vorstellt, um den Ausdruck von Marx zu gebrauchen): „Die synthetische Einheit des Bewußtseins ist also eine objektive Bedingung aller Erkenntnis, nicht deren ich bloß selbst bedarf, um ein Objekt zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen muss, um für mich Objekt zu werden.“92 Unschwer lässt sich erkennen, dass Kant Descartes’ Überlegungen fortbestimmt – und damit auch der gleichen Ambiguität eines unbestreitbar richtigen Grund gedankens unterliegt, der bestreitbare Konsequenzen enthält. Die transzendentale Reflexion bedeutet eine Abstraktion von allem Inhalt. Im Unterschied zu Descartes tritt diese Abstraktion nicht als universeller Zweifel auf, sondern als Entleerung des Bewusstseins bis zu dem einzigen Inhalt, von dem das Bewusstsein nicht abstrahieren kann. In der Folge erfährt die transzendentale Reflexion eine formale oder rein logische bzw. vom wirklichen Denken abtrennbare, weil methodische Bestimmung. Schon die Formulierung Kants, das ‚Ich denke‘ müsse alle meine Vorstellungen begleiten können, deutet auf diese Trennung von Reflexion und Erfahrungswissen hin. Kant setzt ersichtlich die cartesische Linie fort, indem er als Gegenstand der Reflexion die reine Einheit des Ich als Bedingung der Möglichkeit aller Verstandeserkenntnis bestimmt und somit die erkenntnistheoretische Perspektive reproduziert und in ihrer antimetaphysischen Tendenz sogar noch verstärkt. In der ‚transzendentalen Dialektik‘ und genauer in den ‚Paralogismen der reinen Vernunft‘ hat Kant den transzendentalen ‚Gegenstand‘ der Reflexion, die ungegenständliche formale Identität des ‚Ich denke‘ als „Vehikel aller Begriffe überhaupt“ näher bestimmt: „Ich, als Denken, bin ein Gegenstand des innern Sinnes, und heiße Seele.“93 Der „Satz der Identität meiner selbst“ betrifft eine rein logische Identität des Subjekts, weil sie analytisch im Bewusstsein auffindbar ist, kann jedoch nicht die Ebd., B 135. Ebd., B 138. 93 Ebd., B 399 f. 91 92
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empirische „Identität der Person bedeuten“, weil dies ein synthetischer Satz wäre, der die Erfahrbarkeit dieses Subjekts in der Anschauung voraussetzen würde.94 Damit aber kritisiert Kant nicht nur zu Recht die metaphysische Substanzialität des cogito als res cogitans bei Descartes, sondern eliminiert auch den Substanzaspekt der Subjektivität, den erst Hegel in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ reformulieren und zum Ausgangspunkt eines positiv dialektischen Reflexionsbegriffs machen wird. Kant teilt mit Descartes die Konsequenz einer transzendentalen Ort- und Weltlosigkeit eines Subjekts, das allein aus seiner Identität begründet wird. Einerseits hält Kant die Subjektivität als reine Tätigkeit bzw. Spontaneität fest, weil ihre Identität nur im Vollzug des Denkens überhaupt wirklich sein kann, andererseits muss er den immanenten Idealismus dieses Subjektbegriffs in Kauf nehmen, den alsbald Fichte in seine Konsequenzen führen wird. Im Ergebnis bedeutet Kants logische Identität des Selbstbewusstseins seine Reduktion auf eine Funktion, die dem Problem der Reflexion jede ontologische Perspektive verstellt.95 Mit Fichte beginnt eigentlich die explizit dialektische Begriffsgeschichte der Reflexion, weil er das im Begriff der transzendentalen Reflexion ausgedrückte Selbstverhältnis des Selbstbewusstseins als Reflexionsverhältnis, d. h. als das Übergreifende einer Beziehung fasst. Dabei geht Fichte zunächst von Kants transzendentaler Reflexion aus und überschreitet sie in der spekulativen Bestimmung des reinen Ich als ‚Tathandlung‘. Dieses reine Ich als ursprüngliche Tätigkeit ist als „Grundsatz alles menschlichen Wissens“ das, was „allem Bewußtsein zum Grunde liegt, und allein es möglich macht“.96 Die Auffindung dieses Prinzips macht eine transzendentale „Abstraktion von allem, was nicht wirklich dazugehört, notwendig.“97 Im reinen Selbstverhältnis, d. h. im Denken seiner selbst, setzt das Ich seine ursprüngliche und absolut selbstbegründete Identität als Realität. Der Satz ‚Ich bin Ich‘ folglich „gilt nicht nur der Form, er gilt auch seinem Gehalte nach.“98 Schon in diesem Ebd., B 408. Die ontologische Einheit von Substanz- und Strukturaspekt im Allgemeinen und der Subjektivität im Besonderen wird von Leibniz entdeckt (vgl. Hans Heinz Holz, Leibniz. Das Lebenswerk eines Universalgelehrten. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Jörg Zimmer, Darmstadt 2013, S. 37 ff., und Jörg Zimmer, Leibniz und die Folgen, Stuttgart 2018, S. 103 ff.), als bewusstseinsphilosophisches Grundproblem aber erst bei Hegel thematisch und, wie noch entwickelt werden muss, ihr immanenter Idealismus erst im Begriff objektiver Transzendentalität überschreitbar: Angezielt ist darin der ontologische Begriff eines Subjekts, dessen strukturelles Selbstverhältnis als ein substantiell wirkliches In-der-Welt-Sein sich verwirklicht. 96 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), Hamburg 1997, S. 11. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 15. 94 95
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unscheinbaren Detail überschreitet Fichte Kant, weil er über die formale Einheit des Selbstbewusstseins hinaus die tatsächliche Identität des Ich als ursprünglichen Inhalt, als erstes Faktum der Philosophie entwickelt, die Kant gerade aus den erwähnten logischen Gründen ausgeschlossen hatte: „Dasjenige, dessen Sein (Wesen) bloß darin besteht, dass es sich selbst als seiend, setzt ist das Ich, als absolutes Subjekt.“99 Mit diesem unscheinbaren, aber gewaltigen Schritt ist die methodische Verengung, wie sie für die moderne Bewusstseinsphilosophie von Descartes bis Kant charakteristisch war, mit einem Schlag gesprengt, und die ontologische Dimension der Reflexion ist, wenn auch noch nicht systematisch entfaltet, so doch spekulativ eröffnet. Fichte fordert eine Metaphysik der Erfahrung, indem die Metaphysik den „Grund aller Erfahrung“100 anzugeben hat, d. h. die Subjekt-Objekt-Relation nicht dualistisch auseinanderreißt, sondern das Ganze der Erfahrung aus einem Prinzip – der Reflexion des absoluten Subjekts in sich – zu begründen hat. Aus dieser Problemstellung ergeben sich zwei folgenreiche Konsequenzen. Mit der Begründung des Ganzen der Erfahrung aus einem Prinzip wird die Begründungsstruktur zirkulär. Sie wird objektiv reflexiv, indem die sich selbst begrenzende Wirkung des unendlichen Ich auf das Sein sich als Wissen ins Selbstbewusstsein zurückbeugt. Daraus ergibt sich unmittelbar die zweite Konsequenz, nämlich dass diese objektive Selbstreflexion des Ich notwendig das Ergebnis eines Verhältnisses zum Anderen des Ich und also das Selbstverhältnis nicht nur leere logische Identität, sondern immer auch ein bestimmtes Reflexionsverhältnis ist. Das Ich ist das Übergreifende einer Wechselwirkung, und Fichtes Idealismus besteht nun darin, als absoluten Grund dieses Reflexionsverhältnisses die setzende Tätigkeit des reinen Ich anzusetzen. In der Entdeckung einer objektiven Reflexion im Sinne des bestimmten Verhältnisses asymmetrischer Glieder im Denken Fichtes liegt eine innovative Leistung gegenüber Kant. Im Ergebnis erhält Fichte einen Begriff der Reflexion, der nicht vom Feld der Erfahrung abstrahiert, sondern es – allerdings einseitig von der Subjektseite aus betrachtet – durchdringt und aus jeder seiner Wirkungen auf die Wirklichkeit auf sich selbst zurückverwiesen wird. Das Ich ist ursprünglich diese unendliche Wirksamkeit auf das Sein, ein in sich Unbegrenztes, das sich in jeder Wirkung auf das Sein seine eigene Grenze im Verhältnis zum Objekt setzt und diese dann in der Reflexion überschreitet: „1. Im Ich ist ursprünglich ein Streben, die Unendlichkeit auszufüllen. (…) 2. Das Ich hat in sich das Gesetz, über sich zu reflektieren, als die Unendlichkeit ausfüllend. Nun aber kann es nicht über sich, und überhaupt über nichts reflektieren, wenn dasselbe nicht begrenzt ist. Die Erfüllung dieses Gesetzes, Ebd., S. 17. Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98), Hamburg 1984, S. 7 und ff.
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oder – was das gleiche heißt – die Befriedigung des Reflexionstriebes ist dennoch bedingt, und hängt ab vom Objekte.“101 In jedem Akt der Reflexion – und als solcher ist er nicht Abstraktion, sondern Bestimmung – ist das Ich „begrenzt, d. i. es erfüllt die Unendlichkeit nicht, die es doch strebt zu erfüllen.“102 Streben und Reflexion bilden im tätigen Selbstbewusstsein eine dialektische Einheit, indem sie im Verhält nis der Wechselwirkung stehen. Anders formuliert ist Reflexion oder das vermittelte Selbstverhältnis das Ergebnis dieser Wechselwirkung, indem das Wirken nach außen sich im Selbstbewusstsein als Reflexionsverhältnis reflektiert. Wenn das Selbstbewusstsein als das Übergreifende eines Verhältnisses begriffen wird, in dem sich nicht nur die reine Identität des cogito im cogito (als nur im inhaltslosen reinen Denken des Denkens überhaupt antreffbare reine Identität), sondern auch das Andere des Denkens sich im Denken manifestiert, kann die Richtigkeit des Gedankens, dass reflektierter Selbstbezug nur im Denken möglich ist, für die Dialektik fruchtbar gemacht werden. Dann allerdings zeigt sich, dass Reflexion nicht Reduktion auf ein einfaches Identisches, sondern als an der Wirklichkeit vermitteltes Selbstverhältnis eben Verhältnis Verschiedener ist. Reflexion bedeutet in der Folge nicht Eliminierung, sondern Austrag von Widersprüchen im Denken. Gegen die rein epistemologische Ausrichtung der cartesischen Perspektive muss folglich für das Problem der Reflexion die ontologische Dimension zurückgewonnen werden, in der Reflexion allererst als umfassende Frage nach dem menschlichen In-der-WeltSein exponierbar werden kann. Bewusste Lebendigkeit bedeutet immer, „daß die Welt, die sich uns auftut und in der wir uns in gewisser Hinsicht auch finden, uns dennoch nicht einschließt.“103 Insofern ist Reflexion als Inbegriff der philosophischen Haltung überhaupt – dass das Denken vom Gedachten zu sich zurückkommt, Distanz nicht nur zur Welt, sondern auch zu sich selbst nimmt, um sich dann in neuen, modifizierten Beziehungen erneut zu verwirklichen – nur ein sehr bewusster Ausdruck dessen, was im Vollzug des Lebens immer schon geschieht.
Hegels Begriff der Reflexion Mit der Entdeckung des reflektierten Reflexionsverhältnisses bei Fichte ist der Problemhorizont bezeichnet, in dem Hegel eine dialektische Theorie der Reflexion entwickelt hat. Schon in der Differenzschrift erklärt er Reflexion zum „Instrument des Philosophirens“ (HW 1, 12). Reflexion ist jedoch nicht als eine ‚schlechte‘ Fichte, Grundlage, a. a. O., S. 208. Ebd., S. 209. 103 Dieter Henrich, Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999, S. 25. 101 102
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Unendlichkeit, nämlich als endlose Iteration seine eigenen Grenzen setzender Subjektivität zu verstehen, sondern hat die Frage zum Gegenstand, wie das Ganze des Reflexionsverhältnisses, dessen Momente Subjekt und Objekt sind, gedacht werden kann. Gegenstand der Reflexion oder der Philosophie ist es, alle beschränkten Momente dieser Verhältnisstruktur, die das Absolute ist, in ihrer Beziehung auf das Ganze zu zeigen und damit sowohl in ihrer positiven Endlichkeit als auch in ihrer negativen Unendlichkeit denkbar zu machen. Aufgabe der Philosophie ist es also, dieses Ganze zu denken. Fichtes Begründungsgang vom absoluten Ich aus beurteilt Hegel in ‚Glauben und Wissen‘ als „Fußeisen der Reflexion, die den Theil zu einem Ansich und so es unmöglich macht, zum Ganzen zu gelangen…“ (HW 1, 392 f.) In der Folge heißt es dann, dass in der Reflexionsphilosophie „der Dogmatismus des Seyns, in den Dogmatismus des Denkens, die Metaphysik der Objektivität in die Metaphysik der Subjektivität umgeschmolzen“ (HW 1, 412) werde. Welche Antwort gibt Hegel selbst in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ auf die transzendentale Frage? Er entwickelt Transzendentalität als Entfaltung des substan tiellen Verhältnisses einer realen und asymmetrischen Beziehung, die sich im Selbstbewusstsein darstellt. Im Wissen ist Sein selbstverständlich reine Negativität, d. h. im Selbstbewusstsein vermitteltes Sein. An dieser Stelle eine Idealismuskritik an Hegel aufmachen zu wollen, wäre unsinnig und zum Scheitern verurteilt. Im Gegenteil: In der Rede von der ‚Reflexion im Anderssein‘ eröffnet Hegel die Perspektive, den Grund des Wahren nicht mehr in einem Moment des Ganzen der Erfahrung, sondern in der Struktur des In-Beziehung-Seins selbst aufzusuchen. Damit wird zwar nicht mit dem Idealismus überhaupt, sehr wohl jedoch mit dem subjektiven Idealismus des reinen Selbstbewusstseins gebrochen: Das „reine Selbsterkennen“ findet „im absoluten Andersseyn“ statt, also in der Beziehung, dem „Aether“ des substantiellen Verhältnisses selbst, das sich im Wissen reflektiert. (HW 2, 22) Nicht das Subjekt, sondern das Verhältnis – und insofern das Ganze seiner Momente, also auch das Sein – ist Grund des Wissens. Dieses Verhältnis wird sich im Wissen durch seine immanente Entwicklung transparent. Das Selbstverhältnis, unmittelbar im Geist da, wird nur als ein im Sein (dessen Teil es selbst ist) Vermitteltes zu etwas Wirklichem. Das Selbstbewusstsein ist nicht nur deshalb das Prinzip der Wirklichkeit, weil es bei der Abstraktion von allen bestimmten Bewusstseinsinhalten allein zurückbleibt, sondern weil es aus allen seinen wirklichen Beziehungen zum Sein durch die Struktur der Reflexion bedingt auf sich zurückkommt. Auch Hegel also artikuliert die Asymmetrie des Verhältnisses, indem ein Moment der Beziehung, das Selbstbewusstsein, nicht nur sich selbst, sondern zugleich das Ganze der Beziehung reflektiert und deshalb übergreift, und zwar genauer so, dass dieses Übergreifen im substantiellen Verhältnis selbst stattfindet. Die Entdeckung des bewussten Moments dieses Verhältnisses, aus dem Hegel dann seinen absoluten Idealismus legitimiert, versteht Reflexion nicht als Gewissheit
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durch Abstraktion von der Erfahrung, sondern als das In-sich-Gehen der Erfahrung im Selbstbewusstsein. Dieses kommt nicht als Identität, welche es nur als Moment der Reflexionsbewegung ist, zu sich, sondern als Erfahrung selbst, d. h. als Werden im Anderssein. Und gegen den fixen Punkt, der das Subjekt in der klassischen Bewusstseinsphilosophie war, hält Hegel fest: „In dieser Bewegung geht jenes ruhende Subject selbst zu Grunde; es geht in die Unterschiede und Inhalt ein, und macht vielmehr die Bestimmtheit, das heißt, den unterschiednen Inhalt wie die Bewegung desselben aus, statt ihr gegenüber stehen zu bleiben. Der feste Boden, den das Räsoniren an dem ruhenden Subjecte hat, schwankt also, und nur diese Bewegung selbst wird der Gegenstand.“ (HW 2, 42 f.) Das transzendentale Ich löst sich in die Dynamik seiner Beziehungen auf. Das ist nicht reine Spontaneität, sondern wissende, in sich reflektierte Beziehung zum Sein: Das Subjekt kommt aus jeder, aber auch nur in jeder seiner Beziehungen auf sich zurück. Das immanente Leben dieses reflektierten Reflexionsverhältnisses klärt die ‚Einleitung‘ der ‚Phänomenologie des Geistes‘, indem in ihr die Transzendenz des Bewusstseins entwickelt wird. Mit jeder Bestimmtheit, in der es seine Grenze setzt, ist zugleich das Jenseits dieser Grenze mitgesetzt. Das immanente Überschreiten seiner selbst bzw. sein Werden reflektiert sich im Bewusstsein selbst. Als bewusstes Wesen ist der Mensch in jeder seiner Wirkungen auf die Welt, in allen seinen endlichen Verwirklichungen über sich hinaus: „Das Bewusstseyn aber ist für sich selbst sein Begriff, dadurch unmittelbar das hinausgehen über das Beschränkte, und, da ihm diß Beschränkte angehört, über sich selbst; mit dem Einzelnen ist ihm zugleich das Jenseits gesetzt…“ (HW 2, 57) Hegel fügt ausdrücklich hinzu, dass diese strukturelle Transzendenz des Bewusstseins keineswegs die Lösung aller Probleme darstellt, sondern im Unterschied zum ‚natürlichen Leben‘ die in sich problematische Existenzform des Menschen konstituiert: „Das Bewusstseyn leidet also diese Gewalt, sich die beschränkte Befriedigung zu verderben, von ihm selbst.“ (Ebd.) Das Bewusstsein ist deshalb unmittelbar der Begriff, weil es in seiner Struktur das Ganze des substantiellen Verhältnisses in seiner immanenten Entwicklung übergreift. Dieser Grundgedanke der zirkulären, das Ganze der Erfahrung übergreifenden Struktur der in sich reflektierten Priorität des Bewusstseins begründet den absoluten Idealismus Hegels – und wird in der Theorie der Dialektik auch nur überschritten werden können, wenn es gelingt, diese Struktur in ein Seinsverhältnis zu überführen und dennoch am Primat des Bewusstseins festzuhalten. Die richtige Konsequenz aus dem dialektischen Begriff des Bewusstseins, die jedem naiven Realismus oder Materialismus, der das Wissen ohne die Frage nach seiner Vermittlung an der Bewusstseinstätigkeit nur am Gegenstand überprüfen will, den Boden entzieht, formuliert Hegel so: „Das Bewusstseyn gibt seinen Maßstab an ihm selbst, und die Untersuchung wird dadurch eine Vergleichung seiner mit sich selbst seyn (…) Denn das Bewusstseyn ist einerseits Bewusstseyn des Gegenstandes, anderseits
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Bewusstseyn seiner selbst; Bewusstseyn dessen, was ihm das Wahre ist, und Bewusstseyn seines Wissens davon. Indem beyde für dasselbe sind, ist es selbst ihre Vergleichung; es wird für dasselbe, ob sein Wissen von dem Gegenstande diesem entspricht oder nicht.“ (HW 2, 59) Damit ist nichts Geringeres festgestellt, als das die Beziehung von Sein und Bewusstsein sich nur im Bewusstsein reflektiert und reflektieren kann. Der naive Realismus und der dogmatische Materialismus sind durch die ‚Phänomenologie des Geistes‘ schon deshalb obsolet geworden, weil sie zur Einsicht bringt, dass sich in der Veränderung des Wissens nicht nur das Wissen, sondern auch sein Gegenstand verändert, eben weil er Gegenstand des Wissens ist. Wissen bedeutet Verwandlung des Anderen ins Denken, aber auch seine Verwandlung im Denken: „Diese dialektische Bewegung, welche das Bewusstseyn an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen, als an seinem Gegenstande ausübt, in sofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.“ (HW 2, 60) Jeder Bestimmungsversuch des Transzendentalen wird, will er dialektisch sein, an dieser Grundstruktur der Erfahrung als im Bewusstsein wirkliches, in sich reflektiertes substantielles Verhältnis festhalten müssen. Eine Perspektive über Hegel hinaus kann es nur geben, wenn der transzendentale Schein der Priorität des Bewusstseins durchbrochen und der Gedanke begründet werden kann, dass dem übergreifenden Charakter des Bewusstseins ursprünglicher ein Übergreifen des Seins über das Bewusstsein korrespondiert. Eine solche Begründung wäre nur möglich, wenn Bewusstsein nicht als ‚archimedischer‘ Ausgangs- und Mittelpunkt, sondern als virtuelles Moment des Seins begreifbar gemacht werden könnte, das durch die Wirkung des Seins reflexiv auf dieses Sein zurückwirkt. Im Begriff einer Transzendentalität als Modus des Seins, in dem Sein sich in sich reflektiert, zeichnet sich die Möglichkeit ab, den transzendentalen Schein, dass nämlich die notwendige Vermittlung des Seins im Bewusstsein mit der Priorität des Bewusstseins verwechselt wird, zu überwinden. In diesem Gedanken bereitet sich ein Strukturbegriff von Selbstbewusstsein und Reflexion vor, der den Primat des Bewusstseins als virtuelles, auf sich zurückbezogenes, objektives Seinsverhältnis von einer Priorität des Seins her denkt. Der Mensch wirkt als Bewirktes und verhält sich frei zu einer Welt, die nie nur das Andere seiner Freiheit, sondern immer auch ein ihm Vorausliegendes, über ihn Hinausgehendes, mit einem Wort, ein ihn Bestimmendes und Begrenzendes ist. Im Vernunftkapitel der ‚Phänomenologie des Geistes‘ gibt es eine Formulierung, die den Idealismus auf die Spitze zu treiben scheint und doch seiner Transformation eine Pforte öffnet: Vernunft bedeutet, dass sich das Selbstbewusstsein „seiner selbst als der Realität gewiß“ ist; „oder daß alle Wirklichkeit nichts anders ist, als es; sein Denken ist unmittelbar selbst die Wirklichkeit; es verhält sich also als Idealismus zu ihr.“ (HW 2, 132) Dieses Zitat ist äußerst denkwürdig, denn an dieser Stelle wird deutlich, dass das Selbstbewusstsein deshalb alle Wirklichkeit ist, weil es für den
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Menschen keine ihm zugängliche Wirklichkeit gibt, die nicht irgendwie gewusste, d. h. reflektierte Realität wäre. Aus eben diesem Grund verhält sich das Denken notwendig als Idealismus zu ihr – eine Formulierung, die doch offensichtlich offen lässt, ob es auch notwendig Idealismus ist. Der Idealismus unterstreicht die reine Negativität des Seins, d. h. seine notwendige Vermittlung durch die Tätigkeit des Bewusstseins. Hegel sagt allerdings nicht, das Denken sei Idealismus, sondern formuliert vorsichtiger: Denn nur so viel ist sicher, dass die Philosophie den genannten Sachverhalt nur idealistisch artikulieren kann. Das Selbstbewusstsein ist deshalb der Begriff und die Kategorie, weil es für den Menschen und sein Wissen keine Realität gibt, die nicht im Bewusstsein vermittelt wäre. Im Strukturbegriff des das Ganze des substantiellen Verhältnisses übergreifenden Selbstbewusstseins, in dem das Ich zugleich steht und aus dem es zu sich zurückkehrt, ist der Standpunkt der Philosophie oder der Reflexion gewonnen, von dem aus das Reflexionsverhältnis als solches positiv, d. h. als logische Struktur rekonstruiert werden kann. Von der systematischen Dialektik aus betrachtet, die Reflexion als onto-logische Struktur entwickelt, ist der Standpunkt des Bewusstseins dann, wie es in der ‚kleinen‘ Phänomenologie in Hegels ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘ heißt, nurmehr die „Stufe der Reflexion oder des Verhältnisses des Geistes.“ (HW 6, 421) Geradezu lakonisch und doch in der metaphorischen Rede bedeutungsvoll und tief bestimmt Hegel hier den dialektischen Begriff des Transzen dentalen, der in der weiteren Entwicklung der dialektischen Philosophie modifiziert werden kann, hinter die aber nicht mehr zurückgefallen werden darf: „Ich als diese absolute Negativität ist an sich, die Identität in dem Andersseyn; Ich ist es selbst und greift über das Object als ein an sich aufgehobenes über, ist Eine Seite des Verhältnisses und das ganze Verhältniss; das Licht, das sich und noch Anderes manifestirt.“ (HW 6, 422)
Die logische Struktur der Reflexion und ihre Aufhebung in das gegenständliche Reflexionsverhältnis der Gegenwart In der ‚Wissenschaft der Logik‘ hat Hegel das Ganze dieses Verhältnisses in die Unterscheidung von setzender, äußerer und bestimmender Reflexion auseinandergelegt. (HW 3, #249 ff.) Diese Logik der Reflexion bei Hegel ist Gegenstand anhaltender philosophischer Auseinandersetzung und kann als Ganzes hier nicht behandelt werden.104 Es gilt nur, das vom Selbstbewusstsein – logisch gesprochen: Vgl. die klassische Studie von Dieter Henrich: „Hegels Logik der Reflexion“. In: Ders., Hegel im Kontext, Ffm. 1971, S. 95 ff.; Christa Hackenesch, Die Logik der Andersheit.
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vom Begriff – her entwickelte übergreifende Reflexionsverhältnis als logische Struktur in seinen Grundzügen zu entwickeln, um zu prüfen, ob diese Verhältnisstruktur sich auch als ein materielles Verhältnis ausdrücken und beschreiben lässt. Christa Hackenesch bestimmt in einem Kommentar zur ‚kleinen‘ Logik „Reflexion als die Bewegung, in der das Denken seinen Gegensatz zu einer Welt der Dinge selbst setzt, diese Welt sich voraussetzt und zugleich, im Anspruch, sie gemäß seinen Formen zu bestimmen, sich mit ihr wieder vermittelt.“105 Hegel entwickelt Reflexion als das im Denken durch das Andere vermittelte Selbstverhältnis, das dieses Andere übergreift, weil es seine Beziehung zu ihm reflektiert und deshalb in sich aufnimmt. Jede „Bestimmtheit (…) ist Beziehung auf Anderes“ (HW 3, #249). Das Selbstbewusstsein indes als „sich auf sich selbst beziehende Negativität“ (HW 3, #250) setzt (wie schon bei Fichte) ein Verhältnis zum Anderen und wird in diesem Verhältnis auf sich zurückverwiesen. Damit aber entsteht aus der setzenden Reflexion ein wirk liches Verhältnis, das Hegel ‚äußere‘ Reflexion nennt: das Selbstbewusstsein ist etwas Wirkliches und Bestimmtes nur im Verhältnis, und dieses Verhältnis ist dann das vorausgesetzte Unmittelbare, das sich als Voraussetzung und damit als Einheit mit der setzenden Reflexion des Selbstbewusstseins erweist und so zur ‚bestimmenden‘ Reflexion wird. Hegel beschreibt diesen komplexen Sachverhalt sehr komprimiert und daher auch erläuterungsbedürftig so: „Die Reflexionsbestimmung hingegen hat ihr Andersseyn in sich zurückgenommen. Sie ist Gesetztseyn, Negation, welche aber die Beziehung auf anderes in sich zurückbeugt, und Negation, die sich selbst gleich, die Einheit ihrer selbst und ihres Andern und nur dadurch Wesenheit ist. Sie ist also Gesetztseyn, Negation, aber als Reflexion in sich ist sie zugleich das Aufgehobenseyn dieses Gesetztseyns, unendliche Beziehung auf sich.“ (HW 3, #257) Das Reflexionsverhältnis als Ganzes ist diese unendliche Beziehung des Selbstbewusstseins auf sich, das sich als Tätigkeit des Beziehens setzt, dabei als Verhältnis innewird und schließlich als solches vermitteltes Selbstverhältnis selbst bestimmt. Geht man nun, wie im logischen Zusammenhang ja naheliegend, von einer Reflexionsbewegung des Denkens aus, wird man die Unterscheidung Hegels von setzender, äußerer und bestimmender Reflexion als Reflexionsschritte interpretieren. Dieter Henrich spricht explizit von einer „Gedankensequenz“: die „Reflexion negiert sich und setzt Unmittelbares sowohl als ihr Produkt als auch als ihre Voraussetzung“; dieser Gedanke führt „als nunmehr fix gewordene Entgegensetzung beachtet (…) zum Begriff der äußeren Reflexion“, der seinerseits zur Einsicht bringt, „daß das Vorausgesetzte ebensowohl Gesetztsein ist. Dieses Gesetztsein ist nun Eine Untersuchung zu Hegels Begriff der Reflexion, Ffm. 1987; Pirmin Stekeler-Weithofer, Hegels Wissenschaft der Logik, Bd. 2, Hamburg 2020. 105 Christa Hackenesch, „Die Wissenschaft der Logik“. In: Hermann Drüe u. a.(Hg.), Hegels ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘ (1830), Ffm. 2000, S. 109.
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aber In-sich-Reflektiertsein. Damit hat sich die bestimmende Reflexion ergeben.“106 Solange man dem Grundgedanken von Hegels Logik als einer Entwicklung des Gedankens vom Abstrakten zum Konkreten folgt, ist diese Interpretation plausibel. Hegel hatte aber in der ‚Enzyklopädie‘, wie gesehen, zur Erhellung des Ganzen des Reflexionsverhältnisses die Metapher des Lichtes gebraucht, ‚das sich und noch Anderes‘ manifestiert. Vor diesem Hintergrund kann man zumindest die Frage stellen, ob das Reflexionsverhältnis nicht auch als Ausdruck eines Seinsverhältnisses verstanden und daher von diesem Seinsverhältnis her entwickelt werden kann. Will man Hegels Logik der Reflexion onto-logisch, d. h. als logischen Ausdruck eines Seinsverhältnisses begreifen, stellen sich die drei Momente der Reflexion als simultane Strukturmerkmale des Ganzen des einen Reflexionsverhältnisses dar: „Im Setzen des Anderen wird meine Reflexion-in-mich zugleich Reflexion-meiner-inein-Anderes (‚äußere Reflexion‘): Ich bin nicht mehr nur da, ich existiere, das heißt ich bin über mich hinaus, bezogen auf Anderes, insgesamt auf Welt. (…) Setzende und äußere Reflexion sind aber nur abstrakt unterschiedene Momente des einen Reflexionsverhältnisses, in dem sich das Seiende als durch seine Beziehung zur Welt bestimmtes Seiendes erweist (‚bestimmende Reflexion‘)“107 Diese Interpretation von Hans Heinz Holz geht über die Rekonstruktion von Hegels denkimmanenter Intention hinaus, indem sie die Momente der Reflexion eben nicht nur von der logischen Form der Denkbestimmungen her begreift, sondern onto-logisch als Struktur eines universellen Seinsverhältnisses entwickelt. Sie ermöglicht es, über Hegel hinaus die Frage nach dem gegenständlichen Verhältnis als ein Grundproblem der Dialektik zu entwickeln. Denn wir befinden uns immer schon in Beziehungen zu der uns umgebenden Wirklichkeit, bevor wir sie reflektieren können. Wir sind durch die präreflexiven Verhältnisse einer Situation in dieser Wirklichkeit ‚verankert‘, wie Merleau-Ponty das ausdrückt. Diese Verankerungen sind Teil unserer Wirklichkeit, bevor wir sie denken oder irgendwie bewusst mit ihnen umgehen. Gegenwart – und um ihre Aufklärung im Zusammenhang der dialektischen Grundprobleme geht es in unserer Untersuchung – ist immer ein situationsgebundenes Ineinandergreifen unbewusster und bewusster Bezüge. Der Umstand jedoch, der Hegel ein unbestreitbares Recht gibt, die Reflexionsproblematik als ein denkimmanentes Problem der Logik zu entwickeln, besteht in dem Schein der Priorität des Bewusstseins, der durch die prinzipielle Bewusstseinsimmanenz entsteht, in der uns alle menschliche Wirklichkeit gegeben ist. Objektive Transzendentalität bedeutet, dass uns Welt nie anders als durch reflexive Selbstbezüglichkeit erschlossen sein kann, und deshalb geht der Dieter Henrich, „Hegels Logik der Reflexion“, a. a. O., S. 129. Hans Heinz Holz. Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, a. a. O., Bd. 5, S. 158.
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Mensch „von der natürlichen Erfahrungsgrundlage aus, dass er für sich selbst das Erste ist. (…) Aber eben dieser subjektive Primat erweist sich als Schein, dem in der Wirklichkeit die Erzeugung meines Ich, meiner Subjektivität, durch die äußere Welt, die Natur zugrundeliegt – denn ich bin, was ich bin, nur als ‚gegenständliches Wesen‘ oder Naturwesen. (…) Meine eigene Bedingtheit als Naturwesen erfahre ich jedoch nicht in der reinen Erkenntnisbeziehung, sondern in der Tätigkeit, in der ich meine Bedürfnisse befriedige.“108 Die Notwendigkeit (oder auch, wie man es nimmt: die Möglichkeit), über den immanent schlüssigen Ansatz Hegels hinauszugehen, entsteht nur, wenn über diese Erkenntnisbeziehung hinaus das praktische Wirklichkeitsverhältnis als das grundlegende Reflexionsverhältnis, nämlich als ein komplexes und wechselseitiges In-Beziehung-Sein ineinandergreifender Wirkungen angesehen und theoretisch entfaltet wird.109 Und aus ebendiesem Grund kann man in der Dialektik nicht einfach hinter die Komplexität der Reflexionsstruktur, wie sie Hegel entwickelt hat, zurückfallen. Vom Standpunkt der Dialektik aus betrachtet kann man sich nicht unmittelbar in die Praxis werfen, sondern muss diese differenzierte Struktur des Reflexionsverhältnisses in eine alternative Konzeption aufheben. Man muss sie anders denken, ohne ihr immanentes Recht anzutasten. Das ‚gegenständliche Wesen‘ des Menschen besteht nach Marx – das haben wir an anderer Stelle schon gesehen – in der Reziprozität gegenständlicher Beziehungen: Der tätige Mensch ist am Anderen, dem gegenständlichen Ding, und macht sich an dieser gegen-ständlichen Wirklichkeit zu dem, was er ist. Menschliche Tätigkeit ist also anders als im reinen Denken nicht absolut frei setzende Tätigkeit, sondern gegenständliche Tätigkeit begründet ein wechselseitiges Bedingtsein und somit eine Autonomie der Tätigkeit, die immer zugleich auch eine Abhängigkeit von diesem Anderen bedeutet, sei es in der Bedeutung von Dingen als Momenten objektiver Wirklichkeit oder in gesellschaftlichen Formen der Interaktion, also der Intersubjektivität. In solchen Konstellationen der Wirklichkeit ist z. B. die Arbeit „nicht die Ursache der doppelten Reflexion des Subjekts im Objekt und des Objekts im Subjekt, sondern ihr Ausdruck, ihre Manifestation auf der Ebene des bewussten, zweckmäßigen Verhaltens.“110 Dieser Ausdruckscharakter bedeutet, dass Hans Heinz Holz, Freiheit und Vernunft. Mein philosophischer Weg nach 1945. Mit einem Vorwort von Jörg Zimmer, Bielefeld 2015, S. 103. 109 In diesem umfassenden Sinn hat Holz das Konzept der gegenständlichen Tätigkeit im Rahmen seiner Widerspiegelungstheorie systematisch entwickelt: Vgl. Weltentwurf und Reflexion, a. a. O., S. 359 ff., 539 ff. und 580 ff. Ich nutze hier den Begriff der gegenständlichen Tätigkeit nur im Rahmen des Versuchs, ‚Gegenwart‘ als Grundproblem der Dialektik systematisch zu rekonstruieren. 110 Ebd., S. 372; an genau dieser Stelle zeigt sich der Unterschied zwischen ‚setzender‘ Erkenntnissubjektivität und und ‚medialer‘ Subjektivität gegenständlicher Tätigkeit, Gegenständlichkeit nicht einer Realität gegenüber, sondern in der Wirklichkeit und an 108
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Subjektivität mediale Manifestation des Reflexionsverhältnisses ist, mit Hegels Terminologie zu sprechen die ‚äußere‘ Reflexion also als das seiende Verhältnis sich in der ‚bestimmenden‘ Reflexion zum Ausdruck bringt und die ‚setzende‘ Reflexion als – allerdings notwendigen! – Schein erweist, der in der objektiv transzendentalen Verfasstheit menschlicher Erfahrung begründet liegt. Um diese Struktur zur Erhellung der Gegenwart als Reflexionsverhältnis heranziehen zu können, müssen wir abschließend auf den Begriff der Situation zurückkommen. Eine Situation ist immer das gegenwärtige Verhältnis: Jede Situation ist „in logischer Reinheit je meine“111, also durch die Singularität einer Konstellation charakterisiert. Das In-Beziehung-Sein ist also ein gegenwärtiges „geschlossenes Bedeutungsfeld“, das erst in der „theoretischen Artikulation“ zu einem Allgemeinen wird.112 Zusammenhänge, wie sie die Dialektik denken muss, der Horizont von Welt und gar der Begriff der Totalität müssen aus dieser konstellativen und singulären Gegenwart eines gegebenen Seinsverhältnisses erst höherstufig entwickelt werden: erst diese Konstellation der Gegenwart lässt „die Frage nach dem Umfang der Bedeutung, der Reichweite der Geltung, dem Grad der Allgemeinheit aufkommen.“113 In dieser theoretischen Distanzierung von der Situation erst entsteht Kommunikation über gegenständliche Verhältnisse, entsteht die Erfahrung von Intersubjektivität, in der ich nicht nur eine Umgebung gegenständlich erfahre, sondern auch mich selbst als durch den Anderen vergegenständlicht erfahre und im Ganzen dieser Konstel lation eine Situation zu einer Reflexionsstruktur verallgemeinern kann. Selbst bewusstein ist dann nicht mehr das Erste, Wirklichkeit Konstituierende, als das es im transzendentalen Schein erscheint, sondern es ist Reflexion der Reflexion, d. h. bewusster Ausdruck des Reflexionsverhältnisses: „Mit dem Selbstbewusstsein stellt sich allerdings eine wesentlich neue ontologische Ebene der Relation innerweltlich Seiender ein (…) In der Reflexion der Reflexion entsteht ein asymmetrisches Verhältnis des Reflektierenden zum Reflektierten, das selbst ein Verhältnis ist, in dem das Reflektierende steht. Und genau dieses asymmetrische Verhältnis ist es, welches die Subjektivität definiert und in welchem sich das Subjekt konstituiert.“114
ihren Dingen; dieser Unterschied zeigt sich auch an den unterschiedlichen Konzeptionen dialektischer Ontologie bei Lukács und Holz. Vgl. dazu Daniel Göcht/Jörg Zimmer, „Ontologie des gesellschaftlichen Seins: Georg Lukács und Hans Heinz Holz“. In: Jan Urbich/Jörg Zimmer (Hg.), Handbuch Ontologie, a. a. O., S. 207 ff. 111 Holz, Weltentwurf und Reflexion, a. a. O., S. 375. 112 Ebd., S. 376. 113 Ebd. 114 Ebd., S. 380.
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Man meint gewöhnlich, das Absolute müsse weit jenseits liegen; aber es ist gerade das ganz Gegenwärtige, das wir als Denkendes, wenn auch ohne ausdrückliches Bewusstsein darum, immer mit uns führen und gebrauchen. Hegel, Enzyklopädie (W 8, 85) Denken heißt Überschreiten. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 2
Dialektik ist das Hinausdenken über Identität. Jede Theorie der Dialektik muss also nicht nur ontologisch das Sein als Verhältnis und dieses Verhältnis als ein im Bewusstsein Reflektiertes, nämlich als Reflexionsverhältnis denken (diese beiden Grundaspekte dialektischen Denkens waren Gegenstand der beiden zurückliegenden Kapitel), sondern auch die logischen Formen entwickeln, in denen sich dieses Hinausdenken über Identität vollzieht. Dieses am Identischen erscheinende Andere nennen wir seit Hegel ‚Negativität‘. Das in sich positiv Bestimmte muss in seiner intrinsischen Widersprüchlichkeit, d. h. in den Dimensionen der Negativität, also in Veränderung und als Relationalität aufgefasst und denkbar gemacht werden. Der logische Grundapparat, den jede Theorie der Dialektik auf ihre Weise entwickeln muss, stellt die Denkbestimmungen bereit, mit denen das Eine als das Eine des Anderen (Theorie des Widerspruchs), Wirklichkeit als Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit (das Problem der Modalität) und ein Begriff des Absoluten als Grenzbegriff von Totalität modelliert werden können. Denn ohne diese Dimensionen der Negativität – Schein, Veränderung, Relationalität und Totalität als Momente eines dialektischen Begriffs der Wirklichkeit – kann man diesen Schritt über die einfache Identität des Verstandesdenkens hinaus nicht tun. Dieses weite Feld dialektischer Probleme kann im Problemaufriss einer Dialektik der Gegenwart nicht in alle Fragen hinein verfolgt und ausgeschritten werden. Deshalb will ich an klassischen Einsatzstellen der genannten Theorieelemente der Dialektik die Grundprobleme aufzeigen und auf meine Fragestellung der Gegenwart hin profilieren und strukturieren.
