Kants Ästhetik in ihrer Entwicklung [Reprint 2022 ed.] 9783112645000


175 74 59MB

German Pages 218 [221] Year 2022

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Kants Ästhetik in ihrer Entwicklung [Reprint 2022 ed.]
 9783112645000

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

ABHANDLUNGEN

DER

DEUTSCHEN

DER W I S S E N S C H A F T E N Klasse

f ü r Gesell Jahrgang

ZU

AKADEMIE

BERLIN

seh af t s w i s s e n s c h a f t e n 1950

Nr. 2

PA UL MENZ ER

KANTS ÄSTHETIK IN IHRER ENTWICKLUNG

19 5 2

A K A D E M I E - V E R L A G - B E R L I N

Vorgelegt in der Gesamtsitzung vom 14. Dezember 1950 von Herrn Härtung: Zum Druck genehmigt am gleichen Tage, ausgegeben am 2 1 . August 1952

Erschienen im Akademie-Verlag GmbHBerlin NW?, Schißbauerdamm 19 Veröffentlicht unter der Li%en%nummer 1218 des Amtes für 'Literatur und Verlagswesen der Deutschen Demokratischen Republik' Sat^ und Druck: VEB Offizin Hadg-Drugulin in Leipzig IllhS/ßS Bestell- und Verlagsnummer: 200l/j0/VI/2 • Preis DM 14.— Printed in Germany

INHALTSÜBERSICHT

I . Natur und Kunst I I . Logik - Ästhetik - Psychologie

i 22

I I I . Von der Dissertation bis zur Kritik der reinen V e r n u n f t . . .

63

I V . Von der ersten zur dritten Kritik

95

V . Kritik der Urteilskraft V I . Schlußbetrachtung V I I . Anmerkungen

120 197 206

VORWORT Die vorliegende Schrift versucht, den Entwicklungsgang der Kantischen Ästhetik von ihren Anfängen bis zum Erscheinen der dritten Kritik darzustellen* Ein solcher Versuch ist erst durch die Veröffentlichung des handschriftlichen Nachlasses in Bd. 15—17 der akademischen Kantausgabe möglich geworden. Auf diese beziehen sich alle Stellennachweise ohne besondere Angaben. Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, die Anschauung von dem ganz unästhetischen Kant zu widerlegen. Daß diese Schrift, die vor mehr als einem Jahrzehnt abgeschlossen wurde, jetzt erscheinen konnte, verdanke ich der tatkräftigen Unterstützung der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Halle, im Mai 1952

Paul Menzer

I. N A T U R U N D K U N S T

Natur und Kunst sind die Quellen, aus denen der.Mensch die Gefühle des Schönen, Erhabenen, Tragischen und Komischen gewinnt. Die Ästhetik versucht den Sinn dieser Erlebnisse zu bestimmen und sie, soweit möglich, als ein eigentümliches Verhalten, als eine besondere Äußerung uneres Menschentums zu erfassen und in die Einheit einer philosophischen Weltdeutung einzuordnen. Beide, Natur und Kunst, sind aber nicht unwandelbare Größen. Die erstere gehorcht wohl als physikalische Erscheinung unveränderlichen Gesetzen, aber in stetem Wandel sind die Gefühle und Gedanken, mit denen der Mensch die Erscheinungen der Natur erlebt und deutet. Die Kunst als ein Werk des Menschen ist dem Wechsel geschichtlichen Entstehens unterworfen. Und so sind ästhetische Wertungen in dauerndem Fluß. Die vier genannten ästhetischen Kategorien finden zwar sämtlich auf die Kunst Anwendung, die beiden letzten aber kaum auf die Natur, höchstens in übertragenem Sinne. Das Schöne und Erhabene bietet sie aber, und so entsteht die Möglichkeit der Vergleichung zwischen Natur- und Kunstschönheit. Sie spielt in der Geschichte der Kunst und Ästhetik eine große Rolle. Der Begriff des Schönen wird nicht selten an der Natur orientiert, noch mehr der des Erhabenen. Die Natur erscheint oft als Vorbild für die Kunst. Leidenschaftlich wird das Evangelium „Zurück zur Natur" gegen abgelebte Kunstübung verkündigt und nicht selten beginnt mit einer solchen Umkehr eine neue Kunst. Andrerseits werden Zeiten einer ausgeprägten religiösen oder philosophischen Weltanschauung die Kunst der sie bewegenden Idee unterordnen und Abweichung von der Natur bis zur Gegensätzlichkeit zu ihr fordern. An einem solchen Ideal gemessen erscheint sie dann als unvollkommen, als nicht bis zur höchsten Schönheit vollendet, der Künstler wird Deuter der Natur. Es wäre eine anziehende Aufgabe, einmal eine Geschichte der wechselnden Einflüsse, die jeweilig von den Ideen über Natur und Kunst ausgegangen sind, darzustellen. Hier müssen diese Andeutungen genügen, um die kantische Ästhetik, deren Entwicklung auf den folgenden Seiten dargestellt werden soll, zuerst nach dem Einfluß zu betrachten, den Natur und Kunst auf ihren Urheber ausgeübt haben. Für Kants Verhältnis zur Natur sind von-entscheidender Bedeutung, und i Meilzer, Kants Ästhetik

2

Natur und Kunst

zwar für den ganzen Ablauf seines Denkens, die Ideen gewesen, die seine geniale Jugendschrift, die „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" vom Jahre 1755, entwickelt. Sie ist aus dem Geiste der mechanischen Welterklärungen zu verstehen.1 Durch diese hat der Gedanke von der Natur als eines einheitlichen Ganzen zuerst seine bezwingende Kraft erhalten. Unzweifelhaft ist sie durch die stoische Naturphilosophie, den Neuplatonismus und das neue Lebens- und Naturgefühl der Renaissance vorbereitet, aber die großen Naturforscher, Kepler, Galilei und Newton, haben sie aus der Sprache des Gefühls in die einer gesicherten Erkenntnis übersetzt. Newton brachte die Vollendung, indem er den Beweis lieferte, daß die gleiche Gesetzmäßigkeit für den fallenden Stein wie die Bewegung der Planeten gelte. Der Dualismus der aristotelischen Weltbetrachtung war damit endgültig beseitigt. Das Mittel dieser neuen Erkenntnis war die Mathematik, die als die höchste Leistung des menschlichen Verstandes galt. Diese Methode imponierte durch ihre Einfachheit und lehrte die Natur als einfach in ihrer Gesetzmäßigkeit begreifen. Von da aus war der Weg zum Gottesgedanken gegeben. Descartes, Spinoza, Leibniz, Newton verbanden ihre Welterklärung mit ihm. Das Universum erschien nun als ein Werk des göttlichen Urhebers nach ewigen Gesetzen. Aus dem Geiste der mechanischen Welterklärung ist Kants „Naturgeschichte' zuerst zu verstehen. Seine kosmogonische Theorie knüpft unmittelbar an Newton an. Dieser hatte auf eine Erklärung der verschiedenen Verteilung der Materie im Weltall verzichtet und sie auf einen Willensakt Gottes zurückgeführt.; Kant glaubt eine Entstehung dieser Verschiedenheit aus rein mechanischen Gründen ableiten zu können. Er gibt eine Entwicklungsgeschichte des Planetensystems und darüber hinaus des Weltsystems überhaupt. Er ist sich dabei bewußt, ganz im Sinne der Newtonschen Methode vorzugehen. In dem „Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" vom Jahre 1763 sagt er in voller Klarheit: „In dem Verfahren der gereinigten Weltweisheit herrscht eine Regel, die, wenn sie gleich nicht förmlich gesagt, dennoch in der Ausübung jederzeit beobachtet wird: daß in aller Nachforschung der Ursachen zu gewissen Wirkungen man eine große Aufmerksamkeit bezeigen müsse, die Einheit der Natur so sehr wie möglich zu erhalten, das ist, vielerlei Wirkungen aus einem einzigen, schon bekannten Grunde herzuleiten und nicht zu verschiedenen Wirkungen wegen einer scheinbaren größeren Unähnlichkeit sogleich neue und verschiedene wirkende Ursachen anzunehmen." (II, 113.) Im Sinne dieser Methode ist nun Kants Theorie entworfen. Sie ist mehr ein Werk der Phantasie, ein Denken in Analogien als eine mathematisch aufgebaute Lehre. Zugrunde liegt die Annahme, daß die Materie ursprünglich sich in einem chaotischen Zustand befand, aus dem, allein als Auswirkung der beiden Kräfte der Anziehung und Zurückstoßung, die Ordnung des Planetensystems sich entwickelte. Es ist wohl klar, daß diese Entwicklung nicht ohne ein sie beherrschendes Gesetz zu denken möglich war. Deshalb verband Kant mit der Vorstellung einer rein mechanischen Bedingtheit den Gedanken von einer im Wesen der

Natur und Kunst

3

Dinge, in ihrer Möglichkeit gegründeten Verwandtschaft und gegenseitigen Beziehung, die im Ablauf des Naturgeschehens zu einer Harmonie führen muß. Diesen Ablauf beschrieb er dann als ein rein mechanisches Geschehen. Die Synthese zwischen Mechanismus und Teleologie, zwischen Newton und Leibniz ist hier ohne weiteres deutlich. Der Gedanke der Einheit des Ursprunges führte weiter zu einem göttlichen Wesen, einem Schöpfer, der die ursprüngliche Materie so reich ausgestattet hatte, daß in Raum und Zeit eine unendliche Fülle des Seins vorhanden war und unendliche Folgen sich ergeben konnten, immer jenem Urgesetz des Ganzen entsprechend. Tritt schon in diesen Grundvoraussetzungen eine Synthese zwischen Mechanismus und Teleologie hervor, so erfuhr das letztere Prinzip noch eine weitere Ergänzung und Bereicherung vor allem durch Übernahme des Maupertuisschen Prinzips vom kleinsten Kraftmaß. Darin sah Kant die Weisheit Gottes. Sein Dasein ist also für ihn die unentbehrliche Voraussetzung für die Möglichkeit einer systematischen Verfassung des Weltgebäudes. Aber noch mehr! Dadurch, daß die Gottheit nach dem Schöpfungsplane in den Kräften der Natur und ihrem Rhythmus wirkend gedacht wurde, blieb sie mit ihrem Werk verbunden und trat nicht in die Ferne zu ihm wie der Gott des Descartes. Man spürt den Einfluß von Newton aber vor allem den von Leibniz, wenn man bei Kant liest: „Die Gottheit ist in der Unendlichkeit des ganzen Weltraumes allenthalben gleich gegenwärtig; allenthalben, wo Naturen sind, welche fähig sind, sich über die Abhängigkeit der Geschöpfe zu der Gemeinschaft des höchsten Wesens emporzuschwingen, befindet es sich gleich nahe. Die ganze Schöpfung ist von ihren Kräften durchdrungen." (I, 329.) Das Naturgeschehen vollzieht sich nun im unendlichen Raum und unendlicher Zeit. Beide sind für Kant Gegenstände ästhetischer Bewunderung. Das 7. Hauptstück der „Naturgeschichte" ist solchen Betrachtungen gewidmet. „Das Weltgebäude setzt durch seine unermeßliche Größe und durch die unendliche Mannigfaltigkeit und Schönheit, welche aus ihm von allen Seiten hervorleuchtet, in ein stilles Erstaunen. Wenn die Vorstellung aller dieser Vollkommenheit nun die Einbildungskraft rührt, so nimmt der Verstand andererseits eine andere Art der Entzückung ein, wenn er betrachtet, wie so viel Pracht, so viel Größe aus einer einzigen allgemeinen Regel mit einer ewigen und richtigen Ordnung abfließt." (I, 306.) Die immer wieder durch Analogien beflügelte Denkund Einbildungskraft schwärmt in die Unendlichkeit des Raumes aus, die sie von Welten über Welten erfüllt denkt. Kant spricht mit den erhabensten unter den deutschen Dichtern, mit Haller, erschauernd das Wort von der Unendlichkeit aus. Mit nicht geringem Vergnügen überschaut er das Werden vom Chaos zum System und von dort aus das ewige Werden und Vergehen im ganzen der Schöpfung. Er sieht es im Entstehen und Untergehen ganzer Weltsysteme ebenso wie im Schicksal des Lebendigen. Überall hin erstreckt die Schöpfung ihre Fruchtbarkeit, an die Stelle des Abgestorbenen tritt neues Leben. Verschwenderisch ist die Natur im Hervorbringen. Diesem Geschick ist auch der Mensch unterworfen. Die Natur beweist ihren Reichtum in einer Art von Ver1*

4

Natür und Kunst

schwendung, welche, indem einige Teile der Vergänglichkeit den Tribut bezahlen, sich durch unzählige neue Zeugungen in dem ganzen Umfange ihrer Vollkommenheit unbeschadet erhält. „Welch' eine unzählige Menge Blumen und Insekten zerstört ein einziger kalter Tag; aber wie wenig vermißt man sie, unerachtet es herrliche Kunstwerke der Natur und Beweistümer der göttlichen Allmacht sind! An einem anderen Orte wird dieser Abgang mit Überfluß wiederum ersetzt." (I, 318.) Die letzten Worte führen zur Frage nach der Stellung des Lebens im Mechanismus der Natur. In diesem Zusammenhang muß es genügen, auf die berühmte, durch Voltaire angeregte Formulierung hinzuweisen: „Ist man imstande zu sagen: Gebt mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Raupe erzeugt werden könne ?" Diese Anmaßung wird abgelehnt und gesagt, daß man eher die Bildung aller Himmelskörper und das Naturgeschehen der anorganischen Welt erklären könne, „ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe aus mechanischen Gründen deutlich und vollständig kund werden wird". (I, 230.) Ergänzend tritt die Beschreibung hinzu, die Kant im „Beweisgrund" von den Organismen gibt. Es wird eine notwendige und eine zufällige Ordnung der Natur unterschieden. Ordnung ist nämlich ableitbar entweder aus einem Gesetz, wie sich z. B. aus der einen elastischen Kraft und Schwere der Luft die Gesetze des Atemholens, die Möglichkeit der Pumpwerke usw. ergeben, aber die Vereinbarung dieser Gesetze ist zufällig. Dies ist der Fall bei der Vereinigung verschiedener Kräfte und Organe im Organismus. Die letzteren haben je eine verschiedene Funktion, sie unterscheiden sich qualitativ. Ihre Verbindung ist zufällig und ist, da sie „zur Vollkommenheit abzielt, künstlich". Dadurch sind wir auf einen weisen Urheber hingewiesen. Diese zufällige Ordnung in der Natur ist ein sinnfälliger Beweis für ihn, in ihr leuchtet „Kunst, Macht und Güte" hervor. (II, 116.) In einer Anmerkung verbindet Kant auch einmal die Betrachtung der beiden Reiche der Natur. Er weist au-f neue mikroskopische Beobachtungen hin, die Leben und Kampf in einem Wassertropfen zeigen, und fährt fort: „Wenn ich die Ränke, die Gewalt und die Szene des Aufruhrs in einem Tropfen Materie ansehe und erhebe von da meine Augen in die Höhe, um den unermeßlichen Raum von Welten wie von Stäubchen wimmeln zu sehen, so kann keine menschliche "Sprache das Gefühl ausdrücken, was ein solcher Gedanke erregt, und alle subtile metaphysische Zergliederung weicht sehr weit der Erhabenheit und Würde, die einer solchen Anschauung eigen ist." (II, 117 A.) Schon mehrfach wurde der „Beweisgrund" herangezogen. Er enthält in der 7. Betrachtung der zweiten Abteilung eine Darstellung der Kosmogenie in verkürzter Form. Schon dadurch treten Kants Grundgedanken bestimmter hervor, und vor allem zwingt das Thema zu scharfem logischem Ausdruck. Natürlich kann es hier nicht die Aufgabe sein, den Beweisgrund zu entwickeln. Es genügt, zu erwähnen, daß Kant zwei Beweisarten für das Dasein Gottes anerkennt, eine a priori, die von den Möglichkeiten der Dinge als Folgen auf das Dasein Gottes als einen Grund von ganz anderer Art schließt, und eine

Natur und Kunst

5

a posteriori, da aus Erfahrungsbegriffen von existierenden Dingen auf das Dasein Gottes und sogleich seine Eigenschaften geschlossen wird; es ist das eine verbesserte Physikotheologie. Die Einheit in den Wesen der Dinge bietet die Grundlage für einen Schluß auf das Dasein Gottes. Diese Einheit findet Kant nun in mathematischen Beziehungen, in den Bewegungsgesetzen der Natur und als künstliche Einheit im Bau der Lebewesen. Die Merkmale, mit denen diese Erscheinungen charakterisiert werden, sind Ordnung, Schönheit, Vollkommenheit, Unermeßlichkeit, harmonische Beziehungen, Anständigkeit, Wohlgereimtheit, Fruchtbarkeit, ein auf vielfältige Art ordentliches und schönes Ganze. Es ist ersichtlich, daß in dieser Naturphilosophie, in dieser Idee von Kosmos eine Lehre von objektiver Schönheit der Natur enthalten ist. Es fehlt nicht der Begriff' der Vollkommenheit, die als Einheit in der Mannigfaltigkeit, als Verbindung von Teilen zu einem Ganzen aufgefaßt wird. Dieser Gedanke von der Einheit der Natur wird aber nicht gewonnen im Naturgenuß oder in Naturschwärmerei im Sinne Shaftesburys, sondern aus naturwissenschaftlicher Einsicht. Der Blick ist auf die mathematisch-physikalischen Ordnungen gerichtet, auf das Geschehen, das sich in Raum und Zeit abspielt. Die Bewunderung der schaffenden Natur wird auch auf die organischen Wesen übertragen, aber auch hier ist es die Ordnung in rationalem Sinne, die Übereinstimmungen einzelner Vorgangsreihen zueinander. Aber nirgends findet sich ein Wort über die dem Lebendigen als solchem anhängende Schönheit, etwa im Sinne des Goethewortes: „Was ist ein Lebendiges für ein köstliches Ding, wie wahr, wie seiend." Wenn bisher im wesentlichen vom Schönen gesprochen wurde, so muß zur Ergänzung noch hinzugefügt werden, daß auch das Erhabene der Natur von Kant erwähnt wird, ja daß hier ein Erlebnis im wahrsten Sinne des Wortes zugrunde liegt. Im dritten Teil der „Naturgeschichte" erörtert Kant die Frage von den Bewohnern der Gestirne und damit im Zusammenhang die Möglichkeit eines Weiterlebens an anderen Punkten des Weltraumes und eine höhere Entwicklung im Zusammenhang anderer Lebensbedingungen. In Beziehung auf solche Phantasien heißt es dann: „Wenn man mit solchen Betrachtungen ... sein Gemüt erfüllt hat; so gibt der Anblick eines bestirnten Himmels bei einer heitern Nacht eine Art des Vergnügens, welche nur edle Seelen empfinden. Bei der allgemeinen Stille der Natur und der Ruhe der Sinne redet das verborgene Erkenntnisvermögen des unsterblichen Geistes eine unnennbare Sprache und gibt unausgewickelte Begriffe, die sich wohl empfinden, aber nicht beschreiben lassen. Wenn es unter den denkenden Geschöpfen dieses Planeten niederträchtige Wesen gibt, die ungeachtet aller Reizungen, womit ein so großer Gegenstand sie anlocken kann, dennoch imstande sind, sich fest an die Dienstbarkeit der Eitelkeit zu heften: wie unglücklich ist diese Kugel, daß sie so elende Geschöpfe hat erziehen können! Wie glücklich aber ist sie andererseits, da ihr unter den allerannehmungswürdigsten Bedingungen ein Weg eröffnet ist, zu einer Glückseligkeit und Hoheit zu gelangen, welche unendlich weit über die

6

Natur und Kunst

Vorzüge erhaben ist, die die allervorteilhafteste Einrichtung der Natur in allen Weltkörpern erreichen kann." (I, 367f.) Die Lektüre dieser Worte wird sofort die Erinnerung an die berühmte Schlußstelle der „Kritik der praktischen Vernunft" anklingen lassen. In ihr sehen wir den klassischen Ausdruck der idealistischen Weltanschauung Kants. Das moralische Gesetz ließ sich weder nach seinem Ursprung noch nach seiner Erfüllung mit einer streng mechanistisch aufgefaßten Natur vereinigen, wie die „Kritik der reinen Vernunft" sie lehrte. Es ist aber wichtig zu betonen, daß die „Naturgeschichte" einen solchen Dualismus nicht kennt, ja daß monistische Tendenzen in ihr zur Auswirkung kommen. Im Dasein Gottes ist die Einheit der Welt gegründet, in ihrer Gesetzmäßigkeit offenbart er sich dem Menschen. Der mechanische Gedanke wird dem der Harmonie untergeordnet, so wie es Leibniz und Shaftesbury getan hatten. Kant nannte diese Betrachtung eine „verbesserte Methode der Physikotheologie" im Gegensatz zu der „gewöhnlichen", d. h. der Nützlichkeitslehre der Aufklärung. Für die Entwicklung seiner ästhetischen Anschauungen lassen sich zwei Folgerungen aus dieser Naturphilosophie ziehen. Einmal knüpfte Kant an seine Theorie von der Welt Betrachtungen wie die vom Reichtum und der Schönheit der Natur, von der großen Linie in ihrem Schaffen und Zerstören und zum neuen Werden an. Auf dieser Grundlage war es möglich, zu dem Gedanken von einer objektiven Schönheit der Natur zu kommen. Diese Schönheit wäre in ihrer Gedankenmäßigkeit zu finden. Zweitens ist, besonders im Hinblick auf das letzte Zitat, von dem Naturerlebnis Kants zu sprechen. Sein Biograph J A C H M A N N läßt ihn von seiner Mutter erzählen: „Sie führte mich oft außerhalb der Stadt, machte mich auf die Werke Gottes aufmerksam, ließ sich mit einem frommen Entzücken über seine Allmacht, Weisheit und Güte aus und drückte in mein Herz eine tiefe Ehrfurcht gegen den Schöpfer aller Dinge . . . sie öffnete mein Herz den Eindrücken der Natur 2 ." Nicht mehr mit Kinderaugen, aber mit den Augen des Denkers, der die Gesetze des himmlischen Geschehens erkannt hatte, sah der Verfasser der „Naturgeschichte" zum bestirnten Himmel auf, und dann kamen ihm die Gedanken über Gott, Tod und Unsterblichkeit. Kants Naturerlebnis ist also zugleich eine religiöses. Und sein Eigenart besteht nun darin, daß es sich an dem Natureindruck entzündet, dann aber, durch Ideen gesteigert und verfeinert, wie in eine höhere, reinere Sphäre sich erhebt. Die Seele wendet sich von der Natur ab und findet in letzter Innerlichkeit Ahnungen von einem Höheren, das über alles Irdische und seine Schranken hinausweist. Die Erinnerung an Klopstocks bekannte Anfangsworte der Ode „Der Zürchersee" drängt sich hier geradezu auf: „Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht, Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch einmal denkt."

Natur und Kunst

7

Dies Gefühl war schon nicht mehr ein sinnliches, sondern ein intellektuelles. Es wird auch wohl eher als ein Gefühl vom Erhabenen als vom Schönen der Natur bezeichnet werden müssen. Es ist klar, wie Kants Lehre vom Erhabenen in der „Kritik der Urteilskraft" schon hier vorbereitet ist. Das Ergebnis ist also, daß in Kants Naturphilosophie eine mechanistische und eine ästhetisch-teleologische Auffassung von der Natur sich findet. Man könnte im Sinne der kritischen Philosophie den letzteren Begriff einen „usurpierten", d. h. nach seiner Geltung nicht abgeleiteten nennen. Er läßt sich durch die ganze kantische Philosophie verfolgen. Er erhält eine Steigerung und Bereicherung durch Rousseau, er liegt der Geschichtsphilosophie zugrunde, und er erklärt, weshalb Kant in seiner Ethik an dem Glückseligkeitsgedanken festhielt. Wenn in den geschilderten Stimmungen Kants ein echtes Erlebnis von der Schönheit und Erhabenheit der Natur aufgewiesen werden konnte, so ist die Frage nach seinen künstlerischen Erlebnissen nicht so leicht zu beantworten. An dieser Stelle liegt ein Versäumnis der Forschung vor. Man hat sich oft mit der Bemerkung, Kant sei eine unkünstlerische Natur gewesen, beruhigt, und dann gar nicht gefragt, ob sich nicht im den Lehren der „Kritik der Urteilskraft" ästhetische Überzeugungen wiederfinden lassen, die ihren Ursprung aus künstlerischen Erlebnissen haben. Der leicht zu führende Nachweis, daß Kant, als er im Jahre 1790 sein ästhetisches Hauptwerk erscheinen ließ, nicht mit der Zeit mitgegangen war, also kein Verhältnis zur deutschen Dichtung dieser Epoche hatte, beweist doch nicht, daß er auch früher, in seinen jüngeren Jahren, ihr fern stand. Die folgende Untersuchung soll nun diese Lücke ausfüllen. Das Material für sie bieten seine Schriften, besonders die „Beobachtungen", die „Kritik der Urteilskraft" und die „Anthropologie", dann aber die „Reflexionen"3 und die Kollegnachschriften 4 ; einiges auch die Biographien. Wir trennen in der Darstellung die Antike und die Moderne. Kants Berührung mit der ersten wurde durch die Schule, das Collegium Fridericianum, vermittelt. Vorländer hat in seiner Biographie 5 ein Bild des dortigen Unterrichts in den alten Sprachen gegeben und schon selbst auf die Übereinstimmung hingewiesen, die zwischen dieser Schule-und den anderen höheren Schulen der Zeit besteht. Er zitiert das vernichtende Urteil Paulsens: „Um 1740 sind die Schulen auf den tiefsten Stand in der öffentlichen Schätzung gesunken, den sie überhaupt erreicht haben. Was sie trieben, galt in der Welt draußen nicht mehr, was draußen galt, trieben sie noch kaum." Und sicher war es eine Erinnerung an die alte Schulerfahrung, wenn Kant in Refl. 778 sagt: „Wollte Gott, wir lernten in Schulen den Geist und nicht die phrases der Autoren und kopierten sie nicht, so würden unsere deutschen Schriften mehr echten Geschmack enthalten." Zuerst ist daran zu erinnern, daß der Unterricht des Griechischen im wesentlichen an die Lektüre des Neuen Testamentes anknüpfte und damit unter den Einfluß der religiösen Erziehung gestellt war. Griechische Philosophen oder Dichter wurden kaum oder nur in Bruchstücken, in Chrestomathien gelesen.

8

N a t u r und K u n s t

An keiner Stelle der Schriften Kants läßt sich eine auf Grund von Textstudium gewonnene Kenntnis Piatos oder Aristoteles' nachweissen. Was er von ihnen sagt, konnte er aus einem Kompendium der Geschichte der griechischen Philosophie entnehmen. Nirgends finden wir ein längeres griechisches Zitat im Urtext. Ganz und gar fehlt eine Kenntnis der griechischen Tragiker. Der einzige Dichter, der öfter genannt wird, ist Homer.In der „Kritik der Urteilskraft" wird er neben Wieland gestellt. Muß schon diese Nachbarschaft merkwürdig berühren, so noch mehr, wenn von dem unbewußten Schaffen des Genies gesprochen wird, das nicht „anzeigen kann, wie sich seine phantasiereichen und doch zugleich gedankenvollen Ideen in seinem Kopfe hervor und zusammen finden." Früher, in den „Beobachtungen" wird von Homers und Miltons Epen gesagt, daß sie „ins Abenteuerliche fallen", Virgils und Klopstocks dagegen ins Edle. Diese höhere Schätzung Virgils entspricht dem Urteil der Zeit, in Refl. 1803, die etwa um 1770 anzusetzen ist, heißt es dementsprechend: „Virgil hat mehr Geschmack als Homer." In 16-20 Wochenstunden wurde Latein gelehrt. Die Erziehung zum Lateinschreiben war wohl nicht ohne Erfolg, wie die lateinischen Schriften Kants zeigen. Er beherrschte das damalige Schullatein mit Sicherheit und als ein Mittel, um seinen Gedanken einen klaren Ausdruck zu geben. Wie die „Reflexionen" zeigen, hat er nicht selten die Präzision der lateinischen Sprache für Definitionen verwertet. Daß sein Stil, besonders in den Werken seiner kritischen Periode, den Einfluß des lateinischen Satzbaues zeigt, ist oft gesagt worden. Zitate aus römischen Dichtern finden sich über alle Schriften Kants zerstreut. Seine Biographen erzählen uns, daß er noch in hohem Alter lange Stellen aus ihnen im Gedächtnis hatte. Diese Tatsache erklärt sich auch wieder daraus, daß das Auswendiglernen im damaligen Schulbetrieb eine sehr große Rolle spielte. Eine weitere Quelle ist für uns in den Stammbuchversen gegeben, für die ja nach der Sitte der Zeit ein großer Bedarf vorlag. Kant hat allerdings im späteren Alter immer die gleichen Verse verwertet. Wir begegnen demnach an den verschiedenen Stellen Zitaten aus: Plautus, Terenz, Publilius Syrus, Horaz, Persius, Juvenal. Die Quelle dieser Zitate waren wohl Florilegien der Zeit, Horaz war Schulautor, wurde aber wohl kaum von Kant besonders geschätzt. Ovids Verwandlungen nennt er „Fratzen". Nur zwei Dichter hat er genauer gekannt: Virgil und Lukrez. Die Zitate aus dem ersteren verraten eingehende Lektüre, und Wasianski erzählt6, daß „ganze Abschnitte aus der Aeneis ihm ohne Anstoß zu Gebote standen". Lukrez schätzte er als einen Vertreter der mechanischen Welterklärung und vielleicht auch wegen seiner aufklärerischen Tendenz7. Von Prosaikern wurde natürlich Cicero auf der Schule ausgiebig behandelt, Livius soll Kant mit Mitschülern privatim gelesen haben, und aus Quintilian zitiert er einen Rat an den Redner, gelegentlich auch Seneca. Ertragreicher als diese Sammlung von Einzelbelegen, die doch nur von Kants Belesenheit in der antiken Literatur Zeugnis geben können, dürften seine

Natur und K u n s t

g

Urteile über das Altertum im allgemeinen und seine Bedeutung für die neueren Völker sein. In einer seiner frühesten Schriften: „Die Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erwogen" (1754), wird am Schluß in nat rphilosophischer Betrachtung der Gedanke von einem Weltgeist und die Möglichkeit seiner allmählichen Entkräftung erwogen und dann heißt es: „Wenn ich den Trieb der alten Völker zu großen Dingen, den Enthusiasmus der Ehrbegierde, der Tugend und der Freiheitsliebe, der sie mit hohen Begriffen begeisterte und sie über sich selbst erhob, mit der gemäßigten und kaltsinnigen Beschaffenheit unserer Zeiten vergleiche: so finde ich zwar Ursache, unsern Jahrhunderten zu einer solchen Veränderung Glück zu wünschen, welche der Sittenlehre sowohl, als den Wissenschaften gleich einträglich ist, aber ich gerate doch in Versuchung zu vermuten: daß vielleicht diese Merkmale einer gewissen Erkaltung desjenigen Feuers seien, welches die menschliche Natur belebte, und dessen Heftigkeit eben so fruchtbar an Ausschweifungen als schönen Wirkungen war." (I, 212.) Mehr als eine Vermutung will Kant nicht aussprechen. Gegen sie spricht, daß diese Veränderung vielleicht auf die Einflüsse der Regierungsart, die Unterweisung und das Exempel zurückzuführen ist. Eine wirliche Veränderung der Natur braucht dehalb kaum angenommen zu werden. Zehn Jahre später, am Schluß der „Beobachtungen", findet sich dann eine neue geschichtsphilosophische Betrachtung. Er gibt eine Geschichte des Geschmacks, der wie ein Proteus sich wandelt: „Die alten Zeiten der Griechen und Römer zeigten deutliche Merkmale eines echten Gefühls für das Schöne sowohl als das Erhabene in der Dichtkunst, der Bildhauerkunst, der Architektur, der Gesetzgebung und selbst in den Sitten. Die Regierung der römischen Kaiser veränderte die edle sowohl als die schöne Einfalt in das Prächtige und dann in den falschen Schimmer, wovon uns noch die Überbleibsel ihrer Beredsamkeit, Dichtkunst und selbst die Geschichte ihrer Sitten belehren können. Allmählich erlosch auch dieser Rest des feineren Geschmacks mit dem gänzlichen Verfall des Staates." Es folgt nun eine schwarz in schwarz malende Schilderung des Mittelalters: der gotische Geschmack, der auf Fratzen auslief, das Erhabene wird zum Abenteuerlichen, die Kreuzzüge, Klöster, tausend Schulfratzen. „Endlich, nachdem das menschliche Geschlecht von einer fast gänzlichen Zerstörung sich durch eine Art von Palingenesie glücklich wiederum erhoben hat, so sehen wir in unsern Tagen den richtigen Geschmack des Schönen und Edlen sowohl in den Künsten und Wissenschaften als in Ansehung des Sittlichen aufblühen, und es ist nichts mehr zu wünschen, als daß der falsche Schimmer, der so leichtlich täuscht, uns nicht unvermerkt von der edlen Einfalt entferne, vornehmlich aber, daß das noch unentdeckte Geheimnis der Erziehung dem alten Wahne entrissen werde, um das sittliche Gefühl frühzeitig in dem Busen eines jeden jungen Weltbürgers zu einer tätigen Empfindung zu erhöhen, damit nicht alle Feinigkeit bloß auf das flüchtige und müßige Vergnügen hinauslaufe, dasjenige, was außer uns vorgeht, mit mehr oder weniger Geschmack zu beurteilen." (II, 255f.) Die Vergleichung der beiden Zitate regt zu einer zweifachen Betrachtung an. Wir finden erstens eine neue Auffassung von der Geschichte der Menschheit.

10

Natur und Kunst

War die erste pessimistisch, so glaubt die zweite hoffnungsfreudig an einen Fortschritt der Menschheit. Davon wird noch bald zu sprechen sein. Hier sei auf die Verschiedenheit in der Schätzung der Antike aufmerksam gemacht. In der Schrift von 1754 wird vornehmlich von der großen Gesinnung der Alten, von ihren politischen Tugenden gesprochen, 1764 wird an erster Stelle die Kunst genannt, und zwar die griechische, während die römische Kultur schon einen Abstieg bedeutet. Es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß wir hier einen Einfluß Winckelmanns zu konstatieren haben. Für seine Tatsächlichkeit besitzen wir in Reil. 640 (1769) das sicherste Zeugnis. Dort wird Reiz und Schönheit unterschieden, und in Ablehnung der Vermischung beider heißt es dann: „Diese Begriffe von Schönheit, sagt Winckelmann, sind wollüstig, d. i. man unterscheidet nicht den Reiz von der Schönheit, denn in der Tat waren sie bei den Alten ebensowohl verknüpft (vielleicht nicht so vermengt) als bei den Neueren, aber vielleicht in den Begriffen der Künstler, welche sie ausdrücken wollten, unterschieden." Schlapp zitiert (S. 80) aus der Logik Philippi den Satz: „Winkelmann zeigt, daß der männliche Bau des Körpers viel schöner sei, als der weibliche." Bei Starke heißt es: „Winckelmann sagt, die wahre Idee von der Schönheit sei bei den Griechen." Es folgt dann eine Vergleichung mit den Neueren im Sinne von Reil. 640. Anfangs S. 200 wird in dem gleichen Heft auf das Studium des Altertums hingewiesen und gesagt: „Es ist dies eine Art von neuer Unterweisung, die, seitdem Winckelmann in Rom war, in Schwung gekommen ist." Damit ist erwiesen, daß Kant Winckelmann gekannt hat, und daß seine Auffassung der antiken Kunst durch ihn bestimmt war. Da die „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" 1755 erschienen waren, ist es sehr wahrscheinlich, daß jene Schätzung in den „Beobachtungen" auf sie zurückgeht. Dagen wird er die „Geschichte der Kunst des Altertums" damals noch nicht gekannt haben, da seine Schrift schon Ende 1763 abgeschlossen war. Die Darstellung hat damit schon in das Jahrzehnt übergegriffen, das als das reichste und innerlich bewegteste in Kants Entwicklung bezeichnet werden kann. Eine Schilderung seiner Berührung mit moderner Literatur wird von ihm auszugehen haben. Leider sind wir über die Jahre, die zwischen Schule und Eintritt in das akademische und gesellschaftliche Leben seiner Vaterstadt liegen nur äußerst dürftig orientiert. Die Universität gab ihm kaum etwa für seine allgemeine Bildung. Auf das Studium folgt die Hauslehrerzeit, die er in entlegenen Dörfern zubrachte. Eine bisher nicht beachtete Mitteilung Jachmannas läßt vermuten, daß Kant neben seinen naturwissenschaftlichen Studien auch literarische Interessen hatte8. Der Genannte erzählt, er habe „seine damals ansehnliche und auserlesene Bibliothek nach und nach in den ersten knappen Jahren seiner Dozentur veräußert." (a. a. 0., S. 13.) Als er dann in seine Vaterstadt zurückkehrte, konnte er unter günstigeren Bedingungen am geistigen Leben seiner Zeit teilnehmen. Wir besitzen aus dieser Zeit ein einziges, aber sehr wertvolles Zeugnis seines Strebens. Am 28. Oktober 1759 schreibt er an I. G. Lindner: „Ich meines theils sitze täglich vor dem Ambos meines Lehr-

Natur und Kunst

IX

pults und führe den schweren Hammer sich selbst ähnlicher Vorlesungen in einerlei Tacte fort. Bisweilen re'itzt mich irgendwo eine Neigung edlerer Art mich über diese enge Sphäre etwas auszudehnen, allein der Mangel mit ungestümer Stimme so gleich gegenwärtig mich anzugreifen und immer wahrhaftig in seinen Drohungen treibt mich ohne Verzug zu schwerer Arbeit zurück ... Gleichwohl vor den Ort, wo ich mich befinde und die kleinen Aussichten des Überflusses, die ich mir erlaube, befriedige ich mich endlich mit dem Beifalle, womit man mich begünstigt und mit den Vorteilen, die ich daraus ziehe, und träume mein Leben durch." Anregungen kamen ihm auch wohl von Lindner, Hippel, Hamann und aus den Häusern, in denen er verkehrte, dem gräflich Kayserlingschen und dem des Kaufmanns Jacobi und seiner Frau. Mehr können wir nicht sagen, aber wir können ein lebendiges Bild seiner Persönlichkeit uns vermitteln, wenn wir die bekannte Schilderung Herders hier wiedergeben, der in den Jahren 1762-64 sein Zuhörer war. „ E r in seinen blühendsten Jahren hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglings ..., die gedankenreichste Rede floß von seinen Lippen, Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebot... Mit eben dem Geist, mit dem er Leibniz, Wolf, Baumgarten, Crusius, Humen prüfte und die Naturgesetze Newtons, Keplers, der Physiker, verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Rousseaus, seinen Emile und seine Heloise, so wie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf den moralischen Wert des Menschen ... keine Kabale, keine Sekte, kein Vorurteil, kein Namensehrgeiz hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit." Diese allgemeine Charakteristik soll nun hier durch einen Überblick über Kants ästhetisch-literarische Bildung ergänzt werden. Aus der Renaissanceliteratur wäre Ariost zu erwähnen, den er in den „Träumen eines Geistersehers" nennt. Uber Cervantes findet sich das Urteil: „C. hätte besser getan, wenn er, anstatt die phantastische und romanische Leidenschaft lächerlich zu machen, sie besser dirigiert hätte" (XX, 9), Reil. 233 spielt auf eine bestimmte Erzählung an. Ein abfälliges Urteil über Rabelais bringt Starkes Anthropologie (S. 127 f.): „In Rs. Schriften kann man nicht einen Bogen lesen, ohne sich ihn ganz zu verekeln, weil alles am Ende ein bloßes Spiel ist, das an sich selbst keinen Wert h a t . . . da alles dies doch kein Erwerb für das menschliche Herz ist ... so ist es am Ende doch schaal; denn der Plan ist nicht so zugeschnitten, daß er einen Zweck hat." Während diese Daten nicht ausreichen, um eine bestimmte literarische Neigung Kants aufzuzeigen, ist es zweifellos, daß er eine solche zur Literatur der Aufklärung: der englischen, französischen und deutschen hatte. Bemerkenswert ist sein Urteil über die beiden zuerst genannten Nationen. Bei der bekannten Einteilung der Nationalcharaktere unter dem Gesichtspunkt des Schönen und Erhabenen, wird das erstere den Franzosen, das zweite den Engländern zugesprochen. „Die feinen Scherze, das Lustspiel, die lachende Satire, das

12

Natur und Kunst

verliebte Tändeln und die leicht und natürlich fließende Schreibart sind dort original. In England dagegen Gedanken von tiefsinnigem Inhalt, das Trauerspiel, das epische Gedicht und überhaupt schweres Gold von Witze, welches unter französischem Hammer zu dünnen Blättchen von großer Oberfläche kann gedehnt werden." (II, 244.) Folgen wir der von Kant selbst gegebenen Einteilung, so ist zuerst vom englischen Trauerspiel zu sprechen, und es ist wohl kein Zweifel, daß er hier in erster Linie an Shakespeare dachte, der ihm durch Wielands (1762-66) und später Eschenburgs (1775-77) Übersetzungen zugänglich wurde. Durch Zitate ist die Kenntnis des „Hamlet" (Reil. 1519), von „Was ihr wollt" (Refl.379) u n d von König Heinrich IV. (VII, 180) belegt. Ein Gesamturteil findet sich in den Werken nicht und so müssen Vorlesungshefte zur Ergänzung dienen. Es genügt wohl ein Zitat aus Starkes Heft: „Shakespeare ist ein Kopf von der Art, die man Genies nennt; er hat seine theatralischen Stücke so abgefaßt, daß sie allen Regeln Trotz bieten. Er hat weder die Einheit des Orts noch der Personen beobachtet, nicht aus Unwissenheit, sondern weil seine Einbildungskraft einen weiten Spielraum haben mußte und sich nicht einkerkern ließ. Ob es aber rühmlich, ihm nachzuahmen, oder ob dies ein Fehler sei, ist eine andere Frage; denn man kann nicht behaupten, daß die Regellosigkeit hier eine gute Seite des Genies sei, nein, es war ein Fehler; aber die Fruchtbarkeit des Genies ersetzt ihn wieder. So viel ist gewiß, daß der Zwang der Regeln bei vorzüglichen Erzeugnissen des Genies aufhört; denn das Genie ist der Meister der Regeln und nicht ihr Sklave." (S. 234.) Das Urteil, das Kant hier ausspricht, ist das der Generation, der er angehörte. Man konnte sich der Größe Shakespeares nicht verschließen, aber die Anerkennung war gezwungen und blieb kühl, weil man ziemlich ratlos blieb, wenn man sich über die Gründe für die dem regellosen Genie gezollten Bewunderung klar werden wollte. Welt und Menschen Shakespeares überschritten doch überall den Horizont bürgerlicher Denkweise und Moral. Als dann die „Stürmer und Dränger" Regellosigkeit zum Programm erhoben, mußte das Urteil über den Briten ungünstig beeinflußt werden. Wie dringlich warnte Kant vor der Nachahmung des Genies! Auch fürchteten die deutschen Ästhetiker für die neue Literatur, deren Rechte, aber doch auch Pflichten und Grenzen man so sorgfältig festgelegt zu haben glaubte. Eine hohe Schätzung erfährt Miltons Epos. Im Gegensatz zu der oben zitierten Stelle aus den „Beobachtungen" erhält er vielfach höchstes Lob. Reil. 757 heißt es, daß Milton dem „Ideal" der Hölle eine „grause Pracht" gegeben habe. In einem Vorlesungsheft findet sich der Satz: „In der Welt der Geister giebt die Poesie vielen Stoff, so daß Milton in seinem verlorenen Paradies eines der herrlichsten Gedichte geliefert hat." (Schlapp, S. 273.) Neben Shakespeare wird er als Genie bezeichnet und die Vergleichungen mit Klopstock fallen später meist zu dessen Ungunsten aus: „Milton ist ein Dichter im eigentlichen Verstände. Klopstock kommt ihm nicht bei." (Schlapp, S. 169.) Reil. 914 heißt es: „Klopstock kann sehr gut nachgeahmt werden, aber Milton schwer, weil seine Bilder original sind."

Natur und Kunst

13

Die größte Verehrung bringt Kant Pope entgegen. Zu den drei Teilen der „Naturgeschichte" hat er je ein Motto aus seinem „Essay on the Man" nach der Übersetzung von Brockes gewählt. Ein sicherlich nicht geringes Lob ist es, wenn Kant an Herder in Anspielung auf ein ihm von diesem nach einer Vorlesung übersandtes Gedicht schreibt: „so würde ich hoffen ... an Ihnen in derjenigen Art von Dichtkunst, welche die Grazie der Weisheit ist, und worinPope noch allein glänzt, mit derZeit einen Meister zu erleben." (Brief vom 9. Mai 1768.) Eine besondere Vorliebe hatte Kant für die englische Satire. Sie entsprang aus einer Stimmung Welt und Menschen gegenüber, die kritisch, wenn nicht pessimistisch genannt werden kann. Zahlreiche Äußerungen aus allen Lebensstufen, nicht bloß aus dem Alter, bezeugen sie. So bekennt sich Kant zu den Gedanken des Grafen Veri, die er, wie die Starke-Nachschrift zeigt, ausführlich und mit Zustimmung in seiner Vorlesung entwickelte. Ebenso erklärt er in der Anthropologie vom Jahre 1798, daß er sie „mit voller Überzeugung" unterschreibe9. Körperliches Leiden in der Jugend, die pietistische Erziehung, die Einsicht von der Fragwürdigkeit menschlicher Existenz im Zusammenhang der Naturgewalten - alles dies gab ihm die Überzeugung von der Grenze und der Schwäche menschlichen Wesens. Und wenn er mit dieser Erkenntnis das Gebahren der Menschen auf der Bühne des Lebens, den Mangel an Ergriffensein vom Leiden, das Haften an leeren Vergnügungen und Hoffnungen, nicht zum wenigsten das Versagen gegenüber der Forderungen der Sittlichkeit und ihr gegenüber die Scheinsittlichkeit, die er Tugendschimmer nannte, verglich, dann flüchtete er sich in die Region einer ironischen Stimmung. So wird verständlich, daß er sich zu einem Satiriker wie Butler hingezogen fühlte, dessen Kampf gegen puritanisches Frömmlerwesen besonders auch seiner so ganz und gar nicht auf das Äußere gerichteten religiösen Überzeugung entsprach. Zahlreich sind Zitate aus dem „Hudribas". Ich erinnere hier nur daran, daß Kant die Frage nach den Geistererscheinungen in den „Träumen eines Geistersehers" mit einem derben Witz Butlers abtut. (II, 348; vgl. die Anmerkungen von Adickes zu Reil. 479.) Nicht minder verehrte er Swift. Er rühmt ihm nach, daß er ganz „original" in der Satire sei, besonders schätzte er das „Märchen von der Tonne". Charakteristisch ist auch Kants Haltung gegenüber den englischen Dichtern des 18. Jahrhunderts. Young wird in den „Beobachtungen" getadelt: „ E s scheint m i r . . . ein Fehler des letzteren als eines moralischen Dichters zu sein, daß er gar zu einförmig im erhabenen Tone anhält; denn die Stärke des Eindrucks kann nur durch Abstechungen mit sanfteren Stellen erneuert werden. (II, 211.) Kritisch steht Kant den empfindsamen Romanen gegenüber, er glaubt nicht an die Echtheit der Empfindung bei ihren Dichtern. Ich zitiere Reil. 795: „Was wider die gefühl- und affektvolle Schreibart am meisten dient, ist: daß diejenigen, welche darin am meisten schimmern, am leersten an Gefühl und Affekt sind, so wie acteurs, die gut tragische Rollen spielen. Die enthusiastischen Autoren sind oft die leichtsinnigsten, die grausen Dichter die an sich lustigsten

14

Natur und Kunst

und Young oder Richardson Leute von nicht dem besten Charakter." Des letzteren Grandison will Kant nicht als Ideal einer Mannsperson anerkennen. Anerkannt werden dagegen Fielding und Sterne. Der erstere genügt der Forderung „moralische Empfindungen zu exzitieren": „Fielding hat hierin einen Vorzug, weil er sehr launig zu sein scheint, er eifert nicht auf das Böse, sondern stellt es lächerlich vor." (Schlapp, S. 173.) In bezug auf Sterne sei auf ein satirisches Wort über die Logiker hingewiesen, die „die Sache entschieden haben würden, wären sie nur nicht auf eine Definition gestoßen." (VIII, 163.) Viel weniger fühlte sich Kant von den französischen Dichtern angesprochen. Ein kritisches Urteil über Rabelais wurde schon erwähnt. Keine Spur findet sich von einer Kenntnis der klassischen französischen Tragödie, dagegen nennt er als Quelle zur Anthropologie neben Richardson Molière mit der Begründung, die von ihm dargestellten Charaktere seien zwar erdichtet, ihren Grundzügen nach aber aus der Beobachtung des wirklichen Tun und Lassen der Menschen entnommen. (VII, 121.) Schärfste Ablehnung erfahren die französischen Feenmärchen, sie sind „die elendesten Fratzen, die jemals ausgeheckt worden". (II, 215.) Von besonderem Interesse sind die Urteile über Voltaire. Ein Zitat aus der Henriade findet sich in der Anthropologie (VII, 198), und die Kenntnis seiner Tragödien läßt sich wahrscheinlich machen. Zahlreiche Äußerungen zeigen, daß Kant Voltaires Geschmack bewunderte, ihn als Charakter, aber ablehnte und deshalb seine Kunst als unecht empfand. Er spricht von „substituierten Empfindungen", die man „in Ansehung solcher Zustände oder Handlungen haben kann, wozu man keine persönliche oder eigentümliche Empfindung hat". Dann gibt er die Anwendung: „Voltaire hat die vortrefflichsten Empfindungen der Tugend im Namen der Römer und aller in der Tragödie" (Refi. 626). Ebenso heißt es an anderer Stelle : „Voltaire ist darin Meister; er kann alle möglichen Empfindungen leihen, aber in seiner Person hat er keine", und ebenso: „Voltaire hat sehr viel Geschmack, aber kein Mensch wird von ihm was lernen". (Schlapp, S. 143 u. 214.) Von Kants Verhältnis zu Rousseau wird an anderer Stelle zu sprechen sein. Bei Untersuchung der Frage, welches Verhältnis Kant zur Dichtung seines eigenen Volkes, besonders der seiner Zeit gehabt habe, wird auf das allgemeine Urteil hinzuweisen sein, das sich in den „Beobachtungen" findet: „In Deutschland schimmert der Witz noch sehr durch die Folie. Ehedem war er schreiend, durch Beispiele aber und den Verstand der Nation ist er zwar reizender und edler geworden, aber jenes mit weniger Naivität, dieses mit einem minder kühnen Schwünge als in den erwähnten Völkerschaften" (Italien, England, Frankreich). (11,244.) Worauf sich das Urteil über die Vergangenheit bezieht, läßt sich kaum sagen. Einmal wird Hans Sachs genannt, aber im Zusammenhang des Gedankens, daß Dichtungen im Wandel der Sprache allmählich unverständlich werden (Schlapp, S. 64). Von Lohenstein wird in Verbindung mit Voiture gesagt : sie folgten modischen Gesetzen, die den Ge-

Natur und Kunst

i j,

setzen der Schönheit ganz entgegen sind. „Sie gehen nur beständig dahin, das Gefühl zu reizen und ein Geräusch im Gemüt zu machen" (a. a. O., S. 65). Aufschlußreicher sind die Gedanken und Urteile Kants über die Dichtung seiner Zeit, Aus ihnen geht hervor, daß er das Bewußtsein eines neuen Werdenshatte, aber aus dem Vergleich mit der Dichtung der anderen Völker noch viel Unfertigkeit sah. Die „Beobachtungen" sind im Jahre 1764 erschienen. Es ist vielleicht zweckmäßig, an dieser Stelle einige chronologische Erinnerungen zu geben. Im Vergleich zu Kant gehörten der älteren Generation an: Brockes, Gottsched, Bodmer, Breitinger, Haller, Liscow, Rabener, Kästner, Geliert und Gleim. Die letzteren und die Anakreontiker standen seinem Geburtsjahr nicht sehr fern. Im gleichen Jahrzehnt, wie er, wurden Klopstock und Lessing, 1733 Wieland geboren. 1748 waren die ersten Gesänge des „Messias" erschienen, „Miss Sara Sampson" 1755, und mit dem Jahre 1759 begannen die „Literaturbriefe". Sieht man sich daraufhin Kants allgemeines Urteil an, so wird man nicht leugnen können, daß es zutreffend war. Es soll nun im einzelnen durch Beispiele erläutert werden. Dem Faden der Chronologie folgend, erwähne ich zuerst, daß Kant Brockes' „Irdisches Vergnügen in Gott" kannte. Vielleicht führte ihn zu ihm seine Beschäftigung mit der Frage des Optimismus (1759). Jedenfalls schrieb er in ein Stammbuch am 14. Juli 1762 die Verse: Ob es vielleicht, vom Stolz verführt, den meisten Menschen nicht so scheinet. So ist der Mensch doch in der Tat nichts anders als ein Tier, das meinet. Die Wahl dieser Verse ist wohl kaum zufällig; entsprachen sie doch der Überzeugung, wie sie Kant in der „Naturgeschichte" zum Ausdruck brachte. Davon ist schon gesprochen worden. Interessanter ist aber vielleicht noch eine Äußerung, die wohl unter dem Eindruck von Lessings „Laokoon" geschrieben ist: „Bei Beschreibungen bleibt die Poesie weit hinter der Natur zurück; wenn sie sich aber der Imagination überläßt, so steht die Natur weit hinter der Poesie in Ansehung der Erfindung zurück. - Die Dichter müssen sich daher gar nicht damit abgeben, Dinge der Natur zu malen. In Lehrgedichten, z. B. vom Ursprung des Übels [Haller], sieht man, wie doch immer poetische Ideen hineingebracht sind. Will man aber, wie Brockes eine Blume malen, so ist das Kinderspiel und bleibt hinter der Natur." (Schlapp, S. 272 f.) Die größte Verehrung empfand Kant für Haller. Er nennt ihn den philosophischen Dichter (I, 321) und zitiert aus seiner „Unvollkommenen Ode über die Ewigkeit" längere Stellen. Auch später, wenn er von Unendlichkeit und Ewigkeit sprach, so drängte sich ihm die Erinnerung an Hallers Worte auf, so in der „Kritik der reinen Vernunft" (III, 409), und in der Einleitung zur Schrift über „Das Ende aller Dinge" (VIII, 327). Den „Schweizerischen Gedichten", gemeint sind wohl die „Alpen", stand er dagegen aus dem oben erwähnten ästhetischen Anschauungen kritisch gegenüber.