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IV Strukturen der Negativität
Die Wirklichkeit des Scheins Dialektische Problemstellungen entstehen, wenn über die denknotwendige, aber auch für praktische Orientierung in der Wirklichkeit vorauszusetzende Identität hinaus auf Nichtidentität reflektiert wird. Hegel hat, wie noch zu sehen sein wird, die sehr wichtige Unterscheidung zwischen einer unmittelbar gesetzten Identität im verständigen Denken und einer reflektierten Identität im dialektischen Denken getroffen, durch die dialektische Logik im Unterschied zur formalen Logik zur kritischen Reflexion der Voraussetzungen von Identität bzw. zum begrifflichen Einholen der Strukturen der Negativität wird. Dialektische Logik entwickelt Denkbestimmungen, durch die Veränderung und Relationalität als intrinsische Momente des Identischen denkbar gemacht werden können. Als Grundproblem der Dialektik wird dann die Einheit von Identität und Andersheit bzw. von Identität und Unterschied sichtbar. Diese Einheit hat der späte Platon, dessen Begriffsdialektik später auch zum Ausgangspunkt der Dialektik Hegels werden sollte115, in seinem Dialog ‚Sophistes‘ als Verschränkung von Seiendem und Nichtseiendem reflektiert. Jedes bestimmte Seiende ist ein Selbiges (d. h. Identisches) im Unterschied zu Anderem. Am Seienden erscheint also folglich das Nichtseiende, und in der Konsequenz wird Dialektik, wie wir ebenfalls in Hegels Logik sehen werden, zu einer Theorie des Scheins: In einem Exkurs über Parmenides innerhalb des ‚Sophistes‘, der als Ganzes hier nicht Gegenstand der Erörterung sein kann, stellt Platon diese Frage nach der Wirklichkeit des Scheins 116, also nach dem eigenen Sein des Nichtseienden: „dieses Erscheinen, und Scheinen ohne zu sein“117 wird im Unterschied zum eleatischen Seinsbegriff von Vgl. Manfred Riedel (Hg.) Hegel und die antike Dialektik, Ffm. 1990. Diese Fragestellung muss als Fragestellung von der Charakterisierung der Dialektik als Logik des Scheins unterschieden werden, die durch Kant in der neuzeitlichen Philosophie prägend geworden ist: Schein ist hier nur als Trug falsch gebrauchter Vernunftbegriffe bestimmt und Dialektik wird dann als Methode kritischer Vernunftkritik verstanden. Dialektik als Theorie der Wirklichkeit des Scheins oder des Scheins als Moment alles Wirklichen zielt auf eine ontologische Bestimmung des Scheins, eben der Problemstellung, die im ‚Sophistes‘ zuerst reflektiert wird. Zur Unterscheidung eines ontologischen und eines methodischen Dialektikverständnisses vgl. Jörg Zimmer, „Ontologie und Dialektik“. In: Jan Urbich/Jörg Zimmer (Hg.), Handbuch Ontologie, a. a. O., S. 459 ff.; zur Bedeutung des ‚Sophistes‘ für die Dialektik vgl. Jörg Zimmer, „Mixis. Platons Philebos und die Frage nach dem guten Leben“. In: Reinhold Mokrosch/Elk Franke (Hg.), Wer tethik und Werterziehung. Festschrift für Arnim Regenbogen, Göttingen 2004, S. 83 ff.; zur Dialektik beim späten Platon vgl. Hans Heinz Holz, Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, a. a. O., Bd. 1, S. 395 ff. 117 Platon, Sophistes, Übersetzung Schleiermacher, 236e. 115 116
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Parmenides, wonach es nur Sein gibt und das Nichtseiende aus der philosophischen Betrachtung ausgeschlossen werden muss, als „Verflechtung“ von Seiendem und Nichtseiendem (240c) begriffen: es geht darum, „dass sowohl das Nichtseiende in gewisser Hinsicht ist, als auch das Seiende wiederum irgendwie nicht ist“ (241d). Das substantielle Seiende, so die implizite Aussage, darf nicht mit Sein schlechthin verwechselt werden (denn es hat einen Aspekt des Nichtseins), weil in seinem Begriff die intrinsische Relationalität nicht mitgedacht ist, die aber gerade an diesem Seienden erscheint und insofern doch ‚in gewisser Hinsicht‘ etwas ist bzw. als Zusammenhang des Seins ein Moment des Wirklichen darstellt. Die Frage entsteht, wie eine solche Verschränkung gedacht werden kann. Platons Antwort ist, in deutlicher Abgrenzung zur ‚Gigantomachie‘ zwischen ‚Ideenfreunden‘ und Materialisten, die Theorie der megista gene, also der obersten Gattungsbegriffe, durch deren Verbindung die ‚Verflechtung‘ von Seiendem und Nichtseiendem denkbar gemacht werden kann. Interessant ist an dieser Stelle, dass sich diese Begriffsdialektik eben sowohl gegen den Idealismus der Ideenlehre als auch gegen den Materialismus wendet, der das Sein des Seienden im Unterschied zu den Ideenfreunden eben im körperlichen Seienden aufsucht. Beide Positionen kommen nicht zu der logischen Entfaltung der Verschränkung von Seiendem und Nichtseiendem: „Die Einen ziehn alles aus dem Himmel und dem Unsichtbaren auf die Erde herab mit ihren Händen buchstäblich Felsen und Eichen umklammernd. Denn an dergleichen alles halten sie sich und behaupten das allein sei woran man sich stoßen und was man betasten könne, indem sie Körper und Sein für einerlei erklären…“ (246 a/b); die Ideenfreunde dagegen „behaupten gewisse gedenkbare unkörperliche Ideen wären das wahre Sein“ – und über diese Grundfrage gibt es ein „unermeßliches Schlachtgetümmel immerwährend“ (246 b/c). Der späte Platon, der sich hier auch gegen seine eigene frühere Position abgrenzt, entwickelt die Theorie der Verschränkung der obersten Gattungen als den dritten Weg zwischen Ideenlehre und Materialismus.118 Er nennt fünf Grundbegriffe, in denen diese Verschränkung darstellbar wird, nämlich Seiendes, Ruhe und Bewegung auf der einen Seite, sowie Was das für die Bewertung des Unterschiedes von Idealismus und Materialismus und auch für die Frage einer Aufhebung der idealistischen Dialektik Hegels (die letztlich die Position der spätplatonischen Begriffsdialektik weiterführt) in eine materialistische Konzeption der Dialektik bedeutet (die ja nicht, wie Marx schon in der ersten Feuerbachthese deutlich gemacht hat, einfach an frühere Formen des Materialismus anknüpfen kann, sondern einen dialektischen Begriff materieller Verhältnisse begründen muss), kann an dieser Stelle nicht erörtert werden. Es scheint mir jedoch wichtig, den Grundgedanken Platons, dass die Begriffsdialektik sowohl den überkommenen Idealismus als auch den vormaligen Materialismus überwindet, in eine solche Erörterung aufzunehmen. Die Frage wäre dann etwa, wie die Struktur der Logik Hegels in ein Modell materialistischer Dialektik eingetragen bzw. überführt werden kann. Mir ist nur ein philosophischer
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Selbigkeit und Verschiedenheit auf der anderen Seite. Die Dimensionen der Negativität, d. h. Veränderung und Relationalität erscheinen am Selbigen bzw. an der Identität. Die Wirklichkeit des Scheins, die in Hegels Wesenslogik in den Reflexions bestimmungen denkbar gemacht wird, ist durch die obersten Begriffe als Struktur alles Wirklichen ausdrückbar geworden. Seiendes bezieht sich auf sich selbst, Selbigkeit bzw. Identität dagegen drückt als Reflexionsbestimmung die Beziehung auf Anderes aus. Die Veränderung des Seienden vollzieht sich am Seienden und die Beziehung des Selbigen zum Anderen erscheint am bestimmten Unterschied: auf diese Weise wird dialektisch denkbar gemacht, wie das Seiende ‚irgendwie‘ nicht ist bzw. das Nichtseiende (d. h. das substantiell nicht Seiende) doch ‚in gewisser Hinsicht‘ eine Wirklichkeit hat. In der Teilhabe dieser obersten Gattungsbegriffe erschließt sich der dialektische Sinn von Sein. Genau diese begriffliche Grundstruktur entwickelt Hegel in seiner Wesenslogik. Für die Rekonstruktion des Grundgedankens ist es sinnvoll, sich an die sogenannte ‚kleine‘ Logik aus der ‚Enzyklopädie‘ zu halten, denn zum einen ist es die reifste, zuletzt für die Ausgabe von 1830, also kurz vor Hegels Tod überarbeitete Fassung, zum anderen hat Hegel diesen Text als Kompendium für seine Studenten konzipiert, also selbst auf Stringenz, Beschränkung auf das Wesentliche und auf Verständlichkeit geachtet. Der Begriff des Scheins wird gleich zu Beginn der Wesenslogik eingeführt, also an genau der systematischen Stelle, wo das Sein als solches in das Reflexionsverhältnis übergeht. Schein ist bei Hegel die Unmittelbarkeit des Seienden als einem Vermittelten, als Teil des Strukturganzen der Relationalität. In dieser Scheinstruktur zeigt sich die Aufhebung des Seins in der Gesamtstruktur eines Beziehungsgefüges. Der Schein substantieller Selbständigkeit wird logisch durchschaubar gemacht, zugleich jedoch wird deutlich, dass Beziehungen nur an Seienden erscheinen können, das Sein im Wesen also nicht als solches, sondern nur logisch aufgehoben ist, indem die seinslogische Orientierung an der Substanz in das Reflexionsverhältnis und die wesenslogische Entwicklung der Reflexionsbestimmungen überführt wird. Im Paragraphen 112 der ‚Enzyklopädie‘ spricht Hegel diesen Zusammenhang konzise aus: „Das Wesen als das durch die Negativität seiner selbst sich mit sich vermittelnde Seyn, ist die Beziehung auf sich selbst, nur indem sie Beziehung auf Anderes ist, das aber unmittelbar nicht als Seyendes sondern als Gesetztes und Vermitteltes ist. – Das Seyn ist nicht verschwunden, sondern erstlich ist das Wesen als einfache Beziehung auf sich selbst, Seyn; fürs andere ist aber das Seyn nach seiner einseitigen Bestimmung, unmittelbares zu seyn zu einem nur negativen herabgesetzt, zu einem Scheine. – Das Wesen ist hiemit das Seyn als Scheinen in sich selbst.“ (HW 6, 143) Vor dem Hintergrund der Überlegungen Platons im ‚Sophistes‘ wird schnell klar, Versuch bekannt, eine solche Aufhebung des Ganzen der Hegel’schen Begriffsdialektik zu begründen: die Widerspiegelungstheorie von Hans Heinz Holz.
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dass es auch Hegel um die eigene Wirklichkeit des Scheins geht. War am Anfang der Logik das Absolute ‚Sein‘, so ist das Absolute nun ‚Wesen‘, d. h. es ist zur Totalität einer Beziehungsstruktur geworden. Dass Negativität nicht einfach die Negation der Bestimmtheit von Seiendem in sich ist, sondern in eigenen logischen Denkbestimmungen in seiner Wirklichkeit denkbar gemacht werden muss, hält Hegel im selben Paragraphen fest: „Indem das Absolute als Wesen bestimmt wird, wird aber die Negativität häufig nur in dem Sinne einer Abstraction von allen bestimmten Prädicaten genommen. Dieses negative Thun, das Abstrahiren, fällt dann außerhalb des Wesens, und das Wesen selbst ist nur als ein Resultat ohne diese seine Prämisse, das caput mortuum der Abstraction. Aber da diese Negativität dem Seyn nicht äußerlich, sondern seine eigene Dialektik ist, so ist seine Wahrheit, das Wesen, als das in sich gegangene oder in sich seyende Seyn; seinen Unterschied vom unmittelbaren Seyn, macht jene Reflexion sein Scheinen in sich selbst, aus, und sie ist die eigenthümliche Bestimmung des Wesens selbst.“ (HW 6, 143 f.) Der Begriff Reflexion ist schon Gegenstand unserer Untersuchung gewesen, er bezeichnet im Zusammenhang des wesenslogischen Begriffs des Scheins die Eingelassenheit alles endlichen Seienden in Zusammenhänge einer Verhältnisstruktur. Den drei Teilen der Logik Hegels entsprechen eine „abstracte oder verstän dige“ (Seinslogik), eine „dialektische oder negativ-vernünftige“ (Wesenslogik) und eine „speculative oder positiv-vernünftige“ (Begriffslogik) Einstellung des Denkens (HW 6, 118). Die Wesenslogik ist insofern der eigentliche systematische Ort der Dialektik, weil in ihr das Absolute als Gesamtzusammenhang einer Verhältnisstruktur entfaltet wird. In diesem Zusammenhang muss dann auch die zweifache Bedeutung von Identität betrachtet werden: die abstrakt-verständige Identität isoliert den Erkenntnisgegenstand vom Zusammenhang, in dem er in seiner Wirklichkeit erscheint; im dialektischen Begriff der Identität dagegen wird das Identische in seinem Vermittlungszusammenhang und also als reflektierte Identität aufgefasst: „Es ist in ihr (der ‚Sphäre des Wesens‘, J. Z.) Alles so gesetzt, daß es sich auf sich bezieht und daß zugleich darüber hinausgegangen ist, – als ein Seyn der Reflexion, ein Seyn, in dem ein Anderes scheint, und das in einem Andern scheint. Sie ist daher auch die Sphäre des gesetzten Widerspruchs, der in der Sphäre des Seyns nur an sich ist.“ (HW 6, 145). Identität wird logisch als Einheit von Identität und Nicht-Identität, ontologisch als ‚Sein der Reflexion‘ im Sinne der Wirklichkeit des Reflexionsverhältnisses verstanden. Formal ist Identität, „in sofern an ihr festgehalten und von dem Unterschiede abstrahirt wird“ (HW 6, 146); gegen dieses Fixieren der Identität im Verstandesdenken bedeutet eine dialektische Auffassung der Identität, gegen das Ausschließen des Unterschiedes das bestimmte Andere des Identischen in seinen Begriff aufzunehmen, also „Negation zugleich als Beziehung, Unterschied, Gesetztseyn, Vermitteltseyn“ zu begreifen (HW 6, 148). Hegel nennt dieses am Anderen vermittelte Identische auch
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sehr schön „Unterschied der Reflexion, oder Unterschied an sich selbst, bestimmter Unterschied.“ (HW 6, 149) So ergibt sich auch bei Hegel nach dem Vorgang des späten Platon das Dialektische als Einheit von positiver Bestimmtheit in sich und Reflexion in Anderes. Jedes positiv in sich Bestimmte hat sein Anderes, der Unterschied ist immer ein bestimmter Unterschied und das Negative als Horizont von Veränderungen und Beziehungen auch immer als bestimmte Negation zu denken. Das kritisch-dialektische Denken muss diese konkrete Einheit des Positiven und Negativen, den Bedeutungshorizont alles Seienden in Prozessen und Verhältnissen reflektieren und bestimmen. Neben Identität und Unterschied führt Hegel deshalb als weitere Reflexionsbestimmung die Kategorie des Grundes ein. Denn der Gedanke, dass alles bestimmte Existierende erst in seiner Beziehung zur Andersheit zu dem wird, was seine Wirklichkeit ausmacht, führt in der Konsequenz dazu, Wirklichkeit als Einheit aller Reflexions verhältnisse zu begreifen, als das Ganze einer Beziehungsstruktur, in der jedes dieser aufeinander bezogenen Existierenden seinen Grund hat: „Der Grund ist die Einheit der Identität und des Unterschieds; die Wahrheit dessen, als was sich der Unterschied und die Identität ergeben hat, – die Reflexion-in-sich, die eben so sehr Reflexion-in-Anderes und umgekehrt ist. Er ist das Wesen als Totalität gesetzt.“ (HW 6, 152) Wenn man das Wesen, so wie Hegels Logik das tut, als Relationalität alles Seins auffasst, dann ist das Absolute, das Ganze, die Totalität als Einheit aller dieser Beziehungen zu verstehen. Wenn Dialektik das Hinausdenken über formale, d. h. isolierende und fixierende Identität ist, muss sie notwendig zu der Einsicht kommen, dass die Andersheit, d. h. Bezogenheit des Identischen auf Anderes in den Begriff des Seins aufgenommen werden muss. Das wiederum führt auf den Gedanken eines Gesamtzusammenhangs dieser In-Beziehung-Seienden. Dialektik muss deshalb immer auch eine Theorie dieses Gesamtzusammenhangs sein. Diesem Problem jedoch kann erst nachgegangen werden, wenn auch der Möglichkeitshorizont alles Wirklichen kategorial bestimmt worden ist.
Möglichkeit in Prozessen und Kompossibilität: Konstellationen der Gegenwart Das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit ist ein altes Problem der Philosophie. Eine systematische Entwicklung dieser Fragestellung hat zuerst Aristoteles in seiner Naturphilosophie gegeben.119 Aristoteles fasst Natur als das schlechthin Eine umfassende Darstellung der Bedeutung von Aristoteles’ Metaphysik und Naturphilosophie für die Dialektik, die hier nicht geleistet werden kann, findet sich bei Hans
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Bewegte und in Veränderung Begriffene auf. Möglichkeit wird damit ontologisch betrachtet zu einem Moment der Wirklichkeit, die selber in ihrer intrinsischen Prozessualität bestimmt wird. Das wiederum, die Wirklichkeit als Prozess gedacht, gibt der Möglichkeit gegenüber der Wirklichkeit ontologisch den Vorrang: „Die Dialektik bekommt bei Aristoteles ihre Gestalt als Theorie des bewegten natürlichen Seienden, der Bewegungsformen der Natur. Und, wie später wieder bei Leibniz und in unserer Zeit bei Ernst Bloch, wird sie – in der temporalen Spannung zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht – zu einer Ontologie, die das Sein primär nicht als Faktizität des Vorhandenen, sondern von der Potenz des Erzeugenden her begreift; nicht die Kategorie Wirklichkeit, sondern die Kategorie Möglichkeit bezeichnet die Modalität einer Welt, in der es Veränderung gibt. Die Tendenz des Möglichen, sich zu verwirklichen, sei die Bewegung, sagt Aristoteles.“120 Eine für die Problemstellung einer Dialektik der Gegenwart wichtige Feststellung von Platon und Aristoteles ist dabei, dass sich Veränderungen ‚diskret‘, d. h. in der Plötzlichkeit des Jetzt und also außerhalb der Erfahrbarkeit als das Umschlagen von einem Zustand in den anderen vollziehen. In seinem Dialog ‚Parmenides‘ (151e-157b) bestimmt Platon das Jetzt als Stillstand im Werden, als ein Plötzliches, das selber ort- und zeitlos ist und in dem sich das Umschlagen sowohl vom Nichtsein zum Sein (Entstehen) als auch vom Sein zum Nichtsein (Vergehen) vollzieht. Die Einheit von Sein und Nichtsein, die wir oben als Scheinstruktur der Relationalität gesehen haben, ist also auch in der zweiten Dimension der Negativität, nämlich der Veränderung, als strukturelles Grundmerkmal herausgehoben. ‚Diskret‘ ist dieses Plötzliche, weil es sich unsichtbar, d. h. der Erfahrbarkeit entzogen vollzieht. Damit ist ein Topos vorgezeichnet, der sich in der Philosophiegeschichte durchsetzen wird: Der Augenblick, die Gegenwart hat aufgrund ihrer Unerfahrbarkeit keine Wirklichkeit. Aristoteles meint jedoch noch etwas mehr, wenn er das nyn ‚diskret‘ nennt: Er bestimmt das Jetzt als Grenze der Zeit, also als Anfang und Ende der Zeit, das selber zeitlos ist. So wird die Sukzession der Zeit in diskrete Augenblicke zerlegt, die Vergangenheit und Zukunft trennen. Das Jetzt ist selber nicht als Zeit zu betrachten, aber ohne das Jetzt gibt es keine Zeit: „Wie es also Zeit gar nicht gäbe, wenn nicht das Jetzt (immer wieder) ein verschiedenes wäre, sondern ein und dasselbe, genauso erscheint hier das Zwischenstück nicht als Zeit, da die Verschiedenheit (der Jetzte) verborgen bleibt. Wenn also der Eindruck, es vergehe keine Zeit, sich uns dann ergibt, wenn wir keine Veränderung bestimmend erfassen können, sondern das Bewusstsein Heinz Holz, Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, a. a. O., Bd. 1, S. 427 ff. 120 Hans Heinz Holz, „Dialektik“. In: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Europäische Enzyklopä die zu Philosophie und Wissenschaften, Hamburg 1990, Bd. 1, S. 551.
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in einem einzigen, unmittelbaren ( Jetzt) zu bleiben scheint, wenn andererseits wir (Veränderung) wahrnehmen und abgrenzend bestimmen und dann sagen, es sei Zeit vergangen, so ist offenkundig, dass ohne Bewegung und Veränderung Zeit nicht ist. Dass somit Zeit nicht gleich Bewegung, andrerseits aber auch nicht ohne Bewegung ist, leuchtet ein.“121 Aristoteles trifft hier zwei für einen dialektischen Begriff der Zeitlichkeit, der Veränderung und der Möglichkeit wichtige Feststellungen: Zeit und Veränderung entstehen in der – wenn auch unerfahrbaren – Gegenwart, die damit zum Ort der Möglichkeit wird. Außerdem sagt er, dass die Erfahrung von Zeit an Veränderung gebunden ist, also daran, dass Bewegung bzw. Veränderung schon stattgefunden hat. Zeit und Wirklichkeit wird nicht in statu nascendi, sondern als abgeschlossener Prozess erfahren. Was bedeutet das für den Begriff der Möglichkeit? Eine Philosophie, die mit Marx von der Voraussetzung ausgeht, dass dialektische Theorie den Zusammenhang materieller Verhältnisse systematisch darzustellen hat, muss einen ontologischen Begriff der Möglichkeit entfalten, da ja, wie schon Aristoteles gezeigt hat, der materielle Zusammenhang der Natur von der Bewegung und Veränderung her zu denken ist. „Materielle Verhältnisse sind immer solche, in dem neben dem präsentisch Wirklichen latente Möglichkeiten des Andersseins, das heißt virulente Tendenzen des Anderswerdens vorhanden sind.“122 Diese Formulierung, dass Möglichkeiten ‚neben‘ dem in der Gegenwart Wirklichen existieren, scheint Dialektik auf die Verlaufsform der Prozessualität zu orientieren. Richtig daran ist, dass ein Gesamtzusammenhang materieller Verhältnisse ohne Bewegung und Veränderung nicht zu denken ist. Die Frage bleibt jedoch, inwiefern dieser ‚Seinsmodus‘ Möglichkeit nicht neben einem gegenwärtigen Wirklichen, sondern in der Konstellation einer präsentischen Situation aufzusuchen sein kann. Klar ist, dass Strukturen der Negativität immer beides zu modellieren haben, Möglichkeit als Bedingung und als Potenz eines Prozesses und Möglichkeit als Konstellation eines gegebenen Zusam menhangs von Beziehungen. Man kann sich, die Notwendigkeit, Möglichkeit in bei den Dimensionen der Negativität darzustellen vorausgesetzt, doch vom Standpunkt einer Dialektik der Gegenwart einmal fragen, ob dialektische Theorie notwendig von der Verlaufsform der Prozesse her die jeweilige Wirklichkeit der Gegenwart zu begreifen habe, oder nicht auch umgekehrt von der Simultaneität einer gegenwär tigen Konstellation von Möglichkeiten Prozesse der Veränderung beschrieben und begriffen werden können. Ernst Bloch hat an die Möglichkeitstheorie von Aristoteles erinnert, um sie für die Dialektik als ontologische Theorie realer Möglichkeit fortbestimmbar zu
Aristoteles, Physik. Vorlesung über die Natur. Übersetzt von Günter Zekl. In: Philosophische Schriften, Hamburg 1995, Bd. 6, S. 104 (218b). 122 Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion, a. a. O., S. 442. 121
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machen.123 Es geht nicht um einen Begriff des logisch Möglichen (logisch möglich ist, was keinen Widerspruch enthält), sondern ausdrücklich um den ontologischen Begriff der Möglichkeit. Über das bloß Denkmögliche und auch die erkenntnistheoretische Bedeutung der Möglichkeit hinaus entwickelt Bloch mit Aristoteles einen Begriff der Möglichkeit als Bedingungszusammenhang des Wirklichen: Dieses Mögliche betrifft „nicht unsere Kenntnis von etwas, sondern dieses Etwas selber (…) Das sachhaft Mögliche lebt nicht von den unzureichend bekannten, sondern den unzureichend hervorgetretenen Bedingungsgründen. Es bezeichnet mithin nicht eine mehr oder minder ausreichende Kenntnis der Bedingungen, sondern es bezeichnet das mehr oder minder ausreichend Bedingende in den Gegenständen selbst und in ihren Sachverhalten.“124 Bloch versucht, die aristotelische Unterscheidung zwischen dem Nach-Möglichkeit-Seienden und dem In-Möglichkeit-Seienden in eine dialektische Ontologie der Möglichkeit einzubringen: „Möglichkeit bedeutet hier nämlich sowohl inneres, aktives Können wie äußeres, passives Getanwerdenkönnen; mithin: Andersseinkönnen zerfällt in Anders-Tunkönnen und Anders-Werdenkönnen. Sobald diese beiden Bedeutungen konkret unterschieden sind, dann tritt die innere partielle Bedingung als aktive Möglichkeit, das ist, als Vermögen, Potenz hervor und die äußere partielle Bedingung als Möglichkeit im passiven Sinn, als Potentialität. (…) Die politische Gestalt der aktiven Möglichkeit ist das Vermögen des subjektiven Faktors, und er am wenigsten kann ohne Verflechtung, ohne Wechselwirkung mit den objektiven Faktoren der Möglichkeit wirken, das heißt, mit den Potentialitäten dessen, was nach Maßgabe der Reife der äußeren Bedingungen wirklich geschehen oder wenigstens in die Wege geleitet werden kann.“125 Die politischen Implikationen einer dialektischen Theorie der Möglichkeit, die Bloch hier völlig zu recht hervorhebt, werden uns in den folgenden Kapiteln noch näher beschäftigen. Möglichkeit als Seinsmodus zu denken bedeutet, dass nicht nur Wirklichkeit und Möglichkeit als Einheit verstanden werden, sondern auch, dass im Begriff der Möglichkeit selbst zwischen Möglichkeit als objektivem Bedingungszusammenhang und Möglichkeit als subjektivem Vermögen unterschieden werden muss, um in der dialektischen Wechselwirkung der Momente die Modalität der Offenheit des Wirklichen präzise denken zu können. Eine ‚aristotelische‘ Konsequenz aus dieser Ontologie der Möglichkeit ist, dass ein solches In-MöglichkeitSein auf einen offenen, unabgeschlossenen Begriff prinzipieller Unfertigkeit der Wirklichkeit führt – die dann vor allem in ihrer auch unabschließbaren Prozessualität ausgezeichnet werden muss: „Möglichkeit wird so zur Basiskategorie in einem Vgl. hierzu Jörg Zimmer, Die Kritik der Erinnerung. Metaphysikkritik, Ontologie und geschichtliche Erkenntnis in der Philosophie Ernst Blochs, Köln 1993, S. 69 ff. 124 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Ffm. 1959, S. 264. 125 Ebd., S. 267 f. 123
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Kategoriensystem, das das Weltsubstrat, das Sein des substantiell Seienden, durch Relationalität, Zeitlichkeit bestimmt.“126 Die Frage jedoch ist, ob diese Basiskategorie der Möglichkeit tatsächlich, wie in der traditionellen Theorie der Dialektik bisher geschehen, vom Primat der Entwicklung und Zeitlichkeit her gedacht werden muss. Denn wenn man sie gleichursprünglich vom Strukturganzen eines gegenwärtigen Bedingungszusammenhangs ineinandergreifender Bedingungen und Vermögen her betrachtet, aus dem heraus Entwicklung sich vollzieht, ergibt sich eine andere Akzentuierung desselben Problems. Das hat Holz selbst herausgearbeitet: „Die Welt muss unendlich sein, sonst würde der Prozess der Verwirklichung von Möglichkeiten sich einmal erschöpfen. In einem unendlichen System von Beziehungen bedeutet dagegen jede Rekombination von Elementen nicht nur das Verwirklichen einer vorher nur möglichen Ordnung, sondern zugleich die Erzeugung neuer Kombinationsmöglichkeiten…“127 Damit ist angezeigt, dass sich der Prozess der Veränderungen, von der Simultaneität der Gegenwart her betrachtet, als zunehmende Komplexität der Wirklichkeit darstellt. Diese Komplexität ist dann der strukturierte Raum für Verwirklichung von Möglichkeit: In „jedem Augenblick der Gegenwart kann es vorkommen, dass wir Entscheidungen zwischen offenen Möglichkeiten zu treffen haben, hier hat die Freiheit ihren Ort. Wo Gegenwart in Zukunft übergeht, vollzieht sich der Prozess“.128 Genau aus diesem Grund jedoch lohnt es sich, die dialektische Basiskategorie der Möglichkeit einmal nicht allein von der Seite des Prozessverlaufs, sondern aus dem Strukturganzen der Simultaneität der Beziehungen und ihrer Wechselwirkungen aus zu betrachten. In der klassischen Philosophie hat Leibniz genau dies im Begriff der Kompossibilität zu denken versucht.129 Leibniz entwickelt in dem seit Russell häufig nur als logisches Prinzip missverstandenen Satz praedicatum inest subiectum den Subjektcharakter der individuellen Substanz: Indem sie Kraft und Wirken auf Andere ist, enthält sie alle ihre wirklichen und möglichen Prädikate, indem sie sie hervorbringt. Insofern ist, ontologisch betrachtet, in dem Leibnizsatz die Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit im Vermögen des Subjekts gedacht, seine Wirklichkeit selbst zu schaffen. Der vollständige Begriff der individuellen Substanz bedeutet das unabgeschlossene Ganze ihres wirklichen und möglichen Seins, gedacht als unendliche Steigerung ihrer Realität. Die ist jedoch nicht in dem Sinn misszuverstehen, als gehe es Leibniz um die Begründung absoluter Freiheit. Denn wenn die individuelle Holz, Weltentwurf und Reflexion, a. a. O., S. 455. Ebd., S. 450. 128 Ebd., S. 456. 129 Gottfried Wilhelm Leibniz, „Metaphysische Abhandlung“. In: Werke, Bd. 1: Kleine Schriften zur Metaphysik, Darmstadt 2013, S. 56 ff.; dazu Jörg Zimmer, Leibniz und die Folgen, a. a. O., S. 41 ff. 126 127
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Substanz durch Kraft definiert ist und also die Wirklichkeit aus einer Pluralität aktiv aufeinander wirkender Kräfte besteht, dann folgt daraus, dass jede wirkende Kraft einer Substanz von den anderen, ebenfalls wirkenden Kräften begrenzt wird. Die Substanzen stehen also in einem je gegenwärtigen Zusamenhang von Wechselwirkungsverhältnissen. Leibniz denkt die Einheit von Handeln und Leiden als einen Zusammenhang, in dem alle Kräfte zugleich wirken und etwas erleiden, also bewirkt werden. Diesen intrinsischen Zusammenhang der Vielen, als Bedingungszusammenhang gedacht, nennt Leibniz Kompossiblität: „Wenn die Welt die Gesamtheit alles Wirklichen und Möglichen ist, alles Mögliche aber auch solche Möglichkeiten umfasst, die, alternativ einander ausschließend, nicht beide wirklich werden können, so bedeutet das, dass die Verwirklichung der einen Möglichkeit die andere unmöglich macht.“130 Sowohl die verwirklichte als auch die als nicht kompossibel ausgeschiedene Möglichkeit „generiert (…) ein Feld neuer Möglichkeiten (…), die es zuvor als solche nicht gab, und ein Feld anderer Möglichkeiten zu Unmöglichkeiten werden lässt. (…) Eine harmonisierende Deutung des Prinzips der Kompossibilität wäre, wie man sieht, ein fundamentales Missverständnis. Kompossibilität ist die real regulative Bedingung eines den Widerspruch zwischen seinen Elementen konstitutiv einschließenden, sich verändernden Systems, das als System nicht zerfällt, sondern sich in einer aurea catena von Systemgestalten perpetuiert.“131 Dieser Begriff eines gegenwärtigen, zugleich Möglichen ersetzt einen nur vom Verlauf in der Veränderung und Entwicklung her gedachten Begriff der Möglichkeit durch einen Strukturbegriff der Möglichkeit in der Simultaneität eines gegebenen Moments, der Gegenwart. Die faktische Pluralität der Verwirklichungsbestrebungen bildet in jedem Augenblick eine Ordnung der Kompossibilität, also ein Feld aufeinander wirkender Kräfte, in dem diejenigen Möglichkeiten wirklich werden, die kompossibel, d. h. zugleich möglich sind, und diejenigen Möglichkeiten von der Verwirklichung ausgeschlossen werden, die nicht kompossibel sind. Damit wird ein Strukturbegriff der Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit denkbar, der sich an der Simultaneität einer gegenwärtigen Situation orientiert und so Gegenwart nicht als verschwindenden Augenblick in der Zeitreihe (historisch gesprochen: als vorübergehender Übergang in einer Entwicklung, die vom Ziel her gedacht ist), sondern als Ausgangspunkt für Veränderung modellierbar macht.
Holz, Weltentwurf und Reflexion, a. a. O., S. 458. Ebd., S. 459 und 462.
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Dialektik der Grenze: Problem und Horizont der Totalität Die Dialektik der Negativität macht die Doppelaspektivität jeder Grenze bewusst: Alles Endliche steht in einem Horizont des Andersseins, also in Beziehungen und Veränderungen. Jede Grenze bestimmt sowohl positiv ihr Diesseits als auch zugleich negativ ihr Jenseits. Hegels Reflexionsbestimmungen von Identität und Unterschied führen in den Grund zurück, in dem sich das Ganze nicht mehr seinslogisch und eleatisch als Sein, sondern wesenslogisch als Totalität einer Beziehungsstruktur ergibt. Diese bewegte Einheit der Beziehungen ist prinzipiell transempirisch, d. h. sie kann nur kategorial gedacht, aber nicht erfahren oder vorgestellt werden, weil Totalität als das Ganze den notwendig endlichen Rahmen des Erfahrbaren und Vorstellbaren sprengt. Das bedeutet jedoch nicht, dass damit, wie Kant das der vormaligen Metaphysik vorgeworfen hat, der Boden der Erfahrung verlassen würde: Denn dialektisches Denken ist konkretes und begreifendes Denken, das seine Erkenntnisgegenstände in ihrer bestimmten Negativität, also das positive, in sich bestimmte Endliche im Zusammenhang seines Anderen versteht, wie Hegel das ausdrückt. Wenn es in der Dialektik vor allem darum geht, die konkrete, bewegte Beziehungseinheit Verschiedener zu denken, kann man sich durchaus die Frage stellen, warum dann in der Dialektik auf eine so spekulative Fragestellung wie die nach der Totalität nicht verzichtet werden kann. Ich will die Antwort, bevor ich sie am Beispiel eines klassischen Philosophen, der in der Dialektik bisher keine prominente Rolle gespielt hat, diskutiere, kurz thesenhaft angeben, damit sie die Interpretation als Grundgedanke strukturieren und ihren Nachvollzug orientieren kann: In der Dialektik denken wir immer bestimmte Beziehungen und Veränderungen, brauchen jedoch einen Grenz begriff des Absoluten, um verständlich machen zu können, dass Veränderungen und Relationen den Gegenständen der Erkenntnis nicht nur akzidentell zukommen, sondern dass sie Strukturen der Negativität ausmachen, die alles Wirkliche wesentlich und durchgängig bestimmen. Genau das jedoch ist, wie schon mehrfach gesehen, das Grundproblem jeder Dialektik. Der klassische Philosoph der Dialektik als Theorie der Totalität ist Hegel. Seine Logik ist die kategoriale Gesamtkonzeption dieses Programms der Dialektik als Theorie des Absoluten. Es ist ganz unmöglich, über ein so umfassendes philosophisches Projekt hier auf wenigen Seiten etwas zu sagen.132 Ich will deshalb aus Hegels Wissenschaft der Logik ist der idealistische Systementwurf einer Dialektik als Logik des Gesamtzusammenhangs. Den Versuch einer materialistischen Aufhebung Hegels, die jedoch am Anspruch einer Dialektik als Theorie des Gesamtzusammenhangs festhält, macht Hans Heinz Holz in seiner Widerspiegelungstheorie, die ebenfalls hier auf wenigen Seiten nicht diskutiert werden kann (vgl. Weltentwurf und Reflexion, a. a. O., und Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, a. a. O., Bd. 5, S. 25 ff.)
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zwei Gründen das Problem anhand eines eher abseitigen Textes diskutieren. Zum einen, weil Cusanus dieses Problem schon im Titel negativ bestimmt: De non-aliud bezeichnet das Absolute als das Nicht-Andere, sagt also schon, dass nichts positiv Bestimmtes darüber ausgesagt werden kann; zum anderen denkt Cusanus – ein für unseren Zusammenhang einer Dialektik der Gegenwart höchst bedeutsamer Umstand – dieses Nicht-Andere streng als Simultaneität und Dauer. Ein dritter guter Grund mag sein, einen aus dem Mittelalter heraustretenden Autoren, der gemeinhin nicht mit der Theorie der Dialektik verbunden wird, in ihren Diskussionszusammenhang einzuführen.133 In dem Dialog unterhalten sich zwei Neuplatoniker, die über Proklos arbeiten, und der Aristotelesforscher Ferdinand mit Cusanus, wobei dieser die gesamte Unterredung unter das rationale Begründungsgebot der Philosophie stellt, was darauf hindeutet, dass Cusanus eben schon ein Denker der ‚Zwischenwelt‘ (Ernst Bloch) bzw. der ‚Epochenschwelle‘ (Hans Blumenberg) ist, der das klare Unterordnungsverhältnis der ratio unter die auctoritas, das das klassische Mittelalter prägt, schon hinter sich zu lassen beginnt: Er spricht unter der Bedingung, „daß du alles, was du von mir zu hören bekommst, als unbedeutend verwirfst, außer dein Verstand zwingt dich dazu, beizustimmen“134. Das Begründungsgebot ist also der Ausgangspunkt der Frage nach dem Absoluten. Dieses Detail ist sehr wichtig für den Status des Begriffs der Totalität in der Dialektik: Nur wenn der Anspruch besteht, die oben entwickelten Strukturen aus einem Begründungszusammenhang heraus zu verstehen, wird die Frage nach dem Gesamtzusammenhang unabweisbar. Ausgangspunkt der Diskussion ist die Definition als Grundlage des Wissens und von Aussagen über Wirkliches. Jede Definition jedoch gerät sofort in die Dialektik der Negativität, weil sie eine Grenze bestimmt und damit etwas Bestimmtes gegen Anderes abgrenzt: „Das Definierte ist in seiner Selbigkeit definiert durch die Andersheit des Anderen; aber dieses ist eben in sich auch ein Selbiges.“135 Die Dialektik der Reflexionsbestimmungen von Identität und Andersheit kommt sofort ins Spiel, und deshalb drängt Nikolaus im Dialog auf eine Definition des Nicht-Anderen. Mir geht es in diesem Abschnitt allein darum, das Grundproblem der Totalität als Grenzbegriff der Welt im ganzen herauszuarbeiten. 133 Nikolaus von Kues, „De non-aliud/Das Nicht-Andere“. In: Philosophisch-Theologische Schriften. Lateinisch-Deutsch. Herausgegeben und eingeführt von Leo Gabriel. Übersetzt und kommentiert von Dietlind und Wilhelm Dupré, Freiburg 2014, Bd. II, S. 443 ff.; zur Interpretation des Cusanus als Dialektiker vgl. Hans Heinz Holz, Dialektik, a. a. O., Bd. 2, S. 645 ff.; vgl. auch Jörg Zimmer, „Cogitavi invenire ludum sapientiae. Gedanken über das Globusspiel von Cusanus“. In: Claudia Wirsing (Hrsg.): Auf Nietzsches Balkon II. Philosophische Beiträge aus der Villa Silberblick. Weimar 2012, S. 138 ff. 134 Nikolaus von Kues, „De non-aliud“, a. a. O., S. 445. 135 Holz, Dialektik, a. a. O., Bd. 2, S. 650.
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Ferdinand, der die Schwierigkeit sieht, etwas zu definieren, ohne es gegen etwas Anderes abzugrenzen, entgegnet ihm, das Nicht-Andere sei nichts anderes als es selbst, woraus wiederum Nikolaus schließt, „daß das Nicht-Andere, da es von nichts Anderem definiert werden kann, sich selbst definiert“136. Das aber bedeutet, dass es von ihm gar keine Definition geben kann: „Die Definition der Welt ist das Definierte. Die Welt ist vor jedem Einen, das sich von einem Anderen abhebt und das also selbst das Andere des Anderen ist. Sie ist das schlechthin Eine, zu dem es kein Anderes gibt, das Nicht-Andere.“137 Innerhalb des Ganzen als dialektischer Beziehungseinheit gibt es nur Andere – nur das Ganze selbst als Einheit aller Beziehungen ist nicht relativ und also ein NichtAnderes. Das bedeutet: Alles innerweltlich Seiende ist durch Andersheit definiert, ist das Eine eines Anderen – und damit das Ganze als Einheit aller Beziehungen aufzufassen, als eine Gesamtstruktur also, die selber nicht in Beziehung stehen kann: „Denn da das andere nichts anderes ist als das Andere, setzt es das Nicht-Andere, ohne das es kein Anderes wäre, durchaus voraus.“138 Der Einheitsgrund aller innerweltlichen Verhältnisse ist das Ganze oder Absolute selbst. Die Pointe der Argumentation von Cusanus liegt nun, wie schon gesagt, in der negativen Bestimmung des Absoluten als des Nicht-Anderen, dessen „entfaltete Definition“ darin besteht, „nichts-anderes als das Nicht-Andere“139 zu sein. Dieses Nicht-Andere als Totalität ist Grund und Bedingung alles innerweltlich Seienden: „was immer als Anderes erscheint, erscheint nur insofern als Anderes, als das Nicht-Andere erscheint. (…) Das Andere nämlich, das in der Abhängigkeit von einem Andern ein Anderes ist, entbehrt gerade das, auf Grund dessen es ein Anderes ist. Das Nicht-Andere aber entbehrt, eben weil es keinem gegenüber ein Anderes ist, nichts noch kann außer ihm etwas sein.“140 Dieses Ganze als selber bedingungslose Bedingung der Verhältnisstruktur, die es definiert, nennt Cusanus dann Gegenwart. Momentum est temporis substantia: „Der Augenblick ist der Grundbestand der Zeit; ohne ihn bliebe nichts von der Zeit. (…) Er scheint die Grundbestandlichkeit selbst (ipsa substantialitas) zu sein. Würde diese Dauer genannt werden, so ließe sich leicht erkennen, daß er in der Ewigkeit Ewigkeit, in der Zeit Zeit, im Monat Monat, im Tag Tag, in der Stunde Stunde und im Augenblick Augenblick ist. Dasselbe gilt für alles, das an der Dauer teilhat. Und die Dauer ist keinem gegenüber, das dauert, ein Anderes. Am meisten gilt das für
Nikolaus von Kues, „De non-aliud“, a. a. O., S. 447. Holz, Dialektik, a. a. O., Bd. 2, S. 649. 138 Nikolaus von Kues, „De non-aliud“, a. a. O., S. 451. 139 Ebd., S. 463. 140 Ebd., S. 461 und 465. 136 137
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den Augenblick, das Jetzt, das beständig dauert.“141 Das Jetzt, den Augenblick und die Dauer nennt Cusanus praesentia – und sagt von dieser Gegenwart, dass sie am Nicht-Anderen ‚teilhabe‘. Das ist ein wesentlicher Aspekt der cusanischen Spekulation: Denn indem er Totalität mit Gegenwart gleichsetzt, wird Totalität als Simul taneität im Augenblick denkbar, aus der, als ein selbst der Andersheit Entzogenes die Dimensionen der Negativität, also die Beziehungsstruktur der Andersheit und die Veränderung in der Zeit entspringt. Aus dem Jetzt denkt Cusanus die Zeit. Ferdinand spricht das aus: „Ich sehe schon deutlich, daß die Gegenwart der Ursprung von Erkennen und Sein aller Unterschiedlichkeit und Verschiedenheit aller Zeiten ist. Durch die Gegenwart erkenne ich das Vergangene und das Zukünftige. (…) Und obwohl sie alles in allem ist und sich auf alles bezieht, kann sie von nichts erfaßt werden und bleibt beständig ohne Andersheit.“142 Selbstverständlich hat dieser spekulative Gedanke des Cusanus auch einen theologischen Hintergrund. Die streng kategoriale Bestimmung des Absoluten als das Nicht-Andere bedeutet eine Zuspitzung der negativen Theologie, die Cusanus in seinem Denken von Anfang an vertreten hat und die im Spätwerk eine radikale Neufassung erhält. Negative Theologie bedeutet, kurz gesagt, dass über Gott nichts gesagt werden kann, weil er alles endliche Vorstellen und Denken transzendiert. Das hat den Cusaner unter anderem zu einer Haltung der Toleranz anderen Religionen gegenüber geführt.143 Streng philosophisch gefasst, ist diese theologische Position dann ein nur noch negativer Grenzbegriff des Absoluten als Nicht-Anderes. Ferdinand spricht das aus: „Während alle anderen den ersten Ursprung Gott nennen, scheinst du ihn als das Nicht-Andere bezeichnen zu wollen“144 Cusanus macht diesen Perspektivwechsel in seinem Denken im Dialog durchaus explizit: „Auf welche Weise er (Gott, J. Z.) sich mir früher sichtbar darstellte, kannst du in vielen Büchern nachlesen. Nun aber zeigt er sich vor allem aus dem Grund, weil er sich selbst definiert, in diesem Spiegelbild von der Bedeutung des Nicht-Anderen fruchtbarer und klarer… “145 Klar wird an dieser Stelle jedoch auch, dass man die höchst sparsame Ebd., S. 519 f. Ebd., S. 521. 143 Zu dieser Toleranz anderen Religionen gegenüber, die auf dem Grundgedanken beruht, dass, wenn niemand an das Göttliche heranreicht, gegenüber der Verschiedenheit religiöser Vorstellungen Duldsamkeit angezeigt ist, vgl. Nikolaus von Kues, „De pace fidei“ (Philosophisch-theologische Schriften III, S. 705 ff.), „De visione Dei“ (ebd., S. 93 ff.) und „Cribatio Alkorani“ (ebd., S. 799 ff.); zu den theologischen Aspekten von „De non-aliud“ vgl. Max Rohstock, De non aliud/Das Nichtandere. In: Marco Brösch, Walter Andreas Euler, Alexandra Geissler und Viki Ranff (Hgg.), Handbuch Nikolaus von Kues. Leben und Werk, Darmstadt 2014, S. 245 ff. 144 Nikolaus von Kues, „De non-aliud“, a. a. O., S. 449. 145 Ebd., S. 463. 141 142
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Auffassung des Absoluten als Nicht-Anderes auch ohne Berücksichtigung seiner theologischen Implikationen und Konsequenzen aufnehmen kann, um Totalität als Strukturganzes der Negativität zu denken. Es ist hier nicht der Ort, dieser theologischen Fragestellung nachzugehen, da es mir nur um den dialektischen Gehalt des Grundgedankens des Cusanus geht: Folgen wir seinen Ausführungen zur Gegenwart, so ergibt sich vom Begriff des NichtAnderen aus die Möglichkeit, Totalität als Strukturganzes der Andersheit, also als simultane Einheit von Beziehungen zu begreifen, ein Gedanke, der dann Veränderung nicht aus der Verlaufsform von Entwicklung, sondern aus der Gegenwart her aus bestimmen kann. Die diachrone und die synchrone Dimension der Negativität, die im dialektischen Denken immer als Einheit zweier Momente verstanden werden müssen, können vom Grundgedanken des Absoluten als Nicht-Anderes von der Simultaneität der Gegenwart her konzipiert werden: Gegenwart ist eine Konstellation von Beziehungen, aus der heraus Zeit, d. h. Veränderung entsteht. Welche Folgen ein solcher Perspektivwechsel in der dialektischen Theorie für das Gebiet der Praxis und des politischen Denkens haben kann, wird Gegenstand der folgenden Kapitel sein.146 Doch zunächst bleibt die Frage zu klären, welche Bedeutung dieser Perspektivwechsel für einen dialektisch-materialistischen Begriff des Absoluten hat. Der Begriff des Absoluten wird in der Philosophie des deutschen Idealismus geprägt. Hans Heinz Holz hat ihn für die Konzeption einer materialistischen Dialektik aufgenommen. Ich hebe nur einige Grundbestimmungen hervor, die er in seinem einschlägigen Enzyklopädieartikel zu dieser Frage entwickelt hat147: Schon in der klassischen Metaphysik, etwa bei Aristoteles und der an ihn anschließenden Tradition, ist von der arché als voraussetzungslosem Ersten die Rede. In der Dialektik Hegels wird das Absolute nicht mehr als absolute Substanz, sondern als absolutes Verhältnis gedacht, mit anderen Worten also als Inbegriff der Totalität als in sich bewegte Einheit von Verhältnissen. Das Absolute ist jedoch auch in einer materia listischen Dialektik als Theorie materieller Verhältnisse die nichtrelative Totalität, ein Grenzbegriff des Ganzen also, der denkbar macht, dass jedes Einzelne in diesem Ich will an dieser Stelle nur vorwegnehmen, in welchem Sinne der genannte Perspektivwechsel Auswirkungen auf das Konzept auch einer dialektischen Theorie des Politischen hat: In der Tradition der marxistischen Dialektik war eine an der historischen Entwicklung (um nicht zu sagen: eine geschichtsphilosophisch) orientierte Sicht auf Gegenwart dominant, in der sie zum Übergang in die Zukunft wurde. Es ergibt einen ganz anderen, auch politisch-strategisch anderen Blick auf die Bewertung einer gegenwärtigen Wirklichkeit, sie von den gegebenen Widersprüchen einer Zeit und auch den in einer gleichzeitigen gesellschaftlichen Gesamtsituation anwesenden Bedürfnissen her zu denken, die sie für sich selbst reflektiert und bestimmt und nicht nur als Übergang in die Zukunft. 147 Hans Heinz Holz, Dialektik. In: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, a. a. O., S. 32 ff. 146
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Ganzen von Verhältnissen seinen Ort hat. Holz hält fest, dass das Absolute auch für „den Entwurf eines materialistischen Weltmodells“ unverzichtbar ist, weil nur durch einen Begriff des Absoluten „die Bestimmung der Relativität des Relativen ermöglicht wird.“148 Das entspricht genau der Auffassung des Absoluten als Nicht-Anderem, als einzig Nicht-Relativem also, das alles als in Verhältnissen stehend und sich in Verhältnissen entwickelnd denkbar und darstellbar macht. Die Frage nach der Totalität entspringt jedoch einem praktischen Verhältnis zur Wirklichkeit und hat Relevanz für die Praxis: „Nicht das Ganze, das Unbedingte, das Unendliche ist es, womit wir beginnen, sondern das Einzelne, Bedingte, Endliche. (…) Aber weil das Endliche über sich hinausweist auf Anderes, gehen wir denkend über die Sinnlichkeit hinaus und machen die Denkerfahrung, dass das Endliche, Bedingte, Bestimmte ‚die unendliche Kette der Bedingungen‘ in sich enthält. So stößt der handelnde Mensch, weil er sich inmitten der endlichen materiellen Erfahrungsgegenstände orientieren will, auf das Unendliche und Absolute.“149 Auch diese immer gegenwärtige, nämlich immer in einem gegenwärtigen materiellen Verhältnis reflektierte materielle Einheit der Welt gibt es als Ganze nur im Begriff – und nur ein Begriff dieses Ganzen ermöglicht es, die Praxis aus dem Gesamtzusammenhang materieller Verhältnisse bewusst und kohärent zu gestalten.
Ebd., S. 40. Holz, Weltentwurf und Reflexion, a. a. O., S. 74.
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V Theorie und Praxis I: Priorität des Ethischen
Seine Haltung ist des Menschen Dämon. Heraklit B 119
Die exzentrische Position des Menschen als materiales Apriori der Praxis Dialektik, in welcher Form auch immer sie systematisch vorgetragen wird, zielt darauf, Verhältnisse und ihre Entwicklung zu denken. Das ist, wie gesehen, schon so in Platons Sophistes und seiner Frage nach dem me on, also dem über das substantielle Seiende hinausgehende Nichtseiende, dem als Schein aber doch eine Wirklichkeit zukommt. Das wird bei Hegel in Form einer Logik substantieller Verhältnisse wiederaufgenommen und auch in Marx’ Anspruch, materielle Verhältnisse zu denken, wird diese Grundannahme der Dialektik einzulösen versucht. Helmuth Plessner hat mit seiner anthropologischen Theorie der exzentrischen Position eine Struktur des menschlichen Weltverhältnisses freigelegt, die gerade für die Frage der Dialektik nach den allgemeinen strukturellen Bedingungen des praktischen Verhältnisses des Menschen zur Wirklichkeit fruchtbar gemacht werden kann.150 Dass Plessner diese Grundstruktur menschlicher Wirklichkeit in die Natur eingebettet und aus ihrem Zusammenhang heraus verstanden wissen will, zeigt sich schon an seiner Unterscheidung von anorganischer und organischer Natur: Ein anorganischer Körper wie etwa ein Stein ist in Raum und Zeit, der anorganische, lebendige Körper dagegen verhält sich zu seiner räumlichen Umgebung. Im Unterschied zum Stein jedoch, der in seiner Verortung und seiner akzidentellen Lageveränderung aufgeht, „sind die belebten Dinge zu ihrem Ort in Raum und Zeit in Beziehung.“151 Damit wird der Organismus als eine in sich dialektisch verfasste Erscheinung der Natur verstanden, und Plessner hält das auch fest, indem er diese Wirklichkeit des Organischen vom Begriff der Grenze her begreift, die die Positionalität der verschiedenen Lebensformen bestimmt: „Das über ihm Hinaussein, das in ihm Hineinsein, konstitutive Merkmale eines Körpers, der ‚in‘ seinen Grenzen ist, macht ihn zu einem in den Raum hinein, in die Zeit hinein Seienden. (…) Positionalität heißt Gesetztheit, ein In sich Vermitteltsein.(…) Der raum-zeitliche Körper ist somit ein in ihm selbst vermittelter, d. h. Vgl. Hans Heinz Holz, Mensch-Natur. Helmuth Plessner und das Konzept einer dialekti schen Anthropologie, Bielefeld 2003. 151 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philoso phische Anthropologie (1928). Berlin/New York 1975, S. 182. 150
V Theorie und Praxis I
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Raumform und Zeitform rücken aus der Stellung bedingender äußerer Formen in die Stellung bedingter ‚innerer‘ Seinscharaktere.“152 Der organische Körper ist nicht nur im Raum und in der Zeit, sondern ist darüber hinaus dadurch charakterisiert, dass er Raum und Zeit als Medien seiner Entfaltung schafft bzw., um es mit dem präzisen Ausdruck Husserls zu sagen: er modifiziert den Raum und die Zeit. Plessner beschreibt hier die Grundstruktur gegenständlicher Tätigkeit, nämlich dass im Naturzusammenhang das Eine immer als Eines am Anderen, als im Ganzen der Natur Situiertes und in dieser Situiertheit sich Verhaltendes und Agierendes zu verstehen ist. Im Unterschied zum Stein, der einfach daliegt und allenfalls durch äußere Einwirkungen verändert (z. B. vom Wasser ausgewaschen oder bewegt) wird, tritt beim Lebewesen eine innere Kraft hinzu, die das Verhältnis zum Anderen vom Mechanischen auf die Ebene dialektischer Wechselwirkung hebt. Die Pflanze wendet sich heliotropisch der Sonne zu, und das Tier als ‚konzentrische‘ Lebensform hat schon einen wenn auch instinktgebundenen Verhaltensspielraum. Seine Umgebung gliedert sich konzentrisch um seine Leibmitte, die es jedoch nicht erfassen und reflektieren kann. Dies ist der menschlichen Lebensform vorbehalten, die Plessner ‚exzentrische Position‘ nennt und zunächst von der tierischen Position abgrenzt: „Die Schranke der tierischen Organisation liegt darin, daß dem Individuum sein selber Sein verborgen ist, weil es nicht in Beziehung zur positionalen Mitte steht, während Medium und eigener Körperleib ihm gegeben, auf die positionale Mitte, das absolute Hier-Jetzt bezogen sind. (…) Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte.“153 Gegenüber dieser konzentrischen Lebensform ist das menschliche Leben und seine Ausstattung mit Selbstbewusstsein durch seine exzentrische Position gekennzeichnet: „Damit ist die Bedingung gegeben, daß das Zentrum der Positionalität zu sich selbst Distanz hat, von sich selbst abgehoben die totale Reflexivität des Lebenssystems ermöglicht. (…) Sein Leben aus der Mitte kommt in Beziehung zu ihm, der rückbezügliche Charakter des zentral repräsentierten Körpers ist ihm selbst gegeben. Obwohl auch auf dieser Stufe das Lebewesen im Hier-Jetzt aufgeht, aus der Mitte lebt, so ist ihm doch die Zentralität seiner Existenz bewußt geworden.“154 Der Mensch lebt also einerseits wie das Tier aus seiner Leibmitte heraus, hat jedoch andererseits zu dieser Naturseite seiner Existenzform ein reflektiertes Verhält nis. Naturbindung und Weltoffenheit bilden eine dialektische Einheit, indem der Mensch weder ganz Natur noch allein ein geistiges Wesen ist, sondern das Verhältnis dieser Doppelaspektivität seiner Existenzform zum Austrag bringt und im Verhalten zum Ausdruck bringen muss. Die Geistigkeit des Menschen als selbstbewusstes Ebd., S. 183. Ebd., S. 288. 154 Ebd., S. 290. 152 153
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V Theorie und Praxis I
Wesen ist nicht, wie in der Philosophie von Descartes bis Kant dargestellt, das erste Prinzip oder ein nur formales Apriori seines Wirklichkeitsverhältnisses, sondern muss aus den Bedingungen seiner natürlichen Verfasstheit begriffen werden. Die Wirklichkeit des Menschen – und das ist der genuin dialektische Grundgedanke Plessners – entsteht aus der inneren Widersprüchlichkeit der Doppelaspektivität seiner Lebensform, nämlich leibzentrierte Reflexivität bzw. naturgebundene Welt offenheit zu sein: „Beide Aspekte bestehen nebeneinander, vermittelt lediglich im Punkt der Exzentrizität, im unobjektivierbaren Ich.“155 Mit anderen Worten: Der Mensch ist von seiner Natur her auf Kultur angelegt. Er ist auf diese Bildung seiner Wirklichkeit durch kulturelle Vermittlungsleistungen einerseits angewiesen, in seiner Verwirklichung durch Kultur jedoch zugleich auf Natur zurückverwiesen. Da Selbstbewusstheit bzw. Reflexivität zu seiner natürlichen Ausstattung gehören, nennt Plessner die Reflexivität der menschlichen Lebensform ein ‚materiales Apriori‘. Ein Apriori ist nach Kant eine Bedingung der Möglichkeit, etwas schlechthin Bedingendes. Seit Kant werden darunter logisch-formale bzw. transzendentale Voraussetzungen verstanden. Indem Plessner die Materialität des Apriori bzw. der konstitutiven Bedingung menschlicher Reflexivität und Ausstattung mit Selbst bewusstsein betont, versteht er sie als eine Struktur, die zwar die Abhebung von Natur ermöglicht, nicht jedoch Ablösung von Natur bedeuten kann, da Reflexivität ja ihre materiale Voraussetzung in der Natur selbst hat. Die ‚Sonderstellung‘ des Menschen, um die Prägung Max Schelers aufzunehmen, ist in der Konzeption Plessners also eine Auszeichnung des Menschen innerhalb des Gesamtzusammenhangs der Natur: Die ‚Stufen des Organischen‘ sind strukturelle Besonderheiten im Selbstunterschied der Natur. Der Mensch ist, wie Plessner sich ausdrückt, ‚natürliche Künstlichkeit‘, also von Natur aus auf Abhebung von ihr durch Kultur angelegt. Der Mensch kommt hinter sich, aber nur auf Umwegen durch konstitutive Indirektheit auch zu sich, nämlich zu einer Wirklichkeit und wird so zum Zuschauer seiner eigenen Lebensvollzüge. Diese conditio humana der reflektierten Lebendigkeit des Menschen macht seine Existenz zu einer unhintergehbar problematischen Lebensform, weil sie sich weder in der Unmittelbarkeit ihrer Natürlichkeit noch in den Vergegenständlichungen ihrer kulturellen Leistungen ganz verwirklichen kann. Plessner spricht in diesem Zusammenhang der intrinsischen Widersprüchlichkeit des menschlichen Wesens selbst von Dialektik: „Diese dialektische Struktur, die im Wesen der Exzentrizität liegt, macht das Selbstsein zur Innenwelt, welches man in sich spürt, erleidet, durchmacht, bemerkt und welches man ist (…) Wirkliche Innenwelt: das ist die Zerfallenheit mit sich selbst, aus der es keinen Ausweg, für die es keinen Ausgleich gibt…“156 Ebd., S. 295. Ebd., S. 299.
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In den kategorialen Rahmen der Dialektik übertragen bedeutet dies die Einheit von Welt- und Selbstverhältnis, die aller Wirklichkeit des Menschen ihre Grundstruktur als dialektisches Reflexionsverhältnis gibt: Immer, wenn der Mensch bei Anderem in der Welt ist, kommt er auf sich zurück, und er kann sich nicht auf sich beziehen, ohne in und bei der Welt zu sein. Bei aller Anwesenheit bei Anderem durch die Beziehungen zur Wirklichkeit bringt sich immer zugleich sein Verhältnis zu sich selbst zum Ausdruck. Und genau in diesem Zusammenhang der reflexiven Grundstruktur menschlicher Wirklichkeit spricht Plessner von der gegenständlichen Gegebenheit der Welt: „Der Mensch lebt in einem Umfeld von Weltcharakter. Dinge sind ihm gegenständlich gegeben, wirkliche Dinge, die in ihrer Gegebenheit von ihrer Gegebenheit ablösbar erscheinen“; Plessner spricht von einer Erscheinung, „die freilich zur Wirklichkeit gehört, aber nicht die ganze Wirklichkeit offenbart und in der Gegenständlichkeit allein die dem Subjekt zugekehrte Seite des Wirklichen reell, d. h. direkt präsentiert.“157 Das führt in der Argumentation der Anthropologie exzentrischer Positionalität jedoch nicht in erkenntnistheoretischen Idealismus, eben weil der Gedanke einer gegenständlichen Vermittlung des Menschen mit der Welt leitend bleibt. Eine der großen Leistungen der Philosophie Plessners ist es, die Bewusstseinsimmanenz aller menschlichen Wirklichkeit festgestellt zu haben, ohne dabei die Wirklichkeit des Menschen in eine subjektivistische Bewusstseinsphilosophie einzuschließen: „Seine Situation ist die Bewußtseinsimmanenz. Alles, was er erfährt, erfährt er als Bewußtseinsinhalt und deshalb nicht als etwas im Bewußtsein, sondern außerhalb des Bewußtseins Seiendes. Weil der Mensch exzentrisch organisiert und damit hinter sich gekommen ist, lebt er in Abhebung von allem, was er und was um ihn ist.“158 Damit ist die Einheit von gegenständlichem Weltverhältnis und der Bewusstseinsimmanenz der Gegebenheit dieses Weltverhältnisses im Selbstverhältnis ausgesprochen. Im Selbstbewusstsein wird das Lebewesen Mensch sich in seiner Beziehung zur Umwelt selbst reflexiv. Diese exzentrische Reflexivität bedeutet Einheit von Weltund Selbstbeziehung im Selbstbewusstsein. Diese anthropologische Grundverfassung leibzentrierter Bewusstseinsimmanenz bedeutet jedoch auch, dass der Mensch keine unmittelbaren, direkten Zugänge zur Wirklichkeit haben kann, sondern alle Realität erst durch indirekte Bildungen schaffen muss: „Die Exzentrizität bedeutet für den so Gestellten einen in sich unlösbaren Widerspruch. (…) Das Hier, in dem er lebt und auf das die gesamte Umwelt in Totalkonvergenz bezogen ist, das absolute, nicht relativierbare Hier-Jetzt seiner Position, nimmt er zugleich ein und nicht ein. Er ist in sein Leben gestellt, er steht ‚dahinter‘, ‚darüber‘ und bildet daher die aus
Ebd., S. 327. Ebd., S. 328.
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dem Kreisfeld ausgegliederte Mitte der Umwelt.“159 Der Mensch ist damit ein kon stitutiv unverwirklichtes und deshalb ein geschichtliches Wesen: er steht immer „in der Mitte zwischen den beiden Möglichkeiten des Prozesses“, und in dieser Expressi vität seines Wesens „liegt der eigentliche Motor für die spezifisch historische Dynamik menschlichen Lebens.“160 Darin, nämlich in seiner Unergründlichkeit, liegt der Grund, warum der Mensch „nach immer anderer Verwirklichung drängt und so eine Geschichte hinter sich zurückläßt.“161 Unergründlichkeit bedeutet: Der Mensch muss sich immer wieder aufs Neue in historischen Ausdrucksformen seiner Existenz suchen und zu begreifen versuchen.
Situationsethik und Begriff der Freiheit Von Heraklit stammt der Satz: „Seine Haltung (ethos) ist des Menschen Dämon (daimon)“. Der Mensch muss ein Leben führen. Er ist bewusstes Verhalten zu seinem Grenze-Sein, und das macht den dialektischen Charakter seiner Existenzform aus.162 Menschliches Verhalten ist dabei nicht nur durch seine Grenze zur Umwelt bestimmt, sondern drückt sein eigenes Grenze-Sein in seiner Tätigkeit bewusst aus. Der Mensch ist und bleibt sich selbst Frage, und diese Fraglichkeit beginnt in jedem einzelnen Menschen immer wieder aufs Neue. Er muss ein Verhältnis und eine Haltung zu seinem Leben gewinnen – und deshalb steht die ethische Frage nach dem einzelnen guten Leben unhintergehbar am Anfang jeder Reflexion auf Praxis. Diese Frage nach dem guten Leben ist in der Tradition dialektischen Denkens nicht selten vernachlässigt worden. Das liegt zum einen daran, dass die moderne Dialektik – klassisch in Hegels Distanzierung von Kants Moralphilosophie – sich zunächst daran machte, die Gestalt einer normativen Theorie, die die Ethik in der Neuzeit angenommen hatte, zu kritisieren, weil diese in ihren Abstraktionen von den konkreten gesellschaftlichen und historischen Bedingungen absehen musste, die das praktische Verhältnis der Menschen zu ihrer Wirklichkeit ausmachen. So berechtigt diese Kritik auch ist: Es bleibt auch für die Dialektik die Priorität der Frage des Einzelnen nach den Kriterien seiner Lebensführung. Man muss hinter die normative Ethik der Neuzeit zurückgehen und Aristoteles’ Frage nach dem guten Leben wiederaufgreifen, um einen angemessenen philosophischen Zugang zur Praxis zu 161 162 159 160
Ebd., S. 342. Ebd., S. 339. Ebd., S. 338. Vgl. Jörg Zimmer, „Dialektik der Grenze. Reflexivität als conditio humana in Helmuth Plessners Anthropologie der exzentrischen Positionalität“. In: Topos, H. 10 (1998), S. 67 ff.
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gewinnen. Das ethos oder die Haltung, von der Heraklit spricht, wird in der eudämonistischen Ethik von Aristoteles systematisch reflektiert. Ziel der Ethik des Aristoteles ist das Gute, „wonach alles strebt“163, und als höchstes Gut wird ein Ziel betrachtet, das die Menschen um seiner selbst willen erstreben. Aristoteles bezeichnet die eudaimonia als dieses höchste Gut des Menschen. Dieser Begriff muss gegen seine Konnotierung mit absoluter Glückseligkeit, die durch das Christentum leitend geworden ist, wieder in seiner griechischen Bedeutung verstanden werden: Das Wort bezieht sich allenfalls darauf, dass ein Leben unter dem Schutz einer Gottheit und also unter guten Vorzeichen steht, meint aber bei Aristoteles vor allem ein dauerhaft gutes, ein gelungenes Leben, das der Mensch durch sein eigenes Tun befördern muss. Das Glück „liegt im Tätigsein der Seele gemäß der Tugend“ als dem „best-möglichen Gebrauch, den Menschen von den sie auszeichnenden Fähigkeiten machen können.“164 Tugend hat also bei Aristoteles nichts mit normativen oder religiösen Vorgaben zu tun, durch die der Begriff heute etwas Altbackenes bekommen hat, sondern meint die Entwicklung einer Disposition durch die Einübung von Haltungen. Tugend (aretê) entwickeln bedeutet, die eigenen natürlichen Anlagen möglichst gut auszubilden. Es ist leicht zu sehen, dass man moderne Vorstellungen der Ethik als normative Theorie der Begründung menschlichen Handelns fernhalten muss, um Aristoteles’ Grundabsicht verstehen zu können: seine Reflexion auf menschliches Handeln bezieht sich nicht (bzw. erst wenn es um den Begriff der Gerechtigkeit geht) auf den Anderen, sondern es geht ihm um Selbstsorge oder um die Frage, wie der einzelne Mensch handeln soll, damit er ein gutes, ein erfülltes Leben führen und dauerhaft erhalten kann. Aristoteles sagt ausdrücklich und mit deutlicher Abgrenzung gegen den klasssischen Platon, der die Tugend als Wissen bestimmt hatte, dass das menschliche Handeln nicht durch Ideen, sondern vom Tätigsein selbst her verstanden werden muss. Die systematisch wichtige Unterscheidung, die Aristoteles zwischen dianoetischer (rationaler) und ethischer Tugend trifft, ist Ausdruck dieser Grundeinsicht: „Die rationale Tugend entsteht und wächst überwiegend durch Belehrung, daher erfordert sie Erfahrung und Zeit, die ethische Tugend dagegen ergibt sich aus der Gewohnheit; von daher hat sie auch ihren Namen erhalten, der nur geringfügig von ‚Gewohnheit‘ abweicht. Daraus wird zudem deutlich, dass keine der ethischen Tugenden in uns von Natur aus entsteht.“ Und weiter spezifizierend heißt es: „Die Tugenden entstehen daher bei uns weder von Natur aus noch auch gegen die Natur, sondern wir sind zwar von Natur aus dazu veranlagt, sie anzunehmen, vollkommen
Aristoteles, Nikomachische Ethik. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Dorothea Frede. In: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6, Berlin/Boston 2020, S. 3 (1094 a). 164 Frede, Kommentar in ebd., S. 355. 163
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werden wir darin aber durch die Gewöhnung.“165 Die etymologische Anspielung, die Aristoteles hier macht, trifft den Kern des Gedankens: êthos mit langem Êta bedeutet ‚Charakter‘, während ethos mit kurzem Epsilon ‚Gewohnheit‘ meint.166 Ethik als Lehre der ethischen Tugenden ist philosophische Reflexion auf die Charakterbildung durch Gewöhnung – also durch Lebensführung. Es ist die habituelle Tätigkeit der Seele, also die Einübung von Dispositionen, die darüber entscheidet, ob und inwiefern wir gut leben. Die Natur gibt Anlagen, die aber durch Lebensführung zu Dispositionen und Haltungen entwickelt werden müssen. Wenn Plessners anthropologische Grundannahme richtig ist, dass der Mensch in seinem Verhalten durch Kultur und Gesellschaftlichkeit Gleichgewichte herstellen muss, die ihm die Natur verweigert, dann ist die aristotelische Ethik eine klassische Antwort auf dieses Problem: Aristoteles entwickelt die Tugend als Mittehaltung. Mit der Anweisung, stets den Mangel und das Übermaß zu meiden und das Mittlere zu suchen, ist ein weiterer Grundzug der aristotelischen Ethik verbunden, der für das Problem eines dialektischen Ethikbegriffs bedeutsam ist: Aristoteles entwickelt eine Situationsethik, d. h. es gibt kein allgemeines, immer anwendbares Prinzip, sondern ethische Bestimmungen sind ihrem Wesen nach ungenau (bzw. besser: unpräzis), da sie das Mittlere immer nur annäherungsweise und abhängig von der Situation erfassen können: „Auf dem Gebiet der Handlungen und des Nützlichen gibt es aber nichts Beständiges, so wenig wie bei dem, was der Gesundheit dient. Wenn sich nun schon die Erklärung des Allgemeinen so verhält, dann hat die Erklärung des Einzelfalls noch weniger Genauigkeit. Denn sie fällt weder unter eine Kunst noch unter eine Anordnung, sondern die Handelnden selbst müssen das dem Augenblick Angemessene finden, so wie es auch in der Medizin und in der Navigation geschieht.“167 Aristoteles gibt uns Argumente an die Hand, Versuche der modernen normativen Ethik zurückzuweisen, menschliches Handeln in abstrakte Prinzipien einzuschließen, aber auch Hinweise, um die Komplexität einer Handlung zu verstehen: das dem kairos Angemessene zu tun bedeutet, den in einer Situation anwesenden Bedingungen und Möglichkeiten durch reflektiertes und maßvolles Handeln Rechnung zu tragen. Der Vergleich mit der Seefahrt verweist metaphorisch auf das Unwägbare jeder Situation, aber auch, dass Handeln unter objektiven Bedingungen steht, die nur teilweise beherrschbar sind.168 Auch der Vergleich zur Medizin ist erhellend: Denn sie zielt im griechischen Gesundheitsverständnis auf ein Gleichgewicht, das der Arzt in jedem Augenblick durch richtiges diätetisches Handeln wiederherstellen 167 168 165 166
Aristoteles, a. a. O., S. 23 (1103 a). Vgl. Frede, a. a. O., S. 404. Aristoteles, a. a. O., S. 24 f. (1104 a). Vgl. zur ensprechenden Metaphorik Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Para digma einer Daseinsmetapher, Ffm. 1979.
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muss. Solche terminologischen Anspielungen auf medizinische Begriffe sind bei Aristoteles nicht selten – man denke nur an den Begriff katharsis aus der Poetik, der auch aus der Medizin kommt und dort die Wiederherstellung körperlichen Gleichgewichts durch Abführmittel bezeichnet. Auch für die Grundeinsicht der aristotelischen Ethik ist die Analogie zur Medizin hilfreich: Die Mitte und das Maß zwischen Mangel und Übermaß zu suchen und durch Praxis eingeübte Dispositionen möglichst zu erhalten zielt auf ein angemessenes Gleichgewicht.169 Aristoteles’ Theorie der Mittehaltung zielt auf Verhältnismäßigkeit: „Das ‚Gleiche‘ aber ist eine Art Mittleres zwischen Übermaß und Mangel. Als ‚Mittleres der Sache nach‘ bezeichne ich das, was zu den Extremen den gleichen Abstand hat und für uns alle ein und dasselbe ist, als ‚Mittleres in Bezug auf uns‘ dagegen, was weder zu viel noch zu wenig ist; das aber ist weder eines noch auch für alle dasselbe.“170 Aristoteles grenzt das proportionale Mittel vom arithmetischen ab. Im Unterschied zum mathematisch Gleichen ist das ethisch relevante Mittlere ein proportional, also ein im Verhältnis bzw. in Bezug auf uns Gleiches.171 Die grundsätzlich qualitative Frede gibt in ihrem Kommentar (a. a. O., S. 412) eine ganze Reihe von Bedeutungsnuancen an, die Aristoteles schon von Platon her bekannt gewesen sein dürften: „Besonders wichtig für die aristotelische Konzeption ist Platons Unterscheidung zwischen zwei Arten von Messkunst, in Plt. 283c-285c: Von der einfachen Messkunst, die nur Größen vergleicht, ist die komplexe Messkunst zu unterscheiden, die zwischen Übermaß (hyper bolê), Mangel (elleipsis) und dem Angemessenen (to metrion, to prepon, ton kairon, to deon) unterscheidet bzw. das Mittlere von den Extremen (to meson tôn eschatôn).“ Das Angemessene hat hier mehrere qualitative Bestimmungen: das Maßvolle, das der Sache Entsprechende, das dem Augenblick, der Gegenwart Entsprechende, das der Pflicht Entsprechende. Alle diese Aspekte zusammen machen dann die Adäquatheit des Mittleren aus, die richtiges Handeln charakterisiert. 170 Aristoteles, Nikomachische Ethik, a. a. O., S. 29 (1106 a). 171 Dieser Unterschied kann am Beispiel des griechischen Verständnisses von ‚Genauigkeit‘ nicht im quantitativen Sinne der Präzision moderner Messgenauigkeit, sondern der akri beia als qualitative Angemessenheit (wie sie z. B. auch in der semantischen Genauigkeit von metaphorischen Analogien zum Ausdruck kommt) verdeutlicht werden: Vgl. Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion, a. a. O., S. 327 ff. Erst die mathematische Quantifizierung der modernen Naturwissenschaft und die kapitalistische Produktionsweise, in der sich der quantitative Tauschwert über den qualitativen Gebrauchswert legt und das Geld als allgemeines Äquivalent sich auch als Bewusstseinsform durchsetzt, lässt das Bewusstsein dieses Unterschiedes verblassen. Holz verdeutlicht das am Märchen „Hans im Glück“: „Wenn im Grimmschen Märchen vom ‚Hans im Glück‘ jeweils eine Habe gegen eine andere eingetauscht wird, so ist das Prinzip des Tauschs der Vergleich des Lebensnutzens der Sachen; die Ironie liegt darin, dass Hans aus Gründen der Bequemlichkeit jeweils eine Sache einhandelt, die im allgemeinen Tauschverkehr einen geringeren Tauschwert besitzt, dass also qualitative und quantitative Äquivalenz sich verkehren, 169
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Orientierung der Ziele menschlichen Handelns und sein relationaler Charakter sind für eine dialektische Bestimmung des Ethischen festzuhalten: Die Forderung von Aristoteles nach Verhältnismäßigkeit nur vom suum cuique seines Begriffs der Verteilungsgerechtigkeit und dann als Ausdruck eines Klasseninteresses aus zu betrachten bedeutet, das kritische Potenzial des Ansatzes von Aristoteles nicht zu sehen. Denn er besteht auf der Orientierung an Bedürfnissen und damit nicht auf quantitativ gleichen, sondern qualitativ verschiedenen Zielen, die alle proportional auf die Angemessenheit menschlicher Selbstverwirklichung gerichtet sein sollen. Ein weiterer wichtiger Aspekt bei Aristoteles ist seine Handlungstheorie. Im dritten Buch der ‚Nikomachischen Ethik‘ entwickelt er die Grundbegriffe, mit denen die komplexe Einheit der Elemente beschrieben werden kann, die eine Entscheidungssituation ausmachen: Das „Ziel der Handlung richtet sich aber nach der augenblicklichen Situation. ‚Freiwillig‘ wie auch ‚unfreiwillig‘ ist also je nach dem Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem jemand handelt.“172 Diese Insistenz auf den Augen blick der Entscheidung, von dem, wie noch zu zeigen sein wird, jede Form normativer Ethik abstrahieren muss, weist auf einen Grundgedanken von Aristoteles hin, der für die Entwicklung dialektischer Ethik sehr bedeutsam ist: Entscheidungen werden in konkreten Bedingungszusammenhängen, eben in konkreten Situationen getroffen, in denen es nicht um grundsätzliche metaphysische Erwägungen zur Freiheit geht, sondern Grade der Freiwilligkeit zu reflektieren gilt. Freiwillig nennt Aristoteles alles, „dessen Ursprung im Handelnden liegt“, und unfreiwillig ist demnach, „was durch Gewalt oder aus Unwissen geschieht“173. Aristoteles bleibt bei seinem Beispiel der Seefahrt: Niemand wird bei guter Fahrt freiwillig Ladung über Bord werfen, sehr wohl jedoch, wenn er es tun muss, um Leben zu retten. Tatsächlich sind Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit relative Begriffe, die sich in jeder Situation in Mischungsverhältnissen bzw. Graden von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit verschränken. Denn auch widrige Bedingungen lassen Entscheidungsspielräume offen, in denen noch gehandelt werden kann. Nur eine Situation der Gewalt, etwa wenn der Betreffende an den Mast gebunden ist und keine Entscheidung treffen kann, muss man im strengen Sinn von Unfreiwilligkeit sprechen. Ein weiteres Element der aristotelischen Entscheidungstheorie ist also seine Verbindung mit dem Begriff der Möglichkeit, die, wie wir schon gesehen haben, für eine dialektische Ontologie von zentraler Bedeutung ist. Aristoteles schreibt dazu: „Entscheidungen gelten nämlich nichts Unmöglichem, und falls jemand behaupten wollte, sich dafür zu entscheiden, und die kritische Pointe ist, dass der quantitative Wertverlust, der nach landläufiger Meinung als eine Dummheit angesehen wird, gerade zum qualitativen Gewinn der Steigerung des Lebensglücks führt.“ (Ebd., S. 328) 172 Aristoteles, Nikomachische Ethik, a. a. O., S. 37 (1110 a). 173 Ebd., S. 40 (1111 a) und S. 37 (1110 a).
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dann würde man ihn für einen Dummkopf halten. Ein Wunsch kann dagegen auch Unmöglichem gelten, wie etwa der Unsterblichkeit. (…) Entscheidungen scheinen nämlich überhaupt auf diejenigen Dinge bezogen zu sein, die bei uns liegen.“174 Ethik ist für Aristoteles Reflexion auf den Bedingungszusammenhang mensch lichens Handelns, nicht Ableitung seiner Prinzipien. Das Wort prohairesis, das im Deutschen mit ‚Entscheidung‘ übersetzt wird, weist darauf hin, dass es Aristoteles um eine reflexive Abwägung geht, die zum Handeln führt.175 Schließlich weist Aristoteles auf die richtige Verhältnisbestimmung von Ethik und Politik hin, um die es in der Dialektik immer gehen muss. Dieses Verhältnis, nämlich die Priorität des Ethischen vor dem Hintergrund des Primats des Politischen zu entwickeln, kann man sich am Gerechtigkeitsbegriff von Aristoteles vergegenwärtigen. Gerechtigkeit ist sowohl als eine individuelle Tugend bzw. Einstellung und Haltung als auch als ein objektives gesellschaftliches Verhältnis gedacht. Die Gerechtigkeit als individuelle Haltung ist deshalb die höchste Tugend, weil sie sich nicht nur auf das Selbstverhältnis, also die angesprochene Selbstsorge des Menschen bezieht, sondern sie „für andere gebraucht“.176 Sowohl im persönlichen Verhalten gegen Andere als auch als gesellschaftliches Verhältnis ist Gerechtigkeit ein Mittleres, eben Verhältnismäßigkeit – und Ungerechtigkeit entsprechend ein Extremes an Übermaß oder Mangel. Hier ist nicht der Ort, die aristotelische Theorie der Gerechtigkeit (etwa die klassische Unterscheidung zwischen verteilender und ausgleichender Gerechtigkeit) zu diskutieren. Im Zusammenhang einer richtigen Verhältnisbestimmung von Ethik und Politik indes lässt sich feststellen, dass Aristoteles auf eine Vermittlung des Einzelnen mit dem Ganzen einer gesellschaftlichen Ordnung zielt: Jeder Mensch muss zunächst im Bereich seines möglichen Handelns begründete Entscheidungen treffen, sowohl was seine Selbstsorge als auch sein Verhältnis zum Anderen angeht. Diese Sphäre persönlicher Verantwortung kann dem Einzelnen nicht abgenommen werden, sie ist ethisch immer das Erste und Unhintergehbare. Aber sie ist in ihrer Wirkung endlich und damit eingelassen in einen politischen Gesamtzusammenhang, in dem es um eine gerechte und objektive Ordnung gesellschaftlicher Verhältnisse geht, die nicht ethisch, sondern politisch bestimmt werden muss. In der Wirkungsgeschichte der ‚Nikomachischen Ethik‘ fällt auf, dass sie in der hellenistischen Zeit an Bedeutung verloren hat. Das mag damit zusammenhängen, dass durch die Entwicklung von überschaubaren Polisgemeinschaften zu Ebd., S. 41 (1111 b). Vgl. Kommentar Frede, a. a. O., S. 467. Frede weist auch auf das breite Bedeutungsspektrum hin, das der Begriff im Griechischen hat: „u. a. ‚Wahl‘, ‚Auswahl‘, ‚Absicht‘, ‚Plan‘, ‚Vorhaben‘, ‚Vorzug‘, ‚Grundsatz‘ oder ‚Vorgehensweise‘“ (ebd.) Diese Bedeutungskonnotationen weisen auf die Vielzahl von Aspekten hin, die in eine komplexe Entscheidung eingehen. 176 Aristoteles, Nikomachische Ethik, a. a. O., S. 81 (1130 a). 174 175
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großflächigen Territorialreichen der Philosophie andere Fragestellungen entstanden sind. An die Stelle der Reflexion auf den Einzelnen als Teil einer überschaubaren Gemeinschaft, wie sie Aristoteles vorträgt, treten im Hellenismus stoische, epikureische und skeptische Individualethiken. Aber auch später, in der von religiösen Fragen geprägten Spätantike blieb die Ethik des Aristoteles ohne wesentliche Nachwirkung. Sogar der arabische Aristotelismus zeigte wenig Interesse an dieser Seite des Aristoteles, sodass die Rezeption ausgerechnet in einem der ‚Nikomachischen Ethik‘ so wenig affinen Kontext wie dem christlichen Aristotelismus des lateinischen Westens wieder einsetzte.177 Das alles mag man mit der sehr verbreiteten Auffassung begründen, dass die aristotelische Ethik einen überschaubaren gesellschaftlichen Zusammenhang der Gemeinschaft voraussetzt, der in all den genannten Rezeptionsausfällen eben nicht gegeben war. Das mag dann auch als Argument dienen, sie für die Erfordernisse einer philosophischen Reflexion der ethischen Probleme der Neuzeit untauglich zu halten. Aber festzustellen bleibt am Ende eines: Die von Aristoteles entwickelten Grundbegriffe beziehen sich auf die Grundsituation des Menschen, ein Leben führen zu müssen, d. h. sein Verhältnis zu sich und seinem Anderen selbst bestimmen und durch Entscheidungen handeln zu müssen. So gesehen kann die Frage dann auch lauten, wie man die aristotelischen Grundeinsichten angemessen in eine moderne Ethik und politische Philosophie einbringen kann.178 Man kann keine Ethik entwickeln, ohne den Begriff der Freiheit zu klären. Selbstverständlich ist es in unserem Zusammenhang nicht möglich, eine detaillierte Theorie der Freiheit zu entwickeln, sondern nur, die Grundbestimmungen eines dialektischen Begriffs der Freiheit anzugeben: „Der Begriff der Freiheit ist konkret zu bestimmen, das heißt: nicht unabhängig von den Zusammenhängen, in denen die gesellschaftlichen Individuen handeln. Tatsächlich beruhen die meisten Freiheitsbegriffe auf der Abstraktion von Zusammenhängen.“179 Gegenüber dem abstrakten Freiheitsbegriff der Moderne gibt Aristoteles wesentliche Hinweise, dem Problem eine Struktur zu geben: Wir handeln in konkreten Situationen, sind Teil eines singulären Bedingungsgefüges mit einem individuellen Bedeutungshorizont. Die Grade der Freiwilligkeit, von denen Aristoteles spricht, müssen in einen modernen Begriff der Freiheit als Selbstbestimmung übertragen werden. In der Philosophie der Neuzeit hat vor Hegel bei der dialektischen Bestimmung des Freiheitsbegriffs kein Philosoph Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Frede, a. a. O., S. 253 ff. In der Tradition der dialektischen Philosophie hat das Hegel versucht, indem er das antike Verständnis von Sittlichkeit (eben das ethos als Gewöhnung) im Rahmen einer Philosophie des Rechts erneuern wollte: die institutionelle Habitualisierung des Verhaltens in modernen gesellschaftlichen Zusammenhängen entlastet das Individuum in komplexen Gesellschaften, aber es entbindet es nicht von persönlicher Verantwortung. 179 Andreas Arndt, Freiheit. Köln 2019, S. 31. 177 178
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so stark auf Aristoteles rekurriert wie Leibniz.180 So kennt Leibniz etwa die für die Unterscheidung von abstrakter und konkreter Freiheit entscheidende Differenzierung zwischen negativer Freiheit, die sich auf Unabhängigkeit von etwas bzw. auf die Abwesenheit von Gewalt bezieht, und positiver Freiheit zu etwas, die auf die Fähigkeit des handelnden Subjekts reflektiert, eine Möglichkeit durch Wahl, Entscheidung und Handlungsfähigkeit zu verwirklichen. Modern gesprochen: Negative Freiheit ist Abwesenheit von Zwang, während positive Freiheit sich auf die Autonomie des Subjekts bezieht, selbstbestimmt zu handeln. Die konkrete Freiheit, auf die ein dialektischer Begriff der Freiheit zielt, muss die Einheit von negativer Freiheit (dem Zusammenhang von Bedingungen, in dem das Handeln steht), und den subjektiven Fähigkeiten, in diesem Bedingungsgefüge etwas zu tun, begrifflich abbilden. Abstrakte Freiheit beruht auf der Vereinseitigung eines dieser Momente und damit auf der Abstraktion vom jeweils anderen Moment des Ganzen des Freiheitsproblems. Ein klassisches Beispiel für die Verabsolutierung der negativen Freiheit zur Freiheit schlechthin ist Hobbes: Frei ist, „wer nicht daran gehindert ist, Dinge, die er aufgrund seiner Stärke und seines Verstandes tun kann, seinem Willen entsprechend auszuführen“; die Freiheit des Menschen besteht dann darin, „daß er bei der Verfolgung dessen, was er will, nach dem er verlangt und wozu er neigt, auf kein Hindernis stößt.“181 Die Vereinseitigung des anderen Moments dieser Einheit ist die moderne Theorie der Willensfreiheit, die klassisch in der Ethik durch Kant formuliert worden ist. Hier geht es nur um die autonome, von allen äußeren Bedingungen unabhängige Selbstbestimmung des Willens. Kant spricht von einer Metaphysik der Sitten, weil es ihm nur um die reine Autonomie der Selbstgesetzgebung des Handelns geht, bei der weder inneren Neigungen noch äußeren Bedingungen des Subjekts ein Einfluss konzediert werden darf. Vgl. G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Kap. XXI. In: Philosophische Schriften Bd. III.1, Darmstadt 2013, S. 241 ff.; zur Theorie der Freiheit bei Leibniz vgl. Jörg Zimmer, Leibniz und die Folgen, a. a. O., S. 121 ff.; zum Begriff der konkreten Freiheit bei Hegel vgl. Andreas Arndt, Freiheit, a. a. O., S. 55 ff. 181 Thomas Hobbes, Leviathan, Ffm. 1984, S. 163. Genau dieser Begriff der negativen Freiheit, in seiner Vereinseitigung genommen, führt zu politischen Modellen des Liberalismus, die auch heute den Diskurs in unserer Gesellschaft bestimmen: Die aus dem mechanistischen Weltbild kommende Vorstellung der Abwesenheit von Widerstand wird auf das Gebiet des Politischen übertragen und Freiheit dann schlechthin als möglichst umfassende Abwesenheit von (staatlichem) Zwang betrachtet. Die Konsequenzen dieser Auffassung hat Arndt mit Hegel sehr schön auf den Punkt gebracht: „‚Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören‘, so soll Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gesagt haben. Das gilt für die Zerstörung des Lebendigen durch das Geltendmachen von abstrakter Identität ebenso wie für die Freiheit: Die abstrakte oder negative Freiheit zerstört in der Konsequenz die Freiheit selbst.“ (A. a. O., S. 59) 180
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Leibniz hat beide Vereinseitigungen vermieden und einen äußerst differenzierten Begriff der Freiheit entwickelt. Genau wie schon Aristoteles spricht er nicht von Willensfreiheit (deren Begründbarkeit er im angegebenen Kapitel der ‚Neuen Abhandlungen‘ deutlich in Frage stellt), sondern von Handlungsfreiheit. Außerdem führt er, dem neuzeitlichen Diskussionskontext entsprechend, die Unterscheidung von formaler und realer Freiheit ein: „Der Begriff der Freiheit ist sehr zweideutig. Es gibt eine juristische und eine faktische Freiheit. Rechtlich ist der Sklave nicht frei und ein Untertan nicht ganz frei, aber ein Armer ist so frei wie ein Reicher. Die faktische Freiheit besteht entweder in der Möglichkeit zu wollen, was man soll, oder in der Möglichkeit zu tun, was man will. Sie sprechen von der Handlungsfreiheit, und diese hat ihre Grade und Verschiedenheiten. Im allgemeinen ist der, der über die größeren Mittel verfügt, auch freier zu tun, was er will.“182 Leibniz stößt hier bei der Unterscheidung von formaler und realer Freiheit auf einen Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft, die sich doch die Freiheit eigentlich auf die Fahnen geschrieben hat: Ein Sklave und ein Leibeigener sind der formalen Seite nach unfrei, können jedoch reale Handlungsspielräume haben; in der bürgerlichen Gesellschaft sind formal betrachtet alle Menschen frei, aber die realen Handlungsspielräume hängen eben von Armut und Reichtum ab. Der Widerspruch, den Leibniz hier anklingen lässt, ist der Widerspruch zwischen formaler und realer Freiheit, die sich, wie wir heute wissen, durch alle Bereiche der bürgerlichen Gesellschaft zieht. Ohne Auflösung dieses Widerspruchs bleibt Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft Schein. Ein weiteres Moment einer dialektischen Begriffsbestimmung ist die Einheit von Freiheit und Abhängigkeit, die theoretisch relevant wird, wenn man nicht von einem abstrakten Verständnis absoluter Autonomie und auch nicht von einem atomisierten Individuum ausgeht, sondern Freiheit in Verhältnissen denken möchte. Dann steht der Freiheitsspielraum des Menschen im Verhältnis zum Anderen (sowohl zu Naturbedingungen als auch in gesellschaftlichen Beziehungen) und also Freiheit in einem dialektischen Verhältnis zur Abhängigkeit. Weil Dialektik den Menschen als ein intrinsisch In-Beziehung-Seiendes versteht, wird Abhängigkeit zu einem Moment von Freiheit: „Dies genau ist der kritische Punkt des negativen bzw. abstrakten Verständnisses von Freiheit: Die Abstraktion von der Beziehung auf Anderes, die notwendig auch das Moment des Bestimmtwerdens durch Anderes einschließt, abstrahiert mit jeder Form des Bestimmtwerdens auch von der Bestimmung der Freiheit selbst. Der Ausschluss des Anderen lässt nur die Leere des Wollens zurück.“183 Die dialektische Einheit von Freiheit und Abhängigkeit führt auf einen Begriff subjektiver Selbstbestimmung als Befreiung: Menschliche Praxis zielt auf zunehmende Befreiung von der Naturabhängigkeit, indem sie durch Ausdifferenzierung Leibniz, Neue Abhandlungen, a. a. O., S. 255. Arndt, Freiheit, a. a. O., S. 64.