;i6

N a t u r und K u n s t

In der „Kritik der Urteilskraft" hat Kant der Dichtkunst den ersten Rang zugebilligt, und zwar mit der Begründung, daß sie eine Fülle von Gedanken vermittle und sich zu ästhetischen Ideen erhebe. Zur Erläuterung wird gesagt, •daß sie das Gemüt „sein freies, selbsttätiges und von der Naturbestimmung unabhängiges Vermögen fühlen läßt, die Natur, als Erscheinung nach Ansichten zu betrachten, und zu beurteilen, die sie nicht von selbst.. darbietet, und sie also zum Behuf und gleichsam zum Schema des Übersinnlichen zu gebrauchen." {V, 326.) Es ist offenbar, wie diese theoretische Ansicht aus Kants Naturerlebnis entspringt und wie deshalb Hallers gedankenschwere Naturlyrik seinem Gefühl •entsprechen mußte. In diesen Zusammenhang gehören auch die Erörterungen über den Geist in ästhetischer Bedeutung und das Vermögen des Genies zur Darstellung ästhetischer Ideen. Hier finden sich die beiden einzigen als Beispiel verwerteten Zitate aus Dichtern. Aus Friedrich des Großen Epitre X V I I I . An Maréchal Keith, « Sur les vaines terreurs de la mort et les frayeurs d'une autre vie», zitiert Kant in deutscher Übersetzung Verse, in denen der König das Scheiden aus dem Leben mit dem Sonnenuntergang vergleicht. Dazu findet sich folgende Erläuterung: „ E r [Friedrich II.] belebt seine Vernunftidee von weltbürgerlicher Gesinnung noch am Ende des Lebens durch ein Attribut, welches die Einbildungskraft (in der Erinnerung an alle Annehmlichkeiten eines vollbrachten schönen Sommertages, die uns ein heiterer Abend ins Gemüt ruft) jener Vorstellung beigesellt, und welches eine Menge von Empfindungen und Nebenvorstellungen rege macht, für die sich kein Ausdruck findet." (V, 315 f.) Den umgekehrten Weg ist der Dichter Withof in seinem Vers: „Die Sonne quoll hervor, wie Ruh' aus Tugend quillt", gegangen. Hier dient ein intellektueller Begriff einer Vorstellung der Sinne zum Attribut. Und wieder werden Ideen hervorgerufen. Es ist vielleicht von Interesse, damit die Besprechung, welche Mendelssohn Withofs Gedicht „Die sinnlichen Ergötzungen" widmete10, zum Vergleich heranzuziehen. E r nennt es ein Verdienst, wenn Dichter versuchen, „abgezogene Begriffe vollkommen sinnlich vorzutragen". Solche Dichter sind: Pope, Young, Haller und Withof. Wir haben also eine übereinstimmende ästhetische Wertung, aber der Unterschied leuchtet doch hervor, daß Mendelssohn im Sinne der Baumgartenschen Formel interpretiert, während Kant vom Sinnlichen zum Übersinnlichen hinauf weist. Bereicherung eines Begriffes durch Nebenvorstellungen ist nach beiden die Aufgabe, aber bei Mendelssohn sind es anschauliche Bilder, bei Kant Ideen. Und damit tut sich bei diesem ein ganz anderer Hintergrund auf : das Unsagbare, Nichtauszusprechende. Das Spiel der Erkenntniskräfte ist also mehr als bloß eines transszendentale Konstruktion, zugrunde liegt ein Erlebnis, das nach seinem Ursprung das Erlebnis der Größe der Natur ist, die auf das Übersinnliche, das Göttliche hinweist. Diese Stimmung bleibt eine gehaltene, ist Andacht. Die Eigenart des Kantischen Naturgefühls läßt sich am besten durch eine Gegenüberstellung charakterisieren. Ich wähle die Stelle aus den „Beobachtungen", von der wir wirklich als von einem unmittelbaren Naturerlebnis sprechen können: „Gemütsarten, die ein Gefühl für das Erhabene besitzen, werden

Natur und Kunst

17

durch die ruhige Stille eines Sommerabendes, wenn das zitternde Licht der Sterne durch die braunen Schatten der Nacht hindurchbricht und der einsame Mond im Gesichtskreise steht, allmählich in hohe Empfindungen gezogen, von Freundschaft, von Verachtung der Welt, von Ewigkeit". (II, 20g.) Dazu bemerkt nun Kant: „Dieses idealische Gefühl sieht in der toten Materie Leben oder bildet sich ein, es zu sehen. Bäume trinken den benachbarten Bach. Der Zephyr lispelt den Verliebten. Wolken weinen an einem melancholischen Tag. Felsen drohen wie Riesen. Die Einsamkeit ist doch bewohnt durch träumerische Schatten und das Todesschweigen der Gräber phantastisch. Daher kommen die Bilder und der bilderreiche Geist." (XX, 18.) Es kann wohl kein Zweifel sein, daß Kant solche Stimmungen ablehnte und ihre Ausmalung als phantastisch empfand. Das würde aber doch nur bedeuten, daß er Übersteigerungen des Gefühls tadelte, trotzdem bleibt es dabei, daß sich ihm im Naturerlebnis ein Weg zum Übersinnlichen öffnete. Für das Verständnis der Werturteile, die Kant über Dichter seiner Zeit aussprach, ist es zweckmäßig, einmal seine eigenste persönliche Haltung und Idealbildung sich zu vergegenwärtigen. Eigentümlich ist ihm ein realistischer Blick, der durch rein naturwissenschaftliches Denken noch verschärft wurde. Er wollte die Dinge sehen, wie sie sind. Dies zeigen seine Urteile über die Menschen, ihr Versagen im persönlichen Leben und auf dem Schauplatz des geschichtlichen Lebens. Überzeugt von der Schwäche der menschlichen Natur, erschien ihm all' dies Bemühen und Kämpfen als ergebnislos, wenn man auf das Letzte sah, auf die Bestimmung des Menschen in vernünftiger Regelung des Lebens. Er meinte dann wohl: aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, „kann nichts ganz Gerades gezimmert werden". (VIII, 23.) Je strenger seine ethischen Forderungen sich ausbilden, desto mehr verwarf er allen Tugendschimmer, der sich mehr in moralisierenden Betrachtungen als in der Tat auswirkte. So lehnte er alle Dichtung ab, die dies Bild der Wirklichkeit allzusehr verfälschte. Er mißtraute allen Träumereien von idealen Menschen und idealen Welten. Er verlangte Echtheit. Sein Lebensideal, an der Stoa gebildet, war ein ausgesprochen männliches. Das bedeutete Beherrschung im Ausdruck der Gefühle. Dazu etwas ganz Persönliches. Kant fehlt das Bedürfnis zum Bekenntnis. Er glaubte, daß der wahrhafte Bekenner allzuviel Unerfreuliches seiner Natur offenbaren müßte, daß der Andere ihn deshalb verachten und vielleicht nicht ebenso ehrlich sein würde. So mißtraute er den allzu offenherzigen oder vielmehr so scheinenden Selbstbekenntnissen. Man kann die Kant gemäße Art, seine Gefühle auszudrücken, nicht besser charakterisieren als durch die Worte in Reil. 742: „die Bewegung seines eigenen Gemüts hinter der Abschilderung der Sachen, die sie erregen, verstecken, macht den größten Eindruck." Damit vergleiche man die Schlußstellen in der „Naturgeschichte" und der „Kritik der praktischen Vernunft" sowie die berühmte Anrede an die Pflicht. Auffallend ist nun, daß Kant zu dem ihm geistesverwandten Lessing, wenigstens was seine Dichtungen angeht, kein rechtes Verhältnis hat. Zwar lehnt er 3

Menzer, Kants Ästhetik

i8

Natur und Kunst

im Brief an Herz vom 24. Nov. 1776 die von diesem zwischen Lessing und ihm gezogene Parallele mit der Begründung ab, er sei eines solchen Lobspruches noch nicht würdig, auch wurde Lessing in der „Kritik der Urteilskraft" als berühmter Kritiker genannt, aber das Urteil über dessen Dichtungen ist zweifellos wenig anerkennend. Zusammenfassend sagt er: „Lessing hat in allen seinen Schriften den Fehler, in den Teilen unterhaltend zu sein, und im ganzen weiß man doch nicht, was er haben will; man findet dies im .Nathan dem Weisen', und alle seine Schauspiele mißfallen, und zwar, weil sie kein Ganzes ausmachen." (Starke, S. 38; vgl. Schlapp, 206/7, 261 A.) Hamann berichtet am 6. Mai 1779 an Herder in bezug auf Kants Urteil über den „Nathan", er beurteile ihn als den zweiten Teil der „Juden** und könne keinen Helden aus diesem Volke leiden. Kants Urteil über Klopstock wurde schon an früherer Stelle erwähnt. Auch Borowski bestätigt 11 , daß er ihn weit unter Milton stellte. Seine Gründe gibt wohl folgendes Zitat aus einer Vorlesungsnachschrift an „Klopstock ist lange kein eigentlicher Dichter, denn er rührt nur per Sympathie, indem er als ein gerührter r e d e t . . . Wenn man seine Schriften mit kaltem Blut liest, so verlieren sie viel. Oft bedient er sich einer ungewöhnlichen und halb polnischen Sprache, spricht abgebrochen und zeigt, wie gerührt er ist." (Schlapp, S. 175.) Bekannt ist, daß Kant am meisten Wieland bewunderte. Im Brief an dessen Schwiegersohn Reinhold vom 28. Dez. 1787 läßt er ihm seinen innigsten Dank aussprechen für das mannigfaltige Vergnügen, das ihm seine „unnachahmlichen Schriften" gemacht haben, d. h. also, daß er ihn als ein wahres Genie anerkennt. An anderer Stelle rühmt er, daß er den „Kopf voller Ideen" habe (Schlapp, S. 229), und in Refl. 806 findet sich der Satz: „Vornehmlich muß ein Schwung in Perioden sein wie Wieland." Jachmann erzählt, daß er Kant vergeblich für den „Oberon" zu interessieren versucht habe, während er die Göttergepräche schätzte. Er bestätigt auch, daß Kant Wieland als den größten deutschen Dichter zu rühmen pflegte. (S. 106.) Damit wäre wieder die Neigung Kants zur Satire zu bemerken. Von deutschen Satirikern schätzte er Liscow und besonders Lichtenberg, den er neben Swift stellte. Aus der geschilderten geistigen Haltung Kants sind seine zum Teil scharfen Urteile über andere Dichter seiner Zeit verständlich, so das über Geliert. Er zitiert einenRezensenten, der diesen alsPseudopoeten bezeichnet. (Schlapp,S.169.) An anderer Stelle heißt es: „Geliert hat darin gefehlt, daß er blähet das Herz gleichsam mit moralischem Winde auf und redet von nicht als Wohlgezogenheit, Menschenliebe, Mitleiden und von einer aufsteigenden Träne bei Erblickung eines Notleidenden . . . " (Schlapp, 170 A.) Dies Urteil dürfte wohl authentisch sein, da es mit einer Stelle aus der Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft übereinstimmt, wo von „schmelzenden, weichherzigen Gefühlen" (V, 157) gesprochen wird. In einer aus später Zeit stammenden Nachschrift wird Gellerts Moral „sehr schaal" genannt. (Schlapp, S. 396.) Auch Gleim lehnte Kant ab, es genügt, an sein allgemeines Urteil über die Anakreontiker zu erinnern: „Anakreontische Gedichte sind gemeiniglich sehr nahe beim .Läppischen'." (II, 215.)

Natur und Kunst

19

An der eben zitierten Stelle aus der „Kritik der praktischen Vernunft" spricht Kant weiter von den „hochfliegenden, aufblähenden und das Herz eher welk als stark machenden Anmaßungen". Es ist wohl kaum zu bezweifeln, daß er damit die Stürmer und Dränger treffen will, wie denn die Vorlesungshefte zahlreiche Anspielungen auf sie aufweisen. E r behandelte sie im Zusammenhang seiner Genielehre als Beweis, wohin die Nachahmung eines wirklichen Genies führen müsse; die Charakterisierung der „kollernden Schreibart" in Refl. 979 ist wohl auf sie gemünzt. Goethes Name war Kant, da seine Korrespondenten ihn mehrfach nannten, bekannt, wahrscheinlich auch der „Werther". Er wird ihn wohl abgelehnt haben, seine unbedingte Verwerfung des Selbstmordes wird sein Urteil in negativem Sinne beeinflußt haben; Schillers „Anmut und Würde" nannte er eine „mit Meisterhand verfaßte Abhandlung" und versuchte in einer sehr bedeutenden Erklärung mit ihm in Übereinstimmung zu kommen. (VI, 23 A.) Kants Verhältnis zu den anderen Künsten: Malerei, Bildhäuerkunst, Musik bedarf nicht einer längeren Erörterung, da in bezug auf sie alle nur festgestellt werden kann, daß sein Erfahrungskreis ein sehr enger gewesen ist. Oft ist die Schmucklosigkeit seines Hauses und insbesondere seines Arbeitszimmers geschildert worden. Kahle Wände, nur ein Bild Rousseaus in seinem Zimmer. Als die Firma Böninger und Langer ihm, wie auch Goethe und Schiller eine Urania in mechanischer Reproduktion sandte, lobte er wohl das Kunstwerk in einem Dankesbrief unter Berufung auf das Urteil besserer Kenner, als er es zu sein sich anmaßen dürfe, teilte aber dann mit, daß er es „in ein weit vornehmeres und frequntierteres Haus" übertragen habe. (XII, 192.) Ein Sinn für Farbe läßt sich nirgends bei ihm beobachten. Ebensowenig läßt sich feststellen, ob seine Ansicht, in der Malerei sei die Zeichnung das Wesentliche, auf eine genauere Kenntnis der Schwarzweißkunst zurückgeht. In den „Beobachtungen" spricht er davon, daß der, welchem „Hogarths Grabstichel" fehle, sich mit Beschreibung behelfen müsse. In Refl. 893 wird er als Porträtist gelobt. In der von mir herausgegebenen Vorlesung über Ethik wird die Reihe „The stages of cruelty" besprochen, (a. a. 0., S. 302L) Wenn wir dem allerdings nicht immer wohlwollenden Borowski glauben dürfen, hatte Kant sogar kein Interesse für Gemälde und Kupferstiche und beachtete kaum die ihm zugänglichen Sammlungen, (a. a. O., S. 175 f.) Die in den Vorlesungsheften vorkommenden Namen großer Maler sind überall aus Schriften anderer übernommen; so gibt er eine Charakteristik-Raphaels, Corregios und Tizians und beruft sich dabei auf Raphael Mengs, dessen „Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerei" vom Jahre 1762 er also gekannt hat 12 . Das gleiche gilt von Kants Urteilen über die Bildhauerkunst. Wenn er von den Alten sprach, so berief er sich aufWinckelmann, gelegentlich auf Hogarth. Von den Neueren nennt er wohl nur Michelangelo. Allgemein ist zu sagen, daß seine Äußerungen über Künstler meist den Charakter von Anekdotenerzählung hatten. 2»

20

Natur und Kunst

Die Baukunst wird nicht selten erwähnt; sie dient, wie bei den damaligen Ästhetikern auch sonst, dazu, um das Verhältnis von Zweckmäßigkeit und Schönheit zu untersuchen. Wenig Erfreuliches läßt sich schließlich über Kants Verhältnis zur Musik sagen. Mehrfach wird erzählt, daß er Trauermusik ablehnte, er verlangte dagegen „Aufheiterung und Frohsinn", und dies stimmt ja wohl mit seiner Definition überein, nach der sie „die Kunst des schönen Spiels der Empfindungen für den Gehörssinn" genannt wird, parallel zu der „Farbenkunst". Borowski berichtet, Kant habe ihm von näherer Beschäftigung mit ihr mit der Begründung abgeraten, es „würde viele Zeit zur Erlernung und noch mehrere zur Übung darin erfordert, um es zu einiger Fertigkeit zu bringen, immer zum Nachteil andrer ernsthafterer Wissenschaften" (a. a. O., S. 175). Diesen Urteilen lassen sich aber doch einige Äußerungen aus den „Beobachtungen" entgegenstellen. Hier heißt es einmal: „Wer bei einer schönen Musik lange Weile hat, gibt starke Vermutung, daß die Schönheiten der Schreibart und die feinen Bezauberungen der Liebe wenig Gewalt über ihn haben werden." Auch wird es als ein Zeichen von Feinheit bezeichnet, wenn jemand „einen Teil seiner Mahlzeit dem Anhören einer Musik aufopfert" (II, 225 u. A.). Und in bezug auf das weibliche Geschlecht wird gesagt: „Gefühl für Schildereien von Ausdruck und für die Tonkunst, nicht insofern sie Kunst, sondern Empfindung äußert, alles dieses verfeinert oder erhebt den Geschmack dieses Geschlechts und hat jederzeit einige Verknüpfung mit sittlichen Regungen." (II, 231.) Leider hat sich der alte Kant einer bedauerlichen Entgleisung in der zweiten Auflage der „Kritik der Urteilskraft" schuldig gemacht, wo er der Musik einen Mangel an Urbanität vorwirft, da sie die Nachbarschaft stört: „Fast so, wie ein sich weit ausbreitender Geruch". Eine Anmerkung verrät uns den Grund dieses abschätzigen Urteils. Es war „die stentorische Andacht der Heuchler im Gefängnisse", die ihn bei seinen Arbeiten gestört hatte (Brief an Hippel vom 9. Juli 1784). Über Kants Theatererlebnisse berichtet Borowski (a. a. O., S. 176), daß er in früheren Jahren das Schauspiel gern besucht habe, später gar nicht. Ein Zufall will es, daß wir das Theater kennen, das er wahrscheinlich besucht hat. Im Brief an Lindner vom 25. Okt. 1759 nennt er das „Helferdingsche", auf dem der Harlekin anscheinend noch eine Rolle spielte13. Versuchen wir, aus diesen Einzelbetrachtungen das unmittelbare Ergebnis zu ziehen, so wird aus ihnen klar, daß Kant ein näheres Verhältnis eigentlich nur zur Dichtung hatte. Er war in der Weltliteratur nicht unbewandert, aber Sympathie stärkerer Art verband ihn doch nur mit der Literatur der Aufklärung, der englischen und der deutschen. In seiner hohen Schätzung der ersteren entsprach er der Überzeugung seiner Zeit, die von den Franzosen sich ab- und den Engländern zuwandte. Milton und Pope erfahren das höchste Lob. Unter den Deutschen stand ihm Haller am nächsten. Die Zitate in der „Naturgeschichte und Theorie des Himmels" drängten sich ihm auf, weil der Dichter seinen Ideen den schönsten Ausdruck gegeben hatte. Mit ihm verband ihn eine gemeinsame Weltanschauung: die Erhebung zum göttlichen Wesen aus der Bewunderung,

Natur und Kunst

21

Größe und Unendlichkeit der Schöpfung, ein Gefühl von der Unvollkommenheit menschlichen Daseins und Kritik an der Kultur, die den Menschen immer mehr von seiner ursprünglichen Einfalt und seinem einfachen Glück entfernte. So erwartete er von der Dichtung zuerst einen bedeutenden, wichtigen Gehalt, der den Menschen zur Besinnung auf seine höchste Aufgabe, seine Würde emporhob. Aber auch der Formgedanke fehlte nicht. Darunter verstand er Klarheit im Aufbau, Durchführung einer einheitlichen Idee, durchsichtige Sprache, Ganzheit. Das bloße Fabulieren lehnte er ab, besonders wenn es „abenteuerlich" wurde. Seine Wertung der Form zeigt sich auch an seiner Vorliebe für Witz und Satire, wie er denn selbst in seiner trockenen Art gelegentlich Wendungen von überraschender Prägnanz geschaffen hat. Das Ideal schien ihm die Darbietung eines bedeutenden Inhalts in entsprechender Form. Weisheit sollte mit Grazie verbunden sein. Pope und Wieland sind ihm in dieser Hinsicht die größten Meister. Ich erinnere noch einmal an das Wort von Kants unkünstlerischer Natur. Die Darstellung hat gezeigt, daß er über eine nicht unerhebliche literarische Bildung verfügte und mit der Literatur seiner Zeit in lebendigem, teilnehmendem Zusammenhang stand. Es ist nun wichtig zu betonen, daß die so oft beanstandeten Urteile Kants in späterer Zeit aus der literarischen Bildung zu verstehen sind, die wir eben geschildert haben. Vielleicht läßt sich allgemein sagen, daß der Mensch doch eigentlich nur ein lebendiges Verhältnis zur Literatur seiner eigenen Generation hat. Das gilt auch für Kant. Er hatte ein Gefühl für das neue Werden und verfolgte mit Verständnis die Dichtung seiner Gegenwart, von der er allerdings erwartete, daß sie sich ihrer Aufgabe bewußt blieb. Die Erscheinung des Sturm und Dranges mußte ihn abstoßen. Nun ging er nicht mehr mit; die Genienarren waren ihm zuwider. Hinzu kam, daß sein Geist mit dem Jahre 1769 von der Idee einer neuen philosophischen Methode erfüllt war und daß die Arbeit an der kritischen Philosophie und ihrer Vollendung sein ganzes Interesse und seine ganze Kraft asborbierte. Und so ist es zu erklären, daß er, als er zu dem Ausbau seiner Ästhetik kam, zurückgriff auf die literarischen und ästhetischen Überzeugungen, die er in seinen jüngeren Jahren gewonnen hatte. So entstand die merkwürdige Paradoxie, daß Goethes Tasso und die „Kritik der Urteilskraft" im gleichen Jahre erschienen und daß in dieser Wieland als der größte, unübertreffliche dichterische Genius gefeiert wurde. Und als Kant in der Anthropologie vom Jahre 1798 noch einmal die verschiedenen Nationalcharaktere beschrieb, rühmte er zwar manche Tugenden an den Deutschen, glaubte auch, daß sie in den Wissenschaften Höchstes leisten könnten, fügte aber dann hinzu, „das Fach des Witzes und des Künstlergeschmacks ausgenommen, als worin er es vielleicht den Franzosen, Engländern und Italienern nicht gleich tun möchte". Noch immer habe der Deutsche den Hang zum Nachahmen und die geringe Meinung von sich, original sein zu können. (VII, 318.)

II. L O G I K - Ä S T H E T I K - P S Y C H O L O G I E (1755-1769) Die Entwicklung der Kantischen Ästhetik verläuft in dem größeren Zusammenhang der Entwicklung seiner Philosophie überhaupt. Und für diese gilt, daß die Probleme des Erkennens die Führung hatten und daß die auf diesem Gebiet gefundenen Lösungen für die anderen Teile des Systems mitentscheidend waren. Daraus ergibt sich für unsere Darstellung ihre Eingliederung in die Perioden der theoretischen Philosophie. Sie zerfällt in zwei: die vorkritische und die kritische, letztere beginnend mit der Dissertation vom Jahre 1770. In der vorkritischen Periode vollzieht sich der Abfall vom Dogmatismus der Leibniz-Wolffischen-Philosophie. Kants eigenes, an den Methoden der mathematischen Naturwissenschaften geschultes Denken führte zum Zweifel an der überlieferten Schulmetaphysik und ihren Scheinbeweisen, der dann durch die Einflüsse des englischen Empirismus Bestätigung und Verstärkung erhielt. Diese waren aber doch nie so entscheidend, daß Kant darum die Überzeugung von der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis je aufgegeben hätte. Einen neuen Weg ihrer Begründung glaubte er in der Dissertation gefunden zu haben. Die Ästhetik ist also in der vorkritischen Periode abhängig von dem Systemgedanken der Wolffischen Philosophie und von der Psychologie. In ersterer Hinsicht ist maßgebend der Gedanke Baumgartens von der Ästhetik als einer Logik der Sinnlichkeit. Dementsprechend hat Kant ästhetische Betrachtungen in seine Logikvorlesungen aufgenommen. Die in sein Handexemplar eingetragenen Reflexionen1 sind für uns die einzige wesentliche Quelle zur Rekonstruktion seiner ursprünglichen ästhetischen Theorien. Der zweite Einfluß kam von der empirischen Psychologie, und zwar zuerst von der Disziplin, die nach dem Vorgang Wolfis in das System der Metaphysik aufgenommen wurde. Kant las über sie im Rahmen seiner Metaphysikvorlesung nach Baumgartens Kompendium. Auch sie gab Anlaß zu ästhetischen Betrachtungen, die sich aber meist nur an die Lehre von den Erkenntnisvermögen anknüpften. Bedeutender waren die Einwirkungen der englischen Ästhetiker und ihrer analytischen Methode. Die „Beobachtungen" vom Jahre 1764 sind aus diesen Anregungen zu verstehen, allerdings nicht aus ihnen allein, da das Kant eigene anthropologische Interesse ihre Fragestellung maßgebend beeinflußt hat.

Ästhetik und Logik

23

Demnach zerfällt unsere Darstellung in zwei Abschnitte, die kurz bezeichnet werden sollen: 1. Ästhetik und Logik, 2. Ästhetik und Psychologie

(Anthropo-

logie). I. Ä S T H | E T I K U'jSiD L O G j l K In dem Jahre, in welchem K a n t s geniales Jugendwerk ersehien, betrat er auch das Katheder an der Universität seiner Vaterstadt. Im ersten Semester las er über Logik nach G. Fr. Meiers „Auszug aus der Vernunftlehre" vom Jahre 1752. Und wie er später sagt, gab „die sehr nahe Verwandtschaft der Materien Anlaß, bei der Kritik der Vernunft einige Blicke auf die Kritik des Geschmacks, d. i. die Ästhetik,

zu werfen". (II, 311.) Wurden ästhetische Begriffe in der

„Naturgeschichte" nur gelegentlich und ohne systematisches Interesse an ihnen angewandt, so traten nun ästhetische Probleme in systematischer Form an ihn heran und sogleich in einem Zusammenhang, der auf ihre Erörterung nicht ohne Einfluß sein konnte. Die Bedeutung dieser Verbindung muß zuerst verstanden werden. Bekanntlich lasen die Professoren und so auch K a n t laut ministerieller Verordnung nach einem Kompendium. Wie weit der einzelne Dozent ihm folgte, war natürlich von seiner Eigenart und der Selbständigkeit seines Denkens abhängig. Uber K a n t s Verhältnis zu seinen Kompendien sind wir heute gut orientiert. Von seinen Zuhörern wird immer wieder die Selbständigkeit betont, die er dem Kompendium gegenüber sich bewahrte. Seine Vorlesungen waren etwas ganz anderes als Textinterpretationen und wurden sicherlich bei Gegenständen seines besonderen Interesses frei gehalten. Eine Bestätigung erhält diese Ansicht durch die zahlreichen Nachschriften Kantischer Vorlesungen 2 , bei denen es oft nicht ganz leicht ist, die Beziehung zum Autor herzustellen. Allerdings stammen diese meist aus späterer Zeit, d. h. also aus Jahren, in denen K a n t zu voller Selbständigkeit seiner eigenen Lehre sich durchgerungen hatte. Es ist aber zu bedenken, daß ein junger Dozent wohl im allgemeinen vieles aus Werken anderer übernehmen wird und daß K a n t im ersten Semester seiner Dozententätigkeit mit drei Vorlesungen begann und wahrscheinlich zwölf Stunden in der Woche las. Man tritt seinem Geiste wohl nicht zu nahe, wenn man annimmt, daß er sich damals mehr als später an das Kompendium anschloß. Und weiter ist zu bedenken, daß sein Interesse in diesen Jahren sehr stark naturwissenschaftlich gerichtet war, wie es die Schriften bis zum Jahre 1758 deutlich zeigen. Auch hatte er sich im allgemeinen noch nicht von der Leibniz-Wolffischen Philosophie losgelöst, und seine Dissertationsschrift vom Jahre 1755, die „ N o v a dilucidatio", bewegte sich noch ganz innerhalb der Problemstellung der genannten Schule. Fragen wir nun nach der Bedeutung des Meierschen Auszuges, so ist zu sagen, daß dies Buch den Ehrgeiz seines Verfassers zeigt, einen neuen W e g in der Logik einzuschlagen. Darüber gibt willkommene Aufklärung das logische Hauptwerk, die „Vernunftlehre" vom Jahre 1752. Meier sagt in der Vorrede, „er sei sich

Logik - Ästhetik - Psychologie

24

bewußt, mit diesem Buch sich in Gegensatz zu setzen zu dem ,Schullogicus'' und den Schulfuchsereien. Man werde bei ihm nichts über Barbara und Celarent finden." Für die Gelehrten von Profession weist er auf die Vernunftlehren von Wolff, Reusch, Locke, Malebranche hin. Seinem Vortrag hat er „Deutlichkeit, Gründlichkeit und Anmut" zu geben versucht. Ein neues Moment tritt zweifellos mit der Anmut auf, und so ist klar, daß Einflüsse ästhetischer Natur auf Form und Inhalt von Meiers Vernunftlehre stattgefunden haben. Am kürzesten orientiert darüber die Inhaltsangabe im „Auszug", die in übersichtlichem Druck hier wiedergegeben sein mag: I. Von der gelehrten Erkenntnis: 1. Von der gelehrten Erkenntnis überhaupt. 2. Von der Weitläufigkeit (vastitas, ubertas) d. g. E. usf. 3. Von der Größe (dignitas, magnitudo et maiestas). 4. Von der Wahrheit (veritas). 5. Von der Klarheit (cognitio clara). 7. Von der Gewißheit (certitudo). 6. Von der praktischen gelehrten Erkenntnis. 8. Von gelehrten Begriffen. 9. Von gelehrten Urteilen. 10. Von gelehrten Schlüssen. II. Von der Lehrart der gelehrten Erkenntnis. III. Von dem gelehrten Vortrage: 1. Von 2. Von 3. Von 4. Von

dem Gebrauch der Worte. der gelehrten Schreibart. einer gelehrten Rede. gelehrten Schriften.

IV. Von dem Charakter eines Gelehrten. Diese Übersicht zeigt wohl deutlich, daß die Ästhetik auf die Gestaltung der Logik Meiers einen außerordentlichen Einfluß gehabt hat, nicht nur in dem Sinn, daß in diese ästhetische Kapitel aufgenommen werden. Vielmehr ist die ganze Gliederung von der Ästhetik übernommen, und es ist offenbar, daß Meier wie in seinen „Anfangsgründen der schönen Wissenschaften", so auch in seiner Logik Schüler Baumgartens ist3. Ein Vergleich zeigt dies ohne weiteres. Man kann leicht in den ersten drei Teilen die aesthetica heurística, die Methodologie und die Semiótica aus Baumgartens „Aesthetica" wiedererkennen. Dem Abschnitt über den Charakter des Gelehrten entspricht ein solcher über den „character aesthetici", nur an einer anderen Stelle; ein Unterschied, der sich auch zwischen den Ästhetiken Baumgartens und Meiers findet. Bedenkt man nun, daß der große Gedanke Baumgartens von der Ästhetik als einer Schwester der Logik, d. h. die Eingliederung dieser Wissenschaft in das

Ästhetik und Logik

25

System und damit die Forderung einer Logik der Sinnlichkeit doch wieder in Abhängigkeit von der Rhetorik und der von dieser beeinflußten Poetik geriet, so kann man ermessen, welchen Schaden die Logik ihrerseits erfahren mußte. Die Schulfuchsereien der alten formalen Logik werden bekämpft, dafür trat aber ein neuer Formalismus auf, der sich mehr mit dem Vortrag der Wissenschaft und ihren äußeren Formen beschäftigte, von der eigentlichen wissenschaftlichen Forschung aber womöglich noch weiter entfernt war als die Syllogistik. Zur Beantwortung der Frage, welchen Charakter K a n t seiner Logikvorlesung gegeben habe, liegt in Refl. 1571 (um 1755-56) eine Antwort vor. E s heißt dort am Schluß: „ W i r müssen sowohl die Logik für Gelehrte von Profession als die gemeinnützige Logik vortragen, weil wir erstlich mit den ersteren auf Akademien zu tun haben und riskieren könnten, für unwissend angesehen zu werden, zweitens aber auch die gemeinnützige Erkenntnis davon unterscheiden." Eine zweite Äußerung enthält die 1762 als Einladungsschrift zu seiner Logikvorlesung veröffentlichte kleine Untersuchung „Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren". K a n t lehnt diese als „unnützen Plunder" ab, glaubt allerdings nicht, „den Kolossen umzustürzen, der sein Haupt in die Wolken des Altertums verbirgt und dessen Füße von Ton sind". Dann fährt er fort: „Meine Absicht ist nur, Rechenschaft zu geben, weswegen ich in dem logischen Vortrage, in welchem ich nicht alles meiner Einsicht gemäß einrichten kann, sondern manches dem herrschenden Geschmack zu Gefallen tun muß, in diesen Materien nur kurz sein werde, um die Zeit, die ich dabei gewinne, zur wirklichen Erweiterung nützlicher Einsichten zu verwenden." Leider läßt sich nicht deutlich sehen, was K a n t unter „dem herrschenden Geschmack" verstand. E s ist nicht unmöglich, daß er sich damit von seinem Autor distanzieren wollte. Jedenfalls ist nirgends von der Anmut die Rede, vielmehr von nützlichen Erkenntnissen.

Das aber konnten unmöglich die ästhetischen Ver-

zierungen im Sinne Meiers sein, vielmehr sprach hier aus K a n t der Naturforscher, der den Wert einer Tatsachenforschung zu würdigen wußte. Aus diesem Geiste sind die Worte geschrieben: „ D i e wissenswürdigen Dinge häufen sich zu unsern Zeiten . . . Es bieten sich Reichtümer im Überflusse dar." (II, 57.) Die wichtigste Äußerung stammt aus einer späteren Zeit, aus der „Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre 1765-1766". Meier unterschied zwei Arten der Vernunftlehre, eine solche für Gelehrte von Profession und eine solche, welche auch anderen Gelehrten anständig und brauchbar ist. Dieser recht unbestimmten Unterscheidung gab K a n t einen schärferen Sinn. Auch er anerkennt zwei Gattungen der Logik: „ 1 . eine Kritik und Vorschrift des gesunden Verstandes, so wie derselbe einerseits an die groben Begriffe und die Unwissenheit, andererseits aber an die Wissenschaft und Gelehrsamkeit angrenzt." Diese Logik gehört an den Anfang des akademischen Studiums, hat also einen propädeutischen Charakter; K a n t nennt sie eine A r t Quarantäne, „welche der Jüngling halten muß, der aus dem Lande des Vorurteils

26

Logik - Ästhetik - Psychologie

und des Irrtums in das Gebiet der aufgeklärteren Vernunft und der Wissenschaften übergehen will". 2. die Kritik und Vorschrift der eigentlichen Gelehrsamkeit. Sie soll nach den Wissenschaften abgehandelt werden, am Ende der gesamten Philosophie. Kant teilt mit, daß er sie zum Ende der Metaphysik gebe. Über seine Vorlesung, wie ér sie ankündigt, sagt er nun: „Ich werde die Logik von der ersten Art vortragen, und zwar nach dem Handbuche des Hrn. Prof. Meier, weil dieser die Grenzen der jetzt gedachten Absichten wohl vor Augen hat und zugleich Anlaß gibt, neben der Kultur der feineren und gelehrten Vernunft die Bildung des zwar gemeinen, aber tätigen und gesunden Verstandes zu begreifen, jene für das betrachtende, diese für das tätige und bürgerliche Leben. Wobei die zugleich sehr nahe Verwandtschaft der Materien Anlaß gibt, bei der Kritik der Vernunft einige Blicke auf die Kritik des Geschmacks, d. i. die Ästhetik zu werfen, da die Regeln der einen jederzeit dazu dienen, die der andern zu erläutern, und ihre Abstechung ein Mittel ist, beide besser zu begreifen." (II, 310/1.) Es entsteht die Frage, an welchen Stellen Kant diese „einigen Blicke" auf die Ästhetik geworfen hat. Eine Antwort geben uns die Reflexionen, wenn auch nicht eine vollständige, denn es ist immer zu bedenken, daß Kant an vielen Stellen dem Autor folgte. Trotzdem läßt sich das Gebiet, für das er Interesse hatte, abgrenzen und die Reflexionen sind dann besonders wertvoll, wenn sie als Ergänzung oder Kritik des Autors auftreten. Eine vorläufige Übersicht zeigt, daß Kants Reflexionen nur an wenige Paragraphen anknüpften. Den ersten Anlaß gibt die Begriffsbestimmung der Logik gleich zu Beginn, die zu entsprechenden Erörterungen über den wissenschaftlichen Charakter der Ästhetik führt. Mit § 19 beginnen dann Meiers Erörterungen über die Schönheit der Erkenntnis und von da ab bis zu §35 finden sich Bemerkungen Kants (Refl. 1747-1935), deren Thema hauptsächlieh die Vergleichung der ästhetischen und der logischen Vollkommenheit ist. § 36, der von dem Mangel der gelehrten Erkenntnis handelt, wird von Kant benutzt, um auch von Fehlern der Kunst zu sprechen. § 53, der das Thema der Vielwisserei erörtert, gibt Anlaß zu Erörterungen über die Humaniora. Verwandt ist das Thema von § 65: Pedanterei, zu dem wir Äußerungen in Refl. 2037-2064 finden. § 122-138 behandeln die wichtigen Bestimmungen über Klarheit, Deutlichkeit, Dunkelheit und Lebhaftigkeit der Erkenntnis. Kants Reflexionen zu ihnen sind bedeutsam für das Verhältnis von Logik und Ästhetik. An manchen Stellen hat er Ergänzungen aus Meiers großer Logik herangezogen. Zuerst muß der Versuch gemacht werden, Kants ursprüngliche Gedanken über die von Baumgarten und Meier geforderte und zum Teil ausgeführte neue philosophische Disziplin festzustellen. Darüber gibt Refl. 2387 (um 1755-56) Aufschluß: „Die schönen Wissenschaften sind diejenigen, welche die Regeln, die unteren Erkenntniskräfte, d. i. die verworrene Erkenntnis, zu leiten an die Hand zu geben. Aestetica." Meier hat in § 138 von der „Verbesserung der verworrenen Hälfte der menschlichen Erkenntnis" gesprochen. Kants Definition

Ästhetik und Logik

27

hat eine unleugbare Ähnlichkeit mit § 115 der „Meditationes" von Baumgarten 4 , wo von einer Wissenschaft die Rede ist, „quae facultatem cognoscitiv a m inferiorem dirigat". E s besteht die Möglichkeit, daß K a n t die obige Definition bewußt an die Baumgartens anschloß. Eine andere Frage ist aber, ob er sie zu der seinigen machte oder sie nur als Material für seine eigene Darstellung verwertete.

Eine Entscheidung ist hier nicht möglich, und so bleibt nur

übrig zu untersuchen, inwieweit sich in den anderen Reflexionen dieser Zeit Begriffe finden und angewandt werden, die einen Zusammenhang mit jener Definition verraten. Das ist nun der Fall; aber vorher ist eine Klärung der Grundbegriffe, die dort vorkommen, notwendig. Es handelt sich dabei um - wie schon erwähnt - §§ 122-138 des Meierschen Handbuches, deren Inhalt durch die von Adickes beigegebenen Überschriften am besten angegeben werden kann . „ K l a r e ,deutliche und dunkle Erkenntnis; Grade der Klarheit, Deutlichkeit, Lebhaftigkeit der Erkenntnis." Diese für die Ästhetik wichtigen Unterscheidungen gehen auf Leibniz zurück und sind durch Christian Wolff in die Psychologie und Logik eingeführt worden. Ich gebe der Kürze halber seine Definitionen aus der Psychologia empirica: Si quod percipimus agnoscere, vel a perceptilibus ceteris distinguere valemus, perceptio, j u a m habemus, clara est (31); durch Einfügung eines ,non' vor agnoscere und distinguere erhalten wir die entsprechende Definition für die perceptio obscura. Die klaren Vorstellungen werden dann in die verworrenen und deutlichen eingeteilt: § 38 sagt: „ S i in re percepta plura sigillatim enunciabilia distinguimus, perceptio clara dicitur distincta", und §39: „ S i in re clare percepta plura separatim enunciabilia non distinguimus, perceptio dicitur confusa."

A n diese Wölfischen Definitionen

knüpft nun Baumgarten in den „Meditationes" an. Nachdem er den Begriff der „repraesentatio sensitiva" unter Berufung auf den des appetitus sensitivus eingeführt hat, erklärt er, daß er die Merkmale „verworren" und „ d u n k e l " auf sie anwenden wolle. Allerdings sind die letzteren weniger poetisch als die klaren. Ganz scheiden die deutlichen aus, sie sind nicht sensitif und deshalb nicht poetisch; es bleiben also die klaren, die verworren sind. Diese sind poetisch. U m nun die verschiedenen Grade der Klarheit zu unterscheiden, führt Baumgarten den Unterschied des extensive und des intensive clarior sein. Das erstere wird rein quantitativ bestimmt; eine Vorstellung ist in dieser Rücksicht überlegen, wenn in ihr mehr vorgestellt wird als in anderen. Demnach sind die Vorstellungen von größerer extensiver Klarheit ganz besonders poetisch. Ein Zusatz sagt dann, daß davon die Vorstellungen verschieden sind, „die durch Deutlichkeit der Merkmale unsere Erkenntnis vertiefen und eine Vorstellung der Stärke nach klarer machen (intensive clarior)". Zur Ergänzung kann die „Metaphysik" dienen. In § 531 heißt es: „Multitudine notarum augetur claritas. Ciaritas, claritate notarum maior intensive (ein schärferes, strengeres), multitudine notarum extensive maior (ein verbreiterteres Licht) dici potest. Extensive clarior perceptio est vivida (eine lebhafte Vorstellung). Vividitas cogitationum et orationis nitor (das Schimmernde der Erkenntnis und Rede) est, cuius oppositum est siccitas (das Trockene)." Merkwürdig ist, daß Baumgarten diese

28

Logik - Ästhetik - Psychologie

Unterscheidung auch auf die distinkten Vorstellungen überträgt und in § 634 sagt: „Quae plures vividioresque notas habet quam aliae distinctae, erit perseptio extensive distinctior (eine Vorstellung von verbreiteter Deutlichkeit), quae intensive clariores notas habet, quam aliae distinctae erit (intensive distinctior) purior (eine reinere Vorstellung)." In § 637 wird dann der tiefe und reine Verstand von dem schönen unterschieden. Die Definition des letzteren lautet: „Perfectio eiusdem [intellectus] notas extensive distinctas formandi est intellectus pulchritudo." Meier schließt sich in seinem Handbuch an Baumgarten an, es genügt zu erwähnen, daß er in § 135 unterscheidet: eine lebhafte Erkenntnis (cognitio) extensive clarior vivida und eine der Stärke noch klarere (cognitio intensive clarior). Im ersteren Falle ist entscheidend die Menge der Merkmale, im zweiten die Größe und ihre klarere Vorstellung. Man wird nicht behaupten können, daß diese Unterscheidungen für die Anfänge der Ästhetik besonders fruchtbar gewesen sind. Der Grundfehler war der, daß den ästhetischen Erlebnissen als verworrenen doch immer ein Makel anhaften blieb. Man suchte ihn zu beseitigen und kam dann auf Bestimmungen wie die von der Vielzahl der Teile in einer Vorstellung, wodurch die Gefahr entstand, daß der ästhetische Eindruck seine Geschlossenheit verlor. Ebenso verwirrend mußte die Mischung psychologischer und logischer Bestimmungen wirken. Es fehlte die unvoreingenommene Beobachtung und Analyse der sensitiven Vorstellungen. Immerhin machte Baumgarten mit seinem Gedanken von der extensiven Klarheit doch einen Anfang in dieser Richtung, während der der intensiven recht unbestimmt blieb. Es war nicht einzusehen, warum Lebhaftigkeit für die extensive Klarheit als spezifisch angesehen werden sollte, obgleich sie doch ebenso der Stärke der Eindrücke zukam. Was darunter zu verstehen sei, wurde nicht deutlich gesagt, vielmehr mußten Bilder aushelfen. Kant hat die soeben genannten Begriffe in seiner Vorlesung behandelt, zum Teil durch kurze Erläuterungen, zum Teil durch Beispiele. Für uns kann es sich nur darum handeln, Reflexionen zu verwerten, die eine Beziehung zur Ästhetik enthalten. Es sind nicht allzu viel. Außer der anfangs zitierten Refl. 2387. stammen noch einige andere aus dieser frühesten Phase. Refl. 2364 gehört zu § 135, in dem Meier, wie oben angegeben, den Unterschied der beiden Arten der Klarheit erörtert. Dazu Kant: „Eine Lebhaftigkeit der Erkenntnis ist vornehmlich, wenn man sie dem Eindruck der Sinne ähnlich macht und alle verschiedenen Merkmale derselben durch sinnliche Vorstellungen ausdrückt." Zu „der Stärke nach klarer" gibt er das Beispiel: „So ist die Vorstellung der roten Farbe intensive klarer als die von Seladon [zartes Grün]. Ein Bild, in dem die Farben sehr licht sind." Meier hatte als Beispiel gegeben: „der melodiereiche Gesang der Nachtigall läuft tönend durch die Täler"..Es ist offensichtlich, daß Kant einfache Tatsachen zur Erläuterung wählte und dem Gedanken von den Intensität einen klaren Ausdruck gab. Schließlich unterscheidet er auch noch: [Erkenntnis] „von der Seele ist intensive klarer, vom Körper extensive".

Ästhetik und Logik

29

Mehrfach beschäftigt sich Kant mit dem Unterschied von klar und deutlich, ohne wesentliche Abweichung von der Überlieferung. Ich führe nur Refl. 2347 an: „Die Erkenntnis der Farben ist ausführlich klar, aber nicht gänzlich klar, denn in den Farben unterscheide ich nichts voneinander, dieses gehört zur Deutlichkeit. Die intensive Größe der Klarheit gehört zur Deutlichkeit." Leider fehlen Reflexionen, die mit Sicherheit in die Zeitspanne von 1755-1769 eingeordnet werden können. Vielleicht in diese Zeit ist der Anfang von Refl. 2367 zu setzen: „Daher ist Lebhaftigkeit aus der Sinnlichkeit, aus dem Interesse, aus der extensiven Größe." Das gleiche gilt für die sehr wichtige Refl. 2368. „Extensive Klarheit durch äußere Merkmale, intensive durch innere, jenes durch koordinierte, dieses durch subordinierte. Jenes: ausgebreitete, dieses tiefe Klarheit. Mangel der ersten: Trockenheit, der letzten: Seichtigkeit. Jener Vorzug: ästhetisch, dieses: logisch. Es ist unmöglich, die Erkenntnis auf einer Seite vollkommen zu machen, ohne auf der andern einzubüßen." Diese Sätze, auch wenn sie nicht sicher zu datieren sind, haben doch die große Bedeutung, daß sie die übernommenen Unterscheidungen aus der ihnen anhaftenden Unbestimmtheit herausheben und sie auf einen klaren Gegensatz bringen: coordinatio und subordinatio. Mit ihm wird sich die weitere Darstellung noch zu beschäftigen haben. In Refl. 2387 hatte Kant von den „schönen Wissenschaften" gesprochen und hinzugesetzt: Aesthetica. Es wurde schon bemerkt, daß wir daraus nicht sicher schließen können, daß er Baumgartens Anschauungen teilte. Dieser hatte, den Anregungen Bilfingers folgend, in den „Meditationes" folgende Definition der neuen Wissenschaft gegeben: „scientia, quae facultatem cognoscitivam inferiorem dirigat." In Ausführung dieses Planes dachte er an einen ersten Teil, der eine Art Methodenlehre der empirischen, auf die Sinnenerkenntnis gestützten Forschung sein sollte; ein zweiter hatte dann die Künste zum Gegenstande, die sich mit dem lebhaften Vortrage hauptsächlich beschäftigen. Diese Themastellung rechtfertigte wohl die Bezeichnung als Wissenschaft. Auch nach Aufgabe dieses Planes hielt er daran fest und definierte in seinem Hauptwerk5 „Aesthetica (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulchre cogitandi, ars analogía rationis) est scientia cognotionis sensitivae" (§1). In § 5 macht er sich dann selbst den Einwand, diese Ästhetik sei dasselbe wie die critica. Diesen Namen will er aber auch auf die Logik anwenden. Es gibt eine critica lógica und „quaedam critices species est pars aesthetices". Wie dies gemeint ist, kann man aus § 607 der Metaphysik entnehmen, wo die aesthetica critica als ars formandi gustum, sive de sensitive dijudicando et judicium suum proponendo bezeichnet wird. Baumgarten ist also der Meinung, daß die Ästhetik sich nicht nur mit dem Geschmacksurteilen zu beschäftigen habe. Den Grund sieht man ein, wenn man an die Definition der Schönheit als perfectio phaenomenon denkt. In diesem Sinne spricht sich auch G. Fr. Meier aus, wenn er in § 3 seiner „Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften", den Standpunkt seines Lehrers mit der Begründung verteidigt, die Ästhetik habe zu ihrem Gegenstande 1. die Regeln der Volkommenheiten und Schönheiten überhaupt

30

Logik - Ästhetik - Psychologie

und 2. die Lehre von der Seele und insonderheit von der Natur der untern sinnlichen Erkenntnisvermögen. Verhältnismäßig früh hat K a n t die Frage nach dem wissenschaftlichen Charakter der Ästhetik untersucht, und wir können aus den sechsiger Jahren eine ganze Fülle von Reflexionen verwerten, welche dies Thema behandeln. Maßgebend muß dabei die leider nur kurz gehaltene Äußerung in der „Nachricht" sein, die die Feststellung einer Gemeinschaft und andererseits einer Verschiedenheit zwischen Logik und Ästhetik enthält. Wichtig ist, die pädagogische Absicht der Vorlesung noch einmal zu betonen. Sie sollte der Bildung der gesunden Vernunft dienen. Soweit K a n t nun ästhetische Lehren in seinen Vortrag aufnahm, sollten diese die Bildung des Geschmackes durch Kritik der Vorurteile und Irrtümer fördern. Ihr Charakter als Kritik ist eigentlich dadurch schon ausgesprochen. W a s das bedeutet, wird nun klar, wenn wir den Gegensatz zwischen Wissenschaft und Kritik erläutern. K a n t sprach von einer Logik der Gelehrsamkeit. Diese ist ein Organon, ein Gebäude der Vernunft. Eine Darstellung der weiteren Entwicklung der Begriffsbestimmungen zur Logik hätte zu zeigen, wie die Bezeichnung als Organon für diese später abgelehnt wird, als K a n t die Einsicht in den rein formalen Charakter der Logik gewann und in der „ K r i t i k der reinen Vernunft" den Versuch, ein System der reinen Vernunft zu liefern, ablehnte. Die Logik wird nun nur noch Kanon genannt. Dieser Hinweis zeigt aber, was es bedeutete, wenn K a n t in den jetzt für uns in Betracht kommenden Reflexionen den Unterschied zwischen Logik und Ästhetik darin sah, daß jene Kritik und Organon, diese aber nur Kritik genannt wurde. Hier können einige Reflexionen verwertet werden. A m umfassendsten ist Refl. 1579 (aus den sechziger und siebziger Jahren) „Logic als ( e Critic und) Disziplin (s und Critic) der gesunden Vernunft; und als eine Doktrin der Gelehrten: ein Organon. Ihre Prinzipien sind a priori (weil sie [eine] Regeln des Verstandes enthalten). Also ist es eine Philosophie und eine Wissenschaft. Die Ästhetik dient als Critic, weil die principia a posteriori hergenommen, also nicht genetisch sind, die Logik als Organon." A n einer späteren Stelle heißt es: „Geschmack erlaubt nur critic von schönen Wissenschaften." Und in Anspielung auf die Logik: „Unterschied von der Critic des Geschmacks, deren principia von den Unterscheidungen in concreto entlehnt sind und a posteriori." Abschließend mag Refl. 1588 (siebziger Jahre) zitiert werden: „Schöne Künste erlauben nur critic. Home. Daher keine Wissenschaft des Schönen." Damit stimmt Refl. 1585 (siebziger Jahre) überein, wo es heißt: „ E s gibt keine Theorie des Geschmacks. E s sind ästhetische Beobachtungen, aber nicht dogmata. Ihre Regeln sind nicht durch die Vernunft, sondern den Geschmack befestigt." Zur Ergänzung können Sätze dienen, die Jäsche in seiner Ausgabe der Kantischen Logik in der Einleitung unter Nr. 5 mitgeteilt hat. Ich zitiere hier nur die historische Anmerkung: „ D e r Philosoph Baumgarten in Frankfurt hatte den Plan zu einer Ästhetik als Wissenschaft gemacht. Allein richtiger hat

Ästhetik und Logik

31

Home die Ästhetik Kritik genannt, da sie keine Regeln a priori gibt, die das Urteil hinreichend bestimmen, wie die Logik, sondern ihre Regeln a posteriori hernimmt, und die empirischen Gesetze, nach denen wir das Unvollkommenere und Vollkommenere (Schöne) erkennen, nur durch die Vergleichung allgemeiner macht." Daß diese Sätze aus einer früheren Epoche stammen, ist einleuchtend, auch wenn eine genauere chronologische Fixierung nicht möglich ist. Die Nennung Homes genügt aber. Bedeutsam ist die Verwertung des Volkommenheitsgedankens, denn er ist es ja, der seit Baumgartens Formulierung in den „Meditationes" und dann in der Aesthetica (§ 14 perfectio cognitionis sensitivae) imMittelpunkt der ästhetischen Problematik steht. Auch hier muß der Ausgangspunkt von Meiers Kompendium genommen werden. Dieser geht aus von einer Unterscheidung zwischen ästhetischer und logischer Vollkommenheit. „Drei Forderungen muß eine vernünftige Erkenntnis (cognitio rationalis) erfüllen: 1. eine Erkenntnis einer Sache, 2. eine Erkenntnis ihres Grundes, und 3. eine deutliche Erkenntnis des Zusammenhanges der Sache mit ihrem Grunde" (§17). Davon ist unterschieden die gemeine oder historische Erkenntnis, die als „nicht vernünftig" charakterisiert wird (§ 18). § 19 bringt dann eine Definition: „Eine vollkommenere historische Erkenntnis ist eine schöne Erkenntnis (cognitio pulcra, aesthetica), und die schönen Wissenschaften beschäftigen sich mit den Regeln, durch deren Beobachtung die historische Erkenntnis verschönert wird." Es fragt sich nun, worin diese Vervollkommnung oder Verschönerung besteht. Die Antwort wird mit Hilfe des überlieferten Vollkommenheitsbegriffes gegeben: § 22. „Wenn das Mannigfaltige in einer Erkenntis zu einer Absicht übereinstimmt, oder den hinreichenden Grund von derselben enthält: so besteht darin die Vollkommenheit der Erkenntnis (perfectio cognitionis). Die Vollkommenheiten der Erkenntnis finden entweder in ihr statt, insoferne sie deutlich oder insoferne sie undeutlich ist. Jene werden die logischen Vollkommenheiten der Erkenntnis (perfectio cognitionis logica), und diese die Schönheiten derselben genannt (pulcritudo et perfectio aesthetica cognitionis). Zum Exempel die mathematische Gewißheit ist eine logische Vollkommenheit, und die malerische Lebhaftigkeit eine Schönheit der Erkenntnis." Eine unvollkommene ästhetische Erkenntnis wird eine Häßlichkeit (deformitas) genannt, zum Exempel das Säuische und Zotenmäßige in den Alltagsscherzen. Nachdem dann die in der Inhaltsübersicht angegebenen Momente der Vollkommenheit aufgezählt sind, wird nach der Nützlichkeit der beiden Arten gefragt. Das Ideal ist eine gelehrte Erkenntnis, welche zugleich schön ist. „Da sie zugleich allen Schaden der bloß gelehrten und der bloß schönen Erkenntnis verhütet: so ist sie unter allen Arten der menschlichen Erkenntnis die nützlichste und brauchbarste Erkenntnis" (§ 40).

Kants Betrachtungen knüpfen nun an § 19 an. Von größtem systematischem Interesse ist Refl. 1748 (um 1755). „Eine sinnliche Beurteilung der Vollkommenheit heißt Geschmack. Eine Erkenntnis, die von der sinnlichen Urteilskraft als vollkommen erkannt wird, heißt ästhetisch. Gothischer Geschmack.