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der Bedürfnisse und der Mittel zu ihrer Befriedigung kulturell immer größere Freiheitsspielräume der Naturnotwendigkeit gegenüber schafft. Durch die Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Form dieses Austausches mit der Natur muss Praxis aber auch zu zunehmender Befreiung der Menschen von gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen führen – ein Aspekt, der in die Theorie der Politik fällt, aber doch im Kontext des Freiheitsbegriffs genannt werden muss: Konkrete Freiheit bedeutet, Befreiung als Aufhebung von Fremdbestimmung zum Ziel menschlicher Praxis zu machen und damit immer mehr Selbstbestimmung in gesellschaftlichen Verhältnissen zu ermöglichen, die den menschlichen Bedürfnissen aristotelisch gesprochen ‚angemessen‘ sind.184 Das Grundproblem bzw. der dialektische Widerspruch des Ethischen besteht darin, dass dieses Ziel nur in einer über den Bereich individuellen Handelns hinausgehenden politischen Praxis erreicht werden kann, Befreiung aber doch unhintergehbar an die selbstbestimmte Tätigkeit des einzelnen Menschen gebunden bleibt. Freiheit kann nicht delegiert werden, aber auch nicht bloß individuell verwirklicht werden, und deshalb spreche ich vom Primat des Politischen, das jedoch immer die Priorität des Ethischen zur Voraussetzung hat. Erst wenn diese Ebenen individueller und allgemeiner Freiheit, näher die Verschränkung subjektiver Ansprüche auf Selbstbestimmung und der komplexen Struktur realer Bedingungen und Möglichkeiten, in die sie eingebettet sind, im Begriff einer politischen Ordnung der Kompossibilität zusammengeführt werden können, wird es möglich, das Ganze einer Theorie der Freiheit denkbar zu machen.
Die Dialektik von Freiheit und Abhängigkeit als Grundwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft habe ich an anderer Stelle untersucht: Vgl. Jörg Zimmer, „Die Stufe des Scheins. Zum spekulativen Begriff der bürgerlichen Gesellschaft bei Hegel und Marx“. In: Jörg Zimmer/Domenico Losurdo (Hg.), Die Idee der bürgerlichen Gesellschaft. Hegel und die Folgen, Girona 2006, S. 111 ff. Im politischen Diskurs unserer Zeit wird stets nur die eine Seite der kapitalistischen Gesellschaft hervorgehoben (die individuelle Freiheit) – nicht jedoch die andere Seite, die zunehmende Abhängigkeit in immer komplexer werdenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Ähnliches gilt heute für das Naturverhältnis: Die zunehmende Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens durch die Ausbeutung der Natur verwandelt Produktivkräfte in Destruktivkräfte und führt dazu, dass die Befreiung von der Naturnotwendigkeit wieder in Abhängigkeit umschlägt und die vermeintlich zur Freiheit führende bürgerliche Gesellschaft bzw. die kapitalistische Produktionsweise reale Freiheitsspielräume immer stärker einschränkt und einschränken muss. Die nähere Behandlung dieses Problems gehört ins folgende Kapitel zum Begriff des Politischen.
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Dialektik des Wertbegriffs Der späte Platon, von dessen Bedeutung für die Entwicklung einer dialektischen Ontologie schon die Rede war, hat in seinem Dialog ‚Philebos‘ vielleicht als Erster das Grundproblem der dialektischen Ethik in einem ontologischen Begründungszusammenhang formuliert.185 Platon rekonstruiert menschliches Handeln als mixis, als ein Mischungsverhältnis von Unbegrenztem (ápeiron) und Grenze (péras). Wie später Aristoteles, nur eben durch ontologische Grundbegriffe begründet fasst Platon das Problem der Ethik als Bestimmung eines Maßes im Handeln auf. Menschliche Selbstbestimmung bedeutet, Unendliches und Endliches in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Ethik gibt keine Regeln oder Anweisungen für das Handeln, sondern reflektiert die Struktur, in der sich menschliches Leben verwirklicht. In der Unendlichkeit der Verhältnisse durch die Ursache (aitia) der Vernunft das Maß, also die angemessene Mischung zu bestimmen – dafür braucht es für Platon ein Grundverständnis des Ganzen der ontologischen Struktur, in der menschliche Selbstbestimmung sich befindet (denn was kann mit der Ursächlichkeit der Vernunft Anderes gemeint sein als selbstbestimmtes Handeln?). Anders gesagt: Ein durch Vernunft geleitetes Handeln setzt eine Grenze, und das bedeutet auch, dass die philosophische Reflexion dieses Handelns zu der Einsicht des prinzipiell begrenzten Charakters des menschlichen Lebens und seiner praktischen Vollzüge führt. Die von Platon eingeführten obersten Gattungsbegriffe der Ethik – Unbegrenztes, Grenze, Mischung und Ursache (Vernunft) – werden als Momente eines gesetzten Verhältnisses entwickelt. Das Unbegrenzte ist die schlechte Unendlichkeit, die in der (gesetzten) Grenze zu etwas bestimmt wird. Das Verhältnis von ápeiron und péras führt auf den Gedanken, dass alles Wirkliche die Wirklichkeit eines bestimmten Verhältnisses dieser beiden Gattungen ist. Die mixis als der eigentliche Ausdruck für menschliche Wirklichkeit ist die Einheit von Unendlichem und Endlichem in diesem bestimmten Verhältnis. Die Unendlichkeit erfährt negativ ausgedrückt eine Begrenzung, die sich jedoch positiv gewendet als Bestimmung erweist. Deshalb geht der vierte von Platon eingeführte Gattungsbegriff auf das Bestimmende in diesem Verhältnis186: Ich kann im vorliegenden Zusammenhang auf diese Begründung nicht im Detail eingehen und verweise daher auf eine eingehendere Untersuchung an anderer Stelle: Jörg Zimmer, „Mixis. Platons Philebos und die Frage nach dem guten Leben“, a. a. O.; zur Dialektik beim späten Platon vgl. Bruno Liebrucks, Platos Entwicklung zur Dialektik. Untersuchun gen zum Problem des Eleatismus, Frankfurt 1949; vgl. auch Hans Heinz Holz, Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, a. a. O., Bd. 1, S. 395 ff. 186 Vgl. Hans Georg Gadamer, Platos dialektische Ethik, Hamburg 2000, S. 94: „Alles was ist (hieß es ausdrücklich 16c9), ist ein Gemischtes aus Bestimmendem und Unbestimmten. Gemischtsein ist also Bestimmtsein.“ 185
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Mixis bedeutet Begrenzung in einem angemessenen Verhältnis, und es es ist die aitia der Vernunft, die als Ursache der Mischung dieses Verhältnis herstellt. Diese bei Platon und Aristoteles erreichte fein differenzierte Analyse der ethischen Grundsituation geht in der normativen Ethik der Neuzeit verloren. Sobald moralphilosophisches Denken auf allgemeine Regeln geht (ganz gleich, ob dies durch einen utilitaristischen Konsequentialismus oder in Form einer deontologischen Ethik geschieht), muss es von der Singularität dieser Situation abstrahieren. Ich will diesen Gedanken am Beispiel Kants verdeutlichen, der den moralischen Wert einer Handlung rein in sich, d. h. ohne Ansehung ihrer Bedingungen und Wirkungen bestimmen möchte: „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zwecks, sondern allein durch das Wollen (…) zu schätzen“. Wenn von einer Handlung „nur der gute Wille (…) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat.“187 Dieser intrinsische Wert hängt „nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern bloß von dem Prinzip des Wollens“.188 Dieses Prinzip, nämlich die Maxime des Handelns in ihrer Allgemeingültigkeit aufgefasst, ist Gegenstand des kategorischen Imperativs: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“189 Kant verlangt also, die subjektive Maxime darauf zu prüfen, ob sie als ein allgemeines Gesetz anerkannt werden könne, will sagen: Ich muss von allen objektiven Bedingungen und subjektiven Neigungen und Voraussetzungen abstrahieren, damit sie unter allen Umständen und für alle Menschen in gleicher Weise Geltung beanspruchen kann. Präziser könnte man die Gegenposition zur Fragestellung dialektischer Ethik nicht bezeichnen. Es geht Kant allein um das „Prinzip der Autonomie des Willens“190 – und gerade nicht um das Problem der realen Selbstbestimmung des Menschen in konkreten Verhältnissen. Hegel hat dieses ‚moralische Bewusstsein‘ in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ als Bewusstseinsform genauestens analysiert und eine treffende Formel dafür gefunden: Es „weiß nur das reine Wesen, oder den Gegenstand, insofern er Pflicht, insofern er abstracter Gegenstand seines reinen Bewußtseins ist, als reines Wissen oder als sich selbst. Es verhält sich also nur denkend, nicht begreiffend.“ (HW 2, 330) Dieses ‚begreifende Denken‘ versteht Hegel als ein Denken, das vom Widerspruch ausgeht und die inneren Widersprüche einer Sache am konkreten Gegenstand entfaltet. Das führt er am Problem der moralischen Weltanschauung selbst Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Werke, ed. Weischedel, a. a. O., Bd. 6, S. 19 (A3). 188 Ebd., S. 26 (A 13). 189 Ebd., S. 51(A 52). 190 Ebd., S. 66 (A 74). 187
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vor: „sie ist, um einen kantischen Ausdruck hier, wo er am passendsten ist, zu gebrauchen, ein ganzes Nest gedankenloser Widersprüche.“ (HW 2, 332) Kants Ethik abstrahiert, indem sie den guten Willen nur in sich bestimmt, von seiner Beziehung auf Anderes, und diese Anlage führt dazu, dass Ethik Wirklichkeit ignoriert. Der in sich freie Wille lässt eine aus ethischer Bestimmung entlassene Wirklichkeit zurück: Das moralische Bewusstsein verhält sich „gleichgültig“ gegen die Wirklichkeit, und „je freyer das Selbstbewußtsein wird, desto freyer auch der negative Gegenstand seines Bewußtseins“ (HW 2, 325) Mit anderen Worten: Es geht gar nicht um eine Verwirklichung moralisch begründeter Ziele, sondern nur um die Reinheit der Gesinnung. Die bestimmte Pflicht dagegen, die Hegel fordert, „geht darauf, nicht Gesinnung im Gegensatze des Handelns zu bleiben, sondern zu handeln, oder sich zu verwirklichen“ (HW 2, 326). Der Grundwiderspruch des moralischen Bewusstseins liegt in der unaufhebbaren Inkongruenz von Sollen und Wirklichkeit. Die Moralität soll zwar immer Fortschritte machen, kann sich aber nicht vollkommen verwirklichen, ohne sich selbst aufzuheben: „Die Vollendung derselben aber ist ins unendliche hinauszuschieben; denn wenn sie wirklich einträte, so höbe sich das moralische Bewußtsein auf. Denn die Moralität ist nur moralisches Bewußtsein als das negative Wesen (…) Die Vollendung ist darum nicht wirklich zu erreichen, sondern nur als eine absolute Aufgabe zu denken, das heißt als eine solche, welche schlechthin Aufgabe bleibt.“ (HW 2, 327/328) Dies ist nach Hegel der Widerspruch der abstrakten Moralität: eine „Aufgabe, die Aufgabe bleiben, und doch erfüllt werden“ soll: „Durch die Betrachtung aber, daß die vollendete Moralität einen Widerspruch enthielte, würde die Heiligkeit der moralischen Wesenheit leiden, und die absolute Pflicht als etwas unwirk liches erscheinen.“ (HW 2, 328) Bei aller Kritik, die vom Standpunkt dialektischer Philosophie an Kant und am Begriff normativer Ethik überhaupt geübt werden kann und muss, bleibt jedoch ein Problem, das auch jenseits einer nur durch Abstraktion erkauften Lösung bestehen bleibt und durch die Dialektik bestimmt werden muss: Jenseits von überschaubaren Gemeinschaften, d. h. unter Bedingungen der realen Abstraktionsprozesse in den Vergesellschaftungsformen der Moderne (deren nicht mitreflektierter Ausdruck die Abstraktionen normativer Ethik doch gerade sind) muss es eine Vermittlungsebene geben, durch die die individuellen Handlungsorientierungen einerseits zum Ausdruck kommen, andererseits aber auf andere bzw. auf gesellschaftliche Maßstäbe bezogen werden können. Eine solche Vermittlungsebene von Einzelnem und Allgemeinem stellt meines Erachtens auf dem Gebiet der Ethik der Wertbegriff dar. Seit Lotze ihn im 19. Jh. in die Diskussion gebracht hat, werden Werte als etwas jenseits ontischer Gegebenheit (sie ‚sind‘ nicht etwas Bestimmtes) von ihrer Geltung her verstanden. Werte sind etwas intersubjektiv Anerkanntes und als Entscheidungskriterien für die Ethik als Begründung des Handelns von entscheidender Bedeutung.
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Werte sind als „Maßstäbe, Ziele oder Resultate menschlicher Praxis“ anzusehen und insofern „Gegenstände der Anerkennung“191. Im Zusammenhang der Dialektik ist ein Aspekt hervorzuheben, der in der heutigen öffentlichen Diskussion des Problems der Werte häufig viel zu wenig Beachtung findet. Werte sind nicht einfach subjektive (Be-) Wertungen, wie eine vereinfachende Ideologie des Pluralismus glauben machen möchte. Werte sind vielmehr Ausdruck von realer Pluralität: Sie haben ihren Ort im Subjekt (denn sie artikulieren Bedürfnisse, Präferenzen, Haltungen, kurz die ganze Vielfalt der Beziehungen von Individuen zur Wirklichkeit), und beanspruchen zugleich intersubjektive Anerkennung. Werte sind also weder objektiv noch einfach subjektiv, sondern Ausdruck eines Verhältnisses. Wenn Ethik die Bedingungen der Möglichkeit selbstbestimmten Handelns reflektiert, dann ist der Wertbegriff geeignet, ins Zentrum ihrer dialektischen Begründung zu rücken. Denn der Wertbegriff ermöglicht es, die subjektiven Voraussetzungen des Handelns (die „Beziehung bewertender Subjekte auf Gegenstände“192) mit den Voraussetzungen Anderer vermittelbar zu machen. Diese Funktion von Werten und auch einer entwickelten Wertordnung ist in der immer komplexer werdenden Gesellschaft der Moderne unentbehrlich, um in den sie charakterisierenden Abstraktionsprozessen etwas Gemeinsames herausbilden zu können, in dem sich die Unterschiedlichkeit dennoch erhalten lässt: „Das Wertesystem einer Kultur entspricht in dieser Hinsicht einer gesellschaftlich bedingten Bedürfnisstruktur. So gesehen, muss die Komplexität einer Wertordnung als Moment der inneren Differenziertheit einer Gesellschaftsordnung verstanden werden.“193 Werte sind also nicht beliebig, und auch nicht allein Ausdruck individueller Willensentscheidungen. Sie stehen immer im Horizont gesellschaftlicher Interessen. Ein wesentlicher Aspekt scheint mir zu sein, dass ein differenziertes System der Werte die Möglichkeit bietet, von verschiedenen Werthaltungen aus gemeinsame Ziele zu entwickeln. Allerdings: Wenn man von Gemeinsamkeit spricht, muss man auch von Unterschiedlichkeit sprechen, sodass die vereinfachende Rede von universalen Werten einer Revision bedarf. Nicht zuletzt ist der Wertbegriff auch deshalb für unsere Zeit so geeignet, weil er auch eine interkulturelle Vermittlung ermöglicht. Dann aber muss die Einsicht im Vordergrund stehen, dass alle Werte aus einem gesellschaftlichen und kulturellen Horizont von unterschiedlichen Voraussetzungen kommen und das gemeinsame Interesse erst herausgebildet werden muss. Werte können ihrem Begriff nach nicht verordnet werden, weil im Wertbegriff selbst die Pluralität und damit auch die Differenzierung der Werthaltungen notwendig mitgedacht ist: Nur Arnim Regenbogen, „Wert/Werte“. In: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philo sophie, Hamburg 2010, Bd. 3, S. 2974. 192 Ebd. 193 Ebd. 191
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unter dieser Voraussetzung kann sein Heterogeneität integrierendes Potenzial zur Geltung gebracht werden.194 Es ist leicht zu sehen, dass der Wertbegriff und seine Dialektik uns in den Übergangsbereich von Ethik und Politik rückt. Ich möchte abschließend auf die von Regenbogen angesprochene ‚gesellschaftlich bedingte Bedürfnisstruktur‘ zurückkommen, die im Zusammenhang der Wertediskussion zu sehr vernachlässigt wird. Einen Wert hat etwas, das menschliche Bedürfnisse befriedigt. Das gilt ebenso für die Grundbedürfnisse wie auch für die erweiterten Bedürfnisse, die erst durch gesellschaftliche Entwicklung entstehen, also die ganze Breite der sich differenzierenden ‚zweiten Natur‘ ausmachen, von der Hegel spricht. Gerade diese Anbindung des Wertbegriffs an die sowohl ökonomisch als auch gesellschaftlich-kulturell produzierte Bedürfnisstruktur erlaubt es, die subjektive Seite des Problems der Ethik – die Frage nach den Kriterien des Handelns – mit gesellschaftlicher Entwicklung zusammenzudenken, also die subjektiven Haltungen, von denen praktische Philosophie ausgehen muss, in ihre objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen zurückzuführen und mit ihnen zu vermitteln. Eine solche dialektische Wertethik kann hier nicht systematisch entwickelt werden. Eine für die Ethik, so weit ich sehe, noch kaum aufgegriffene Anregung kann jedoch vom ökonomischen Wertbegriff von Marx ausgehen, indem die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert für einen in sich differenzierten ethischen Wertbegriff aufgegriffen wird. Der Gebrauchswert bezieht sich auf Bedürfnisse befriedigende Eigenschaften eines Gegenstandes, der Tauschwert auf das gesellschaftliche Verhältnis, das in ihm vergegenständlicht ist. Diese Unterscheidung lässt sich auf den ethischen Wertbegriff übertragen: Werte sind zunächst Ausdruck eines bedürfnisorientierten Verhältnisses zu Gegenständen der Bewertung, aber zugleich vergegenständlichen sich in Werten auch gesamtgesellschaftliche Verhältnisse. Folgt man der Analogie weiter, so muss sich eine vernünftige Begründung von Werten nicht etwa am Warenfetischismus, sondern an den Bedürfnissen der Menschen orientieren – und zwar in einer Hierarchisierung, die von Grundbedürfnissen ausgeht und zu einer immer ausdifferenzierteren Bedürfnisstruktur fortschreitet. Hinter Werten stehen immer Interessen, deren Legitimität in der ethischen und politischen Theorie begründet werden muss. Diese Frage jedoch, eine Wertordnung so zu denken, dass gemeinsame Interessen Vorrang vor Privatinteressen haben und eine gesellschaftliche Ordnung so einzurichten ist, dass möglichst viel Entfaltung von realen Freiheitsspielräumen subjektiver Bedürfnisentwicklung wirklich werden kann, ist Gegenstand politischer Philosophie. Ich habe das für den Spezialfall ästhetischer Werte zu zeigen versucht in Jörg Zimmer, „Wertgegenständlichkeit in der Kunst“. In: H. T. Krobath (Hg.), Werte in der Begegnung. Wertgrundlagen und Wertperspektiven ausgewählter Lebensbereiche, Würzburg 2011, S. 533 ff.
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Kategoriale Aspekte der Kritik der Politischen Ökonomie Marx hat seine wissenschaftliche Beschäftigung mit der politischen Ökonomie nach den Enttäuschungen der gescheiterten revolutionären Prozesse von 1848 inten siviert. Die wissenschaftliche Durchdringung der „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie“ (MEW 13, 8) als Reaktion auf politisches Scheitern und als Haltung in dieser Situation – schon allein dieses Detail scheint ein Aktualitätspotenzial zu enthalten, das die Bedeutung dieses Projektes von Marx für heutige Probleme andeutet und eine Erinnerung an es sinnvoll macht. Während der gesamten fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts hat Marx in seinem Londoner Exil an den Grundlagen dieser Wissenschaft gearbeitet und sie 1859 in der kleinen Schrift „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ in Grundzügen der Öffentlichkeit vorgelegt. Die unterdrückte Einleitung zu dieser Schrift sowie ein großer Teil des in diesen Jahren entstandenen Materials ist viel später posthum unter dem Titel „Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie“ erschienen. Erst 1867 veröffentlichte Marx die Ergebnisse seiner Forschungen in seinem Hauptwerk „Das Kapital“. Eine philosophische Interpretation dieser „Anatomie“ der kapitalistischen Produktionsweise kann weder politisch-strategisch sein noch einzelne Probleme der Ökonomie diskutieren (deren Beurteilung einzelwissenschaftlichen Sachverstand verlangt), sondern muss sich auf die von Marx entwickelten Grundbegriffe richten, die den Status von Kategorien195 haben und insofern die Möglichkeit eröffnen, Grundstrukturen der In der heutigen Wissenschafts- und Philosophiesprache wird der Begriff Kategorie häufig sehr inflationär benutzt. Alles, was irgendwie begrifflich ist, kann so unter der Hand im Sprachgebrauch zur Kategorie avancieren. Ich verwende den Begriff im strengen Sinn der Klassiker: Aristoteles spricht von Kategorien als allgemeinsten Aussageformen, Kant von Gedankenformen, die denknotwendig sind, also allgemeinste Bestimmungen, ohne die nicht gedacht werden kann, Hegels Logik schließlich entwickelt das Kategoriale als Einheit von Denk- und Seinsbestimmungen. Dialektisch verstanden sind Kategorien „Denkformen, die an sich selbst das Indiz tragen, als solche zugleich Seinsformen zu sein. Während von Begriffen gesetzt wird, daß sie dem von ihnen gemeinten Gegenstand beziehungsweise der von ihnen bezeichneten Gegenstandsklasse entsprechen, ist den Kategorien die Vermitteltheit ihres begrifflichen Inhalts mit ihrem gegenständlichen Gehalt (…)
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bürgerlichen Gesellschaft freizulegen, die über alle ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen 150 Jahre hinweg nach wie vor die Anatomie dieser Gesellschaft ausmachen und begreifbar machen. Im Vorwort der kleinen Schrift von 1859 hebt Marx, was Vorarbeiten aus den vierziger Jahren angeht, vor allem die schon damals entwickelte Ideologietheorie hervor, nämlich „dass Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des mensch lichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfaßt…“ (Ebd.) Marx gibt in diesem Vorwort eine ebenso berühmte wie konzise Formulierung seines Grundgedankens: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (MEW 13, 8 f.) Gegenstand der Politischen Ökonomie ist die gesellschaftliche Produktion, und das schon deshalb, weil der Mensch das einzige Lebewesen ist, das die zur Befriedigung seiner Bedürfnisse erforderlichen Lebensmittel durch Arbeit herstellt. Insofern ist die Produktion als Grundkategorie anzusehen, als ein alle Teilaspekte übergreifendes Allgemeines. In der Produktion drückt sich ein gesellschaftliches Verhältnis der Menschen aus, durch das sich das Verhältnis der Gattung zur Natur bestimmt. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse und Voraussetzungen der Produktion nennt Marx Produktionsverhältnisse. Kapitalistische Produktionsverhältnisse sind dadurch charakterisiert, dass der Produzent (der Arbeiter) von den Produktionsmitteln getrennt wird und seine Arbeitskraft als Ware verkaufen muss. Unter Produktivkraft versteht Marx einerseits die unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen inhärent.“ (Hans Heinz Holz, Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie, Bd. 3, Berlin 2011, S. 126) Ich verwende den Begriff des Kategorialen in dieser logisch-ontologischen Bedeutung allgemeinster begrifflicher Bestimmungen des Seins, und zwar nicht im Sinne eines naiven Realismus, sondern im Sinn der dialektischen Verschränkung von Sein und Denken. Auch Marx spricht, wie wir sehen werden, von Kategorien als allgemeinsten Grundbegriffen für seinen wissenschaftlichen Gegenstandsbereich, die politische Ökonomie.
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mögliche Produktivität der Arbeit als auch das Verhältnis der gesellschaftlich organisierten Arbeitskraft zu den Produktionsmitteln – und also auch zur Natur im Ganzen. Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte stehen in einem widerspruchsvollen Verhältnis, weil die Entwicklung der Produktivkräfte den Veränderungen der Produktionsverhältnisse vorausgeht. Zu revolutionären Veränderungen der Gesellschaft kommt es nach Marx dann, wenn die veralteten Produktionsverhältnisse der Entwicklung der Produktivkräfte im Wege stehen. Die widerspruchsvolle Einheit, das dialektische Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen drückt sich in den gesellschaftlichen Formen des Bewusstseins aus: Die Basis-Überbau-Theorie kann als der Versuch verstanden werden, diese ideologischen Bewusstseinsformen als Ausdrucksgestalten dieser gesellschaftlichen Widersprüche zu begreifen. Das Recht, die Politik, die Kunst oder auch Wissenschaft und Philosophie stellen keine von den materiellen Lebensverhältnissen unabhängigen Ideenreiche dar, sondern sind Ausdruck der widersprüchlichen Entwicklung dieser materiellen Verhältnisse – Marx spricht von einer ‚Entsprechung‘ und davon, dass ihr gesellschaftliches Sein das Bewusstsein der Menschen ‚bestimmt‘. Alles kommt darauf an, dieses Verhältnis richtig, d. h. in einem nicht deterministischen Sinne zu verstehen. Die berühmte und oft falsch in eben diesem Sinne eines deterministischen Kausalverhältnisses missverstandene Basis-Überbau-Theorie beschreibt nämlich ein dialek tisches Verhältnis, das gerade in Zeiten der Krise höchst widersprüchliche Formen annehmen kann: „Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.“ (MEW 13, 9) Der Begriff ‚Ideologie‘ hat in der Alltagssprache unserer Zeit einen höchst ungenauen Bedeutungsspielraum: Als ideologisch gilt alles, was an bestimmte welt anschauliche Prämissen gebunden ist und damit von der vermeintlichen Objektivität einer Aussage unterschieden werden muss – und deshalb ist Ideologie in der öffentlichen Auseinandersetzung immer im Sinne eines Vorwurfs gemeint. Marx und Engels dagegen geben dem Begriff in der „Deutschen Ideologie“ einen streng kategorialen Sinn: „Die Produktion der Ideen, Vorstellungen des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen
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Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. (…) Das Bewußtsein kann nie etwas Anderes sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.“ (MEW 3, 26) Mit ‚Ideologie‘ ist ein dialektisches, d. h. wechselwirkendes Verhältnis von Sein und Bewusstsein bezeichnet, und dieser Begriff hat deshalb kategorialen Status, weil damit das grundlegende Verhältnis von Sein und Bewusstsein im Sinne einer philosophischen Grundaussage ausgedrückt ist.196 Es geht nicht um die eine oder andere ‚Meinung‘ im Gegensatz zu objektivem Wissen, sondern darum, dass gesellschaftliches Sein in den verschiedenen Formen menschlichen Bewussteins erscheint, Bewusstsein also nicht, wie im Idealismus, das Erste und Wirklichkeit Konstituierende ist, sondern ein bewusstes Sein, in dem sich die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen manifestiert und seine Beziehung zu ihr ausdrückt. Dieses Verhältnis kann selbstverständlich im Sinne einer Kausalbeziehung verstanden werden, Marx meint es jedoch als dialektisches Wechselwirkungsverhältnis, in dem das Bewusstsein als Medium verstanden ist, in dem materielle Verhältnisse erscheinen und auf diesen ‚wirklichen Lebensprozess‘ zurückwirken. Das Wort ‚Entsprechung‘ drückt diese offene, nicht deterministisch verstandene Beziehung der Wechselwirkung zwischen Sein und Bewusstsein aus.197 Die in einer Gesellschaft vorhandenen Formen der Ideologie können sich gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung langsam und konservativ entwickeln, aber es gibt auch, um es mit Ernst Bloch zu sagen, Formen ‚antizipierenden‘ Bewusstseins, durch das Veränderungen in der Gesellschaft angestoßen und ideell vorweggenommen werden. Das Verhältnis von Sein und Bewusstsein muss also, sofern es dialektisch gedacht wird, als ein Feld offener und durch lässiger Wechselwirkungen verstanden werden. Die zweite Grundbestimmung der Ideologie zielt ebenfalls auf eine kategoriale, d. h. allgemeine Aussage über gesellschaftlich verfasstes Bewusstsein überhaupt: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. (…) Jede neue Klasse (…) ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Walter Benjamin hat im Zusammenhang der Ideologietheorie in sehr erhellendem Sinn vom Ausdruckscharakter des Überbaus gesprochen: „Die Frage ist nämlich: wenn der Unterbau gewissermaßen im Denk- und Erfahrungsmaterial den Überbau bestimmt, diese Bestimmung aber nicht die des einfachen Abspiegelns ist, wie ist sie dann (…) zu charakterisieren? Als deren Ausdruck. Der Überbau ist Ausdruck des Unterbaus.“ (Walter Benjamin, Das Passagenwerk. In: Gesammelte Schriften, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 5, Ffm. 1982, S. 495. 197 Auch Engels hat auf dieser relativen Selbstständigkeit der Ideologie bzw. der Bewusstseinsformen immer bestanden, wie der späte Briefwechsel zeigt. 196
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Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen, d. h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen.“ (MEW 3, 46 und 47) Damit ist ausgedrückt, dass geistige Prozesse immer ideologisch sind in dem Sinn, dass sie ein partikulares gesellschaftliches Interesse artikulieren. Es gibt also nicht, wie im alltagssprachlichen Gebrauch des Wortes insinuiert, ideologische und wahre Aussagen, sondern grundsätzlich alle Bewusstseinsformen sind Ideologie in dem Sinn, dass sie gesellschaftliche Interessen artikulieren. Weiter nun sagt Marx, dass die ökonomisch herrschende Macht auch die das allgemeine Bewusstsein einer Epoche beherrschende geistige Macht sei – und gibt die logische Form an, in der sich diese ideologische Herrschaft über die Köpfe (und Herzen!) der Menschen vollzieht und durchsetzt: das besondere Interesse gibt sich die Form des Allgemeinen. Deshalb ist Ideologiekritik und kritische Wissenschaft in allen Bereichen menschlicher Bewusstseinsbildung so entscheidend für die Möglichkeit von Emanzipation: weil sich diese leise Verschiebung von der ideologischen Artikulation eines Partikularinteresses zum Interesse der Menschheit im Rücken des Bewusstseins vollzieht und bis in die feinsten Verästelungen seiner Gehalte manifestiert und durchsetzt. Aber auch dieser kategoriale Aspekt der Ideologie ist nicht im Sinn einer mechanischen Wirkung zu verstehen, wie das schöne Beispiel der Kunst zeigt, das Marx in der zunächst nicht veröffentlichten Einleitung seiner Schrift ‚Zur Kritik der Politischen Ökonomie‘ diskutiert: „Bei der Kunst bekannt, daß bestimmte Blütezeiten derselben keineswegs im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft (…) stehn.“ (MEW 13, 640) An diesem Beispiel zeigt sich, dass Marx eine dialektische Beziehung von materiellem Lebensprozess und den sie begleitenden Bewusstseinsformen herstellt, aber gleichzeitig ihre relative Selbständigkeit unterstreicht: Klassische Kunst kann unter noch nicht sehr entwickelten gesellschaftlichen Bedingungen entstehen und insofern über sie hinausweisen; ebenso zeigt das Beispiel der Kunst, dass gerade klassische Werke auch über ihre gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen hinaus wirken, weil sie eben nicht nur Ideologie (ein als Allgemeines dargestelltes partikulares Interesse) darstellen, sondern ein wirklich Allgemeines zum Ausdruck bringen: „Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehn, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.“ (MEW 13, 641) Am Beispiel der Kunst reflektiert Marx also zwei kategoriale Grundprobleme im Verhältnis von Sein und Bewusstsein: die dialektisch-offene Wechselwirkung und Durchlässigkeit, durch das es charakterisiert ist, und das Problem, wie im strengen kategorialen Sinn des Begriffs der Ideologie ein nicht nur Ideologisches an den Bewusstseinsgehalten ausgemacht und erklärt werden kann. Anders gesagt: Die ‚Schwierigkeit‘ liegt darin, wie man den Widerspruch in den Formen gesellschaftlichen Bewusstseins selbst
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verstehen kann, einerseits Ideologie (Ausdruck eines partikularen Interesses mit Anspruch auf allgemeine Geltung) zu sein und andererseits doch ein wirklich all gemein Menschliches zu artikulieren. Der erste Begriff, den Marx in seiner Schrift im Sinne einer Kategorie einführt, ist die Ware. Friedrich Engels hatte das in seiner Rezension sehr genau gesehen und ausgesprochen, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Methode der Kritik der politischen Ökonomie als kritische Transformation von Hegels Methodenverständnis aus der Logik zu verstehen ist, die in der unmittelbaren Hegelnachfolge „verschollen“ gewesen sei, „weil die Hegelsche Schule nichts mit ihr anzufangen gewußt hatte.“ (MEW 13, 473) Dann bringt Engels diese Methode in wenigen Worten auf den Punkt: „Die politische Ökonomie fängt an mit der Ware, mit dem Moment, wo Produkte – sei es von einzelnen, sei es von naturwüchsigen Gemeinwesen – gegeneinander ausgetauscht werden. Das Produkt, das in den Austausch tritt, ist Ware. Es ist aber bloß dadurch Ware, daß sich an das Ding, das Produkt, ein Verhältnis zwischen zwei Personen oder Gemeinwesen knüpft, das Verhältnis zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten, die hier nicht mehr in derselben Person vereinigt sind. (…) Die Ökonomie handelt nicht von Dingen, sondern von Verhältnissen zwischen Personen und in letzter Instanz von Klassen; diese Verhältnisse sind aber stets an Dinge gebunden und erscheinen als Dinge.“ (MEW 13, 475 f.) Engels zeigt an dieser Stelle sehr klar, dass die allgemeine Struktur des dialektischen Scheins, wie sie oben im Zusammenhang der Wirklichkeit des Scheins in ihren Grundzügen schon entwickelt wurde, auch an der Ware aufgezeigt werden kann: sie ist ein Ding im Verhältnis, am Dinglichen erscheint ein nicht dingliches Verhältnis.198 Diese Einheit von Substanzialität und Relativität der Ware fasst Marx in die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert, ebenfalls zwei Begriffe, die in seiner Theorie streng kategorialen Status haben. Er hat diese dialektische Grundstruktur der Ware deutlich ausgesprochen: „Erschien die einzelne Ware unter dem Gesichtspunkt des Gebrauchswertes ursprünglich als selbständiges Ding, so war sie dagegen als Tauschwert von vorn herein in Beziehung auf alle andern Waren betrachtet.“ (MEW 13, 29) Im „Kapital“ hat Marx das später in deutlicher Anspielung auf Hegels Logik formuliert: „Die Ware ist zunächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art Ich habe an anderer Stelle gezeigt, wie genau diese Grundbestimmung der Ware, ein Ding im Verhältnis zu sein, dem Zusammenhang von Seins- und Wesenslogik in Hegels „Wissenschaft der Logik“ entspricht: Vgl. Jörg Zimmer, „Die Stufe des Scheins. Zum spekulativen Begriff der bürgerlichen Gesellschaft bei Hegel und Marx.“, a. a. O.; zum Problem der Wirklichkeit des Scheins und den strukturellen Ähnlichkeiten dieses Begriffs bei Platon, Hegel und Marx vgl. Jörg Zimmer, „Ontologie und Dialektik“. In: Jan Urbich/Jörg Zimmer (Hg.), Handbuch Ontologie, a. a. O., S. 459 ff.
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befriedigt. (…) Jedes nützliche Ding (…) ist unter doppeltem Gesichtspunkt zu betrachten, nach Qualität und Quantität. (…) Ihre (der Waren, J. Z.) körperlichen Eigenschaften kommen überhaupt nur in Betracht, soweit selbe sie nutzbar machen, also zu Gebrauchswerten. Andererseits aber ist es grade die Abstraktion von ihren Gebrauchswerten, was das Austauschverhältnis der Waren augenscheinlich charakterisiert.“ (MEW 23, 49 und 51 f.) Der Scheincharakter der Ware beruht also auf einer substantiellen Wirklichkeit, die sich in eine Struktur von ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen auflöst. Substanz und Struktur der Relativität bilden eine unaufhebbare Einheit, und darin besteht ihre Dialektizität: Ohne das qualitative Moment eines Dinges mit nützlichen Eigenschaften lässt sich das quantitative, relative Moment des Tauschwertes nicht realisieren. Dennoch bedeutet der Austauschprozess eine Abstraktion vom bzw. eine Gleichgültigkeit gegen den Gebrauchswert. Genau in diesem Widerspruch in der Sache, d. h. der Ware selbst besteht ihr objektiver Scheincharakter. Folgen wir Marx’ Grundgedanken, dann leben wir in einer Gesellschaft, in der Produkte hergestellt werden, die in ihrem Gebrauchswert zwar einen Bezug auf menschliche Bedürfnisse haben, deren Befriedigung jedoch in einer ökonomischen Form geschieht, in der diese Funktion der Ware, Bedürfnisse zu befriedigen, nur Voraussetzung bzw. Vehikel der Tauschwertrealisierung ist – und also nicht Zweck der Produktion. Das Tauschverhältnis legt sich über die substantielle Wirklichkeit wie ein Netz aus Schein.199 Marx nennt das den ‚Fetischcharakter‘ der Ware: „Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr…“ Aber sobald z. B. ein Tisch „als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen anderen Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“ (MEW 23, 85) Waren sind „sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge“ (MEW 23, 86), der Tisch hat vier Beine, die man sieht, und ist gleichzeitig verwoben in ein Netz von Tauschbeziehungen, die man nicht sehen, sondern nur erkennen kann. In der Ware – und deshalb ist sie die kategoriale ‚Elementarform‘ der Hegel hat zuerst die bürgerliche Gesellschaft als eigene Sphäre, nämlich als System der Bedürfnisse beschrieben. Er arbeitet klar die immanente Tendenz zur Differenzierung der Bedürfnisse und Arbeitsteilung heraus – und damit der allgemeinen Abhängigkeit, die die Tauschgesellschaft bzw. das „System des Besitzes“ bedeutet (und genau diesen Gedanken nimmt der Hegelianer Marx auf ). Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Paragraphen 182 ff., HW 5, 165 ff.; vgl. auch Jörg Zimmer, „Die Stufe des Scheins“, a. a. O.
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bürgerlichen Gesellschaft – stellt sich das „bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen“ dar, „welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.“ (Ebd.)200 Die Menschen sehen nur den – heute in der Warenästhetik immer vollkommener zelebrierten – schönen Schein der Warenwelt, nicht jedoch, dass jedes dieser konkreten Gegenstände im anschaulich nicht ein holbaren gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang steht und ihn ausdrückt – und damit unter Bedingungen produziert wird, von denen die sinnliche Anmutung der Ware gerade abstrahiert. In der Warenwelt erscheinen die gesellschaftlichen Beziehungen in der Form von Dingen – eben der geheimnisvollen „Warenform“, in der „das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten“ als ein „außer ihnen existierendes Verhältnis von Gegenständen“ (MEW 23, 86) erscheint. Diese Verdinglichung menschlicher Beziehungen ist ein Grundmerkmal der kapitalistischen Produktionsweise. In der kleinen Schrift „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ beginnt Marx das Kapitel über die Ware mit einem Hinweis darauf, dass schon Aristoteles die begriffliche Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert kannte. Der Blick ins neunte Kapitel des ersten Buches der „Politik“ des Aristoteles lohnt sich, um sich den Unterschied von vorkapitalistischer und kapitalistischer Produktionsweise klarzumachen: „Von jedem Besitzstück gibt es einen zweifachen Gebrauch; jeder von beiden ist Gebrauch eines Dinges an sich oder als solchen, doch ist es nicht jeder auf gleiche Weise. Der erste Gebrauch ist dem Dinge eigentümlich, der andere ist es nicht; ein Beispiel für beide Weisen des Gebrauchs ist etwa bei einem Schuh einerseits das Anziehen, andererseits seine Verwendung als Tauschobjekt. Beides ist ein Gebrauch des Schuhes. Auch wer ihn an jemanden, der ihn nötig hat, für Geld oder Lebensmittel vertauscht, gebraucht den Schuh als Schuh, nur nicht nach dem ihm eigentümlichen Gebrauch, da er ja nicht des Tausches wegen gemacht worden ist.“201 Der erste Gebrauch nutzt den Schuh in seiner Eigenschaft als Bekleidungsstück zur Befriedigung eines Bedürfnisses, die Nutzung als Tauschobjekt dagegen sieht vom eigentlichen Zweck ab. Dann kommt das Entscheidende: Aristoteles sagt, dass der Schuh nicht zum Zwecke des Tausches, sondern eben zum Gebrauch produziert worden ist. Das bezeichnet exakt den Unterschied zwischen einer vorkapitalistischen Die Phantasmagorie – auch das hat Benjamin im Passagenwerk gründlich herausgearbeitet – ist wie eine Allegorie der neuen Warenwelt des 19. Jahrhunderts anzusehen. Die Phantasmagorie – von griechisch phántasma, Trugbild – ist eine Technik des 19. Jahrhunderts, um mittels optischer Täuschungen Bilder auf die Bühne zu projizieren. Benjamin greift Marx’ Rede von der ‚phantasmagorischen Form‘ der Ware auf, um die Phantasmagorie als Allegorie der Warenwelt überhaupt aufzufassen und sie in den Auslagen und Schaufenstern seines Werkes über die Pariser Passagen in ihrem Scheincharakter in allen Facetten auszubreiten. 201 Aristoteles, Politik. In: Philosophische Schriften, Hamburg 1995, Bd. 4, S. 18 (1157 a). 200
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und der kapitalistischen Produktionsweise: In Ersterer wird zur Bedürfnisbefriedigung produziert und nur das Mehrprodukt getauscht. Aristoteles weist auf die Entstehung von einfacher Arbeitsteilung hin, die dabei entsteht: „Der Tauschhandel kann bei allen Dingen stattfinden und hat zuerst mit dem, was naturgemäß ist, angefangen, indem die Menschen von der einen Art von Produkten mehr, von der anderen weniger hatten, als sie brauchten. Hieraus erhellt auch, dass das Krämer gewerbe nicht von Natur zur Kunst des Gelderwerbs gehört; denn der Tauschhandel brauchte nur soweit zu gehen, als es für das Bedürfnis genug war.“202 Die Produktion ist bedürfnisorientiert, und der Zweck der Produktion ist nicht der Tausch, sondern die Befriedigung der Bedürfnisse. Tausch ist nicht Zweck der Produktion, sondern ein Mittel zur besseren Verteilung des Mehrproduktes mit dem Ziel, Bedürfnisse besser zu befriedigen. Genau das ändert sich mit der kapitalistischen Produktionsweise: Indem sie Waren produziert, wird Tausch und mit ihm Kapitalakkumulation zum Zweck der Produktion. Die Universalisierung der Tauschbeziehung als kategoriale Grundbestimmung der bürgerlichen Gesellschaft ist Kern der Analyse der Ware bei Marx. Seine Frage zielt jedoch näher auf den Ursprung der Wertbildung überhaupt und identifiziert ihn in der Arbeit: „Als Tauschwert sind alle Waren nur bestimmte Maße fest geronnener Arbeitszeit. / Zum Verständnis der Bestimmung des Tauschwerts durch Arbeitszeit sind folgende Hauptgesichtspunkte festzuhalten: die Reduktion der Arbeit auf einfache, sozusagen qualitätslose Arbeit; die spezifische Art und Weise, worin die Tauschwert setzende Arbeit gesellschaftliche Arbeit ist; endlich der Unterschied zwischen der Arbeit, sofern sie in Gebrauchswerten, und der Arbeit, sofern sie in Tauschwerten resultiert.“ (MEW 13, 18) Marx räumt hier mit einem Grundmythos der bürgerlichen Gesellschaft auf, nämlich der Robinsonade, nach der das Individuum allein und für sich produziert. Jede Produktion hat gesellschaftliche Voraussetzungen bzw. Bedingungen, und deshalb ist sie als gesellschaftliche Arbeit zu verstehen. In der kapitalistischen Produktionsweise wird Arbeit selbst Ware, also auf ihren Tauschwert ‚reduziert‘. Arbeit kann auch gebrauchswertorientiert sein: Als Beispiel könnte man die Arbeit im eigenen Nutzgarten zur Selbstversorgung im Vergleich zum Lohnarbeiter in einem industriellen Obst- und Gemüseanbau nennen. Tauschwertorientiert und in seinen Arbeitsbedingungen vom Tauschwert bestimmt ist nicht die Arbeit im Eigenbedarfsgarten, sondern die des Lohnarbeiters. Der frühe Marx hatte diese Problematik noch unter dem Titel ‚entfremdete Arbeit‘ gefasst, jetzt wird sie genauer in der ökonomischen Form Tauschwert setzender Arbeit reformuliert und analysiert. Dabei ist „unterstellt, daß die in einer Ware enthaltene Arbeitszeit die zu ihrer Produktion notwendige Arbeitszeit ist“ (MEW 13, 19), was bei einer an Tauschwertmaximierung orientierten Produktion Ebd.
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Rationalisierungsprozesse bedeutet, die nicht an den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen orientiert sind. Die Grunderkenntnis von Marx besteht nicht allein darin, dass Arbeit wert bildend ist, sondern darüberhinaus, dass sie in der Form eine Ware, die sie in der kapitalistischen Produktionsweise annimmt, einen Mehrwert generiert, der im Preis der Arbeit nicht abgegolten, sondern vom Käufer der Arbeitskraft einbehalten wird: „Der Mehrwert, den das Kapital am Ende des Produktionsprozesses hat, – ein Mehrwert, der als höherer Preis des Produkts erst in der Zirkulation realisiert wird (…) heißt, dem allgemeinen Begriff des Tauschwerts gemäß ausgedrückt, daß die im Produkt vergegenständlichte Arbeitszeit (…) größer ist als die in den ursprüng lichen Bestandteilen des Kapitals vorhandne. Dies nun ist nur möglich, wenn die im Arbeitspreis vergegenständlichte Arbeit kleiner ist als die lebendige Arbeitszeit, die mit ihr gekauft worden ist.“203 Es findet also bei der Ware Arbeitskraft kein Äquivalententausch statt: „Der Austausch zwischen Kapital und Arbeit, dessen Resultat der Arbeitspreis ist, sosehr er von seiten des Arbeiters einfacher Austausch ist, muß von seiten des Kapitalisten Nicht-Austausch sein. Er muß mehr Wert erhalten, als er gegeben hat. Der Austausch von Seiten des Kapitals muß ein nur scheinbarer sein…“204 Marx entdeckt also einen Überschuss an Wert, den der Arbeiter in seiner Arbeitszeit zwar produziert, aber nicht erhält. Er entdeckt das Geheimnis der Produktion, das in dieser verschwiegenen Mehrwertbildung besteht. Die bürgerliche Ökonomie weckt den Schein, dass dieser Wertzuwachs in der Zirkulation entsteht. Bei der Mehrarbeit des mittelalterlichen Frondienstes etwa liegt der zugrundeliegende Sachverhalt auf der Hand: der Leibeigene muss einen Teil seiner Arbeitszeit dem Fronherrn zur Verfügung stellen. Der Mehrwert in der kapitalistischen Produktionsweise dagegen verbirgt sein Geheimnis hinter dem scheinbaren Äquivalententausch. Der Mehrwert ist nicht unmittelbar zu sehen, sondern kann nur über die Abstraktionsebene, die Marx’ politische Ökonomie an die Hand gibt, überhaupt erkannt werden. Es ist eines der großen Probleme der politischen Theorie unserer Zeit, dass sie immer erst jenseits dieser Ebene der mehrwertbildenden gesellschaftlichen Arbeit ansetzt, also die private Aneignung des Mehrwerts stillschweigend anerkennt und unterschlägt. Solange über die Produktion und die Verteilung der geschaffenen Werte nicht gesellschaftlich entschieden werden kann, ist Demokratie nur eine halbe und unvollständige Demokratie. Ein weiterer Aspekt der Wertbildung besteht in dem durch Arbeit realisierten Naturverhältnis: „Von der Arbeit, soweit sie Gebrauchswerte hervorbringt, ist es falsch zu sagen, daß sie einzige Quelle des von ihr hervorgebrachten, nämlich des Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. (Rohentwurf ) 1857-1858, Berlin 1974, S. 227. 204 Ebd., S. 228. 203
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stofflichen Reichtums sei. Da sie die Tätigkeit ist, das Stoffliche für diesen oder jenen Zweck anzueignen, bedarf sie des Stoffes als Voraussetzung. (…) Als zweckmäßige Tätigkeit zur Aneignung des Natürlichen in einer oder der anderen Form ist die Arbeit Naturbedingung der menschlichen Existenz, eine von allen sozialen Formen unabhängige Bedingung des Stoffwechsels mit der Natur.“ (MEW 13, 23 f.) In jeder Form der Arbeit findet ein Stoffwechsel mit der Natur statt. Die tauschwertorientierte gesellschaftliche Form jedoch, in der die Arbeit in der kapitalistischen Produktionsweise organisiert ist, führt zu einer Ausbeutung nicht nur der Arbeitskraft des Menschen, sondern auch zu einer notwendigen Steigerung der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, weil sie ohne Wachstum nicht existieren kann. Abschließend ein Blick auf die „Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie“, die Marx gerade aus seiner wissenschaftlichen Grundhaltung heraus unpubliziert gelassen hatte, weil die „Vorwegnahme erst zu beweisender Resultate störend scheint“. (MEW 13, 7) Diese Einleitung ist jedoch, gerade was die kategorialen Grundbestimmungen angeht, für eine philosophische Erörterung des Projektes von Marx von großer Bedeutung, weil sie eine konzise begriffliche Zusammenfassung der Ergebnisse darstellt. Marx bestimmt zunächst die in „Gesellschaft produzierende(n) Individuen – daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen“ als „Ausgangspunkt“ und weist den „Schein der kleinen und großen Robinsonaden“ zurück, die in der bürgerlichen Philosophie und Ökonomie den Versuch darstellen, diesen Ausgangspunkt beim vereinzelten und isolierten Individuum zu nehmen. (MEW 13, 615) Diese erste philosophisch-begriffliche Grundbestimmung bringt mit sich, die Produktion als ökonomische Grundkategorie einzuführen.205 In der Produktion verwirklicht der Mensch, wie oben gesehen, sein Naturverhältnis: „Alle Produktion ist Aneignung der Natur von seiten des Individuums innerhalb und vermittelst einer bestimmten Gesellschaftsform.“ (MEW 13, 619) Und weil das so ist, kann das Naturverhältnis auch nicht allein durch ein verändertes Verhalten der Individuen grundsätzlich verändert werden, sondern nur durch eine Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise selbst, die auf Ausbeutung von Mensch und Dies geschieht in Abgrenzung zur bürgerlichen Ökonomie, die gern die Distribution in den Vordergrund stellt, in der Mehrwert allererst als Kapital realisiert wird, und die Produktion und mit ihr das ‚Geheimnis‘ der Mehrwertbildung unter objektive, also nicht veränderbare Gesetze stellen möchte: „Die Produktion soll vielmehr, siehe z. B. Mill – im Unterschied von der Distribution etc. als eingefaßt in von der Geschichte unabhängigen ewigen Naturgesetzen dargestellt werden, bei welcher Gelegenheit dann ganz unter der Hand bürgerliche Verhältnisse als unumstößliche Naturgesetze der Gesellschaft in abstracto untergeschoben werden. Dies ist der mehr oder minder bewußte Zweck des ganzen Verfahrens. Bei der Distribution dagegen sollen die Menschen in der Tat allerlei Willkür sich erlaubt haben.“ (MEW 13, 618 f.) Ein schönes Beispiel für konkrete Ideologiekritik bei Marx.
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Natur zielt und diese, weil sie auf Wachstum und Kapitalakkumulation beruht, steigern muss. Um die Produktion als Grundkategorie begründen zu können, bestimmt Marx das Verhältnis der Produktion zu Distribution, Austausch und Konsumtion: „Die flach auf der Hand liegende Vorstellung: In der Produktion eignen (bringen hervor, gestalten) die Gesellschaftsglieder die Naturprodukte menschlichen Bedürfnissen an; die Distribution bestimmt das Verhältnis, worin der einzelne teilnimmt an diesen Produkten; der Austausch führt ihm die besondren Produkte zu, in die er das ihm durch die Distribution zugefallne Quotum umsetzen will; endlich in der Konsumtion werden die Produkte Gegenstände des Genusses, der individuellen Aneignung.“ (MEW 13, 620) Um im Verhältnis der Momente des Ganzen des ökonomischen Gesamtzusammenhangs die Produktion als die fundamentale Kategorie ausweisen und begründen zu können, greift Marx auf zwei Grundfiguren der Dialektik aus Hegels Logik zurück, der Figur des Schlusses und des ‚übergreifenden Allgemeinen‘: „Produktion, Distribution, Austausch, Konsumtion bilden so einen regelrechten Schluß; Produktion die Allgemeinheit, Distrubution und Austausch die Besonderheit, Konsumtion die Einzelheit, worin sich das Ganze zusammenschließt.“ (MEW 13, 621) Marx spielt hier auf Hegels Schlusslehre an.206 In Hegels Logik geht es auf jeder Ebene um die logische Beziehung von Allgemeinem (Sein bzw. Logik des Seins), Besonderem (Wesen bzw. Logik der Relationalität) und Einzelnem (Logik des Begriffs). Auf der Ebene der Begriffslogik, auf der Hegel seine Schlusslehre entwickelt, wird das Verhältnis von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem in verschiedenen Schlussformen entwickelt. Im disjunktiven Schluss wird die logische Einheit bzw. der Zusammenschluss von Allgemeinem, Besonderen und Einzelnem erreicht. Marx überträgt diese logische Struktur auf seinen wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand, die politische Ökonomie, um alle Momente des ökonomischen Prozesses als dialektische Einheit denken zu können. Die Produktion ist das Allgemeine (nach dem Dreiklang der logischen Entwicklung bei Hegel: das substantielle Moment), Distribution und Austausch sind das Besondere (nach Hegels Gliederung der Logik: das sich in Verhältnissen oder Beziehungen als Negativität erweisende Substantielle) und Konsumtion das Einzelne, in dem sich (wie es in Hegels Logik im Begriff geschieht) das Ganze zu einer Einheit zusammenschließt. Wichtig ist hier wiederum, dass das Ende des Schlusses, die Konsumtion als Zweck, sich mit dem Anfang, der Produktion zusammenschließt. Das wäre nach Marx eine vernünftige Wirtschaftsweise – nämlich dass produziert wird, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Auch deshalb wählt er die Analogie zur Hegel’schen Lehre des Schlusses, die im Zusammenhang der Logik das Vernünftige Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik, HW 4, S. 90 ff.; und Hegel, Enzyklopädie der philoso phischen Wissenschaften, HW 6, S. 191 ff. (Paragrafen 181-193).
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repräsentiert. Tatsächlich wird aber in der kapitalistischen Produktion die vermittelnde Ebene der Tauschbeziehungen zum eigentlichen Zweck des wirtschaftlichen Gesamtzusammenhangs. Sie ist durchrationalisiert in ihren Mitteln, jedoch höchst irrational in ihren Zwecken.207 Marx appliziert auch die zweite Grundfigur der dialektischen Logik Hegels, die Figur des übergreifenden Allgemeinen, auf seinen wissenschaftlichen Unter suchungsgegenstand: „Das Resultat, wozu wir gelangen, ist nicht, dass Produktion, Distribution, Austausch, Konsumtion identisch sind, sondern dass sie alle Glieder einer Totalität bilden, Unterschiede innerhalb einer Einheit. Die Produktion greift über, sowohl über sich in der gegensätzlichen Bestimmung der Produktion als über die andren Momente. Von ihr beginnt der Prozess immer wieder von neuem.“ (MEW 13, 630 f.) Gemeint ist bei Hegel die übergreifende Natur des Allgemeinen, es selbst und zugleich sein Anderes zu sein, den Unterschied in sich zu enthalten und so als Allgemeines Selbstunterschied zu sein. In dieser Gedankenfigur wird das Allgemeine zu einer Einheit, das alle in ihr umfasste Unterschiede in sich enthält und sie so übergreift.208 Hegel schreibt: „Das Allgemeine als der Begriff, ist es selbst und sein Gegentheil, was wieder es selbst als seine gesetzte Bestimmtheit ist; es greift über dasselbe über, und es ist in ihm bey sich.“ (HW 4, 38) Man sieht, dass Marx die wörtliche Formulierung und damit den Grundgedanken des übergreifenden All gemeinen übernimmt, um anzuzeigen, dass das Ganze der politischen Ökonomie von der Produktion her aufgefasst werden muss, die alle Momente ihres Gesamt zusammenhangs in sich enthält und übergreift. Ohne diese Bestimmung des All gemeinen, das Übergreifende eines Zusammenhangs von Unterschiedenen und damit von Momenten eines Ganzen zu sein, könnte Totalität nicht gedacht werden. Schließlich bezieht sich Marx explizit auf Hegel, wenn er von der Methode spricht: „Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen Man denke nur an die ganze Dialektik und Dynamik der Differenzierung der Arbeitsteilung, aber eben auch der Bedürfnisse, durch die schon Hegel die bürgerliche Gesellschaft charakterisiert sieht. Es geht nicht darum, menschliche Bedürfnisse angemessen zu entwickeln und zu befriedigen, sondern darum, sie zu schaffen, um sie dann mit einer Flut von Waren befriedigen zu können. In einer Zeit, die der Klimakatastrophe entgegengeht, zeigt sich endgültig die Destruktivität dieser Produktionsweise, und offenbart, dass das kein Modell vernünftigen Wirtschaftens sein kann. 208 Man denke hier nur an den berühmten Satz von Spinoza: verum est index sui et falsi (den Marx gern zitiert hat: Vgl. MEW 23, 623): Das Wahre enthält sein Gegenteil, das Falsche, und ist auch nur falsch vom übergreifenden Begriff des Wahren her (denn umgekehrt funktioniert der Satz nicht). Zu Marx’ Verhältnis zu Spinoza vgl. Jörg Zimmer, „Spinoza in the Vormärz Period. On the Reception of the Tractatus Theologico-Politicus in the Work of Feuerbach and Marx“. In: Josep Olesti/Jörg Zimmer (Hrsg.), Religion and Power in Spinoza. Essays on the Tractatus Theologico-Politicus. Bern 2020, S. 131 ff. 207
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ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt.“ Weiter heißt es dann, in deutlicher terminologischer Anspielung auf Hegel, dass die „Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren.“ (MEW 13, 632) Marx’ Kritik an Hegel bezieht sich auf den Status des Denkens, den er als Materialist anders beurteilen muss als der Idealist Hegel, nicht jedoch auf die Methode als solche: In der Dialektik ist das Abstrakte immer die isoliert betrachtete Erscheinung, das Konkrete indes ist Resultat in dem Sinn, dass das begreifende Denken es aus seinen Widersprüchen versteht, d. h. in den Zusammenhängen, in denen es steht, immer genauer bestimmt. Das nennt Marx ganz im Sinne Hegels „die konkrete Totalität als Gedankentotalität“, und das macht dieses „Gedankenkonkretum“ zu einem „Produkt des Denkens“ (ebd.). Und in diesem Zusammenhang kommt Marx explizit auf sein Verständnis der Kategorien zu sprechen: Das „Beispiel der Arbeit zeigt schlagend, wie selbst die abstraktesten Kategorien, trotz ihrer Gültigkeit – eben wegen ihrer Abstraktion – für alle Epochen, doch in der Bestimmtheit dieser Abstraktion selbst ebensosehr das Produkt historischer Verhältnisse sind…“ (MEW 13, 636) Das ist ebenfalls hegelianisch gedacht: Kategorien, ihrer philosophischen Definition nach allgemeinste und damit invariante Grundbegriffe, sind dialektisch verstanden zugleich in ihrer Historizität zu begreifen. Das in ihnen auffassbare Allgemeine bestimmt sich immer in der besonderen Form einer historischen Ausprägung. Aus dieser dialektischen Einheit von logischer Allgemeinheit und historischer Bestimmtheit kommt es, „dass die Kategorien daher Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzelne Seiten dieser bestimmten Gesellschaft, dieses Subjekts“ sind bzw. zum Ausdruck bringen (MEW 13, 637). Mit diesem von Hegel aufgenommenen, dialektischen Begriff des Kategorialen kann Marx die bürgerliche Gesellschaft bzw. die kapitalistische Produktionsweise auf Grundbegriffe bringen, deren Historizität er selber reflektiert – und uns damit dazu auffordert, diese Grundbegriffe in unserer Zeit und für unsere historische Situation fortzubestimmen.
Politik als Ordnung der Kompossibilität Im Vorwort zu seiner Schrift „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ schreibt Marx: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann…“ (MEW 13, 9) An diese einsichtsvolle und
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realistische Aussage von Marx lässt sich aus der Erfahrung der Gegenwart eine Frage anschließen: Muss sie denn untergehen, nachdem die Produktivkräfte längst hinreichend entwickelt, ja sogar in Destruktivkräfte umgeschlagen sind? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit sich die Menschheit die Aufgabe stellt (und heute alternativlos stellen muss), eine Gesellschaftsformation zu überwinden, deren destruktive Grundstruktur die kategoriale Analyse ergeben hat? Es ist durch die Erfahrungen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts evident geworden, dass die kapitalistische Produktionsweise aus ihren immanenten ökonomischen Widersprüchen allein keineswegs zum Untergang verurteilt ist. Deshalb braucht es einen politischen Begriff ihrer Überwindung – und um diesen zu gewinnen braucht es einen Begriff des Politischen, der jenseits konkreter politisch-strategischer Erwägungen, die nicht in den Zusammenhang einer philosophischen Fragestellung gehören, die Grundelemente ihrer bestimmten Negation zu fassen imstande ist. Bestimmte Negation der kapitalistischen Gesellschaftsformation heißt, ihre Grundstruktur in den historischen Formen, die sie in der Gegenwart angenommen hat, und unter den konkreten Bedingungen und Möglichkeiten, die in dieser Gegenwart gegeben sind, politisch aufzuheben und in eine Form menschlicher Vergesellschaftung zu überführen, die diesen Bedingungen und Möglichkeiten der Gegenwart angemessen ist. Die von Marx ausgehenden Theorietraditionen sind nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts dabei grundsätzlich nicht mehr als Modelle zu nehmen, sondern auf ihr kritisches Potenzial hin zu prüfen und zu fragen, was sie zum Verständnis der Gegenwart und zur praktischen Gestaltung ihrer Probleme und Perspektiven beitragen können. Unsere Gegenwart ist eine Zeit permanenter Krise. Jenseits der nur immanent ökonomischen Seite zyklischer Krisen hat Marx den Kapitalismus in seiner ent wickelten Gestalt in sich selbst auch als gesellschaftlichen Dauerzustand der Krise verstanden. Die letzten Worte des „Kapital“ lauten: „Daß der Moment einer solchen Krise gekommen ist, zeigt sich, sobald der Widerspruch und Gegensatz zwischen den Verteilungsverhältnissen, daher auch der bestimmten historischen Gestalt der ihnen entsprechenden Produktionsverhältnisse einerseits und den Produktivkräften, der Produktionsfähigkeit und der Entwicklung ihrer Agentien andrerseits, Breite und Tiefe gewinnt. Es tritt dann ein Konflikt zwischen der materiellen Entwicklung der Produktion und ihrer gesellschaftlichen Form ein.“ (MEW 25, 891) Diese Krise und dieser Konflikt machen die Grunderfahrung auch unserer Epoche aus, einer Epoche des Übergangs, in der jedoch keineswegs ausgemacht ist, ob an ihrem Ende die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft stehen wird. Das widerspruchsvolle Verhältnis von Produktionsverhältnissen und der Entwicklung der Produktivkräfte, auf das Marx abhebt, ist heute in einer besonderen Weise zugespitzt: Führte dieser Widerspruch nach der klassischen Vorstellung von Marx in historischen Zeiten des Umbruchs zu revolutionären Umwälzungen der Gesellschaft, so muss man heute feststellen, dass sich anders als bei den gesellschaftlichen
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Veränderungen im Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft die bürgerlichen Produktionsverhältnisse in einer Weise erhalten haben und ihre Macht in globalem Maßstab ausdehnen konnten, dass ihre entwickelten Produktivkräfte eben nicht zu einem veränderten gesellschaftlichen Verhältnis geführt haben, sondern in Destruktivkräfte umgeschlagen sind. Wir leben, das Bonmot mag man mir verzeihen, in einer Welt entwickelter Destruktivkräfte. Ein schlagendes und existenzbedrohendes Beispiel ist die Klimakatastrophe, die endlich aus ihren Wurzeln im spezifischen Naturverhältnis kapitalistischer Produktion selbst begriffen und politisch bewältigt werden muss. Ein weiteres Beispiel ist die soziale Frage im globalen Maßstab: Die permanente Krise in den globalen ‚Verteilungsverhältnissen‘ führt heute zu einer nie dagewesenen Schere von Armut und Reichtum, die nicht mehr aus einer mangelnden Produktivkraftentwicklung, sondern ausschließlich aus der Struktur der Kapitalakkumulation und der privaten Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reichtums erklärt werden kann, die der kapitalistischen Produktionsweise inhärent sind. Christoph Henning hat die Grundfrage recht treffend auf den Punkt gebracht: „Eine Produktion und Aneignung von Gebrauchswerten nach den Bedürfnissen aller Gesellschaftsmitglieder und eine Regelung der Produktion, die die Arbeitslast insgesamt mindert, gleicher verteilt und ökologisch entgiftet, würde der Gesellschaft insgesamt zugute kommen, besonders den vielen Arbeitenden und Arbeitslosen. Wenn die Herrschaft des Privateigentums das verhindert, ist es zur Schranke geworden. (…) Marx zog daraus die Konsequenz, dass sich die private Verfügungsmacht über den gesellschaftlichen Reichtum überlebt habe. Eine gute Gesellschaft muss sich ihrer körperlich, seelisch und ökologisch destruktiven Dynamik entledigen.“209 Dieser ökonomischen Seite des Problems und ihrer Auswirkungen sowohl auf gesellschaftliche Verhältnisse im Allgemeinen als auch auf das gesellschaftliche Naturverhältnis im Besonderen tritt ein Problem zur Seite, das ebenfalls nur durch einen veränderten Begriff des Politischen – und deshalb auch nur politisch angemessen zu denken ist. Marx selbst hebt, wie gesehen, die relative Selbständigkeit der ideologischen Formen hervor, in denen sich gesellschaftliche Verhältnisse und Widersprüche darstellen und zum Austrag bringen. Die von Marx artikulierte These, dass die Partikularität eines Klasseninteresses ihren ideologischen Charakter darin zeigt, dass Christoph Henning, Marx und die Folgen, Stuttgart 2017, S. 84; weiter heißt es (ebd., S. 85): „Im Kapitalismus sieht Marx wachsende Probleme: Trotz des grotesken Reichtums in den Händen weniger wächst die Armut in weiten Teilen der Bevölkerung weltweit; es kommt durch diese soziale Schere zu sozialen Erosionen, politischen Spannungen und einer massiven Schädigung der Ökosphäre.“ Vgl. auch Karl Hermann Tjaden, Mensch – Gesellschaftsformation – Biosphäre. Über die gesellschaftliche Dialektik des Ver hältnisses von Mensch und Natur, Marburg 1990.
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es sich die Form des allgemeinen Interesses gibt, wird von den Prozessen der Diversifizierung gesellschaftlicher Lebensformen und ideologischer Ausdifferenzierung in der Gegenwart keineswegs widerlegt. Es ist heute schwieriger – und daher auch politisch wichtiger – geworden, zu zeigen, dass diese Vielfalt der Formen keineswegs im Widerspruch zu einem gesellschaftlichen Grundwiderspruch zwischen einer herrschenden und einer wie immer in sich ausdifferenzierten beherrschten Klasse steht. Klassen definieren sich nicht nach Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, sondern nach der Stellung der Menschen zu den Produktionsmitteln, und deshalb bleibt der Hauptwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft von ihrem bunten Erscheinungsbild unbetroffen. Man darf diesen Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit in der globalisierten Gegenwart jedoch nicht allein in der homogenen Form des Widerspruchs von Kapital und industriellem Proletariat denken und politisch akzentuieren, sondern muss das antagonistische gesellschaftliche Verhältnis eben in der ganzen Vielfalt seiner Formen auffassen und politisch kenntlich machen.210 Gerade in einer Zeit ideologischer Unübersichtlichkeit und der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Widersprüche und Bewusstseinsformen muss deshalb wieder und weiter über den Begriff der Hegemonie nachgedacht werden.211 Ein Hauptproblem, das die ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ aufwirft und das nur in einer kategorialen Analyse ihrer Grundbegriffe überhaupt als das zentrale Problem der kapitalistischen Produktionsweise einsehbar gemacht werden kann, ist der im Begriff der Ware entwickelte Unterschied zwischen Gebrauchswert und Tauschwert. Auf der Ebene des Politischen bedeutet diese Unterscheidung, das darin zum Ausdruck gebrachte Verhältnis von Bedürfnisorientierung der Produktion und der Diese Seite emanzipatorischen Umgangs mit gesellschaftlichen Widersprüchen und ihren ideologischen Ausdrucksformen hat Ernst Bloch schon in den 1930er Jahren im Begriff der Ungleichzeitigkeit gedacht: Vgl. Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1935. Es ist hier nicht der Ort, näher darauf einzugehen, vgl. Jörg Zimmer, Die Kritik der Erinnerung, a. a. O., S. 82 ff., Jörg Zimmer, „Ungleichzeitigkeit und Utopie. Ernst Blochs ästhetisches Denken im Exil“. In: Linda Maeding/Marisa Siguan (Hg.), Utopie im Exil. Literarische Figuratio nen des Imaginären. Bielefeld 2017, S. 17 ff. Ich beabsichtige, in einer eigenen Studie der Bedeutung dieses Konzeptes der Ungleichzeitigkeit für einen Begriff des Politischen im Anschluss an Marx nachzugehen, da hier eine eingehende Erörterung den Charakter des Problemaufrisses der politischen Grundprobleme einr Dialektik der Gegenwart sprengen würde. 211 Auch das kann hier nicht geschehen, ohne den Umfang dieses Kapitels zum Begriff des Politischen im Rahmen des Problemaufrisses der Gesamtkonzeption einer Dialektik der Gegenwart zu sprengen. Im Zusammenhang einer Studie zum Ungleichzeitigkeitstheorem kann auch die von Gramsci aufgeworfene Frage nach der Hegemonie in ihrer Bedeutung für die politischen Probleme der Gegenwart reflektiert werden. Vgl. auch Perry Anderson, Hegemonie. Konjunkturen eines Begriffs. Berlin 2018. 210
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Abstraktion von ihr im Tauschverhältnis immer wieder aufzuzeigen und freizulegen: In der kapitalistischen Produktionsweise ist die Bedürfnisbefriedigung nicht Zweck, sondern lediglich ein Nebenprodukt der Produktion. Politisch betrachtet muss der Schein, dass die kapitalistische Wirtschaft an menschlichen Bedürfnissen orientiert sei, aufgedeckt und in die Frage verwandelt werden, wie eine gebrauchswertorientierte Wirtschaft möglich wäre – und verbunden damit ist die weitergehende philosophische Frage zu stellen, was Bedürfnisse sind, wie sie gesellschaftlich angemessen entwickelt werden können und unter Bedingungen der heutigen Zeit auch, wie sie auf vernünftige Weise priorisiert werden können. Eine Theorie der Bedürfnisse zu entwickeln stellt ein Grundproblem jeder politischen Philosophie dar, die systematisch an der Dialektik orientiert ist. Eine im Ganzen gebrauchswertorientierte Produktion kann es nur durch die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise geben, da ihre Grundstruktur ja gerade darin besteht, im Warenfetischismus und der Tauschwertorientierung von den wirklichen Bedürfnissen der Menschen abzusehen. Eine politische Philosophie, die an die Ergebnisse der Warenanalyse von Marx anknüpft, muss daher die Bedingungen der Möglichkeit einer bestimmten Negation dieser Grundstruktur entwickeln. Bestimmte Negation bedeutet, dass diese Überwindung unter den jeweiligen historischen Bedingungen andere Formen annimmt und in den Kontexten, in denen sie sich politisch vollzieht, je eigene Antworten auf eine Frage entwickeln muss: nämlich bestimmte Negation eben dieser Grundstruktur zu sein, die darin besteht, dass sich der Tauschwert über den Gebrauchswert legt und eine Gesellschaftsformation generiert bzw. historisch reproduziert, deren Wesen in der privaten Aneignung gesellschaftlich produzierten Reichtums und der Kollektivierung der Kollateralschäden dieser Produktionsweise besteht. Gerade der letzte Aspekt zeigt sich in dem Naturverhältnis, das Marx beschreibt und das heute in der Klimakatastrophe zu einem Grundproblem der Politik geworden ist. Wir haben gesehen, dass Marx jede Form der Arbeit als ‚Stoffwechsel‘ mit der Natur versteht. In der kapitalistischen Produktionsweise wird jedoch nicht nur die menschliche Arbeit, sondern insbesondere auch die Natur ausgebeutet, und zwar durch die systemimmanente Notwendigkeit der Steigerung von Wachstum und Akkumulation in einer exponentiellen Weise, die für die Natur und unser Naturverhältnis fatale Konsequenzen hat. Die Steigerung der Ausbeutung natürlicher Ressourcen ist der kapitalistischen Produktionsweise immanent, sodass ein intrinsischer Zusammenhang zwischen ihr und der Klimakatastrophe hergestellt werden muss.212 Marv Waterstone spricht deshalb zu Recht von der Notwendigkeit „einer anderen Auffassung von den Ursachen unserer Umweltprobleme (…) Dieser zufolge ist der Kapitalismus die gravierendste dieser Ursachen. (…) Ich behaupte also, dass der Kapitalismus die den Umwelt- und Ressourcenproblemen zugrundeliegende Hauptursache ist. Das
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Schließlich sollte man, um einen philosophisch-prinzipiellen Begriff des Politischen aus der kategorialen Analyse der politischen Ökonomie zu gewinnen, nochmals an die Tatsache erinnern, dass Marx das Ganze des ökonomischen Gesamt zusammenhangs aus der in Hegels Logik entwickelten logischen Figur des Schlusses heraus denkt. Hegel entwickelt, wie oben schon angedeutet, den Schluss, also die Einheit und näher das dialektische Verhältnis von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem als die Form des Vernünftigen schlechthin. Das bedeutet für einen philosophischen Begriff des Politischen, dass sie mit Marx auf der Möglichkeit eines gesellschaftlichen Verhältnisses bestehen muss, das die Produktion nach Maßstäben vernünftiger Zwecksetzungen gestaltet – also auch, dass sie nicht der naturwüchsigen Anarchie des ‚Systems des Besitzes‘ (Hegel) überlassen bleibt, sondern demokratisch nach vernünftigen Prinzipien organisiert und gestaltet wird. Der grundlegende und keineswegs zufällige Mangel des westlichen Demokratiemodells besteht jedoch darin, dass die Produktion und damit die Produzenten von der demokratischen Partizipation über die Ziele der Produktion ausgeschlossen sind. Über den gesellschaftlich produzierten Reichtum muss aber demokratisch und nach rationalen Kriterien entschieden werden – und beides ist Gegenstand einer in der dialektischen Tradition von Hegel und Marx stehenden politischen Philosophie. Insbesondere muss auf der in dieser Tradition begründeten Notwendigkeit einer nach rationalen Prinzipien gestalteten Gesellschaft insistiert werden. Hobsbawm hat die destruktive Irrationalität kapitalistischer Ökonomie zusammengefasst, die Marx’ Analyse offenlegt und auch in der Gegenwart noch „Gültigkeit und Relevanz“ hat: „An erster Stelle ist es die Einsicht in die unaufhaltsame globale Dynamik der kapitalistischen ökonomischen Entwicklung, ihre Fähigkeit, alles zu zerstören, was sie vorfindet (…) Zweitens ist die Analyse der Funktionsweise des kapitalistischen Wachstums zu nennen, das darauf beruht, innere ‚Widersprüche‘ hervorzubringen, endlose Runden sich aufbauender Spannungen und zeitweiliger Lösungen, eines Wachstums, das zu Krisen und Veränderungen führt; das Ergebnis sind Konzentrationsprozesse in einer zunehmend globalisierten Ökonomie.“213 Auch der Schlussfolgerung von Hobsbawm kann man nur zustimmen: „Die Lösungen für die Probleme, denen die Welt im 21. Jahrhundert gegenübersteht, lassen sich noch nicht absehen, doch wenn sie am Ende erfolgreich sein sollen, müssen sie Marx’ Fragen stellen, liegt an seinem Bedürfnis ständiger und erweiterter Akkumulation.“ (Noam Chomsky/ Marv Waterstone, Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand, Ffm. 2022, S. 212); Waterstone fügt die sehr wichtige Anregung hinzu, „darüber nachzudenken, ob Wachstum, das so definiert ist, wie ich es gerade als für den Kapitalismus notwendig beschrieben habe, wirklich dasselbe wie Fortschritt ist.“ (Ebd., S. 217) 213 Eric Hobsbawm, Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus, München 2012, S. 25.
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selbst wenn es nicht darum geht, die Antworten seiner verschiedenen Schüler zu übernehmen.“214 Fragt man nun danach, wie sich die Ergebnisse und Fragestellungen von Marx in einen philosophischen Begriff des Politischen übersetzen lassen, stellt man zunächst fest, dass die politische Theorie der Neuzeit, wie schon Hegel in seinen Jenaer Arbeiten zum Naturrecht festgestellt hatte215, von dieser ökonomisch-gesellschaftlichen Dimension des Politischen abstrahiert. Ein philosophischer Begriff des Politischen zielte indes schon seit der Antike auf die Frage nach einer guten Ordnung, mithin auf die gegliederte und wohlgeordnete Verfassung, durch die sich das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger Regeln für die Praxis ihrer Beziehungen gibt. Eine philosophische Reflexion des Politischen – etwa in Platons ‚Staat‘ oder in der ‚Politik‘ des Aristoteles – tritt bezeichnenderweise erst in der Folge einer Krise der Polis auf.216 Ein philosophischer Begriff des Politischen, so könnte man daraus folgern, ist als Versuch zu verstehen, gegen die Krise in der gesellschaftlichen Praxis auf der Ebene der Theorie durch kritische Reflexion Kriterien zu entwickeln, mit denen diese Krise überwunden werden kann. Nach Aristoteles etwa geraten Staatsformen in eine Krise, wenn „der Zweck des Staates nicht mehr das Gemeinwohl, sondern der besondere Nutzen der jeweils Herrschenden“ ist.217 Das sind schon mehrere Elemente, die für einen dialektischen Begriff des Politischen herangezogen werden können: Eine Bestimmung des Politischen aus dem Begriff ist der Versuch, der Krise und ihrer naturwüchsigen Entwicklung zu begegnen; sie muss ferner eine Theorie des bonum commune, also des Gemeinwohls sein; und sie sollte drittens den Begriff der Einheit als Einheit der in sich unterschiedenen Vielheit verstehen.
Ebd., S. 26. G. W. F. Hegel, „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschaften“ (HW 1, 415 ff.). 216 Vgl. Werner Goldschmidt, „Politik/politische Philosophie“. In: H. J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 2010, S. 2076 ff. 217 Ebd., S. 2078; es ist sehr interessant, dass Aristoteles gegen die Staatskonzeption Platons den Staat nicht von der Einheit her, sondern als gegliederte Vielheit begreift: „Es ist aber doch klar, dass der Staat je mit dem Fortschritt zu größerer Einheit mehr und mehr aufhören muss, noch ein Staat zu sein. Er ist seiner Natur nach eine Vielheit (…) Könnte man also auch diese Einheit verwirklichen, so dürfte man nicht, weil man damit den Staat aufhöbe. Der Staat besteht aber nicht bloß aus einer Mehrheit von Menschen, dieselben sind auch der Art nach verschieden; aus ganz gleichen Menschen kann nie ein Staat entstehen.“ (Politik 1261 a, in: Philosophische Schriften, a. a. O., Bd. 4, S. 32) Wir werden alsbald sehen, in welcher Weise diese Beobachtung in einen dialektischen Begriff des Politischen aufgenommen werden kann. 214 215
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Auch die moderne Rechtsphilosophie entstand aus einer Krise: sie reagierte auf die konfessionellen Bürgerkriege im Europa der frühen Neuzeit.218 Hobbes denkt staatliche Souveränität von der in der historischen Situation seiner Zeit vorrangigen Absicht, Bürgerkriege zu vermeiden.219 Die moderne politische Philosophie nimmt daher von Anfang an den formalen Charakter einer Vertragstheorie an. Diese formale Grundlegung einer politischen Verfassung ist eine zwar notwendige, aber auch eine nicht zureichende Bedingung für einen auch die materiellen Verhältnisse und praktischen Beziehungen der Menschen abbildenden Begriff des Politischen. Gerade im Zusammenhang neuzeitlicher politischer Philosophie, die bis in die Gegenwart unser Verständnis der Politik prägt, will ich daher den Begriff der Kompossibilität von Leibniz aufgreifen. Dieser Begriff kommt aus der Logik und der Ontologie von Leibniz, ist aber von ihm selbst auch auf dem Gebiet des Politischen eingeführt worden. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, das ausführlich darzustellen.220 Ich will nur die Grundbestimmungen zusammenfassen, um sie für den Begriff des Politischen im Anschluss an Marx’ ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ fruchtbar machen zu können. Leibniz’ politisches Denken geht nicht von einer Bürgerkriegssituation (dem ‚Krieg aller gegen alle‘) und auch nicht von der Gesellschaft als der Summe egoistischer Einzelinteressen aus. Im Zentrum steht der Begriff des commune bonum, des Gemeinwohls, das als Ziel politischen Handelns grundsätzlich gemeinsame Interessen über das Interesse des Einzelnen stellt. Leibniz zielt nicht auf die formale Grundlegung des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Individuen, sondern auf einen Begriff materialer Pluralität von individuellen Kräften, die in ihren Verwirklichungsbestrebungen im Verhältnis zueinander stehen und daher wechselseitig aufeinander wirken. Damit sind schon zwei Grundaspekte einer dialektischen Theorie der Politik angesprochen: sie ist über die formale Begründung der Gesellschaft im Recht hinaus eine Theorie gesellschaftlicher Verhältnisse, und sie denkt diese Einheit von Beziehungen als Einheit von Wechselwirkungsverhältnissen von Kräften bzw. Interessen. Innerhalb einer Theorie der Dialektik ist Politik als Modellierung eines Ordnungszusammenhangs gesellschaftlicher Verhältnisse zu verstehen. Einen solchen ontologischen Modell begriff bietet Leibniz’ Begriff der Kompossibilität an: Über logische Kompossibilität (logisch kompossibel ist, was sich nicht widerspricht) zielt Leibniz auf eine ontologische Bestimmung des Begriffs, die davon ausgeht, dass individuelle Sub stanzen oder Kräfte nach dem Prinzip omne possibile exigit existere danach streben, Vgl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Ffm. 1973. 219 Vgl. Alfred Noll, Thomas Hobbes. Eine Einführung, Köln 2019. 220 Vgl. Jörg Zimmer, Leibniz und die Folgen, a. a. O., S. 129 ff., und Hans Heinz Holz, Leib niz. Das Lebenswerk eines Universalgelehrten, a. a. O., S. 99 ff. 218
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sich zu verwirklichen bzw. zu entwickeln. Leibniz’ Metaphysik nimmt von diesem Grundgedanken aus das In-Beziehung-Sein alles Seienden intrinsisch in den Begriff des Seins auf, weil ja Wirken auf Andere(s) ein Verhältnis konstituiert, das, weil die anderen Substanzen auch wirken, als letztlich universales Verhältnis von Wirken und Leiden bzw. von Wechselwirkungsverhältnissen gedacht werden muss. Die individuellen Kräfte wirken so lange, bis sie von anderen individuellen Kräften begrenzt werden. In diesem Sinne ontologisch ist Kompossibilität also ein Zusammenhang von zugleich möglichen Verwirklichungen bzw. Entwicklungen. Politisch gewendet bedeutet Kompossibilität dann, Ordnungen zu schaffen, in denen sich möglichst viele Verwirklichungsintentionen tatsächlich entwickeln können. Als Ordnung der Kompossibilität muss sich Politik folglich darauf richten, gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, die Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen fördern und Leiden mindern. Für den Zusammenhang mit der Analyse der kapitalistischen Gesellschaft von Marx bedeutet dies, dass die Entwicklung gemein samer Interessen gegenüber den Privatinteressen begründet priorisiert werden kann. Politik muss nach dem Prinzip der Kompossibilität gemeinsame Interessen fördern und Eigennutz beschränken. Wenn jedoch die kapitalistische Produktionsweise auf der privaten Aneignung gemeinsamer, d. h. gesellschaftlicher Anstrengungen beruht, dann wird Kompossibilität zu einem politischen Grundbegriff, der diese Produktionsweise als grundsätzlich ungeeignete Form der Vergesellschaftung auszeichnen kann, um eine möglichst gleichmäßige und nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten. Über diese grundsätzlich kritische Funktion hinaus jedoch kann der Gedanke der Kompossibilität auch ein normatives Kriterium für Einzelentscheidungen innerhalb des gesellschaftlichen Prozesses anbieten. Entscheidend ist dabei die Übertragung des ontologischen Grundgedankens in einen politischen Ordnungsbegriff, der in metaphysischer Strenge von der pluralen Wirklichkeit individueller Kräfte ausgeht und ihn zugleich als Ordnungszusammenhang festhält: „Wenn nun jede Möglichkeit nach Verwirklichung drängt, aber einige Möglichkeiten einander ausschließen, so wird unter mehreren existierenden Möglichkeiten diejenige wirklich, die die größere Verträglichkeit mit bereits Bestehendem oder sich gerade Verwirklichendem besitzt und folglich der geringsten Hemmung ausgesetzt ist. Das zusammen Mögliche, das ‚Kompossible‘ bildet das System einer geordneten Welt von Koexistierenden. Compossibilitas ist die konstitutive Kategorie einer pluralen Welt.“221 Politisch bedeutet dies, so in die Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenhangs einzugreifen, dass möglichst viele gemeinsame Interessen gefördert und die Entwicklung der gemeinsame Interessen behindernden Kräfte eingeschränkt werden. Es geht letztlich um „einen dauernden Prozess der Rekombinationen, in dem Holz, Leibniz, a. a. O., S. 102.