32

Logik - Ästhetik - Psychologie

Die Zusammenstimmung der Mannigfaltigen in einer Sache zu einer gemeinschaftlichen Absicht heißt Vollkommenheit. Wenn alles zusammenstimmt den Regeln der untern Erkenntniskräfte gemäß, so ist es ästhetisch vollkommen. Das heißt wenn die Zusammenstimmung erkannt wird bloß durch die sinnlichen Kräfte. Und also das Vergnügen aus den niederen Kräften erregt wird, zum Beispiel die Kenntnis der epischen Gedichte, des Malerischen in der Beschreibung. Wird es durch die höheren Kräfte entdeckt, so macht's auch ein Vergnügen, aber ein deutliches, welches bisweilen nicht so reizend ist. Was Geschmack sei, Geschmackslehre?" Nebenbei sei bemerkt, daß Kant sich in der Definition der Vollkommenheit genau an Wolfis § 152 der Metaphysik anschließt. Weiter zu erörtern ist die Unterscheidung zwischen logischer und ästhetischer Vollkommenheit. Zur Charakteristik dienen die Merkmale der Deutlichkeit und Klarheit. So heißt Refl. 1766 (um 1755) „Die Deutlichkeit betrifft das Formale der Erkenntnis; in der ästhetischen braucht sie nur klar zu sein." Ebenso vergleicht logische und ästhetische Vollkommenheit Refl. 1753 (um 1755): „Bei jeder Vollkommenheit ist eine Regel oder Absicht, zweitens eine Zusammenstimmung zu derselben anzutreffen. Man hat bei dem Erkenntnisse vornehmlich zwei Absichten: sich zu belehren, oder zu vergnügen oder beides zusammen. Das erste wird bloß durch deutliche Einsichten erlangt, das zweite auf zweierlei Art: entweder durch die Schönheit des Objekts oder die Annehmlichkeit des Vortrags. Diese letztere, weil sie durch vollkommen deutliche Vorstellungen nicht kann erlangt werden, ist die ästhetische Vollkommenheit des Erkenntnisses." Zur Ergänzung mag Nr. 2386 (um 1755) dienen, wo es heißt: „eine Erkenntnis, die undeutlich ist, kann doch klar sein." Bei der Vergleichung der beiden Arten der Vollkommenheit zeigt es sich, wo Kants Sympathien zu suchen sind: Refl. 1753 (um 1755) besagt darüber weiter: „Die deutliche Erkenntnis hat ohne die ästhetische Beihilfe bloß durch die Reizung des Objekts durch die logische Vollkommenheit, d. h. die Richtigkeit und Ordnung, wie es betrachtet wird, so eine Quelle des Vergnügens in sich, die alles Ästhetische sowohl an Größe als an Dauer übertrifft. Archimedes Vergnügen beim Bade. Keplers6 bei Erfindung eines Satzes. Die Ästhetik ist nur ein Mittel, die Leute von gar zu großer Zärtlichkeit an die Strenge der Beweise und Erklärungen anzugewöhnen. So wie man Kindern den Rand des Gefäßes mit Honig beschmiert." Ebenso spricht sich Refl. 1773 (um 1755) aus, wobei ein Vergleich mit § 34 des Meierschen Auszuges zeigt, daß Kant eine entschiedenere Fassung wünschte. „Wenn die Regeln der Schönheit und logischen Vollkommenheit einander widerstreiten, so behält die letztere Platz, aber nach der Absicht, die man damit hat." Die Unterscheidung zwischen logischer und ästhetischer Wahrheit war ein beliebtes Thema der Poetik und allgemeinen Ästhetik. Gottsched und Bodmer handelten ausführlich von ihr, mit Einschluß der Frage nach dem Rechte des Wunderbaren in der Poesie; Baumgarten und Meier widmeten der Frage aus-

Ästhetik und Logik

33

führliche Erörterungen. Man versuchte zu entscheiden, wie weit der Dichter von der Wirklichkeit abweichen dürfe. Meier erörtert in § 106 des Kompendiums diesen Gegensatz, gibt allerdings nur zwei nichtssagende Definitionen. Daß Kant in seiner Logikvorlesung dies Thema auch berührt, zeigt Reil. 2197 (1764-1769). Es heißt dort: „Wenn es auf den Grund der Wahrheit ankommt, so ist's entweder nach logischen Regeln wahr entweder nach ästhetischen Regeln wahr entweder nach moralischen: praktischer Beifall." Leider geben diese Worte und andere Reflexionen nicht genügenden Aufschluß, da es zweifelhaft bleibt, was Kant unter „ästhetisch wahr" verstand, es scheint beinahe so, als ob er „ästhetisch" mehr im allgemeinen Sinne, so hier also aus der Sinnlichkeit stammend, genommen habe. Hier gibt einen gewissen Ersatz die von Schlapp in die Nähe des Jahres 1771 datierte Nachschrift Blomberg. Die Vermutung, daß K a n t auch schon früher in seinen Vorlesungen den genannten Unterschied behandelte, ist wohl kaum abzulehnen. „Was alle Menschen sagen, ist wahr nach den Regeln des Geschmacks" auf Grund des allgemeinen Konsensus, oft aber falsch nach Vernunftregeln. Ästhetisch wahr ist, „was den Regeln des Geschmacks gemäß ist und mit den Regeln der Erscheinung übereinstimmt". Vieles kann ästhetisch, aber nicht logisch wahr sein, z. B. Romane. Die ästhetische Wahrheit ergötzt und rührt uns, und dabei kann die logische etwas nachgeben. Oft gefällt uns Wahrheit weniger als Lüge. Die Fiktion des Malers, der nicht die Natur zugrunde legt, rührt und vergnügt oft am meisten. Bei den Fabeln, in denen Tiere reden, stellt man etwas als möglich vor. Ästhetische Wahrheit muß tolerabiliter wahr sein, z. B. Miltons streitende Engel im verlorenen Paradies, „denn wer weiß, ob dieses nicht stattfinden kann?" Den Grad der logischen Wahrheit, mit. dem die ästhetische verbunden sein muß, hat noch kein Gelehrter und auch der größte Ästhetiker nicht bestimmen können. Poeten darf man nicht mit der „Goldwaage der Logik prüfen, sonst tut man ihnen Unrecht" (a. a. O., S. 57f.). Auch aus diesen Sätzen geht hervor, daß Kant zuerst von der Geltung der Geschmacksurteile überhaupt spricht und sie als ästhetisch wahr in dem Sinne bezeichnet, daß in ihnen nur die allgemeine Meinung zum Ausdruck kommt. In diesem Sinne ist wohl der Satz aus Reil. 2239 (1760-69) zu verstehen: „Sprüchwörter sind ästhetisch wahr." Dann aber behandelt er das oben charakterisierte Problem und gesteht dem Dichter ein Recht zu, von der Wirklichkeit abzuweichen. Die Gründe für dies Zugeständnis sind die gleichen wie bei der Unterscheidung der beiden Arten von Vollkommenheit. Kant tritt also im Sinne Baumgartens für das Recht der Sinnlichkeit ein. Unter den Begriffen, deren Entwicklung bis zum Hauptwerk verfolgt werden muß, spielt der der Urteilskraft eine besonders wichtige Rolle. Anzuknüpfen ist auch hier an die Terminologie von Wolff und Baumgarten. Der erstere zählt drei operationes mentis auf: apprehensio, judicium, discursus (Logica § 52), das zweite wird dann unterschieden in ein judicium intuitivum und discursivum 3 Menzer, Kants Ästhetik

Logik - Ästhetik - Psychologie

34

(dianoeticum); (ibid. § 51). B a u m g a r t e n handelt von dem Judicium, das er „ d a s Vermögen z u beurteilen" nennt, zuerst innerhalb der Lehre v o n der facultas cognositiva inferior. E i n Zufall will es nun, d a ß wir ein loses B l a t t aus frühester Zeit (Refl. 403) besitzen, das § 606 der „ M e t a p h y s i k " interpretiert und als Beispiel für die „schriftlichen E r l ä u t e r u n g e n " (I, 503) gelten kann, die K a n t

zu

dem T e x t seines Autors gab. Z u m Verständnis m u ß noch der erste S a t z des K o m p e n d i u m s zitiert werden: Perfectionem imperfectionemque rerum percipio i. e. diiudico (ich beurteile). D a z u bemerkt K a n t : „ W e n n m a n nicht allein die Verschiedenheit oder Übereinstimmung der Dinge bemerkt, sondern auch, wie viele z u einem übereinstimmen u n d davon den Grund enthalten: so erkennt m a n die Vollkommenheit. Dieses heißt beurteilen." A l s Beispiele f ü r diese Beurteilung durch die „untere E r k e n n t n i s k r a f t " dienen: der Vogel, der ein passendes Nest findet, und der Hund, der auf dem besten W e g e dem W i l d e nachsetzt. Diese Leistung setzt eingepflanzte Triebe voraus. E t w a s anderes ist es, den Grund v o n Vorgängen zu wissen; dazu ist E r f a h r u n g nötig. I m A n s c h l u ß an seinen A u t o r unterscheidet K a n t dann noch ein praktisches, ein theoretisches judicium u n d eine durchdringende Urteilskraft. Leider ist nicht mehr erhalten, das ist um so mehr z u bedauern, als nun § 607 folgt, dessen wichtigster I n h a l t hier angegeben werden m u ß : „ I u d i c i u m sensitivum est gustus significatu latiori (der Geschmack in weiterer B e d e u t u n g ; sapor, palatum, nasus), critica latissime dicta est ars dijudicandi. Hinc ars formandi gustum, sive de sensitive dijudicando et judicium suum proponendo est aesthetica critica. Iudicio intellectuali gaudens est criticus significatu latiori, unde critica significatu generali est scientia regularum de perfectione vel imperfectione distincte iudicandi." Leider fehlen uns Bemerkungen K a n t s z u dieser Stelle, aber wir haben einen E r s a t z in Refl. 1748 (um 1755/56), deren erste Sätze hier noch einmal zitiert werden sollen: „ E i n e sinnliche Beurteilung der Vollkommenheit heißt Geschmack. Eine Erkenntnis, die v o n der sinnlichen Urteilskraft als vollkommen erkannt wird, heißt ästhetisch." V o n einem Ersatz kann deshalb gesprochen werden, weil K a n t damit § 19 des Meierschen K o m p e n d i u m s erläutert, w o z u m erstenmal von einer schönen Erkenntnis die Rede ist, die sehr unbestimmt als eine „ v o l l kommenere historische" bezeichnet wird. U n d diese Erläuterung geschieht ganz im Sinne des § 607. E s ist also festzustellen, daß K a n t schon z u Beginn seiner ästhetischen B e trachtungen im Anschluß an B a u m g a r t e n den Gedanken einer sinnlichen Urteilskraft, oder

richtiger

Beurteilungskrajf,

kennt. U n d diese, insofern sie doch

schon nach dem Prinzip der Vollkommenheit beurteilte, hatte eine Tendenz z u einem über die Sinnlichkeit hinausreichenden Prinzip. Z u beachten ist auch, w a s K a n t über das Bemerken der Übereinstimmung sagt. Man k a n n also darin ohne eine gewaltsame Interpretation den K e i m zur Lehre v o n der reflektierenden Urteilskraft sehen. Allerdings ist ein sehr wichtiger Unterschied z u bemerken. Bei der Beurteilung der Frühzeit handelte es sich um eine Fähigkeit des unteren Erkenntnisvermögens, später des oberen. Diese Urteilskraft kennen B a u m g a r t e n u n d K a n t schon, wie § 606 zeigt, w o von dem judicium intellec-

Ästhetik und Psychologie

35

tuale die Rede ist (vgl. auch § 641). Das ist das Vermögen zu urteilen, wozu Begriffe erfordert werden. Überblickt man diese ästhetischen Reflexionen in ihrer Gesamtheit, so ist zuerst festzustellen, daß ihre Zahl nicht so sehr groß ist. Sie beschränken sich im allgemeinen auf die Erörterung einiger Grundbegriffe und sind also wirklich nicht viel mehr als Seitenblicke. Man braucht nur einmal die wortreichen Erklärungen, wodurch Meier seinem Vortrag Anmut zu verleihen sucht, zu vergleichen, um einzusehen, wie sehr sich Kant auf Grenzfragen beschränkte und an seinem Hauptthema, der Logik, festhielt. Dies ist auch später so geblieben, wie die Vorlesungshefte zeigen. E s wäre nun falsch, die ursprüngliche Zuordnung der Ästhetik zur Logik in ihrer Bedeutung zu unterschätzen. Darin drückte sich die wichtige Tatsache aus, daß Kant im Sinne Baumgartens die Ästhetik in ein System der Philosophie eingliederte. Über das Wie war er sich sicher nicht klar, aber die Forderung erkannte er an, und diese blieb bestehen. Dabei ist unerheblich, ob er der Ästhetik den Charakter als Wissenschaft zugestand oder sie nur als Kritik behandelt wissen wollte. Ein Teil der Logik war ja auch Kritik. Also - die Ästhetik war eine Angelegenheit, die den Philosophen etwas anging. Ein charakteristisches Wort, allerdings aus späterer Zeit, mag dies bekräftigen: „Der selbst schöne Produkte hervorbringen kann, tut besser, wenn er sich um sie bewirbt, als darüber philosophieren. Dieses überlasse er dem Denker" (Refl. 852 um 1776-78). E s konnte gezeigt werden, daß Kants ursprüngliche ästhetische Lehren aus dem Gedankenkreis Baumgartens und Meiers stammten. Dabei ist natürlich die Einschränkung zu machen, daß wir nicht wissen, ob die Interpretation, die er dem Text des Autors gab, zugleich Zustimmung bedeutete. Aber schon die Feststellung ist wichtig, daß er die Begriffe der neuen Wissenschaft erörterte und ihnen größere Bestimmtheit zu geben versuchte. Ich gebe noch einmal die wichtigsten Themen an: die logisch-psychologischen Begriffe von Klarheit und Deutlichkeit, besonders die wichtige Unterscheidung zwischen Extensität und Intensität, der Charakter der Ästhetik als Wissenschaft, ästhetische und logische Vollkommenheit und ebenso Wahrheit, der Begriff der Urteilskraft. Kants Haltung ist im wesentlichen eine kritische. E r war nicht geneigt, die Grenzen zu verwischen. Schon jetzt drückte sich diese Eigentümlichkeit seines Denkens aus. Der Anmut gab er kein größeres Recht. Es war sein klar gesehenes Ziel, den Geist seiner Zuhörer in die Zucht strengen Denkens zu nehmen.

II. Ä S T H E T I K U N D P S Y C H O L O G I E Das zweite Interesse, das Kant zur Ästhetik führte, kann man ein psychologisches nennen. Diese Charakteristik ist erst vorläufig und unbestimmt. Nur aus einer Unterscheidung der verschiedenen Quellen, aus denen jenes Interesse abzuleiten ist, kann später ein richtiges Verständnis seiner Eigenart und damit seines Einflusses gewonnen werden. Diese Quellen sind: 3*

36

Ästhetik und Psychologie

1. Die empirische Psychologie als ein Teil der Vorlesung über Metaphysik (nach der 4. Auflage von Baumgartens „Metaphysica" 1757). 2. Kants Streben nach Welt - und Menschenkenntnis. 3. Die englische psychologische Ästhetik und Rousseaus Gefühlsphilosophie. Die Psychologia empirica war von Chr. Wolf in das System eingegliedert worden. Im Kap. III des „Discursus praeliminaris"8, der den Titel „De partibus philosophiae" führt, nennt er als „Entia", die wir erkennen: „Deus, animae humanae und corpora". § 58 erhalten wir dann die Definition: „Est Psychologia scientia eorum, quae per animas humanas possibilia sunt". Ausdrücklich weist er auf seine bekannte Definition der Philosophie zurück. Ergänzend muß aber § 31 hinzugezogen werden, der erklärt: „ I n philosophia reddenda est ratio, cur possibilia actum consequi possunt" oder auch: „ratio, quomodo ea, quae fieri possunt, actu fiant." Während die erste Begriffsbestimmung eigentlich nur auf die Psychologia rationalis paßt, läßt sich die zweite auf die empirische anwenden. Es ist nur nötig hinzuzufügen, worin der Unterschied der Methode beider liegt. Die erstere leitet alles ,,ex unico animae humanae conceptu" ab, die empirische Psychologie ist aber „scientia stabiliendi principia per experientiam, unde ratio redditur eorum quae in anima humana fiunt". Ausdrücklich betont Wolff, daß die empirische Psychologie wie die Physica experimentalis zur philosophia experimentalis gehören, nicht zur Geschichte, und zwar deshalb, weil sie nach der „ratio" fragen (§ i n ) . Das Verhältnis der beiden Psychologien zueinander wird nun dahin bestimmt, daß die psychologia rationalis führend, die empirica dienend ist. Sie „suppeditat empirica principia rationali" oder „inservit examinandis et confirmandis iis, quae de anima a priori eruuntur". Von der Bedeutung der empirischen Psychologie für die rationalen Wissenschaften ist Wolff überzeugt; sie liefert die empirischen Prinzipien der Logik, dem Naturrecht, der natürlichen Theologie, der praktischen Philosophie und Politik. Baumgarten schließt sich an Wolff an und teilt die Metaphysik in die Ontologie, Kosmologie, Psychologie und Theologie. Sie ist ihm die „scientia primorum in humana cognitione principiorum". Die Psychologie gehört zur Metaphysik, da sie die Prinzipien der Theologie, Ästhetik, Logik und der praktischen Wissenschaften enthält. Sie handelt de animae existentia et facultatibus, und zwar die cognoscitiva und appetitiva, schließlich de commercio cum corpore. In diesem Rahmen hat Kant nun zum erstenmal im Wintersemester 1756 die Psychologie behandelt. Leider fehlt uns jedes Material, um uns ein Bild davon machen zu können. Ästhetische Betrachtungen werden wohl nicht gefehlt haben. Es wird sich noch zeigen, daß das Kompendium an verschiedenen Stellen dazu Anlaß gab. Viel fruchtbarer als diese der Schule entsprechende Behandlung mußte aber das zur gleichen Zeit beginnende Interesse an Welt- und Menschenkenntnis sich auswirken. Einen Beitrag zur empirischen Naturlehre hatte Kant zuerst in seinen Vorlesungen über physische Geographie gegeben, und im Zusammenhang dieser

Ästhetik und Psychologie

37

tritt zuerst ein anthropologisches Interesse auf. In dem „Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie" vom Jahre 1757 wendet sich Kant an den „vernünftigen Geschmack unserer aufgeklärten Zeiten"; er will anstatt von Hirngespinsten und Fabeln „aus beglaubigten Zeugnissen sichere Kenntnisse einziehen". Es wird eine mathematische, politische und eine physikalische Geographie unterschieden. Die letztere, Kants Thema, behandelt die Naturbeschaffenheit der Erdkugel und in ihrem besonderen Teil die drei Reiche: Tierreich, Pflanzenreich, Mineralreich. Im ersteren wird „der Mensch nach dem Unterschiede seiner natürlichen Bildung und Farbe in verschiedenen Gegenden der Erde" betrachtet. Am Schluß will Kant in geographischer Lehrart alle Länder der Erde durchgehen, „um die Neigungen der Menschen, die aus dem Himmelsstriche, darin sie leben, herfließen, die Mannigfaltigkeit ihrer Vorurteile und Denkungsart, insofern dieses alles dazu dienen kann, den Menschen näher mit sich selbst bekannt zu machen, ... darzulegen". Es ist also deutlich, wie hier neben dem geographischen Interesse sich ein anthropologisches geltend macht, das sich nach späteren Einteilungen besonders auf die Rassenlehre und die Nationalcharaktere erstreckt. Man darf wohl die Folgerung ziehen, daß es auf die Dauer weder im Rahmen der physischen Geographie noch in dem der empirischen Psychologie befriedigt werden konnte. Dies Mißverhältnis mußte nun zunehmend stärker sich geltend machen, als Kants anthropologischpsychologisches Interesse und damit der zu behandelnde Stoff zunahm. Als wichtigste Quellen der Anthropologie nennt er Lokalkenntnis (Stadt und Landesgenossen) , Reisebeschreibungen und als Hilfsmittel Weltgeschichte, Biographien, ja Schauspiele und Romane. Das psychologische Interesse erfuhr aber eine Erweiterung durch die englisch-französische Psychologie und eine Vertiefung durch Rousseau. Es ist schon geschildert worden, wie zu Beginn der sechziger Jahre Kants geistige Bildung eine außerordentliche Bereicherung erfuhr. Die „Beobachtungen" und die Vorlesungen über Anthropologie geben ein lebendiges Bild von der Vielseitigkeit des Gebotenen. Nirgends hat sich Kant so frei geäußert, nirgends ist sein Vortrag so lebendig und reich als in diesen Vorlesungen. Es gab eben keine Grenze für das Studium des Menschen und ebensowenig eine Beengung durch eine Systemforderung, wie sie doch die Vorlesungen über Logik zu erfüllen hatten. Es ist wohl klar, daß diese anthropologische Psychologie sich mit der dienenden Stellung im Sinne der alten Metaphysik nicht mehr begnügen konnte. Dafür gibt uns die „Nachricht" ein sehr interessantes Zeugnis. Hier finden wir eine Übersicht über das metaphysische Kolleg, und es wird unter Berufung auf die Preisschrift erklärt: „Ich fange - nach einer kleinen Einleitung von der empirischen Psychologie an, welche eigentlich die metaphysische Erfahrungswissenschaft vom Menschen ist; denn was den Ausdruck der Seele betrifft, so ist es in dieser Abteilung noch nicht erlaubt zu behaupten, daß er eine habe." Ebenso will er in der Ethik von „der Natur des Menschen, die immer bleibt", ausgehen. Eine charakteristische Änderung bedeutet es wohl auch, wenn jetzt die physische Geographie in eine physische, moralische und politische eingeteilt wird.

38

Ästhetik und Psychologie

Aus alledem geht hervor, daß sich die Einführung einer selbständigen Vorlesung über Anthropologie kaum noch vermeiden ließ. Man kann sich darüber wundern, daß dies nicht schon früher geschah, denn erst im Wintersemester 1772/73 hat Kant zum erstenmal über Anthropologie gelesen. Etwa ein Jahr später, in dem nach der in ihm enthaltenen Zeitangabe gegen Ende 1773 zu datierenden Brief an Marcus Herz, spricht sich Kant deutlich über seinen Plan aus: „Die Absicht, die ich habe, ist durch dieselbe die Quellen aller Wissenschaften, die der Sitten, der Geschicklichkeit des Umganges, der Methode Menschen zu bilden und zu regieren, mithin alles Praktische zu eröffnen. Da suche ich alsdann mehr Phaenomena und ihre Gesetze als die ersten Gründe der Möglichkeit der Modifikation der menschlichen Natur überhaupt ... Ich bin unablässig so bei der Beobachtung selbst im gemeinen Leben, daß meine Zuhörer vom ersten Anfange bis zu Ende niemals eine trockene, sondern durch den Anlaß, den sie haben, unaufhörlich ihre gewöhnliche Erfahrung mit meinen Bemerkungen zu vergleichen jederzeit eine unterhaltende Beschäftigung haben. Ich arbeite in Zwischenzeiten daran, aus dieser in meinen Augen sehr angenehmen Beobachtungslehre eine Vorübung der Geschicklichkeit, der Klugheit und selbst der Weisheit vor die akademische Jugend zu machen, welche nebst der physischen Geographie von aller andern Unterweisung unterschieden ist und die Kenntnis der Welt heißen kann." Es ist hier nicht der Ort, auf den Zusammenhang hinzuweisen, in den diese Erklärungen innerhalb einer Geschichte der Kantischen Erkenntnistheorie gehören, es genügt, zu betonen, daß die Anthropologie die Phänomene darstellt und eine Beobachtungslehre sein will und damit praktisch pädagogische Ziele anstrebt. Das neue Kolleg mußte nun auf die Vorlesung über physische Geographie und empirische Psychologie im Rahmen der Metaphysik so wirken, daß die anthropologischen Teile herausgenommen wurden. Dafür gibt der Brief an Herz vom 20. Oktober 1778 die Bestätigung: „Empirische Psychologie fasse ich jetzo kürzer, nachdem ich Anthropologie lese." Eine Vorstellung von der Behandlung, die die empirische Psychologie im Rahmen des Metaphysikkollegs nunmehr erfuhr, kann vielleicht die Ausgabe der „Vorlesungen über die Metaphysik" von Pölitz (Erfurt 1821) geben. Diese Nachschrift dürfte um das Jahr 1780 anzusetzen sein. Kant spielt hier deutlich auf eine besondere Vorlesung über Anthropologie an, will aber der empirischen Psychologie nach dem Gebrauch noch einen Platz gönnen. Wir erhalten die Definition: „Psychologia empirica ist die Erkenntnis von den Gegenständen des inneren Sinnes, sofern sie aus der Erfahrung geschöpft ist" (S. 128). Die Einteilung geschieht nach den drei Seelenvermögen: Erkenntnisvermögen, Begehrungsvermögen, Vermögen der Lust und Unlust, die dann je in ein oberes und ein unteres zerfallen. Ästhetische Betrachtungen finden sich im Anschluß an die facultas fingendi und das an dritter Stelle genannte Vermögen. Sie werden in anderem Zusammenhang gewürdigt werden, hier sollte nur gezeigt werden, daß die empirische Psychologie innerhalb der Metaphysikvorlesung sich im wesentlichen auf eine summarische Übersicht über die Seelenvermögen beschränkt.

Ästhetik und Psychologie

39

Der Einfluß der englischen Psychologie und Ästhetik ist in die Entwicklung der Kantischen Philosophie der sechziger Jahre einzuordnen. Man pflegt dies Jahrzehnt erkenntnistheoretisch als Hinwendung zum Empirismus zu bezeichnen, die ihren schärfsten Ausdruck in den „Träumen eines Geistersehers" vom Jahre 1766 gefunden hat. Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die Probleme, welche die Entwicklung der Kantischen Erkenntnistheorie in ihren einzelnen Phasen bietet, darzustellen, es genügt, darauf hinzuweisen, daß die Einflüsse des englischen Empirismus um das Jahr 1762 von entscheidender Bedeutung waren. Zwar erschien in ihm noch der „Beweisgrund" als Folge eines langen Nachdenkens, in dem doch noch der Versuch gemacht wurde, im Sinne des alten Dogmatismus einen Beweis für das Dasein Gottes zu führen, aber wie eine Absage an solche Bemühung klingt es wohl, wenn Kant am Schluß des Buches erklärt, es sei durchaus nötig, daß man sich vom Dasein Gottes überzeuge, es sei aber nicht ebenso nötig, daß man es demonstriere. Und schon in der gegen Ende des gleichen Jahres ausgearbeiteten Preisschrift findet sich der Hinweis auf die englische Moralphilosophie, wo Kant auf eine Einsicht unserer Tage hinweist: „daß das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntnis, dasjenige aber, das Gute zu empfinden, das Gefühl sei." (II, 299.) Noch deutlicher ist die Bemerkung in der „Nachricht", wo Shaftesbury, Hutcheson und Hume genannt und ihnen nachgerühmt wird, sie seien in der Aufsuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit am weitesten gelangt. Dabei beruft sich auch hier Kant auf „die Natur des Menschen, die immer bleibt." (II, 311.) Betreffen diese Bemerkungen auch ausdrücklich nur das moralische Gefühl, so ist die Anwendung auf die Ästhetik doch von selbst gegeben und so findet sich auch die den Engländern eigentümliche Verbindung zwischen ästhetischer und ethischer Beurteilung in einer Wendung von der ursprünglichen Häßlichkeit unsittlicher Handlungen. (II, 300.) Die englische Ästhetik hat ihre Einheit nicht in einer systembildenden Grundidee, sondern in der Gleichheit ihrer Methode. Diese ist von Locke zuerst angewandt worden, und zwar zur Lösung der Probleme der Moral und der geoffenbarten Religion. Sie will unsere Fähigkeiten prüfen und dann unser Erkennen auf die durch sie erreichbaren Ziele lenken. Nach Ablehnung der Lehre von den angeborenen Ideen versucht Locke eine Geschichte der ersten Anfänge des menschlichen Wissens zu geben. Das ist nicht historisch, sondern psychologisch gemeint. Die Frage ist, wie der Mensch Vorstellungen erwirbt. Diese Anfänge können wirklich als Anfänge durch Selbstbeobachtung gefunden werden. Die so entdeckten Bewußtseinsinhalte sind unzerlegbare, letzte Elemente. Diese Analyse beginnt mit den Sinneswahrnehmungen, die je für die einzelnen Sinne untersucht werden. Die Verschiedenheit der Eindrücke ist von diesen und von den äußeren Gegenständen abhängig. Diese Subjektivität der Sinneswahrnehmungen stellt die Möglichkeit allgemeiner Erkenntnis in Frage, aber dies Problem wird nicht in seiner ganzen Bedeutung empfunden. Abgesehen von dem durch die äußeren Gegenstände verbürgten Wahrnehmungsgehalt, die „Tatsachen", liegt der Grund der Gemeinsamkeit der menschlichen Erkennt-

40

Ästhetik und Psychologie

nisse in der Gleichheit der menschlichen Natur. Hume legt diese Annahme seinem Erkennen und Fühlen behandelnden Hauptwerk zugrunde. Diese Methode findet nun ihre Anwendung auf die Tatsachen des Gefühlslebens. Hier gilt es, Elementargefühle des Guten und Schönen nachzuweisen. Die Moralphilosophie hat dabei die besondere Aufgabe, im Gegensatz zu Hobbes' Lehre von dem einen egoistischen Grundgefühl die Ursprünglichkeit altruistischen Empfindens aufzuweisen. Hier fand eine eigentümliche Wechselwirkung zwischen ethischer und ästhetischer Betrachtung statt. Diese Verbindung findet sich nun sogleich bei dem ersten und dem bedeutendsten englischen Ästhetiker, bei Shaftesbury. In der Methode von Locke abhängig, betont er die Selbstbeobachtung als Quelle allen Philosophierens. Durch sie versucht er die ursprünglichen Werturteile zu entdecken, die einem Instinkt vergleichbar, sich bei allen Menschen finden lassen. In der Ästhetik zeigt er an Urteilen über einfache geometrische Figuren diese Ursprünglichkeit. Wichtiger aber als solche Anregungen ist doch, daß er die Schönheit in der Form sah. Form ist Gestaltung durch Geist, alles Formlose ist häßlich. Diese Formen faßt er nicht als rationale, zu berechnende Einheiten auf, sondern als angeschaute, erfühlte und erlebte Gestalten, die Leben und Geist atmen. Das Gefühl für das Schöne wird ihm zum Weltgefühl. Aus ihm quillt das Gefühl für die Mitmenschen, für die Natur und schließlich Gott, in dem sich Wahrheit, Güte und Schönheit vereinigen. Wahrscheinlich ist Kants Weltansicht in der „Naturgeschichte" von Shaftesbury beeinflußt, wenn nicht direkt, so dann indirekt durch Popes Gedicht. Die späteren englischen Ästhetiker haben diese metaphysische Weltanschauung aufgegeben und sich mit einem Eudämonismus begnügt, der die Tatsache des Schönen als das Geschenk eines gütigen Gottes für den Menschen auffaßte. Dies gilt vor allem für Hutcheson1. Er fühlt sich als Interpret Shaftesburyscher Ideen, den er an Methode in der Darstellung übertrifft. An die Stelle rhapsodischer Ergüsse setzt er systematischen Aufbau, gedankliche Gliederung, die die Ideen gebrauchsfertiger, aber auch nüchterner machen. Sein geläuterter Eudämonismus will zwischen niederen und feineren Genüssen unterscheiden und auch dies in ihrer Bedeutung für das Glück des Menschen anerkannt wissen. Solche Gefühle sind: das für Schönheit und das moralische Gefühl. Beide sind dem Menschen natürlich. Das erstere ist ein leidendes Vermögen, „Ideen der Schönheit aus allen den Gegenständen zu empfangen, worin Einförmigkeit mit Mannigfaltigkeit verbunden ist." Weiter führt dann die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Schönheit. Die erstere wird ohne Vergleichung an den Werken der Natur, künstlerischen Gestalten und Figuren empfunden. Hier steigt Hutcheson von den einfachen Figuren zu denen, die Einförmigkeit und Mannigfaltigkeit zeigen, auf. Das größte Beispiel für diese Schönheit ist das Himmelsgebäude, aber Schönheit findet sich auch im Verhältnis der Teile eines Organismus zueinander. In diesem Sinne kann auch von der Schönheit der Lehrsätze gesprochen werden, wenn in einem Lehrsatz eine Fülle von Besonderem liegt, z. B. im Satz von der Schwerkraft im Lehrgebäude Newtons. Relative

Ä s t h e t i k und Psychologie

41

Schönheit entsteht bei Nachahmung eines Urbildes, wenn zwischen diesem und der Kopie Einförmigkeit entsteht, dabei braucht das Urbild selbst nicht schön zu sein, Hume lieferte einen wenig umfangreichen Beitrag zur Ästhetik in seinem Essay „Of the Standard of Taste", der 1757 in der Sammlung „Four Dissertations" und schon 175g in deutscher Übersetzung erschien. Hume glaubt also, daß es eine solche Regel gebe und will dies erweisen durch Mischung einigen Lichtes der Vernunft mit den Gefühlen (mingle some light of the understanding with the feelings of sentiment). Allerdings läßt sich eine solche Regel nicht a priori finden, ebensowenig haben aber die recht, die jede Gemeinschaft in den Geschmacksurteilen leugnen. Die dauernde Bewunderung einiger Dichter, wie zum Beispiel Homers, zeigt doch eine gewisse Übereinstimmung. Eine größere Sicherheit kann der Mensch für seine ästhetischen Urteile durch Verfeinerung, Übung und Vergleichung empfundener Schönheiten gewinnen. Vor allem muß man Vorurteile ablegen, sie verderben das sound judgement und den good sense. Man muß versuchen, als man in general zu urteilen. Auch lassen sich am Kunstwerk gewisse Ordnungen aufweisen, wie zum Beispiel Zusammenhang der Teile, der Zweck, in einer Dichtung a chain of propositions and reasonnings. So kommt Hume zu dem Ergebnis, daß die Prinzipien des Geschmackes allgemein sind. Die Erfordernisse für einen guten Geschmack lassen sich etwa so vereinigt denken: „Strong sense, united to delicate sentiment, improved by practice, perfected by comparison, and cleared of all prejudise, can alone entitle critics to this valuable character." Das gilt allerdings nicht ohne Einschränkung. Die Verschiedenheit in der Gemütsart der einzelnen und die verschiedenen Sitten und Meinungen einer Zeit führen doch immer wieder zur Ungleichheit der Geschmacksurteile. So verurteilt Hume von den Anschauungen seiner Zeit aus die Sitten der Homerischen Helden, vor allem aber Werke, die von religiöser Schwärmerei und Intoleranz zu stark beeinflußt sind. Das Ergebnis des Essay bleibt also unsicher. Burke ist der einzige Vertreter der englischen Ästhetik, mit dem sich Kant in der „Kritik der Urteilskraft" ausdrücklich auseinandersetzt. Er nennt ihn den vornehmsten Verfasser einer physiologischen Exposition der ästhetischen Urteile und kritisiert den vierten Teil der „Philosophical Enquiry into the origin od our Ideas of the Sublime and beautiful" (1756 u. ö., deutsche von Kant zitierte Übersetzung vom Jahre 1773), in welchem Burke nach den bewirkenden Ursachen des Erhabenen und Schönen fragt und unter Hinweis auf die nahe Verbundenheit von Leib und Seele die physiologischen Begleitvorgänge^ für die beiden ästhetischen Gefühle aufzuzeigen versucht. Solchen Zusammenhängen hat Kant auch in seinen anthropologischen Vorlesungen Beachtung geschenkt. Burkes psychologische Analysen in den ersten Teilen seines Essay gehen von der Selbstbeobachtung aus, er will feststellen, was für Gefühle er in sich vorfindet. Die Erlebnisse des Neuen und die von Lust und Unlust bilden als einfache, nicht definierbare Bewußtseinsinhalte die Grundlage seiner Be-

42

Ästhetik und Psychologie

trachtung. Diese „passions" haben zum Gegenstande das Selbst und die Gesellschaft. Die selfpreservation liegt dem Gefühl des Erhabenen zugrunde, dessen Charakter im Schreckhaften gesehen wird. Die Neigung zur society ist entweder die zum anderen Geschlecht oder die zur „general society", worunter Burke nicht nur die Menschen, sondern auch die belebte und unbelebte Natur versteht. In sehr allgemeiner Formulierung will er unter Schönheit die Eigenschaft oder die Eigenschaften der Dinge verstehen, die in uns Liebe oder ein ihr ähnliches Gefühl hervorrufen. Schönheit ist a social quality. Bedeutsam ist, daß Burke den reinen Gefühlscharakter im Erlebnis des Schönen betont und deshalb eine Theorie, die die Proportionen und die Zusammenstimmung der Teile eines Gegenstandes als Ursache annimmt, ablehnt, da damit eine Verstandeseinsicht eingeführt wird. Ebensowenig darf der Wille das Urteil beeinflussen. Erwähnenswert, weil bisher meines Wissens nicht beachtet, ist vielleicht, daß Burke in der vierten Auflage vom Jahre 1764 seiner Untersuchung eine einleitende Betrachtung über den Geschmack vorausgeschickt hat. Hier fordert er eine Logik des Geschmackes, der sich aus den Sinnen (senses) Einbildungskraft (imagination) und Urteilskraft (judgement) zusammensetzt. Eine Vereinigung dieser Grundlegung mit der früheren Untersuchung hat er aber nicht gegeben. - Ungewiß bleibt, wann Kant Burke kennen lernte, ein Einfluß auf die „Beobachtungen" läßt sich nicht feststellen. Homes Elements of criticsm (1762, ins Deutsche übersetzt in den Jahren 1763-66 u. ö) können geradezu als Ausführung des Programms aufgefaßt werden, das Hume in seinem Essay formuliert hatte. Die Wissenschaft, die er geben will, nennt er Kritik. Die Lehre vom Geschmack soll zu einer vernunftmäßigen Wissenschaft, einer Art von Logik, erhoben werden, denn nur durch die Vernunft wird das Vergnügen an den Künsten verdoppelt; ohne sie dienen sie nur dem Zeitvertreib. Es sollen Grundsätze des Urteils gefunden werden, aber nicht durch abstrakte Begriffe, sondern durch Ableitung aus der menschlichen Natur, und zwar der empfindenden. Nach der das ganze Werk durchziehenden teleologischen Betrachtung nimmt Home einen Grundtrieb der Ordnung im Menschen an. Unsere Seele hat an Ordnung und Verbindung in Natur und Kunst Geschmack. Auge und Ohr sind die Organe, die angenehme und unangenehme Empfindungen vermitteln. Die so hervorgerufenen psychischen Vorgänge sind als Bewegungen aufzufassen. Einige sind mit einem Verlangen verbunden, andere nicht. Die ersteren werden durch gute Handlungen, die anderen durch die Natur erweckt. Nur die letzteren interessieren und es gilt in bezug auf sie der Satz: „Die Bewegung der Körper verursacht unter ihren verschiedenen Umständen Empfindungen, welche ihr ähnlich sind. Eine träge Bewegung zum Beispiel macht, daß wir auch etwas Mattes und Verdrießliches empfinden". Bewegungen, die durch Dichtung hervorgerufen werden, wirken als ideale Gegenwart, erzeugen einen wachenden Traum, am stärksten das Theater. Der erste Band der „Elemente" enthält eine systematisch aufgebaute allgemeine Ästhetik, die die Begriffe: Schön, Erhaben, Neu und Unerwartet, das Lächerliche, Ähnlichkeit und Kontrast, Einförmigkeit und Mannigfaltigkeit,

Ästhetik und Psychologie

43

das Schickliche und Anständige usw. untersucht. Nur die beiden ersten interessieren hier. Schönheit, nur den sichtbaren Gegenständen zukommend, ist subjektiv eine angenehme Bewegung. Die Eigenschaften der Dinge, die sie hervorrufen, sind Regelmäßigkeit, Einförmigkeit, richtiges Verhältnis, Ordnung und Simplizität. Nicht unwichtig ist die Unterscheidung zwischen der eigenen (intrinsic) Schönheit der Gegenstände und der relativen, die erstere wird durch die Sinne erfaßt, die zweite durch Nachdenken. „Ein Gegenstand, dem eigene Schönheit mangelt, wird durch seine Nutzbarkeit schön." Das Erhabene empfinden zu können, ist ein besonderes Geschenk der Natur an den Menschen. Es erfordert Größe, zu der aber Regelmäßigkeit, Proportion, Ordnung oder Farbe hinzutreten müssen. Das Erlebnis ist im Gegensatz zum Schönen eine starke Empfindung. Die Gemütsbewegungen (emotions) des Schönen haben den Charakter von Lieblichkeit und Fröhlichkeit (sweetnes and gaiety), die des Großen dagegen „sind obgleich ausnehmend angenehm (extremely pleasant), eher ernst (serious) als fröhlich". Erhaben sind auch Edelmut, Tapferkeit und Großmut. Das II. Kapitel handelt von der Würde und Anmut (dignity and grace). Würde kann an keinem unbeseelten Gegenstand gefunden werden. Der Mensch hat ein ursprüngliches Gefühl für die Würde seiner Natur... Große Handlungen, wenn sie tugendhaft sind, haben Würde, sie kommt auch der Wissenschaft zu. Die eben genannten Tugenden erheben den Charakter zur höchsten Stufe. Anmut, durch den Gesichtssinn erfaßbar, kommt den Bewegungen zu, die ihrer Absicht vollkommen entsprechen. Hinzukommen muß Würde. „Anmut ist die angenehme Erscheinung, welche aus der Zierlichkeit (elegance) einer Bewegung entspringt, und aus einer Haltung (countenance), welche Würde ausdrückt." Auf die Entwicklung der wichtigsten ästhetischen Begriffe folgen dann Ausführungen zur Poetik (Epos und Drama), Malerei und Skulptur, Gartenbau und Architektur. Die Bedeutung der englischen Ästhetik für die deutsche und insbesondere für die Kants liegt vor allem in der großen Bereicherung, die durch die neue Analyse des Seelenlebens gewonnen wurde. Auch war der Horizont der englischen Ästhetiker ein größerer als der der deutschen, die sich meist nur auf Buchgelehrsamkeit stützen konnten. Ihr Urteil war freier und deshalb nicht so sehr durch moralisierende Betrachtung gebunden. Dabei konnten sie sich auf eine eigene nationale Dichtung berufen, und der Blick auf Shakespeares Genie bewahrte sie vor dem Versuch pedantischer Regelgebung. Die Grenzen lagen in dem empiristischen Ausgangspunkt. Hier läßt sich eine eigentümliche Inkonsequenz beobachten. Einmal wurde der subjektive Charakter der ästhetischen Erlebnisse und Urteile betont. Andererseits glaubte man aber doch an die Möglichkeit eines criticism, ja man forderte einen solchen, um den Geschmack zu verbessern. Dann berief man sich auf die Gleichartigkeit der menschlichen Natur, die sich auf empiristischer Grundlage doch nicht erweisen ließ. Demgegenüber ging die deutsche Ästhetik von dem Systemgedanken aus. Baumgartens Lehre von der Logik der Sinnlichkeit wirkte richtunggebend, wie

44

Ästhetik und Psychologie

denn seine Definition des Gedichtes für die beginnende deutsche Poetik entscheidend war. So sehr die Ausführung hinter der Idee zurückblieb, die Ästhetik war als Glied in das Wolffische System eingeführt; eine Aufgabe war gestellt. Das bedeutete aber zugleich, daß der Versuch ihrer Lösung im Zusammenhang der Leibnizischen Metaphysik, näher seiner in ihr begründeten Psychologie geschah. In der Lehre vom Streben der Seele nach Vollkommenheit war ein vereinheitlichendes Prinzip gegeben, und es war so umfassend, daß es jene englischen Lehren zu einer höheren Einheit verbinden konnte. Neben der Systematik kam dadurch ein eigentümlicher Zug von Tiefe und Ernst in die deutsche Ästhetik, da sie nun das Streben nach ästhetischem Genuß in dem metaphysischen Streben der menschlichen Seele verwurzelt dachte. Man fühlte sich berufen, den Einzelerkenntnissen der Engländer ihren letzten Sinn zu geben. Wie klar dieses Bewußtsein war, mögen zwei Äußerungen belegen. Mendelssohn sagt von Burke: Er „ist ein großer Beobachter der Natur. Er häuft Beobachtungen auf Beobachtungen, die alle ebenso gründlich als scharfsinnig sind; allein so oft es darauf ankommt, diese Beobachtungen aus der Natur unserer Seele zu erklären, so zeigt sich seine Schwäche. Man sieht, daß ihm die Seelenlehre der deutschen Weltweisen unbekannt gewesen ist; und die bloße Erfahrung war nicht hinreichend, ihn diese tiefsinnigen Lehren im Zusammenhange sehen zu lassen. Er sah den Grundsatz, daß die anschauende Erkenntnis der Vollkommenheit Lust gewährt, für eine bloße Hypothese an ... Wer aber überzeugt ist, daß dieses Grundgesetz der Empfindungen keine Hypothese, sondern eine ausgemachte und unumstößliche Wahrheit sei, der läßt sich keine Erfahrung irren11." Anderseits Kant selbst! Er war ja nie unbedingter Anhänger des englischen Empirismus. In der „Nachricht" erkannte er zwar die Verdienste der Engländer um die praktische Weltweisheit an, nannte aber doch ihre Versuche mangelhaft und unvollendet und erklärte, sie müßten Präzision und Ergänzung erhalten. In welcher Richtung dies geschehen sollte, zeigt in bezug auf die Ethik die Preisschrift. Die Anwendung auf die Ästhetik ergibt sich von selbst. Und auch Kant hielt an dem Grundgedanken der Leibnizischen Psychologie fest. In diesem Sinne sagt er im „Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen": „Es steckt etwas Großes, und, wie mich dünkt, sehr Richtiges in dem Gedanken des Herrn von Leibniz: Die Seele befaßt das ganze Universum mit ihrer Vorstellungskraft, obgleich nur ein unendlich kleiner Teil dieser Vorstellungen klar ist. In der Tat müssen alle Arten von Begriffen nur auf der inneren Tätigkeit unsers Geistes, als auf ihrem Grunde, beruhen. Äußere Dinge können wohl die Bedingung enthalten, unter welchen sie sich auf eine oder andere Art hervortun, aber nicht die Kraft, sie wirklich hervorzubringen. Die Denkungskraft der Seele muß Realgründe zu ihnen allen enthalten, so viel ihrer natürlicherweise in ihr entspringen sollen, und die Erscheinungen der entstehenden und vergehenden Kenntnisse sind allem Ansehen nach nur der Einstimmung oder Entgegensetzung aller dieser Tätigkeit beizumessen" (II, I99f.). Man könnte in diese Worte recht viel hineindeuten. Gewiß ist, daß

Ästhetik und Psychologie

sie die psychologische Voraussetzung für die erkenntnistheoretische Fragestellung der Dissertation enthalten. Für die Ästhetik läßt sich wohl sicher die Folgerung ziehen, daß so wie Begriffe auch Gefühle, die mehr enthalten als die bloßen Sinnesempfindungen, nicht durch die äußeren Gegenstände allein hervorgerufen werden können. Schließlich ist hier des Einflusses zu gedenken, den Rousseau auf Kant ausgeübt hat. Es ist oft geschildert worden, wie tief die Wirkung des Genfers auf ihn war, so tief, daß er selbst eine Epoche in seinem Leben von da ab datierte. Ich zitiere das berühmte Fragment: „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiter zu kommen, oder auch die Zufriedenheit bei jedem Erwerb. Es war eine Zeit, da ich glaubte, dieses allein könne die Ehre der Menschheit machen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet; ich lerne die Menschen ehren, und ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, daß diese Betrachtung allen übrigen einen Wert erteilen könne, die Rechte der Menschheit herzustellen." Jedenfalls hat Kant aus ihm für sich nicht die Folgerung einer politischen Tätigkeit oder Schriftstellerei gezogen. Wohl aber findet sich diese Uberzeugung wieder in seiner Ethik, in der Ansicht von der Würde des Menschen und in der späteren Forderung, daß er niemals bloß als Mittel gebraucht werden dürfe. Deutlich tritt eine pädagogische Absicht hervor, und in ihr liegt der Glaube an die in der menschlichen Natur liegenden Möglichkeiten zu einer höheren Entwicklung. Kant lebte damals der Hoffnung, daß durch eine neue Erziehung eine neue Menschheit gebildet werden könne. So hat er sich für den Philanthropismus begeistert und sich sogar praktisch für ihn betätigt. Die pietistischen Einflüsse seiner Jugend treten in dieser Zeit entschieden zurück, und es ist wohl als eine deutliche Absage zu verstehen, wenn er schreibt: „Kann wohl etwas verkehrter sein, als den Kindern, die kaum in diese Welt treten, gleich von der andern etwas vorzureden?" Aber Kant ist niemals ein unbedingter Anhänger Rousseaus gewesen. Unmöglich konnte dessen willkürliche Gedankenführung, die Maßlosigkeit seiner Behauptungen, sein theatralisches Pathos den unpathetischen Kant lange im Bann halten, so sehr ihn auch die Schönheit der Sprache bezauberte. Der berühmte erste „Discours sur les sciences et les arts" (1750) wandte sich gegen Wissenschaft und Kunst. Daß Kant dieser Kritik an der Wissenschaft jemals voll zugestimmt hätte, ist ganz ausgeschlossen. Auch er war in einer Angriffsstellung, aber doch nur gegen eine Scheinwissenschaft, eine Wissenschaft leerer Worte. Er glaubte, mit einer neuen Methode die Metaphysik neu begründen zu können. Daß er trotzdem der Wolffischen Philosophie den Geist der Gründlichkeit nicht absprechen wollte, ist bekannt. Er blieb aus Neigung ein Forscher und hatte das Glück, das aus ihr quillt, an sich selbst erfahren. Schwächer als gegen die Wissenschaft waren Rousseaus Angriffe gegen die Kunst. Zwar wollte er die athenischen Marmorwerke gegen die heroischen Taten

46

Ästhetik und Psychologie

der Spartaner hergeben, er sah auch in dem zunehmenden Luxus eine Gefahr für die Kunst, bekämpfte aber doch eigentlich mehr die Nachbeter in ihr, während er das produktive Genie anerkannte. Diese Angriffe konnten, so wenig begründet wie sie waren, kaum auf Kant Eindruck machen, da er der Gefahr einer künstlerischen Überkultur ja gar nicht ausgesetzt war. Diese allgemeine Betrachtung soll nun eine Ergänzung aus der Behandlung einzelner Fragmente erfahren. Kant geht mit Rousseau von der Unterscheidung eines natürlichen und eines Kulturzustandes des Menschen aus. Allerdings ergibt sich sofort ein Unterschied der Methode: „Rousseau verfährt synthetisch und fängt vom natürlichen Menschen an, ich verfahre analytisch und fange vom gesitteten an." Kant wendet also im Sinne der Preisschrift die analytische Methode auf ein historisch Gegebenes, den Menschen seiner Zeit an, um die Verschiedenheit seiner Erscheinung zu erklären und um schließlich auf einen gemeinsamen Grundcharakter zu kommen, aber nicht im Sinne Rousseaus geht er von dem abstrakten Gebilde eines natürlichen Menschen aus. Er will die Naturbestimmung des Menschen finden. Dabei ist ihm Rousseau Wegweiser: Rousseau entdeckte zu allererst unter der Mannigfaltigkeit der menschlichen angenommenen Gestalten die tief verborgene Natur derselben und das versteckte Gesetz, nach welchem die Vorsehung durch seine Beobachtungen gerechtfertigt wird ... Nach Newton und Rousseau ist Gott gerechtfertigt, und nunmehr ist Popens Lehrsatz wahr ... (XX, 58.) Dies Suchen nach der Naturbestimmtheit des Menschen drückt sehr eindrucksvoll das Fragment aus: „Wo finde ich feste Punkte der Natur, die der Mensch niemals verrücken kann?" (XX, 46.) Der Zustand der Natur wird durch folgende Merkmale gekennzeichnet: schöne Harmonie der Natur (unter Menschen), schöne Ordnung der Natur (die der Mensch stört), der Stand der Natur ist der der Freiheit. In Vergleichung von Natur und Kultur ergibt sich folgende Gegenüberstellung: Natur - Einfalt, Genügsamkeit, Mäßigkeit, der natürliche Mensch ohne Religion vorzuziehen ... Kultur - Üppigkeit, Ungleichheit, Unnatürlichkeit, Verfeinerung, Verzärtelung, besonders in der Geschlechterneigung, verliebte Lüsternheit. Die Frage nach der Glückseligkeit wird von dem Gegensatz zwischen Natur und Kultur aus betrachtet. Die Entscheidung lautet: „Die Glückseligkeit ohne Geschmack beruht auf der Einfalt und Genügsamkeit der Neigung, die mit Geschmack auf der gefühlvollen Seele in Ruhe." (XX, 12.) Diese scheinbar nicht zum Thema gehörenden Betrachtungen sind doch von großer Bedeutung für Kants Ästhetik. Es ist klar, daß hier neben dem wissenschaftlichen Begriff der Natur eine andere Ansicht sich geltend macht, die im Sinne Rousseaus die Natur als den ursprünglichen Quell des Guten auffaßt und nicht ohne Sehnsucht auf den Naturzustand zurückblickt. Dann erscheinen Kant alle Zurüstungen der Kultur als Verirrung, Übertreibung, Künstelei. Sie versagen, wenn es sich um die letzte Frage, die größte Angelegenheit handelt, es ist die, „zu wissen, wie er [der Mensch] seine Stelle in der Schöpfung gehörig

Ä s t h e t i k und Psychologie

47

erfülle und recht verstehe, was man sein muß, um ein Mensch zu sein". Schon jetzt findet sich die Wendung, daß wir nur die Würdigkeit, glücklich zu sein, erringen können. Und wie er in seinen ethischen Betrachtungen den Tugendschimmer aufzulösen sucht und zur wahren Tugend führen will, so zeigt sich auch in seinen ästhetischen Urteilen die Tendenz, Kunst in Einfachheit, Einfalt, Größe zu sehen. Alles Unnatürliche und Gesteigerte lehnt er ab, nach Form und Inhalt, er verlangt überall Echtheit des Empfindens und schlichten Ausdruck. Anakreontik ebenso wie der empfindsame Roman werden verworfen. Und von da aus ist der Weg schon vorbereitet zu dem Künstler, dem Genie, das Natur sein soll. Damit sind nun die Voraussetzungen gegeben, von denen aus die „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" (1764) verstanden werden müssen. Ihr Charakter ist von Kant selbst eindeutig bestimmt worden. Nicht als Philosoph, sondern mit dem Auge des Beobachters will er von diesen Gefühlen sprechen und sie in ihrer Vielgestaltigkeit schildern. Er will sie nicht bewerten, wenn auch gelegentlich aus seinem eigenen Erleben heraus die beiden Gefühle miteinander nach ihrer Bedeutung für die Seele des Menschen verglichen werden. Ein Urteil nach moralischer Strenge will er nicht fällen, da er „in der Empfindung des Schönen nur die Erscheinungen beobachten und erläutern" will. Das Interesse ist ein anthropologisches, und die Schrift nimmt ja auch in den drei letzten Abschnitten deutlich diesen Charakter an. Sehr kurz fällt die psychologische Analyse aus. Er beruft sich auf das jedem Menschen eigene Gefühl, von den äußeren Dingen mit Lust oder Unlust gerührt zu werden. Entschieden wird also der subjektive Charakter dieser Erlebnisse betont. In der Charakteristik geht Kant dann so vor, daß er von den materiellen Genüssen verschiedener Art (Magen, Freude am Gelderwerb, die groben sexuellen Genüsse, Jagd usw.) die Gefühle des Schönen und Erhabenen als feinere absondert. Drei Charakteristika werden für sie aufgezählt: 1. sie können länger ohne Sättigung und Erschöpfung genossen werden, 2. sie verraten eine Reizbarkeit, die die Seele zu tugendhaften Regungen geschickt macht und 3. zeigen sie Talente und Verstandesvorzüge an. Die beiden Gefühle werden nun so unterschieden, daß die von ihnen ausgehende Rührung angenehm genannt wird, aber auf sehr verschiedene Weise. Das Erhabene erregt Wohlgefallen, „aber mit Grauen, das Schöne dagegen eine angenehme Empfindung, die fröhlich und lächelnd ist". Weitere Bedingungen des Schönen sind Mannigfaltigkeit, bei Handlungen Leichtigkeit, es kann auch klein, geputzt und geziert sein. Es ist nun ganz offensichtlich, daß Kants Empfinden mehr dem Erlebnis des Erhabenen zuneigt, und so ist dessen Charakteristik ausführlicher und eindringender. Die Rührung vom Erhabenen ist mächtiger als „die gaukelnden Reize des Schönen", die Empfindung von ihm spannt die Seele an und ermüdet. Dies ist der Grund, weshalb Abwechslung oder Begleitung des Schönen für es notwendig ist. So wird Young getadelt, daß er als moralischer Dichter „gar zu einförmig im erhabenen Tone anhält". Es ist seinem Inhalte nach reicher und, einer dreifachen Einteilung des Erhabenen werden drei je verschiedene Gemüts-

48

Ästhetik und Psychologie

Stimmungen zugeordnet. Das schreckhaft Erhabene erzeugt Grausen oder auch Schwermut, das Edle ruhige Bewunderung, das Prächtige vermittelt eine über einen erhabenen Plan verbreitete Schönheit. In Anwendung auf Zeit und Raum wird die Vergangenheit ehrwürdig, die Zukunft schreckhaft genannt. „Die mathematische Vorstellung von der unermeßlichen Größe des Weltbaues, die Betrachtung der Metaphysik von der Ewigkeit, der Vorsehung, der Unsterblichkeit unserer Seele enthalten eine gewisse Erhabenheit und Würde." Das Trauerspiel erweckt das Gefühl des Erhabenen, das Lustspiel das des Schönen. Das ist alles. Der zweite Abschnitt hat schon einen entschieden anthropologischen Charakter und handelt von den Eigenschaften des Erhabenen und Schönen am Menschen überhaupt. Es sind in bunter Reihenfolge Einzelbemerkungen, die sich etwa so zusammenfassen lassen. Kant spricht: 1. Von den Fähigkeiten und Eigenschaften der menschlichen Seele und ordnet dem Erhabenen zu: Verstand, Kühnheit, Wahrhaftigkeit, Redlichkeit, uneigennützigen Diensteifer, Freundschaft, Zorn eines Furchtbaren, dreisteRache, Entschlossenheit, Verwegenheit. Und dem Schönen: Witz, List, Scherz, gefällige Schmeichelei, Artigkeit, Geschliffenheit und Höflichkeit, listig ausgedachte Entwürfe, Koketterie. 2. Von den äußeren Merkmalen des Körpers und ordnet dem Erhabenen zu: große Gestalt, bräunliche Farbe und schwarze Augen, das Alter; dem Schönen, kleine Gestalt, blaue Augen und blonde Farbe, Jugend. 3. Von den äußeren Glücksumständen: Geburt. Titel, Reichtümer erwecken Achtung. 4. Von den moralischen Eigenschaften: Schön und liebenswürdig sind Weichmütigkeit (Gutmütigkeit, Mitleid) und Gefälligkeit. Wahre Tugend ist erhaben. Sie entspringt aus einer Gesinnung, die Grundsätze befolgt, „welche, je allgemeiner sie sind, desto erhabener und edler wird sie". Sie sind das Bewußtsein von einem Gefühl, das in jedem menschlichen Busen lebt, es ist „das Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur". Kant nennt es auch das allgemeine moralische Gefühl. Es folgt nun eine neue Unterscheidung in echte Tugend und adoptierte Tugenden; zu den letzten tritt noch das Gefühl der Ehre, das die Vorsehung dem Menschen gegeben hat. Es zeigt ihn abhängig vom Urteil der anderen Menschen. In einer Dreigliederung werden dann die bekannten Temperamente eingeführt und so unterschieden: Melancholiker: innigliches Gefühl für die Schönheit und Würde der menschlichen Natur. Sanguiniker: eine Schönheit und feine Reizbarkeit des Herzens. Choleriker: Gefühl für die Ehre. Der Phlegmatiker fällt aus, dessen „Fühllosigkeit" einen Mangel der feineren Empfindungen zeigt, wenn er auch den gröberen Triebfedern nicht unterworfen ist. Dem Charakter der „Beobachtungen" entsprechend finden wir keine systematische Begründung der Lehre vom Schönen und Erhabenen. Trotzdem ist

Ästhetik und Psychologie

49

es in Hinblick auf die weitere Darstellung wichtig, alle Begriffe systematischen Charakters, besonders die, welche in der kritischen Ästhetik eine Rolle spielen, herauszuheben. In bezug auf das Schöne und Erhabene wurde schon ein solcher Versuch gemacht. In Verbindung mit ihnen findet sich eine recht charakteristische Ausführung über die Reize des Frauenzimmers, die zugleich ein Beispiel für die etwas künstlichen Unterscheidungen Kants gibt. Die Einteilung geht von einer Betrachtung über die Gestalt und den Ausdruck des Gesichtes aus. Der Geschmack des Mannes ist nun entweder auf das Moralische oder Unmoralische in ihnen gerichtet. So erhalten wir eine Gliederung, die ich am besten übersichtlich so wiedergebe: Das Moralische a) Ausdruck des Erhabenen -

das Unmoralische hübsch

schön in eigentlichem Verstände b) Ausdruck des Schönen annehmlich in höherem Grade reizend. Zum hübschen Ausdruck werden gerechnet: proportionierlicher Bau, regelmäßige Züge, Farben von Augen und Gesicht, die ziemlich abstechen. Das Gesicht redet nicht zum Herzen. Ausdruck des Erhabenen: unter einer Miene von Gelassenheit und einem edlen Anstand. Schimmer eines schönen Verstandes - beständig. Ausdruck des Annehmlichen: Munterkeit und Witz in lachenden Augen, feiner Mutwille, das Schäkerhafte der Scherze und schalkhafte Sprödigkeit flatterhaft. Die erstere rührt, die zweite reizt. Nicht selten braucht Kant den Ausdruck „Einfalt". Und zwar unterscheidet er sie als eine natürliche, eine schöne und schließlich eine edle. Die erstere soll sich der Mann im Verhältnis zum anderen Geschlecht erhalten, die zweite wünscht er an dem schönen Geschlecht in der Blüte der Jahre. In ihr, „die durch ein verfeinertes Gefühl an allem, was reizend und edel ist, erhoben worden, sollte die ganze Vollkommenheit des schönen Geschlechts in der Blüte der Jahre bestehen". Edle sowohl als schöne Einfalt wird den Griechen nachgerühmt und am Schluß der geschichtsphilosophischen Betrachtung der Wunsch ausgesprochen, der wiedererstandene Geschmack möge sich nicht unvermerkt von der edlen Einfalt entfernen. Hier ist vielleicht die geeignete Stelle, um eine Reflexion aus den sogleich zu behandelnden „Bemerkungen zu den Beobachtungen" anzufügen: „ I n allem denjenigen, was zur schönen und erhabenen Empfindung gehört, tun wir am besten, wenn wir uns durch die Muster der Alten leiten lassen. In der Bildhauerkunst, Baukunst, der Poesie und der Beredsamkeit, den alten Sitten und der alten Staatsverfassung. Die Alten waren der Natur näher, wir haben zwischen uns und der Natur viel tändelhafte oder üppige oder knechtische Verderbnis. Unser Zeitalter ist das Säkulum der schönen Kleinigkeiten, Bagatellen oder der erhabenen Chimären." (XX, 71.) 4

Menzer, K a n t s Ä s t h e t i k

go

Ästhetik und Psychologie

Auch eine erste Charakteristik des Genies bringen die „Beobachtungen". Kant spricht von den „ungekünstelten und freien Bewegungen des Genies, dessen Schönheit durch die ängstliche Verhütung der Fehler nur würde entstellt werden" (II, 244). Und auch hier füge ich eine Betrachtung aus den „Bemerkungen" an: „Es ist ein großer Schade für das Genie, wenn die Kritik eher ist als die Kunst. Wenn in eine Nation eher Muster hineinkommen, die sie blenden, ehe sie ihre eigenen Talente ausgewickelt hat." (XX, 28.) Schon im ersten Kapitel ist betont worden, daß sich neben dem mechanischen Begriff von der Natur bei Kant eine teleologisch zu nennende Auffassung findet, ohne daß sie methodisch begründet wird. Ihr letzter Grund ist in den Gefühlen zu suchen, die oben und auch jetzt wieder charakterisiert wurden. Ihre an und für sich schon optimistische Färbung, im Gegensatz zu den anders gerichteten, die ja nicht fehlten, mußte durch Rousseaus Einfluß noch intensiver werden. Ihren stärksten Ausdruck haben sie deshalb in den „Beobachtungen" gefunden, wo einmal im Gegensatz zu einem abenteuerlichen Geschmack von der Natur als dem „Urbild alles Schönen und Edlen" gesprochen wird. (II, 245.) Zum ästhetischen Prinzip im Sinne einer Nachahmungstheorie hat Kant sie doch wohl nicht erhoben. Es ist aber zweifellos, daß eine Abweichung von der Natur ihm immer eine Gefahr bedeutete. So wird der Gedanke des Abenteuerlichen durch den des Unnatürlichen erläutert, und in einer Anmerkung heißt es: „insofern die Erhabenheit oder Schönheit das bekannte Mittelmaß überschreitet, so pflegt man sie romanisch zu nennen." (II. 214.) Schließlich ist es im Hinblick auf spätere Entscheidungen wichtig, darauf hinzuweisen, daß Kant dem Erlebnis dieser feinen Gefühle jetzt eine größere Bedeutung für menschliche Vollendung beimißt als zu den Zeiten seiner kritischen Ethik. Nachdem er den Vorwurf gegen den ästhetischen Unempfindlichen abgemildert hat, fügt er doch hinzu: „Gleichwohl haben die Fähigkeiten der Seele einen so großen Zusammenhang, daß man mehrenteils von der Erscheinung der Empfindung auf die Talente der Einsicht schließen kann. Denn es würden demjenigen, der viele Verstandesvorzüge hat, diese Talente vergeblich erteilt sein, wenn er nicht zugleich starke Empfindung für das wahrhaftig Edle oder Schöne hätte, welche die Triebfeder sein muß, jene Gemütsgaben wohl und regelmäßig anzuwenden." (II, 225.) Die in den „Beobachtungen" behandelten Themen haben Kant anscheinend noch längere Zeit beschäftigt. Er plante vielleicht eine neue Auflage seiner Schrift und ließ ein Exemplar mit Blättern durchschießen, auf die er seine Gedanken einzeichnete. Diese sind zum Teil Ergänzungen des Buches, dann aber, und das ist ihr größter Wert, eine Art Selbstgespräch. Wir besitzen kaum Dokumente so persönlicher Art von ihm wie diese Einzeichnungen. Unter ihnen sind die über sein Verhältnis zu Rousseau von besonderer Bedeutung. Erst durch sie haben wir erfahren, wie stark dessen Einfluß war, von dem die Biographen schon berichtet hatten. Zweifel an der Kultur, Zweifel an der Stellung der wissenschaftlichen Menschen in ihr, die Frage, ob der natürliche Mensch glücklicher als der zivilisierte sei, das Verhältnis der beiden Geschlechter, das Problem der Ehe -

Ästhetik und Psychologie alles das h a t er in immer neuen Wendungen überdacht. Den Plan einer neuen A u f l a g e h a t er wohl später aufgegeben, u n d so finden sich auch Reflexionen natur- u n d rechts- und staatsphilosophischen Inhaltes. A m zahlreichsten sind aber die ästhetischen Betrachtungen. Z u m Teil sind sie als Ergänzungen z u verwerten, dann aber enthalten sie Ausführungen, die über den für die „ B e o b a c h t u n g e n " gesteckten R a h m e n hinausgehen u n d es ermöglichen,

Kants

ästhetische Anschauungen zu dieser Z e i t wenigstens in ihren Grundzügen z u übersehen. Die wichtigste ist wohl eine Bemerkung, in der K a n t von den metaphysischen Anfangsgründen der Ästhetik spricht, Sie stehen in Parallele z u denen der sittlichen W e l t . Bei jenen ist das verschiedene „unmoralische G e f ü h l " , bei diesen das verschiedene moralische Gefühl des Menschen „ n a c h Verschiedenheit des Geschlechts, des Alters, der Erziehung und Regierung, der Rassen und K l i m a ten anzumerken". ( X X , 49/50.) Eine Erläuterung dieser programmatischen E r klärung l ä ß t sich aus den gleichzeitigen Schriften K a n t s gewinnen. Zeitlich a m nächsten steht den Aufzeichnungen die „ N a c h r i c h t " . (1765/6.) In ihr weist K a n t auf seine Preisschrift „ U n t e r s u c h u n g über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral" v o m Jahre 1762 (erschienen 1764) hin, und dort finden wir, w a s wir zu dieser Zeit unter Metaphysik z u verstehen haben. E s wird für diese die analytische Methode gefordert, da Synthese in ihr noch nicht möglich ist. W i r erhalten von der Metaphysik die Definition: „sie ist nichts anderes als eine Philosophie über die ersten Gründe unserer Erkenntnisse." Diese sind durch Analyse z u finden, deren Geschäft ist, „verworrene Erkenntnis aufzulösen". Dabei h a t sie der Forderung zu genügen, daß eine jede Zergliederung, die geschehen kann, auch nötig i s t " . (II, 283 ff.) In der „ N a c h r i c h t " gibt K a n t dann weiter an, wie er seine Vorlesung über Metaphysik einrichten wolle. E r will mit der empirischen Psychologie beginnen, „welche eigentlich die metaphysische Erfahrungswissenschaft v o m Menschen

i s t " . D a d u r c h ist der Aus-

druck metaphysische Anfangsgründe der Ästhetik hinreichend erklärt. Weiter führt dann noch die Parallele mit der E t h i k . E r beruft sich ähnlich, wie in der „ G r u n d l e g u n g zur Metaphysik der S i t t e n " , auf das Sentiment. D a s menschliche H e r z erkennt leicht u n d richtig den Unterschied von gut und böse. E s fehlt aber die Präzision. U n d so formuliert er seine A u f g a b e : „ D i e Versuche des Shaftesbury,

Hutscheson

mangelhaft, gleichwohl

und Hume,

noch

welche - obzwar unvollendet

und

a m weitesten in der A u f s u c h u n g der ersten

Gründe aller Sittlichkeit gelangt sind, werden diejenige Präzision u n d E r gänzung erhalten, die ihnen mangelt; und indem ich in der Tugendlehre jederzeit dasjenige historisch und philosophisch erwäge, was geschieht, ehe ich anzeige, was geschehen soll, so werde ich die Methode deutlich machen, nach welcher m a n den Menschen

studieren m u ß , nicht allein denjenigen, der durch

die veränderliche Gestalt, welche ihm sein zufälliger Zustand eindrückt, entstellt und als ein solcher selbst von Philosophen fast jederzeit verkannt worden; sondern die Natur des Menschen, die immer bleibt u n d deren eigentümliche Stelle in der Schöpfung, damit m a n wisse, welche Vollkommenheit ihm im 4*

52

Ästhetik und Psychologie

Stande der rohen und welche im Stande der weisen Einfalt angemessen s e i . . . Diese Methode ist eine schöne Entdeckung unserer Zeiten . . . " (II, 311 f.) Es ist nun wohl klar, was mit metaphysischen Anfangsgründen der Ästhetik gemeint war. Die ästhetischen Gefühle und ihr Organ, der Geschmack, sollten analysiert werden. Zu dieser psychologischen Untersuchung trat dann eine anthropologische und historische. Die „Beobachtungen" geben ein Beispiel dafür. Sie kamen ja schon zu dem in jedem menschlichen Busen lebenden Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur. Die Parallele zur Ethik und die oben entwickelte Stellung von Logik und Ästhetik erlauben den Schluß, daß auf die beschreibende Analyse eine normative Ästhetik folgen sollte. Und man darf wohl weiter vermuten, daß in ihr so wie in der Ethik der Begriff von der Vollkommenheit eine Rolle spielen sollte. Wir beginnen mit einer physiologischen Grundlegung, die folgende Reflektion enthält: „ D i e Zartheit der Nerven ist eine von den dirigierenden Bestimmungen des Geschmacks, denn dadurch wird der Grad des Kontrastes oder des Affekts, die Härte der Empfindungen eingeschränkt usw. - Die Harmonie entspringt aus der Übereinstimmung des Mannigfaltigen, so in der Musik wie Poesie und Malerei. D a s sind Ruhepunkte einiger Nerven. Die Einheit ist der Bequemlichkeit gemäß, sofern sie mit A k t i v i t ä t verbunden ist, welche Mannigfaltigkeit begehrt." ( X X , 125.) Wird hier schon den Nerven A k t i v i t ä t zugeschrieben, so betont K a n t an anderen Stellen, daß die ästhetischen Gefühle als feinere mehr sind als passive Sinnesempfindungen. E r untersucht, welch verschiedene Vergnügen die einzelnen Sinne darbieten: „ D e r Sinn der Augen liefert lange und zarte, inigleichen sehr idealische Vergnügen . . . Der Sinn des Gehörs wirkt langdauernde Vergnügen, aber nur durch die Abwechslung, ist weniger idealisch, aber sehr lebhaft, die Mißvergnügen sind klein und kurz dauernd. Der Sinn des Geruchs gibt etwas idealische Vergnügen, sie sind kurz im Vergnügen und kurz und stark im Mißvergnügen, nämlich Ekel erfordert Abwechslung. Der Sinn des Geschmacks ist gar nicht idealisch, er ist groß im Vergnügen, aber kurz und abgebrochen, erfordert Abwechslung (ohne die Notdurft), das Mißvergnügen ist weit empfindlicher und der Ekel. Der Sinn des Gefühls ist in der Wollust kurz und erschöpfend in der Wärme, dem Kitzel kurz und empfindlich, im Schmerz kann er lange dauern und groß sein. Kann durch Verstand leicht überwogen werden (außer der Geschlechterneigung). Der Sinn des Gesichts offenbart das meiste Moralische, denn aber auch des Gehörs." ( X X , 126.) Hier und an anderen Stellen tritt der Gedanke des „idealischen" Gefühles auf. Damit wird einmal ausgedrückt, daß es nicht den groben Bedürfnissen zu genügen hat und frei von aller Nützlichkeit ist. Hier kommt K a n t einmal zu einer Formulierung, die einer sehr bekannten Definition von Karl Philipp Moritz verwandt ist: „Die Schönheit ist darum ohne Nützlichkeit, weil diese eine Pressung einer Sache zu andern Zwecken, also keine in sich vollendete Vollkommenheit anzeigt." ( X X , 133; vgl. auch 124.) Dann aber ist der letzte Quell des idealischen Vergnügens in uns selbst gelegen, in unserer Einbildungskraft. Das sagt sehr klar folgende Re-

Ästhetik und Psychologie

53

flexion: „Die Fähigkeit der Lust und Unlust ist überhaupt das Gefühl. Fühllosigkeit. - Die Fähigkeit der Lust und Unlust in Dingen, die nicht zu Bedürfnissen gehören, Geschmack. Dieser ist der derbe Geschmack, insofern er den Bedürfnissen nahe ist, der feine ist der wahre Geschmack in demjenigen, was weit von den Bedürfnissen entfernt ist. Insofern die Kräfte der Seele nicht bloß leidend, sondern tätig und dichtend sein müssen, so heißt der Geschmack geistig und idealisch (wenn das vornehmste Gefühl nicht durch die äußere Empfindung, sondern dasjenige, was man dazu dichtet, gerührt wird." (XX, 117.) Damit sind wir wieder in den Gedankengängen, in denen sich die Charakteristik des Erhabenen in den „Beobachtungen" bewegt, und in deutlicher Anspielung an sie finden sich die Worte aufgezeichnet: „Dieses idealische Gefühl sieht in der toten Materie Leben oder bildet sich ein, es zu sehen. Bäume trinken den benachbarten Bach. Der Zephyr lispelt den Verliebten. Wolken weinen an einem melancholischen Tag. Felsen drohen wie Riesen. Die Einsamkeit ist doch bewohnt durch träumerische Schatten und das Todesschweigen der Gräber phantastisch. Daher kommen die Bilder und der bilderreiche Geist. " (XX, 18.) Ob Kant an einen bestimmten Dichter dachte oder ob er aus der Erinnerung solche Bilder zusammenstellte? Das wird sich kaum entscheiden lassen; aber die Vermutung liegt nahe, daß er damals der Empfindsamkeit nicht so ganz fernstand. Zugleich aber sah er hier die Gefahr und bemerkt, daß ein „durch Fühlbarkeit erweitertes Herz" abgenutzt werde. ( X X , 22.) Solche Wendungen legen nahe, noch einmal von Kants Seelenstimmung und seinen Gefühlserlebnissen zu sprechen. Es ist schon mehrfach erkannt worden, daß er in der Charakteristik des Melancholikers in den „Beobachtungen" viel von seinem eigenen Wesen und Empfinden hineingegeben hat. In den „Bemerkungen" fanden wir das Ideal von der Seele in Ruhe öfters ausgesprochen. Es ist das die Seele, die die Affekte beherrscht und zu einer Ausgeglichenheit ihrer Stimmungen gekommen ist. Alle Übersteigerung, sowohl nach der Seite des Enthusiasmus wie nach der der „Weichherzigkeit" stören diese Ruhe. So heißt es sehr charakteristisch: „Die gefühlvolle Seele in Ruhe ist die größte Vollkommenheit in Rede, in Poesie, Gesellschaft, kann aber nicht immer sein, sondern ist das letzte Ziel. Auch sogar in Ehen. Junge Leute haben wohl viel Empfindung, aber wenig Geschmack, der enthusiastische oder begeisterte Stil verdirbt den Geschmack. Verdrehter Geschmack durch Romane und galante Tändeleien." (XX, 7.) Es ist das nicht die Apathie der Stoiker, eher die Stimmung Epikurs: „die tugendhafte Seele in Ruhe" (XX, 160). Von ihr ist Kants Verhältnis zur Kunst zu verstehen. „Riesengröße erschien ihm als eine Krankheit auch in Ansehung der geistigen Eigenschaften". (XX, 122.) Ein charakteristischer Ausdruck solcher Stimmungen ist in folgender Reflexion enthalten: „Die Natur in Ruhe ist die größte Schönheit (doch rieselnde Bäche, weil sie den Menschen einwiegen), weidende Herden, Rindvieh. Daher der Abend noch rührender als der Morgen." (XX, 128; vgl. n . ) Eine Folgerung ist noch zu beachten, die Kant aus der Lehre vom idealischen Gefühl zog. Wenn der Wert in dem liegt, was der Künstler hinzudichtet, so

Ästhetik und Psychologie

kann Nachahmung der Natur nicht seine höchste Aufgabe sein. Zwar müsse der Maler der Naturalien oder Porträte die Natur treffen, aber „idealische Vergnügen machen das Vornehmste aus. Die Natur ist nicht zu unserem Vergnügen gut genug. Es kommt dazu unsere Weichlichkeit und Zartheit der Organe, ja unsere Einbildungskraft. Daher kann die Malerei ganz wohl von der Natur abweichen wie Poesie und theatralische Handlung." (XX, I24f.) Und es ist nur eine andere Betrachtung, wenn wir nun die Welt der Kunst eine Welt des Scheins nennen. Dieser Gedanke spielt in den „Bemerkungen" eine große Rolle. „Mit dem Charakter des Schönen stimmt sehr zusammen die Kunst zu scheinen" (XX, 61), und „der erlaubte Schein ist eine Art von Unwahrheit, die dann nicht eine Lüge ist. Es ist eine Veranlassung zu idealischen Vergnügen, deren Gegenstand nicht in den Sachen ist." (XX, 134.) So vereinigen sich diese Einzelzüge doch zu einem ziemlich vollständigen Bild der ästhetischen Anschauungen Kants zu dieser Zeit. Er übernimmt von den Engländern die analytische Methode und untersucht die Gefühle, die mit unseren körperlichen Organen verbunden sind. Er charakterisiert in dieser Hinsicht die einzelnen Sinne. Dann geht er über zu den feineren oder idealen Gefühlen, deren Charakter durch ihren reicheren Inhalt bestimmt wird, wobei er im Sinne der Engländer die nahe Berührung der ästhetischen mit den ethischen Gefühlen hervorhebt. Zugleich gibt er aber eine wesentliche Ergänzung dadurch, daß er die Aktivität der Seele im ästhetischen Erleben betont und damit den Einzeluntersuchungen einen systematischen Zusammenhang zu geben versucht, für den als leitende Idee der Leibnizische Gedanke von der Spontaneität der Seele zu gelten hat. Er strebt also eine Vereinigung zwischen einem apriorischen Element und den Gegebenheiten der seelischen Erfahrung an. Wesentliche Ideen der „Kritik der Urteilskraft" sind schon vorgebildet: das Herausheben des ästhetischen Gefühls aus der Sinnlichkeit, seine Selbständigkeit gegenüber dem Wahren und Guten. Seine Charakteristik als frei von Nützlichkeit und selbstischen Gefühlen. Die in ihm zum Ausdruck kommende Aktivität der Seele und damit die Loslösung vom Gegenstande. Die Betonung der Subjektivität und als Folgerung die Lehre von Schein und Spiel. Die „Beobachtungen" und die „Bemerkungen" geben für ein allerdings begrenztes Gebiet eine wesentliche Bereicherung. Das in ihnen vorherrschende anthropologische Interesse ließ aber naturgemäß die systematischen Probleme in den Hintergrund treten. Die Vorlesungen behandelten sie aber weiter, und es ist daran zu erinnern, daß es eine Entwicklung von entscheidender Bedeutung war, die einen Abschluß in der Dissertation vom Jahre 1770 fand. Kant schreibt in dem Brief an Herder vom 9. Mai 1768: „Was mich betrifft, da ich an nichts hänge und mit einer tiefen Gleichgültigkeit gegen meine oder andere Meinungen das ganze Gebäude öfters umkehre und aus allerlei Gesichtspunkten betrachte ..., so habe ich, seitdem wir getrennt sind, in vielen Stücken anderen Einsichten Platz gegeben." Diese Worte und andere zeigen, wie damals bei Kant alles in Fluß war. Es ist für uns unmöglich, seine Arbeit an der Lösung der vorherrschenden erkenntnistheoretischen Probleme in ihren einzelnen Stadien

Ästhetik und Psychologie

55

zu verfolgen. Wir wissen nur, daß es sich um eine neue Methode zur Begründung der Metaphysik handelte und daß das Jahr 1769 eine Entscheidung brachte. Und nun ist zu bedenken, daß für diese Hauptfrage die Probleme der Ästhetik doch nie von entscheidender Bedeutung sein und immer nur eine Randstellung einnehmen konnten. Es wird nun darauf ankommen die Ideen, die sich in der ersten Periode erkennen ließen, weiter zu verfolgen und das Auftreten neuer zu charakterisieren. Dabei ist nun zweierlei zu beachten: Die frühere Darstellung hat gezeigt, daß der Begriff der Vollkommenheit in den Anfängen der Kantischen Ästhetik eine große Rolle spielte. Gegen seine Verwendung hat sich Kant dann in der „Kritik der Urteilskraft" gewandt, und es ist die Frage, wann er zu seiner Ablehnung gekommen ist. Für diese Untersuchung ist nun die Tatsache von Wichtigkeit, daß er ihn in den sechziger Jahren sicherlich noch verwertet hat. Auf wenigen Seiten, am Schluß der Preisschrift, untersucht er die ersten Gründe der Moral, allerdings mit der Bemerkung, daß sie noch nicht aller erforderlichen Evidenz fähig sind. Er unterscheidet nun formale und materiale Sätze und versteht unter den letzteren die ethischen Gefühle, zum Beispiel Nächstenliebe. Für diese soll nun in positivem Sinne der formale Satz gelten: „Tue das Volkommenste, was durch dich möglich ist." Es ist also klar, daß Kant sich mit der bloß gefühlsmäßigen Begründung der Ethik nicht begnügen, sondern sie durch ein rationales Prinzip läutern und ergänzen wollte. Mehr erfahren wir nicht, aber die Anwendung ist doch wohl erlaubt, daß, wenn er an den Gedanken einer Kritik des Geschmacks festhielt, er methodisch gleichartig vorgehen mußte. Zweitens läßt sich feststellen, daß nach den Datierungen von Adickes sich eine größere Anzahl ästhetischer Reflexionen zu den Paragraphen der Baumgartenschen Psychologie aus den sechziger Jahren findet, die Anregungen seitens der englischen Ästhetik erkennen lassen. Da Baumgartens Psychologie ja nun vornehmlich auf Definitionen der Seelenvermögen gerichtet war, so erhalten wir Aufklärung über einige wichtige ästhetische Begriffe. Es sollen also im folgenden untersucht werden: Vollkommenheit, Phantasie, Iudizium, Geschmack, Lehre vom Geschmack, Genie.

Vollkommenheit Der Gedanke der Vollkommenheit spielt auch in Reflexionen, die der zweiten Hälfte der sechziger Jahre angehören dürften, eine wichtige Rolle. Allerdings gelingt es kaum, in ihnen eine klare Linie der Entwicklung aufzuzeigen. Trotzdem sind sie nicht ohne Interesse, insofern sich in ihnen die alte Fragestellung in Zusammenhang mit neuen Motiven der Untersuchung beobachten läßt. Refl. 1800 (um 1769) bringt folgende Einteilung: 1. Vollkommenheit der Erkenntnis überhaupt (g a innere); Wahrheit oder Einstimmung mit sich selbst. ß Größe und Mannigfaltigkeit.

gg

Ästhetik und Psychologie

2. a) Logische Vollkommenheit. Deutlichkeit durch allgemeine Begriffe, und Gewißheit. b) Ästhetische Vollkommenheit: Deutlichkeit in der Anschauung." An dem Parallelismus zwischen Logik und Ästhetik ist also festgehalten oder, anders ausgedrückt, an der Lehre Baumgartens. Es gibt für beide Erkenntnisarten gemeinsame Merkmale. Dies sagt sehr klar Refl. 1802 (um 1770-75): „Wahrheit, Mannigfaltigkeit und Einheit sind die Vollkommenheit einer jeden Erkenntnis." Bemerkenswert ist noch, daß als gemeinsames Kriterium Deutlichkeit genannt wird und, da sie auch für die Anschauung gelten soll, so ist damit für diese ein höherer Rang gesichert, der Makel der Verworrenheit ist ihr genommen. Diese Tatsache und die andere, daß nunmehr von Anschauung die Rede ist, lassen die Nähe der Dissertation spüren. Ein späterer Zusatz unterscheidet folgendermaßen: „Vollkommenheit der Qualität und Quantität nach. Jene entweder logisch oder ästhetisch. Diese entweder extensiva: der Ausbreitung, Menge nach, oder intensiva: dem Grad nach." Ein anderes Prinzip der Unterscheidung tritt in einigen Reflexionen auf, von denen zuerst 1780 (1764-69) zitiert sei: „Die logischen Vollkommenheiten beziehen sich auf das Objekt, die Schönheiten auf das Subjekt." Ein späterer Zusatz, der deutlich den Einfluß der Dissertation erkennen läßt, verrät, daß erkenntnistheoretische Überlegungen diese Trennung veranlaßt haben. Ich lasse Refl. 1782 (1764-69) folgen, die Folgerungen aus der angegebenen Bestimmung zieht: „Die Übereinstimmung mit dem Obiect ist die logische Vollkommenheit; folglich ist diese das Wesentliche aller Erkenntnis. Die Afficirung des Gefühls ist das Zufällige, daher erfordert alle Schönheit logische Vollkommenheit. Diese muß auch in der historischen Erkenntnis seyn. Wenn auf die logische Vollkommenheit allein Aufmerksamkeit gerichtet ist, so ist die Erkenntnis trocken; ist sie auf die Schönheit auch: so ist nur ein bestimmt Maas der logischen Vollkommenheit möglich." Man kann doch wohl hier von einer Unsicherheit Kants sprechen, da es schwer möglich ist, diese Gedanken voll zu einer Einheit zu verbinden. Es wird zuerst logische Vollkommenheit - in der neuen Bedeutung - auch von der Schönheit verlangt. An dem Erkenntnischarakter der Ästhetik wird also festgehalten. Dabei wird die Gefahr bemerkt, die dem ästhetischen Urteil vom Gefühl her droht. Im zweiten Satz wird aber die andere Gefahr - die vom Verstand her beachtet, und nun soll nur ein bestimmt Maß der logischen Vollkommenheit „möglich" sein. Was konnte das alles für einen Sinn haben, wenn es auf die Übereinstimmung mit dem Objekt ankam? Als Fragestellung wichtig erscheint dann auch Refl. 1783 (1764-68). „Dem vollkommensten Subjekte würden nur die Erkenntnisse nach ihrer objektiven Vollkommenheit gefallen. (Der Widerstreit des Geschmacks wider die Form der Vernunft ist darin zu setzen, weil die Synthesis der Analysis entgegen ist.)

Ästhetik und Psychologie

57

Das ist der rechte Geschmack, der mit der Vernunftvollkommenheit übereinstimmt, selbst in der synthesi. E. g. Beispiele, Analogien. Das Gefühl widerstreitet am meisten der Form der Vernunft." Diese Reflexion enthält einmal den Gedanken von der objektiven Vollkommenheit, die nur der Vernunft nicht dem Gefühl erreichbar ist und damit verbunden den Gegensatz zwischen Gefühl und Vernunft. Und nun wird die Unterscheidung zwischen subordinatio und coordinatio wichtig. So lange Kant an dem Gedanken festhielt, es gebe eine Vollkommenheit aller Erkenntnis, mußte er den Versuch machen, etwas Gemeinsames für logische und ästhetische Vollkommenheit aufzuweisen, wobei natürlich die erstere die führende Rolle spielte. Ich glaube nun in Nr. 628 (1769) einen solchen Versuch sehen zu sollen. Es heißt dort: „Die innere Vollkommenheit einer Sache hat eine natürliche Beziehung auf Schönheit. Denn die Subordination des Mannigfaltigen unter einen Zweck erfordert eine Koordination desselben nach gemeinschaftlichen Gesetzen. Daher ist dieselbe Eigenschaft, wodurch ein Gebäude schön ist, auch zu seiner Bonität zuträglich, und ein Gesicht würde auch zu seinem Zwecke keine andere Gestalt haben müssen als zu seiner Schönheit. Von vielen Dingen der Natur erkennen wir Schönheit, aber nicht Zwecke; es ist zu glauben, daß das Wohlgefallen an ihren Erscheinungen nicht die Absicht, sondern die Folge aus ihrer Absicht sei." Ohne auf das im letzten Satz hervortretende neue Problem jetzt zu achten, verfolgen wir weiter den Gegensatz: subordinativ und koordinativ. Refl. 1799 (17690.) entwickelt am schärfsten den Gegensatz: „Die Vollkommene Sinnlichkeit ist die Schönheit. Die Sinnlichkeit aber besteht in der Übereinstimmung mit den subjektiven Gesetzen der Ausführung, und die Form ist die Koordination bei objectissensuum, die Subordination bei objectis rationis. Die abstraction hilft zur logischen Vollkommenheit, die Association aber zur aesthetischen. Das Abstráete ist isolirt, trocken, schwer; das Concrete verstekt, lebhaft und leicht. Vom Besonderen gilt zum Allgemeinen kein Schluß, und die Erkenntnis des Besonderen im Allgemeinen ist ohne Anschauung." Hier ist an Refl. 2368 zu erinnern, die schon früher herangezogen wurde, um den Zusammenhang mit den Lehren Baumgartens, auf die sie hinweist, herzustellen. Das Ergebnis ist, daß immer schärfer der Unterschied der beiden Arten der Vollkommenheit betont wird. Es wird ein Trennungsstrich gezogen, dessen Bedeutung nach Darstellung der Dissertation weiter untersucht werden soll. Wie weit die Probleme der letzteren in den Reflexionen dieses Zeitabschnittes hineinwirken, läßt sich natürlich nicht genau chronologisch feststellen, aber wenn Kant in der Dissertation und für die folgende Zeit die Trennung der Vernunft- und der Sinnenerkenntnis als das Wichtigste bezeichnete, so müssen alle Reflexionen von Bedeutung sein, die sich mit diesem Problem näher oder nur von ferne berühren. Erinnern wir uns daran, daß Kant gleichzeitig die ethischen Fragen im Zusammenhang dieser Abtrennung sah, so gewinnt eine

58

Ästhetik und Psychologie

Reflexion Bedeutung, da sie den Vollkommenheitsbegriff nunmehr in dreifacher Anwendung verwertet: Refl. 1786 (1764-69): „Logische Vollkommenheit ist theils historisch, theils rational; jene ist spekulativ." Die ästhetische Vollkommenheit der Empfindung oder Geschmacks (an sich selbst). Die praktische des Nutzens oder der Sittlichkeit. Besonders wertvoll erscheint auch Refl. 1804 (1769 oder früher). „Die Vollkommenheit betrifft entweder die Quantität oder die Qualität. (g Diese entweder die materiale oder formale Vollkommenheit). Die letztere ist entweder (s theoretisch oder praktisch) nach Regeln des Verstandes und Vernunft oder nach Regeln des Geschmacks (s Sinnlichkeit) oder nach Regeln des Willens [Gefühls] - (s Erkenntnis, Gefühl und Begierde). Die logische Vollkommenheit betrifft entweder die Materie: Wahrheit, oder die Form: Deutlichkeit. (s Allgemeinheit) (s logische (g nach Begriffen), ästhetische (g nach Anschauungen) und praktische Vollkommenheit)." Phantasie Unter dieser Überschrift vereinige ich die Reflexionen, welche sich zu den Begriffen „Phantasia" (Baumgarten, § 557-59) und Facultas fingendi (§ 589-94) finden. Kant unterscheidet mit seinem Autor die Einbildungskraft und das sinnliche Dichtungsvermögen. Die Phantasia (imaginatio, visum, visio), deutsch: Einbildung, ist die Fähigkeit, Vorstellungen, die früher aufgetreten sind, zu reproduzieren : phantasia perceptiones reproducuntur, et nihil est in phantasia, quod non ante fuerit in sensu. In diesem alten, aristotelischen Sinne faßt Kant das Wesen der Einbildungskraft. In Refl. 316 (1769-71) heißt es: „Die Phantasie besteht darin: das Gegenwärtige reproduciert das Vergangene und eine dieser Vorstellungen die andere; jenes ist die Ursache der Reproduktion, dieses der Kontinuation, beides nach dem Gesetz der Association." Phantasie ist Nachbildung, unterschieden wird von ihr Einbildung (fictio). Eine scharfe Definition findet sich in diesen frühen Reflexionen nicht, aber die Beispiele zeigen, daß Kant an die Fähigkeit des Menschen, Bilder aus seinen Vorstellungen wachzurufen, die am Faden der Assoziation ablaufen, dachte. Er stellt die Frage, „ob der Fluß der Phantasie, auch die Direktion ihrer Bildungskraft von dem Gehirn herrühre?" So hatte Baumgarten im Anschluß an Descartes gelehrt (§ 56°)• Kant spricht seinem pädagogischen Zweck entsprechend von den Gefahren der Einbildungen. Auch die Einbildungskraft im zweiten Sinne ist unwillkürlich. Sie ist von Stimmungen, Affekten und Leidenschaften beeinflußt, so bedarf sie einer Korrektur. So heißt es in Refl. 364 (1766): „Die Verkehrtheit der Phantasie ist entweder die Regellosigkeit: die wird durch den Verstand verbessert, oder die Unbändigkeit (ausschweifend): die wird durch Sinne gebessert."

Ästhetik und Psychologie

59

Eine sehr wichtige Ergänzung für das Verständnis dieser Lehre von der Dichtungskraft gibt der „Versuch über die Krankheiten des Kopfes" (1769). Dort wird gesagt: „Die Seele eines jeden Menschen ist selbst in dem gesundesten Zustand geschäftig, allerlei Bilder von Dingen, die nicht gegenwärtig sind, zu malen, oder auch an der Vorstellung gegenwärtiger Dinge einige unvollkommene Ähnlichkeit zu vollenden durch einen oder andern chimärischen Zug, den die schöpferische Dichtungsfähigkeit mit in die Empfindung einzeichnet." (II, 264.) Der Ablauf dieser Bilder wird mit dem der Träume verglichen; wir haben es also mit Vorgängen zu tun, die stark körperlich bedingt sind und einem Mechanismus gehorchen. Trotz des Ausdrucks „schöpferisch" dürfen wir nicht an das Schaffen des Dichters denken. Geschmack - Iudizium Rein psychologische Bestimmungen enthalten die Ausführungen in Reil. 624 (1769 oder früher). „Beim Geschmack muß die Vorstellung sinnlich sein, d. i. synthetisch und nicht durch Vernunft, zweitens: intuitif. Drittens: über die Proportionen der Empfindungen unmittelbar, also ist das Geschmacksurteil nicht obiektiv, sondern subjektiv; nicht durch Vernunft, sondern a posteriori durch Lust und Unlust; ferner ist es nicht eine bloße Empfindung, sondern das, was aus verglichenen Empfindungen entspringt. Er beurtheilt nicht das nützliche und gute, sondern das zufällig Angenehme, Kleinigkeiten." Es folgt dann ein späterer Zusatz, „so fern deren Erscheinung mit den Gesetzen der Empfindungsvermögen einstimmig ist". Das Vorhandensein dieses Zusatzes scheint mir zu beweisen, daß die Reflexion vor der Dissertation anzusetzen ist. Eine Vorstufe für die Lehre vom Spiel der Erkenntniskräfte läßt sich wohl in der Wendung von der Vorstellung über die Proportionen sehen. So findet sich denn auch eine ganze Anzahl Reflexionen, in denen der Gedanke des Spiels verwertet wird. 638 (1769) spricht vom Spiel der Empfindungen, 689 (1769/70) gibt den Unterschied: „ O f t sind die Empfindungen unangenehm, aber das Spiel der Empfindungen ist angenehm", Reil. 696 (1769-70) spricht vom Spiel der Sinne. A m ausführlichsten verwertet 618 (1769 oder früher) den Gedanken des Spiels, und zwar in Anwendung auf Poesie. „Dichtkunst ist ein künstliches Spiel der Gedanken . . . Dazu gehört, daß alle Gemüthskräfte in ein Harmonisch Spiel versetzt werden. Folglich müssen sie sich und der Vernunft nicht hinderlich, obzwar auch nicht beförderlich sein. Das Spiel der Bilder, der Ideen, der affecten und Neigungen, endlich der bloßen Eindrücke in der Zeitabteilung, das Tactmäßige (Versart) und Gleichklang (Reim) . . . Vernunft verdirbt das Spiel . . . Poesie ist das schönste aller Spiele, indem wir alle Gemütskräfte darin versetzen . . . Die Poesie hat weder die Empfindungen noch Anschauungen noch Einsichten zum Zweck, sondern alle die Kräfte und Federn im Gemüthe in Spiel zu setzen; ihre Bilder sollen nicht zur Verständlichkeit mehr beitragen, sondern die Einbildung lebh a f t bewegen. Sie müssen einen Inhalt haben, weil ohne Verstand keine Ordnung ist und dessen Spiel das meiste Wohlgefallen erregt." Es ist un-

6o

Ästhetik und Psychologie

zweifelhaft, daß wir hier tastende Versuche haben, die dann später im Spiel der Erkenntniskräfte ihre endgültige Darstellung gefunden haben. Daß mit der Charakteristik des Schönen als eine Spiels der Empfindungen, keine genügende Bestimmung gegeben sei, zeigen Reflexionen, in denen Reiz und Schönheit voneinander unterschieden werden. Reil. 626 (1769 oder später) sagt: „Was in der Erscheinung gefällt, aber ohiie Reitz, ist hübsch, schicklich, anständig (harmonisch, symmetrisch). Wenn der Reitz aus der unmittelbaren Empfindung entspringt, so ist die Schönheit sinnlich; ist sie aber aus Nebengedanken entsprungen, so heißt sie ideal. Fast aller Reiz der Schönheit beruht auf Nebengedanken." Refl. 640 (1769) drückt sich am klarsten aus: „In Sachen des Geschmaks muß man den Reiz von der Schönheit unterscheiden; der erstere geht oft vor diesen oder jenen verloren, aber die Schönheit bleibt. Die geputzten Zimmer bleiben immer schön, aber sie haben ihren Reiz mit dem Tode der Geliebten verloren ... Diese Begriffe von Schönheit, sagt Winckelmann, sind wollüstig, d. i. man unterscheidet nicht den Reiz von der Schönheit... Die schöne Person gefällt durch ihre Gestalt und reizt durch ihr Geschlecht ... Es ist schwer, diesen Reiz von der Schönheit abzusondern; aber man darf nur alle unsere besonderen Bedürfnisse und Privatverhältnisse, worin wir uns von anderen unterscheiden, weglassen, so bleibt das kaltsinnige Geschmacksurteil übrig. Der Schuldturm bleibt in dem Urteil des Kenners, der ihn ohne Abscheu nicht sehen kann, gleichwohl ein schön Gebäude; aber dieses Urtheil ist ohne allen Reiz; im Geschmack gefällt es, aber in der Empfindung mißfällt es." Die Bedeutung dieser von Winckelmann herkommenden Anregung wird aus der Erinnerung klar, daß das Urteil ohne allen Reiz ein Vorläufer des ohne alles Interesse ist. Es wäre aber doch wohl falsch, daraus weitreichende Folgerungen abzuleiten. Zu beachten ist, daß solche Anregungen nur im Zusammenhang der Entwicklung der Kantischen Ästhetik, ja seiner Philosophie überhaupt, ihre Bedeutung erhalten. Es muß für sie erst die Stunde gekommen sein, in der sie ihre Fruchtbarkeit erweisen. Zu beachten ist auch, daß die genannte Formulierung ja nur einen negativen Charakter hat, da sie ja nur sagt, was das ästhetische Urteil nicht ist. So läßt sich aus ihr kaum etwa Wesentliches zum Verständnis der weiteren Entwicklung gewinnen. Bedeutsamer scheint mir ein anderes zu sein: der Gedanke von dem geselligen Charakter des ästhetischen Urteils. Daß Kant hier Anregungen von den Engländern erfuhr, ist längst bekannt. Und welche Bedeutung der Gedanke der Mitteilbarkeit in seinem ästhetischen Hauptwerk bekam, wird sich später zeigen. Der Weg war der, daß die Allgemeinheit des ästhetischen Urteils zuerst einmal empirisch festgestellt wurde, die transzendentale Deduktion erfolgt dann erst in der Epoche der kritischen Philosophie. Es ist sicherlich kein Zufall, daß die Reflexionen zur Anthropologie in dieser Hinsicht besonders in Betracht kommen, da das Thema doch war, die menschliche Natur zu ergründen. Ich lasse hier zwei Reflexionen folgen: Refl. 653 (1769/70): „Das was im Geschmacke gefällt, ist eigentlich nicht die Erleichterung seiner eignen Anschauungen, sondern vornemlich das Allgemein-

Ästhetik und Psychologie

61

gültige in der Erscheinung, daß es also von dem bloßen Privatgefühl dem allgemeinen Anschauen oder auch den allgemeinen Regeln des Gefühls accomodirt wird. Denn in dem Verhältnis der Empfindungen steckt auch etwas, was allgemein gültig ist, obzwar jede Empfindung nur ein Privatgültigkeit der Annehmlichkeit haben mag. Die Leichtigkeit der Empfindung macht wohl Vergnügen, aber nicht die Leichtigkeit der Erkenntnis, außer in so fern das, was wir erkennen, auf unseren Zustand ein Verhältnis hat. Daher in der Einsamkeit die Proportionen der Sinnlichkeit kein Vergnügen machen können, aber wohl an dem, was uns angehört, in der Gesellschaft, weil dadurch andere uns etwas zu verdanken haben." Reil. 686 (1769/70): „Die Beschauung des Schönen ist eine Beurteilung und kein Genuss. Diese Erscheinung macht wohl einiges Vergnügen, aber bei weitem nicht im Verhältnis auf das Urteil des Wohlgefallens an der Schönheit, sondern dieses besteht blos in dem Urteil über die Allgemeinheit des Wohlgefallens an dem Gegenstande. Daraus ist zu sehen, daß, weil diese Allgemeingültigkeit unnütz ist, so bald die Gesellschaft fehlt, auch alsdann aller Reiz der Schönheit verloren gehen würde. Eben so wenig würde auch einige Neigung zur Schönheit in statu solitario entspringen." Daß Kant in dieser Zeit meist den Geschmack als Vermögen ästhetischer Urteile bezeichnet, erklärt sich wohl aus dem Einfluß der englischen und entsprach auch dem Brauch in der damaligen deutschen Ästhetik. Er hält aber daran fest, in den Geschmacksurteilen eine Beurteilung zu sehen. Dies geht aus den soeben zitierten Reflexionen hervor. Läßt sich aber auch durch die auch in anderer Hinsicht wertvolle Refl. 671 (1769/70) belegen: „Der Geschmack ist der Grund der Beurteilung, Genie aber der Ausübung. Die Critik ist die Beurtheilung nach allgemeinen Regeln. Dieweil diese Regeln sich aber auf den Geschmack gründen müssen, so ist ein Mann von Geschmack besser als ein ausgelehrter Critikus. Er giebt aber auch eine Doctrin der Beurteilung, welche auf allgemeinen Grundsätzen der Vernunft beruhet, als Logic Metaphysic und Mathematic." Damit ist wieder die Frage nach dem wissenschaftlichen Charakter der Ästhetik gestellt. Die Reflexionen über dies Thema sind außerordentlich zahlreich und bewegen sich um die Frage, ob Doktrin oder nur Kritik. Ich beginne mit einer Reflexion, die aus dem Unterschied zwischen angenehm und schön folgende Folgerung zieht: „Die Kunst angenehmer Empfindungen, d. i. zu Vergnügen, ist blos empirisch und verstattet auch nicht einmal Kritik und keine allgemeine Regeln, als die von Erfahrung abstrahirt sind." (684, 1769/70.) Dem „nicht einmal" entspricht, wenn das ästhetische Urteil mit dem logischen verglichen wird, ein „nur" (vgl. Refl. 622,1769). „Die Vernunfterkenntnis des Schönen ist nur Kritik und nicht Wissenschaft, erklärt das Phaenomenon, aber sein Beweis ist a posteriori." Damit wäre dann die schon verwertete Reflexion 624 zu vergleichen.

62

Ästhetik und Psychologie

Genie Auch die Anfänge der Genielehre finden sich in diesen Reflexionen, und zwar im Gegensatz zur Wissenschaft. So erklärt Refl. 621 (1769 oder früher): „Die schöne Kunst gründet sich auf keine Wissenschaft und ist eine Kunst des Genies." Die zusammenfassende Darstellung der Genielehre ist einer späteren Stelle vorbehalten. Es ist schon hervorgehoben worden, daß diese Zusammenstellung der Reflexionen aus den sechziger Jahren nicht beanspruchen kann, eine zeitlich gesicherte Ordnung und damit eine klare Linie der Entwicklung zu geben. Der Eindruck, der durch sie erweckt wird, muß aber doch wohl der einer außerordentlich lebendigen Gedankenbewegung sein. Wie die sechziger Jahre überhaupt eine Zeit der Gärung sind, so sind auch die ästhetischen Überlegungen in dauerndem Fluß. Nirgends läßt sich eine beherrschende systematische Idee finden, eher doch wohl Ansätze zu späterer Fragestellung. Zusammenfassend kann folgendes gesagt werden: Der Vollkommenheitsbegriff spielt weiter eine große Rolle und damit der Versuch, die beiden Arten der Vollkommenheit voneinander zu sondern oder auch sie zu vereinigen. Bei diesen Scheidungsversuchen tritt nun der wichtige Unterschied der subordinatio und der coordinatio auf. Darin liegt das Aufgeben des graduellen Unterschiedes zwischen rationaler und sinnlicher Erkenntnis. An seine Stelle tritt eine Unterscheidung, die aus der verschiedenen Wesensart der beiden Erkenntnisvermögen gewonnen wurde. Die Vereinigung eines Mannigfaltigen durch einen Begriff ist wesensmäßig von der in einer Anschauung unterschieden. Schon längst war das Recht der Sinnlichkeit gegenüber dem Verstände gefordert worden, jetzt war diese Forderung aus einem Prinzip begründet. Die Lehre vom Geschmack in dieser Zeit zeigt einen starken Einfluß der englischen Ästhetik. Sehr entschieden wird sein gesellschaftlicher Charakter betont und damit das Problem der Geltung ästhetischer Urteile aufgeworfen. Eine große Rolle spielt jetzt die Lehre vom Spiel, die in verschiedenen Formen auftritt. Entscheidend ist dabei die Einsicht, daß das ästhetische Erlebnis mehr als bloße Empfindung ist. Spiel kann nur als ein Zusammenwirken verschiedener Kräfte verstanden werden, die Federn im Gemüte, wie es in Erinnerung an Leibniz heißt, werden angeregt. Endgültig kann die Einsicht genannt werden, daß die Lehre vom Geschmack nicht Doktrin, sondern nur Kritik sein könne.

III. V O N D E R D I S S E R T A T I O N ZUR K R I T I K DER R E I N E N VERNUNFT 1770-1781 Über die Entwicklung der Kantischen Philosophie in dem Jahrzehnt von 1770-1781 liegt ein wohl nie aufzuhellendes Dunkel, das nur durch einige briefliche Äußerungen und auch nur für die ersten Jahre nach der Dissertation aufgehellt wird. Gewiß ist, daß die Probleme des Erkennens im Vordergrunde standen, aber ebenso gewiß, daß Kant die von ihm erhoffte Methode auf die anderen Gebiete der Philosophie, besonders die Ethik, anwenden wollte. Es bestand für ihn kein Zweifel, daß es für Erkennen und Wollen allgemeingültige Prinzipien geben müsse. An diesem Punkt berühren sich die Probleme der Erkenntnistheorie und der Moralphilosophie. Demgegenüber spielt die Ästhetik eine Nebenrolle, die nur sehr allgemein dadurch charakterisiert werden kann, daß Kant an dem Gedanken, sie gehöre in ein System der Philosophie, festhält. Schließlich aber wird sie in der „Kritik der reinen Vernunft" aus ihrer überlieferten Stellung herausgedrängt. Diese Erscheinung muß aus der Fragestellung der Dissertation verstanden werden. Bei Übersendung seiner Schrift an Lambert schrieb Kant am 2. September 1770 einen Begleitbrief, in dem er als sein Thema die kritische Grundlegung der Metaphysik bezeichnete. Und weiter sagt er, daß von seiner Dissertation die 2., 3. und 5. Sektion eine Materie behandeln, „welche wohl einer sorgfältigeren und weitläuftigeren Ausführung würdig wäre". Diese Sektionen untersuchen den Unterschied zwischen den sensibilia und intelligibilia, die Prinzipien der Form der sinnlichen Welt und die Methode für die sensitiva und intellectualia in der Metaphysik. Damit ist die Fragestellung für unsere Untersuchung gegeben. Während dieser Teil der Darstellung schließlich mit einem für die Ästhetik negativen Ergebnis endigen muß, haben die zu behandelnden Jahre aber doch noch eine andere Bedeutung. Ist es doch die Zeit, in der die Vorlesung über Anthropologie selbständig wurde. Daraus ergab sich für die Ästhetik eine reichere Ausgestaltung in diesem Rahmen, und so bieten die Reflexionen und Vorlesungshefte eine große Fülle neuen Materials. Dies gilt vor allem für die Lehre vom Genie. Wir beginnen mit der Dissertation: „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis" vom Jahre 1770. Nachdem Kant in § 1 von der facultas sensitiva1 et intellectualis gesprochen

64

Von der Dissertation zur K r i t i k der reinen Vernunft

und auch sonst auf die erstere die Bezeichnung „facultas" angewendet hat, erhalten wir in § 3 die grundlegende Definition: „Sensualitas est

receftivüas

subiecti, per quam possibile est, ut status ipsius repraesentativus objecti alicuius praesentia certo modo afficiatur. Intelligentia

(rationalitas) est facultas

subjecti, per quam, quae in sensus ipsius per qualitatem suam incurrere non possunt, repraesentare v a l e t . " Wir erhalten weiter die Bestimmungen: Objectum sensualitatis est sensibile; quod autem nihil continet, nisi per intelligentiam cognoscendum, est intelligibile und den Gegensatz fthaenomenon - noumenon. A m Schluß des Paragraphen steht dann der bedeutungsvolle Satz: „Cognitio, quatenus subjecta est legibus sensualitatis est sensitiva,

intelligentiae, est

intellectualis s. rationalis." E s ist also klar, daß die Bezeichnung „sensitiva" verbunden werden soll mit der Lehre von den Gesetzen, denen die Sinnlichkeit unterworfen ist. Zum Verständnis führt dann § 5, wo sich als Oberbegriff die Bezeichnung cognitio sensualis findet, dann aber die Unterscheidung zwischen Form und Stoff der sinnlichen Erkenntnis eingeführt wird und wir für die materia das Merkmal sensualis für die forma sensitiva finden, und zwar in der Gegenüberstellung: cognitiones sensuales und repraesentationes sensitivae. Eine bedeutsame Rolle spielt weiter der Begriff des intuitus. Er wird im Sinne eines Seelenvermögens verstanden und so vom intuitus humanus gesprochen. Es gibt leges intuitus oder - in anderer Formulierung - condiciones intuitus sensitivi. In diesem Sinne werden Raum und Zeit als intuitus puri bezeichnet, und es wird ein intuitus sensualis in Gegensatz gestellt zu einem intuitus sehsitivus quidam, at purus. Er ist a sensationibus vacuus ideo autem non intellectualis. Die Einsicht von dem intuitus sensitivus als einer Quelle, wenn auch nur formaler Erkenntnis führt zu der berühmten Bemerkung in § 7 : „ E s hisce videre est, sensitivum male exponi per confusius cognitum, intellectuale per id, cuius est cognitio distinda."