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immer neue Möglichkeiten als Konsequenzen der sich verändernden Wirkungs zusammenhänge auftauchen.“222 In dem Konzept der Kompossibilität von Leibniz ist angelegt, Wirklichkeit als sich steigernde Komplexität von Beziehungen zu denken. Dieser Gedanke ist in der Gegenwart von großer Aktualität: Wenn gesellschaftliche Entwicklung zur Vermehrung der Vernetzung von Beziehungen führt, dann ist in ihr strukturell eine Komplexitätssteigerung angelegt. Das ist in der Entwicklung der modernen Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert auch deutlich sichtbar geworden: Komplexität hat sich exponentiell vermehrt, und das ist ein bedeutendes Problem für politisches Handeln, das in endliche Zusammenhänge eingreifen muss, es zugleich aber aufgrund der Komplexität des Gesamtzusammenhangs immer schwieriger wird, die Folgen dieses Handelns einzuschätzen und zu übersehen. Kompossibilität, als ontologischer Ordnungsbegriff eines Gesamtzusammenhangs genommen, ist daher nicht nur ein normatives Kriterium für nachhaltige Entwicklung, sondern auch ein Maßstab für die Mäßigung politischen Handelns. Realitätssteigerung in der Simultaneität der Gegenwart bedeutet maßvolle Entwicklung gemeinsamer Interessen, während die kapitalistische Produktionsweise strukturell darauf angelegt ist, die maßlose Entwicklung privater Interessen gegen das bonum commune durchzusetzen. Kompossibilität als ontologischer Grundbegriff und als normativer Leitbegriff der Politik bedeutet, in gesellschaftliche Prozesse so einzugreifen, dass bei der Förderung und Behinderung von Kräften und Interessen insgesamt eine Steigerung von Möglichkeiten entstehen kann.223 Für einen dialektischen Begriff gesellschaftlicher Entwicklung bedeutet dies, Bedingungen für die Wechselwirkung individueller Kräfte zu schaffen, unter denen sich eine maximale Vielfalt koexistierender Möglichkeiten verwirklichen kann. Gesellschaftliche Beziehungen sind so zu gestalten, dass mehr Möglichkeiten kompatibel werden und also mehr gemeinsame und nachhaltige Gestaltungsspielräume entstehen. Durch die Analyse der Grundkategorien von Marx’ politischer Ökonomie ist deutlich geworden, dass dieser Ansatz im Begriff der Kompossibilität die bestimmte Negation der bestehenden kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse präzise bezeichnet. Hervorzuheben ist nochmals der normative Gehalt dieses Konzeptes, der es sowohl zu einer grundsätzlichen Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse als auch als Entscheidungskriterium in jeder einzelnen Situation politischen Handelns geeignet macht: Vom Gedanken der Kompossibilität aus betrachtet ist Gesellschaft so zu gestalten, dass sie eine maximale Ebd., S. 112. Dass dies auch Konsequenzen für den Fortschrittsbegriff und ineins damit auch für die Revision der klassischen Geschichtsphilosophie hat, habe ich an anderer Stelle gezeigt: Vgl. Jörg Zimmer, „Fortschritt als Ordnung der Kompossibilität. Gedanken über Leibniz und geschichtsphilosophische Probleme unserer Zeit“. In: Topos, H. 13/14 (1999), S. 39 ff.
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Verwirklichung individueller und kollektiver Möglichkeiten erlaubt – unter dem Vorbehalt indes, dass sie kompatibel mit anderen legitimen Verwirklichungsintentionen sein muss. Die kapitalistische Produktionsweise ist ja nicht Gegenstand der Kritik, weil sie in der Entwicklung von Möglichkeiten nicht effektiv wäre, sondern weil sie – die Klimakatastrophe und die globale soziale Frage sind existenzbedrohende Beispiele dafür – mehr Entwicklungspotenzial der Menschen verhindert als verwirklicht. Eine Ordnung der Kompossibilität dagegen orientiert menschliche Praxis auf nachhaltige und gleichmäßige, d. h. ausgleichende Entwicklung der Möglichkeitspotentiale des Menschen. Der Versuch, eine theoretische Bestimmung der Praxis bzw. einen Begriff des Politischen zu geben, der in der Praxis wirksam werden kann, wirft die grundsätzliche Frage nach dem dialektischen Verhältnis von Theorie und Praxis auf. Sie muss am Ende zweier Kapitel über Theorie und Praxis in der ‚Dialektik der Gegenwart‘ zumindest als Frage und Problem präzise gestellt werden. Diese Frage hat Marx in der 11. Feuerbachthese auf folgende berühmte Formel gebracht: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu ver ändern.“ (MEW 3, 535) So lautet der Text in der ersten, 1888 von Engels besorgten Veröffentlichung. Der korrekte, 1932 in Moskau publizierte Wortlaut ist: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ (MEW 3, 7) Hinter dieser kleinen Modifikation verbergen sich zwei sehr unterschiedliche Auslegungen des Satzes von Marx: Semikolon und die Konjunktion ‚aber‘, die einen Gegensatz oder eine Einschränkung, auch einen Einwand zum Ausdruck bringt, führen in der ersten Lesart zu einer Trennung von interpretierender Philosophie auf der einen Seite, und veränderndem Handeln bzw. Praxis auf der anderen Seite. So ist die 11. These auch häufig verstanden worden: Praxis der Veränderung substituiert die reine Theorie. Nimmt man noch die Forderung von Marx hinzu, die Philosophie dadurch aufzuheben, dass man sie verwirklicht, scheint diese Lesart zwingend, und in der Konsequenz bedeutet dies, dass die Philosophie in dem Maße aufgehoben wird und schließlich aufhört zu existieren, in dem ihre Forderungen verwirklicht werden. Sieht man jedoch auf den korrekten Text der späteren Fassung, ergibt sich ein anderes Bild: Das Komma trennt die beiden Satzteile nicht, sondern lässt den Gedanken weiterlaufen und ergänzt den ersten Teil des Satzes durch die Forderung praktischer Veränderung, ohne beides in ein Gegensatzverhältnis zu setzen. Die Partikel ‚nur‘, die in beiden Fassungen vorkommt, meint so viel wie ‚lediglich‘ – und damit wird der zweite Satzteil zu einer Ergänzung der Aussage des ersten. Theorie und Praxis werden nicht in einem ausschließenden Verhältnis auseinandergerissen, sondern aufeinander beziehbar gemacht und also als ein dialektisches Verhältnis der Wechselwirkung ausdrückbar: Wirklichkeit darf nicht nur interpretiert werden, muss jedoch auch interpretiert werden, um sie verändern zu können. Und jede
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durch praktische Veränderung entstehende neue Wirklichkeit verlangt wieder theoretische Reflexion: „In der Verwirklichung ist die Aufhebung, in der Aufhebung die Verwirklichung eingeschlossen. Es wird ein Parallelismus angelegt, bei dem jede der beiden Seiten die andere übergreift.“224 Holz hat dieses dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis sehr eindringlich dahingehend formuliert, dass Philosophie in diesem Verhältnis nicht durch Praxis ersetzt, sondern immer genauer mit ihr vermittelt wird: „Es ging ihm (Marx, J. Z.) darum, dass die Philosophie nicht ein Reich der Begriffe, das sie immer ist und als welches sie fortdauern muss, selbständig gegenüber der Praxis bleiben, sondern ein Moment der Praxis werden solle. Nicht mehr theoria cum praxis, wie Leibniz der Sozietät der Wissenschaften ins Wappen schrieb, wenn cum die Verschiedenheit des Verbundenen meinte, sondern theoria qua praxis, was ihre Einheit als Unterschiedene bedeutet. Kein binäres, sondern ein dialektisches Verhältnis.“225 In der Dialektik geht es nicht darum, Theorie durch Praxis zu ersetzen, sondern um die immer genauere Vermittlung von Theorie und Praxis.
Hans Heinz Holz, Integrale der Praxis. Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie, Bd. 3, Berlin 2011, S. 345. 225 Ebd., S. 339. 224
VII Den Augenblick festhalten: Das Kunstwerk und die Gegenwart
In einem kleinen Text mit dem Titel „Schlitten in Kopfhöhe“ reflektiert Ernst Bloch über einen denkwürdigen Schnappschuss aus einer illustrierten Zeitung. Die Photo graphie zeigt den Augenblick unmittelbar vor einem schrecklichen Unglück. Zu sehen ist eine Bobbahn mit Zuschauern unmittelbar in dem Augenblick, bevor der Bob aus der Kurve getragen und zwischen die Zuschauer geschleudert werden wird. Hier setzt Blochs Nachdenken an: „Die (Zuschauer, J. Z.) aber blicken vollkommen gleichgültig aus dem Bild hervor. Eine ältere Dame, ein Knabe, ein Herr im Sportkostüm, er hält die Zigarette. (…) Und unvergleichlich hat die Kamera eine Zwanzigstelsekunde vor der Katastrophe die Ahnungslosigkeit der so bald Verletzten festgestellt.“ Hier wurde „eine Todessekunde aus der Zeit auf die Platte gebracht. Und das Auge der Zuschauer ist immer noch wie das der Betrachter ihres Bilds; so sicher und außer Schutz, so blind auf dem Zeitweg, so unwissend über die Karriere des nächsten Augenblicks. (…) Kein Beschauer hier befindet sich auf der entsetzlichen Kopfhöhe der Situation, auf der er doch leiblich ist; keiner übersah die winzige Spanne Zukunft und zog sie in ‚Geistesgegenwart‘. Die echte, d. h. die nicht gewohnte, nicht berechnete Zukunft, welche hier aus dem Weltlauf vorbrach und negativ für die Menschen an dieser seiner Stelle war, ist in einer Tür, die keiner sieht, und wenn er mit höchster Genauigkeit auf ihrer Schwelle steht. (…) Und das Bild als Parabel sagt: über den nächsten Augenblick hinweg kann nicht gesehen, nur gedacht werden.“226 Das ‚Dunkel des gelebten Augenblicks‘, also das Problem, dass die unmittelbar gelebte Gegenwart unmittelbar nicht erlebt werden kann, ist ein Grundmotiv der Philosophie von Bloch227, das hier nicht weiter verfolgt werden kann. An dieser Stelle interessiert mich ein anderer, für das Verhältnis der Kunst zum Problem der Gegenwart relevanter Aspekt: Bloch lenkt die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass die Photographie technisch in der Lage ist, ein der menschlichen Wahrnehmung Entgehendes, nämlich jenes kleinste und intensivste Segment der Zeit, das wir Gegenwart nennen, ‚auf die Platte‘ zu bringen und so nicht nur erfahrbar, Ernst Bloch, „Schlitten in Kopfhöhe“. In: Gesamtausgabe Bd. 9, Ffm. 1977, S. 222 f. Vgl. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Ffm. 1959, S. 334 ff. und Jörg Zimmer, Die Kritik der Erinnerung. Metaphysikkritik, Ontologie und geschichtliche Erkenntnis in der Philosophie Ernst Blochs, a. a. O., S. 112 ff.
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VII Den Augenblick festhalten
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sondern auch dauerhaft reflektierbar zu machen – denn eben diese seine Reflexion kann Bloch ja nur anhand der Photographie überhaupt anstellen. Die Anspielung auf Walter Benjamins Begriff der Geistesgegenwart ist durchaus relevant, meint sie doch, dass diese Geistesgegenwart eben nicht unmittelbar augenblicksmächtig ist, sondern schon einen Mindestabstand von gelebter Gegenwart voraussetzt. Diesen Abstand gewährt im zitierten Beispiel die Photographie. Allgemein gesprochen kann man jedoch fragen, ob dieses Festhalten des Augenblicklichen nicht als eine Funktion von Kunst überhaupt angesehen werden muss. Bloch spricht zwar nicht über ein Kunstphoto, eine Photographie mit künstlerischem Anspruch jedoch wird sich die technische Möglichkeit einer Abbildung des Augenblicks bzw. der Moment aufnahme zu eigen machen, um die es in Blochs kleinem Text geht. Und ferner: Obwohl der Mensch leibhaftig in jeder augenblicklichen Situation anwesend ist, bleibt die in den Zeitverlauf eingeschlossene Gegenwart der Erfahrbarkeit verschlossen. Wahrnehmbar machen, was anders nicht wahrnehmbar wäre – dies ist eines der wesentlichen Funktionen der Kunst, nämlich Gegenwart dauerhaft erfahrbar zu machen, sichtbar zu machen, was sonst nicht gesehen, sondern nur gedacht werden kann. Durch die sinnliche Erfahrbarkeit von Gegenwart jedoch kann sie dann nicht nur im Denken, sondern in anschaulicher Reflexion auch sinnlich eingeholt werden. Kunst ist eine Möglichkeit, Gegenwart aus ihrer Eingeschlossenheit in der Zeitreihe herauszulösen und ihr eine Dauer zu geben, in der sie sich uns erschließen kann. Nun geschieht dieses Festhalten des Augenblicks in der Photographie rein technisch. Den Photographen macht sein Blick für die Perspektive und den Augenblick der Aufnahme zum Künstler. Aber er wird den technischen Vorgang des Festhaltens einer Situation immer nur auslösen, den Augenblick jedoch nicht in einem Darstellungsprozess entwickeln und reflektieren. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, kann man die Darstellung eines Augenblicks in einem Gemälde heranziehen: Der niederländische Maler Vermeer etwa hat solche alltäglichen Tätigkeiten wie das Eingießen von Milch, das Musizieren oder das Briefelesen und -schreiben in seinen Bildern dargestellt. Mittels kleiner Farbflecken schafft er illusionistische Wirkungen: „Er stellt Dinge und Räume so dar, wie sie dem Betrachter von einem bestimmten Standpunkt bei einer bestimmten Beleuchtungssituation erscheinen, nicht wie sie tatsächlich sind.“228 Und das Festhalten und Aufbewahren einer historischen Wirklichkeit, die auf diesen Bildern erscheint, ist nur ein Aspekt des Verhältnisses von Kunst und Gegenwart: Denn in diesen Bildern wird ein bestimmter, ein flüchtiger Augenblick festgehalten, und zwar nicht technisch durch photographische Abbil dung, sondern reflektiert in einem Darstellungsprozess.229 In diesem Arbeitsprozess Karl Schütz, Vermeer. Das vollständige Werk, Köln 2015, S. 63. Zur Frage, wie man anhand der Analyse von Kunstwerken kunstphilosophische Problemstellungen entwickeln kann, vgl. Jörg Zimmer, „Der Spiegel der Meninas. Velázquez
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der Darstellung bildet sich der Blick auf die Wirklichkeit, die ins Kunstwerk aufgenommen wird, erst heraus, während die Photographie auch in ihrem künstlerischen Gehalt immer auf ein durch ‚Geistesgegenwart‘ erfasstes Plötzliches angewiesen bleibt. Das vielleicht berühmteste Bild Vermeers, Das Mädchen mit dem Perlenohrring, mag den Unterschied verdeutlichen: Es handelt sich um eine Kopfstudie, einer in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts verbreiteten Bildgattung, die kein Portrait einer tatsächlich historisch belegten Person darstellt, sondern eine anonyme Charakterstudie ist. In Vermeers Gemälde ist jede konkrete, mit allegorischen Attributen versehene Umgebung zugunsten eines schwarzen Hintergrunds getilgt, der keine Identifizierung der dargestellten Person und ihrer Umstände mehr zulässt. Das Mädchen drückt in seinem individuellen Blick aus dem Bild heraus zugleich etwas Allgemeinmenschliches aus: es ist die Zerbrechlichkeit dieses Menschen und des Menschen, die uns aus dem anonymen, namenlosen Dunkel einer vergangenen Gegenwart heraus ansieht. Der fragende, aus einer leichten Drehung des Körpers zum Betrachter hin an die jeweilige, und jetzt an unsere Gegenwart sich richtende Blick spricht uns an: nicht klagend, aber doch bangend, und die Frage entsteht, was diesem zierlichen Menschen noch alles geschehen sein mochte. Genau das indes ist Gegenstand der Kunst: In der ästhetischen Wirkung einen gegenwärtigen Eindruck zu evozieren und festzuhalten, als ein namenloser, fragender Blick jedoch, der sich an uns und an jede spätere Gegenwart aufs Neue richtet.
Die evozierende Funktion des Kunstwerks und das Konzept der ästhetischen Wirkung Wir haben im Kapitel zur „Präsenz des Seins“ entwickelt, in welchem genauen Sinn Sein als Wirken zu verstehen ist. Das Wirken des Seins auf ein Subjekt bringt ein Verhältnis zum Ausdruck, nämlich die Erfahrung eines Gegenstandes durch ein wahrnehmendes Subjekt, das jedoch selbst nicht gegenständlich und deshalb als Verhältnis auch nicht gegenständlich erfahrbar ist. Die Artikulation solcher Wirkungen und das Problem der Kunst“. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 55/2 (2010), S. 201 ff.; zur Einführung in den philosophischen Kunstbegriff Jörg Zimmer, „Kunst/Künste“. In: Enzyklopädie Philosophie. Herausgegeben von Hans Jörg Sand kühler, Hamburg 2010, S. 1359 ff.; zu dem breiteren Zusammenhang der ästhetischen Terminologie, deren Entwicklung im Hintergrund der folgenden kunstphilosophischen Überlegungen steht, vgl. Jörg Zimmer, Arbeit am Begriff. Grundprobleme der ästhetischen Terminologie, Bielefeld 2014.
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bzw. Eindrücke von Wirklichkeit geschehen in evozierender Sprache bzw. in gattungsspezifisch modifizierter Form in der Kunst überhaupt und werden in Gestalt von Werken zu einer gegenständlich gegebenen Wirklichlichkeit, in denen die sonst flüchtigen evozierenden Ausdrücke festgehalten, erfahrbar gemacht und reflektiert werden können. Die evozierende Funktion der Sprache hat Georg Misch in seinen Vorlesungen zur hermeneutischen Logik eingehend untersucht.230 Für unseren Zusammenhang ist die Unterscheidung diskursiver und evozierender Rede entscheidend, die für das Projekt von Misch von zentraler systematischer Bedeutung ist. Misch unterscheidet zwischen Unaussprechlichkeit und Unaussagbarkeit: „Das, was nicht durch Begriffe bestimmbar und subsumierbar unter anderes und also unaussagbar ist, kann doch durch Worte fixierbar und also unmittelbar aussprechbar sein. (…) Unaussagbar, das bedeutet genau verstanden, daß das, was uns da ergriffen hat, so daß wir es ausdrücken möchten, sich nicht voll einfangen läßt in dem Aussagesatz in der Weise, wie eine wissenschaftliche Erkenntnis sich in einem Aussagesatz einfangen läßt, so daß man das Gemeinte voll daraus entnehmen kann (…) Das Unaussagbare bezeichnet nur die äußerste Grenze des Aussprechbaren und nicht einen Gegensatz desselben.“231 Diesen Unterschied hat Misch am Vergleich des aristotelischen lógos apophánticos (der klassischen Form des Aussagesatzes) und der lógos-Konzeption Georg Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttin ger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens, Freiburg/München 1994; zur Bedeutung dieses Ansatzes für eine Theorie der Dichtung vgl. Jörg Zimmer, „Evozierendes Denken. Ein Beitrag zur philosophischen Poetik“. In: Zeitschrift für Ästhe tik und allgemeine Kunstwissenschaft 47/2 (2002), S. 167 ff. 231 Misch, Aufbau der Logik, a. a. O., S. 81 und S. 82; die Logikvorlesungen von Misch stammen aus den 1920er Jahren, stehen also in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Wittgensteins Tractatus und scheinen wie angeschrieben gegen einige seiner Grundaussagen: „5.6 Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“; und: „6.522 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“; schließlich: „7. Wovon man nicht sprechen kann, davon muß man schweigen.“ (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Ffm. 1963, S. 89 und S. 115) Von der ersten Aussage würde auch Misch selbst noch ausgehen, aber mit der Unterscheidung zwischen Unaussagbarkeit und Unaussprechlichkeit darauf bestehen, dass die Sprache ihre eigene Grenze nicht nur ständig setzt, sondern auch durch Aussprechbarmachen des Unaussagbaren erweitert. Dem zweiten Satz von Wittgenstein würde Misch eminent widersprechen, weil das jenseits des Aussagbaren Liegende nichts mystisch Verschlossenes ist, das sich dann irgendwie zeigen muss, sondern als dennoch Aussprechbares in seiner Bedeutung eingeholt werden kann. Man kann nach Misch noch sprechen, wo die apophantische Form der Aussage nicht mehr hinreicht. Weil Misch anders als Wittgenstein ‚Sprechen‘ und ‚Aussagen‘ nicht identifiziert, kann seine hermeneutische Logik begründen, warum der Mensch nicht schweigen muss, wo die Aussagbarkeit seiner Gedanken an ihre Grenzen stößt. 230
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von Heraklit deutlich zu machen versucht: „Zusammengefaßt bedeutet lógos hier bei Heraklit: die Vernunft als den in der Welt wie in dem Leben verborgenen Sinn, der aber verborgen nur ist für den, der, wie gewöhnlich die Menschen, nicht auf ihn hinhört, während der, der auf ihn hört, wie der Philosoph das tut, ihn zu vernehmen vermag. / Diese metaphysische Verwendung des Wortes lógos ermöglicht, jenen wesentlichen Zusammenhang von Ausdruck und Sinn (…) zu fassen.“232 Mischs Auslegung lässt sich an zwei Fragmenten festmachen, die in der Übersetzung Bruno Snells, der zum Kreis um Misch gehört hat, wie folgt lauten: „Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, auch wenn du gehst und jede Straße abwanderst; so tief ist ihr Sinn.“ Und: „Die Seele hat Sinn, der aus sich heraus immer reicher wird.“233 In beiden Fragmenten gibt Snell das Wort lógos mit ‚Sinn‘ wieder, was eben genau die Auslegung von Misch aufnimmt, den lógos nicht nur als diskursive Rede, sondern ebensosehr als Ausdruck von Bedeutung und also als Sinn zu verstehen. Evozierende Ausdrücke vermehren Sinn und Bedeutung des Wirklichen, und deshalb kann die Seele keine Grenzen haben – denn sie vermehrt den Sinn durch Bedeutungsiteration immer weiter, der deshalb auch aus sich selbst heraus immer reicher wird und werden muss. Diese Strukturbestimmung des lógos bei Herklit fasst Misch dann in den Begriff seiner Unergründlichkeit: jenseits aussagenlogischer Bestimmbarkeit richtet sich seine Analyse auf die Unausschöpfbarkeit der Bedeutungsiterationen. Evozierende Rede ist also jene Form des Sprechens, die das Unaussagbare aussprechbar macht. In sprachlichen Evokationen wird Wirklichkeit erfasst, insofern sie nicht in Aussagen fassbar zu machen ist. In Aussagen über Dinge trägt der Mensch prädizierend etwas an sie heran, während evozierende Rede einen Eindruck artikuliert, der von den Dingen selbst ausgeht.234 Evokationen sind also nicht eine Wiedergabe objektiver Wirklichkeit, jedoch auch nicht einfach Ausdruck von Erlebnissen und damit von Innerlichkeit: sie artikulieren vielmehr die Erfahrung von etwas Gegenständlichem, sie beschreiben die Wirkung dieses Gegenständlichen auf ein Subjekt und sind deshalb Ausdruck dieses gegenständlichen Verhältnisses, das in der sprachlichen Artikulation zu sich kommt. Nach Misch ist es ein „Grundzug des Evozierens (…), daß mit dem Hindeuten und Hervorrufen sich das Misch, Aufbau der Logik, a. a. O., S. 109. Heraklit, Fragmente. Griechisch und Deutsch herausgegeben von Bruno Snell, Zürich 1989, S. 17 und S. 35 (Frg. B 45 und B 115). 234 Von anderen philosophischen Voraussetzungen, die hier nicht Gegenstand der Erörterung sein können, hat Heidegger von der Funktion der Kunst gesprochen, Seiendes in seiner ‚Unverborgenheit‘ sich zeigen zu lassen, d. h. seine ‚Entdecktheit‘ zur Sprache zu bringen bzw. als Werk festzuhalten: Vgl. Martin Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerks“. In: Holzwege, Ffm. 1977, S. 1 ff.; dazu Jörg Zimmer, Arbeit am Begriff, a. a. O., S. 180 ff. 232 233
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Festhalten vereinigt, was durch das Treffende des getreuen Ausdrucks geschieht.“235 Der evozierende Ausdruck artikuliert die Verschränkung von Ich und Wirklichkeit, er hält die bestimmte Wirkung des Wirklichen, seine Bedeutsamkeit und Anmutung fest. Diese Wirkung gehört wesentlich zum Begriff der Evokation hinzu, die evozierende Funktion bringt eine zwar subjektiv artikulierte, aber am Gegenständlichen – und das heißt: am gegenständlichen Verhältnis – sich manifestierende, von ihm ausgehende Bedeutung zu sich. Misch hat seine Untersuchungen auf das Gebiet der Sprache beschränkt. Es ging ihm nicht um eine ästhetische Theorie, sondern im Rahmen einer hermeneutischen Logik um die sprachphilosophische Auszeichnung evozierender Rede. Damit ist sie in dieser Form nur geeignet, Ausgangspunkt oder Teil einer Literaturästhetik zu sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass die evozierende Funktion, die Misch aufgedeckt hat, nicht für die ästhetische Theorie anderer Künste fruchtbar gemacht werden kann. Kunstwerke evozieren Bedeutung, indem sie das Unsinnliche und gegenständlich nicht unmittelbar Gegebene des menschlichen Weltverhältnisses in eine anschaubare Gegenständlichkeit bringen und so erfahrbar machen. Diese Selbstanschauung des menschlichen Weltverhältnisses geschieht in jeder Kunst in der Gattungsspezifik ihrer Sinnesmodalitäten.236 Um die evozierende Funktion für die einzelnen Künste auszuzeichnen, müsste also geklärt werden, wie Evokation von Bedeutung im Medium der jeweiligen Sinnesmodalitäten zu denken wäre: Wie etwa evozieren die bildenden Künste, die sich selbst als Gegenstände an das Auge richten, und wie ist Evokation in der musikalischen Sprache zu verstehen? Das muss für jede Kunstform in ihrer Gattungsspezifik geklärt werden, was hier in der erforderlichen Ausführlichkeit selbstverständlich nicht geschehen kann. Ich will hier nur auf eine Übersetzung und Weiterentwicklung des Grund gedankens von Misch in eine allgemeine Theorie ästhetischer Wirkung hinweisen, nämlich auf den Ansatz von Josef König.237 Ganz analog zur Unterscheidung von diskursiver, d. h. apophantischer Rede und evozierender Rede bei Misch setzt König systematisch bei der Unterscheidung von nicht-ästhetischen und ästhetischen Misch, Aufbau der Logik, a. a. O., S. 535. Als allgemeine Kunstphilosophie hat Hegel die Ästhetik verstanden und systematisch vom allgemeinen Gedanken der Kunst als Selbstanschauung des Geistes her entwickelt; vgl. dazu Jörg Zimmer, Arbeit am Begriff, a. a. O., S. 131 ff. 237 Vgl. Josef König, „Die Natur der ästhetischen Wirkung.“ (1957) In: Ders., Vorträge und Aufsätze. Hrsg. Von Günter Patzig, Freiburg/München 1978, S. 256 ff. Die Interpretation des Begriffs der ästhetischen Wirkung als allgemeine Theorie der Ästhetik habe ich an anderer Stelle ausführlicher entwickelt: Vgl. Jörg Zimmer, „Josef Königs Begriff der ästhetischen Wirkung als Ästhetikkonzept“. In: Claus Baumann/Jan Müller/Ruwen Stricker (Hrsg.), Philosophie der Praxis und die Praxis der Philosophie. Michael Weingarten zum Sechzigsten, Münster 2014, S. 87 ff. 235 236
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Wirkungen ein. In der ästhetischen Theorie wird unter Wirkung meist die Rezeption bzw. Rezeptionsgeschichte von Kunstwerken verstanden. König dagegen fragt nach der Spezifik ästhetischer Wirkung im Unterschied zur nicht-ästhetischen Wirkung im Kausalverhältnis. Den Unterschied bestimmt König dahingehend, „daß die nicht-ästhetische Wirkung etwas für sich ist“, während die ästhetische Wirkung „diese Wirkung selber als Beschreibung“ ist.238 Wirkungen im Ursache-Wirkung-Verhältnis sind objektiv und deshalb etwas für sich, weil sie durch Beschreibungen, d. h. subjektive Wahrnehmungen eines Sachverhalts nicht beeinflusst werden. Ästhetische Wirkungen dagegen sind überhaupt nur als Beschreibungen da (sie werden, um den Zusammenhang zu Misch herzustellen, von der Beschreibung evoziert bzw. hervorgebracht). Hier kommt Königs Unterscheidung von determinierenden und modifizierenden Prädikaten ins Spiel, die wir schon kennengelernt haben (und die ebenfalls von der Unterscheidung diskursiver und evozierender Rede bei Misch her beleuchtet werden kann). Um es mit Königs Beispiel kurz zu erläutern: Determinierende Prädikate sagen Eigenschaften aus (etwa: Das Zimmer ist leer), während in der ästhetischen Wirkung die Präsenz eines bestimmten Seienden sich im Modus seiner Wirkung niederschlägt. Ein leer wirkendes Zimmer muss nicht objektiv leer sein, sondern wird in seiner Wirkung dem Eindruck von Leere entgegenkommen. Das Zimmer kann ja, obwohl noch immer angefüllt mit den Dingen etwa eines Verstorbenen, einfach deshalb leer wirken, weil dieser Mensch nicht mehr in ihm anwesend ist. Hinzukommen muss jedoch in jedem Fall eine modifizierende Wahrnehmungsweise durch ein anwesendes Subjekt, das durch die Beschreibung des Zimmers die Wirkung der Leere erst hervorbringt. Modifizierende Ausdrücke drücken folglich eine Beziehung aus, die Wirkung eines gegenständlich Erfahrenen auf ein Subjekt – und ästhetische Wirkung ist dann die zur Objektbestimmtheit hinzutretende Abwandlung dieser Sache oder dieses Sachverhalts in der subjektiven Wahrnehmung. Auch hier geht es also nicht um ein objektives, sondern um ein gegenständliches Verhältnis, um eine Wirkung, die vom Anderen, der Sache, ausgeht, aber durch die Tätigkeit am Gegenstand als Wirkung allererst zu sich kommt. Mit anderen Worten: Ästhetische Wirkung beschreibt die Gegenwart der Dinge, den Umstand, das etwas jemandem präsent ist. Den Begriff des Ausdrucks muss man dabei von der gemeinhin in der Ästhetik damit gemeinten Äußerung einer inneren Befindlichkeit streng unterscheiden. Der modifizierende Ausdruck einer ästhetischen Wirkung ist Ausdruck oder, anders formuliert, Manifestation eines gegenständlichen Reflexionsverhältnisses – und damit nicht Expression von Innerlichkeit, sondern Artikulation eines bestimmten Verhältnisses von Wirklichkeit und Subjektivität. Dieses dialektische Verhältnis des König, „Die Natur der ästhetischen Wirkung“, a. a. O., S. 274 und S. 267.
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Ausdrucks eines Eindrucks ist weder rein objektiv noch rein subjektiv, sondern ein Mittleres: „Die Wirkung, die dieser Eindruck hervorruft, ist keine Eigenschaft der wahrgenommenen Sache selbst, sondern ein Modus meiner Subjektivität. Das heißt aber nicht, dass dieser Eindruck von mir erzeugt wird, denn er geht ja ganz eindeutig vom Wahrnehmungsgehalt aus, also vom Gegenstand. Meine Subjektivität schafft nicht einfach Inhalte ihrer Weltauffassung, sondern sie ist das Medium, in dem die Welt sich in einer bestimmten Perspektive darstellt.“239 Nur wenn diese Struktur der ästhetischen Wirkung als Ausdruck eines gegenständlichen Reflexionsverhältnisses festgehalten wird, kann aus ihr der mimetische, d. h. Wirklichkeit in sich aufnehmende und ausdrückende Charakter der Kunst begründet werden. Das wird im nächsten Abschnitt näher zu untersuchen sein. Die evozierende Funktion der Kunst als Ausdruck ästhetischer Wirkungen bedeutet für den Begriff der Kunst jedoch zunächst ganz allgemein, dass Kunstwerke die grundsätzliche Perspektivität des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses in die Form gegenständlicher Gegebenheit bringen. Dieses Gegenständlichwerden eines prinzipiell ungegenständlichen dialektischen Verhältnisses zwischen Wirklichkeit und sie wahrnehmender Subjektivität ermöglicht es auch, die flüchtige Erscheinung alles gegenwärtig Wirklichen zu einer bleibenden, festgehaltenen und derart reflektierbaren Präsenz zu machen. Kunst ist (und das wird Gegenstand des letzten Abschnitts dieses Kapitels zur „Emanzipation der Sinne“ sein) der paradigmatische und im höchsten Grade reflektierte Fall gegenständlicher Tätigkeit, weil die sinnlich-gegenständliche und reflektierte Tätigkeit am Anderen, d. h. an Gegenständen bzw. auch durch Gegenstände sich vollzieht. Für die bildenden Künste, deren Werke selbst gegenständlich sind, liegt dieser Sachverhalt auf der Hand. Aber auch die Musik arbeitet an der reflektierten Formgebung eines sinnlich Gegebenen, nämlich Hörbaren – und ist damit eine Tätigkeit, die im Medium des Sinnlichen sich an einem selbständigen Anderen vollzieht. Einzig die Literatur, die sich ganz im Medium der Sprache bewegt, hat keinen unmittelbaren Bezug auf Sinnesmodalitäten, in denen sich Gegenständliches gibt, hat dafür aber ihre ästhetische Kraft in der evozierenden Funktion der Sprache selbst, alle sinnlichen Gegebenheitsmodi des Wirklichen metaphorisch artikulieren und ausdrücken zu können.240
Hans Heinz Holz, Der ästhetische Gegenstand, Bielefeld 1996, S. 172. Zur dialektischen Theorie der Metapher vgl. ausführlich Jörg Zimmer, Metapher. Bibliothek dialektischer Grundbegriffe, Bd. 5, Bielefeld 2003; sowie die sprachphilosophischen Aufsätze in Hans Heinz Holz, Speculum Mundi. Schriften zur Theorie der Metapher, spe kulativen Dialektik und Sprachphilosophie. Aus dem Nachlass herausgegeben von Jörg Zim mer, Bielefeld 2017.
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Reflexionsgehalt und Bedeutungsverlust der Kunst: das Problem des Realismus Mit seiner berühmten These vom Ende der Kunst hat Hegel keineswegs eine kommende Moderne ohne Künste prognostiziert, sondern ein Zeitalter der erschwerten Bedingungen für Kunst. Das Grundproblem der Kunstphilosophie Hegels ist die Frage, wie die Wirklichkeit des Geistes anschaulich angemessen im Kunstwerk reflektiert werden kann. Aber auch jenseits der im engeren Sinn hegelianischen Voraussetzungen hat es Kunst in einer komplexer werdenden Wirklichkeit objektiv immer schwerer, die Reflexion dieser Wirklichkeit angemessen in der Form der Anschauung auszudrücken. Aber eben dies ist, von den Voraussetzungen nicht nur der Dialektik Hegels her gedacht, ihre Aufgabe: sinnlich-anschauliche Reflexion menschlicher Wirklichkeit zu sein. Angesichts der Abstraktionsprozesse der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der Diversifizierung der Kunstwirklichkeit in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen und auch der Ausdifferenzierung der Künste selbst stellt sich heute die Frage, ob eine allgemeine Theorie der Kunst überhaupt noch möglich ist. Wer allerdings ganz auf die Anstrengung eines Begriffs der Kunst verzichtete, würde die in der Postmoderne und ihrer Digitalisierung der Lebenswelt sich immer weiter durchsetzende Ästhetisierung der Wirklichkeit ganz der ohnedies schon allzu verbreiteten Kriterienlosigkeit überlassen. Die ästhetische Theorie der Gegenwart muss also zum einen die Spezifizität der einzelnen Künste theoretisch entfalten, d. h. sie muss Gattungsästhetik werden. Sie wird aber dennoch auch auf gattungsübergreifenden Grundbegriffen bestehen müssen, die auf unterschiedliche Weise in den verschiedenen Künsten sich verwirklichen. Dazu gehört gerade in einer Zeit, die ästhetische Erfahrungen von den Wirklichkeitsgehalten der Kunstwerke immer stärker abzu lösen versucht, auf dem Reflexionsanspruch der Kunst zu bestehen, d. h. auf ihrer Funktion, in der ganzen Vielfalt ihrer Gattungen und Darstellungsmöglichkeiten Wirklichkeit in sich aufzunehmen und anschaulich zu reflektieren. Kunst war und ist sinnliche Reflexion der Wirklichkeit, und Kunstphilosophie muss heute den Strukturwandel dieser Funktion begreifen: das Zur-Ware-Werden des Kunstwerks führt dazu, dass ihr einziger Gebrauchswert, nämlich Reflexion des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses im Medium der Sinne zu sein, dadurch nivelliert wird, dass sich der Tauschwert, der schon die Produktion der Werke maßgeblich bestimmt, über diesen Gebrauchswert legt und zu einem Bedeutungsverlust der Kunst in der Gegenwart führt. Immer weniger ästhetische Gegenstände erheben noch den Anspruch auf kritische Reflexion, und der Abbau des Reflexionsgehalts der Werke führt zu einem steigenden Bedeutungsabbau in zweifachem Sinn: Kunstwerke tragen durch den Verlust ihres Reflexionsgehalts tendenziell immer weniger Bedeutung in sich, und verlieren damit im digitalen Kapitalismus in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auch objektiv an Bedeutung. Dialektischer Kunstphilosophie
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muss es daher gerade heute darum gehen, Realismus nicht als formale Forderung, sondern im Zeitalter der Erschwerungen des Anspruchs auf verwesentlichende Darstellung des Wirklichen primär als ein Problem zu verstehen. Es geht heute nicht mehr allein darum, wie Realismus zu verstehen sei, sondern um die Frage, wie der realistische Grundgehalt der Kunst in prinzipiell allen möglichen Formen der Darstellung von Wirklichkeit zurückgewonnen werden kann. Hegel hat den ontologischen Status des Kunstwerks, ein an einem Seienden erscheinendes Reflexionsverhältnis zu sein, in die Formel gefasst, das Kunstschöne sei ‚sinnliches Scheinen der Idee‘. Die Idee, logisch gefasst die Einheit von Begriff und Wirklichkeit, wird selbst zu einer sinnlichen Erscheinung. Kunstwerke sind, wieder ontologisch gesprochen, ein Mittleres zwischen dem empirischen Einzelnen, das zwar sinnlich gegeben ist, jedoch keine Reflexion enthält, und dem begrifflich Abstrakt-Allgemeinen, dem jede Anschaulichkeit fehlt. Hegels ontologische Grundbestimmung der Kunst ist folglich die eines anschaulichen Allgemeinen, mit Aristoteles zu sprechen eines Allgemeinen in re, das zwischen der Singularität der empirischen Phänomene und der Abstraktion von Verstandesbegriffen steht. Das einerseits reflexiv begriffene, andererseits anschaulich individuierte Verhältnis des Menschen zu seiner Wirklichkeit kommt im Kunstwerk zur Erscheinung – das und nichts Anderes meint der Scheincharakter der Kunst: In ihren Werken manifestiert sich die geistig verarbeitete, nicht die unmittelbare Wirklichkeit. Der künstlerische Schein trügt nicht, sondern steht vielmehr höher als die empirische Realität, weil er reflektierte Wirklichkeit ist. Hegels Begriff des ästhetischen Scheins ist in diesem seinem Grundgehalt für jede dialektische Theorie der Kunst unverzichtbar, und zwar nicht nur, weil er eine Differenzierung von empirisch unmittelbarer und geistig vermittelter Sinnlichkeit erlaubt, sondern auch, weil Hegel in seiner Theorie der Kunst als Selbstanschauung des Geistes das menschliche Grundbedürfnis nach anschaulicher Selbstreflexion ausspricht, das auch für eine dialektisch-materialistische Kunsttheorie von zentraler Bedeutung ist.241 Kunst ist, nun jenseits der Hegel’schen Bestimmungen gesprochen, Selbstreflexion im Medium gegenständlicher Tätigkeit. Die Einheit von Arbeit an Gegenständen und Selbstreflexion, auch von praktischer und theoretischer Tätigkeit stellt sich nirgends so rein dar als in der Kunst. In der gegenständlichen Tätigkeit der Kunst liegt einerseits eine Bildung des Selbst am Anderen, andererseits die Möglichkeit, durch Darstellung Abstand von Wirklichkeit zu gewinnen, der seinerseits Voraussetzung für die Möglichkeit ist, sie zu reflektieren. Selbstbezug findet über den Umweg einer Bezugnahme auf Anderes statt, was ein Höchstmaß an Verhaltensspielraum gegenüber der Wirklichkeit gestattet – eines Verhaltens an einem gegenständlichen Anderen, das immer zugleich ein Verhalten zu diesem Anderen Vgl. ausführlich Jörg Zimmer, Arbeit am Begriff, a. a. O., S. 131 ff.