Mit einem Hinweis auf Wolff als ihren Urheber

wird dessen Unterscheidung als eine logische abgelehnt. Positiv wird gesagt: Possunt sensitiva admodum esse distincta et intellectualia maxime confusa. K a n t will ein anderes Prinzip der Unterscheidung einführen; maßgebend ist die Formulierung in § 5, wo es heißt: „Maximi autem momenti hic est notasse, cognitiones Semper habendas esse pro sensitivis, quantuscunque circa illas intellectui fuerit usus logicus. Nam vocantur sensitivae firofiter genesin, non ob collationem quoad identitatem vel oppositionem." Diese Bestimmungen erfahren nun eine neue Beleuchtung, wenn wir fragen, wie die neue Lehre von Raum und Zeit als Quellen allgemeingültiger Erkenntnis i n der Dissertation begründet wird. Wir finden die transzendentale Methode in ihrer ersten Formulierung und Anwendung. Ich erinnere an die klassische Stelle in der Kritik der reinen Vernunft: „ I c h nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, beschäftigt." (III, 43.) Raum und Zeit sind Erkenntnisarten. Wie gewinnen wir eine Erkenntnis von ihnen? Angeboren sind sie nicht, sondern erworben. Conceptus uterque procul dubio acquisitus est, non a sensu quidem objectorum (sensatio enim materiam

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

65

dat, non formam cognitionis humanae) abstractus, sed ab ipsa mentis actione, secundum perpetuas leges sensa sua coordinante, quasi typus immutabilis, ideoque intuitive cognoscendus. Sensationes enim excitant hunc mentis actum, non influunt intuitum, neque aliud hic connatum est nisi lex animi, secundum quam certa ratione sensa sua e praesentia objecti conjungit (Cor. zu § 15). Zur Erläuterung kann auch das über die conceptus metaphysici in § 8 Gesagte herangezogen werden: „conceptus in ipsa metaphysica obvii non quaerendi sunt in sensibus, sed in ipsa natura intellectus puri, non tanquam conceptus connati, sed e legibus menti insitis (attendendo ad eius actiones occasione experientiae) abstracti, adeoque acquisiti." Als Beispiele werden aufgezählt: possibilitas, exsistentia, necessitas, substantia, causa etc. Es ist von größter Wichtigkeit, diese Formulierungen im Bewußtsein zu erhalten, da in ihnen entscheidende Bestimmungen für die Frage nach dem wissenschaftlichen Charakter der Ästhetik gegeben sind. Kant hat in der Dissertation die Frage nach der Möglichkeit allgemeingültiger Erkenntnis mit Hilfe einer neuen, der transzendentalen Methode, beantwortet, und zwar für die Mathematik und die Metaphysik. Daß die praktische Philosophie ebenfalls auf den intellectus purus gegründet werden müsse, wird in der Polemik des § 9 gegen Epikur und Shaftesbury ausdrücklich gesagt. Für die in Betracht kommenden Erkenntnisvermögen nahm Kant ein ihnen immanentes Gesetz an. Für den Verstand ist das selbstverständlich, nun sprach er aber auch von den „leges intuitus, leges cognitionis sensitivae". Diese Bestimmungen enthalten die Auffassung, die Kant in der Dissertation vom Charakter der transzendentalen Methode hatte. Der Usprung dieser Ansicht liegt in der in der Naturphilosophie metaphysisch begründeten Lehre von den Gesetzen, denen die Kräfte der Natur nach ihrem Ursprung aus Gott unterworfen sind. So heißt es in der Preisschrift: „Der menschliche Verstand ist so wie jede andre Kraft der Natur an gewisse Regeln gebunden." (11,291.) Die Erkenntniskräfte sind eben auch Naturkräfte. Zum weiteren Beweis kann eine Stelle der „Kritik der reinen Vernunft" dienen, die dies ebenfalls klar ausspricht. Dort wird die Entstehung eines transzendentalen Scheins erklärt und gesagt, daß weder die Sinnlichkeit noch der Verstand je allein für sich den Irrtum erzeugen können. Dafür erhalten wir die Begründung: „Keine Kraft der Natur kann von selbst von ihren eigenen Gesetzen abweichen." (HI, 234-) Es ist aber nun notwendig in bezug auf die Sinnlichkeit, noch eine wichtige Unterscheidung näher zu beleuchten. § 4 der Sectio II, die de sensibilium atque intellegilium discrimine generatim handelt, sagt von dem Sensitiven in der cognitio, daß es von der indoles des subjecti abhängt, quatenus a praesentia objectorum huius vel alius modificationis capax est. Hinzu kommt noch die Verschiedenheit der Subjekte. Davon wird eine Erkenntnis unterschieden, die frei von solcher subjektiven Bedingung ist und nonnisi objectum respicit. Daraus wird nun geschlossen: patet sensitive cogitata esse rerum repraesentationes, uti apparent, intellectualia autem sicuti sunt. Dann aber beschäftigt sich der Paragraph nur noch mit den sensualia und macht eine neue Unterscheidung. 5 Menzer, Kants Ästhetik

66

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

In der repraesentatio sensus wird die materia und die forma unterschieden. Der Unterschied beider wird nun so angegeben: „quemadmodum sensatio, quae sensualis repraesentationis maieriam constituit, praesentiam quidem sensibilis alicuius arguit, sed quoad qualitatem pendet a natura subjecti, quatenus ab isto objecto est modificabilis; ita etiam eiusdem repraesentationes forma testatur utique quendam sensorum respectum aut relationem, verum proprie non est adumbratio aut Schema quoddam objecti, sed nonnisi lex quaedam menti insita, sensa ab objecti praesentia arta sibimet coordinandi. Nam per formam seu speciem objecta sensus non feriunt; ideoque, ut varia objecti sensum afficientia in totum aliquod repraesentationis coalescant, opus est intemo mentis principio, per quod varia illa secundum stabiles et innatas leges speciem quandam induant." Für unsere Betrachtung ist wichtig, daß der subjektive Charakter aller Sinneserkenntnis festgelegt ist. Die Möglichkeit einer allgemeingültigen Erkenntnis muß dann ganz im Subjekte liegen, genauer in der lex innata coordinandi. Die Materie der Sinneserkenntnis sind die varia objecti sensum afficientia, der ungeordnete Stoff der Erfahrung, wie es später heißt. Welche Bedeutung haben nun diese Entscheidungen für die Ästhetik? Es kann kein Zweifel sein, daß die ästhetischen Eindrücke unter die materia cognitionis sensitivae zu zählen sind. Damit fallen sie unter die Bestimmung der Verschiedenheit, je nach der Verschiedenheit der Eindrücke durch die Gegenstände und der sie aufnehmenden Subjekte. Die unleugbare Tatsache, daß in Natur und Kunst geformte Gegenstände auftreten, die schön oder häßlich genannt werden, wurde durch diese Bestimmung noch nicht erklärt, denn alle Aussagen der Sinne über die Formen der Gegenstände waren ja eingeschränkt auf Raum und Zeit. Was war das charakteristische Merkmal der ästhetischen Formen? Wie war die Geltung ästhetischer Urteile zu erklären? Mit der vagen Behauptung von der gleichen Menschennatur im Sinne Homes und der „Beobachtungen" konnte Kant sich nicht mehr begnügen. Für die Ethik lehnte er jene Berufung ausdrücklich ab. Hielt er also an dem Gedanken von der Geltung ästhetischer Urteile, die sie von den Aussagen über bloße Sinneseindrücke unterschied, fest, so mußte für diese Geltung irgendein Grund angegeben werden, und dieser Grund konnte nur im Subjekte liegen. Dabei lag für die Ästhetik eine besondere Problematik vor. Daß Logik und Mathematik Wissenschaften seien, hatte Kant nie bezweifelt; für die Möglichkeit der letzteren hatte er sogar in der Dissertation eine sichere Grundlage gegeben. Von der Metaphysik und Ethik hatte er es behauptet oder gefordert, beide sollten auf dem intellectus purus aufgebaut werden. Über die Ästhetik hat er sich nicht ausgeprochen. Entsprach sie den erkenntniskritischen Forderungen, die die Dissertation aufstellte? •Wir haben wohl keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß Kant nach wie vor die Geschmackslehre als zum Ganzen der Philosophie gehörig betrachtete; Briefe aus der Zeit nach der Dissertation werden dies beweisen. Damit war eine Lösung, vorbereitet oder gefordert, die irgendwie ein apriorisches Moment im

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

67

ästhetischen Urteil anerkennen und den Grund dazu im Subjekte suchen mußte. Der Vollkommenheitsbegriff konnte wohl kaum mehr gelten. In der Dissertation findet er eine zweifache Verwertung. In § 9 spricht K a n t von der perfectio noumenon und unterscheidet eine solche in theoretischem und eine solche in praktischem Sinne, in ersterem ist es das ens summum, im zweiten die perfectio moralis. Beide entspringen aus dem intellectus purus. Eine perfectio aesthetica ist unmöglich, da der sinnliche Charakter der ästhetischen Gegenstände doch nie aufgehoben werden konnte. Welchen W e g wies nun die Dissertation? Wir müssen fragen, welches die nächste Aufgabe war, die sich K a n t stellte. In der Dissertation spricht er von dem sensitivae cognitionis cum intellectuali contagium und warnt: sollicite cavendum esse, ne principia sensitivae cognitionis domestica terminos suos migrent ac intellectualia afficiant. (§ 23, 24.) Diese Aufgabe wurde allerdings in bezug auf die metaphysische Begriffsbildung gestellt. Bekanntlich war es das Antinomienproblem, dessen Lösung K a n t von der Unterscheidung der Wirklichkeit in die Phaenomena und Noumena aus gefunden zu haben glaubte. Seit etwa einem Jahre, wie er an Lambert am 2. September 1770 mit Überreichung seiner Dissertation schrieb, meinte er einen Begriff gefunden zu haben, mit dem er die „metaphysischen Quaestionen" glaubt prüfen zu können, es war die Lösung des Lehrbegriffs, den er später transzendentalen Idealismus nannte. Trotzdem läßt sich behaupten, daß jene Aufgabe auch ihre Bedeutung für das Problem einer Ästhetik haben mußte. Erinnern wir uns doch daran, daß schon, als Baumgarten die Ästhetik zu einer selbständigen Disziplin machen wollte, die nächste Aufgabe war, die beiden Erkenntnisarten je nach ihrer Eigenart zu bestimmen, und voneinander zu sondern, allerdings mit anderer Absicht, nämlich mit

der, die Sinnlichkeit von den Ansprüchen der Vernunft zu

befreien. Die nächste Aufgabe wird nun sein zu untersuchen, ob sich in der Dissertation zwischen beiden Erkenntnisarten Unterschiede zeigen, die ihre Bedeutung behalten, ohne daß darum auf die Probleme der Metaphysik das Augenmerk gerichtet wird. Das ist nun wirklich der Fall. In § 5 unterscheidet K a n t einen doppelten Gebrauch des Intellektes: den usus realis und den usus logicus. Dem ersteren dantur conceptus ipsi vel rerum vel respectuum; also ein metaphysischer Gebrauch. Vom zweiten wird gesagt, daß ihm undecumque dati [conceptus] sibi tantum subordinantur,

inferiores nempe superioribus (notis

communibus) et conferuntur inter se secundum pricipium contradictionis, also die übliche Begriffslogik, in unserem Sinne formale Logik. Die entscheidende Funktion ist das subordinare. Ihr wird gegenübergestellt die coordinatio durch die Sinnlichkeit. Diese Unterscheidung findet in der Dissertation vielfache Verwertung und soll noch näher durch Belegstellen beleuchtet werden. Im § 1, also zur Einleitung der ganzen Betrachtung, wird sie eingeführt: „Aliud est datis partibus compositionem totius [mundi] sibi concipere, per notionem abstractum intellectus, aliud hanc notionem generalem ... exsequi per facultatem cognoscendi sensitivam. Prius fit per conceptum compositionis in genere, qua5'

68

Von der Dissertation zur K r i t i k der reinen Vernunft

tenus plura sub eo (respective erga se invicem) continentur, adeoque per ideas intellectus et universales; posterius nititur condicionibus temporis, quatenus, partem parti successive adjugendo, conceptus compositi est genetice i. e. per synthesin possibilis et partinet ad leges intuitus." Wie in diesem Zitat schon verwertet, wird der Gegensatz vom Intellekt und Sinnlichkeit auch durch sub quo (conceptus universalis) und in quo (intuitus purus) ausgedruckt. Wie oben schon belegt, wird in bezug auf Raum und Zeit der Ausdruck lex coordinandi gebraucht. Auf die Zeitanschauung wird auch einmal der Ausdruck complectere angewendet. Es sei noch einmal betont, daß die Unterscheidung zwischen Intellekt und Sinnlichkeit in der Dissertation im wesentlichen nur für die Probleme der Metaphysik ausgewertet wurde. Aber schließlich diente der Gegensatz zwischen subordinatio und coordinatio doch auch allgemein als Gegensatz zwischen begrifflichem Denken und sinnlicher Anschauung. Das ästhetische Urteil konnte unmöglich als eine Subsummierung unter einen höheren Begriff, z. B. den der Vollkommenheit, aufgefaßt werden. Unleugbar blieb ferner, daß die Erfahrung von schönen Gegenständen durch die Sinne gewonnen wurde, daß aber ihr Gegebensein in den Formen von Raum und Zeit unmöglich ausreichte, um eine Definition des Schönen oder Erhabenen zu geben. Es mußte also zu dem Erfassen der Dinge als Erscheinungen noch etwas anderes hinzutreten, was sie als schöne Gegenstände unter den Erscheinungen auswies. In den Problemkreis der Dissertation gehören nun einige Briefstellen hinein, die, wenn auch nur in unbestimmten Linien, erkennen lassen, unter welchen Einflüssen sich Kants Ästhetik weiter entwickelte. Der Brief an Lambert vom 2. September 1770 zeigt ihn mit den metapyhysischen Problemen im Sinne des Programmes der Dissertation weiter beschäftigt. „Die allgemeinsten Gesetze der Sinnlichkeit spielen fälschlich in der Metaphysik, wo es doch bloß auf Begriffe und Grundsätze der reinen Vernunft ankommt, eine große Rolle. Es scheint eine ganz besondere, obzwar blos negative Wissenschaft (phaenomenologia generalis) vor der Metaphysik vorher geben zu müssen, darin den Prinzipien der Sinnlichkeit ihre Gültigkeit und Schranken bestimmt werden, damit sie nicht die Urteile über Gegenstände der reinen Vernunft verwirren." Diese Wissenschaft wird auch eine propädeutische Disziplin genannt. Bedeutsamer ist aber die Äußerung im Brief an Herz vom 7. Juni 1771. Kant sagt hier: „Sie wissen, welchen großen Einfluß die gewisse und deutliche Einsicht in den Unterschied dessen, was auf subjectivischen Prinzipien der menschlichen Seelenkräfte nicht allein der Sinnlichkeit, sondern auch des Verstandes beruht, von dem, was gerade auf die Gegenstände geht in der ganzen Weltweisheit, ja sogar auf die wichtigsten Zwecke der Menschen überhaupt habe. Wenn man nicht von der Systemsucht hingerissen ist, so verifizieren sich auch einander die Untersuchungen, die man über eben dieselbe Grundregel in der weitläufigsten Anwendung anstellt. Ich bin daher jetzo damit beschäftigt, ein Werk, welches unter dem Titel: Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft, das Verhältnis der vor die Sinnenwelt bestimmten Grundbegriffe und Gesetze zusammt dem

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

' 69

Entwürfe dessen, was die Geschmackslehre, Metaphysik und Moral ausmacht, enthalten soll, etwas ausführlich auszuarbeiten." Der Titel des geplanten Werkes gibt noch einmal das durch die Dissertation gestellte Thema: Abgrenzung von Sinnlichkeit und Vernunft. Wir dürfen wohl annehmen, daß das geplante Werk in seinem ersten und wohl umfangreicheren Teile das enthalten sollte, was als Propädeutik zur Metaphysik bezeichnet wurde, von der die Dissertation ein Versuch war. Durch das leider sehr unbestimmte „zusammt" wird dann auf einen zweiten hingewiesen, der einen Entwurf der Geschmackslehre, Metaphysik und Moral enthalten sollte. Die Geschmackslehre wird also als zum System der Philosophie gehörig betrachtet. Für sie gilt auch, daß die Entscheidung des allgemeinen Problems vorbereitend sein sollte. Und wenn man die sehr allgemeine Wendung bedenkt, wonach jene Untersuchung Bedeutung für die ganze Weltweisheit habe und daß die zu findende Grundregel in der weitläufigsten Anwendung untersucht werden sollte, so ist wohl anzunehmen, daß dies auch für die Geschmackslehre gilt. Weiter ist daran zu erinnern, daß Metaphysik und Moral beide ihre Quellen in der reinen Vernunft haben sollten. Das läßt sich natürlich von der Geschmackslehre nicht in vollem Umfang behaupten, aber daß sie mit jenen beiden zusammen genannt wurde, muß doch irgendwie in der Ansicht begründet sein, daß in ihr Prinzipien enthalten sind, die über die nur sinnliche Erkenntnis hinausführen. Daß sie an erster Stelle genannt wird, läßt sich wohl dahin interpretieren, daß der Gedanke von der Ästhetik als einer Logik der Sinnichkeit, als einem analogon rationis noch nicht aufgegeben war. In etwas veränderter Form erhalten wir im Brief an Herz vom 21. Februar 1772 wieder einen Plan des Werkes. Kant erinnert hier zuerst an die Problemstellung der Disxertation und an die Unterhaltungen mit seinem Schüler. Dann fährt er fort: „In der Unterscheidung des Sinnlichen vom Intellektualen in der Moral und denen daraus entspringenden Grundsätzen hatte ich es schon vorher ziemlich weit gebracht. Die Prinzipien des Gefühls, des Geschmacks und der Beurteilungskraft, mit ihren Wirkungen, dem Angenehmen, Schönen und Guten hatte ich auch schon vorlängst zu meiner ziemlichen Befriedigung entworfen und nun machte ich mir den Plan zu einem Werke, welches etwa den Titel haben könnte: Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft. Ich dachte mir darin zwei Teile, einen theoretischen und praktischen. Der erste enthielt in zwei Abschnitten 1. Die phaenomenologie überhaupt. 2. Die Metaphysik, und zwar nach ihrer Natur und Methode. Der zweite ebenfalls in zwei Abschnitten. 1. Allgemeine Prinzipien des Gefühls, des Geschmacks und der sinnlichen Begierde. 2. Die ersten Gründe der Sittlichkeit." Wir haben keine Kenntnis von den Gründen, die zu diesem neuen Plan geführt haben, es ist also nur möglich, seinen Unterschied von dem früheren zu erörtern. Zuerst erscheint bedeutsam die Trennung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. Die erstere enthält wieder die allgemeine Phänomenologie, dann aber sollte die Metaphysik folgen. Unter dieser haben wir wohl das zu verstehen, was Kant später die Metaphysik der Natur nannte. Der praktische

yo

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

Teil, für den doch wohl auch die Phänomenologie als Propädeutik dienen sollte, ist umfangreicher geworden und enthält auf Grund einer Einteilung in Seelenvermögen eine Lehre vom Angenehmen, Schönen und Guten. Unter Prinzip versteht K a n t in der Dissertation (§ 13) den Grund der Verknüpfung der Teile zu einem Ganzen, z. B. Weltall oder Verknüpfung der Erscheinungen. Wenn in dem Brief von Wirkungen der Prinzipien des Gefühls, Geschmacks und der Beurteilungskraft gesprochen wird, so wäre an eine systematische Zusammenfassung der drei Lehren zu denken, jede aus der Natur des ihr entsprechenden Seelenvermögens verstanden. Schwierigkeiten bereitet nun die Zweiteilung des praktischen Teils. Es ist gewiß, daß die ersten Gründe der Sittlichkeit aus der Vernunft abgeleitet werden müssen. Man könnte also diesen Teil die Metaphysik der Sitten nennen. Aber wie ist der erste Teil zu verstehen und besonders die Stellung der Geschmackslehre in ihm? Zwar die Gliederung läßt sich sehr wohl begreifen, wenn wir an die Lehre der Zeit vom Gefühl denken, der es ganz geläufig war, diese drei Gefühle und in dieser Reihenfolge zu unterscheiden. A b e r K a n t spricht an dritter Stelle von der sinnlichen Begierde. Vorher hatte er die Beurteilungskraft neben Gefühl und Geschmack genannt. Dieser Ausdruck erklärt sich aus der Dissertation, in der gesagt wird, daß die Philosophia moralis, und zwar die reine „principia dijudicandi prima suppeditat" (§ 9), also genau das, was im zweiten Teil der praktischen Philosophie gegeben werden sollte. Dann würde also der erste Teil die Prinzipien der praktischen Philosophie enthalten, die nicht aus reiner Vernunft stammen, sondern sich auf Erfahrung stützen. Es wäre die Aufgabe dieses ersten Teils, den allgemeinen Gedanken einer Trennung von Sinnlichkeit und Vernunft in bezug auf das Angenehme, Schöne und Gute durchzuführen. Es läßt sich sehr wohl denken, wie der W e g vom Angenehmen zum Schönen führte. Dann aber fallen wir gewissermaßen zurück, wenn nun von der sinnlichen Begierde die Rede ist. Man würde annehmen, daß dieser Teil besser als Propädeutik zum zweiten eine Stelle einnehmen müßte. Der Grund, weshalb K a n t so einteilte, ergibt sich, glaube ich, aus dem Unterschied zwischen den ersten Prinzipien der Beurteilung und anderen ethischen Begriffen. Wie dies gemeint ist, läßt sich aus der Einleitung zur „ K r i t i k der reinen Vernunft" verstehen, wo es in der ersten Auflage heißt: „Obzwar die obersten Grundsätze der Moralität und die Grundbegriffe derselben Erkenntnisse a priori sind, so gehören sie doch nicht in die Transzendentalphilosophie, weil die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierde und Neigungen, der Willkür usw., die insgesamt empirischen Ursprungs sind, dabei vorausgesetzt werden müßten" (IV, 24.) Diese Sätze enthalten die Begriffe, die K a n t nach unserem Brief nach den Prinzipien der Beurteilungskraft behandeln wollte. Damit ist wohl erwiesen, daß er im ersten Teile der praktischen Philosophie Wissenschaften wesentlich empirischen Charakters behandeln wollte und die reine Moralphilosophie davon absonderte. So kann kein Zweifel sein, wie er damals über den wissenschaftlichen Charakter der Ästhetik dachte. Die Entscheidung ergab sich aus den Lehren der Dissertation. Sie war keine endgültige, wie der im Brief entwickelte Plan überhaupt nicht, nur das eine kann man aus

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

71

•ihm herauslesen, daß die Ästhetik in der Mitte zwischen theoretischer Philosophie und Ethik stand. Mit der im Brief gegebenen Einteilung stimmt in wesentlichen Zügen Refl. 716 (1770/71) überein, worauf schon Erdmann und Adickes hingewiesen haben : „( g allgemeine) transscendentale Aesthetik, Transscendentale Logik oder Metaphysik. Von der besonderen Aesthetik (Lust und Unlust). Geschmackslehre. Von der praktischen Philosophie. Von der Bestimmung der menschlichen Vernunft. Erläuterungen." Nun erhalten wir aber in dem Brief eine bedeutsame Mitteilung. Unmittelbar nach der Charakteristik seines Planes sagt Kant, daß er beim Durchdenken des ersten, d. h. des theoretischen Teils, auf ein bisher ungelöstes Problem gestoßen sei. Es ist die Frage der transzendentalen Deduktion, wie subjektive Bedingungen des Denkens objektive Gültigkeit haben können. Ohne auf die Erörterungen des Briefes hier weiter einzugehen, sei nur hervorgehoben, daß Kant den Gedanken einer Transzendentalphilosophie ausspricht und erklärt, er sei jetzt imstande, „eine Kritik der reinen Vernunft, welche die Natur der theoretischen sowohl als praktischen Erkenntnis, so fern sie blos intellectual ist, enthält, vorzulegen." - Den ersten Teil, „der die Quellen der Metaphysik, ihre Methoden und Grenzen enthält", hofft er in drei Monaten herausgeben zu können, dann sollen „die reinen Prinzipien der Sittlichkeit" ausgearbeitet werden. In diesem neuen Plan ist also von einer Kritik des Geschmacks nicht mehr die Rede. Der Grund dieses Ausscheidens ist in dem Gedanken, daß es sich nur um intellektuale Erkenntnisse handle, angegeben. Es ist genau der gleiche, der in der Kritik der reinen Vernunft zur Ablehnung einer Ästhetik im Sinne Baumgartens führt. Es ist unmöglich, „die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen". Damit ist aber nicht gesagt, daß eine Kritik des Geschmacks unmöglich sei. Empirische Regeln kann sie sehr wohl enthalten. Kants Interesse an ässthetischen Fragen war durchaus nicht erloschen. Dies zeigen vor allem die Reflexionen und die Vorlesungen der Anthropologie. Sie liefern eine außerordentliche Fülle psychologischer Betrachtungen und viele Urteile, in denen gewisse ästhetische Regeln und Kriterien des Geschmackes sich erkennen lassen. Die Frage nach dem systematischen Ort der Ästhetik spielte demgegenüber keine größere Rolle, einmal, weil j a das Interesse ein anthropologisches war und weil zuerst eirmal die Probleme einer Kritik der reinenVernunft gelöst werden mußten. Erst das Jahr 1787 brachte die Wendung. Demnach ist nun zuerst zu untersuchen, welchen Einfluß die Dissertation nach der sie beherrschenden Fragestellung, deren Nachwirkung in den genannten Beispielen sich aufzeigen ließ, auf die Ästhetik ausgeübt hat. Diese Versuche finden ihr Ende im Jahre 1773. In die Nähe der Dissertation sind Reflexionen zur Logik und zur Anthropologie zu rücken, die in der Vielgestaltigkeit ihrer Fragestellung verraten, welche große Bedeutung die in jener gewonnenen Erkenntnisse für die Ästhetik hatten. Adickes hat in den Phasen x und X, die er in die Zeit von 1769-70 ansetzt, eine große Anzahl von Reflexionen zusammengefaßt. Eine einwandfreie

72

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

Chronologie durchzuführen, ist natürlich unmöglich, es wird nie entschieden werden können, ob eine Reflexion vor oder nach dem Erscheinen der Dissertation anzusetzen ist, da die neuen Gedanken sowohl in ihrem Werden wie nach ihrer Fixierung die ästhetischen Probleme beeinflussen konnten. Gewisse allgemeine Charakteristika lassen sich aber wohl angeben, wenn man auf die neuen Begriffe und Fragestellungen achtet. Ich fasse sie kurz zusammen: Trennung der Erkenntnisvermögen besonders von Vernunft (Verstand) und Sinnlichkeit, Form und Stoff der Sinnlichkeit, Anschauung, Erscheinungen, Versuche, eine Brücke von der Sinnlichkeit zum Verstände zu schlagen. Ich beginne mit Reflexionen, die in die Problematik im allgemeinen einführen : Refl. 680: „Die Quellen aller unserer Vorstellungen sind Sinnlichkeit oder Verstand und Vernunft. Die ersteren sind die Ursachen der Erkenntnisse, die das Verhältnis des Gegenstandes zu der besonderen Beschaffenheit des denkenden Subiekts ausdrücken, wie dieses nämlich entweder durch den Gegenstand würde afficirt werden, oder welche Vorstellungen nach den besonderen Gesetzen des Sunjects dazu gesellet werden. Die zweiten beziehen sich auf den Gegenstand selbst; jene drücken nur dasjenige aus, was von dem Gegenstand in Absicht auf die Subiekte gesagt werden kann, und haben nur eine Privatgültigkeit; diese gelten von dem Gegenstande an sich selbst und daher vor jederman. Die Sinnlichkeit kann ihrer Materie oder der Form nach betrachtet werden. Die Materie der Sinnlichkeit ist Empfindung, und ihr Vermögen der Sinn; die Form der Sinnlichkeit ist Erscheinung und ihr Vermögen das Anschauen. Alle Irrtümer entspringen daraus, das was nach Gesetzen der Sinnlichkeit verbunden und verglichen ist, vor etwas gehalten wird, was gedacht wird durch die Vernunft, und, was nur eine restringierte Gültigkeit hat vor gewisse Subjecte, aufs Object gezogen wird und als vor jedermann oder an sich selbst wahr angesehen wird." Diese Reflexion zeigt uns die Lehren der Dissertation in einem noch unfertigen Zustande. Die Identifizierung zwischen dem „für Jedermann-Gelten" und dem „An-sich-Gelten" weist darauf hin, daß die Formen der Anschauung noch nicht als Quell allgemeingültiger Erkenntnis erkannt worden waren. Sobald dies der Fall war, konnte die Frage entstehen, inwiefern die entdeckten Regeln der Sinnlichkeit vielleicht Grundlage noch anderer Erkenntnis sein könnten. Der Anspruch der ästhetischen Urteile auf Gültigkeit blieb doch bestehen. Diese neue Fragestellung, glaube ich, in Refl. 672 (um 1770) zu finden: „Wir haben von demjenigen gehandelt, was da gefällt, in sofern es zu unserem Zustande gehört oder denselben afficirt und unser Wohlbefinden angeht. Nun reden wir von dem, was an sich selbst gefällt, ... was also gefällt, indem es erkannt, nicht insofern es empfunden wird. Da jeder Gegenstand der Sinnlichkeit auf unseren Zustand ein Verhältnis hat, selbst in dem, was zur Erkenntnis und nicht zur Empfindung gehört, nemlich in der Vergleichung des Mannigfaltigen und der Form ... so ist etwas in jeder Erkenntnis, was zur Annehmlichkeit gehört; aber sofern betrifft die Billigung nicht das Object, und die Schönheit ist nicht etwas, was erkannt werden kann, sondern nur empfunden wird.

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

73

Das, was am Gegenstande gefällt und was wir als eine Eigenschaft desselben ansehen, muß in dem bestehen, was vor jedermann gilt. Nun gelten die Verhältnisse des Raumes und der Zeit vor jedermann. Demnach ist in allen Erscheinungen die Form allgemeingültig; diese Form wird auch nach gemeinschaftlichen Regeln der Coordination erkannt; was also der Regel der Coordination in Raum und Zeit gemäß ist, das gefällt notwendig jedermann und ist schön. Das Angenehme in dem Anschauen der Schönheit kommt auf die Faßlichkeit eines Gantzen, allein die Schönheit auf die allgemeine Giltigkeit dieser schicklichen Verhältnisse." Diese Betrachtungen sind von höchstem Interesse. Kant unterscheidet also die Zusammenfassung des Mannigfaltigen durch die Sinne, die Erfahrung von der Faßlichkeit eines Ganzen, die das Gefühl des Angenehmen auslöst, von der Schönheit. Diese ist eine Eigenschaft der Gegenstände. Das wird nun dadurch charakterisiert, daß das Gefallende am Gegenstand für jedermann gilt. Die Begründung für das ästhetische Urteil in diesem Sinne wird dann auf die Regeln der Koordination, d. h. die Formen Raum und Zeit zurückgeführt. Es ist aber doch offenbar, daß diese für alle Gegenstände geltenden Formen den besonderen Charakter der schönen unter ihnen noch nicht ausdrükken, in ihnen sind ja auch die häßlichen gegeben. Fragen wir, was denn das Schöne eigentlich sei, so erhalten wir nur den Hinweis auf seine allgemeine Geltung. Es muß also die Frage gestellt werden, welche Eigenschaften die schönen Gegenstände außerdem noch haben, daß sie in Raum und Zeit erscheinen. Für die Beantwortung dieser Frage ist die Unterscheidung von Form und Stoff maßgebend, und so müssen unsere weiteren Untersuchungen sich zur Erörterung dieser Beziehung zuerst wenden. Eine große Anzahl von Reflexionen beschäftigt sich mit dieser Frage. Refl. 1793 (um 1770): „Die Schönheit besteht in der Uebereinstimmung (der Form-Erscheinung) mit den Gesetzen der Sinnlichkeit - Ordnung - Einheit." Sehr interessant ist Refl. 639 (1769): „Die sinnliche Form (oder die Form der Sinnlichkeit) einer Erkenntnis gefällt entweder als ein Spiel der Empfindung oder als eine Form der Anschauung (unmittelbar) oder als ein Mittel zum Begriff des Guten. Der formelle Reiz ist entweder unmittelbar, wie Rousseau glaubt, daß es in der Musik sei, oder mittelbar, wie bei Lachen und Weinen; dieser letztere ist der idealistische Reiz. Durch keinen von beiden gefällt das Objekt in der Anschauung. Das Objekt gefällt unmittelbar in der Anschauung, wenn seine Form dem Gesetze der Coordination bei den Erscheinungen gemäß ist und sinnliche Klarheit und Größe erleichtert. Wie die Symmetrie im Gebäude und Harmonie in der Musik. Das Objekt gefällt im anschauenden Begriffe, wenn dessen Beziehung zum Guten durch einen Begriff, aber in sinnlicher Form gefällt, ausgedrückt werden kann." Wir können aus den zuletzt verwertenden Reflexionen objektive Merkmale des Schönen an den Gegenständen herausstellen. Ich nenne sie noch einmal: schickliche Verhältnisse, Ordnung, Einheit, Symmetrie, Harmonie. Abstechung der Farben (gemengt: Konsonanz nebeneinander Harmonie Refl. 637, 1769).

74

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

Es ist nun wohl einleuchtend, daß diese Bestimmungen aus den Formen der Sinnlichkeit allein nicht abgeleitet werden können. Abgesehen von der Materie der Empfindung, z. B. bei der Farbe, haben diese Merkmale einen rationalen Gehalt wie z. B. Ordnung u. a. So ist es verständlich, daß Kant sich zu Ergänzung.en gedrängt sah. Dies sagt mit aller Deutlichkeit Reil. 1797 (um 1770): „Die Form der Schönheit besteht in 2 Stücken. Erstlich: der Faßlichkeit (Klarheit) in der Anschauung. Zweitens: In der Uebereinstimmung mit Regeln des Verstandes." Und Refl. 1798 (um 1770): „Die wesentliche Form des Schönen besteht in der Uebereinstimmung der Anschauung mit den Regien des Verstandes - Musik - Proportion - Maximen im Beispiel." Von einer anderen Fragestellung aus wird in Reil. 638 das Problem angegriffen : „Es ist die Frage, ob das Spiel der Empfindungen oder die Form und Gestalt der Anschauungen unmittelbar angenehm sei oder nur dadurch gefalle, daß sie dem Verstände Begreiflichkeit und Leichtigkeit in der Zusammennehmung eines großen Mannigfaltigen und zugleich Deutlichkeit in der ganzen Vorstellung verschaffe." Daran läßt sich dann Refl. 759 (1772) anfügen, wo es heißt: „Die Form der Sinnlichkeit läßt sich durch die Vernunft beurteilen und zergliedern (Raum und Zeit), nicht die Materie der Empfindung. Demnach hat der formale Geschmack eine Beziehung auf Vernunft." Eine besondere Beachtung muß hier der Begriff der Erscheinung erfahren. In der „Nova dilucidatio" (1755) werden Bewegungen Erscheinungen der sie auslösenden Kräfte genannt (I, 408.) Einen neuen Sinn erhält der Begriff der Erscheinung in der Dissertation. Sie nennt das sensibile den Gegenstand der Sinnlichkeit. Es ist gegeben. Die Unterscheidung von Form und Stoff führt dann dazu, die repraesentationes sensitivae von den cognitiones sensuales abzugrenzen. Die Erscheinung ist eine repraesentatio sensitiva, d. h. also geformter Stoff. In diesem Sinne sagt § 4, daß die Form nicht eine adumbratio aut Schema quoddam subjecti ist, sondern „lex quaedam menti insita, sensa ab objecti praesentia orta sibimet coordinandi." Für dieses coalescere in totum ist ein inneres Prinzip nötig, „per quod varia illa secundum stabiles et innatas leges speciem quandam induant". In § 11 werden die Phänomena „rerum species" genannt, und in § 12 heißt es ganz allgemein: Quaecunquae ad sensus nostras referunter ut objecta, sunt phaenomena. Es läßt sich nun an einigen Reflexionen (619, 620) zeigen, wie Kant Empfindungen unterschied, insofern sie sich auf das Subjekt oder auf die Erscheinung beziehen. Die Vorstellung des Sinnes als etwas zu dem Zustande des Subjekts Gehöriges heißt Empfindung; als etwas aber, was sich auf einen Gegenstand bezieht, Erscheinung. Es gibt Empfindungen ohne merkliche Erscheinung und Erscheinungen ohne merkliche Empfindungen; doch sind beide jederzeit zusammen. Der Sinn dieser Unterscheidung wird nun deutlich durch Refl. 733. „Die Gegenstände des Gesichts sind darum allein der Schönheit fähig, weil sie der reinen Anschauung am nächsten kommen, indem sie das Objekt repräsentieren durch eine Erscheinung, welche am wenigsten Empfindung enthält. Da-

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

her die Farben sogar als hervorstechende Empfindungen mehr zum Reiz als der Schönheit gehören." Ich füge hier sogleich eine Stelle aus der Logik-Nachschrift Philippi (c. 1775?) an: „ E s ist von großer Wichtigkeit zu unterscheiden den Geschmack an Gegenständen der Empfindung vom Geschmack an Gegenständen der Erscheinung. Was mir in der Erscheinung gefällt, gefällt auch allen andern, denn in Erscheinungen werden Dinge nicht betrachtet nach der Materie der Sinnlichkeit oder der Empfindung, sondern nur nach der Form, das ist nach der Art, wie mein Subjekt den Gegenstand sinnlich erkennen würde, wenn er auch mir keine Empfindung verursachte. Empfindung und Erscheinung sind unterschieden als Materie und Form. Die Sinnlichkeit ist Empfindung, die Form Erscheinung. Es kann eine Sache in der Erscheinung gefallen, wenn sie auch kein Gegenstand der Empfindung ist. Sie gefällt alsdann wegen der Form, das ist wegen der harmonischen Verhältnisse aller der sinnlichen Vorstellungen, die ich von der Sache bekomme und zusammengenommen Objekt nenne. So gefällt dem hungrigen Spanier ein regelmäßiger Palast, obgleich seine Empfindung dabei leer ausgeht. An der Musik ist das Melodische oder der Klang der Töne die Materie, die Form derselben aber besteht in der harmonischen Abwechslung dieser Töne." (Schlapp, S. 77f.) Da die weitere Darstellung sich mit der Erörterung einzelner ästhetischer Begriffe beschäftigen und das Material dazu vornehmlich aus den anthropologischen Reflexionen entnehmen wird, erscheint es zweckmäßig, die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung zusammenzufassen. Es wurde gezeigt, wie in Baumgartens Ästhetik der Gedanke von sinnlicher und intellektueller Erkenntnis schon verwertet wurde und wie Kant diesen Gegensatz schließlich auf den von der coordinatio und subordinatio brachte. In der Dissertation wird er von grundlegender Bedeutung im Sinne einer Verschiedenheit der Form der sensiblen und intelligiblen Welt. Zugleich wird die Sinnlichkeit von ihrer Abhängigkeit von dem Intellekt befreit. Von Verworrenheit als ihrem Merkmal ist nun nicht mehr die Rede. Vielmehr gelingt es, für sie ein eigentümliches Apriori, und zwar aus ihrer Eigenart, abzuleiten. Damit ist der subjektive Charakter der durch sie möglichen Erkenntnis und ihre Geltung für die Erscheinungswelt erwiesen und gesichert. An diesen Ergebnissen nimmt die Ästhetik insofern teil, als die Subjektivität der Geschmacksurteile entschieden ist. Damit ist die Möglichkeit einer Ästhetik als philosophischer Disziplin aber keineswegs aufgehoben. Vielmehr ist der Nachweis eines Apriori der Form der sinnlichen Erkenntnis für sie zugleich ein Gewinn. Der Gedanke drängt sich geradezu auf, die durch die Sinnlichkeit aufgefaßten schönen Formen der Gegenstände irgendwie mit der formenden Kraft der Sinnlichkeit in Verbindung zu bringen. Da dies nicht gelingen will, greift Kant auf den Gedanken einer Mitwirkung des Verstandes beim ästhetischen Urteil zurück. Die Lehre von der Logik der Sinnlichkeit wirkte also nach, wie andererseits die von dem geselligen Charakter des Geschmacks immer wieder das Problem der Geltung seiner Aussagen aufdrang. Die Ästhetik bleibt bis zum Jahre 1773 eingegliedert in eine Problematik, die

7

6

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

sich als Versuch, die Grenzen zwischen Sinnlichkeit und Vernunft zu ziehen, bezeichnen läßt. Mit dem Auftreten des eigentümlichen Problems einer Kritik der reinen Vernunft wird dieser Zusammenhang zerstört, und die Ästhetik verliert ihren systematischen Ort. Sie fand ihn erst wieder in der Kritik der Urteilskraft. 'Die nun folgende Untersuchung muß sich deshalb darauf beschränken, die aus der früheren Darstellung schon bekannten Probleme in ihrer weiteren Entwicklung zu verfolgen und neue Fragestellungen und Lösungen aufzuzeigen. Dies soll geschehen durch Behandlung der Begriffe: Geschmack, Spiel, Einbildungskraft, Genie, schön, angenehm, gut, Idee, Ideal, Urbild, Urteilskraft. Geschmack Ich beginne mit einigen Definitionen, die der Geschmack als Vermögen erfährt: Refl. 1791: „Der Geschmack geht auf die Allgemeinheit des Wohlgefallens und geht eben daher auf die den allgemeinen Gesetzen der Sinnlichkeit gemäße Form des Gegenstandes. Was aber mit den Gesetzen der Kräfte unsres Gemüts übereinstimmt, ist angenehm. Wenn diese Annehmlichkeit auch im Privatverhältnisse, soviel unsern eignen Zustand betrifft, klein ist: so wird an ihr dagegen vorgestellt, daß sie allgemeingültig sei vor Geselligkeit. In der Einsamkeit Gleichgültigkeit in Ansehung des Schönen. " D e r erste Satz verbindet in sehr klarer Formulierung das Prinzip der Allgemeinheit mit dem der Form, es wird ausdrücklich gesagt „eben daher". Ich füge hier ein Wort aus den Reflexionen zur Anthropologie ein: „Der Geschmack ist die Wahl des Allgemeingefälligen nach Gesetzen der Sinnlichkeit. Geht vornehmlich auf die sinnliche Form; denn in Ansehung derer giebt es Gesetze, die vor alle gelten" (627; 1769-75). Eine wichtige Rolle spielt das Prinzip der Geselligkeit. So sagt Refl. 647: „Der Geschmack ist eigentlich das Vermögen, das, was sinnlich gefällt, einstimmig mit anderen zu wählen." Eine Reflexion aus etwas späterer Zeit (1860; c. 1776) sagt dann kurz: „Diiudicatio aesthetica (secundum sensum communem) est gustus. Secundum sensum privatum est appetitus. Gustus est iudicium societatis sive sociale." So war also gegenüber der Privatgültigkeit der aus der Empfindung entspringenden Urteile die Allgemeingültigkeit der Geschmacksurteile immer wieder betont. Zuerst versucht Kant, diese auf die Gesetze der Sinnlichkeit zurückzuführen, es ist aber gezeigt, daß dies nicht genügte, und es sind Reflexionen angeführt worden, die eine Mitwirkung des Verstandes oder der Vernunft forderten. Bedenkt man nun, daß in der „Kritik der Urteilskraft" im Spiel der Erkenntniskräfte das Wesen des ästhetischen Urteils gesehen wurde, so ist damit ein neuer Weg für die Fragestellung gegeben, und es entsteht die Aufgabe die Verwertung des Gedankens vom Spiel in den ästhetischen Reflexionen vor dem Erscheinen des Hauptwerkes zu charakterisieren.

Von der Dissertation zur K r i t i k der reinen Vernunft

77

Dabei erscheint es mir zweckmäßig, die Erörterung mit einer Untersuchung über den „Entwurf zu einer Opponentenrede" zu beginnen, da in ihm der Spielgedanke a m ausführlichsten und prinzipiellsten verwertet wird. Diese Rede wurde bei der zweiten Disputation am 28. Februar 1777 gehalten und richtete sich gegen die zweite von Kreutzfelds Dissertationen „de principiis fictionum generalioribus". Sie ist gedruckt in X V 2 , S. 903-935. Eine deutsche Übersetzung hat B . A . Schmidt in den „Kantstudien"

(1911, Bd. X V I , S. 7-21)

gegeben, an die sich die folgenden Zitate anschließen: K a n t wendet sich in seiner Rede gegen die Unklarheiten, die in Kreutzfelds Gebrauch des Wortes Sinnestäuschung (fallacia sensuum) zu finden sind. In einer der Einzelkritik vorausgeschickten allgemeinen Bemerkung unterscheidet er von den Täuschungen, die, um Gewinn davon zu erzielen, gemacht werden, die poetischen Täuschungen. „ E s giebt eine A r t von Schein (rerum species), von dem der Geist nicht getäuscht wird, sondern mit dem er spielt. Durch solchen Schein will der, der ihn hervorruft, nicht in arglosen Gemütern Irrtum erzeugen, sondern Wahrheit, angetan mit dem Kleide der Erscheinung

(veritatem veste

apparentiae indutam), das ihr inneres Wesen nicht verdunkelt, sonden sie nur geschmückt (decoratam) vor Augen stellt. Die Erscheinung täuscht nicht durch Schmuck und Blendwerk Unerfahrene und Leichtgläubige, sondern sie benutzt die Veranschaulichungskraft der Sinne und läßt so das nüchterne, farblose Bild der Wahrheit, in sinnliche Farbe getaucht, in die Erscheinung treten. Wenn in solchem Schein etwas enthalten ist, wodurch er, wie man gewöhnlich sagt, täuscht, so möchte ich ihn am liebsten spielender Schein (illusio) nennen. Der Schein, welcher täuscht (jallit), verschwindet, sobald man erkannt' hat, daß er nur leerer Schein und Täuschung war, der spielende (illudens) Schein dagegen, da er j a nichts anderes ist, als Wahrheit der Erscheinung, bleibt bestehen, auch wenn er wirklich durchschaut ist; er erhält zugleich den Geist (animum) in angenehmer Bewegung, auf dem Grenzgebiet zwischen Irrtum und Wahrheit gleichsam fluktuierend (fluctuantem) ... Der Schein, des täuscht, mißfällt, der Schein, der spielt, gefällt in hohem Maßeund erfreut. „Dieser Schein verlockt vergeblich zum Irrtum. So durchschaue ich z. B. optische Täuschungen, die aber trotzdem als solche gefallen. K a n t kommt also zu dem Ergebnis: „Soweit der Schein täuscht, erweckt er Verdruß (taedium), soweit er nur mit uns spielt, Vergnügen (voluptas)." Man darf also nicht, wie Kreutzfeld, die Reize und Schönheiten der Poesie (artis poeticae veneres et lautitiae) aus einer so unreinen Quelle ableiten, vielmehr verdient die Dichtkunst das Lob der Philosophen, „denn so groß ist die ungezähmte Gewalt der Sinne, so gering die Macht der Vernunft, die zwar das Rechte will, aber es nur schwer durchzusetzen vermag, daß es klüger ist, diejenigen, die man nicht mit offener Gewalt angreifen kann, mit List zu umgarnen. Das aber geschieht dahurch, daß man den Geist an die Reize der höheren Wissenschaften und Künste gewöhnt und ihn auf diese Weise allmählich von der unvernünftigen Begierde wie von einem rohen und wilden Herren befreit. Dieser Absicht dient - und deshalb kann man sie mit einem gewissen Recht einen frommen Betrug nennen - in nicht geringem Maß die Dicht-

j8

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

kunst, die man deshalb auch zu den edlen und freien, d. h. die Freiheit des Geistes fördernden Künsten rechnet, weil sie die Sinne beschwichtigt und dadurch deren gierigem Sehnen spottet, und weil sie bewirkt, daß diejenigen, die durch ihre Schönheiten angezogen worden sind und ihre Roheit abgelegt haben, den Lehren der Weisheit um so williger gehorchen." Man wird nicht erwarten, daß Kant in einer Opponentenrede eine vollständige Theorie der ästhetischen Illusion entwickelt. So berechtigt seine Kritik an Kreutzfeldts Lehre erscheint, so sehr mangelt es seinen eigenen Gedanken an prinzipieller Begründung. Der Hauptfehler liegt wohl darin, daß er den Schein als veritas phaenomenon bezeichnet. Ist dies die Aufgabe, die der Dichter sich stellt, so ist nicht einzusehen, weshalb er sich der „Verführungen des Scheines" bedient. Es ist nicht einzusehen, weshalb die sinnliche Farbe das nüchterne farblose Bild der Wahrheit so darstellt, daß der Geist zwischen Wahrheit und Irrtum schwebt, ein Zustand, der außerdem sehr qualvoll sein kann. Es sei an die Verwertung der Illusionslehre durch Lessing und Mendelssohn, besonders in der Theorie des Tragischen erinnert. Hier wird die in dem miterlebenden und mitleidenden Zuschauer erwachende Erkenntnis, daß es ja nicht wirkliches, nicht sein eigenes Leiden sei verwertet, um die Erleichterung und Erlösung der Seele als Quell beglückenden Erlebens zu bezeichnen. Kant hat auf dies Moment verzichtet. Allerdings nicht ganz. Er spricht davon, daß dem Geist geschmeichelt wird, der sich seiner Spürkraft gegenüber den Verführungen des Scheins bewußt ist. Aber das ist noch viel weniger als das von den genannten Ästhetikern konstruierte ein ästhetisches Gefühl. Die Tllusionstheorie hat für Kants Ästhetik keine größere Bedeutung gehabt und wird in der Kritik der Urteilskraft nicht einmal erörtert. Trotzdem haben Kants Gedanken in dieser Rede eine große entwicklungsgeschichtliche Bedeutung. Sie zeigen, wie stark die Lehren Baumgartens bei ihm nachwirkten. Es ist ja nicht schwer, in der veritas phaenomenon den Begriff von der Schönheit als einer perfectio phaenomenon wiederzuerkennen. Und wenn Kant als die Aufgabe des Dichters die Versinnlichung der Wahrheit bezeichnet, so ist dies ganz im Sinne der bekannten Definition des Gedichtes als einer oratio perfecta sensitiva. Eine besondere Beachtung verdient der Gedanke, daß der Geist mit dem Schein spielt; ist ja doch die Lehre vom Spiel der Erkenntniskräfte in Kants klassischer Ästhetik von entscheidender Bedeutung. Um die Wichtigkeit dieser Frage in das rechte Licht zu stellen, sei an Schillers berühmten Satz, der den Schlußpunkt der Entwicklung bedeutet, erinnert: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Darin dürfen wir das tiefste Bekenntnis des deutschen Menschen zur Kunst sehen, ein Ausdruck zugleich seines Ernstes und seiner Innerlichkeit. Seitdem die neue Philosophie die ästhetischen Probleme im Zusammenhang der neuen Kunst, besonders der Dichtung zur Erörterung brachte, war auch die Frage untersucht worden, welche Bedeutung ihr für den Menschen zukomme. Dubos nahm ein Bedürfnis nach Emotionen an. Nach Batteux sollte die Kunst die Langeweile vertreiben. In der deutschen Aufklärungsästhetik

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

yq

verlangte das Bürgertum eine Kunst, die seiner Anschauung von Sittlichkeit und der Höhe seiner Bildung entsprach. Darin sprach sich auch das pädagogische Interesse dieser Zeit aus, das die Kunst als Erziehungsmittel für eine erhoffte höhere geistige Kultur betrachtete. Sulzer forderte vom Staat, daß er überall sich in den Dienst einer ästhetischen Erziehung stellen sollte. Nicolai griff seinen stark moralisierenden Standpunkt an. In seinem Brief an Herder vom 21. März 1772 2 wollte er „in unserem zivilisierten und durch systematische Wissenschaften aufgeklärten Zeiten die Poesie blos [als] eine erlaubte Ergötzung" anerkennen, ihre Wirkung sollte aber nicht direkt eine moralisierende sein. Vielmehr sagte er: „Jede Entwicklung von Geisteskräften, jede Zurückrufung von rauhen oder kindlichen Vergnügungen zu solcher, die einer sentimentalen Wendung fähig sind, jede vermehrte Empfindsamkeit hat einen moralischen Nutzen." Lessing, Winckelmann und Herder, jeder in seiner Art, der erstere noch stark moralisierend, aber doch immer das Große, Ächte, das Herzerschütternde fordernd, die beiden andern aus der Tiefe künstlerischer Erlebnisse sprechend, haben die Notwendigkeit der Kunst für ein höheres Leben gefordert. Wenn Kant dem Gedanken des Spiels, besonders für die Dichtung, eine so große Bedeutung zusprach, so geriet er in Gefahr, mißverstanden zu werden, wie dies besonders Herders spätere empörte Kritik zeigt. Es kam also alles darauf an, welchen Sinn er dem Erlebnis des Spiels gab. Schon in den „Beobachtungen" wandte er sich gegen die spielerische Beschäftigung mit dichterischen Formen allein um der Form willen, er sah darin einen Geist der Kleinigkeiten. (II, 225). Eine erschöpfende Theorie fand sich in der Opponentenrede noch nicht, aber, wenn er eine solche entwickelte, so fand er in dem Grundgedanken der Leibnizischen Philosophie von der Aktivität der Seele eine wertvolle Anregung. War doch diese Spontaneität zugleich ein Streben nach Vollkommenheit. Damit wurden alle Erlebnisse, die über die Sinnlichkeit hinausführten, also auch die ästhetischen Gefühle, mitwirkend zu einer höheren, reicheren Entwicklung der Seele gedacht. Kants Philosophie ist aus dieser Idee in ihrem ganzen Umfange zu verstehen. Dabei ist nun auf die eigentümliche Paradoxie aufmerksam zu machen, daß er, für den das künstlerische Erlebnis nicht ein Lebensbedürfnis war, vielmehr der letzten, der sittlichen Bestimmung des Menschen untergeordnet blieb, doch eine Idee vom Spiel entwickelte, der dann Schiller einen höheren Sinn verlieh. Wie das möglich war, kann erst aus der „Kritik der Urteilskraft" verständlich werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, der Entwicklung des Gedankens vom Spiel bei ihm nachzugehen. Von Spiel ist oft in den Reflexionen die Rede. Ich beginne mit zwei umfangreichen Erörterungen. Zuerst Refl. 618 (1769 oder früher) „Dichtkunst ist ein künstliches Spiel der Gedanken. Wir spielen mit Gedanken, wenn wir nicht damit arbeiten... Dazu gehört, daß alle Gemütskräfte in ein Harmonisch Spiel versetzt werden. Folglich müssen sie sich und der Vernunft nicht hinderlich, obzwar auch nicht beförderlich sein. Das Spiel der Bilder, der Ideen, der Affekte und Neigungen, endlich der bloßen Eindrücke in der Zeitabteilung, das Tact(Versart) und Gleichklang (Reim). Das Sinnenspiel ist zum Vers . . . Ist keine

8o

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

Arbeit, also auch kein Dienst, aber doch die Kenntnis der Poesie. Dem Poeten muß zugutgehalten werden, daß man durch ihn nichts lernt; er muß selber aus dem Spiel keine Arbeit machen. Vernunft verdirbt das Spiel auch, oft wird das Spiel läppisch. Poesie ist das Schönste aller Spiele, indem wir alle Gemütskräfte darin versetzen. Hat von der Musik den Tact. Ohne die Abmessung der Silben und des Reimes ist es kein regelmäßig Spiel, kein Tanz. Das Sinnenspiel der Gedanken besteht im Spiel der Rede (Versart) und der Worte (Reim)... Das Spiel der Eindrücke ist Musik. Das Spiel der Empfindungen: Roman, Theater. Das Spiel der Gedanken, Empfindungen (Bilder oder Gestalten [Theater]) und Eindrücke: poesie . . . Die Poesie hat weder die Empfindungen noch Anschauungen noch Einsichten zum Zweck, sondern alle die Kräfte und Federn im Gemüte in Spiel zu setzen; ihre Bilder sollen nicht zur Verständlichkeit des Gegenstandes mehr beitragen, sondern die Einbildung lebhaft bewegen. Sie müssen einen Inhalt haben, weil ohne Verstand keine Ordnung ist und dessen Spiel das meiste Wohlgefallen erregt . . . Bei allen Produkten der Natur und Kunst ist etwas, was sich lediglich auf den Zweck bezieht, und etwas, was blos die Übereinstimmungen der Erscheinung mit dem Gemütszustande angeht, d. i. die Manier, die Einkleidung. Die letztere, wenn man auch keinen Zweck versteht, macht mannigmal alles aus. e. g. Figur und Farbe bei Blumen, Ton und Harmonie bei Musik. Symmetrie im Gebäude." Nr. 807 entwickelt vielfach die gleichen Gedanken, wenn auch mit hier nicht in Betracht kommenden Abweichungen. Nur folgendes bietet Interesse: „Das Geschäft unterscheidet sich vom Spiel. Jenes ist um der Idee willen und hat einen Zweck; dieses ist eine Beschäftigung ohne Zweck. Das Spiel hat seine Regeln, der Zweck Gesetze . . . Das Spiel der Anschauungen ist entweder in Ansehung der Gestalt oder der Stellung (Geberdung). Das Spiel der Anschauungen ist an Gebäuden, Meublen, Kleidung, Garten. Das Spiel der Apparentz. optisch. Das Spiel der Abbildungen oder der Ähnlichkeiten. In aller Anordnung ist entweder Absicht oder Spiel. Ein Spiel der Eindrücke, der Anschauung, der Einbildungen, der reflexion, der Empfindung, der Gedanken, der Leidenschaften." Es läßt sich wohl ohne Übertreibung sagen, daß die ganze Problematik im ästhetischen Urteil uns aus diesen Reflexionen entgegentritt. Zugrunde liegt die Ansicht von den Kräften und Federn der Seele. Der Anspruch des ästhetischen Urteils auf allgemeine Geltung, mit anderen Worten, der Ursprung der Ästhetik aus der Logik, läßt in ihnen Gesetze oder Regeln vermuten. Der Gedanke von einer den seelischen Kräften immanenten Zweckmäßigkeit ist in der Dissertation auf die Sinnlichkeit angewandt worden. Auf dieser methodischen Grundlage versucht Kant aufzubauen, wobei der anschauliche Charakter der ästhetischen Urteile das verbindende Glied bildet. Aber das genügt nicht allein. An den schönen Gegenständen der Natur und Kunst lassen sich Gestaltungen finden, die einen rationalen Charakter haben, für Kunstwerke erscheint der Gedanke der Absicht oder des Zweckes unentbehrlich. Dies Rationale kann nun

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

81

nicht durch Erkennen gefunden werden, es kann nicht objektiv sein. So muß es im Subjekte gefunden werden, und zwarmit HilfedertranszendentalenMethode. Notwendig ist, daß nicht ein, sondern daß mehrere Seelenvermögen in Beziehung gesetzt werden. Da nun diese gesuchte Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Verstand nicht die der Unterordnung sein kann, im Sinne logischer Begriffsbildung, so muß ein Zustand gefunden werden, der Freiheit und Bindung zugleich ist. Dieser Zustand ist das Spiel. Es ist zuerst Spiel der Empfindungen und Gefühle, d. h. also regellos, aber die ästhetischen Eindrücke erweisen sich als gegliedert, geordnet, einer Regel gehorchend. Negativ kann das Spiel in Gegensatz zu ernster Beschäftigung gesetzt werden. Diese hat einen Zweck, aber Spiel ist Beschäftigung ohne Zweck. Die berühmte Formel ist also schon gefunden; es fehlt aber die Einsicht in die Regelhaftigkeit dieses Spieles, ihre transzendentale Ableitung. Ich verweise auf Nr. 638, die den Hinweis auf den Verstand gibt. Interessant ist nun ein späterer Zusatz in Nr. 618. Es fand sich dort die allgemeine Wendung von dem harmonischen Spiel der Erkenntniskräfte. Ergänzend heißt es nun: „Dichten. I.Dichtkunst. 2. Beredsamkeit: Harmonie der Gedanken (und der Einbildungskraft) B. 1. Malerei und Musik: Harmonie der Anschauungen und Empfindungen, beide durch Beziehung auf Denken)." Das Gemeinsame dieser Betrachtungen ist doch immer die Ansicht vom Spiel als einem zusammengesetzten aber harmonischen Zustand der Seele. Mit diesen Grundgedanken lassen sich Überlegungen verbinden, die mehr physiologisch orientiert sind: Refl. 823 (um 1775) wird gesagt, daß Dinge Wert immer nur durch vernünftige Wesen erhalten können. Dann heißt es: „Intellektuelle Wesen sind also foci und niemals bloße Mittel. Der Wert des Wohlgefallens und Mißfallens beziehen sich auf mögliche Wahl, d. i. auf Willkür, folglich auf das principium des Lebens. Was kann ein Gegenstand unserer Wahl sein? Was unser Wohl hervorbringt, folglich die actus des Lebens vergrößert. Das Gefühl also von der Beförderung oder Hindernis des Lebens ist Wohlgefallen und Mißfallen (ob wir das Vermögen es hervorzubringen auch bei uns finden, ist nicht nötig, wenn wir nur die Gründe, solche, wo sie da sind, in Spiel zu setzen, bei uns antreffen). Wir haben aber ein tierisches, ein geistiges und menschliches Leben. Durch das erste sind wir des Vergnügens und Schmerzes fähig (Gefühl), durch das dritte des Wohlgefallens durch sinnliche Urteilskraft (Geschmack), durch das zweite des Wohlgefallens durch Vernunft. Epikur sagt: „alles Vergnügen kommt uns durch Mitwirkung vom Körper, ob es zwar seine erste Ursache im Geiste hat." Solche Gedanken hat Kant später,' bei der Kritik Burkes (V. 2yyi.), als „psychologische Bemerkungen" abgelehnt. Entwicklungsgeschichtlich sind sie aber doch von Bedeutung, weil auch hier wieder der Gedanke des Zusammenwirkens der Gemütskräfte, beim Geschmack unter Führung der Urteilskraft, auftritt. Ein besonderes Interesse verdient aber noch die Wendung „in Spiel setzen". Sie ist mehr als ein Bild. Darin ist das methodische Verfahren ausgedrückt, das 6 Menzer, Kants Ästhetik

82

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

den Charakter und Geltungsbereich eines Erkenntnisvermögens entdecken läßt. Z u Beginn der transzendentalen Analytik ist es so ausgesprochen: „ W e n n man ein Erkenntnisvermögen ins Spiel setzt, so tun sich nach den mancherlei Anlässen verschiedene Begriffe hervor, die dieses Vermögen kennbar machen und sich in einem mehr oder weniger ausführlichen Aufsatz sammeln lassen, nachdem die Beobachtung derselben längere Zeit oder mit größerer Scharfsinnigkeit angestellt worden." (III, 84.) Die behandelten Reflexionen bedeuten solche Versuche, es fehlt in unserer Darstellung aber noch ein wichtiges Vermögen: die Einbildungskraft Die Einbildungskraft wird als facultus fingendi in der Wolffischen Schule bezeichnet. In der Psychologia empírica § 145 wird sie die facultas phantassmata dividendi atque comparandi genannt. Als Beispiel dient die Gestalt des Zentauren. Baumgarten nennt sie facultas poética. In seiner Definition schließt er sich an Wolff an und gibt als ihre Regel an: Phantasmatum partes percipiuntur ut totum. Bemerkenswert ist, daß er sie auf die vis animae repraesentativa universi zurückführt. Epochemachend wirkten dann Addisons Aufsätze im Spectator (4i2ff.) über die Imagination, in denen er diese als eine besondere K r a f t der Seele charakterisiert. Von ihm angeregt, schrieb dann Bodmer die Schrift „ V o n dem Einfluß und Gebrauch der Einbildungskraft" (1727). E r unterscheidet sie vom Gedächtnis, das nur versichert, daß wir einen Begriff oder eine Empfindung schon gehabt haben, während die Einbildungskraft den anschaulichen Charakter der Vorstellungen wiederbringt. Die Einbildungen bekommen durch sie einen großen Zusatz von Klarheit. Diesen Gedanken steht K a n t unzweifelhaft nahe. Ich beginne mit einigen Definitionen. In Reil. 1821 (spätestens um 1775) heißt es: „ D a s Vermögen der Anschauungen ist Sinnlichkeit" in der .Kritik der Urteilskraft': .Einbildungskraft' (als Vermögen der Anschauungen a priori), in der .Anthropologie' (1798): Die Einbildungskraft als ein Vermögen der Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstandes ist entweder produktiv

...

oder reproduktif." E s ist auf den ersten Blick deutlich, daß die Einbildungskraft an die Stelle der Sinnlichkeit getreten ist. Es kann also kein Zweifel sein, daß K a n t im Zusammenhang seiner Lehre von den Formen der Anschauung das Apriori der Sinnlichkeit erweitern wollte und sich bemühte, die Formschönheit der Gegenstände irgendwie als eine Regel der sinnlichen Auffassung nachzuweisen. Diese Bemühungen sind schon gewürdigt worden. Jetzt aber entsteht die Aufgabe zu zeigen, wie die Einbildungskraft in diese Stellung einrücken konnte. Die Frage ist natürlich leicht dahin zu beantworten, daß jene Versuche, mit der Sinnlichkeit allein auszukommen, nicht genügten. Nun aber wäre zu prüfen, welcher W e g zu dieser neuen Ansicht geführt hat. Wir haben in K a n t s Anthropologie einen Paragraphen, der von der Einbildungskraft handelt (VII, 167-174), und entsprechend hat Adickes die Reflexionen im handschriftlichen Nachlaß so geordnet (Nr. 312-370). Die Durchsicht ist allerdings von keinem

Von der Dissertation zur K r i t i k der reinen Vernunft

83

Ergebnis, da meist von der reproduktiven Einbildungskraft gesprochen wird. Nur Reil. 341 bringt eine charakteristische Wendung: „Die Einbildungskraft ist nicht produktiv in Ansehung der Empfindungen, sondern blos Anschauungen'' (1780 ff.) Es ist nicht unmöglich, daß Kant an dieser Stelle an Gerard denkt, der in Erinnerung an David Hume die Möglichkeit, daß die Einbildungskraft auch „neue einfache Ideen" wirken könne, betont. In Kantischer Sprache würde dies bedeuten, daß die Materie der Empfindung erzeugt werden könnte. Das aber lehnte er ab. Sobald er aber die Einbildungskraft als produktiv im Sinne Gerards anerkannte, war eine Übertragung der Leistung der Sinnlichkeit auf sie möglich. Genie Die Entwicklung der Lehre vom Genie3 zeigt in einer sehr besonderen Art die Gegensätze, die sich in der Philosophie der Zeit geltend machen. Allgemein läßt sich von einer Abkehr vom Rationalismus und einer Hinwendung zu einer Anschauung sprechen, die das Wesen des Genies als Schöpfertum und sein Schaffen als gefühlsbedingt auffaßt und dem Richteramt des Verstandes entziehen will. Den Anstoß zu einer lebhaften Erörterung des Genieproblems gab der Kampf zwischen den Alten und den Neuen. Gegenüber der Aufforderung, die ersteren nachzuahmen, macht sich das Selbstgefühl der letzteren geltend. Man erhebt den Anspruch auf Originalität. Diese sucht man nicht allein im Bereiche der Kunst, sondern vor allem der Naturwissenschaft, deren Leistungen in der neueren Zeit ja unbestreitbar die Alten übertrafen. So kehren die Namen Kepler, Kopernicus, später vor allem Newton und Leibniz, häufig wieder. In der Dichtung beruft man sich auf Shakespeare und Milton. Die ersten Versuche, das Wesen des Genies zu deuten, knüpfen an die Antike und die Renaissancetradition an. Es erschien als von einem Gott begeistert, von himmlischem Feuer ergriffen, ein zweiter Schöpfer. Diese Ideen finden sich auch bei Shaftesbury, der aber wohl vor allem durch das Vorbild einer ästhetischen Welt- und Lebensauffassung wirkte. Solche Auffassungen verzichteten natürlich auf eine erklärende Theorie für das geniale Schaffen. Sie fanden ihre Fortsetzung in der Lehre, daß das Genie alles sich selbst, der Natur verdanke und durch Erziehung nur verdorben werden könne. Zu einer Theorie kam es erst, als die Psychologie dasProblem in Angriff nahm. Hier lassen sich nun zwei Standpunkte unterscheiden, der der Leibniz-Wolffischen und der der englischen Psychologie. Die erstere verwertet die Lehre von der Grundkraft der Seele und versucht das Genie als eine Harmonie der aus der Grundkraft entspringenden Erkenntniskräfte zu begreifen. Bei der Aufzählung dieser seelischen Fähigkeiten knüpft sie an die antike Rhetorik an und betont besonders die Bedeutung der Erfindung (inventio). Die englische Psychologie ist vornehmlich beschreibend und erläutert ihre Lehre an dichterischen Werken, vornehmlich Homer, Shakespeare und Milton. Sie entkleidet das Genie seines übernatürlichen Charakters und versucht sein über das Normale hinausgehende Wirken aus einer besonders guten 6*

84

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

Ausstattung des Körpers und der Seele zu verstehen, die dann durch Erziehung und Übung gesteigert werden. Eine besondere Bedeutung wird dabei dem Ablauf der Assoziationen zugeschrieben. Am weitgehendsten sind die Folgerungen, die Helvétius im Anschluß an Dubos aus dieser empiristischen Theorie zieht. Ihm ist das Genie ein Produkt seiner Umwelt und deshalb vom Zufall abhängig. Die Erziehung vermag es zu bilden. Ich versuche nun die besonderen Einflüsse zu schildern, unter denen Kants Genielehre sich entwickelte. Wolff behandelt den Begriff des ingenium in seiner Psychologia empirica, und zwar in der Sectio I I I „De Facultatis cognoscendi parte superiore" und dort in Kap. 4 „De Dispositionibus naturalibus et habitibus intellectus". Diese Einordnung ist natürlich von Bedeutung und findet ihren Ausdruck in der Definition des § 476: „Facilitatem observandi rerum similitudines ingenium appellamus." § 477 fügt dann hinzu, daß prae ceteris die Poetae, Oratores und Histriones ingeniosi genannt werden. Sie verwerten die Metapher, die Allegorie und die Synekdoche, die Schauspieler erwecken durch ihre Darstellung der dicta et facta beim Zuhörer die Vorstellungen von Ähnlichkeiten. Weitere Eigenschaften der Ingeniosi sind: imaginatio vivax, facultas fingendi und memoria. Es ist also deutlich, daß Wolff das ingenium als eine Fähigkeit des Intellekts auffaßt und nur lose damit andere verbindet, die für das künstlerische Genie als charakteristisch bezeichnet werden können. Baumgarten behandelt in seiner Metaphysik das ingenium an zwei Stellen, und zwar sowohl bei der facultas cognoscitiva inferior wie superior. In Sectio V, die die Überschrift perspicacia hat, und zwar in § 572 definiert er: „Habitus indentitates rerum observandi est ingenium strictius dictum (Witz in engerer Bedeutung)." Davon ist das acumen unterschieden als habitus diversitates rerum observandi. Die perspicacia wird dann als ein acutum ingenium (eine artige und feine Einsicht) bezeichnet. So gibt es eine aesthetica perspicaciae als einen Teil der Ästhetik „de ingeniöse et acute cogitando et proponendo". Es folgen nun Erörterungen über die Spiele und die Verirrungen des Witzes. Erwähnenswert ist, daß diese habitus (Fertigkeiten), d. h. höhere Grade der Fähigkeiten (facultates), angeboren sind, aber durch Übung ausgebildet werden können, und zwar mit besserem Erfolg je größer sie sind. An einer späteren Stelle, die die Überschrift ratio hat, findet sich eine neue Erörterung. Vom ingenium sensitivum wird nun ein ingenium unterschieden, zu dessen Charakteristik die Fähigkeit des distincte percipere dient. In § 648 erhalten wir eine Definition des ingenium latius dictum (Kopf, Gemütsfähigkeit), es ist die „determinata facultatum cognoscitivarum proportio inter se in aliquo". Diese proportio wird nun von einer beherrschenden Fähigkeit bestimmt, und so ergeben sich verschiedene Arten, die ich in Baumgartens Übersetzung hier angebe: „Witzig, scharfsinnig, von gutem Gedächtnis, guter Vorsicht, Beurteilungskraft, verständig, vernünftig in ausnehmender Bedeutung." § 649 gibt dann eine neue Einteilung, die nach spezifischen Begabungen getroffen ist, und dann ergeben sich: „ingenia empirica, histórica, poética, divinatoria,

Von der Dissertation zur K r i t i k der reinen Vernunft

85

critica, philosophica, mathematica, mechanica, Musica etc." Allseitig begabt sind dann die ingénia universalia und am höchsten stehen die superioria (höhere Geister oder Genies, sie gradu plerarumque facultatum cognoscitivarum multum multa alia excedunt"). § 650 betont schließlich die Bedeutung der Gewohnheit, durch sie könne vieles versucht werden, so könne aus einem ingenioso ein judiciosus werden, z. B. ex ingenio poetico ein philosophicum. Die erste systematische Erörterung des Geniebegriffes gab Sulzer, und zwar zuerst in französischer Sprache als „Analyse du génie" in den „Mémoires" der Berliner Akademie (1757), in deutscher Sprache unter dem Titel „Entwicklung des Begriffs vom Genie" in I. G. Sulzers „Vermischte philosophische Schriften", 1773, Bd. I, S. 307-322. Sulzer knüpft an Dubos an, dessen nicht viel besagende Definition er annahm, wenn er das Genie die Geschicklichkeit nennt, „gewisse Dinge leicht zu machen". Sein eigentliches Verdienst liegt aber nun darin, daß er eine Psychologie des Genies gab und dabei im Sinne Leibnizens von der Grundkraft der Seele, der Begierde nach neuen Ideen ausging. Er wollte den Ursprung im Innersten der Seele aufweisen, den er, wie ein Chemiker, die Mineralien, durch Zergliederung zu finden hofft. Entscheidend ist seine Grundanschauung, „daß das Genie keine eigene, von den übrigen unterschiedene Eigenschaft der Seele ist, sondern vielmehr alle andren beherrscht", oder in metaphysischer Sprache: „Das Genie ist keine besondere Fähigkeit der Seele, sondern eine allgemeine Beschaffenheit aller ihrer Fähigkeiten", zu vergleichen dem Temperament in seiner Beziehung auf das Begehrungsvermögen. Die Grundkraft zeigt sich beim Genie nun in besonderer Lebhaftigkeit, in einem höheren Grade, und als Folge davon ergibt sich größere Aufmerksamkeit und größerer Scharfsinn. Dann aber werden vier Fähigkeiten aufgezählt, die in ihrer Verbindung das Genie ausmachen: 1. Witz = Reflexion und Einbildungskraft, die, allerdings als reproduzierende, Ideen liefert, 2. Gründlichkeit des Urteils (Urteilskraft), durch die das Genie zur edlen Einfalt kommt, 3. Gegenwart des Geistes (contenance), 4. Stärke der Seele und des Körpers. Eine besondere Erörterung verdient die dritte Eigenschaft. Sie hat einmal die Bedeutung, das Feuer der Einbildungskraft zu mäßigen und den Künstler aus der „heiligen W u t " zu ruhiger Überlegung zu führen. Sie verschafft der Seele „die Freiheit, um den Gegenstand im Ganzen zu übersehen". Der Künstler muß „gewissermaßen von Zeit zu Zeit aus dem Labyrinthe seiner Meditation herausgéhen, um gleichsam von ferne und seiner selbst uneingedenk sein Werk zu betrachten und mit größerer Freiheit zu beurteilen". Schließlich behandelt Sulzer, auch wieder im Anschluß an Dubos, die Frage, ob das Genie einzig und allein ein Geschenk der Natur sei oder sich wenigstens zum Teil erwerben lasse. Die Antwort fällt in bezug auf den inneren Grad der tätigen Kraft der Seele, den besonderen Geschmack und die Gegenwart des Geistes im ersteren Sinne aus, wobei die Ursache in der Beschaffenheit des Körpers liegt. Witz und Urteilskraft hängen gleich sehr von der Übung und von der Natur ab. Wichtig sind die moralischen Ursachen, wie es in wörtlicher Übersetzung von causes morales heißt, worunter aber wohl richtiger der Geist der

86

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

Zeit zu verstehen ist. Nach alledem ist also Sulzers Meinung, daß Natur, Ausbildung und moralische Ursachen zusammenwirken müssen. Zu Kants Lehre vom Genie liegt eine Fülle von Reflexionen, besonders von solchen zur Anthropologie, vor. Auf die früheste Äußerung in den „Beobachtungen" wurde schon hingewiesen4. Dort wird von den „ungekünstelten und freien Bewegungen des Genies" gesprochen, dessen Schönheit durch die ängstliche Verhütung der Fehler nur würde entstellt werden. Einige Zeilen später wird dann von einem abenteuerlichen Geschmack gesprochen, der die „Natur verdreht, welche das Urbild alles Schönen und Edlen ist". Wenn auch zwischen beiden Gedanken noch keine Verbindung hergestellt ist, so besagt das Lob des Genies doch mindestens, daß es der Natur näher ist. Auch ist es ja Schöpfer des Schönen, wie dies auch von dieser gilt. Zuerst lassen sich Reflexionen anführen, in denen das Genie in Gegensatz zur Regel gestellt wird: „Alle Kunst ist entweder die der Unterweisung und Vorschrift oder des Genies; jene haben ihre Regeln a priori und lassen sich lehren. Die schöne Kunst gründet sich auf keine Wissenschaft und ist eine Kunst des Genies." (621, 1769 oder früher.) Und in einer Reflexion aus dem Jahre 1772 findet sich schon die berühmte Synthese zwischen Natur und Genie: „Das Genie ist wie ein Wald, in dem die freie und fruchtbare Natur ihren Reichtum ausbreitet. Die Kunst ist wie ein Garten, in welchem alles nach Methode geschieht und man den Regeln unterworfen ist, welche vorhergehen, dahingegen die Natur im Genie Stoff und Beispiel zu Regeln gibt" (754; vgl. auch 921a und 1821). Es könnte scheinen, als ob Kant schon damals das Genie nur als das des Künstlers anerkennen wollte ; es finden sich aber Reflexionen, die einen weiteren Gebrauch zeigen. So wird Talent noch nicht so entschieden von Genie unterschieden (Refl. 761). In Reil. 812 (siebziger Jahre) heißt es: „Das genie ist das Vermögen der Hervorbringung desjenigen, was nicht gelernt werden kann. Es giebt Wissenschaften und Künste des Genies. Eine Produktion ohne Genie ist Arbeit. Das Genie erfordert Begeisterung, die Arbeit Disposition. Das Genie nimmt das Produkt aus den Quellen her." In Hinblick auf die entschiedene Ablehnung aller Nachahmung in bezug auf das Genie in der „Kritik der Urteilskraft" dürfte Refl. 778 (um 1772) von Interesse sein. Nachdem von den Deutschen gesagt worden ist, sie seien von Talent Nachahmer, heißt es weiter: „Nachahmen ist ganz was anderes als copiren, und dieses was anderes als nachäffen. Nachahmen ist nicht so weit vom Genie entfernt, als man wohl denkt. Es giebt keinen Fortschritt des Geistes, keine Erfindung, ohne das, was man schon kennt, in neuer Beziehung nachzuahmen. So ahmte Newton den Fall des Apfels nach, und Kepler, indem er die harmonischen Proportionen nachahmte, verdiente er den Namen eines Gesetzgebers des Sternenhimmels. Auch Beispiele nachzuahmen ist der wahre Leitfaden vor das Genie. Aber nicht den Buchstaben und das Persönliche, sondern den Geist derselben. Das erstere heißt Nachäffen. Milton ahmte die großen Dichter nach, aber nicht als Kopie das Original, sondern ein Lehrling die Lehrer, um sie zu übertreffen ... Es gab keinen großen Meister, der nicht nachahmte,

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

87

und keine Erfindung, die nicht wie ein Verhältnis angesehen werden kann, welches einem Vorhergehenden ähnlich ist. Alles steht im Gesetze der Kontinuität und, was gänzlich abgebrochen ist und wo zwischen dem Alten eine Kluft befestigt ist, das gehört in die Welt der Hirngespinste." Es ist ersichtlich, daß diese Auffassung vom Genie durch die Vorstellung des Gemeinsamen in wissenschaftlicher und künstlerischer schöpferischer Arbeit beeinflußt wird. Die Beispiele, wenn man sie näher betrachtet, offenbaren doch eine Verschiedenheit der Nachahmung. Unterscheidung war also wohl notwendig, aber daß sie bis zu der prinzipiellen Trennung zwischen Kunst und Wissenschaft führten, läßt sich daraus allein nicht ableiten. Hier muß die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung, soweit ich sehe, ihre Unkenntnis eingestehen. Es läßt sich nicht aufweisen, was Kant schließlich zu dieser Trennung bewogen hat. Sie ist um so auffallender als die Genielehre seiner Zeit das Genie im weiteren Sinne faßte, z. B. Sulzer. Nur das eine läßt sich sagen, daß das eigentliche Interesse Kants dem künstlerischen Genie zugewandt war, mit dem sich fast alle Reflexionen beschäftigen. Damit war aber gegeben, daß das Unbewußte im Schaffen immer mehr betont wurde. Das wollte aber für das wissenschaftliche Schaffen durchaus nicht passen, es war doch ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Schaffen eines Kepler und dem eines Milton. Die Entwicklung der Kantischen Genielehre ist wohl ohne den Einfluß Gerards nicht zu verstehen. Vergleicht man die Reflexionen vor und nach dem Erscheinen seines Werkes „Essay on Genius" (1774, deutsch 1776), so tritt als Unterschied hervor, daß die „Talente" des Genies anfangs ohne eigentlichen inneren Zusammenhang auftreten, dann aber in einem solchen. So gelten als Characteristica: Empfindung, Schöpfungskraft, Geschmack, gesunde Vernunft. Aus der Zeit um 1776-78 finden wir in Refl. 874 aufgezählt: Empfindung, Urteilskraft, Geist und Geschmack. „Diese machen das Genie aus. Es gehören zwar noch mehr Vermögen zum Genie, aber diese machen eigentlich die Sache des Genies aus." In der „Kritik der Urteilskraft" findet sich die Aufzählung: Einbildungskraft, Verstand, Geist und Geschmack. In der ersten Zusammenstellung fehlt die Einbildungskraft. Und nun zeigen zwei Erwähnungen Gerards in der von Starke 1838 herausgegebenen „Menschenkunde", worin Kant dessen Verdienst sah. S. 233 wird allgemein gesagt: „Gerard, ein Engländer, hat vom Genie geschrieben und darüber die besten Betrachtungen angestellt", und S. 107 heißt es: „Gerard sagt, die größte Eigenschaft des Genies sei die produktive Einbildungskraft." Eine sehr wichtige kritische Äußerung findet sich dann in Refl. 949 (um 1776-78): „Genie ist nicht, so wie Gerard will, eine besondere Kraft der Seele (sonst würde sie ein bestimmt Objekt haben), sondern ein principium der Belebung aller anderen Kräfte durch Ideen der Objekte, welche man will." Ich glaube, nicht zu irren, wenn ich die Ansicht ausspreche, daß unter dem principium der Belebung wohl das zu verstehen ist, was Kant Geist nannte. Auch darüber äußern sich viele Reflexionen, und ich beginne mit Refl. 740

88

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

(1771?): „Geist ist das, was belebt. Es ist also der Geist ein Verstand, der den Reden undWerken Leben giebt. Genie ist der eigentümliche Geist."Anschließend sei eine Anzahl von Aufzeichnungen nur kurz angeführt, die das Wesen des Geistes von verschiedenen Seiten aus beleuchten: „Geist ist der geheime Quell des Lebens. Er ist der Willkür nicht unterworfen, sondern seine Bewegungen kommen aus der Natur (831); Geist kommt auf Größe der Idee an (841); Geist ist das pricipium der Belebung unserer Gemütskräfte (932); der Erzeugungsgrund der Ideen ist der Geist... Die Belebung der Sinnlichkeit durch Idee ist der Geist (933/34); Geist ist das, was viel zu denken giebt." (958.) Aus Kants Lehre vom Genie ist wohl kein Satz so bekannt geworden wie die Formel in § 46 der „Kritik der Urteilskraft": „Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt." Und indem man nun hinzunahm, daß Kant nur dem Künstler, nicht dem großen Wissenschaftler Genie zuerkennen wollte, kam man zu der Anschauung, als habe er wie aus einer Intuition das Wesen des Künstlers gedeutet. Die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung zeigt, daß die Grundgedanken der Lehre längst schon feststanden. Auch der Ruhm kann Kant nicht zugebilligt werden, daß er im Gegensatz zu den Pedanten der Regel die Freiheit des Genies verkündigt habe. Wie im ersten Kapitel angeführt wurde, ist seine ästhetische Bildung im Zusammenhang der neuen deutschen Dichtung zu verstehen. Das gleiche wurde von den Anfängen seiner ästhetischen Theorie nachgewiesen. Daß der Anspruch, der Kritiker sei berechtigt Regeln zu diktieren, damals längst abgewiesen war, sei nur noch durch Lessings Genielehre und Klopstocks Ansicht von einem „Regelbuch" aufgezeigt. Ich stelle des Ersteren Äußerungen aus verschiedenen Zeiten und Schriften in folgenden Sätzen zusammen: „Das Genie verdanke alles der Natur. Es erreicht die großen Züge der Natur, es schafft ein Ganzes, eine Welt im Kleinen. Es trägt die Regeln in sich und bringt die Muster hervor 5 . Ein Genie kann nur von einem Genie entzündet werden. Witz und Geschmack allein genügen nicht, das Schöpferische muß hinzutreten. Ein Versemacher ist kein Genie. Es schafft unbewußt. Es lacht über alle Grenzscheidungen der Kritik." Besonders eindrucksvoll und alles wesentliche enthaltend ist dann die bekannte Selbstcharakteristik Lessings in den Schlußstücken der „Dramaturgie". Und aus Klopstocks „Die Deutsche Gelehrtenrepublik" I. Teil 1774 sei nur aus dem goldenen ABC der Dichter zitiert: „Laß Du Dich kein Regelbuch irren, wie dick es auch sei... Frag Du den Geist, der in Dir ist und die Dinge, die Du um Dich siehst und hörst, und die Beschaffenheit des, wovon Du vorhast zu dichten; und was sie Dir antworten, dem folge . . . Willst Du Dich nach getaner Arbeit erholen und erlustigen; so nimm der dicken Regelbücher eines zur Hand und lauf hier und da die Narrenteidungen durch, die Du vor Dir findest." (A. a. 0. S. 159.) Unter den Subskribenten auf Klopstocks Buch wird auch Kant genannt. In der „Analytik der ästhetischen Urteilskraft" hat Kant sich bemüht, die Eigentümlichkeit der Geschmacksurteile scharf zu bestimmen und von ver-

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

89

wandten Gefühlen abzutrennen. Daraus ergibt sich die Aufgabe, die Vorgeschichte seiner Lehre im Hauptwerk darzustellen. Schön, angenehm, gut Zuerst stelle ich Äußerungen zusammen, in denen die Begriffe schön, angenehm, gut erörtert und voneinander abgegrenzt werden. Schön: „Der Gegenstand ist schön, dessen Anschauung sinnlich gefällt." (Refl. 813; etwa 1770-75.) „Das Schöne muß kein fremdes Interesse verraten, sondern uneigennützig gefallen. Keine Affektationen um die Kunst, keine Pracht um den Reichtum, keinen Reiz um Gunstbewerbung, keine Notdurft, um Sparsamkeit zu verraten. Sie muß wie Tugend durch sich selbst gefallen." (Refl. 827; um 1776-78.) „Die Schönheit ist von der Annehmlichkeit und Nützlichkeit unterschieden. Die Nützlichkeit, wenn sie woran gedacht wird, giebt nur ein mittelbares Wohlgefallen, die Schönheit ein unmittelbares. Die schönen Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme." (Refl. 1820a, um 1772.) Angenehm: „Das Vollkommene sinnlich erkannt: die Schönheit; diese in der Empfindung: die Annehmlichkeit." (Refl. 656; um 1770.) „Der Geschmack geht auf die Allgemeinheit des Wohlgefallens und geht eben daher auf die den allgemeinen Gesetzen der Sinnlichkeit gemäße Form des Gegenstandes. Was aber mit den Gesetzen der Kräfte unseres Gemüts übereinstimmt, ist angenehm. (1791; um 1770.) Gut: „Das Gute gefällt beständig, das Schöne jedermann." (1792; um 1770:) Aufschlußreicher sind noch die Reflexionen, in denen die drei Gefühle miteinander verglichen werden. „Eine Uhr, in so fern sie jemanden die Zeit abteilt, ist angenehm; so fern sie jedermann im Anschauen gefällt, ist schön; insofern sie überhaupt einem möglichen Willen, er mag mit Annehmlichkeit verbunden sein oder nicht, und also jedermann dienen kann, die Zeit abzuteilen, ist sie gut und also ohne Beziehung auf den Zustand der Person, dadurch mit Anmut afficiert zu werden." (Refl. 673, um 1770.) Die Ethik in einem weiteren Stadium der Entwicklung führt dann zu folgenden Unterscheidungen: „Was mit mir selbst zusammenstimmt, insofern ist als ein Individuum der Sinnenweit mich betrachte, ist angenehm; was mit mir, als durch das Ganze der Sinnen weit bestimmt, harmoniert, ist schön; was mit mir als einem Glied der intellektualen Welt zusammenstimmt, ist gut." (Refl. 712, in den siebziger Jahren; vgl. auch Refl. 715.) Die spätere Unterscheidung „freie und anhängende Schönheit" dürfte vorbereitet sein in folgenden Betrachtungen. „Was in der Erscheinung gefällt, aber ohne Reiz, ist hübsch, schicklich, anständig (harmonisch, symmetrisch). Wenn der Reiz aus der unmittelbaren

go

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

Empfindung entspringt, so ist die Schönheit sinnlich; ist sie aber aus Nebengedanken entsprungen, so heißt sie ideal. Faßt aller Reiz der Schönheit beruht auf Nebengedanken." (Refl. 626, siebziger Jahre.) Ein späterer Zusatz zu Refl. 622 (1769 oder früher) besagt: „Die Schönheit an und für sich selbst, wenn sie nicht etwa durch die Eitelkeit begleitet ist, erregt keine Begierden, als nur durch den Reiz." Mehrfach findet sich die Bestimmung, „selbständige Schönheit". (Refl. 639 sagt: „Die sinnliche Form einer Erkenntnis . . . als ein Mittel zum Begriff des Guten ... ist . . . die selbständige Schönheit." Zur Erläuterung können dienen: Refl. 629: „Die Schönheit der Erkenntnis, welche der Vernunft beförderlich ist und der Evidenz des Verstandes, heißt selbständig" und Refl. 635: „Die selbständige Schönheit muß sich auf einem beständigen Principio gründen; nun ist keine Erkenntnis veränderlich als die, so da zeigt, was die Sache ist; folglich ist sie eine Vereinigung mit Vernunft." (Die 3 Reflexionen um 1769.) Eine größere Anzahl von Reflexionen beschäftigt sich mit den Begriffen Idee, Ideal, Urbild. Refl. 722 (1771-75): „Das Urbild, das Muster, das Modell sind alle drei Begriffe (von Dingen), deren ähnliches ausgedrückt werden soll, das erste in Schöpfung vor das Genie, das zweite in der Nachahmung, das dritte im Abdrucke." Refl. 757 (etwa 1772): „Einfache Empfindungen kann man nicht erdichten. Das Ideal der Empfindung besteht nur in der Vergrößerung oder anderer Kombination der Empfindungen, z. B. Abenteuer vor einem glücklichen Alter. Das Ideal des Schönen setzt immer ein von der Natur vorgezeichnetes dessin voraus, z. B. Menschlicher Körper." Refl. 892 (siebziger Jahre): „Ein Ideal ist die Idee im Bilde, d. i. in einer erdichteten Vorstellung in concreto. Das Ideal drückt niemals die ganze Idee aus wegen der Hindernisse in concreto, und die Idee ist doch das, wornach das Ideal beurteilt werden soll." In Refl. 896 (1776-78) wird die Idee ein Monogramm der Vernunft genannt. Schließlich sei die aus der gleichen Zeit stammende Refl. 900 zitiert, die eine interessante Beziehung zu Lavater gibt: „ E s scheinet, daß wir ebenso gut ein Ideal einer schönen Gestalt a priori bei uns führen als ein Ideal der Sittlichkeit, weil wir die physiognomischen Urteile schwerlich von der Erfahrung abstrahiert haben. Lavaters neue Worte sind hier schicklich. Sie geben undeutliche und nur in concreto brauchbare Begriffe ohne Regel." Hieran schließe ich Reflexionen über die Schönheit der Natur und Vergleiche zwischen Natur und Kunst. Äußerst interessant in der Fragestellung ist Refl. 656 (um 1770): „Man sieht, daß fast alles in der Natur, was sich selbst, abgesondert von dem allgemeinen Klump der Materie, zu bilden die Eigenschaft hat, in den Augen des Menschen schön ist; hieraus ist zu sehen, daß die Schönheit eine Folge der Vollkommenheit sein und daß die sinnliche Anschauung derselben auf eben den Gründen beruhen müsse, worauf die Vollkommenheit selbst nach Begriffen. Vielleicht

V o n der D i s s e r t a t i o n z u r K r i t i k der reinen V e r n u n f t

'

gj

ist also die Erkenntnis der Vollkommenheit beim Menschen das erste; dieses sinnlich erkannt: die Schönheit, diese in der Empfindung: die Annehmlichkeit." Als Stimmungen haben zwei Reflexionen eigenartige Bedeutung: Reil. 700 (1770-71): „Sollte man nicht sagen: alle Schönheit in der Natur ist nur die Melodie, und in der intellektualen Welt ist der Takt." Und Reil. 981. (um 1776-78): „Die Majestät der Schöpfung bei einem bestirnten Himmel beschließt unsere Rührung durch Ausdehnung unseres Gemüts und durch einen kühnen Flug. Die Wunder der Kunst in der Schöpfung geben eine ganz andere Empfindung, nämlich die des Wohlgefallens über Vorsorge und das Gute, um die Schöpfung wert zu schätzen und lieb zu haben. Das Lehrbuch der göttlichen Majestät." Zahlreich sind die Vergleiche zwischen Natur und Kunst. Aus der gleichen Phase (1776-78) stammen zwei Reflexionen zur Logik und zur Anthropologie: Reil. 1855: „Das Mittel des Schönen ist Kunst, die Regel Natur. Die Natur ist nicht das Muster (sondern Beispiel) des Schönen, denn das Schöne liegt in den Ideen; doch ist sie das substratum desselben. Natur bedeutet im Schönen das Ungezwungene. Kunst das Zweckmäßige und Ordentliche." Reil. 886: „Alles, was eine Absicht anzeigt, Idee oder dessin, wenn es gleichsam spielend und ohne Zwang eines Bedürfnis geschieht, ist schön. Daher reine Farben auf den Blumen, weil von ungefähr sich eher schmutzige eräugnen würden. Eine gewisse Nachlässigkeit, z. B. bei Blumen, gefällt. Viel Verstand und allenthalben Verstand inkommodiert. Die Natur, die der Kunst, und die Kunst, die der Natur ähnlich sehen in den Manieren, heißen naiv. In Refl. 1888 (1776-78) wird ästhetische und logische Vollkommenheit verglichen und von einem Streit zwischen ihnen gesprochen, dann heißt es in einem späteren Zusatz: „Daher ist Schönheit ein Produkt der Kunst, die wie Natur aussieht." Mehrfach wird abgelehnt Kunst als Nachahmung der Natur zu bezeichnen. So sagt 659 (1776-87): „Das mit der Natur in der Erscheinung wetteifernde*, bildende Vermögen heißt die schöne Kunst; sie muß ihre Regel haben, welche aber subjektive Prinzipien hat, also Angemessenheit zu unseren Gesetzen einer freien Ausübung unserer Kräfte. Es ist eine Schöpfung nach unserem Sinn. * (s nicht nachahmend; denn die Kunst hat ihr besonder Gesetz, so wie die Natur, und ihre besondere Welt, nämlich der Erscheinungen.) Auffallend wenig wird das Gefühl des Erhabenen behandelt. In der sehr ausführlichen Reflexion 806 (L. B. Ha 4) heißt es nur: Gefühl (ideales) wird zum Erhabenen erfordert. Als eine Sammlung von Beispielen kann Refl. 871 (um 1775) gelten: „Ars spectabilis est pulchritudo. Was die Kunst der Anschauung klar und leicht darlegt, ist schön. Daher muß die Kunst nicht durch Vernunft erkannt werden, also indem die Sache als Mittel betrachtet wird, sondern in der Sache selbst. Regelmäßigkeit, Proportion, abgemessene Einteilung. Ein regulär Vieleck. Eine

92

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

reine Farbe; die Verteilung der Farbe zum Reiz (Tulpen, Fasane). Proportionierter Ton. Die Übereinstimmung des' phaenomeni mit den wesentlichen Zwecken ist die obere Schönheit.

Die Kunst in der Erscheinung.) Alle reine

Farben sind schön, weil das Unvermengte schon Kunst anzeigt." Urteilskraft A m Schluß setze ich die früher begonnenen Betrachtungen über Bedeutung und Bedeutungswandel der Urteilskraft fort. Das Wort kommt in vielen Reflexionen und in vielfacher Anwendung vor. Ich übergehe Betrachtungen, die sie in populärem Sinne oder als logische Urteilskraft verstehen und suche nur die Beziehungen zur Ästhetik auf. Als eine Fortsetzung des früh auftretenden Gedankens, daß die Urteilskraft das Mannigfaltige zusammenfaßt, können folgende Reflexionen gelten: Refl. 813 (um 1776): „Die Urteilskraft ist die Tätigkeit des Gemüts, das Mannigfaltige in einem Gegenstande auf seinen Zweck zu beziehen." Refl. 839 (um 1776): „ E s giebt Einheit der Unterordnung (logisch) oder Zusammenordnung (real). Die letztere gehört zur Anschauung vom besonderen, d. i. den Teilen zum Allgemeinen, d. i. dem Gantzen und zum Zwecke, zu gehen. Das Vermögen heißt Urteilskraft und vernünftelt nicht. Es ist die sinnliche Vorarbeit des Verstandes." Refl. 842 (um 1778): „Gleichwie die Vernunft geht vom Allgemeinen zum Besonderen: so umgekehrt die sinnliche Urteilskraft von dem besonderen zum All der Zusammenfassung, von dem Mannigfaltigen zur Einheit entweder der Zusammensetzung oder der Idee und Absicht, was diese Handlung in ein lebhaftes Spiel setzt." Einmal findet sich eine interessante Unterscheidung zwischen sinnlicher und reflektierender Urteilskraft. Eine Datierung erscheint allerdings ausgeschlossen, da die Sätze sich in Refl. 806 finden, einem losen Blatt, das Einzeichnungen aus verschiedenen Jahren trägt. Auch ist wohl vom Genie die Rede: „Empfindung, Urteilskraft, Geist und Geschmack. Die Urteilskraft ist entweder die sinnliche oder reflectierende und besteht darin, Vorstellungen in ein Bild oder in einen Begriff zu verwandeln." (XV, 355 5-7.) Am Anfang dieser Sätze werden Urteilskraft und Geschmack unterschieden. Dafür gibt es noch andere Beispiele: Refl. 1894 (um 1776): „Empfindung, Urteilskraft geht darauf, wie die Empfindung mit dem Begriffe zusammenstimmt. Geist (Genie): Belebung durch Idee. Geschmack vergleicht es mit dem allgemeinen Sinn." Refl. 1824 (um 1776): „Die Urteilskraft bändigt und ordnet die Empfindung, Geschmack: den Geist, die Trockenheit." Es läßt sich wohl nicht verkennen, daß die ästhetische Urteilskraft immer mehr in die Nähe der oberen Erkenntnisvermögen gerückt wird. Ich schließe mit Refl. 1876, die nicht sicher zu datieren (1778 oder 1790), aber doch wohl vor der „Kritik der Urteilskraft" anzusetzen ist: „Ästhetische Voll-

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

93

kommenheit: die subjektive Übereinstimmung der Erkenntnisvermögen in der Vorstellung eines Dinges.* * g Daher nicht Begriff, sondern Gefühl der Lust, aber allgemeingültig. Verstand und Sinnlichkeit. Logische Vollkommenheit: Begriff (allgemein, Deutlichkeit. Verstand: auch empirisch; die Regel objektiv - Vernunft: a priori - Urteilskraft: Verstand und Sinnlichkeit im Verhältnis, reflektierend." Es ist offenbar, wie in diesen Lehren von der Urteilskraft Altes und Neues zusammenwirkt. Ich stelle deshalb noch einmal die wichtigsten Gedanken zusammen: Die Funktion der sinnlichen Urteilskraft, Beziehung auf den Zweck (Einheit), das Verhältnis zum Verstand, reflektierendes Verhalten. Anderseits das Hineinwirken der Genielehre, Unterscheidung der Urteilskraft und Geschmack, Urteilskraft und Einbildungskraft. Es fehlt der systembildende Gedanke, aber eins tritt deutlich hervor: die zunehmende Bedeutung der Urteilskraft. Die große Zahl der in diesem Teil behandelten Reflexionen zeigt, daß Kant in den siebziger Jahren trotz der Arbeit an der „Kritik der reinen Vernunft" den ästhetischen Problemen ein lebhaftes Interesse entgegenbrachte. Allerdings war es ein vornehmlich anthropologisches. Das bedeutete, daß die systematischen Probleme in den Hintergrund traten, ohne daß sie darum ganz unberücksichtigt bleiben. Dies zeigen die Erörterungen über Geschmack und Urteilskraft. So tritt denn klar hervor, welche Bedeutung die Ausweitung der empirischen Psychologie zu einer selbständigen Vorlesung über Anthropologie haben mußte. Man kann die Fülle dieser Reflexionen als eine Materialsammlung bezeichnen, auf die Kant zurückgriff, als er sein ästhetisches Hauptwerk schrieb. Erst jetzt läßt sich der Einfluß der englischen analytischen Methode voll übersehen. Ihre Bedeutung wird gelegentlich unterschätzt, , obgleich das durch sie vermittelte Wissen von den Tatsachen des seelischen Lebens doch erst die notwendige Voraussetzung für eine reichere und vertiefte Untersuchung seiner Quellen gab. An dieser Stelle versagten allerdings die Engländer mit ihrem Allheilmittel assoziativer Verknüpfungen. Die deutschen Philosophen fragten im Sinne Wolfis nach dem Grunde und hatten für die Antwort auf diese Fragen ein leitendes Prinzip in Leibnizens Lehre von der Einheit und der Aktivität der Seele. Die Synthese war ein Postulat. Geleistet wurde sie zum erstenmal durch Kant in der Dissertation, in seiner Lehre von der Form der sinnlichen Erkenntnis. Demnach kann man die Einwirkung der englischen Psychologie auf Kants ästhetische Lehre zuerst in der Analyse und Unterscheidung der Gefühle vom Angenehmen, Schönen und Guten beobachten, ebenso in der Lehre vom Genie. Welch eine Fülle neuer psychologischer Erkenntnisse lagen in ihr! Es ist nicht unmöglich, daß Kant den nicht nur für die Ästhetik wichtigen Gedanken von der produktiven Einbildungskraft aus ihr gewann. Der Zusammenhang mit der Lehre von der Aktivität der Seele ist ja offenbar. Und der Einfluß dieser Lehre ließ sich in den Untersuchungen über den Geschmack und die Urteilskraft

g4

Von der Dissertation zur Kritik der reinen Vernunft

wieder finden. Vor allem aber wurde sie für den Spielbegriff von größter Wichtigkeit. Es ist gezeigt worden, wie in ihm Gedanken vom Lebensgefühl vereinigt sind mit dem vom Spiel der Erkenntniskräfte, worunter nicht mehr bloßes Erleben, sondern Ausdruck der Aktivität der Seele verstanden wird. So läßt sich überall beobachten, wie Kant den Lehren der Engländer „Präzision und Ergänzung" zu geben versuchte.

IV. V O N D E R E R S T E N Z U R D R I T T E N

KRITIK

(1781-1790) In der „Kritik der reinen Vernunft" findet sich eine Anmerkung, die hier nach dem Text der ersten Auflage mit den Änderungen der zweiten in Klammern wiedergegeben wird: „Die Deutschen sind die einzigen, welche sich jetzt des Wortes Ästhetik bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was andere Kritik des Geschmacks heißen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum Grunde, die der vortreffliche Analyst Baumgarten faßte, die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben. Allein diese Bemühung ist vergeblich, denn gedachte Regeln oder Kriterien sind ihren (vornehmsten) Quellen nach blos empirisch und können also niemals so (bestimmten) Gesetzen a priori dienen, wonach sich unser Geschmacksurteil richten müßte, vielmehr macht das letztere den eigentlichen Probierstein der Richtigkeit der ersteren aus. Um deswillen ist es ratsam, diese Benennung (entweder) eingehen zu lassen und sie derjenigen Lehre aufzubehalten, die wahre Wissenschaft ist . . . (oder sich in die Benennung mit der spekulativen Philosophie zu teilen und die Ästhetik teils im transzendentalen Sinne, teils in psychologischer Bedeutung zu nehmen). (III, 50.) Diese Ablehnung erklärt sich aus der Aufgabe, die die „Kritik der reinen Vernunft" zu lösen hat. Sie ist „eine Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen." (III, 23.) Sie bereitet das System der Philosophie der reinen Vernunft vor, die Tanszendentalphilosophie, die in eine Metaphysik der Natur und der Sitten zerfällt. Diese beiden zu liefern ist die nächste Aufgabe, die sich Kant stellt. Es ist klar, daß eine Ästhetik im Sinne Baumgartens weder zur Kritik noch zum System der reinen Vernunft gehört. Sollen doch nicht einmal die obersten Grundsätze der Moralität und die Grundbegriffe derselben, obgleich sie Erkenntnisse a priori sind, zur Transzendentalphilosophie gehören, „weil die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen, der Willkür usw., die insgesamt empirischenÜrsprungs sind, dabei vorausgesetzt werden müßten". (III, 24.) Trotz dieser Ablehnung kann man fragen, ob Kant eine Kritik des Geschmacks für möglich hielt. Er spricht ja von Regeln und Kriterien und gibt auch an,

g6

Von der ersten zur dritten Kritik

daß das Geschmacksurteil Probierstein für ihre Richtigkeit sei. In welchem Sinne dies gemeint sei, kann eine Stelle aus den „Prolegomenen" erläutern. Hier wird gesagt, daß die Metaphysik bisher noch keinen Maßstab, nach dem sie beurteilt werden könne, habe, im Gegensatz zu andern Wissenschaften und Kenntnissen, z. B . Mathematik, Geschichte, Theologie, Naturwissenschaften und Arzneikunst, Rechtsgelehrsamkeit „und sogar Sachen des Geschmacks in Mustern der Alten" (IV, 378.) Nach Mustern urteilen, sie als Maßstab verwerten heißt aber doch eine Kritik des Geschmacks für möglich halten, allerdings nicht im Sinne der in dem kritischen Hauptwerke formulierten Aufgabe. Dieser Ablehnung des Wortes Ästhetik steht nun die Tatsache gegenüber, daß Kant in der „Kritik der Urteilskraft" von einer ästhetischen Urteilskraft spricht und das Wort ästhetisch im alten Sinne braucht. Weiter bezeichnet er die dritte Kritik als zu seinem kritischen Geschäft gehörig hinzu und betrachtet dieses erst nach ihrem Erscheinen als abgeschlossen. Diese Entwicklung gibt es zu verstehen und dabei muß als leitender Gesichtspunkt die Zwischenordnung der dritten Kritik zwischen die beiden ersten dienen: Natur - Kunst Freiheit. Die erste Frage ist, ob in der „Kritik der reinen Vernunft" Probleme behandelt werden, die über ihr eigentliches Thema hinaus weisen und ihre endgültige Behandlung und Lösung erst in der dritten Kritik erfahren haben. Die transzendentale Analytik schloß mit dem Begriff von der Natur als dem „Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach nach notwendigen Regeln d. i. nach Gesetzen". (III, 184.) Dies Ergebnis war endgültig. Die transzendentale Deduktion hatte die Kategorien, deren Vollständigkeit gesichert war, als notwendige Bedingungen der Erfahrung nachgewiesen. In der transzendentalen Dialektik wurden die Versuche der Vernunft, über die Grenzen möglicher Erfahrung hinauszukommen, als unmöglich erwiesen, nur wurde in der Lösung der dritten Antinomie die Möglichkeit der Freiheit begründet. Diese Unterscheidung zwischen Erscheinungs- und intelligibler Welt gab, da ja nur die Möglichkeit der Freiheit zugelassen wurde, vorläufig noch kein Problem. Die völlige Ergebnislosigkeit der Bemühungen der Vernunft blieb aber nicht Kants letztes Wort. E r fügte einen Anhang an die transzendentale Dialektik, in dem er zuerst von diesem negativen Resultat sprach, dann aber von dem natürlichen Hang der Vernunft, die Grenze der Erfahrung zu überschreiten. Und diese Überlegung führt nun zu neuer Fragestellung, die mit folgender Begründung eingeführt wird: „Alles, was in der Natur unserer Kräfte gegründet ist, muß zweckmäßig und mit dem richtigen Gebrauche derselben einstimmig sein". (III, 427.) Die transzendenten Ideen müssen also irgendwie verwertbar sein und da nicht konstitutiv, so regulativ. Die Vernunftideen weisen also neue Wege. Kant nennt Ideen bis zum Unbedingten erweiterte Begriffe und versucht ihre Anwendung. Diese geschieht in dreifacher Verwertung: 1 . in rein theoretischer Fortführung zu dem Gedanken von der Einheit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit,

Von der ersten zur dritten Kritik

97

2. in metaphysischer Richtung in der Frage nach der Bedeutung der psychologischen, kosmologischen und theologischen Ideen, 3. im praktischen Vernunftsgebrauch zum Ideal des höchsten Gutes. Im ersteren Falle wird die Vernunft von einem logischen Prinzip geleitet. Sie strebt über die mannigfaltige Verstandeserkenntnis zur Vernunfteinheit, die nur durch Ideen vermittelt werden kann. Das Ziel kann auch als der Gedanke des Systematischen der Erkenntnis bezeichnet werden. Der Gebrauch der Vernunft ist ein hypothetischer, im Gegensatz zum apodiktischen, bei dem die Urteilskraft nur die Aufgabe hat, das Besondere unter das Allgemeine, das an sich gewiß ist, zu subsumieren. Im Fall des hypothetischen Gebrauchs ist aber das Besondere gewiß, dagegen das Allgemeine problematisch. Die gedachte systematische Einheit ist nur eine projektierte. Als Beispiel dient neben anderen der Versuch, von einzelnen Kräften zu komparativen und dann zu einer absoluten Grundkraft zu kommen. K a n t behauptet nun, daß dieses logische Prinzip der Vernunfteinheit ein transzendentales voraussetzte, dessen Deduktion er allerdings schuldig geblieben ist. E r begründet seine Geltung aus der Bestimmung der Vernunft zur Einheit, die sinnlos wäre, wollte man Ungleichartigkeit in der Natur, grenzenlose Mannigfaltigkeit annehmen. Die drei Prinzipien sind das der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität.

Sie fordern sich gegenseitig.