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und zu sich selbst darstellt. So wird Kunst zur reflektiertesten Form gegenständlicher Aneignung der Wirklichkeit des Menschen. In der dialektischen Theorie nach Hegel und im Anschluss an Marx ist diese realistische Grundfunktion der Kunst unter Aufnahme des aristotelischen Mimesisbegriffs weiterentwickelt worden.242 Es ist eine, kurz gesagt, völlig irreführende Annahme, Mimesis sei Nachahmung der Wirklichkeit in dem Sinn, dass sie ein Abbild von Seiendem sei. Die Rekonstruktion der Struktur ästhetischer Wirkung hat gezeigt, dass die evozierende Funktion der Kunst nicht in einer Verdoppelung, sondern in der modifizierenden Darstellung des Wirklichen besteht. Mimesis als Evokation von Bedeutung beruht auf einer künstlerischen Tätigkeit, die nicht etwa einen Gegenstand nur reproduziert, sondern ihn in der Form seiner Anmutung allererst hervorbringt. Das mimetische Tun des Künstlers, der einen Eindruck von der Wirklichkeit gegenständlich darstellt, setzt sich in der reflexiven Tätigkeit des Rezipienten fort, der sich seinerseits mimetisch nicht zur Wirklichkeit, sondern zum Werk verhält, in dem diese Wirklichkeit dargestellt ist. Diesen Zusammenhang hat Hans Heinz Holz sehr klar herausgearbeitet: „Konstituierend für meine Erfahrung von Welt ist der Eindruck, den sie auf mich macht. Den Eindrucksgehalt einer Wahrnehmung evoziert das Kunstwerk – und in diesem Sinne haben wir Mimesis als Nachvollzug eines Gestus verstanden. (…) In der Rezeption des Werks geschieht (…) mehreres: zunächst einmal im einfachen oder analysierenden Hinschauen die Aneignung des Werkgehalts und damit in einem die Auslegung auf einen Sinn. Zweitens die Reflexion des eigenen aneignenden Verhaltens, indem das form- und inhaltsanalytische Vorgehen des Betrachters bewusst gemacht und damit zugleich die Differenz von Werk und Sache selbst artikuliert wird. Und schließlich drittens die Reflexion meiner Reflexion, indem ich mich im Verhältnis zum Werk und seiner Darstellungsweise positioniere, das heißt meine Perspektive der Auffassung und der Sinndeutung feststelle. (…) Ist das Kunstwerk im Tun des Künstlers ‚Mimesis der Praxis‘, so ist meine Rezeption als mein Tun ‚Praxis der Mimesis‘. Und Praxis meint in jedem Falle, dass zwischen dem Gegenstand und dem Darstellenden nicht einfach eine Reproduktionsbeziehung steht, sondern eine Sinn-Deutung stattfindet. Im Kunstwerk wird die subjektive Vermitteltheit des Seins ansichtig.“243 Den extensivsten Rückgriff auf die aristotelische Mimesistheorie hat in der marxistischen Ästhetik des 20. Jh. Lukács genommen: Vgl. Georg Lukács, Die Eigenart des Ästhetischen, Berlin/Weimar 1981, S. 329 ff.; ich möchte im vorliegenden Zusammenhang nicht näher auf diesen Begriff eingehen, da seine Erörterung so umfangreich sein müsste, dass die Darstellung den Rahmen einer Grundbestimmung des Kunstbegriffs und seines Verhältnisses zum Problem der Gegenwart sprengen würde; zu einer etwas eingehenderen Darstellung der Mimesis bei Aristoteles vgl. Jörg Zimmer, Arbeit am Begriff, a. a. O., S. 34 ff., zu Lukács’ Mimesisverständnis ebd., S.47 ff. 243 Holz, Der ästhetische Gegenstand, a. a. O., S. 169 f. 242
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Das Kunstwerk ist die Mitte, in dem sich das mimetische Tun des Künstlers objektiviert und das im mimetischen Tun des Rezipienten in seiner unabschließbaren Bedeutungsiteration angeeignet wird. Daher auch muss Ästhetik im Wesentlichen Philosophie der Kunst sein. Deshalb auch steht im Zentrum einer dialektischen Kunsttheorie das Problem des Realismus: Dieser Begriff besagt, dass Werke Wirklichkeit in sich aufnehmen und darstellen. Lukács hatte den Realismus am Begriff intensiver Totalität und damit formal am Vorgang des bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts orientiert. Kunst soll in der kapitalistischen Gesellschaft, die durch die Atomisierung und Fragmentierung der menschlichen Erfahrung charakterisiert ist, die Einheit eines Ganzen und damit die Erkennbarkeit des Zusammenhangs dieser Totalität wiederherstellen. Lukács hat diese Grundeinsicht dazu geführt, formale Vorentscheidungen für ein realistisches Kunstwerk zu treffen, also etwa dem Expressionismus und den Avantgarden des frühen 20. Jh. keinen realistischen Gehalt zuzusprechen. Anders als Lukács hat Holz vom ‚Prinzip Realismus‘ gesprochen: Es besagt, dass die reflektierte Darstellung und verwesentlichende Verdichtung von Wirklichkeit grundsätzlich in allen Formen der Kunst sowohl verwirklicht als auch verfehlt werden kann.244 Realismus soll nicht an formalen Kriterien des bürgerlichen und des sozialistischen Realismus orientiert werden, sondern als Kriterium für den Realitätsgehalt der Kunst muss allgemein die Fähigkeit der Werke verstanden werden, Wirklichkeit so darzustellen, dass im Medium anschaulicher Reflexion etwas Wesentliches an ihr sichtbar gemacht werden kann. Genau dieser Realismus jedoch wird zum Problem, wenn der Reflexionsgehalt der Kunst in der kapitalistischen Entwicklung durch den Bedeutungsverlust nivelliert wird, der durch das Zur-Ware-Werden der Kunst sich strukturell den Werken einschreibt. Kunstsoziologisch betrachtet tritt das Kunstwerk seit dem 18. Jh. aus seinen traditionellen, d. h. in Ritualen und anderen religiösen, auch repräsentativen Funktionen und Kontexten heraus und wird zu einem privaten Gegenstand ästhetischer Wertschätzung. Neben vielleicht noch dekorativen Funktionen im privaten Raum hat die Kunst prinzipiell nur einen wesentlichen Gebrauchswert: den, Gegenstand ästhetischen Genusses und sinnlich-autonomer Reflexion zu sein.245 Gleichzeitig mit dieser Privatisierung des ästhetischen Gegenstands entwickelt sich seine Transformation in eine Ware. Den spezifischen Warencharakter des Kunstwerks hat Holz, der diese Entwicklung zuerst unter dem griffigen Titel „Vom Kunstwerk zur Ware“246 Zum Unterschied der Realismusauffassung bei Lukács, Bloch und Holz vgl. Jörg Zimmer, Arbeit am Begriff, a. a. O., S. 211 ff. 245 Kant hat das paradigmatisch im Begriff des ‚freien Spiels der Erkenntniskräfte‘ formuliert: Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Werke, ed. Weischedel, a. a. O., Bd. 8, B 27 ff. 246 Hans Heinz Holz, Vom Kunstwerk zur Ware. Studien zur Funktion des ästhetischen Gegen stands im Spätkapitalismus, Neuwied und Berlin 1972. 244
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analysiert hatte, sehr genau beschrieben: „Im Kunstwerk wird nun diese Abstraktion (vom Gebrauchswert im Tauschwert, J. Z.) selbst zum materiellen Substrat, der Tauschwert erscheint rein, ohne Bezug auf einen Gebrauch, in der Dinglichkeit des Objekts. Realisierbar ist er nur wieder in sich selbst, als Tauschwert; denn das Kunstwerk ist die Ware, die nie konsumiert wird, also die Ware an sich, die die ewige Dauer des Warenmarkts symbolisiert. Der Fetischcharakter der Ware wird in einem Fetisch-Ding zu gegenständlicher Anschauung gebracht, und es anzuschauen, ist die einzige, rein geistige Art, es zu konsumieren.“247 Dieses Zur-Ware-Werden der Kunst, das sich im 19. und 20. Jh. durchgesetzt hat, bleibt nicht ohne Folgen für den Produktionsprozess: Wo ein Künstler nicht mehr für einen Auftraggeber bzw. einen überschaubaren Rezeptionszusammenhang arbeitet, sondern für den anonymen Markt, geht der Tauschwertcharakter seines Produktes unmittelbar als Bedingung in die Produktion des Kunstwerks ein. Der Künstler muss sein Werk so gestalten, dass es als Tauschwert realisierbar wird, also Moden schaffen oder doch zumindest folgen. Die Abstraktion vom Gebrauchswert, die in Marx’ Analyse der Ware die Tauschwertrealisierung bedeutet, zeigt sich am Kunstwerk daran, dass sein wesentlicher Gebrauchswert, nämlich in seinem Wirklichkeitsgehalt anschauliche Reflexion zu ermöglichen, gegenüber der zunehmenden Beliebigkeit seiner Inhalte, die nur den Forderungen des Marktes unterliegen, in den Hintergrund tritt: „Der Reflexionscharakter des Kunstwerks, demgemäß es nicht ein Gegenstand ist, sondern einen Gegenstand so darstellt, dass das Verhältnis des Subjekts zum Objekt in diese Darstellung (und ihr Erlebnis beim Betrachter) mit aufgenommen ist (…), geht in der Denaturierung des Kunstwerks zur reinen Ware verloren.“248 Das Phänomen des zu einem Konsumgut gewordenen ästhetischen Gegenstands ist, seit Horkheimer und Adorno hierfür den treffenden Ausdruck ‚Kulturindus trie‘ geprägt haben, in der Philosophie immer wieder kritisch reflektiert worden.249 Auch unsere digitale Welt, deren Bilderwelt exemplarisch im nächsten Abschnitt untersucht werden soll, gehorcht der Tendenz der Einebnung des ästhetischen Gegenstands in die allgemeine Warenwelt. Man begreift diese Universalisierung der Ästhetisierung der Lebenswelt und die damit einhergehende Nivellierung des ästhetischen Gegenstands jedoch nur wirklich und über ihr oberflächliches Erscheinungsbild hinaus, wenn man die in Marx’ Warenanalyse festgestellten Strukturmerkmale der Ware auf die Analyse des Strukturwandels der Kunst anwendet: Hans Heinz Holz, Der Zerfall der Bedeutungen. Zur Funktion des ästhetischen Gegenstan des im Spätkapitalismus, Bielefeld 1997, S. 55. 248 Ebd., S. 41. 249 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Frag mente, Ffm. 1988, S. 128 ff. 247
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Denn nur, wenn man sieht, wie sich auch im Kunstwerk der Tauschwert über den Gebrauchswert legt, lassen sich die Konsequenzen für unser Kunstverständnis und die Notwendigkeit, auf dem Reflexionsgehalt des Kunstwerks und also seinem Gebrauchswert zu bestehen, präzise beschreiben. Der Tauschwert höhlt das Werk aus, und es ist nicht mit der Feststellung getan, es sei zum Konsumgut geworden. Der Tauschwert schlägt sich nicht nur in den Produkten der Kulturindustrie nieder, sondern auch in jenen zeitgenössischen Werken, die den Anspruch auf einen reflektierbaren Realitätsgehalt nicht aufgegeben haben. Der Warencharakter der Kunst bedingt die Gesamtheit ästhetischer Erfahrungen und bestimmt die Struktur jedes ästhetischen Gegenstandes: an jedem Werk muss nachgewiesen werden, in welchem Maß der Anspruch auf einen Reflexionsgehalt verwirklicht oder verfehlt wird. In der durchästhetisierten Lebenswelt der Gegenwart muss dabei besonders – darauf hat auf klassische Weise Walter Benjamin hingewiesen250 – darauf geachtet werden, die Autonomie der Rezeptionsmöglichkeiten wiederherzustellen, die in den Wirkungen des Zur-Ware-Werdens der Kunst immer wieder aufs Neue angegriffen wird. Die Bilderflut der heutigen digitalen Welt ist hierfür ein paradigmatischer Fall.
Die Bilderwelt der Gegenwart Soviel vom „Knipsen“. Walter Benjamin251
Seit den 1990er-Jahren hat eine zunehmende interdisziplinäre Beschäftigung mit Bildern eingesetzt, und das hat zur Herausbildung der Bildwissenschaft als Konsequenz des sogenannten iconic turn geführt. In einem grundsätzlich anthropologischen Sinn hatte schon Hans Jonas dieser Tendenz vorgearbeitet: „Ein gewisser hermeneutischer Vorzug, dessen wir uns versichern wollen, liegt in der relativen Einfachheit der Natur des Bildens – verglichen etwa mit der des Sprechens.“252 Sie besteht in der in Bildern ausgedrückten Ähnlichkeitsbeziehung und ihren Folgen für das menschliche Weltverhältnis: „An erster Stelle steht die Eigenschaft der Ähnlichkeit. Ein Bild ist ein Ding, das eine unmittelbare oder jederzeit auf Wunsch erkennbare Ähnlichkeit mit einem anderen Ding zeigt. / Die Ähnlichkeit ist absichtlich Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. In: Gesammelte Werke, ed. Tiedemann/Schweppenhäuser, Ffm. 1974, Bd. 1, S. 431 ff. 251 Walter Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“. In: Gesammelte Werke, ed. Tiedemann/Schweppenhäuser, Bd 2, Ffm. 1977, S. 381. 252 Hans Jonas, „Homo pictor: Von der Freiheit des Bildens“. In: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München 2006, S. 106. 250
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hervorgebracht: das sie zeigende Ding ist hinsichtlich dieser Eigenschaft ein Artefakt. (…) Die äußere Intention des Herstellers lebt im Hergestellten fort als innere Intentionalität – die Intentionalität der Darstellung, die sich dem Betrachter mitteilt. Während also Ähnlichkeit als solche gegenseitig ist, ist die sie benutzende Bildbeziehung einseitig und nicht umkehrbar: das Kunstding ist Bild des Naturdinges, nicht das Naturding auch ein Bild des Kunstdinges.“253 Hier sind mit der Herstellung von Bildern zwei anthropologische Grundaussagen verbunden: Der Mensch vergegenständlicht sich in seinen Produkten, und die festgestellte Asymmetrie von Natur und Kultur führt zur eigentlichen Grundaussage von Jonas. Die Bilder schaffen Abstand zur Wirklichkeit und damit Freiheit: „Das Bild wird losgelöst vom Gegenstand, d. h. die Anwesenheit des Eidos wird unabhängig gemacht von der des Dinges. Das Sehen bereits enthielt ein Zurücktreten von der Andringlichkeit der Umwelt und verschaffte die Freiheit distanzierten Überblicks. (…) Die so gewonnene Freiheit – den Dingen in der Imagination nachzusinnen – ist eine Freiheit der Distanz und der Herrschaft zugleich.“254 Gottfried Boehm hat vor 25 Jahren die Hinwendung zur Bildwissenschaft mit der Beobachtung einer auffallenden Inkongruenz von Bildpräsenz und fehlender Bildkompetenz eingeleitet: „Von der Aktualität der Bilder war, in den vergangenen Jahren, viel die Rede. Eine steigende Medienflut machte Bilder allgegenwärtig. Unser Bewußtsein der Fragen, die sie aufwerfen, blieb dagegen seltsam sporadisch und unentwickelt.“255 Wer die Entwicklung der Wirklichkeit durch die digitale Revolution vor Augen hat, die seit diesen Worten unsere Welt definitiv zu einer Bilderwelt gemacht hat, die in alle Bereiche des Alltags vorgedrungen ist, der muss nicht nur der Forderung nach Aufklärung der Wirklichkeit der Bilder Recht geben, sondern auch den Umstand unterstreichen, dass mit der digitalen Bilderflut und Bilderinflation auch die Bildkompetenz weiterhin nicht mitgekommen ist. Waren Bilder in vergangenen Zeiten ein teures Privileg Weniger, so dringen sie heute auch weit über den Bereich des Ästhetischen hinaus in alle Winkel der Wirklichkeit vor. Hatte sich der berühmte Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich 1960 noch darüber gewundert, wie die Bilder selbst auf Lebensmittelverpackungen geraten waren256, so sind heute durch den noch weitgehend unbegriffenen qualitativen Sprung Bilder in unserem Alltag allgegenwärtig. Bei vielleicht keinem anderen ästhetischen Phänomen trifft die Feststellung von Wolfgang Welsch so augenfällig zu als eben bei der Explosion der Bilder im digitalen Zeitalter: dass nämlich die alles ergreifende Ästhetisierung 255 256 253 254
Ebd., S. 107 f. Ebd., S. 119 f. Boehm, „Vorwort“. In: Was ist ein Bild?, a. a. O., S. 7. E. H. Gombrich, Art and Illusion. A Study in the Psycology of Pictorial Representation. Princeton/Oxford 1960, S. 8.
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der Lebenswelt zu einer Anästhesierung der ästhetischen Erfahrung geführt hat.257 Die Omnipräsenz der Bilder hat ihre Wahrnehmung verändert, weil die Unterscheidung von Bild und Wirklichkeit in ihr verwischt wird. Wir müssen also, um ein autonomes und der Zeit angemessenes Verhältnis zu den Bildern zurückgewinnen zu können, auf dieser Unterscheidbarkeit von Bild und Wirklichkeit bestehen. Sie ist das ontologische Grundproblem, von dem her auch der Begriff der ästhetischen Wirkung der Bilder verstanden werden kann. Es kann hier nicht darum gehen, eine Geschichte des Bildbegriffs zu geben.258 Die klassische Unterscheidung zwischen wahren und falschen Bildern hat Platon getroffen: eikon bedeutet Abbild, eidolon dagegen ist entweder ein inneres Bild (phan tasma) oder meint ein Trugbild. Die berühmte Verurteilung der Bilder im zehnten Buch der „Politeia“ ist so oft dargestellt worden, dass man sich darauf beschränken kann, den ontologischen Grundgedanken hervorzuheben: Die Unterscheidung zwischen Wesensbildner, Werkbildner und Nachbildner zielt auf die Feststellung einer Seinsprivation der Bilder als Produkt nachahmender Kunst gegenüber den vom Demiurgen geschaffenen Ideen und den von Handwerkern hervorgebrachten wirklichen Dingen. Man darf jedoch bei diesem kanonisch gewordenen, aber einseitigen Befund nicht stehenbleiben. Zwar steht Platons ontologische Argumentation im „Staat“ als Argumentation für sich selbst, aber doch unleugbar auch im Zusammenhang einer politischen Strategie des gesamten Dialogs, der alle Fragen und so auch die Bilder mit Blick auf ihre politische Wirkung in der Staatsordnung beurteilt. Im sprachphilosophischen Kontext des Dialogs „Kratylos“ dagegen ergibt sich eine andere Einschätzung der Bilder: Sowohl Worte als auch Bilder sind – allerdings „zweierlei“, d. h. unterschiedliche – Nachahmungen der Dinge. Und hier kommt eine eindeutige Aufwertung der Bilder ins Spiel: Im Sichtbaren der Bilder kann man die Ähnlichkeit zwischen Darstellung und dargestellter Sache zeigen oder „vor den Sinn des Gesichtes bringen“.259 Diese deiktische Funktion sinnlicher Evidenz bedeutet gegenüber dem negativen Begriff des Bildes im „Staat“ eine positive Auszeichnung der eigenen Qualität des Bildes. Und Platon geht noch einen Schritt weiter und trifft eine neue, sehr wichtige ontologische Neubestimmung des Bildes: Die Nachahmung der Wirklichkeit in Bildern ist nie vollständig (d. h. Abbildung bzw. Darstellung ist keine bloß reproduzierende Verdoppelung der Wirklichkeit, denn dann wären Bild und Sache gar nicht mehr unterscheidbar). Die Bilder sind vielmehr nie identisch mit der Sache, die sie darstellen und Unvollständigkeit ist daher ihre ontologische Wolfgang Welsch, „Ästhetik und Anästhetik“. In: Ders., Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003, S. 9 ff. 258 Vgl. dazu Oliver Robert Scholz, „Bild“. In: Karlheinz Barck u. a. (Hgg.), Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart 2010, Bd. 1, S. 618 ff. 259 Platon, „Kratylos“. In: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, Bd. 3, S. 543 (430e). 257
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Grundbestimmung.260 Dieser Gedanke bleibt bis heute bildontologisch gültig; noch Hans Jonas schreibt: „Das Unvollständige der Ähnlichkeit muss merklich sein, um sie als ‚bloße‘ Ähnlichkeit zu qualifizieren. Sonst würde der Betrachter das Ding und nicht ‚nur sein Bild‘ vor sich glauben.“261 Die Virtualität des Bildes (also der Umstand, dass es eben nicht nur Verdoppelung oder Wiederholung ist, sondern über dieses ontologische Abhängigkeitsverhältnis hinaus auch Eigenständigkeit besitzt) lässt sich durch die notwendige Perspektivität der Spiegelung verstehen: Das Spiegelbild verdoppelt nicht einfach seinen Gegenstand, sondern ist immer auch Ausdruck seines Ortes, d. h. der Gegenstand ist im Bild immer ausschnitthaft (Platon) und durch die perspektivische Brechung auch immer bedeutungshaft gegeben. Das Spiegelbild ist also nie leer, sondern stellt immer eine Sicht auf die Wirklichkeit dar. Der Spiegel enthält ein Bild des Anderen und drückt somit in der Perspektivität eines virtuellen Bildes sein Verhältnis zur Wirklichkeit aus. Mehr noch: Es macht dieses Verhältnis, das eben eigentlich etwas Unsinnliches ist, im Bild sichtbar. Insofern wiederholt oder verdoppelt das Spiegelbild Wirklichkeit nicht, sondern es multipliziert sie und ihre Bedeutungen. In Bildern findet Bedeutungsiteration statt. Dass man Spiegelbilder und Bilder nicht direkt identifizieren darf, sondern nur eine Analogie herstellt, die heuristisch Aufschluss über die ontologischen Grundstrukturen von Bildern geben kann, ist schon deshalb klar, weil Spiegelbilder nun einmal eigentlich zu den physei eikones, den natürlichen Bildern gehören. Geht man mit Horst Bredekamp jedoch davon aus, dass Bilder, um als Bilder aufgefasst werden zu können, „ein Minimum an menschlicher Bearbeitung aufweisen“262 müssen, dann sind Spiegelbilder sowieso keine Bilder. Es geht lediglich um die heuristische Entfaltung einer Strukturanalogie, in der die Spiegelmetapher Aufschluss über wesentliche Merkmale des Bildes in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit geben kann, das Bild jedoch nicht mit dem Spiegel identifiziert wird. Die bekannteste, umfassendste und vieldiskutierte Bildtheorie der letzten Jahre stellt Horst Bredekamps Theorie des Bildakts dar. In seiner umfangreichen Studie analysiert der Kunsthistoriker eine Fülle von Bildformen, die ihn zu einer Typologie verschiedener Bildakte führen, die nicht Gegenstand unserer Fragestellung nach dem philosophischen Begriff des Bildes sein können, aber alle in eine sehr wohl Ebd., S. 547 f. (432a/d). Jonas, „Homo Pictor“, a. a. O., S. 108; dass in der heutigen digitalen Bilderwelt dieser Unterschied oftmals nicht mehr wahrnehmbar ist (was eben nicht heißt, dass es ihn nicht mehr gibt), ist ein Problem, dem weiter unten nachgegangen werden muss. Als ontologischer Unterschied kann er ja nicht verschwunden sein, sondern ist durch den qualitativen Wandel der Bilder und ihrer Wirkung lediglich verwischt. 262 Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, S. 34. 260 261
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philosophisch relevante Grundthese zusammenlaufen: „Bilder sind nicht Dulder, sondern Erzeuger von wahrnehmungsbezogenen Erfahrungen und Handlungen; dies ist die Quintessenz der Lehre des Bildakts.“263 Einer Theorie des Bildakts geht es darum, diese Formen der Wirkung des Bildes auf Andere, d. h. in Kontexten zu erklären. Ganz folgerichtig stellt Bredekamp fest: „Die Kunstgeschichte hat immer nicht nur nach dem tätigen und das Bild selbst konstituierenden Betrachter, sondern, hiermit verbunden, auch nach den Funktionen und dem Tun von Bildern gefragt…“; die „entscheidende Frage“ ist dann, „ob den Bildern eine autonome Aktivität zugesprochen werden kann…“264 Das ‚Wechselspiel‘ von Latenz des Bildes und Betrachter generiert Bedeutung, die über den Sinn hinausgeht, den der Schöpfer des Bildes in ihn hineingelegt haben mag. Auch aus diesem Grund lebt die Bildakttheorie von der Einsicht, „dass im Bild mehr enthalten ist als nur ein Abbild.“265 Die Entfaltung des latenten Bildgehalts geschieht in der Rezeption, und zur Erklärung dieser Rezeptionsprozesse kann die Bildakttheorie einen wichtigen Beitrag leisten. Bredekamp rekurriert auf eine Beobachtung, die Nikolaus von Kues an einem Gemälde Rogier van der Weydens gemacht hatte, in das ein kleines Selbstportrait eingearbeitet ist. Cusanus sieht, dass diese Selbstdarstellung so gemalt ist, dass der Maler jeden Betrachter ansieht, aus welchem Winkel auch immer er das kleine Selbstportrait anschauen möge.266 Der Blick aus dem Bild will folglich besagen, dass die Eigenaktivität des Bildes in seiner Eigenschaft besteht, immer ‚zurückzuschauen‘, von wo auch immer es angeschaut werden möge. Genau diese Fähigkeit hebt auch König am Anfang seiner Abhandlung über die ästhetische Wirkung hervor, wenn er die berühmten Verse aus Rilkes Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ zitiert: „denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ Mit dieser Aufforderung jedes Kunstwerks unterstreicht Rilke, dass Kunstwerke uns ansprechen. Alle Bilder sind Torsi in dem Sinn Platons, dass sie ‚unvollständig‘ sind, also durch ihre Wirkung Bedeutungsanlagerungen stattfinden. Das 21. Jahrhundert kann vom Standpunkt der ästhetischen Theorie aus betrachtet als das Zeitalter des Bildes verstanden werden. Ein wesentlicher Grund für die wachsende Bedeutung der Bildtheorie liegt sicher „in den Myriaden von Bildern, die Tag für Tag über die Mobiltelefone, die Fernsehkanäle, das Internet und die 265 266 263 264
Ebd., S. 326. Ebd., S. 49. Ebd., S. 56. Ebd., S. 41; dieser „Blick aus dem Bild“ bedeutet, dass es prinzipiell eine unendliche Menge möglicher Perspektiven auf Bilder gibt (Vgl. Ralf Konersmann, Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts, Ffm. 1991, S. 93 ff.; Cusanus entwickelt den „Blick des Bildes“ im Vorwort seiner Schrift „De visione Dei“ (visum iconae ad aliam, in: Nikolaus von Kues, Die philosophisch-theologischen Schriften, a. a. O., Bd. III, S. 96.
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Printmedien um die Erde schießen, als wenn sich die gegenwärtige Zivilisation in einem Kokon von Bildern verpuppen wollte. (…) Von historischer Seite ist das 20. Jahrhundert folglich das Jahrhundert der Bilder genannt worden.“267 Diese Feststellung geht weit über die ästhetische Dimension des Bildes im eigentlichen Sinne hinaus (wenn man die Ästhetisierung aller Bereiche des praktischen Lebens nicht auch als Gegenstände ästhetischer Theorie entdecken und begreifen möchte): mit Bildern wird Unterhaltung gestaltet, Krieg geführt, Werbung gemacht, und alle Alltagsbereiche werden durch Bilddesign durchgestylt. Bildgebende Technologien nicht nur in der Medizin machen immer mehr Dinge sichtbar und revolutionieren so zum Beispiel die Chirurgie. Es gibt nun einen Bereich der im 20. Jahrhundert analogen und im 21. Jahrhundert digitalen Revolutionierung der Welt der Bilder, der einen ganz neuen Aspekt ihrer Eigenaktivität hat entstehen lassen. Die klassische Bildtheorie und weitgehend auch noch Bredekamp gehen von statischen Bildern aus. Gerade aber wenn man die performative Eigenwirkung der Bilder im Blick hat wie die Bildakttheorie, muss man seine Aufmerksamkeit auf den qualitativen Unterschied richten, den die bewegten Bilder ins Spiel bringen. In fast prophetischer Weise hat diesen Zusammenhang Walter Benjamin erkannt, und zwar zu einer Zeit, als die bewegten Bilder noch in den Kinderschuhen staken. So wie er selbst im Vorwort seines bahnbrechenden Aufsatzes „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ sagte, Marx habe seine Analysen der kapitalistischen Produktion so angelegt, „dass sie prognostischen Wert bekamen“268, kann man über seinen eigenen Versuch, die im Kapitalismus entstehende technische (Re-)Produzierbarkeit der Bilder zu begreifen sagen, dass er am Anfang der neuen Medien bereits vieles antizipiert hat, was sich erst in der Entwicklung im späteren 20. und frühen 21. Jahrhundert in seinen Konsequenzen voll gezeigt hat. Die Grundeinsichten aus dem Jahre 1936 sind unverändert gültig: „Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte.“269 Die technische Reproduzierbarkeit der Bilder gestattet es, sie aus ihrem eigenen Kontext in andere Kontexte zu stellen, sie aus ihrem Sinnzusammenhang zu reißen und ihnen einen veränderten Bedeutungszusammenhang zu geben. Weil Bilder sich jetzt an die Masse richten und Bredekamp, Theorie des Bildakts, a. a. O., S. 13. Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, a. a. O., S. 473. 269 Ebd., S. 477. 267 268
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in bestimmten Kontexten benutzt werden können, entsteht jene berühmte These Benjamins von der Ästhetisierung der Politik oder, als Alternative, der Politisierung der Kunst. Grundsätzlich ist damit nicht nur gesagt, dass Bilder ideologische Wirkungen haben, sondern außerdem, dass sie sich nicht mehr auf eine Wirklichkeit beziehen müssen, sondern selber Wirklichkeiten schaffen. Eine bahnbrechende Einsicht gewinnt Benjamin an den bewegten Bildern, nämlich dass unsere Sinneswahrnehmung nicht immer gleichbleibend, sondern vielmehr selber historisch ist: sie ist „nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt.“270 Das zeigt sich besonders deutlich im Film, „wo die Auffassung von jedem einzelnen Bild durch die Folge aller vorangegangenen vorgeschrieben erscheint.“271 Indem die Bilder sich bewegen, agieren sie und wirken aktiv auf die Wahrnehmung ein. Das kommt tatsächlich der Feststellung einer Eigenaktivität des Bildes gleich, wie die Bildakttheorie sie voraussetzt. Und mehr noch: Benjamin diagnostiziert, dass der Umstand, dass die Bewegung der Bilder sich an die Stelle der Bewegung der Gedanken setzt, die klassische Ästhetik infrage stellt. Denn eine kontemplative Haltung, wie sie die ästhetische Theorie von Kant bis Hegel forderte, setzt ein ruhendes Bild voraus, vor dem sich die Gedanken als freie Reflexion bewegen können. Diese Wahrnehmungsweise und Reflexionsform ist vor den neuen Medien unmöglich bzw. obsolet geworden. Die Wirkung der bewegten Bilder auf die Wahrnehmung nennt Benjamin ‚Chokwirkung‘. Man braucht nur die lange Kameraeinstellung früher Filme, die einmal auch eine Minute auf einer Landschaft ruhen konnte, mit der schnellen und immer schneller werdenden Schnittfolge neuer Produktionen zu vergleichen, um zu sehen, wie prophetisch Benjamin hier gedacht hat: Das Denken soll nicht mehr mitkommen und wird erschlagen durch die Macht der Eigentätigkeit und Wirkung der rasenden Bilder und Bildwechsel, durch die die Grenze auch zwischen Bild und Wirklichkeit verschwimmt und zu verschwinden droht. Wenn Kontemplation und Reflexion vor dem bewegten Bild versagen, braucht es neue Rezeptionsformen: „Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das Letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Sie kann nicht fixiert werden. (…) In der Tat wird der Assoziationsablauf dessen, der diese Bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chokwirkung des Films, die wie jede Chokwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will.“272 Diese Diagnose Benjamins ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Zunächst fällt auf, dass Benjamin den Film nicht einfach verdammt, sondern an formalen Ebd., S. 478. Ebd., S. 485. 272 Ebd., S. 502 f. 270 271
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Wahrnehmungsstrukturen, die das Medium bewegter, d. h. durch Eigenaktivität charakterisierter Bilder erzwingt (was heute durch die digitale Bilderflut ein noch weiter potenziertes Phänomen darstellt, weil es den gesamten Bereich des Alltagslebens erfasst und durchdrungen hat), die Notwendigkeit aufzeigt, andere Formen ästhetischer Verarbeitung dieser neuen Phänomene zu entwickeln. ‚Geistesgegenwart‘ sagt ja nur etwas über den Modus der Reaktion auf eine Schockerfahrung aus: ein nicht durch Reflexion unterbrochenes Verhalten zu einem Widerfahrnis (so wie z. B. ein Autofahrer auf eine plötzliche Situation richtig reagiert, ohne nachzudenken). Man muss darüber nachdenken, wie Benjamins Fingerzeig (denn mehr ist es ja nicht) zur Entwicklung einer angemessenen Rezeptionsform der eigenaktiven Bilder im Film und im Netz aufgegriffen werden kann. Die ästhetische Wirkung dieser Bilder ist Benjamins eigener Aussage nach „Zerstreung“, die durch Gewöhnung an die Chokwirkung entsteht.273 Für sie gilt, was Benjamin schon über das photographische Bild gesagt hatte: „Das Schöpferische am Photographieren ist dessen Überantwortung an die Mode. ‚Die Welt ist schön‘ – genau das ist ihre Devise. In ihr entlarvt sich die Haltung einer Photographie, die jede Konservenbüchse ins All montieren, aber nicht einen der menschlichen Zusammenhänge fassen kann, in denen sie auftritt…(…) Weil aber das wahre Gesicht dieses photographischen Schöpfertums die Reklame oder die Assoziation ist, darum ist ihr rechtmäßiger Gegenpart die Entlarvung oder die Konstruktion.“274 Benjamin hat weder die Photographie noch den Film verurteilt, sondern ihre Wirkung auf den Betrachter beschrieben und dazu aufgefordert, Rezeptionsformen für sie zu entwickeln, die die Autonomie des Betrachters gegen die sie annullierende Eigenaktivität der Bilder wiederherzustellen, also anders zu photographieren, anders Filme zu machen, die es erlauben, anders, nämlich selbstbestimmt wahrzunehmen. Sicher hätte Benjamin unsere digitale Bilderwelt mit Interesse analysiert und genau diese Notwendigkeit, selbstbestimmte Rezeptionsformen zu entwickeln, ebenfalls festgestellt. Für das in seiner Zeit neue Medium Radio hatte er ja schon zu praktizieren versucht, in technischen Medien anders zu hören als diese es nahelegen.275 Und es scheint, er habe auch die Gefahren der Smartphonebilderwelt unserer Tage vorausgesehen: „Immer kleiner wird die Kamera, immer mehr bereit, flüchtige und geheime Bilder festzuhalten, deren Chok im Betrachter den Assoziationsmechanismus zum Stehen bringt. An dieser Stelle hat die Beschriftung einzusetzen, welche die Photographie der Literarisierung aller Lebensverhältnisse einbegreift, und ohne die alle photographische Konstruktion im Ungefähren stecken bleiben muß. (…) ‚Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, Ebd., S. 504 f. Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, a. a. O., S. 383. 275 Benjamin, „Hörmodelle“. In: Gesammelte Schriften, Bd. IV, Ffm. 1972, S. 629 ff. 273 274
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der Analphabet der Zukunft sein.‘ Aber muß nicht weniger als ein Analphabet ein Photograph gelten, der seine eigenen Bilder nicht lesen kann? Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichen Bestandteil der Aufnahme werden?“276 Wenn die ästhetische Wirkung bewegter Bilder zur Inhibition ihrer Erfahrungsmöglichkeit führt, weil sie notwendig einen Reflexionsverlust mit sich bringt, durch den die Bilder ungebremst wirken und, statt Wirklichkeit in der Darstellung zu reflektieren, zu einer Wirklichkeit sui generis werden, muss die Wiederherstellung autonomer Rezeptionsformen zu einem eminenten Gegenstand bildtheoretischer Forschung werden. Gegen die Flüchtigkeit der Erfahrung der Bilder muss ihre Reflektierbarkeit und ineins damit unsere Autonomie wiederhergestellt werden. Gerade in einer Lebenswelt, die den Unterschied zwischen Wirklichkeit und piktoraler Fiktion immer stärker einebnet, ist das Festhalten an einer Ontologie des Bildes, die auf der Unterscheidung und somit auch der Unterscheidbarkeit von Bild und Wirklichkeit besteht, unverzichtbar. Und so sehr man auch die Bilderwelt des Alltags wissenschaftlich durchdringen muss, da sie immer prägender für die Erfahrung und das Verständnis unserer Wirklichkeit geworden ist, muss in der Bildtheorie doch auch der ästhetische Sinn des Bildes als Kunstwerk weiter festgehalten werden: „Wo Kunst nicht durch Form, die sie dem Gegenstand gibt, Reflexion über die Welt anbietet, da ist sie nicht mehr Kunst.“277 An diesem Unterschied muss auch Bild theorie festhalten, um Reflexionsgehalte des Visuellen in die Erfahrung zurückholen zu können.
Ästhetik als Theorie der Emanzipation der Sinne Als Alexander Gottlieb Baumgarten in der Mitte des 18. Jh. die Ästhetik als philosophische Disziplin aus der Taufe hob, nannte er sie die ‚Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis‘. Dass er dabei einen Gegenstandsbereich philosophischer Theorie als Erkenntnistheorie reformulierte, ist dem Geist der Epoche geschuldet. Die Pointe jedoch, nämlich dass Ästhetik es mit der Exploration der spezifischen Modi unserer Sinnlichkeit zu tun habe, ist bis heute für die ästhetische Theoriebildung nicht besonders traditionsbildend gewesen.278 Die Frage nämlich, was Sinnlichkeit überhaupt ist und wie die jeweiligen Sinnesmodalitäten verschiedene, nicht vom Bewusstsein ausgehende, sondern es mitbestimmende Vermittlungsformen zwischen Subjektivität und Wirklichkeit hervorbringen, ist für die Dialektik von Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, a. a. O., S. 385. Hans Heinz Holz, Der Zerfall der Bedeutungen, a. a. O., S. 89. 278 Zu Baumgartens Ästhetik vgl. Jörg Zimmer, Arbeit am Begriff, a. a. O., S. 86 ff. 276 277
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großer Bedeutung. Schon allein wenn man die Gegebenheitsweise des Wirklichen durch den jeweiligen Sinn betrachtet, wird diese Bedeutung unmittelbar deutlich: das Sehen gibt eine von uns abgehaltene, objektiv gegenwärtige Wirklichkeit, in auditiver Präsenz umgibt uns Wirklichkeit. Taktile Verbindung bringt die gegenständliche, also auch Wider-stand leistende Verfassung unserer dinglichen Umgebung in die Erfahrung. In jeder Sinnesmodalität gibt sich Wirklichkeit anders. Marx hat in seinem Frühwerk im Zusammenhang eben jener nun schon häufiger angesprochenen Theorie des gegenständlichen Wesens des Menschen der sinnlichen Vermittlung menschlicher Subjektivität mit seiner Umgebung einen hohen systematischen Stellenwert eingeräumt. Dieses Konzept gegenständlicher Tätigkeit, das Marx, wie schon betont, im ökonomischen Spätwerk ‚liegen gelassen‘ und folglich systematisch nicht entwickelt hat, kann als ausgezeichneter Ausgangspunkt einer ästhetischen Theorie der Emanzipation der Sinne angesehen werden.279 Diesen Ausdruck gebraucht Marx in den Pariser Manuskripten im Zusammenhang von Sinnlichkeit und entfremdeter Arbeit. Werkgeschichtlich stehen Marx’ Gedanken zur ‚Emanzipation der Sinne‘ damit aber auch im zeitlichen Zusammenhang seiner Überlegungen zum gegenständlichen Wesen des Menschen. Wenn man sie daher nicht nur vom Problem der Entfremdung280 her versteht, sondern aus der weiteren Perspektive des philosophischen Grundkonzepts der gegenständlichen Tätigkeit weiterdenkt, ergibt sich eine für die ästhetische Theorie fruchtbare Forschungsperspektive. Das bekannte Zitat lautet: „Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften; aber sie ist diese Emanzipation gerade dadurch, daß diese Sinne und Eigenschaften menschlich, Man kann jedoch sagen, dass auch die ästhetische Theorie in der Tradition von Marx sich nicht systematisch um die Implikationen und das Potential von Marx’ Überlegungen gekümmert hat: Eine dialektische Theorie der Sinnlichkeit, die vor allem Plessners Vorarbeiten zur ‚Einheit der Sinne‘ einzubeziehen hätte, ist weitgehend Desiderat (vgl. jedoch Hans Heinz Holz, Mensch – Natur. Helmuth Plessner und das Konzept einer dialektischen Anthropologie, a. a. O., S. 83 ff.). Es ist klar, dass auch im Rahmen eines Abrisses der ästhetischen Probleme, die die Dialektik der Gegenwart aufwirft, eine solche systematische Aufarbeitung nicht geleistet werden kann, weil sie so umfangreich sein müsste, dass dies den Rahmen innerhalb der vorliegenden Arbeit sprengen würde. Deshalb möchte ich die folgenden Gedanken als Problemaufriss verstanden wissen, um auf ein Forschungsgebiet hinzuweisen, auf dem einer dialektisch-materialistischen Ästhetik noch innovative Arbeitsfelder offenstehen. Einige weitere Hinweise in Jörg Zimmer, „Die Emanzipation der Sinne – reloaded? Zu Andreas Domanns Studie Philosophie der Musik nach Karl Marx.“ In: Aufhebung 13 (2019), S. 115 ff. 280 Jörg Zimmer, „Entfremdung“. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissen schaften. Herausgegeben von Hans Jörg Sandkühler, a. a. O., Bd. 1, S. 697 ff. 279
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sowohl subjektiv als objektiv, geworden sind. Das Auge ist zum menschlichen Auge geworden, wie sein Gegenstand zu einem gesellschaftlichen, menschlichen, vom Menschen für den Menschen herrührenden Gegenstand geworden ist. Die Sinne sind daher unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker geworden. Sie verhalten sich zu der Sache um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein gegenständliches mensch liches Verhalten zu sich selbst und zum Menschen und umgekehrt.“281 Warum die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise Voraussetzung einer Emanzipation der Sinne ist, wird im Zusammenhang des zitierten Textes aus der Analyse der entfremdeten Arbeit deutlich; die kategoriale Analyse der „Kritik der politischen Ökonomie“ hat verdeutlicht, warum auch unter den Voraussetzungen des späteren Werks von Marx an dieser Voraussetzung festgehalten werden muss: erst eine an Gebrauchswerten orientierte Tätigkeit des Menschen kann zu einer Emanzipation seiner Sinne führen. Der für die ästhetische Fragestellung wesentliche Teil des Zitats ist die Feststellung, dass erst jenseits der Denaturierung der Sinnlichkeit durch die Tausch beziehung die Sinne ‚in ihrer Praxis Theoretiker‘ werden können. Unter noch nicht befreiten Bedingungen der Sinnlichkeit gibt es diese Praxis des Theoretischwerdens der Sinne nur in der ästhetischen Erfahrung der Kunst: In ihr entwickelt sich durch die gegenständliche Tätigkeit des Künstlers ein theoretisch reflektiertes Verhältnis zu diesem praktischen Tun, das sich im Werk darstellt. In der ästhetischen Erfahrung des Werkes entwickeln sich Wahrnehmungsweisen, die den Rezipienten selbst zu einem ‚Theoretiker‘ seiner Sinnlichkeit und des gegenständlichen Wesens menschlicher Vermittlung mit Wirklichkeit überhaupt machen. Man könnte also sagen, dass die ästhetische Erfahrung als ein „Vor-Schein“282 der Befreiung menschlicher Wahrnehmungsweisen und so der Emanzipation der Sinne verstanden werden kann. In der Kunst und ihrer Erfahrung vollzieht sich der Möglichkeit nach jenseits der Verdinglichung der Sinne eine reflektierte Erprobung der Potenziale einer Emanzipation der Sinne. In dem Zitat weist Marx jedoch selbst auf den theoretischen Zusammenhang mit gegenständlicher Tätigkeit hin. Gemeint ist eine Tätigkeit, die sich am Gegenstand vollzieht, d. h. sie beruht auf Gegenseitigkeit der Beziehungen, auf einem nicht vom Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844). In: MEW Ergänzungsband, 1. Teil, S. 540. 282 Ernst Bloch hat diesen Begriff für sein Verständnis der Kunst und ihrer antizipierenden Funktion im gesellschaftlichen Prozess eingeführt, nicht aber für das Begreifen der ästhetischen Erfahrung als vorweggenommene Emanzipation der Sinne selbst; vgl. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, a. a. O., S. 242 ff., und Jörg Zimmer, „Immanente Transzendenz. Über die Kategorie Möglichkeit in der spekulativen Ästhetik Ernst Blochs.“ In: Repraesentatio Mundi. Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Heinz Holz. Hrsg. von Hermann Klenner, Domenico Losurdo, Jos Lensink und Jeroen Bartels, Köln 1997, S. 197 ff. 281
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Bewusstsein, sondern vom praktischen Tun ausgehenden dialektischen Verhältnis der Wechselwirkung. Das Subjekt gegenständlicher Tätigkeit ist zugleich bestimmt vom eigenen Tun wie vom Gegenstand (der Gegen-stand und nicht Ding genannt wird, weil er dialektisch gesprochen das Andere dieser Tätigkeit ist). Gemeint ist von Marx eine praktisch tätige Subjektivität, die eingelassen ist in den Zusammenhang der Natur, welche ihrerseits als ein Ensemble mannigfaltiger gegenständlicher Beziehungen aufgefasst wird (also nicht nur als mechanischer Zusammenhang ausgedehnter Substanzen, sondern als Totalität wechselseitiger Beziehungen von gegenständlich Zusammenhängenden). Diese gegenständliche Einheit dialektischer Beziehungen offenbart sich in der sinnlichen Vermittlung mit der Welt: „Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben. Die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit, ihr Verhalten zum Gegenstand ist die Betätigung der menschlichen Wirklichkeit; menschliche Wirksamkeit und menschliches Leiden, denn das Leiden, menschlich gefaßt, ist ein Selbstgenuß des Menschen.“283 Die Einheit von Wirken und Leiden, die Betätigung an einem konkreten Anderen ist das Wesen gegenständlicher Tätigkeit, die in der Kunst in besonders reflektierter Form zu sich kommt. Deshalb ist die Kunst die ausgewiesenste ‚Theoretikerin‘ der Sinne selbst, weil in ihr die sinnlich-gegenständliche Tätigkeit in sich reflektiert erscheint. Obwohl Marx selbst die Kategorie der gegenständlichen Tätigkeit nicht ästhetisch expliziert, kann sie als ein Grundkonzept angesehen werden, um von Marx aus eine Theorie künstlerischer Tätigkeit aufzubauen. Die künstlerische Tätigkeit und die ästhetische Erfahrung überhaupt ist sozusagen der paradigmatische Fall für gegenständliche Tätigkeit. Im Unterschied zum erkenntnistheoretischen Objektbegriff oder auch dem ontologischen Dingbegriff meint Gegenständlichkeit etwas Materielles, das einer praktischen Tätigkeit gegen-ständlich gegeben ist. Aber im Unterschied zu anderen Formen gegenständlicher Beziehung wird in der Kunstproduktion dieses gegenständliche Gegebensein eines materiellen Substrats selbst Gegenstand der Reflexion – das Auge, das Ohr, der Tastsinn wird in einem ausdrücklichen Sinn zum ‚Theoretiker‘. Hier steckt ein großes Potenzial für eine marxistische Kunstphilosophie, die das für die einzelnen Sinne, auf die sich die Künste beziehen, in der Spezifik ihrer Formbestimmtheiten auszuarbeiten hätte. Diesen Zusammenhang deutet Marx selbst an, und man achte auf den sehr schönen Ausdruck der Bejahung des Menschen in der gegenständlichen Welt: „Nicht Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a. a. O., S. 539 f.