Die Forschung muß sie verbinden aus der Erkenntnis ihres regulativen Charakters. Als Beispiele dienen die Einheitstendenz in den Wissenschaften der anorganischen Natur, die Idee einer Grundkraft, die Einteilung in Geschlechter, Gattungen und Arten, Einheit in den Eigenschaften und Kräften der Dinge (Lauf der Planeten und Abweichungen von der kreisförmigen Bahn). Diese Beispiele zeigen deutlich, daß K a n t auch jetzt die Natur in ihrer Gedankenmäßigkeit betrachtet, so wie er schon in der, „Naturgeschichte" und aus der Beobachtung der gesetzmäßigen Abläufe des Naturgeschehens auf eine einheitliche Ursache schloß. Dieser Gedanke an Gott gewinnt nun auch noch eine besondere Bedeutung in dem zweiten Teil des Anhanges: „ V o n der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft." Noch einmal wird der subjektive Charakter der Vernunfteinheit betont, dann aber heißt es weiter: „das Prinzipium einer solchen systematischen Einheit ist auch objektiv, aber auf unbestimmte Art (principium vagum), nicht als konstitutives Prinzip, um etwas in Ansehung eines direkten Gegenstandes zu bestimmen, sondern um als blos regulativer Grundsatz und Maxime den empirischen Gebrauch der Vernunft durch Eröffnung neuer Wege, die der Verstand nicht kennt, ins Unendliche (Unbestimmte) zu befördern und zu befestigen, ohne dabei jedesmal den Gesetzen des empirischen Gebrauchs im mindesten zuwider zu sein." (III 448f.) Ausgehend von d e m Gedanken, daß die Vernunft der von ihr geforderten Einheit noch einen Gegenstand gibt, erörtert K a n t nach der Einteilung in Psychologie, Kosmologie und Theologie die entsprechenden Maximen. In diesem Zusammenhang interessiert nur die letztere. E s ist der Vernunftbegriff von Gott, welcher „eine blos relative Supposition eines Wesens enthält, als der einigen und allgenugsamen Ursache 1

Menzer, Kants Ästhetik

98

Von der ersten zur dritten Kritik

aller kosmologischen Reihen". (III, 451.) Diese Idee eröffnet ganz neue Aussichten, „nach teleologischen Gesetzen die Dinge der Welt zu verknüpfen und dadurch zu der größten systematischen Einheit derselben zu gelangen". (III, 452.) In dieser teleologischen Interpretation sieht Kant die Möglichkeit einer größeren Einheit in Auffassung der Naturerscheinungen. Seine Sympathie für eine solche in Anwendung auf organische Wesen ist sogar größer als später in der „Kritik der Urteilskraft". Ausdrücklich aber betont er, daß der Gedanke von der systematischen Einheit der Natur in Beziehung auf die Idee einer höchstenlntelligenz, ,ganz allgemein'' gewertet werden soll, daß aber nicht zur Erklärung einzelner Erscheinungen ein göttlicher Ratschluß in Anspruch genommen werden dürfe. Mit dem „Kanon der reinen Vernunft" beginnt dann eine ganze neue Untersuchung. Nachdem zuerst gesagt ist, daß es für den spekulativen Gebrauch der Vernunft einen solchen nicht gibt, wird die Frage aufgeworfen, ob es ihn nicht für den praktischen Vernunftgebrauch geben könne. Während die spekulative Vernunft an den drei Ideen: Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Dasein Gottes nur ein geringes Interesse hat, so besteht ein praktisches. Es kann deshalb der Schluß gezogen werden, daß „die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur bei der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellt ist". (III, 520.) Ich setze nun den Gedankengang der Kantischen Moraltheologie als bekannt voraus und mache nur auf die Folgerungen aufmerksam, die sich aus ihr ergeben. „Unausbleiblich" führt sie auf den Begriff eines einigen allervollkommensten und vernünftigen Urwesens. Der Gesichtspunkt der sittlichen Einheit als einem notwendigen Weltgesetz führt zu einem obersten Willen, dem „die ganze Natur und deren Beziehung auf Sittlichkeit in der Welt unterworfen" ist. Die Welt muß als aus einer Idee entsprungen vorgestellt werden. „Dadurch bekommt alle Naturforschung eine Richtung nach der Form eines Systems der Zwecke und wird in ihrer höchsten Ausbreitung Physikotheologie". Darauf folgen dann die bekannten Mahnungen, die Idee von Gott nicht zu einem „demonstrierten Dogma" zu machen. Auch drüfen die moralischen Gebote nicht aus dem göttlichen Willen abgeleitet werden. Aber die reine Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch hat doch das Verdienst, das Dasein Gottes ,,zu einer schlechterdings notwendigen Voraussetzung bei ihren wesentlichsten Zwecken zu machen". (III, 528 ff.) Als Ergebnis dieser dreifachen Verwertung des Ideenbegriffes läßt sich allgemein die Möglichkeit einer teleologischen Betrachtung der Natur bezeichnen. Sie wird zuerst als methodisches Prinzip formuliert, dann im Dasein Gottes gegründet, und- schließlich führt die Moraltheologie über den Gegensatz von Natur und Freiheit hinaus zum Endzweck. Die letzte systematische Idee in Kants Philosophie ist also schon gefunden. In ihr liegt das bewegende Moment für ihre weitere Entwicklung. An die Stelle der Gleichgültigkeit der theoretischen Vernunft gegenüber dem Gegensatz von Natur und Freiheit ist also das praktische Interesse getreten, das die Kluft zwischen beiden überwinden will. Es ist klar, wie hier eine Aufgabe noch ungelöst blieb. Zwar die letzte Einheit war gesichert, aber doch nur durch ein Hinübergreifen über beide Welten, über

Von der ersten zur dritten Kritik

gg

ihr Zusammenbestehen, ihr Nebeneinander war noch nichts ausgesagt. Und da der Begriff der Natur im Sinne der Analytik vollendet war, konnte eine Fortbildung nur durch die praktische Philosophie erfolgen, und von ihr mußte dann wieder die Ästhetik in Stellung und Lösung der Aufgabe mitbedingt sein. Eine besondere Würdigung verdient noch die Verwertung des Ideenbegriffes. Kant unterscheidet „Ideen überhaupt" und die transzendentalen Ideen, die er später auf die Dreizahl: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit einschränkt. Nur die ersteren interessieren uns hier. Ideen im allgemeinen Sinne haben das Gemeinsame, daß sie über die Erfahrung im Sinne der Analytik hinausführen. Sie sind Aufgaben, die die Vernunft dem Verstände stellt. Sie sind Tendenzen, die zu einem Maximum, einer Vollkommenheit oder systematischen Einheit führen. Sie zeigen den Weg zum Unbedingten oder auch Unbestimmten. Und gerade diese letzte Wendung findet sich in dem Resultat der ganzen transzendentalen Dialektik gebraucht. Ideen sind nicht konstitutiv, sondern nur regulativ. Das Verhältnis des mit ihrer Hilfe die Erfahrung überschauenden Denkens kann als Reflektion bezeichnet werden. Darin liegt eine Charakteristik, die zu späteren Verbindungen Anlaß gegeben hat. Noch in einem anderen Sinne bereitet die erste Kritik die dritte vor. In dieser wird in dem Gedanken vom freien Spiel der Erkenntniskräfte die entscheidende Erkenntnis über den Charakter des ästhetischen Urteils gewonnen. Die wichtigste Funktion in diesem Spiel kommt der Einbildungskraft zu. Sie wird hier als produktiv bezeichnet. Das ist das Neue. Bisher wollte es nicht gelingen, diesen ihren Charakter in den Reflexionen zu finden. So sind wir auf die Rolle, die die Einbildungskraft in der ersten Kritik spielt, gewiesen. Es sei schon hier eine Wendung aus dem Brief an Reinhold vom 28./31. Dez. 1787 zitiert. Kant begründet dort seine Erwartung, Prinzipien a priori auch für das Gefühl der Lust und Unlust zu finden, durch den Hinweis auf „das Systematische, was die Zergliederung der vorher betrachteten Vermögen ihn im menschlichen Gemüte hatte entdecken lassen". Das „Systematische im Gemüt" kann doch wohl nur so verstanden werden, daß die Vermögen sich zu einer Einheit verbinden ließen. Eine solche Einheit des Zusammenwirkens hatte er aber vornehmlich für Sinnlichkeit und Verstand aufgezeigt. Der an dieser Stelle geführte Nachweis einer Gesetzmäßigkeit im Spiel der Erkenntniskräfte konnte nicht ohne Bedeutung für die Lehre von ihrem freien Spiel sein. So sind wir auf die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe hingewiesen. Wir müssen ihre beiden Fassungen berücksichtigen, da eine wesentliche Änderung gerade an dieser Stelle zu beobachten ist. Natürlich kann es sich hier nicht um eine Behandlung des Problems der Deduktion und ihre beiden Fassungen handeln, nur auf Wesen und Funktion der Einbildungskraft kommt es an. In A 1 findet sich eine in A 2 fortgelassene programmatische Erklärung: „Es sind drei ursprüngliche Quellen (Fähigkeiten oder Vermögen der Seele), die die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten und selbst aus keinem anderen Vermögen des Gemüts abgeleitet werden können, nämlich, Sinn, E i n b i l d u n g s k r a f t und A p p e r z e p t i o n . Darauf gründet sich 1. d i e S y n o p 7*

100

Von der ersten zur dritten K r i t i k

s i s des Mannigfaltigen a priori durch den Sinn; 2. die S y n t h e s i s dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft; 3. die E i n h e i t dieser Synthesis durch ursprüngliche Apperzeption. Alle diese Vermögen haben außer dem empirischen Gebrauch noch einen transzendentalen, der lediglich auf die Form geht und a priori möglich ist." (IV, 74) In dem letzten Satz gibt K a n t sein methodisches Verfahren an. Uberall geht er von dem Vermögen im empirischen Gebrauch aus, hält an ihrem allgemeinen Charakter fest, um dann das Unterscheidende des transzendentalen Gebrauchs aufzuweisen und zu zeigen, wie dieser jenem zugrunde liegt. D a für den Sinn ein transzendentaler Gebrauch in der transzendentalen Ästhetik schon nachgewiesen ist, so kommen nur die beiden anderen Verr mögen in Betracht; ihre Charakterisierung ist aber natürlich abhängig von den Bestimmungen, die in bezug auf Raum und Zeit schon gegeben worden sind. Der Formcharakter ist also schon gesichert und damit ist über die Einbildungskraft respektiv ihrer Funktion schon etwas Entscheidendes gesagt. Zu beachten ist schließlich, dann K a n t in Gegensatz zu S y n o p s i s des Mannigfaltigen von einer S y n t h e s i s durch die Einbildungskraft spricht. In A 1 finden sich bekanntlich nicht weniger als vier Beweisgänge, die K a n t als solche gekennzeichnet hat. Der erste geht durch die Stationen: Apprehension, Reproduktion, Kategorien. Die Funktion der Einbildungskraft ist in den beiden ersten zu suchen. K a n t unterscheidet: 1. die Synthesis der Apprehension in der Anschauung, 2. die Synthesis der Reproduktion in der Einbildung. Z u beachten ist, daß nun von Anschauung, vorher von Sinn, gesprochen und daß für Einbildungskraft Einbildung gesetzt wird/eine Bezeichnung, die in der Psychologie verwertet worden war. F ü r die Einheit der Anschauung

ist nun Durchlaufen der Mannigfaltigkeit

und Zusammennehmung derselben notwendig. Das ist aber nur durch Reproduktion der Erscheinungen möglich. Für sie gilt das empirische Gesetz der Assoziation, aber dies ist nur möglich durch Voraussetzung eines transzendentalen Grundes, der Einbildungskraft. „ D i e reproduktive Synthesis der Einbildungskraft gehört zu den transzendentalen Handlungen des Gemüts, und in Rücksicht auf dieselbe wollen wir dieses Vermögen auch das „transzendentale. Vermögen der Einbildungskraft" nennen. Darauf folgen die beiden anderen Synthesen: Rekognition im Begriffe und transzendentale Apperzeption. Charakteristisch für diesen Beweisgang ist die enge Verbindung zwischen Apprehension und Einbildungskraft. Ohne Bedeutung ist für unsere Zwecke der zweite Beweisgang von der Assoziation zur Affinität und Apperzeption. Ein dritter Beweisgang will die Lehre der Deduktion im Zusammenhang darstellen und geht von der reinen Apperzeption aus, die ein „Principium der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in aller möglichen Anschauung an die H a n d gibt.'' Von dort aus steigen wir abwärts zur produktiven Synthesis der Einbildungskraft apriori, „die eine Bedingung apriori der Möglichkeit aller Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer Erkenntnis ist". Von größter Wichtigkeit ist hier der Satz: „ N u n nennen wir die Synthesis des Mannigfaltigen in der Einbildungs-

Von der ersten zur dritten Kritik

101

kraft transzendental, wenn ohne Unterschied der Anschauungen sie auf nichts, als blos die Verbindung des Mannigfaltigen a priori geht, und die Einheit dieser Synthesis heißt transzendental, wenn sie in Beziehung auf die ursprüngliche Einheit der Apperzeption als a priori notwendig vorgestellt wird... die transzendentale Einheit der Synthesis der Einbildungskraft ist die reine Form aller möglichen Erkenntnis..." (IV, 88) Es ist wohl klar, daß die Einbildungskraft hier, in Richtung auf die transzendentale Apperzeption betrachtet, jedes Moment des Anschaulichen verliert und daß das Einheitbildende nur in einem Prinzip intellektueller Einheit gesehen wird. Dann folgt die Eingliederung der Kategorien. Am wertvollsten für unsere Zwecke ist wohl der vierte Beweisgang „von unten auf, nämlich dem Empirischen". Die Stationen sind: Erscheinung - Wahrnehmung - Einbildungskraft - Assoziation - Affinität - Apperzeption. Von der Zerstreuung der Wahrnehmungen im Gemüte ausgehend, erscheint eine Verbindung nötig. „Es ist also in uns ein tätiges Vermögen der Synthesis dieses Mannigfaltigen, welches wir Einbildungskraft nennen und deren unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung ich Apprehension nenne. Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen; vorher muß sie also die Eindrücke in ihre Tätigkeit aufnehmen, d. i. apprehendieren". Eine Anmerkung fügt Kant zur Erklärung hinzu: „Daß die Einbildungskraft ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst sei, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht. Das kommt daher, weil man dieses Vermögen teils nur auf Reproduktionen einschränkte, teils weil man glaubte, die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch sogar zusammen und brächten Bilder der Gegenstände zuwege, wozu ohne Zweifel außer der Empfänglichkeit der Eindrücke noch etwas mehr, nämlich eine Funktion der Synthesis derselben erfordert wird." Es ist daran zu erinnern, daß wir es vorläufig noch mit dem empirischen Vermögen der Einbildungskraft zu tun haben. Also schon innerhalb psychologischer Betrachtung ist der Einbildungskraft ein neuer Charakter beigelegt worden; sie wird ein „tätiges" Vermögen genannt. Ihr wird eine Funktion gegeben, die die Psychologen den Sinnen beigelegt hatten. Aber kritisiert sich Kant nicht vielleicht selbst, wenn wir an seine Versuche nach der Dissertation denken? Schließlich ist die Wendung vom „Bild" von großer Bedeutung. Aber noch sind wir nicht zur reinen Einbildungskraft gelangt. Kant geht empirisch vor, wenn er die Assoziation einführt, durch die die regellosen Haufen der Wahrnehmung geordnet werden. Es ist aber klar, daß noch ein Wesentliches fehlt, um zur Einheit der Erkenntnis zu kommen. Assoziationen sind zufällig. Ein objektiver Grund liegt in der Affinität, wodurch Vorstellungen assoziabel werden. Diese aber ist nur aus dem Grundsatz von der Einheit der Apperzeption abzuleiten. Welche Rolle spielt nun die Einbildungskraft? Es wird unterschieden: objektive Einheit alles (empirischen) Bewußtseins in einem Bewußtsein (der ursprünglichen Apperzeption) und Affinität aller Erscheinungen (nahe oder

102

Von der ersten zur dritten K r i t i k

entfernte), und sie wird „eine notwendige Folge einer Synthesis in der Einbildungskraft, die a priori auf Regeln gegründet ist", genannt. Sie ist also ein „Vermögen einer Synthesis a priori," weswegen wir ihr den Namen der -produktiven Einbildungskraft geben. (IV, Sgff.) Kant bezeichnet es selbst als befremdlich, daß die Affinität der Erscheinungen und mit ihr die Assoziation auf die Einbildungskraft zurückgeführt wird. Es kann wohl auch kaum ein Zweifel sein, daß die Funktion der Einbildungskraft, Vorstellungen zur Einheit einer Anschauung zu bringen, nicht an sich zugleich Grund der Affinität sein kann. Wie dem auch sei, man kann beide Leistungen der Einbildungskraft unterschiedlich ausdrücken: i . das Vereinheitlichen in einer Anschauung (Bild), 2. eine inhaltliche (intellektuelle) Verbindung (Affinität). Wir schließen diese Darstellung mit dem Ergebnis Kants am Schluß der Untersuchung: „Wir haben also eine reine Einbildungskraft als ein Grundvermögen der menschlichen Seele, das aller Erkenntis a priori zugrunde liegt. Vermittelst deren bringen wir das Mannigfaltige der Anschauung einerseits mit der Bedingung der notwendigen Einheit der reinen Apperzeption andererseits in Verbindung." (IV 91) Die Fassung der transzendentalen Deduktion in A a übernimmt den Übergang zur transzendentalen Deduktion der Kategorien, läßt aber jene programmatische Zusammenstellung fort. Von der reinen Einbildungskraft hören wir erst in § 24. Das erklärt sich nun zuerst dadurch, daß Kant nur einen Beweisgang gibt und diesen nicht von unten, wie denn überhaupt der ganze psychologische Unterbau fortgelassen wird. Vielmehr beginnt Kant mit dem Begriff der Verbindung im Gegensatz zur Anschauung. Alle Verbindung ist aber Verstandeshandlung. Sie wird Synthesis genannt. Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung vollzieht also der Verstand. Verbindung setzt außerdem Einheit voraus. Wir erhalten also die Definition: „Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen." Die Frage nach der Möglichkeit einer solchen Einheit führt dann zur transzendentalen Apperzeption. Diesen Weg verfolgen wir nicht weiter, sondern wenden uns zu § 24 „Von der Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt". Zum Verständnis der schwierigen Beweisführung ist nötig zu beachten, daß wir uns in der Sphäre des isoliert vorgestellten Verstandes bewegen, dem noch nicht eine bestimmte Anschauung zugeordnet ist. Die Synthesis, weil allein auf die transzendentale Apperzeption bezogen, ist nicht nur transzendental, sondern intellektual. Wir können uns dem reinen Verstände eine Anschauung überhaupt zugeordnet denken, stellen wir uns aber die Zuordnung unserer sinnlichen Anschauung vor, so ist eine Vermittlung notwendig. Der Verstand kann das Mannigfaltige der Anschauung nicht erzeugen. Hier tritt nun die Einbildungskraft ein. Kant nennt diese Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung figürlich und sagt von ihr: „Die figürliche Synthesis ... muß die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft heißen. Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen. Da nun alle unsere An-

Von der ersten zur dritten Kritik

103

schauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft der subjektiven Bedingung wegen, unter der sie allein den Verstandesbegriffen eine korrespondierende Anschauung geben kann, zur Sinnlichkeit; sofern aber doch ihre Synthesis eine Ausübung der Spontaneität ist, welche bestimmend und nicht wie der Sinn bloß bestimmbar ist, mithin a priori den Sinn seiner Form nach der Einheit der Apperzeption gemäß bestimmen kann, so ist die Einbildungskraft sofern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen, den Kategorien gemäß, muß die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sein, welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung ist. Sie ist als figürlich von der intellektuellen Synthesis ohne alle Einbildungskraft, bloß durch den Verstand, unterschieden." Wir müssen nun also die Funktion der Einbildungskraft gewissermaßen isoliert denken. Dann erscheint ihr Charakter als das Vorstellen eines Gegenstandes ohne dessen Gegenwart in der Anschauung. Der Ton muß dabei auf Anschauung gelegt werden. Das ist das Sinnliche an ihr. Ihr mangelt die Fähigkeit des Hervorbringens einer Einheit, die nicht eine anschauliche ist, sondern verstanden werden muß aus ihrem transzendentalen Grunde, der reinen Apperzeption. Diese wirkt durch den Verstand in die Einbildungskraft gewissermaßen hinein und so entsteht die Einheit in der Anschauung. Zur weiteren Klä"rung kann die Erörterung in § 24 dienen, in der Kant fordert, daß zwischen innerem Sinn und Apperzeption unterschieden werde. Die letztere geht auf Anschauungen überhaupt; dagegen „der innere Sinn die bloße Form der Anschauung, aber ohne Verbindung des Mannigfaltigen in derselben, mithin gar noch keine bestimmte Anschauung enthält, welche nur durch das Bewußtsein der Bestimmung desselben durch die transzendentale Handlung der Einbildungskraft (synthetischer Einfluß des Verstandes auf den inneren Sinn), welche ich die figürliche Synthesis genannt habe, möglich ist." Der Weg von unten nach oben ist also jetzt: Erscheinung - innerer Sinn Einbildungskraft - Verstand - Apperzeption. Der wesentliche Unterschied dieser zweiten Fassung im Vergleich zur ersten ist also der, daß die Synthesis in zwei Teilfunktionen zerlegt wird: die intellektuale und die figürliche. Nach Kants eigener Formulierung, nach der Verbindung eine Verstandeshandlung sein soll, paßt diese Bezeichnung eigentlich nur auf die erstere. Der Ausdruck „figürlich" betont aber den Charakter der Einbildungskraft als einer den Gegenstand in einer Anschauung gebenden Funktion. Die transzendentale Deduktion hatte die reine Einbildungskraft als das zwischen Verstand und Sinnlichkeit vermittelnde Vermögen bestimmt, die Möglichkeit der Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen war erwiesen. Es blieb noch die Aufgabe, zu zeigen, wie eine solche Anwendung sich vollzieht. Das vollziehende Vermögen ist die Urteilskraft und ihr Verfahren die Subsumtion. Sie ist so lange kein Problem, als Begriff und Gegenstand gleichartig sind. Reine Verstandesbegriffe und Erscheinungen sind aber ungleichartig. Eine Ver-

104

Von der ersten zur dritten Kritik

mittlung ist notwendig. Sie wird durch die Einbildungskraft geleistet, die ja intellektuell und sinnlich zugleich ist. Das gesuchte Mittel ist das Schema. Es ist ein Produkt der Einbildungskraft. Sie hat „keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht". (III, 135.) Das Schema ist kein Bild, es ist die Vorstellung einer Methode. „Das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori... Dagegen ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffes etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann, sondern ist nur die reine Synthesis gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt, und ist ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt, nach Bedingungen seiner Form (der Zeit) in Anschauung aller Vorstellungen betrifft". (III, 136.) Es ist nicht möglich, schon an dieser Stelle die Bedeutung der „Kritik der reinen Vernunft" für die Entwicklung bis zum ästhetischen Hauptwerk in das volle Licht zu setzen. Ein solcher Versuch müßte die systematischen Gedanken des letzteren bereits an dieser Stelle entwickeln. Sie ergeben sich auch nicht allein aus der ersten Kritik. Charakteristisch für die „Kritik der Urteilskraft" ist ja doch ihre Zwischenstellung zwischen den beiden anderen. Dieser Gedanke gab Anlaß zu der Fragestellung, inwiefern die erste Kritik über ihr eigentliches Resultat, die transzendentale Ableitung des Begriffes Natur, hinaus weist. Es wurde gezeigt, wie dies durch die Lehre von den Ideen geschieht. Allerdings war, wie Kant später selbst bemerkt, die Forderung der Vernunft, die Natur als Einheit in ihrer Mannigfaltigkeit zu betrachten, eigentlich nur eine Angelegenheit der theoretischen Philosophie. Die Bedeutung dieser Gedanken ist also allererst für die teleologische Urteilskraft groß, und die ästhetische wird davon nur insofern berührt, als sie mit jener vereinigt wird. Anders war es mit den praktischen Ideen. Hier trat die Idee des Endzweckes auf, der eine Synthese zwischen Natur und Freiheit als Forderung in sich schloß. Damit war bei der betonten unmittelbaren Unvereinbarkeit beider die Aufgabe eine Vermittlung zu finden, gegeben. Ebenso wird das Recht, ja die Notwendigkeit, die Lehre von der Einbildungskraft in der „Kritik der reinen Vernunft" für die Entwicklung der Ästhetik in Anspruch zu nehmen, erst später sich voll erweisen lassen. Immerhin konnte aus den in diesem Teil behandelten Reflexionen nachgewiesen werden, daß die Einbildungskraft für die Ästhetik an Bedeutung gewonnen hat. Schon aus diesem Grunde durfte an der Lehre, wie sie die erste Kritik von ihr entwickelt, nicht vorübergegangen werden. Wichtiger aber ist die Feststellung, daß die der Einbildungskraft an dieser Stelle zugeschriebene Funktion etwas leistete, wonach Kant in seinen ästhetischen Fragen gesucht hatte. Die Einbildungskraft stellte eine Verbindung zwischen der Gesetzmäßigkeit des Verstandes und der Sinnlichkeit her. Aber das war im Prinzip das, was Kant finden wollte. Die Aufgabe war zu zeigen, mit welchem Recht die Geschmacksurteile einen Anspruch auf

V o n der ersten zur dritten K r i t i k

105

Geltung erheben konnten. Es mußte ein Prinzip für diese auf Aussagen der Sinne sich stützenden Urteile gefunden werden. Die Einbildungskraft, deren Charakter einmal sinnlich, dann aber produktiv war und die andererseits dem Verstände gehorchte, zu dem sie sich als vereinheitlichende Funktion angliedern ließ, konnte die Lösung bringen. Nur war notwendig - das ergab sich aus dem Gedanken vom Spiel - , daß ihr die Freiheit gesichert blieb. Darin steckte das eigentliche Problem. Kant hatte in der Lösung des Problems der transzendentalen Deduktion sich als Meister in der Anwendung des von ihm geschaffenen Werkzeugs, der transzendentalen Methode, erwiesen, es war zu erwarten, daß es sich auch in dem neuen Problem bewähren würde. *

*

*

Unsere nächste Aufgabe ist damit umschrieben. Es muß gezeigt werden, wie der Gedanke einer dritten Kritik entstehen konnte. Zweifellos gehörte sie nicht zu Kants ursprünglichem Plane. Er versprach nach dem Erscheinen der'ersten Kritik eine Metaphysik der Natur und der Sitten. Für die erstere veröffentlichte er 1786 die „Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft", denen dann das sogenannte Opus postumum folgen sollte. Ein Jahr früher erschien die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten". In der Vorrede erklärte er, die eigentliche Grundlage für eine Metaphysik der Sitten sei die Kritik einer reinen praktischen Vernunft. Als Hauptgrund des Nichterscheinens einer solchen gibt er an: „ich erfordere zur Kritik einer reinen praktischen Vernunft, daß, wenn sie vollendet sein soll, ihre Einheit mit der spekulativen in einem gemeinschaftlichen Prinzip zugleich müsse dargestellt werden können, weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß. Zu einer solchen Vollständigkeit konnte ich es aber hier noch nicht bringen." (IV, 391.) Kant hält also an dem alten Gedanken einer Kritik der reinen Vernunft fest, muß aber gestehen, daß es ihm unmöglich ist, eine solche zu leisten. Schon hier sei vorausgenommen, daß in der dritten Kritik zwar die allgemeine Bezeichnung einer Kritik der reinen Vernunft wiederkehrt, daß aber nun unter ihr begriffen werden eine Kritik des reinen Verstandes, der reinen Urteilskraft und der reinen Vernunft. Vorher hatte er die Urteilskraft als Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft, ohne Ableitung aus einem höheren Prinzip, bezeichnet und dann in bezug auf die drei Seelenvermögen (Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen) erklärt, „daß sie sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen". (V, 177.) Man muß sich klarmachen, was dieser vorläufige, später endgültige Verzicht für den Systematiker Kant bedeutete. Die Einheit seines Systems aus einem Prinzip war nicht zu leisten; mußte sich ihm nicht der Gedanke aufdrängen, diese Einheit durch eine Synthese zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriff herzustellen? Die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" hat nur eine Aufgabe: eine bestimmte Formel für das Pflichtgebot zu finden. Dann aber greift sie mit der

io6

Von der ersten zur dritten K r i t i k

Frage: wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?, in das Gebiet einer Kritik des reinen praktischen Vernunft über. Die Möglichkeit ergibt sich aus der Doppelnatur des Menschen als eines Stückes der Sinnenwelt und anderseits eines Gliedes der intelligiblen Welt. „Die Verstandeswelt enthält den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben und ist also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend." (IV, 453.) Das Sollen stellt sich als eine Forderung an die Sinnenwelt dar. Auf diese Schrift ließ Kant nun nicht, wie es möglich gewesen wäre und erwartet wurde, die „Metaphysik der Sitten" folgen; sie erschien erst im Jahre 1797. Es folgte vielmehr eine „Kritik der praktischen Vernunft". Die nicht leicht zu entscheidende Frage 1 , ob Kant eine solche überhaupt geplant habe und welche Gründe ihn zu ihrer Abfassung bewegten, kann hier nicht weiter erörtert werden. Zu einem Teil wurde sie durch die Kritik, welche die „Grundlegung" erfahren hatte, hervorgerufen. Neben der Widerlegung der eudaemonistischen Ethik beschäftigte sich Kant mit den „erheblichsten Einwürfen" gegen seine kritische Lehre. Es drehte sich um diese zwei Angeln: „nämlich einerseits, im theoretischen Erkenntnis geleugnete und im praktischen behauptete Realität der auf Noumenen angewandten Kategorien, andererseits die paradoxe Forderung, sich als Subjekt der Freiheit zum Noumen, zugleich aber auch in Absicht auf die Natur zum Phänomen in seinem eigenen empirischen Bewußtsein zu machen." (V, 6.) Etwas wesentlich Neues zur Beantwortung dieser Probleme bringt die „Kritik der praktischen Vernunft" kaum. Vielleicht ist aber doch die Wendung wichtig, daß nunmehr theoretische Vernunft zugeben müsse, daß es „übersinnliche Gegenstände" gebe. (V, 135.) Die reine praktische Vernunft hat den Primat. Im einzelnen seien noch einige Äußerungen über ästhetische Probleme, wie sie sich in den beiden genannten Schriften finden, erwähnt. In der „Grundlegung" wird vom Reich der Zwecke gesprochen und gesagt, daß in ihm alles entweder einen Preis oder eine Würde habe. Der erstere wird unterschieden als Marktpreis in Beziehung auf allgemeine menschliche Neigungen und Bedürfnisse und als Affektionspreis: „das, was auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemütskräfte, gemäß ist, hat einen Affektionspreis." (IV, 434 f.) Fortgeschrittener erscheint die Lehre vom Spiel in der „Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft". Die dort vorgeschlagene Methode soll damit beginnen, die Urteilskraft des Zöglings zu bilden und durch mannigfache Beschäftigung mit dem moralischen Gesetz in ihm ein Interesse für dasselbe zu erwecken. Dann aber heißt es von dieser Beschäftigung der Urteilskraft: „Sie macht bloß, daß man sich gerne mit einer solchen Beurteilung unterhält, und gibt der Tugend oder der Denkungsart nach moralischen Gesetzen eine Form der Schönheit, die bewundert, darum aber nicht gesucht wird; wie alles, dessen Betrachtung subjektiv ein Bewußtsein der Harmonie unserer Vorstellungskräfte bewirkt, nnd wobei wir unser ganzes Erkenntnisvermögen (Verstand und Einbildungskraft) gestärkt fühlen, ein Wohlgefallen hervorbringt, das sich auch

Von der ersten zur dritten K r i t i k

107

andern mitteilen läßt, wobei gleichwohl die Existenz des Objekts uns gleichgültig bleibt, indem es nur als die Veranlassung angesehen wird, der über die Tierheit erhabenen Anlage der Talente in uns inne zu werden." (V, 160.) Es entsteht nun die Frage, ob wir in diesen kritischen Hauptschriften eine Vorbereitung für die Lösung des eigentümlichen Problems einer Kritik des Geschmacks finden können, die in die Reihe der vorangehenden Kritiken aufgenommen werden durfte, weil auch sie die Frage zuließ: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Das Problem läßt sich in zwei Untersuchungen zerlegen : 1. kann gefragt werden, wie ein subjektives Urteil objektive Gültigkeit erhalten könne und 2. ob und wie es möglich sei für ein Gefühl einen apriori' sehen Charakter zu fordern. Es ist schon in erster Hinsicht von anderer Seite auf die Analogie hingewiesen worden, die Kants Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen in den „Prolegomenen" (§ i8ff.) ermöglicht. Ein Wahrnehmungsurteil ist subjektiv gültig, ihm fehlt die Beziehung auf den Gegenstand. Es wird objektiv gültig durch „im Verstände ursprünglich erzeugte Begriffe". Dieser allgemeinen Gültigkeit entspricht die für den Gegenstand. Objektive Gültigkeit und Allgemeingültigkeit sind also Wechselbegriffe. Das Wahrnehmungsurteil „wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird es warm", wird zum Erfahrungsurteil, wenn wir sagen: „die Sonne erwärmt den Stein." Die Kategorie der Kausalität gibt ihm diesen Charakter. Wenn nun Kant dem ästhetischen Urteil einen über die nur subjektive Geltung hinausgehenden Anspruch zuerkannte, so mußte er dafür das apriorische Moment aufweisen. Fest stand, daß dies nicht ein Begriff sein durfte, und damit war auch die Geltung für den Gegenstand unmöglich gemacht. So weit reicht die Analogie, das neue Problem aber war, daß es sich in der Ästhetik um ein Wohlgefallen, also ein Gefühl handelte. Aus diesem Grunde hat nun die Lehre von den „Triebfedern der reinen praktischen Vernunft" und insbesondere die Ableitung des Gefühls der Achtung eine große Bedeutung. (V, 71 ff.) Das Problem wird schon in der „Grundlegung" erörtert, es wird gefragt, wie die Allgemeingültigkeit der Maxime ein Interesse herbeiführen kann. Die Antwort ist eine Ablehnung; es wird prinzipiell gesagt: „ E s ist gänzlich unmöglich einzusehen, d. i. a priori begreiflich zu machen, wie ein bloßer Gedanke, der selbst nichts Sinnliches enthält, eine Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe." (IV, 460.) Daran hält Kant auch prinzipiell in der „Kritik der praktischen Vernunft" fest, macht aber dann eine Unterscheidung. „Nicht den Grund, woher das moralische Gesetz in sich eine Triebfeder abgebe, sondern was, sofern es eine solche ist, sie im Gemüte wirkt (besser zu sagen, wirken muß), werden wir a priori anzuzeigen haben." (V, 72.) Die Triebfeder ist das Gefühl der Achtung, es ist eine negative Wirkung auf das Gefühl, aber anderseits positiv durch seinen Ursprung aus der Freiheit. Das Ergebnis ist: „Also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen und dessen Notwendigkeit wir einsehen können." (V, 73.) Ohne der späteren Erörterung vorgreifen zu wollen, kann also schon

io8

Von der ersten zur dritten K r i t i k

hier festgestellt werden, daß die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des ästhetischen Urteils doch auch wohl ein „intellektueller Grund" für das aus ihm folgende Gefühl ist. Zeitlich die früheste Nachricht über Kants ästhetische Pläne erhalten wir in der Ankündigung einer „Grundlegung zur Kritik des Geschmacks" im Katalog zur Ostermesse 1787. Anscheinend ging diese Nachricht auf Verhandlungen mit dem Verleger Hartknoch d. Ä. zurück, von denen der Sohn im Brief vom 26. August 1789 spricht. Er sagt dort: „Ich finde in den Papieren meines sei. Vaters, ein kleines Memorandum wegen des Drucks einer Kritik des schönen Geschmacks, den er besorgen sollte 2 ." Auf diese Anzeige bezieht sich Bering in seinem Brief vom 28. Mai 1787. Die erste eigene Äußerung Kants findet sich dann im Brief an Schütz vom 25. Juni 1787. Nachdem er soeben die Kritik der praktischen Vernunft druckfertig gemacht hat, schreibt er, daß er den dritten Teil von Herders Ideen nicht rezensieren könne, weil er „als bald zur Grundlegung der Kritik des Geschmacks" gehen müsse. Dieser Titel tritt hier zum letzten Male auf. Man hat vermutet 3 , daß Kant, wie der Kritik der praktischen Vernunft, auch einer dritten Kritik eine Grundlegung voranschicken wollte. Gegen diese Vermutung scheint mir die folgende Mitteilung aus dem Brief an Jakob vom 11. Sept.(?) 1787 zu sprechen: „Unmittelbar wende ich mich nun auf die Bearbeitung der Kritik des Geschmacks, womit ich mein kritisches Geschäft schließen werde, um zum dogmatischen fortzuschreiten. Noch vor Ostern, denke ich, soll sie herauskommen." Daraus geht doch wohl hervor, daß Kant damals glaubte, schnell mit dieser Arbeit fertig werden zu können. Dann war aber kaum eine Grundlegung nötig. Auch die Wendung, daß er sein kritisches Geschäft schließen werde, spricht gegen die gedachte Vermutung. Nun folgt am 28. Dezember 1787 der wichtige Brief an Reinhold. Kant gedenkt da der Angriffe auf seine Lehre und bemerkt, daß er immer größere Zuversicht zu seinem System gewinne: „Dies ist eine innigliche Überzeugung, die mir daher erwächst, daß ich im Fortgange zu anderen Untersuchungen nicht allein es immer mit sich selbst stimmig befinde, sondern auch wenn ich bisweilen die Methode der Untersuchung über einen gewissen Gegenstand nicht recht anzustellen weiß, nur nach jener allgemeinen Vorzeich[n]ung der Elemente der Erkenntnis und der dazu gehörigen Gemütskräfte zurücksehen darf, um Aufschlüsse zu bekommen, deren ich nicht gewärtig war. So beschäftige ich mich jetzt mit der Kritik des Geschmacks, bei welcher Gelegenheit eine neue Art von Prinzipien a priori entdeckt wird als die bisherigen. Denn der Vermögen des Gemüts sind drei: Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögen. Für das erste habe ich in der Kritik der reinen (theoretischen), für das dritte in der Kritik der praktischen Vernunft Prinzipien a priori gefunden. Ich suchte sie auch für das zweite und ob ich es zwar sonst für unmöglich hielt, dergleichen zu finden, so brachte das Systematische, was die Zergliederung der vorher betrachteten Vermögen mir im menschlichen Gemüte hatten entdecken lassen und welches zu bewundem und womöglich zu ergründen mir noch Stoff genug für den Überrest meines Lebens an die Hand

V o n der ersten zur dritten K r i t i k

109

geben wird, mich doch auf diesen Weg, so daß ich jetzt drei Teile der Philosophie erkenne, deren jede ihre Prinzipien a priori hat, die man abzählen und den Umfang der auf solche Art möglichen Erkenntnis sicher bestimmen kann - theoretische Philosophie, Teleologie und praktische Philosophie, von denen freilich die mittlere als die ärmste an Bestimmungsgründen a priori befunden wird. Ich hoffe gegen Ostern mit dieser unter dem Titel Kritik des Geschmacks ein Manuskript, obgleich nicht im Druck, fertig zu sein." An dem Titel „Kritik des Geschmacks" ist festgehalten, ebenso auch im Brief an Reinhold vom 7. März 1788. Kant schiebt die Verzögerung im Abschluß der dritten Kritik auf die Rektoratsgeschäfte, spricht aber doch die Hoffnung aus, „um Michael" das Werke liefern zu können. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Am 12. Mai 1789 berichtet er wieder an Reinhold, stellt das Erscheinen des neuen Werkes zur Michaelismesse in Aussicht und nennt es jetzt „meine Kritik der Urteilskraft (von der die Kritik des Geschmacks ein Teil ist)". Damit ist das letzte entwicklungsgeschichtliche wichtige Datum angegeben, die übrigen berichten nur über den Fortgang der Arbeit und ihren Abschluß. Sie sind aus dem Register im 13. Band der Kantausgabe der Akademie leicht zu entnehmen. Wir stehen nunmehr vor der wichtigsten Frage unserer Untersuchung. Die bisherige Darstellung hat wohl gezeigt, daß eine Kritik der Urteilskraft ursprünglich nicht in dem Plane lag, den Kant in der Architektonik der reinen Vernunft entworfen und dessen Durchführung er immer wieder als die zu leistende Aufgabe bezeichnet hatte. Die neue Kritik tritt nun zuerst als eine Kritik des Geschmacks, dann der Urteilskraft auf. Danach ergibt sich die Doppelfrage: 1. was veranlaßte Kant, eine dritte Kritik, und zwar eine Kritik des Geschmacks, zu schreiben? 2. wie kam er zu einer Vereinigung einer ästhetischen und einer teleologischen Urteilskraft und damit zu einer Änderung des Planes und Titels? Der soeben zitierte Brief an Reinhold ist zweifellos für die Beantwortung der ersten Frage die wichtigste Quelle. Er ist geschrieben aus dem Gefühl einer neuen Aufgabe, zugleich aber aus der Freude einer neuen Entdeckung. Er habe Prinzipien a priori gefunden, die zu finden er früher für unmöglich hielt. Sein Vertrauen, die neue Aufgabe zu lösen, entspringt aus der Zuversicht zu der von ihm bisher angewandten Methode. Dabei beruft er sich ausdrücklich auf „jene allgemeine Vorzeichnung der Elemente der Erkenntnis und der dazu gehörigen Gemütskräfte". Diese Elemente können doch nur die Naturbegriffe und der Freiheitsbegriff sein, die die beiden vorangehenden Kritiken als Prinzipien a priori erwiesen hatten. Auf beiden Gebieten waren neue Erkenntnisse nicht mehr zu gewinnen, beide waren endgültig bestimmt und abgegrenzt. Eine neue Fragestellung konnte sich also nur aus einer Betrachtung der beiden Gebiete Natur und Freiheit in ihrem Verhältnis zueinander ergeben. Und diese neue Fragestellung nennt Kant nun Teleologie und als das ihr zugrunde liegende Vermögen des Gemüts das Gefühl der Lust und Unlust. Unter Teleologie verstand er aber nach einer Anmerkung in der „Grundlegung" „die Erwägung der

110

Von der ersten zur dritten Kritik

Natur als eines Reiches der Zwecke". (IV, 436.) Damit ist die zu lösende Aufgabe gegeben. Es muß gezeigt werden, wie Kant dazu kommen konnte, eine Kritik des Geschmacks nach ihrem Ergebnis als Teleologie zu bezeichnen. Mit anderen Worten: Es muß die Verbindung zwischen Gefühl und Zweckbetrachtung hergestellt werden. Es sei noch einmal an das ursprüngliche Naturerlebnis Kants erinnert und, um es erneut in seiner Eigenart lebendig werden zu lassen, zitiere ich folgende Worte aus der „Kritik der reinen Vernunft": „Die gegenwärtige Welt eröffnet uns einen so unermeßlichen Schauplatz von Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit, man mag diese nun in der Unendlichkeit des Raumes oder in der unbegrenzten Teilung desselben verfolgen, daß selbst nach den Kenntnissen, welche unser schwacher Verstand davon hat erwerben können, alle Sprache über so viele und absehlich große Wunder ihren Nachdruck, alle Zahlen ihre Kraft zu messen, und selbst unsere Gedanken alle Begrenzung vermissen, sondern sich unser Urteil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto breiteres Erstaunen auflösen muß. Allerwärts sehen wir eine Kette von Wirkungen und Ursachen, von Zwecken und Mitteln, Regelmäßigkeit im Entstehen oder Vergehen." (III, 414). Man tut wohl recht, wenn man dieses Urteil als ein ästhetisches bezeichnet und es sei daran erinnert, daß diese Sätze das wiederholen, was schon in der „Naturgeschichte" zu finden war. Noch einmal tritt uns das Naturerlebnis Kants in seiner Eigenart entgegen. In ihm drückt sich nicht eine naive Freude an einzelner Schönheit der Natur aus, sondern die Bewunderung, die aus der Betrachtung von ihrer Einheit und Größe, ihrem gewaltigen Rhythmus in Werden und Vergehen entspringt. Es ist in ihm viel Reflektion enthalten. Trotzdem gibt dies Gefühl allein nicht einen Ansatzpunkt zur Entdeckung eines Apriori und einer methodischen Begründung des Anspruches ästhetischer Urteile auf Gemeingültigkeit. Wie er zu finden, verrät uns das Wort „Teleologie". Wir müssen es so verstehen, wie die „Kritik der reinen Vernunft" und wie es das soeben gegebene Zitat angeben: „Natur als Reich der Zwecke". Es ist nicht die Anwendung teleologischer Prinzipien auf bestimmte Erscheinungen der Natur gemeint, sondern der Versuch, die Natur als Einheit zu begreifen, eine Einheit, wie sie ein theoretisches Bedürfnis forderte und anderseits die Gegenüberstellung zum Reich der Freiheit. Jenes kosmische Gefühl von der Einheit in der Mannigfaltigkeit drückt in seiner Sprache das aus, was das methodische Prinzip von der Verbindung der besonderen Naturgesetze zu ihrer allgemeinen Gesetzlichkeit forderte. Auf beide Verhaltungsweisen läßt sich das Merkmal der Reflektion anwenden. Sobald aber nun das Prinzip der Zweckmäßigkeit gefunden war, war auch die Möglichkeit einer Zuordnung des Besonderen zu einem Allgemeinen gegeben. Die Rationalisierung des ästhetischen Gefühles wurde möglich. Daß Kant diesen Weg gegangen ist und ihn gehen mußte, zeigt in aller Deutlichkeit die Einleitung zur „Kritik der Urteilskraft". Nachdem er den Begriff der reflektierenden Urteilskraft bestimmt hat, beginnt er damit den Gedanken von der Einheit der Natur zu entwickeln und spricht danach von dem Gefühl der Lust, das

V o n der ersten zur dritten K r i t i k

III

sich mit dem Begriff von der Zweckmäßigkeit der Natur verbindet. Wir haben uns also ein Stadium vorzustellen, in welchem die beiden Betrachtungsweisen der Natur nebeneinander gingen, um sich dann zu verbinden. Die vereinigenden Momente waren die geschilderten und vor allem auch der beiden gemeinsame Gedanke von der Form, der auf beiden Gebieten bereits gefunden war. Die zweite Frage war gerichtet auf die Vereinigung einer ästhetischen und teleologischen Urteilskraft in einer Kritik der Urteilskraft, „von der die Kritik des Geschmackes ein Teil ist". Die Beantwortung dieser Frage hat Kant für uns einigermaßen durch die Vorrede des genannten Werkes erschwert. Er sagt dort, daß die kritische Untersuchung eines Prinzips der ästhetischen Urteilskraft „das wichtigste Stück einer Kritik dieses Vermögens" sei; Demgegenüber habe die logische Beurteilung der Natur keine unmittelbare Beziehung auf das Gefühl der Lust und Unlust. Deshalb hätte sie „allenfalls dem theoretischen Teile der Philosophie, sammt einer kritischen Einschränkung derselben angehängt werden können". So war es ja auch schon in der „Kritik der reinen Vernunft" geschehen. Daraus ergibt sich also, daß als Beweggrund für die Vereinigung der beiden Arten der Urteilskraft der Ursprung aus einem Vermögen des Gemüts nicht angegeben werden kann. Die Aufgabe einer entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung ist es nun, gerade bei einer so entstandenen Ungewißheit andere Gründe zu suchen, die die gedachte Vereinheitlichung erklären können. Hier kann nun zuerst die Tatsache festgestellt werden, daß Kant während der Arbeit an der Kritik des Geschmacks sich mit anderen teleologischen Problemen beschäftigte, und zwar in dem Aufsatz: „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie." Die Arbeit an ihm fällt in die Zeit vom 12. Oktober bis zum 28. Dezember 1787. Er erschien im Januar und Februar 1788. Am 7. März spricht Kant noch von seiner Kritik des Geschmacks, während am 12. Mai 1789 die Kritik der Urteilskraft zum ersten Male erwähnt wird. Das besagt natürlich nicht, daß er erst damals den Entschluß gefaßt habe, das kann sehr wohl früher geschehen sein. Weitere Rückschlüsse sind kaum möglich. Es entsteht nun die Frage, ob der Aufsatz in seinem Inhalt irgendwelche Hinweise auf die zu erklärende Vereinheitlichung der beiden Teleologien bietet. Es kann zuerst der Titel auffallen, weil er mehr verspricht, als der Aufsatz bringt, da dessen wesentlicher Inhalt sich mit dem Begriff und Ursprung der Menschenrassen beschäftigt. Aber sowohl am-Anfang als auch am Ende finden sich Bemerkungen, die dies Sonderproblem in einen größeren Zusammenhang einordnen. Am Anfang erinnert Kant an seine Erörterung teleologischer Prinzipien in Richtung auf die Idee des höchsten Gutes und an den Versuch über die Menschenrassen. Beide erscheinen recht lose verbunden, wenn in bezug auf den letzteren in Anspielung auf die ersteren von „einer ähnlichen Befugnis, ja Bedürfnis von einem teleologischen Prinzip auszugehen" gesprochen wird. Bedeutsamer ist aber eine Bemerkung am Schluß. Hier wird von Zwecken der Natur und der Freiheit gesprochen. Der Gebrauch des ersteren ist nur empirisch bedingt, dagegen kann die reine praktische Vernunft den Zweck a priori

112

Von der ersten zur dritten Kritik

angeben. Dann aber finden sich die bedeutungsvollen Sätze: „Wenn also der Gebrauch des teleologischen Prinzips zu Erklärungen der Natur darum, weil es auf empirische Bedingungen eingeschränkt ist, den Urgrund der zweckmäßigen Verbindung niemals vollständig und für alle Zwecke bestimmt genug angeben kann: so muß man dieses dagegen von einer reinen Zweckslehre (welche keine andere als die der Freiheit sein kann) erwarten, deren Prinzip a priori die Beziehung einer Vernunft überhaupt auf das Ganze aller Zwecke enthält und nur praktisch sein kann. Weil aber eine reine praktische Teleologie, d. i. eine Moral, ihre Zwecke in der Welt wirklich zu machen bestimmt ist, so wird sie deren Möglichkeit in derselben, sowohl was die darin gegebenen Endursachen betrifft, als auch die Angemessenheit der obersten Weltursache zu einem Ganzen aller Zwecke als Wirkung, mithin sowohl die natürliche Teleologie, als auch die Möglichkeit einer Natur überhaupt, d. i. die Transzendentalphilosophie, nicht verabsäumen dürfen, um der praktischen reinen Zweckslehre objektive Realität in Absicht auf die Möglichkeit des Objekts in der Ausübung, nämlich die des Zwecks, den sie als in der Welt zu bewirken vorschreibt, zu sichern." (VIII, 182/83.) Aus diesen Sätzen läßt sich verstehen, welche Bedeutung die Erörterung eines besonderen teleologischen Problemes für die Entstehung der dritten Kritik haben mußte, da es von Kant nicht isoliert betrachtet, sondern in eine allgemeine Zweckslehre eingeordnet wurde. Nur zweierlei ist noch zu sagen. Die Verbindung mit der ästhetischen Urteilskraft ist durch die Erinnerung leicht herzustellen, daß Kant seine Kritik des Geschmackes als Teleologie bezeichnet hatte. Die Zuordnung zu einer allgemeinen Zwecklehre ergab sich dann leicht. Zweitens muß die Frage der Verbindung der beiden Arten der Urteilskraft nicht zwischen der Lehre vom Organismus und der Ästhetik allein gesucht werden, sondern es ist zu beachten, daß die teleologische Urteilskraft in einem dem ersten Teil an Seitenzahl ungefähr gleichen „Anhang" das Problem Natur und Freiheit in universaler Betrachtung behandelt. An dieser Stelle muß es, um nicht späteren Erörterungen vorzugreifen, genügen, daß ich das System der Teleologie durch die entscheidenden Begriffe in seinem Aufbau hier wiedergebe: Zweckmäßigkeit ohne Zweck - Naturzweck - letzter Zweck der Natur (Mensch Geschichte - Kultur) - Endzweck. So tritt die Einheit der dritten Kritik in voller Klarheit hervor. Die Antwort auf die beiden oben gestellten Fragen läßt sich nunmehr geben. Kants Entschluß, eine Kritik des Geschmackes zu schreiben, war die Erfüllung einer Aufgabe, die er längst anerkannt hatte. Die „Kritik der reinen Vernunft" lehnt zwar Baumgartens Bemühung, die Ästhetik zum Range einer Wissenschaft zu erheben ab, aber schon in den „Prolegomenen" wurde gesagt, daß es in der Lehre vom Geschmack einen Maßstab, das Muster der Alten, gebe. Und immer wieder begegnet uns in den Reflexionen der Gedanke von der gesellschaftlichen Geltung der Geschmacksurteile, ihrem Anspruch auf Beistimmung. Diese Richtung auf allgemeine Geltung mußte dazu führen, sie im Sinne eines noch näher zu bestimmenden Apriorismus zu untersuchen. Die apriorische Ableitung eines Gefühles der Achtung in der „Kritik der praktischen Vernunft"

Von der ersten zur dritten K r i t i k

113

kann als eine methodische Vorbereitung, natürlich nicht in bewußter Absicht, aufgefaßt werden. Der an der Lehre vom Spiel, zuerst in allgemeiner Fassung, gewonnene Gedanke von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck, führte zu der Idee von einer Kritik des Geschmackes als Teleologie. Schließlich gab die Beschäftigung mit einem besonderen Problem der Teleologie Anlaß zu einer universalen Zwecklehre, der sich die Ästhetik eingliedern ließ. Ein Gewinn aus Reflexionen läßt sich für den in diesem Abschnitt behandelten Zeitraum kaum erwarten. Kants Interesse und Arbeitskraft war ja genug durch die große Zahl der in ihm erscheinenden Werke in Anspruch genommen. Die oben angegebenen Daten haben auch gezeigt, daß eine verhältnismäßig kurze Zeit zwischen der Konzeption des neuen Werkes und seiner Ausführung lag. Im Vordergrund stand das Problem, ein Apriori des Vermögens der Lust und Unlust nachzuweisen, und dies Problem spielte in den Vorlesungen keine entscheidende Rolle. Es bleibt also nur übrig, wie bisher Umschau nach den früher erörterten Grundbegriffen zu halten, wobei der Blick voraus auf die endgültige Entscheidung in der dritten Kritik gerichtet sein muß. Ich beginne mit Reflexionen, die sich um den Gedanken vom Spiel gruppieren lassen. Aus der Phase | (nach 1780) stammt Refl. 1908: „Der Grund eines allgemeinen Wohlgefallens nach Gesetzen der Sinnlichkeit ist Schönheit, (nach Gesetzen) einer besonderen ist Reitz; zur Schönheit gehört Verstand. Reitz Empfindung." 1907 (aus der gleichen Phase) sagt mit anderen Worten deutlicher das gleiche: „Dasjenige, in dessen Vorstellung Sinnlichkeit und Verstand zu einem Erkenntnis zusammenstimmt, ist schön." Einen Schritt weiter geht Refl. 1909: „Das vereinigte Interesse der Einbildungskraft und Verstandes", und Refl. 1923: „Schönheit der Erkenntnis ist die Übereinstimmung der Freiheit der Einbildungskraft mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes in Darstellung der Begriffe. Dichtkunst hat die erste zum Zweck, Beredsamkeit die letztere, Wohlredenheit beides." Die Vermutung scheint mir gerechtfertigt, daß Kant den Gedanken vom Spiel der Erkenntniskräfte zuerst an der Dichtkunst gefaßt hat. Daraus wird nun in Refl. 1926 eine schon bekannte Folgerung gezogen: „Der Geschmack verstattet keine Vorschriften und Regeln, weil die Einbildungskraft das Gesetz gibt, nämlich das allgemeine Urteil, und diese frei ist. g Denn er ist subjektive Urteilskraft, die nicht nach Begriffen das Urteil bestimmt, sondern nach Lust und Unlust. Besonders interessant ist der Zusatz, der einmal von einer „subjektiven Urteilskraft" spricht und dann das Problem enthält, das in § 9 der „Kritik der Urteilskraft" als Schlüssel zur Kritik des Geschmackes bezeichnet wird. Die Fassung in der Reflexion gibt noch nicht die Lösung. Erwähnenswert erscheint mir schließlich Refl. 1928 (achtziger Jahre): „Schönheit und Tugend kommen darin überein, daß sie nach dem Wohlgefallen des gemeinen Wesens und nicht nach Privatvergnügen beurteilt werden. Sie erfordern einen Zuschauer, den das gesamte Vergnügen interessiert. Nur mit dem Unterschiede, daß die Gründe des Wohlgefallens im ersteren blos empirisch sind 8

Menzer, Kants Ästhetik

114

Von der ersten zur dritten Kritik

und a priori gar keine Notwendigkeit haben, im zweiten Falle aber intellektual und notwendig jedermanns Gefallen erregen müssen, weil sie auf die Zusammenstimmung der Zwecke vernünftiger Wesen überhaupt gehen. Geschmack und Sentiment (g Charakter) sind beide uneigennützig, beide machen Ehre. Jener kann njir durch die Einstimmung des Urteils vieler Menschen in langen Zeiten bewährt werden, dieses aber durch die Vernunft von jedem. In der Natur ist Schönheit und Nützlichkeit vor Sinne und Vernunft Genuß und Zwecke, in der Freiheit Sitte und Tugend. Das eine bereitet zum andern." Ich möchte glauben, daß diese Reflexion zeitlich nicht allzu weit von der „Kritik der reinen Vernunft" abgerückt werden darf, wahrscheinlich vor die „Grundlegung". Sie zeigt uns die Ethik noch in einem unfertigen Zustande, wie sie es zur Zeit des Erscheinens der ersten Kritik noch war. So war eine Parallelisierung, wie sie der erste Satz enthält, noch möglich. Neben die zur Logik tritt also die zur Ethik. Wir begegnen hier auch wieder der Wendung von der Uneigennützigkeit im ethischen und ästhetischen Verhalten. Während diese Reflexionen nicht als Vorarbeiten zur dritten Kritik bezeichnet werden können, läßt sich dies von einigen anderen mit größter Wahrscheinlichkeit behaupten. Ich zitiere zuerst Reil. 988 (etwa 1783/84): „Wie ist ein objectiv gültiges Urteil möglich, welches doch durch keinen Begriff vom Object bestimmt wird? ... Wenn das Urteil das Verhältnis [der] aller Erkenntnisvermögen überhaupt in Übereinstimmung zur Erkenntnis eines Objects überhaupt ausdrückt, mithin nur die wechselseitige Beförderung der Erkenntniskräfte unter einander ausdrückt, so wie es gefühlt wird. Denn alsdann kann kein Begriff von irgend einem Object [dergleich] ein solches Gefühl, sondern nur Begriffe hervorbringen. Wenn sich das Urteil aufs Object [g nicht aber] und nur vermittelst des Begriffs von ihm aufs Subject) bezieht, gleichwohl aber kein bestimmter Begriff von irgend einem Object, noch auch von irgend einer nach Regeln bestimmbaren Beziehung [g des Begriffs] aufs Subject das Urteil desselben notwendig macht: so muß es sich auf Object überhaupt durch Gemütskräfte der Erkenntnis überhaupt beziehen. Denn da ist kein bestimmter Begriff, sondern blos das Gefühl der durch Begriffe überhaupt einer Mitteilung fähigen Bewegung [g aller] der Erkenntniskräfte das, was den Grund des Urteils enthält. Die Lust ist an diesem Urteil, nicht an dem Objecte desselben. Die Erkenntniskräfte sind Witz und Einbildungskraft, so fern sie zum Verstände übereinstimmen. Urteilskraft ist nur das Vermögen, was [aus] beider Zusammenstimmung [g in einem Falle] in concreto möglich macht. Scharfsinn ist das Vermögen, [das] auch die kleine Einstimmung oder Wiederstreit beider zu bemerken, ist also Eigenschaft der Urteilskraft. Lust ist überhaupt das Gefühl der Beförderung des Lebens; die der Beförderung des Lebens der Sinne durch Empfindung heißt Vergnügen und sein Gegenteil Schmerz. Die an der Beförderung des Lebens im Spiel der Erkenntniskräfte überhaupt heißt Geschmack. Die an der Beförderung des Lebens [überhaupt] der Verstandeskräfte insbesondere Billigung.