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nur im Denken, sondern mit allen Sinnen wird daher der Mensch in der gegenständlichen Welt bejaht. / Andererseits: Subjektiv gefasst: Wie erst die Musik den musikalischen Sinn des Menschen erweckt, wie für das unmusikalische Ohr die schönste Musik keinen Sinn hat, [kein] Gegenstand ist, weil mein Gegenstand nur die Betätigung einer meiner Wesenskräfte sein kann, also nur so für mich sein kann, wie meine Wesenskraft als subjektive Fähigkeit für sich ist, weil der Sinn eines Gegenstandes für mich (nur Sinn für einen ihm entsprechenden Sinn hat) grade so weit geht, als mein Sinn geht, darum sind die Sinne des gesellschaftlichen Menschen andre Sinne wie die des ungesellschaftlichen; erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, kurz, werden erst menschlicher Genüsse fähige Sinne, Sinne, welche als menschliche Wesenskräfte sich bestätigen, teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt.“284 Diese ‚Betätigung der Wesenskräfte‘ des Menschen artikuliert sich paradigmatisch in der Kunst. Marx deutet die Notwendigkeit an, diesen ‚gegenständlich entfalteten Reichtum‘ menschlicher Sinnlichkeit gesellschaftlich zu entwickeln. Kunst muss deshalb beide Funktionen erfüllen, um Teil dieses Programms einer allseitigen Emanzipation der Sinne zu sein: sie muss kritische Reflexion der gesellschaftlichen Bedingungen sein, die eine ent wickelte Sinnlichkeit verstellen, und sie muss in der ästhetischen Erfahrung die Ausbildung und Erzeugung befreiter Sinnlichkeit antizipieren.
Ebd., S. 541.
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Schluss: Dialektik als begreifendes Denken
Die Theorieform der Philosophie: Staunen, Zweifeln, Begründen Die Philosophie ist heute in einer sonderbaren Situation. Einerseits ist ihre institutionelle Verankerung an Universitäten und in anderen Institutionen so umfangreich wie nie zuvor. Noch nie gab es so viel – inzwischen selbst innerhalb eines Fachgebiets vollends unüberschaubar gewordene – philosophische Einzelforschung wie in unserer Gegenwart. Andererseits ist die öffentliche Wirkung der Philosophie in den letzten Jahrzehnten immer weiter zurückgegangen. Es gibt keine Figuren wie Lukács und Heidegger, Russell und Sartre oder Adorno mehr, die als intellektuelle Autoritäten das öffentliche Leben einflussreich mitbestimmt hatten, weil sie durch Grundgedanken noch in der Lage waren, die Fähigkeit der Philosophie zu repräsentieren, Zusammenhänge integrativ zu denken und damit eine Funktion für die Orientierung der Menschen auszuüben. Das scheint heute Vergangenheit zu sein. Habermas sprach schon in den späten 1980er Jahren vom ‚nachmetaphysischen‘ Denken und riet der Philosophie, sich an der Verfahrensrationalität der Wissenschaft zu orientieren.285 Wollte man dieser Assimilation der Philosophie an die Verfahren und damit Theorieformen der Wissenschaften folgen, so könnte man die Geschichte der Philosophie in der Neuzeit auch als Prozess ihrer Kompetenzverluste an die verschiedenen Wissenschaften lesen: Schon mit ihrer Orientierung an der modernen Physik bzw. mathematischen Naturwissenschaft entwickelte sich ein philosophischer Theorie typus, der sich am Vorbild wissenschaftlichen Wissens orientierte. Man kann diesen Prozess der Auslagerung philosophischer Kompetenzen in die Einzelwissenschaften bis ins frühe 20. Jahrhundert weiterverfolgen. In der Moderne wächst das wissenschaftliche Wissen exponentiell an, und so entsteht die Frage, was denn für die Philosophie eigentlich noch zu tun übrig bleibt. Sie selbst hat sich, wie die Wissenschaft auch, in immer feingliedrigere Spezialisierungen ausdifferenziert und dabei viele wichtige Erkenntnisse generiert. Nur eines Vgl. Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Ffm. 1988; kritisch zu diesem Grundkonzept der Philosophie Jörg Zimmer, „So viele Fragen. Zu Jürgen Habermas’ ‚Auch eine Geschichte der Philosophie‘“. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, H. 124 (2020), S. 160 ff.
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hat sie in diesem Prozess eingebüßt: Sie wird nicht mehr als die Theorieform eines auf den Zusammenhang des Ganzen bezogenen und ihn reflektierenden integra tiven Denkens wahrgenommen – und hat eben deshalb weitgehend jene Funktion verloren, Wirklichkeit als Ganzes zu reflektieren. Wir leben aber gerade heute in einer Welt immer komplexer werdender mannigfaltiger Beziehungen, sodass man aus guten Gründen auf der Aktualität der Frage- und spezifischen Theorieform der Philosophie bestehen kann, den Zusammenhang der Wirklichkeit begreifen und kritisch reflektieren zu wollen.286 Es ist ein alter Topos, dass am Anfang der Philosophie das Staunen steht. Das griechische Wort thaumázein meint zunächst die Verwunderung über etwas, bezeichnet also eine Art von Fraglichwerden des Wirklichen als Anfang bzw. Anstoß des Wissens. Dieses staunende Fragen ist konnotiert mit einer Bewunderung des Seienden (weshalb es lateinisch auch mit admiratio übersetzt wird). Dieser Fragetypus des Staunens, der nicht von vornherein nach etwas Bestimmtem fragt, sondern sich überhaupt wundert, ist für Aristoteles der Anfang allen Philosophierens. Staunen ist ein an den konkreten Erscheinungen sich entzündendes grundsätzliches Fragen, das auf Gründe geht: „Denn Verwunderung war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens, indem sie sich anfangs über das nächstliegende Unerklärte verwunderten, dann allmählich fortschritten und auch über Größeres Fragen aufwarfen, z. B. über die Erscheinungen am Mond und der Sonne und den Gestirnen und über die Entstehung des Alls. Wer sich aber über eine Sache fragt und verwundert, der glaubt sie nicht zu kennen. (Deshalb ist der Freund der Sagen auch in gewisser Weise ein Philosoph; denn die Sage besteht aus Wunderbarem.)“287 Aus dem Kontext wird deutlich, dass Aristoteles sich auf den sowohl individuellen als auch historischen Anfang des philosophischen Denkens bezieht. Die Anspielung auf die vorsokratischen Naturphilosophen ist dabei ebenso bedeutsam wie die Verbindung zwischen Philosophie und Mythos, die Aristoteles herstellt: Gemeinsam ist beiden ein staunendes, sich wunderndes Verhältnis zur Wirklichkeit, eine Unwissenheit, die nach Antworten auf sehr grundsätzliche Fragen sucht. Was dann die Philosophie tatsächlich auszeichnet, ist die Frage nach Gründen und auch, dass sie ihr Wissen aus Gründen begründen will. Und es ist, wie Aristoteles fortfährt, ein Wissen, das jenseits des Nutzens nur um des Wissens willen gesucht wird – und daher auch erst entsteht, wenn sich das menschliche Leben über die unmittelbare Not des zu seiner Reproduktion Notwendigen hinausentwickelt hat: „Wenn sie daher philosophierten, um der Unwissenheit zu entgehen, so suchten sie das Erkennen offenbar des Wissens wegen, nicht um Vgl. zu dieser eigenen Theorieform der Philosophie ausführlicher Jörg Zimmer, „Welt denken. Der spekulative Horizont der Philosophie“. In: Topos, H. 35 (2011), S. 45 ff. 287 Aristoteles, Metaphysik, übers. Bonitz, a. a. O., S. 6 (982b). 286
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irgendeines Nutzens willen. Das bestätigt auch der Verlauf der Sache; denn als so ziemlich alles zur Annehmlichkeit und (höheren) Lebensführung Nötige vorhanden war, da begann man diese Art der Einsicht zu suchen.“288 Beide Aspekte sind wesentlich für die Bestimmung der Philosophie: Sie kann erst entstehen (hier ist Aristoteles erstaunlich ‚materialistisch‘), wenn sich die Entwicklung menschlicher Produktivkräfte vom unmittelbar Lebensnotwendigen befreit hat, und muss dann streng vom nutzengebundenen Wissen unterschieden werden. Philosophie ist Aus druck menschlicher Freiheit: „Daraus erhellt also, dass wir sie nicht um irgendeines anderweitigen Nutzens willen suchen; sondern, wie wir den Menschen frei nennen, der um seiner selbst willen, nicht um eines anderen willen ist, so auch diese Wissenschaft als allein unter allen freie; denn sie allein ist um ihrer selbst willen.“289 Aristoteles hält also den intrinsischen Zusammenhang zwischen philosophischem Denken und Freiheit fest. Dieser Zusammenhang ist auch bei dem zweiten klassischen Topos über den Anfang der Philosophie wesentlich, dem cartesischen Zweifel. Beide genuin philosophischen Formen des Fragens, Staunen und Zweifeln, haben einen gemeinsamen Kern, nämlich radikales Fragen zu sein. Die moderne Form dieses Fragens enthält jedoch nicht mehr das Moment bewundernder Hinwendung zur Welt, sondern ist methodischer Rückzug aus ihr. Diese Differenz im Weltbegriff muss festgehalten werden, da der grundsätzliche Frageimpuls, der Staunen und Zweifeln gemeinsam ist, auf einem unterschiedlichen Verhältnis zur Wirklichkeit beruht: Radikales Zweifeln bewundert nichts, sondern bezweifelt alles außer der denkenden Tätigkeit des Zweifelns selbst. Descartes verschafft sich „eine sichere Muße in einsamer Zurückgezogenheit“, um am Kaminfeuer sein radikales Experiment durchzuführen: nämlich „daß ich daher einmal im Leben alles von Grund auf umstoßen und von den ersten Grundlagen an neu beginnen müsse, wenn ich endlich einmal etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften ausmachen wolle.“290 Es geht anders als beim Staunen nicht um ein weltzugewandtes Wissen, sondern um die Unterscheidung von (begründet) wahrem und (unbegründet) falschem Wissen. Es geht weiter um den Rückzug aus der Welt ins Subjekt, um in seiner Selbstgewissheit die Grundlage für die geforderte Begründung gesicherten Wissens über Welt Ebd. Ebd., S. 6 f.; Eine klassische Anekdote zur Kritik an dieser Theorieform ist das Lachen der thrakischen Magd vor dem vermeintlich in den Brunnen gefallenen Thales, die ihm vorwirft, die Sterne zu betrachten und das vor seinen Füßen Liegende nicht zu sehen. Ein Missverständnis, denn Thales ist in den Brunnen hinabgestiegen, um den Himmel besser betrachten zu können. Zur Entwicklung dieser Anekdote vgl. Hans Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Ffm. 1987. 290 René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Ein wänden und Erwiderungen, a. a. O., S. 11 (I/1). 288 289
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zu gewinnen. Das Korrelat dieses Selbstdenkens des Subjekts ist eine objektiv ihm gegenüberstehende Wirklichkeit, und es begründet wissenschaftliches Wissen. Der Zweifel wird methodisch: Descartes will „all das als völlig falsch verwerfen, wofür ich mir nur den geringsten Zweifel ausdenken könnte, um zu sehen, ob danach nicht irgendeine Überzeugung zurückbliebe, die gänzlich unbezweifelbar wäre. (…) Und nachdem ich erkannte, daß diese Wahrheit: ‚ich denke, also bin ich‘ so fest und sicher ist, daß die ausgefallendsten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich, daß ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte, ansetzen könne.“291 Die Denktätigkeit des Subjekts wird durch den methodisch durchgeführten Zweifel, der als einzige Gewissheit den Zweifel selbst und damit das Denken übrig behält, zum Grund bzw. Begründungsprinzip allen endlichen Wissens. Philosophie versteht sich im Kontext der frühen Neuzeit dann als Begründung gesicherten wissenschaftlichen Wissens. Und dennoch zeigen die beiden Beispiele, dass philosophische Fragen grundsätzlich nicht in der Form endlicher Aussagen beantwortet werden können. Leibniz, der in so vielen Bereichen verschiedener Wissenschaften von der Mathematik bis zur Geschichtswissenschaft und angewandter Technik innovative Leistungen erbracht hat, konnte sich dennoch nicht enthalten, die Frage zu stellen: Warum gibt es über haupt etwas und nicht nichts? Philosophischem Fragen wohnt eine radikale Reflexivität inne, die durch keine endlichen Erkenntnisse stillzustellen oder zu beruhigen ist. Deshalb ist die Grundstruktur philosophischer Theorie reflexiv, d. h. sie besteht nicht im Erklären eines Teiles der Wirklichkeit, sondern im Begründen des Ganzen eines Argumentations zusammenhangs. Philosophische Antworten haben immer die hypothetische Form von Begründungsversuchen, d. h. sie bleiben Fragen und sind nicht nur an die Selbstverpflichtung auf rational nachvollziehbare Argumentation gebunden, sondern gerade dadurch auch immer Einwänden ausgesetzt. Die reflexive Form philosophischen Fragens führt zu ihrer gegenüber den positiven Wissenschaften grundsätzlich und unaufhebbar eigenen Theorieform, die nicht erklärt, sondern im reflexiven Begreifen den Sinn der Wirklichkeit als eines Zusammenhangs von Bedeutungen einzuholen versucht. Kant hat für diesen Sachverhalt die schöne Formulierung gefunden, dass philosophisches Wissen durch „Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“292 Der Metaphysikkritiker Kant spricht hier also selbst von der Unabweisbarkeit metaphysischer Fragen, und bei aller Selbstbeschränkung der René Descartes, Discours de la méthode. Französisch-Deutsch, Hamburg 1960, S. 53 (IV/1). 292 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, ed. Weischedel, a. a. O., Bd. 3, S. 11 (A VII). 291
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Erkenntnis auf endliches Erfahrungswissen besteht auch er auf dem Problem, dass die Philosophie den Zusammenhang des Ganzen der Erfahrung zu denken habe: „Obgleich aber ein absolutes Ganzes der Erfahrung unmöglich ist, so ist doch die Idee eines Ganzen der Erkenntnis nach Prinzipien überhaupt dasjenige, was ihr allein eine Art von Einheit, nämlich die von einem System, verschaffen kann, ohne die unser Erkenntnis nichts als Stückwerk ist…“293 Die Systematizität, die Kant hier einfordert, darf nicht mit einem geschlossenen System von Aussagen verwechselt werden. Philosophisch gesprochen sind Systeme hypothetische Begründungsmodelle für das Ganze des Erfahrungszusammenhangs, das ja, wie Kant selbst feststellt, als Totalität über die Möglichkeit von Erfahrung hinausgeht. Gerade deshalb kann dieses Ganze nur in transempirischen Modellen gedacht und begründet werden – und der grundsätzlich reflexive Charakter dieser Modelle macht klar, dass sie im Grunde keine Antworten, sondern in einem bestimmten Zusammenhang systematisch durchformulierte Fragestellungen sind.294 Dialektische Philosophie als ein Theorietypus, der sich nicht an die Verfahrensrationalität der Einzelwissenschaften bindet, hat es mit dem empirisch nicht einholbaren Ganzen der Wirklichkeit zu tun, die nicht als Summe der Tatsachen oder Sachverhalte, sondern als Einheit aller innerweltlichen Beziehungen und ihrer Reflexion im Wissen zu verstehen ist. Es geht um Bedeutungen des Wirklichen in Zusammenhängen – und deshalb auch letztlich um das Begreifen der Wirklichkeit, die als Ganzes gedacht werden muss, aber nur an den konkreten Erscheinungen reflektiert und in ihren Bedeutungsgehalten bestimmt werden kann. Dialektik ist, um die sehr genaue Formulierung von Friedrich Engels aufzunehmen, Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs, nicht vom Gesamtzusammenhang (MEW 20, 307). Diese feine Unterscheidung mit dem genitivus auctoris besagt, dass Dialektik nicht ein vorgegebenes Ganzes sozusagen durchdekliniert und eine Summe von Erkenntnissen von diesem Ganzen darstellt, sondern eine Theorie des Ganzen ist in dem Sinn, dass die Theorie dieses Ganze als in einer begrifflichen Struktur ausgedrücktes Modell allererst herstellt. Der Gesamtzusammenhang als Gegenstand der Dialektik lässt sich weder in der Form akkumulierten Einzelwissens (das wäre die Summe wissenschaftlicher Erkenntnisse) noch nach der Art der vormaligen Metaphysik als begrifflich her gestellter ordo eines vorgegebenen Zusammenhangs der Wirklichkeit darstellen. Der Weltbegriff der Dialektik zielt vielmehr auf die Einheit aller Wechselwirkungsverhältnisse, die nur in Modellbildungen der Theorie überhaupt denkbar gemacht werden kann. In ihnen wird ein kohärentes und konsistentes Weltbild begründbar, Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, ed. Weischedel, a. a. O., Bd. 5, S. 238 (A 183). 294 Zum Begriff metaphysischer Modelle vgl. Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion, a. a. O., S. 118 ff. 293
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in das die unüberschaubare Fülle der Einzelheiten dann jeweils sinnvoll integriert werden kann. Modellbildungen in der Philosophie haben insofern eine heuristische Funktion, uns in der Wirklichkeit zu orientieren. Diese Orientierungsfunktion der Philosophie ist letztlich ihre vornehmste Aufgabe, denn sie ermöglicht einen selbstbestimmten, rational nachvollziehbaren und begründbaren Umgang mit der Wirklichkeit. Hegels ‚Enzyklopädie‘ stellt den klassischen Versuch dar, eine Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs begrifflich zu konstruieren. Sie ist nicht Abbildung und Anordnung von Wissensgebieten (keine Enzyklopädie im Sinne der Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts), sondern sie ist philosophische Enzyklopädie, die den gemeinten Gesamtzusammenhang im Vollzug der Denkbewegung allererst herstellt. Hegel hat sich dabei durchaus in die Tradition des Staunens und Zweifelns gestellt, eines Fragens eben, das nicht weiß, wo es am Ende herauskommt. In seiner Antrittsrede an der Berliner Universität spricht er das aus: „Der Entschluss zu philosophieren wirft sich rein in Denken (das Denken ist einsam bei sich selbst), – er wirft sich wie in einen uferlosen Ozean; alle die bunten Farben, alle Stützpunkte sind verschwunden, alle sonstigen freundlichen Lichter sind ausgelöscht. (…) Unter dem, was verschwunden ist, befindet sich vieles, was man um allen Preis der Welt nicht aufgeben wollte, und in dieser Einsamkeit aber hat es sich noch nicht wiederhergestellt, und man ist ungewiss, ob es sich wiederfinde, wiedergeben werde.“ (W 10, 416) Diese grundsätzliche Fraglichkeit und Ergebnisoffenheit muss das philosophische Denken bei seinem Begründungsversuch auf sich nehmen und zum Austrag bringen.
Begreifendes Denken Die vorliegende Studie ist der Versuch, die Grundprobleme der Begründung dialektischen Denkens vom systematischen Ausgangspunkt der Gegenwart her darzustellen. Jeder Systematisierungsversuch indes steht am Ende vor dem Problem, sich an den konkreten Gegenständen bewähren zu müssen. Der transempirische Gehalt der Dialektik bedeutet nicht, dass die Theorie den Boden der Erfahrung verlässt, sondern zeigt nur an, dass sein Gegenstand durch Erfahrung nicht gedeckt ist. Es stellt sich jedoch durchaus die Frage, wie die erreichten begrifflichen Differenzierungen sich im Begreifen der konkreten Erscheinungen im Zusammenhang der Erfahrung niederschlagen. Dialektik ist gewiss ein begrifflicher Begründungszusammenhang, aber letztlich gewinnt dialektisches Denken seinen Wahrheitsgehalt nur im Begreifen der konkreten Wirklichkeit. Und so kommen wir am Ende wieder auf Hegel zurück, von dem wir ja anfangs ausgegangen waren. Arbeit des Begriffs meint letztlich, etwas ganz konkret zu begreifen. Für Hegel bedeutet dieses Begreifen eines
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Gegenstandes, ihn aus seinen Bedingungen heraus so genau wie möglich zu verstehen, d. h. aus seinem Vermittlungszusammenhang heraus seine Wirklichkeit zu entwickeln. In einem mündlichen Zusatz der ‚Rechtsphilosophie‘ heißt es: „…Begreifen ist das Durchbohren des Gegenstandes, der nicht mehr mir gegenübersteht…“ (W 7, 47). Das Denken muss sich in seinen Gegenstand versenken, um ihn begreifen zu können. Damit deutet Hegel an, dass das begreifende Denken im Unterschied zum urteilenden Denken in die Sache einzudringen sucht. In der ‚Wissenschaft der Logik‘ nennt Hegel das Begreifen die Aneignung einer Sache: „Das Begreifen eines Gegenstandes besteht in der Tat in nichts anderem, als daß Ich denselben sich zu eigen macht, ihn durchdringt und ihn in seine eigene Form, d. i. in die Allgemeinheit, welche unmittelbar Bestimmtheit, oder Bestimmtheit, welche unmittelbar Allgemeinheit ist, bringt.“ (W 6, 255) Damit ist eine hohe Forderung an das Denken gestellt: Das Allgemeine zeigt sich erst in der Bestimmtheit der Besonderheit und damit im Begreifen der Einzelheit als ein Allgemeines. Das, was man im engeren Sinne die Dialektik Hegels nennen kann, wird in seiner Wesenslogik entfaltet.295 Für die Entwicklung der Reflexionsbestimmungen, die für die Rekonstruktion der Struktur begreifenden Denkens von zentraler Bedeutung sind, kann man die knappen Bestimmungen der kleinen Logik aus der ‚Enzyklopädie‘ heranziehen, die Hegel ja selbst als Kompendium für seine Studenten entworfen und auf Verständlichkeit angelegt hat.296 Dialektik, das haben wir im Laufe dieser Untersuchung immer wieder betont, ist das Hinausdenken über Identität. Genau dieser Denkbewegung geben die Reflexionsbestimmungen eine logische Form: Das Verhältnis von Identität, Unterschied und Grund einerseits und die für kritisches Denken höchst bedeutsame Unterscheidung von Erscheinung und Wirklichkeit machen den logischen Instrumentenkasten der konkreten Dialektik bei Hegel aus. Das Prinzip der Identität, das sei vorausgeschickt, ist ein großes Verdienst der aristotelischen Logik: Wir müssen Identität festhalten, um Aussagen über Dinge treffen Die Reihe der Forschungen zur Logik Hegels im Allgemeinen und zur Wesenslogik im Besonderen ist unüberschaubar geworden (ich erinnere nur an den Kommentar von Pirmin Stekeler-Weithofer, der sie erst jüngst wieder bis in alle Ecken ausgeleuchtet und kommentiert hat, vgl. a. a. O.) Klassische Studien sind Dieter Henrich, Hegel im Kontext, a. a. O.; Christa Hackenesch, Die Logik der Andersheit, Ffm. 1987; Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Ffm. 1980, ferner Hans Friedrich Fulda/Rolf Horstmann/Michael Theunissen, Kritische Darstellung der Meta physik. Eine Diskussion über Hegels Logik, Ffm. 1980; und Hans Heinz Holz, Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, a. a. O., Bd. V, S. 117 ff. 296 Vgl. hierzu Christa Hackenesch, „Die Wissenschaft der Logik“. In: Hermann Drüe et al., Hegels ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘ (1830). Ein Kommentar zum Systemaufriss, a. a. O., S. 87 ff., zur Wesenslogik bes. S. 109 ff. 295
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und praktisch mit ihnen umgehen zu können. Deshalb ist Dialektik nicht Kritik an der formalen Identität, sondern eben ein Hinausgehen über sie, d. h. eine kritische Reflexion über die Grenze und Einseitigkeit dieses logischen Prinzips. Das spricht Hegel deutlich aus: „Formelle oder Verstandesidentität ist diese Identität, insofern an ihr festgehalten und von dem Unterschiede abstrahiert wird. Oder die Abstraktion ist vielmehr das Setzen dieser formellen Identität, die Verwandlung eines in sich Konkreten in diese Form der Einfachheit, – es sei, daß ein Teil des am Konkreten vorhandenen Mannigfaltigen weggelassen (durch das sogenannte Analysieren) und nur eines derselben herausgehoben wird, oder daß mit Weglassung ihrer Verschiedenheit die mannigfaltigen Bestimmtheiten in eine zusammengezogen werden.“ (W 8, 236) Damit ist die Ausgangslage der Gesamtproblematik dialektischen Denkens angezeigt: Der formale Satz A=A impliziert etwas, das die apophantische Logik gar nicht sieht und sehen kann, nämlich dass die Konsequenz des Satzes die Abstraktion, das Absehen von allem bedeutet, was den Gegenstand tatsächlich konkret ausmacht und bestimmt: seine individuellen, ‚mannigfaltigen‘ Eigenschaften ebenso wie die Beziehungen zu Anderem – also das, was in Hegels Terminologie die ‚Vermittlungen‘ einer Sache sind. Alles das wird ‚weggelassen‘, um den Gegenstand rein als solchen in seiner Identität zu fixieren. Hegel hält zu Recht fest, „daß kein Bewußtsein nach diesem Gesetze denkt, noch Vorstellungen hat usf., noch spricht, daß keine Existenz, welcher Art sie sei, nach demselben existiert.“ (W 8, 237) Der Dialektik geht es zuerst und zuletzt darum, über diese formale Feststellung seiner Identität den Gegenstand des Denkens in seine konkrete Gegebenheitsweise zurückzuführen und in seiner Reflexion im Vermittlungszusammenhang immer genauer zu begreifen. Um diese der Identität anhaftende Negativität ins Denken einholen zu können, braucht es eine logische Bestimmung des Unterschiedes. Im mündlichen Zusatz zum Paragraphen 116 trifft Hegel eine für das dialektische Denken sehr wichtige Unterscheidung: „Wenn gefragt wird: wie kommt die Identität zum Unterschied?, so liegt in dieser Frage die Voraussetzung, dass die Identität als bloße, d. h. als abstrakte Identität etwas für sich sei, und dann ebenso der Unterschied etwas anderes, gleichfalls für sich. (…) Als solche aber ist die Identität zugleich Beziehung, und zwar negative Beziehung auf sich oder Unterscheidung ihrer von sich selbst.“ (W 8, 239) Im Unterschied zum Verstandesdenken, in dem Identität und Anderssein einfach auseinanderfallen und gleichgültig nebeneinanderstehen, nimmt das dialektische Denken die Beziehung in den Begriff des Gegenstandes auf, es fasst „Negation zugleich als Beziehung, Unterschied, Gesetztsein, Vermitteltsein.“ (W 8, 239) Damit ist über die formale Bestimmung der Identität hinaus auch ein dialektischer Begriff der Identität angezeigt: nämlich die konkrete Identität, die in den Beziehungen, in denen sie steht, zu dem wird, was sie je ist. Hegel verdeutlicht diese Differenz in der Unterscheidung von Verschiedenheit und Unterschied: Verschiedenes „ist gleichgültig gegen seine Beziehung auf das
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Andere“ (W 8, 239), während der bestimmte Unterschied immer die Bezogenheit des Einen auf das Andere impliziert und folglich als Einheit von Positivem und Negativem gedacht werden muss. Ich gebe ein Beispiel. Formal betrachtet ist etwa meine nationale Identität in meinem Passdokument ausgedrückt: Dieser Mensch, ohne Ansehen seiner anderen identitätsstiftenden Eigenschaften und Beziehungen, ist identifizierbar als deutscher Staatsbürger. Das setzt ihn in ein abstraktes und gleichgültiges Verhältnis zu jedem Menschen, der den Pass eines anderen souveränen Staates besitzt. Identität und Unterschied fallen in Verschiedenheit auseinander, weil der Unterschied ein nur formeller ist. Ganz anders sieht es aus, wenn ich meinen Pass nutze, um etwa in einem anderen Land zu reisen oder zu leben. Dann entsteht ein bestimmter Unterschied, um den es im dialektischen Denken geht: Meine Identität zeigt sich an der Identität des Anderen, nämlich am bestimmten Unterschied. Der Unterschied wird jetzt als Teil der Identität sichtbar und erfahrbar, und Identität entwickelt sich am Anderen. Der dialektische Unterschied (der „Unterschied des Wesens“) enthält Widersprüche: „Der Unterschied des Wesens ist daher die Entgegensetzung, nach welcher das Unterschiedene nicht ein Anderes überhaupt, sondern sein Anderes sich gegenüber hat; d. h. jedes hat seine eigene Bestimmung nur in seiner Beziehung auf das Andere, ist nur in sich reflektiert, als es in das Andere reflektiert ist, und ebenso das Andere; jedes ist so des Anderen sein Anderes.“ (W 8, 243). Im mündlichen Zusatz heißt es dann sehr erhellend: „Positives und Negatives sind also wesentlich durch einander bedingt und nur in ihrer Beziehung aufeinander.“ (W 8, 245). Damit tritt der Widerspruch ins Zen trum dialektischen Denkens.297 In der formalen Logik ist vom tertium non datur, dem verbotenen Widerspruch die Rede. In der dialektischen Logik geht es nicht darum, diesen formalen Begriff des Widerspruchs nicht anzuerkennen. Es geht nicht um die Selbstverständlichkeit, dass etwas nicht zugleich A und non-A sein kann, wenn sinnvoll Aussagen darüber gemacht werden sollen, sondern um den Gedanken, dass das Negative am Positiven, das Anderssein an der Identität erscheint. Alles, was ist, trägt den Widerspruch, d. h. die Beziehung auf Anderes in sich, und die Wirklichkeit jedes Erkenntnisgegenstandes ergibt sich aus der widerspruchsvollen Einheit seiner Beziehung auf Anderes, die nicht in Urteilen bestimmt, sondern nur reflexiv, d. h. begreifend eingeholt werden Die Unterscheidung Hegels zwischen gleichgültiger Verschiedenheit und dem bestimmten Unterschied könnte für eine Kritik der gegenwärtigen postmodernen Kultur fruchtbar gemacht werden, die sich in die bunte Vielfalt gegeneinander gleichgültigen Andersseins (heteron) wirft, ohne auch nur eine Ahnung von der bestimmten Andersheit (diaphorá) zu haben, um die es in der Dialektik geht. Deshalb gibt es im postmodernen Denken auch kein Bewusstsein für Widersprüche – was alle die bunten Ausdrucksformen dieses Zeitgeistes so angenehm für die ‚verschiedenen‘ Herrschenden unserer Zeit macht.
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kann, weil sie nicht eine Reihe von Qualitäten des Gegenstandes ist, sondern ihr prinzipiell unendlicher Verweisungszusammenhang.298 Hegel schreibt dazu: „Beide (das Positive und das Negative, J. Z.) sind somit der gesetzte Widerspruch, beide sind an sich dasselbe. Beide sind es auch für sich, indem jedes das Aufheben des Anderen und seiner selbst ist. Sie gehen hiermit zu Grunde.“ (W 8, 247) Indem Dialektik über das Festhalten formaler Identität hinaus die Einheit von positiven und negativen Bestimmungen der Erscheinungen zu denken beansprucht, entsteht der Widerspruch als Moment der Wirklichkeit einer Sache – und damit letztlich eine Verhältnisstruktur, in der jedes Selbige das Selbige seines Anderen ist. Jedes Iden tische ist im Anderen aufgehoben, und alle, die logisch immer schon als Identische für Andere bestimmt werden, sind im Gesamtzusammenhang dieser Einheit von Beziehungen aufgehoben. Man achte auf die Doppeldeutigkeit der Formulierung Hegels: ‚Zugrunde gehen‘ kann bedeuten, dass etwas aufhört zu sein, aber in der Schreibweise Hegels und im gedanklichen Zusammenhang meint es zugleich, dass das endliche Identische durch die Vermitteltheit seiner mannigfaltigen Beziehungen in seinen Grund zurückgeht. Der Grund indes ist die allen gemeinsame Verhältnisstruktur der Vermittlung. Die dialektische Einsicht, dass das Eine immer als Eines des Anderen aufzufassen ist, führt in den Grund zurück, der als Verweisungszusammenhang der Totalität begriffen werden muss. Die Wesenslogik ist Logik des In-Beziehung-Seins, und Totalität wird zum logischen Ausdruck für das Ganze der Beziehungseinheit des Wirklichen. An dieser Stelle zeigt sich der doppelte Status der Kategorie Tota lität: Zum einen ist sie, wie wir in Kapitel IV schon gesehen haben, ein spekulativer Grenzbegriff ohne empirische Deckung, den wir brauchen, um Wirklichkeit als Einheit einer Verhältnisstruktur überhaupt denken zu können. Jetzt aber, im logischen Zusammenhang der Frage, wie dieses In-Beziehung-Sein aller Erscheinungen der Wirklichkeit konkret zu denken sei, wird Totalität zum universellen Verweisungszusammenhang, der an jedem Gegenstand im Vollzug dialektischen Denkens erscheint. Die Wesenslogik ist deshalb auch eine Logik des Scheins: Im dialektischen Denken (und was sonst wäre Gegenstand einer dialektischen Logik?) ist das Wesen als allgemeine Verhältnisstruktur „zunächst Scheinen und Vermittlung in sich“ (W 8, 252). Dialektisches Denken besteht darin, jeden seiner Gegenstände immer genauer in seinen Vermittlungen zu begreifen – und als ein in diesem Sinne begreifendes Denken ist Dialektik ein unabschließbarer, offener Prozess konkreten Die Frage, was Strukturen dialektischen Denkens zur Konzeption einer kritischen Hermeneutik beitragen können, ist noch weitgehend unerforscht; vgl. Robert Caner-Liese, „Vorrang des Objekts. Peter Szondi und das dialektische Denken“. In: Germán Garrido/ Linda Maeding (Hg.), Peter Szondi. Stellungnahmen zur literarischen Hermeneutik, Bielefeld 2022, S. 11 ff.
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Denkens, einen jeden seiner Gegenstände aus seinem Vermittlungszusammenhang heraus immer genauer zu bestimmen. Um die kritische Funktion dialektischer Logik an konkreten Erkenntnisgegenständen näher zu bestimmen, will ich das Verhältnis von Erscheinung und Wirklichkeit wenigstens in Grundzügen rekonstruieren, das Hegel aus den Reflexionsbestimmungen entwickelt und das die Wesenslogik als Kern der Dialektik Hegels abschließt.299 Man kann am Begriff der Erscheinung sehr schön sehen, wie Hegel sich in seiner Logik ständig kritisch mit der traditionellen Metaphysik auseinandersetzt: „Das Wesen muß erscheinen. (…) Das Wesen ist daher nicht hinter oder jenseits der Erscheinung, sondern dadurch, daß das Wesen es ist, welches existiert, ist die Existenz Erscheinung.“ (W 8, 261 f.) Hegel spricht hier unausgesprochen gegen den chorismos der platonischen Metaphysik. Indem die dialektische Logik das Wesen nicht als eine Wirklichkeit hinter dem Schein der Erscheinung, sondern als existierende Verhältnisstruktur auffasst, kann sie alles innerweltlich Existierende als in dieser Einheit von Beziehungen Erscheinendes begreifen. Existenz ist dann jedoch als Erscheinung auch nicht mehr das selbständige Seiende der Substanzmetaphysik: Indem Dialektik alles Existierende eben aus dieser Totalität von Verhältnissen bestimmt, geht sie auch über die aristotelische Unterscheidung von Seiendem und Wesen hinaus. Im mündlichen Zusatz heißt es: „Die Existenz, gesetzt in ihrem Widerspruch, ist die Erscheinung. Diese ist nicht mit dem bloßen Schein zu verwechseln. Der Schein ist die nächste Wahrheit des Seins oder der Unmittelbarkeit. Das Unmittelbare ist nicht dasjenige, was wir an ihm zu haben meinen, nicht ein Selbständiges und auf sich Beruhendes, sondern nur Schein, und als solcher ist dasselbe zusammengefasst in die Einfachheit des in sich seienden Wesens.“ (W 8, 262) Der eigentliche Schein ist folglich die Unmittelbarkeit des selbständigen Seienden selbst, dessen Wirklichkeit sich erst erweist, wenn man es in seinen Vermittlungen denkt. Dialektisches Denken fasst das In-Beziehung-Sein, bei Aristoteles als Kategorie der Relation nur ein Akzidens, daher als das Wesentliche auf, und deshalb ist das Erscheinen in Verhältnissen ein Grundzug alles Existierenden in der Welt: „Nur Erscheinung zu sein, dies ist die eigene Natur der unmittelbar gegenständlichen Welt selbst, und indem wir dieselbe als solche wissen, so erkennen wir damit zugleich das Wesen, welches nicht hinter oder jenseits der Erscheinungen bleibt, sondern dadurch eben sich als Wesen manifestiert, dass es dieselbe zur bloßen Erscheinung herabsetzt.“ (W 8, 263) Zur kritischen Funktion von Hegels Logik vgl. Andreas Arndt, „Begreifen als Kritik. Anmerkungen zu Hegel und Marx“. In: Hegel-Studien H. 53, S. 209 ff.; vgl. auch die Debatte zwischen Arndt und mir zu dieser Frage: Andreas Arndt, „Ein Gegensatz ohne Bedeutung: Idealismus und Materialismus bei Hegel und Marx“. In Aufhebung 17 (2022), S. 12 ff. und Jörg Zimmer, „War Marx ein Hegelianer? Fragen an Andreas Arndt“. In: Aufhebung 17 (2022), S. 25 ff.
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In diesem Zitat artikuliert Hegel den Übergang zum Begriff der Wirklichkeit. Die gegenständliche Welt ist ‚nur‘ Erscheinung, weil sie die Beziehungen, in denen Existierendes steht, und die Verhältnisstruktur nicht reflektiert. Nur indem wir sie als solche wissen, kommt die Welt der Erscheinung zu sich. Im Wissen bzw. im dialektischen Denken wird jedes Endliche in seinem unendlichen Vermittlungszusammenhang reflektierbar und kommt so als reflektierte Endlichkeit zu sich: „Diese unend liche Vermittlung ist zugleich eine Einheit der Beziehung auf sich, und die Existenz zu einer Totalität und Welt der Erscheinung, der reflektierten Endlichkeit, ent wickelt.“ (W 8, 264) Die ‚Einheit der Beziehung auf sich‘ ist, was Hegel an anderer Stelle das Selbstbewusstsein nennt. Selbstbewusstsein oder in sich reflektierte Beziehung auf Anderes ist die asymmetrische Stelle der Verhältnisstruktur, das Moment, das zugleich in Beziehung steht und das Ganze des Verhältnisses reflektieren kann. Damit ist als formale Struktur angezeigt, was Hegel dann ‚Gesetztheit‘ der Einheit im selbstbewussten Begriff nennt: „Die Existenz ist unmittelbare Einheit des Seins und der Erscheinung, kommt aus dem Grunde und geht zu Grunde. Das Wirkliche ist das Gesetztsein jener Einheit, das mit sich identisch gewordene Verhältnis“. (W 8, 279) Wirklichkeit ist insofern im Unterschied zur Kontingenz des Existierenden in der Erscheinungswelt etwas durch die Vernunft selbst Hervorgebrachtes. Hierin liegt die angesprochene kritische Funktion dialektischer Logik. Im Unterschied zur Kontingenz der Erscheinungswelt hat das Wirkliche deshalb einen höheren Stellenwert, weil es durch die Bestimmungen der Vernunft als Moment eines Zusammenhangs begriffen und in seinen Vermittlungen aus der Freiheit des Selbstbewusstseins rational bestimmt werden kann. Die Unterscheidung von bloßer Existenz und Wirklichkeit verleiht den logischen Bestimmungen eine normative Dimension. Man kann das an einem berühmten Beispiel zeigen, dem ‚verfemten Doppelsatz‘ aus der Vorrede zur ‚Philosophie des Rechts‘300: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ (W 7, 24) Dieser Satz wurde häufig in einem apologetischen Sinn interpretiert, so als habe Hegel sagen wollen, dass der existierende Staat Preußen seiner Zeit vernünftig gewesen sei. Abgesehen davon, dass eine solche Lesart den historischen Kontext von Hegels Satz völlig unbeachtet lässt (nämlich den Umstand, dass man kritische Worte im Nachtwächterstaat der Restaurationszeit nur ‚durch die Blume‘ hat aussprechen können), gibt es die eben erwähnte logische Unterscheidung Hegels, die dem Satz einen kritischen Sinn verleiht: Es geht gar nicht um den 1820 existierenden preußischen Staat, sondern um die Frage, was für ein Staat überhaupt wirklich genannt werden könne – und die Antwort lautet, dass der Staat wirklich nur ist, wenn er durch die Selbstbestimmung der Vernunft verwirklicht wird. Die Parallelstellung von Vernunft und Wirklichkeit ist nicht apologetisch, sondern kritisch-normativ zu verstehen, denn sie fordert dazu Vgl. Klaus Vieweg, Hegel. Der Philosoph der Freiheit. Biographie, München 2019, S. 467 ff.
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auf, bloß Existierendes nicht länger mit Wirklichkeit zu verwechseln und zu begreifen, dass nur politische Verhältnisse, die durch Vernunft bestimmt und gestaltet worden sind, auch Wirklichkeit genannt werden dürfen.301 Die Vorrede zur ‚Philosophie des Rechts‘ ist aber in noch einem weiteren Sinn interessant für unseren Zusammenhang. Denn sie spricht aus, dass die systematische Konstruktion der Totalität, die sich logisch im Begriff der Idee ausdrückt, ihre Wirklichkeit nur im Begreifen der konkreten Erscheinungen der Gegenwart gewinnen kann: nämlich „dass die Philosophie, weil sie das Ergründen des Vernünftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen ist, das Gott weiß wo sein sollte…“ (W 7, 24). Im Unterschied sowohl von zeitgenössischen Formen romantisch-religiösen Denkens als auch der Sollenspostulate Kants verpflichtet Hegel die Philosophie darauf, ihre Gegenwart zu begreifen, d. h. in Gedanken zu erfassen. Die geschichtliche Kraft dialektischen Denkens besteht nicht darin, über die eigene Zeit hinauszugehen, sondern die Gegenwart in Gedanken zu bestimmen. Ich habe, um den gängigen Ausdruck ‚kleine‘ Logik aufzunehmen, die ‚kleine Dialektik‘ Hegels in wenigen Grundbegriffen und leitenden Grundgedanken kurz rekonstruiert, um zum Schluss eine griffige Vorstellung davon zu geben, was Dialektik in der ganz konkreten Form begreifenden Denkens ist und für unsere Gegenwart leisten kann. Sie ist immer zuerst und zuletzt das Begreifen der Erscheinungen. An jedem Gegenstand muss sich dieses begreifende Denken bewähren. Die Grundbewegung dialektischen Denkens wird in der Wesenslogik der ‚Enzyklopädie‘ auf wenigen Seiten zusammengefasst: Sobald das Denken über die rein formale Identität hinausgeht, wird der bestimmte Unterschied und damit die Wirklichkeit von Verhältnissen Gegenstand des Denkens. Er kann nicht urteilend, sondern nur in der Vollzugsform der Reflexion gedacht werden. Sobald die Dinge in ihrem Verweisungszusammenhang erscheinen, kann die Erscheinung nicht mehr nur als etwas in Raum und Zeit unmittelbar Gegebenes betrachtet werden, sondern wird zum grundsätzlich vermittelten In-Beziehung-Sein der Phänomene und das Ganze einer Verhältnisstruktur zum Grund alles Endlichen. Diese reflektierte Endlichkeit ist uns jedoch nicht anders als im Denken, nämlich in Strukturen der Negativität gegeben – und auch nur durch die Begriffe der Vernunft in ihrer Wirklichkeit bestimmbar. So wird begreifendes Denken wirklich gegenwärtig.
Ich verweise darauf, dass Hegel in seinen Schriften sehr bewusst entweder von ‚Realität‘ oder von ‚Wirklichkeit‘ spricht: Realität meint objektive Gegebenheit, Wirklichkeit dagegen kommt von Wirken, Bewirktsein und ähnlichen Konnotationen her. Wirklichkeit bezeichnet dann in strengem Sinn das durch die Vernunft Bewirkte.
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Dialektische Denkstrukturen hat es in der Geschichte der Metaphysik von Anfang an gegeben. Dennoch gibt es Dialektik als Methode, d. h. als Reflexion auf das Verhältnis endlicher Verstandesaussagen zu Strukturen der Vernunft erst seit 250 Jahren. Kant bestimmte sie als
Logik des Scheins und damit als Metaphysik- und Ontologiekritik. Das ist sie im 19. und 20. Jh. auch überwiegend gewesen. Grundgedanke der vorliegenden Untersuchungen jedoch ist es, Dialektik als ein onto-logisches Modell aufzufassen, durch das die Relationalität in den Begriff des Seins aufgenommen und die Einheit dieser Beziehungen als Reflexionsverhältnis begriffen werden kann. Dieser Ansatz folgt Hegel, der in seiner Logik eine positivvernünftige Methode entwirft, den Zusammenhang der Wirklichkeit zu denken. An ein Verständnis der Dialektik als Kritik und Methode knüpft der vorliegende Versuch an, den Problembestand einer ‚Dialektik der Gegenwart‘ systematisch darzustellen. Jörg Zimmer ist Professor für Philosophie an der Universität Girona (Spanien). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Theorie der Dialektik, Geschichte und Systematik der Ästhetik und deutsche Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts.
ISBN 978-3-8498-1902-6