Von der ersten zur dritten Kritik

i ig

Ob ein Urteil oder überhaupt eine Vorstellung mit Lust werde begleitet sein, kann man aus dem Begriffe vom Object niemals einsehen; daß aber, wenn Freiheit da ist als Eigenschaft des Willens, eine solche Lust vorausgesetzt werde, ist analytisch gewiß. Ebenso: daß gewisse Erkenntnisarten Lust hervorbringen, kann auch nicht a priori eingesehen werden; daß aber, wenn Erkenntnis an sich selbst Triebfedern hat, eine Lust an Bewegung der Erkenntniskräfte, die Empfindungen mögen angenehm oder unangenehm sein, Lust erregen werde, folgt von selbst." Diese Ausführungen sind von höchstem Interesse. Zu beachten ist das Schwanken zwischen dem Gedanken, daß sich das ästhetische Urteil auf ein Objekt, wenn auch nur auf ein Objekt überhaupt bezieht, und der Betonung seines subjektiven Charakters. In bezug auf diesen fehlt aber noch der Nachweis der apriorischen Geltung. Kant beruft sich schließlich auf die Lust an der Beförderung des Lebens, die doch nur empirisch sein kann. Einen Fortschritt bedeutet demgegenüber Refl. 992 (1785-89): „Wenn ein Urteil so beschaffen ist, daß es für jedermann gültig zu sein behauptet, [gleich] dabei aber doch allen sowohl empirischen als auch jeden anderen Beweis a priori [von seiner Richtigkeit zul] für jene notwendige Einstimmung [zuläßt] ausschließt: so bezieht es seine Vorstellungs [art des Obj ekts nicht auf eine sinnliche, sondern übersinnliche Bestimmung des Subjekts] auf ein [übersinnliches] Prinzip des [übersinnlichen Gebrauchs] übersinnlichen Bestimmung unserer Erkenntnisvermögen. Denn da das Urteil allgemein gelten soll, so muß es ein Prinzip haben; da es aber keines Beweisgrundes noch irgend einer Regel des Gebrauchs des Verstandes oder der Vernunft in Ansehung der Gegenstände der Sinne fähig ist, so muß es [das Pr übersinnliches Prinzip haben unser Erkenntnisvermögen haben] ein Prinzip des [Bestimmung unserer] Gebrauchs des Erkenntnisvermögen [überhaupt] haben, welches sich auf [ihre] irgend eine übersinnliche Bestimmung [gründet] derselben gründet oder sich darauf bezieht; es mag nun diese [Prinzip] Bestimmung blos angemasst oder gegründet sein, so kann doch nur in Rücksicht auf dieselbe ein solches Urteil gefällt werden." Eine Erörterung dieser Reflexion ist wohl entbehrlich, da sie ja schon in den Zusammenhang eingegliedert wurde, für den sie von Wichtigkeit ist. Auf dem gleichen losen Blatt finden sich dann noch Eintragungen, die in strengstem Sinne des Wortes als Vorarbeit bezeichnet werden können. Es läßt sich sogar aus der Bemerkung: „Einleitung: von den Einteilungen" eine Beziehung zu E 1 herstellen5, da in dieser ein besonderer Abschnitt (XII) die Einteilung bringt. Bemerkenswert ist, daß Kant hier noch von einer Deduktion der ästhetischen Urteilskraft über das Erhabene der Natur spricht, die er später als unmöglich bezeichnet (Überschrift von § 30). Dann findet sich in bezug auf das Schöne und Erhabene folgender Satz: „Beider Kultur [ist] an der Natur ist Vorbereitung zum moralischen Gefühl: das erstere in Ansehung der unvollkommenen, das zweite in Ansehung der vollkommenen Pflichten." Diese Unterscheidung ist doch wohl so zu verstehen, daß das Gefühl des Erhabenen den Menschen zum Bewußtsein seiner Pflicht gegen sich selbst als animalisches und 8*

n6

Von der ersten zur dritten Kritik

moralisches Wesen führt, das des Schönen aber nur zur Entwicklung und Vermehrung unserer Naturvollkommenheit und Erhöhung unserer moralischen Vollkommenheit führen kann 6 . Als Vorarbeit kann auch wohl Reil. 993 (etwa 1788/89) gelten, die vom „Schönen und Erhabenen" handelt. Sie wird später zu berücksichtigen sein. Hier wird nur ein Satz zitiert, der für die Problemstellung wichtig ist: „Die Allgemeingültigkeit des Wohlgefallens, und doch nicht durch Begriffe, sondern in der Anschauung, ist das Schwierige." Ehe wir uns nun zu einer Analyse der „Kritik der Urteilskraft" wenden, ist noch die erste Einleitung (E1) zu ihr und ihr Verhältnis zu der dem Werke beigegebenen (E2) zu erörtern. Zuerst die äußeren Daten, die in den Briefen an den Verleger enthalten sind. Am 21. Januar 1790 sendet Kant an diesen „40 Bogen Einleitung (die aber von mir vielleicht noch abgekürzt werden sollen". Am 9. Februar spricht er dann von „der etwa 12 Bogen starken Einleitung". Am 9. März ist aber von Vorrede und Einleitung die Rede, „die nicht über drei Bogen gedruckt ausmachen sollen", und am 25. März geschieht die letzte Versendung des Manuskriptes, „bestehend aus 10 Bogen Einleitung und Vorrede sammt Titel 2 Bogen, welche doch zusammen kaum 3 Bogen gedruckt ausmachen werden". Es ergibt sich also, daß die erste Einleitung 17, die zweite 10 Bogen im Manuskript ausmachen. Wichtiger als die äußeren Daten ist aber die Charakteristik, die Kant in den Briefen an Beck von der ersten Einleitung gibt. Am 4. Dezember 1792 stellt er ihm die Übersendung derselben in Aussicht, , ,die ich aber blos wegen ihrer für den Text unproportionierten Weitläufigkeit verwarf, die mir aber noch Manches zur vollständigeren Einsicht des Begriffes einer Zweckmäßigkeit der Natur Beitragendes zu enthalten scheint". Aufschlußreicher ist aber dann der Brief vom 18. August 1793, wo zuerst die Verwerfung der ersten Einleitung auf ihre Weitläufigkeit geschoben wird. Dann aber fährt Kant fort: „Das Wesentliche jener Vorrede (welches etwa bis zur Hälfte des Manuskripts reichen möchte), geht auf die besondere und seltsame Voraussetzung unserer Vernunft; daß die Natur in der Mannigfaltigkeit ihrer Produkte, eine Akkomodation zu den Schranken unserer Urteilskraft, durch Einfalt und spürbare Einheit ihrer Gesetze, und Darstellung der unendlichen Verschiedenheit ihrer Arten (species), nach einem gewissen Gesetz der Stetigkeit, welches uns die Verknüpfung derselben, unter wenig Gattungsbegriffe, möglich macht, gleichsam willkürlich und als Zweck für unsere Fassungskraft beliebt habe, nicht weil wir diese Zweckmäßigkeit, als an sich notwendig erkennen, sondern ihrer bedürftig, und so auch a priori anzunehmen und zu gebrauchen berechtigt sind, so weit wir damit auslangen können." Das erste sicher zu ziehende Ergebnis aus diesen Briefstellen ist, daß Kant die erste Einleitung wegen ihrer zu großen Weitläufigkeit der „Kritik der Urteilskraft" nicht beigegeben hat. Es ist aber doch wohl falsch, die zweite Fassung einfach als eine durch Streichungen hergestellte verkürzte Darstellung zu be-

Von der ersten zur dritten K r i t i k

u y

zeichnen. Kant nennt die Weitläufigkeit unproportioniert. Das muß nach dem ersten Brief an Beck so verstanden werden, daß sie im Verhältnis zum Text des Werkes zu ausführlich war. So nahm Kant Kürzungen vor, die vor allem die über die Zweckmäßigkeit der Natur handelnden Teile traf. Hier war er zu sehr schon in die Erörterung der Probleme eingedrungen und hatte manches vorausgenommen, was richtiger erst das Werk selbst bringen sollte. Dadurch wurde zugleich erreicht, daß die Ausführungen über die beiden Teile des Werkes in ein mehr ausgeglichenes Verhältnis kamen. So wirkt die zweite Einleitung viel klarer und einheitlicher im Aufbau und der Führung der Gedanken. Vergleicht man nur unter diesem Gesichtspunkt der Kürzung beide Einleitungen, so umfaßt E 1 12, E 2 9 Abschnitte. Es entsprechen sich 1-4 in E 1 und 1-3 in E 2 . Abschnitt 5-7 in E 1 entsprechen 4 und 5 in E 2 , während 6 in dieser neu hinzugekommen ist. 8 in E 1 handelt wie 7 in E 2 von der ästhetischen Urteilskraft, 9 und 10 in E 1 von der teleologischen, der in E 2 nur 8 gewidmet ist. Dann entsprechen einander 11 und 9, während 12, der die Einteilung der Kritik die Urteilskraft gibt, in E 1 fehlt. Wichtiger als eine Untersuchung, die diesen Vergleich im einzelnen durchführen würde, muß aber nun die Frage sein, ob unsere entwicklungsgeschichtliche Betrachtung einen Gewinn aus einer Vergleichung des Inhaltes beider Einleitungen ziehen kann. Dabei ist vor allem zu bedenken, daß die zweite Einleitung geschrieben wurde, als das Werk im wesentlichen fertig war. Diese Tatsache muß einen Einfluß ausgeübt haben. So zeigt sich denn in E 1 noch viel mehr ein Ringen mit den Problemen und ein Suchen nach präzisen Formulierungen, während der Beweisgang in E 2 , durch scharfe Definitionen gesichert, folgerichtig vorwärts schreitet. Auch ist zu bedenken, daß die „Kritik der Urteilskraft" das problemreichste Werk Kants ist. Es setzt die Ergebnisse der beiden früheren Kritiken voraus und versucht sie zu einer höheren Einheit zu verbinden. Dabei war nun das Eigentümliche, daß er in dem Begriff des Endzweckes den höchsten Standpunkt seiner Philosophie gefunden hatte und nun die Probleme der ästhetischen und der teleologischen Urteilskraft in diese Lösung einarbeiten mußte. Es ist eine irrtümliche Meinung, zu glauben, als habe Kant im Besitz der transzendentalen Methode gewissermaßen nur einen Apparat spielen zu lassen gebraucht. Abgesehen davon, daß man damit seine Persönlichkeit auslöscht, übersieht man die Eigenwilligkeit der neuen Probleme, des ethischen und ästhetischen, die durch die Methode allein nicht gelöst werden konnten, sondern vielmehr auf sie sie verändernd zurückwirkten. Man sollte doch insbesondere für die Ästhetik bedenken, daß Kant hier den kühnen Versuch machte, dem Irrationalen ein Apriori abzugewinnen, eine Möglichkeit, an die er früher selbst nicht geglaubt hatte. So ist zu erwarten, daß Kant, als er die zweite Einleitung nach Fertigstellung des Werkes schrieb und nun das Ganze übersah, zu gewissen Wertverschiebungen kommen konnte, in denen sich klarer die Absicht der letztenKritik aussprach. Das scheint mit nun an einem sehr wichtigen Punkte der Fall zu sein. In E 1 fehlt unter den Gründen, welche die Notwendigkeit einer dritten Kritik

n8

Von der ersten zur dritten Kritik

erweisen sollen, der Hinweis auf die Notwendigkeit, die K l u f t zwischen N a t u r und Freiheit z u überbrücken. U n d während der dritte A b s c h n i t t v o n der Urteilskraft als einem Verbindungsmittel der zwei Teile der Philosophie z u einem Ganzen handelt, spricht der entsprechende vierte Abschnitt in E 1 nur v o n der E r f a h r u n g als einem System für die Urteilskraft. Z u r Ergänzung kann ein Vergleich v o n n in E 1 und 9 in E a dienen. Zuerst die Überschriften: „ E n z y k l o p ä d i s c h e Introduktion der K r i t i k der Urteilskraft in das S y s t e m der K r i t i k der reinen V e r n u n f t " u n d „ V o n der V e r k n ü p f u n g der Gesetzgebungen des Verstandes u n d der V e r n u n f t durch die U r t e i l s k r a f t " . U n t e r einer enzyklopädischen Introduktion versteht K a n t den „ V e r s u c h einer Lehre, ihre Stelle in dem Inbegriffe der Lehren, mit welchen sie durch gemeinschaftliche Prinzipien zusammenhängt, nach Grundsätzen anzuweisen". Die zweite Fassung betont demgegenüber viel mehr die Leistung der Urteilskraft, sie ist das verknüpfende B a n d u n d wird nicht nur eingeführt, sie schafft also einen bis dahin noch nicht bestehenden, erst durch sie möglichen Zusammenhang. In E 1 wird das R e c h t der Urteilskraft begründet, nach E 2 ü b t sie es aus. D e m entspricht auch, daß in E 1 gesagt wird, daß die Geschmackskritik eine L ü c k e ausfülle und dann heißt es: „sie eröffnet eine auffallende und wie mich d ü n k t , viel verheißende Aussicht in ein vollständiges S y s t e m aller Gemütskräfte, sofern sie in ihrer Bestimmung, nicht allein aufs Sinnliche, sondern auch aufs Übersinnliche bezogen sind, ohne doch die Grenzsteine z u verrücken, welche eine unnachsichtliche K r i t i k dem letzteren Gebrauche derselben gelegt h a t . " Demgegenüber sei noch einmal erinnert an die W e n d u n g v o n dem V e r bindungsmittel der Philosophie z u einem Ganzen. Eine später z u gebende Analyse v o n 9 in E 2 wird zeigen, wie diese Verknüpfung durch den Begriff des Endzweckes gesichert wird. U n d es ist sicherlich kein Zufall, wenn bei der Zusammenstellung der Prinzipien a priori an dritter Stelle in E 1 steht: Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz ist (Verbindlichkeit) u n d in E 2 E n d z w e c k . Die Erläuterung in E 1 , es handle sich u m „ d i e Idee einer solchen F o r m der Zweckmäßigkeit, die sich zum allgemeinen Gesetze qualifiziert", ist höchst unglücklich und bringt die Gefahr mit sich, den apriorischen u n d formalen Charakter des Sittengesetzes in Frage z u stellen. E s ist auch nicht einzusehen, wie Verbindlichkeit die K l u f t zwischen Natur und Freiheit überbrücken soll, da sie n a c h ihrer Idee doch im Gegensatz zur ersterer bleibt. Dagegen fordert der Gedanke des Endzwecks, d a ß die Natur die Möglichkeit v o n W i r k u n g e n aus Freiheit zuläßt. So allein kann die Synthese hergestellt werden. Eine spätere Untersuchung wird die Frage z u behandeln haben, welche B e deutung die Idee des Übersinnlichen in der dritten K r i t i k hat. U n d in diesem Zusammenhang kann erst ihre Stellung im System der kritischen Philosophie abschließend behandelt werden. Mir will aber scheinen, als ob die Vergleichung der beiden Einleitungen schon erwiesen hat, d a ß K a n t s D e n k e n in dem Zeitraum, der zwischen E 1 und E 2 liegt, also während der Arbeit an dem T e x t der dritten K r i t i k , in lebendiger E n t w i c k l u n g war. W i r haben kein Material, das uns dies Werden im einzelnen aufzeigt. Sicherlich gab es damals schöpferische

Von der ersten zur dritten Kritik

ng

Stunden, in denen er Zusammenhänge fand, die er nicht erwartet hatte, und sie eröffneten dann weitere „vielverheißende Aussicht". Er beendet, wie er nüchtern sagt, sein „kritisches Geschäft". Was das bedeutet, kann man ermessen, wenn man an die späteren Klagen denkt, daß er das Doktrinale nicht abschließen konnte. Überblickt man den soeben dargestellten Zeitraum noch einmal, so tritt bedeutend die Tatsache hervor, daß Kant am Anfang desselben die Möglichkeit einer Ästhetik bestritt und an ihrem Ende die ästhetische Urteilskraft in sein kritisches System aufnahm. In immer erneuten Versuchen hatte er das Problem einer Geschmackslehre erwogen und ihren systematischen Charakter zu bestimmen versucht. Ihre Zugehörigkeit zum Ganzen der Philosophie konnte und wollte er nicht aufgeben. Der Gedanke, daß ästhetischen Urteilen ein anderer Charakter als den nur sinnlichen zukäme, war eine allgemein anerkannte Einsicht seiner Zeit, sowohl innerhalb der rationalen als auch der psychologischen Lehren. Der soziale Charakter dieser Empfindungen wies auf ihre allgemeine Geltung hin. Die Frage: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? mußte sich Kant aufdrängen. War es ihm doch gelungen, dem moralischen Gefühl einen rationalen Ausdruck zu geben. Nun aber verband er mit der ästhetischen eine teleologische Urteilskraft, von welch letzterer er sagte, daß ihre Probleme auch im theoretischen Teil der Philosophie behandelt werden könnten. Der sie beide verbindende Gedanke war der der Zweckmäßigkeit. Aber mußte er nicht gerade die Gefahr mit sich bringen, den ästhetischen Urteilen ihren autonomen Charakter zu nehmen? Die Erwartung auf die Lösung muß sich auf das höchste spannen. Kant vertraute auf seine transzendentale Methode.

V. K R I T I K D E R

URTEILSKRAFT

1790

VORREDE In der Vorrede seiner dritten Kritik gibt K a n t die Begründung dafür, daß er sie in eine Kritik der reinen Vernunft aufgenommen hat. Diese wird also im allgemeinen Sinne verstanden und bedeutet die Kritik „unseres Vermögens nach Prinzipien a priori zu urteilen." Sie würde unvollständig sein, wenn die Urteilskraft als Erkenntnisvermögen nicht auch dahin untersucht würde, ob sie für sich Prinzipien a priori habe. A n früheren Stellen 1 ist die Verwertung des Begriffes „Urteilskraft" charakterisiert worden. Diese Darstellung muß nun ihren Abschluß finden durch eine Untersuchung, welche Rolle sie in der „ K r i t i k der reinen Vernunft" spielt. Hier wird zuerst, und zwar für die allgemeine Logik, eine Einteilung der oberen Erkenntnisvermögen gegeben, und zwar in Verstand, Urteilskraft und Vernunft, und ihnen entsprechend handelt die Logik von Begriffen, Urteilen und Schlüssen. Die transzendentale Logik zeigt nun, daß auf einen transzendentalen Gebrauch der Vernunft verzichtet werden muß, da diese dialektisch wird. Nur Verstand und Urteilskraft haben also einen Kanon, und zwar so, daß die letztere durch die Verstandesbegriffe (Kategorien) geleitet wird. Während der Verstand das Vermögen der Regeln ist, ist die Urteilskraft „das Vermögen unter Regeln zu subsumieren". Ihr Verfahren wird zuerst erläutert an ihrem praktischen Gebrauch; sie ist ein Talent, eine Naturgabe. Die allgemeine Logik, da sie ja nur von den Formen des Denkens handelt, kann ihr keinen W e g weisen, d. h. keinen Inhalt geben, Anders die transzendentale. Sie gibt durch die Kategorien die Inhalte, sie verhütet durch sie die Fehltritte der Urteilskraft. D a ist möglich, da es sich nicht um Gültigkeit a posteriori, sondern a priori handelt. „ D i e Transzendentalphilosophie hat das Eigentümliche, daß sie außer der Regel, die in dem reinen Begriffe des Verstandes gegeben wird, zugleich a priori den Fall anzeigen kann, worauf sie angewandt werden sollen." (III, 133.) Die Urteilskraft steht also unter der Leitung des Verstandes und damit der durch ihn gegebenen intellektuellen Gesetzmäßigkeit. Sie ist also nicht frei. Der Wegfall der ersteren würde demnach ihre Freiheit und damit die Möglichkeit des Irrens bedeuten.

Kritik der Urteilskraft

121

Das ist nun genau die Schwierigkeit, auf die Kant stoßen mußte, als er, den Anspruch der Urteilskraft als Erkenntnisvermögen anerkennend, sich das Problem stellte, ob sie auch Prinzipien a priori für sich habe. Während sie früher nur Begriffe anwandte, die ihr der Verstand gab, soll sie jetzt „selbst einen Begriff angeben, durch den eigentlich kein Ding erkannt wird, sondern der nur ihr selbst zur Regel dient, aber nicht zu einer objektiven, der sie ihr Urteil anpassen kann, weil dazu wiederum eine andere Urteilskraft erforderlich sein würde, um unterscheiden zu können, ob es der Fall der Regel sei oder nicht". (V, 169.) Schon hier macht Kant auf den Unterschied zwischen der ästhetischen und der logischen Beurteilung der Natur aufmerksam. Er weist auf die „Verlegenheit eines Prinzips" in bezug auf die erstere hin. Die ästhetischen Beurteilungen „beweisen eine unmittelbare Beziehung der Urteilskraft auf das Gefühl der Lust oder Unlust nach irgend einem Prinzi pa priori". Am Schluß fügt er hinzu, daß die Natur das Problem verwickelt habe, Dunkelheit in der Auflösung sei nicht zu vermeiden. Diese Untersuchung ist das wichtigste Stück einer Kritik der Urteilskraft. Bedeutsam ist der Vergleich mit der logischen Urteilskraft. Das Rätselhafte der unmittelbaren Beziehung auf Lust oder Unlust fehlt bei dieser. Dann aber erfahren wir, daß sie „aus sich selbst ein Prinzip der Beziehung des Naturdinges auf das unerkennbare Übersinnliche nehmen kann". Die Frage ist allerdings, ob sie es wirklich „aus sich selbst" nehmen kann, da die Idee des Übersinnlichen ja durch die praktische Vernunft gegeben wird. Diese Bemerkung Kants weist auf die Entwicklung hin, die von dem regulativen Gebrauch der Ideen über die praktische Philosophie zur dritten Kritik führt.

EINLEITUNG (I-IX)

Die Einleitung zur „Kritik der Urteilskraft" gibt in den ersten drei Abschnitten den systematischen Ort an, den eine solche Kritik im Zusammenhang der Philosophie einzunehmen hat. Philosophie als Wissenschaft von den Prinzipien der Vernunfterkenntnis der Dinge durch Begriffe zerfällt in eine theoretische und praktische. Als erstere ist sie Naturphilosophie, als zweite Moralphilosophie. Diese Einteilung entspricht allein der an eine solche zu stellenden Forderung, daß sie aus einer Verschiedenheit der Prinzipien entspringen müsse, die letzthin durch die Verschiedenheit der Gegenstände gefordert wird. Sie ist in den vorangehenden Kritiken erwiesen und darf nicht durch lässigen Sprachgebrauch verwischt werden. Nun besteht aber zwischen dem Gebiet der Naturbegriffe, als dem Sinnlichen, und dem Gebiet des Freiheitsbegriffes, als dem Übersinnlichen, eine „unübersehbare Kluft". Die Berechtigung nach ihrer Überbrückung zu fragen, ergibt sich aus der Forderung, daß die übersinnliche Welt auf die sinnliche einen Einfluß haben soll. „Also muß es doch einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff prak-

122

Kritik der Urteilskraft

tisch enthält, geben." Uber diesen zu findenden Begriff läßt sich vorläufig nur sagen, daß er weder theoretisch noch praktisch ist, oder anders ausgedrückt, daß er kein eigentümliches Gebiet hat. Nur das eine ist zu fordern, daß der gesuchte Begriff „den Übergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der einen zu der nach Prinzipien der andern möglich" machen muß. Es liegt nun ganz im Sinne einer Transzendenalphilosophie als einer Lehre von den reinen Erkenntnisvermögen, daß die Lösung dadurch gesucht wird, daß ein eigentümliches Erkenntnisvermögen „ins Spiel gesetzt wird". Ohne eine subjektive Deduktion wird nun die Urteilskraft eingeführt, als zur „Familie der oberen Erkenntnisvermögen" gehörig, und zwar als Mittelglied zwischen dem Verstände und der Vernunft. Dazu kommt aber noch ein neuer Grund „von noch größerer Wichtigkeit": Die Erinnerung an die Vermögen des Gemüts. Es sind: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen. Nach der Analogie jener Zwischenstellung innerhalb der Erkenntnisvermögen und der entsprechenden innerhalb der Seelenvermögen ergibt sich die Vermutung, daß die Urteilskraft ebensowohl für sich ein Prinzip a priori enthalte, und, da mit dem Begehrungsvermögen notwendig Lust oder Unlust verbunden ist, ebensowohl einen Übergang vom reinen Erkenntnisvermögen, d. i. vom Gebiete der Naturbegriffe zum Gebiete der Freiheitsbegriffe bewirken werde, als sie im logischen Gebrauche den Übergang vom Verstände zur Vernunft möglich macht. Die Urteilskraft kann also das System der Philosophie nicht inhaltlich vermehren, wohl aber gehört ihre Kritik zur Kritik der reinen Vernunft im allgemeinen Sinne, welche vor dem System vorausgeht und entscheidet, was zu ihm gehört. Nach dieser programmatischen Einordnung der Urteilskraft in das kritische System folgt nun ihre Bestimmung als Erkenntnis«^. Sie ist das „Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeine zu denken". Darin liegen zwei Möglichkeiten: einmal die, daß das Allgemeine gegeben und das Besondere subsumiert wird, dann ist sie bestimmend, anderseits die, daß das Besondere gegeben, wozu die Urteilskraft das Allgemeine finden soll, dann ist sie reflektierend. Während sie im ersten Fall der jedesmal gegebenen gesetzlichen Ordnung folgt und das Besondere nach ihr bestimmt, muß sie im zweiten über das Besondere hinausgehen. Ein Bedürfnis dazu wird begründet aus der zu beobachtenden Mannigfaltigkeit der empirischen Gesetze, die aus den reinen Verstandesgesetzen im Sinne der „Kritik der reinen Vernunft" nicht abgeleitet werden können. Ihr Charakter als Gesetze, wenn auch empirischer, fordert ein Prinzip, das diesen Charakter verstehen läßt. Es ist das Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen. Nur so können empirische Gesetze zu einem Ganzen der Erfahrung vorgestellt werden. Dies Verfahren ist eine Als-ob-Betrachtung, sie leitet uns an, die Natur nach einer solchen Einheit zu betrachten, „als ob gleichfalls ein Verstand (wenngleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte". Dies Prinzip wird das der Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit genannt. Es gilt in Ansehung der Form der

K r i t i k der Urteilskraft

123

Dinge. Es ist transzendental, es enthält nichts Empirisches. Erläutert wird es durch Beispiele wie die bekannten Regeln: lex parsimoniae, lex continui in natura, principia praeter necessitatem non multiplicanda. Dies Prinzip, weil transzendental, verlangt eine Deduktion. Wir gehen über den Begriff der Gesetzmäßigkeit der Natur zu dem der Naturordnung hinaus. Gegenüber der unendlichen Mannigfaltigkeit empirischer Gesetze und Formen der Natur, ist es die Aufgabe des Verstandes, die a priori in ihm liegt, eine zusammenhängende Erfahrung zu machen. Das Bedürfnis nach einem entsprechenden Prinzip ist zugleich seine Begründung: „Weil aber doch eine solche Einheit notwendig vorausgesetzt und angenommen werden muß, da sonst kein durchgängiger Zusammenhang empirischer Erkenntnisse zu einem Ganzen der Erfahrung stattfinden würde, indem die allgemeinen Naturgesetze zwar einen solchen Zusammenhang unter den Dingen ihrer Gattung nach, als Naturdinge überhaupt, aber nicht spezifisch, als solchen besonderen Naturwesen, an die Hand geben, so muß die Urteilskraft für ihren eigenen Gebrauch es als Prinzip a priori annehmen, daß das für die menschliche Einsicht Zufällige in den besonderen (empirischen) Naturgesetzen dennoch eine für uns zwar nicht zu ergründende, aber doch denkbare gesetzliche Einheit in der Verbindung ihres Mannigfaltigen zu einer an sich möglichen Erfahrung enthalte." Dies Prinzip ist subjektiv, die Urteilskraft schreibt nicht der Natur, sondern sich selbst das Gesetz vor, das sie reflektierend befolgt. Von der Natur aus gesehen kann von einem Gesetz der Spezifikation gesprochen werden, aber immer mit dem Bewußtsein, daß es nicht objektiv ist. Es ist früher 2 gezeigt worden, welche Bedeutung die Verwertung des Ideenbegriffes für die Weiterbildung der Kantischen Philosophie über die Ergebnisse der transzendentalen Analytik hinaus hatte. Neben der systematischen Vollendung der Naturerkenntnis waren es vor allem Betrachtungen über die Möglichkeit der Verknüpfung der Dinge des Welt nach teleologischen Gesetzen. Eine Verstärkung erhielten diese Tendenzen durch die praktische Philosophie, besonders durch die Idee von einem Endzweck. Sie werden nun in der Kritik der Urteilskraft fortgeführt. Dabei ist wesentlich, daß der logische Gedanke von der systematischen Einheit der Naturerkenntnis jetzt an Bedeutung verloren und daß das teleologische Prinzip die Führung übernommen hat. An die Stelle der Vernunft ist jetzt die Urteilskraft getreten. Von jener hieß es, daß sie das Vermögen sei, das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten, wobei die Urteilskraft nur die Aufgabe der Subsumtion hat. Von diesem apodiktischen Gebrauch der Vernunft ist der problematische unterschieden. Das Problem ist von dem Besonderen den Übergang zum Allgemeinen zu finden. Dieser Gebrauch der Vernunft wird ein hypothetischer oder regulativer genannt. Von der Urteilskraft ist bei diesem Versuch nicht die Rede. In der dritten Kritik hat sie nun als reflektierende die Aufgabe der Vernunft übernommen. Diese darf sie nun nicht mehr leiten, da sie dann nur bestimmend wäre. Sie kann sich also nur selbst das Gesetz geben. Sie bedarf dabei eines Prinzips. Dieses tritt zuerst wieder auf als das der Einheit in einem System der Erfahrung, also nur als logisches Prinzip. Diese Einheit wird aber nun sofort in Beziehung zu einem Verstände gesetzt, der so

124

Kritik der Urteilskraft

gedacht wird, als ob er sie „zum Behuf unserer Erkenntniskräfte" gegeben hätte. Damit ist das teleologische Moment eingeführt, und das Prinzip wird formuliert als das der „Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit". Überblickt man diese Beweisführung, so ist klar, daß ein neuer Weg beschritten, aber nicht ein neues Ergebnis gewonnen ist. Für die Naturbetrachtung ist es schließlich ganz gleichgültig, ob wir sie im Sinne des regulativen Gebrauchs der Ideen oder nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit betrachten. Die sich daraus ergebenden Maximen sind, wie eine Vergleichung zeigt, dieselben. Man muß sogar sagen, daß die methodischen Erörterungen in der ersten Kritik, die Funktion der Ideen einmal zugegeben, überzeugender wirken als der Versuch, der Urteilskraft diese Aufgabe zu übertragen. Von dem logischen Prinzip führt kein Weg zur teleologischen Betrachtung. Eine Verbindung zwischen beiden kann also nur durch einen Zwischengedanken hergestellt werden, und dies geschieht durch die Idee eines Verstandes, der nicht der unsrige ist. Diese Charakteristik ist aber nur negativ. Kant hat nun in § 77 die Idee eines intuitiven Verstandes im Gegensatz zu unserm diskursiven (intellectus archetypus und ectypus) entwickelt, wobei er ausdrücklich von „allem ihm beigelegten Zweck" absieht. Wenn er also in IV den gedachten Verstand nach seinem Wirken unter dem Gesichtspunkt auf unser Erkenntnisvermögen betrachtet, so ist klar, daß nur der göttliche Verstand gemeint sein kann. Und so ist denn die Verbindung hergestellt, aber nicht aus einem Prinzip der Urteilskraft, sondern unter dem Einfluß der Ideen, besonders denen der praktischen Philosophie. Nach dieser Deduktion folgt nun ein Abschnitt mit der Überschrift: „Von der Verbindung des Gefühls der Lust mit dem Begriffe der Zweckmäßigkeit der Natur." Einheit in der Mannigfaltigkeit aufzufinden ist zwar ein Bedürfnis und eine Autgabe des Verstandes, das Gelingen ist aber zufällig. Nach dem allgemeinen Satz, daß die Erreichung jeder Absicht mit dem Gefühl der Lust verbunden sei, wird auf eine entsprechende Lust geschlossen, die einen Grund a priori hat und deshalb für jedermann gültig ist, ohne Rücksicht auf das Begehrungsvermögen. Bedeutsam ist die Erinnerung an die Übereinstimmung der Wahrnehmungen mit den Kategorien des Verstandes, die aber keine Lust in sich schließt, weil der Verstand „damit unabsichtlich nach seiner Natur notwendig verfährt". In unserem Falle aber ist „die entdeckte Vereinbarkeit zweier oder mehrerer empirischer heterogenen Naturgesetze unter einem sie beide befassen den Prinzip der Grund einer sehr merklichen Lust, oft sogar einer Bewunderung, selbst einer solchen, die nicht aufhört, ob man schon mit dem Gegenstande derselben genug bekannt ist". Allerdings muß Kant zugeben, daß sie in solchen Fällen nicht immer mehr eintritt, „aber sie ist gewiß zu ihrer Zeit gewesen". Angefügt ist eine ergänzende Betrachtung, in der die Möglichkeit, eine solche Lust zu empfinden, auf ein Studium zurückgeführt wird. Mißfallen würde die Einsicht in die Heterogenität der Naturerscheinungen erwecken. Wie weit jene idealische Zweckmäßigkeit erwartet werden darf, läßt sich nicht entscheiden.

Kritik der Urteilskraft

125

Wir müßten uns auch mit der Einsicht in eine weiter nicht aufhellbare Mannigfaltigkeit zufrieden geben; es bleibt aber das Geheiß „unserer Urteilskraft, nach dem Prinzip der Angemessenheit der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen zu verfahren, so weit es reicht". Dieser Abschnitt bereitet dem Verständnis eine gewisse Schwierigkeit. E 1 hat ihn nicht, sondern handelt von dieser logischen Zweckmäßigkeit nur in einem Satz, in dem gesagt wird, daß dieser Bewunderung „schwerlich jemand anders als etwa ein Transzendentalphilosoph fähig sei". Was bedeutet die Einführung dieses Abschnittes? Zuerst könnte es so scheinen, als sei er eine Vorbereitung auf den folgenden, der von der ästhetischen Lust spricht, aber es ist klar, daß die etwas ganz anders ist als jene Bewunderung. Ein ästhetisches Urteil bedarf ja gar nicht all dieser Voraussetzungen, es ist unmittelbar. Auch ist der Gedanke, daß jene Lust nicht mehr empfunden werde, ebensowenig brauchbar, da ein schöner Gegenstand immer wieder Lust erregen wird. Auch wird sich weiter zeigen, daß die Gegenstände ästhetischer Wertung nicht alle das Prinzip der Einheit in der Mannigfaltigkeit fordern. Abschnitt VII und VIII bringen nun in deutlicher Gegenüberstellung die Lehre von der ästhetischen und von der logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur. Wir erhalten die für die Ästhetik grundlegende Definition: „Dasjenige Subjektive an einer Vorstellung, was gar kein Erkenntnisstück werden kann, ist die mit ihr verbundene Lust oder Unlust!" Diese negative Bestimmung erfährt eine wichtige Erläuterung durch die Wendung, daß die Lust „unmittelbar", vor der Erkenntnis des Objektes, mit der Vorstellung des Gegenstandes verbunden sei. Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit die Frage, ob es überhaupt eine solche Vorstellung der Zweckmäßigkeit gebe. Zuerst wird ihr subjektiver Charakter betont und in Beziehung gesetzt zu der Form des Gegenstandes, deren Auffassung mit Lust verbunden ist. Diese Charakterisierung verlangt eine Abgrenzung von der Empfindung, die ja auch subjektiv ist. An der Sinnenvorstellung wird unterschieden die Qualität des Raumes und das Materielle der Dinge. Beide sind nicht gemeint. Und so bleibt nur die Beziehung zu den Erkenntnisvermögen übrig. Ich muß die grundlegenden Sätze vollständig wiedergeben: „Wenn mit der bloßen Auffassung (apprehensio) der Form eines Gegenstandes der Anschauung, ohne Beziehung derselben auf einen Begriff zu einer bestimmten Erkenntnis Lust verbunden ist: so wird die Vorstellung dadurch nicht auf das Objekt, sondern lediglich auf das Subjekt bezogen; und die Lust kann nichts anderes als die Angemessenheit desselben zu den Erkenntnisvermögen, die in der reflektierenden Urteilskraft im Spiel sind, und sofern sie darin sind, also bloß eine subjektive formale Zweckmäßigkeit des Objektes ausdrücken. Denn jene Auffassung der Formen in die Einbildungskraft kann niemals geschehen, ohne daß die reflektierende Urteilskraft, auch unabsichtlich, sie wenigstens mit ihrem Vermögen, Anschauungen auf Begriffe zu beziehen, vergliche. Wenn nun in dieser Vergleichung die Einbildungskraft (als Vermögen der Anschauungen a priori) zum Verstände (als Vermögen der Begriffe) durch eine gegebene Vorstellung unabsichtlich in Einstimmung ver-

126

Kritik der Urteilskraft

setzt und dadurch ein Gefühl der Lust erweckt wird, so muß der Gegenstand alsdann als zweckmäßig für die reflektierende Urteilskraft angesehen werden. Ein solches Urteil ist ein ästhetisches Urteil." Dieses seelische Verhalten wird Reflexion genannt. Ein solches ästhetisches Urteil gilt für „jeden Urteilenden". „Das Vermögen, durch eine solche Lust zu urteilen, heißt der Geschmack." Schon hier wird die Frage der Geltung ästhetischer Urteile erörtert. Die Lust ist nur durch reflektierte Wahrnehmung mit der Vorstellung des Gegenstandes verbunden. Das ästhetische Urteil ist mit einem einzelnen Erfahrungsurteil zu vergleichen. Ein solches begründet seinen Anspruch auf Zustimmung durch seine Zugehörigkeit zu einer möglichen Erfahrung. Das ist beim ästhetischen Urteil nicht so. „Das Befremdende und Abweichende liegt darin, daß es...ein Gefühl der Lust ist, welches doch...jedermann zugemutet...werden soll." Die Antwort ist, „daß die ästhetische Lust... der Bestimmungsgrund... nur dadurch ist, daß man sich bewußt ist, sie beruhe bloß auf der Reflexion und den allgemeinen, obwohl nur subjektiven, Bedingungen der Übereinstimmung derselben zur Erkenntnis der Objekte überhaupt, für welche die Form des Objekts zweckmäßig ist". Damit ist die Möglichkeit einer Kritik des Geschmacks gegeben. Es folgt dann noch die Unterscheidung in die Urteile des Schönen und des Erhabenen. Abschnitt VIII kann hier nur nach seinem wesentlichen Inhalte besprochen werden. Die Zweckmäßigkeit wird in ihm aus einem objektiven Grunde vorgestellt „als Übereinstimmung seiner [des Gegenstandes] Form mit der Möglichkeit des Dinges selbst, nach einem Begriffe von ihm, der vorhergeht und den Grund dieser Form enthält". Ein Produkt der Natur wird als Naturzweck vorgestellt. Wir unterscheiden also eine ästhetische und eine teleologische Urteilskraft. Unter der ersteren wird das Vermögen, die formale Zweckmäßigkeit durch das Gefühl der Lust oder Unlust, unter der zweiten das Vermögen, die reale Zweckmäßigkeit der Natur durch Verstand und Vernunft zu beurteilen, verstanden. Streng genommen ist nur die erstere ein besonderes Vermögen, die letztere nicht, „sondern nur die reflektierende Urteilskraft überhaupt". Der letzte Abschnitt spricht noch einmal von den besonderen Gesetzgebungen für Natur und Freiheit und davon, daß die beiden Gebiete keinen wechselseitigen Einfluß aufeinander haben können. Es besteht eine „große Kluft, welche das Übersinnliche von den Erscheinungen trennt". Aber der Begriff einer Kausalität durch Freiheit schließt in sich, daß Folgen aus dem Übersinnlichen in die Erscheinungswelt gedacht werden müssen, obgleich die Möglichkeit nicht eingesehen werden kann. Dieser Verzicht, zwischen den beiden Arten von Kausalität eine Verbindung, die etwa einzelne Tatsachen erklären könnte, herzustellen, schließt aber nicht aus, für diesen Zusammenhang eine letzte Sicherung zu geben. Es ist der Gedanke des Endzweckes, „der (oder dessen Erscheinung in der Sinnenwelt) existieren soll, wozu die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Natur (des Subjekts als Sinnenwesens, nämlich als Mensch) vorausgesetzt wird". Hier gibt die Urteilskraft den Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur an die Hand. Dann folgt der Nachweis an den Erkenntnis-

Kritik der Urteilskraft

12 7

vermögen: Verstand, Urteilskraft und Vernunft und schließlich der an den Seelen vermögen: Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust, Begehrungsvermögen. A m Schluß tritt noch eine andere Vermittlung auf, die sich innerhalb des Gemüts vollzieht: „Die Spontaneität im Spiele der Erkenntnisvermögen, deren Zusammenstimmung der Grund dieser Lust enthält, macht den gedachten Begriff zur Vermittlung der Verknüpfung der Gebiete des Naturbegriffs mit dem Freiheitsbegriffe in ihren Folgen tauglich, indem diese zugleich die Empfänglichkeit des Gemüts für das moralische Gefühl befördert." Die neun Abschnitte umfassende Einleitung läßt sich ungezwungen in drei Teile zerlegen. Im ersten wird die Forderung der Verbindung der beiden Teile der Philosophie zu einem Ganzen gestellt, der zweite charakterisiert das vermittelnde Erkenntnisvermögen, die Urteilskraft, und gibt das Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit, der dritte unterscheidet die beiden Arten der Vorstellung dieser Zweckmäßigkeit und schließt mit dem Gedanken der Verknüpfung der Gesetzgebungen des Verstandes und der Vernunft durch die Urteilskraft. E s entsteht zuerst die Frage, welchen Einfluß die angegebene Eingliederung auf die Ästhetik ausüben mußte. D a sie als Kritik bezeichnet wurde, gilt für sie die in den anderen Kritiken angewandte und bewährte Methode. Auch jetzt handelt es sich um Urteile apriorischen Charakters. Auch jetzt geben die logischen Funktionen die Anleitung zur Untersuchung des Geschmacksurteils. Rückblickend kann also gesagt werden, daß der alte Gedanke einer Kritik

des

Geschmackes nunmehr seine endgültige Darstellung erhielt. Bedeutsamer ist aber die eigentümliche Zwischenstellung, die die dritte Kritik enthält, mit der sie zugleich eine bestimmte Aufgabe übernimmt. Diese Aufgabe ist aus einer nur ästhetischen Haltung nicht zu gewinnen. Sie wird auf die Ästhetik gelegt durch ihre Zuordnung zur Teleologie. Die teleologische Fragestellung war aber zuerst in der theoretischen Philosophie zum Durchbruch gekommen und dann unter dem Einfluß der praktischen Philosophie schließlich auf die Frage nach dem Endzweck als dem allen anderen übergeordneten ausgerichtet worden. Das aber bedeutete mehr als eine logische Eingliederung der Sonderfragen, also auch der ästhetischen. Nachdem K a n t erklärt hat, daß weder der Naturbegriff noch der Freiheitsbegriff auf den ihnen nicht zugehörigen Gebieten etwas ausmachen könnten, daß also es nicht möglich sei, „eine Brücke von einem Gebiete zu dem anderen hinüberzuschlagen", beruft er sich auf die Kausalität durch Freiheit, deren Wirkung in der Welt der Erscheinungen geschehen soll. Unter den Motiven, die K a n t zur Abfassung seiner Ästhetik veranlaßten, war nur die Berufung auf das Seelenvermögen des Gefühles geeignet, ihr Autonomie zu sichern, während der Gedanke der Zweckmäßigkeit sie in eine Fragestellung zwängte, die ihr nicht eigentümlich war. Das gleiche gilt von dem logischen Charakter des Apriori, während sein formaler für die Lösung der Aufgabe günstig war.

128

Kritik der Urteilstraft ANALYTIK DES

SCHÖNEN

Im A u f b a u der dritten Kritik folgt Kant den Einteilungen der beiden früheren. So zerfällt die Kritik der ästhetischen Urteilskraft in eine Analytik und eine Dialektik, es fehlt auch nicht eine Methodenlehre, die allerdings nur in einem bescheidenen Anhang gegeben wird. Es ist oft gesagt worden, zu welchen Künstlichkeiten diese stereotype Gliederung gerade in der Ästhetik Kants geführt hat. Solche Kritik möchte ich nicht noch einmal aussprechen, da immerhin die Gefahr besteht, daß man im Beckmesserstil überall Fehler ankreidet und damit den großen Gang der Untersuchung nicht gebührend in Erscheinung treten läßt. Es ist auch nicht richtig, jene Denkschemata nur als ein Fächersystem aufzufassen, das, da es nun einmal da ist, Ausfällung verlangt. Damit allein war es nicht getan. Allerdings muß man, wie Kant, ein Gefühl für das „Systematische im menschlichen Gemüte" haben und Verständnis für die subtile Kunst, mit welcher er dem widerwilligen Vermögen der Lust und Unlust des Apriori im Spiel der Erkenntniskräfte abgewann. Schließlich ergaben sich aus dem abschließenden Charakter der dritten Kritik rückschauende Betrachtungen und das Ganze das kritische System erhellende Durchblicke, z. B . in bezug auf die Bedeutung des antinomischen Verfahrens. Die Analytik des Schönen ist nach Anleitung der logischen Funktionen zu urteilen, eingerichtet. Diese Verbindung stellt Kant zuerst durch die Definition des Geschmacks als Vermögen der Beurteilung des Schönen her. Dann fügt er aber noch hinzu, „daß im Geschmacksurteile immer noch eine Beziehung auf den Verstand enthalten" sei. Dieser Hinweis erfährt nun eine historische Begründung durch die Tatsache, daß Kant früher die ästhetische mit der logischen Vollkommenheit verglichen und beide voneinander unterschieden hatte. E r knüpfte dabei an Meiers Kompendium an, das fünf Vollkommenheiten der Erkenntnis unterschied: i . Weitläufigkeit, 2. Größe und Wichtigkeit, 3. Wahrheit, 4. Deutlichkeit, 5. Gewißheit. K a n t unterschied klarer als Meier die beiden Arten der Vollkommenheit, die logische nach den Gesetzen des Verstandes, die ästhetische nach denen der Sinnlichkeit. Außerdem vereinfachte er die Momente auf die bekannten vier der Urteilskraft. Dieser Zusammenhang ergibt sich deutlich, wenn wir auf einige andere Versuche der Einteilung eingehen. Jäsche, der ja für seine Ausgabe der Logik Vorlesungshefte aus verschiedenen Zeiten verwertete und aus ihnen zitierte 3 , gibt als Bedingungen der vollkommenen Erkenntnis an: Allgemeinheit (Quantität), Deutlichkeit (Qualität), Wahrheit (Relation), Gewißheit (Modalität). Dementsprechend gelten für die ästhetische Vollkommenheit folgende Bestimmungen: „ 1 . die ästhetische. Allgemeinheit. Diese besteht in der Anwendbarkeit einer Erkenntnis auf eine Menge von Objekten, die zu Beispielen dienen, an denen sich die Anwendung von ihr machen läßt, und wodurch sie zugleich für den Zweck der Popularität brauchbar wird; 2. die ästhetische Deutlichkeit. Dieses ist die Deutlichkeit in der Anschauung, worin durch Beispiele ein abstrakt gedachter Begriff in concreto dargestellt oder erläutert wird; 3. die ästhetische Wahrheit. Eine bloß subjek-

K r i t i k der Urteilskraft

129

tive Wahrheit, die nur in der Übereinstimmung des Erkenntnisses mit dem Subjekt und den Gesetzen des Sinnenscheins besteht und folglich nichts weiter als ein allgemeiner Schein ist; 4. die ästhetische Gewißheit. Diese beruht auf dem, was dem Zeugnisse der Sinne zufolge notwendig ist. d. i, was durch Empfindung und Erfahrung bestätigt wird." Jäsche fügt dann noch hinzu, daß Einheit in der Mannigfaltigkeit Erfordernis für die Vollkommenheit sei. Wahrheit ist der Grund der Einheit, „durch die Beziehung unseres Erkenntnisses auf das O b j e k t " . Sie ist auch bei der ästhetischen Vollkommenheit die conditio sine qua non. Bei Verwertung dieser Sätze ist eine gewisse Vorsicht notwendig, da Jäsche in der Vorrede nur in recht unbestimmten Wendungen sein Verfahren bei der Bearbeitung des ihm übergebenen Stoffes charakterisiert. Ebenso ist eine genaue Datierung unmöglich, wenn auch die in dem Zitat enthaltenen Gedanken die Dissertation voraussetzen. Mit diesen Einschränkungen kann aber doch wohl festgestellt werden, daß die ästhetische Vollkommenheit noch ganz in Abhängigkeit der logischen gehalten wird. Zum Teil hat sie Funktionen auszuführen, die ebensogut die Logik selbst übernehmen kann. Sie ist eine Dienerin, die die ihr gestellten Aufgaben zu erfüllen hat. Einzig und allein der Gedanke von der ästhetischen Wahrheit als nur subjektiver und die Beziehung auf den Sinnenschein gelten für die Ästhetik. Eine größere Selbständigkeit hat die ästhetische Vollkommenheit in Reil. 1918 erhalten, deren Datierung durch Adickes zwischen den Jahren 1776 und 1780 schwankt: „ Q u a l i t ä t : Deutlichkeit { g subjektive), (lebhaft, einzeln). ( g ästhetisch: Klarheit der Anschauung.) Relation: Wahrheit. ( g 2. subjektive Wahrheit in der Erscheinung.) s 2. die Relation ästhetisch ist aufs Subjekt Reiz und Rührung. Quantität: Allgemeinheit. ( g subjektive.) ( s 3. das Allgemeine im besondern.) (s subjektiv für alle.) Modalität: Gewißheit, Notwendigkeit ( s der Erkenntnis überhaupt). Das Gewöhnliche, der Gebrauch. E s ist coustume. ( g 4. empirische Notwendigkeit. Beifall. Allgemein. D a s gewöhnliche. Geschmack.) Trotz zahlreicher Übereinstimmungen mit Jäsches T e x t läßt sich doch der wesentliche Unterschied beobachten, daß K a n t hier mit dem Moment der Qualität beginnt. In der „ K r i t i k der Urteilskraft" verfährt er ebenso, gibt aber nur die Begründung, daß „das ästhetische Urteil über das Schöne auf diese [Qualität] zuerst Rücksicht nimmt". Überliest man noch einmal den ersten Satz in Jäsches Fassung, so ist klar, daß er nur von der Logik aus verstanden werden kann, aber keineswegs eine ausreichende Charakteristik des ästhetischen Urteils enthält. Die Reflexion leistet dies durch die Merkmale der „subjektiven Deutlichkeit und Klarheit der Anschauung". Wenn K a n t dann in der Reflexion auf die Qualität die Relation folgen läßt, so ergibt sich eine klarere Gedankenführung als in der „ K r i t i k der Urteilskraft". Eine neue Variante teilt dann Schlapp aus dem Hoffmannschen Heft über Logik (1780?) mit. Ich gebe die Anordnung verkürzt wieder: , , i . subjektive 9

Menzer, Kants Ästhetik

130

Kritik der Urteilskraft

Wahrheit, wie es unsern Sinnen vorkommt und zu sein scheint, 2. subjektive Deutlichkeit in der Anschauung, 3. ästhetische Allgemeinheit, d. i. Popularität, daß ein Erkenntnis dem sensu communi angemessen ist, 4. Notwendigkeit und Gewißheit, daß ein Erkenntnis den Sinnen nach notwendig sei, d. i., daß die Erfahrung und aller Menschen Sinne es bestätigen" (a. a. O., S. 227/8). Die Reihenfolge wäre also hier: Relation, Qualität, Quantität, Modalität. In diesen Einteilungsversuchen treten Bestimmungen auf, die in dem Hauptwerk keine Rolle mehr spielen, vor allem die Beziehung auf Anschauung und Sinne und die Forderung nach sinnlicher Gewißheit. Darin liegt der Beweis, daß Kant hoffte, die Ergebnisse der Dissertation für die Ästhetik fruchtbar zu machen; der Gefühlscharakter der ästhetischen Urteile war also noch nicht eingesehen. Im Gefühl, ein Apriori anzunehmen, war er damals noch weit entfernt, wie seine Ablehnung der Versuche, die Prinzipien der Ethik auf Lust und Unlust zu begründen, zeigt. (II, 396.) In allen Einteilungen ist eine Anspielung auf den geselligen Charakter der ästhetischen Urteile und der Hinweis auf einen sensus communis zu finden. Vorhanden ist schon der Gedanke von der subjektiven Allgemeinheit, wie denn überhaupt der subjektive Charakter dieser Urteile stark betont wird. Es fehlt noch die Beziehung auf den Zweckgedanken. Das mußte auch so lange geschehen, als die Idee von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck noch nicht entdeckt war. Zweckmäßigkeit setzte ja doch einen Begriff für das Urteil voraus und war deshalb in der Ästhetik nicht anwendbar. Der Weg zu dem neuen Gedanken führte über die Vorstellung des spielenden Verhaltens im ästhetischen Genießen. DieWendung vom „zwecklosen Spiel" tritt zum erstenmal in der Grundlegung zur „Metaphysik der Sitten" (1785) auf. (IV, 435.) Eine nach dem älteren Schema eingerichtete Analytik hätte einen viel reicheren Inhalt gehabt als die der „Kritik der Urteilskraft". In dieser sind die Begriffe beseitigt, die infolge der Abhängigkeit der Ästhetik von der Logik in jene übertragen wurden. Jetzt handelt es sich aber nicht mehr um eine Logik der Sinnlichkeit, sondern um eine Logik des Gefühls. Auf dieses waren jene Kategorien nicht anwendbar. Ja streng genommen, darf von einer Logik des Gefühles eigentlich nicht mehr gesprochen werden, denn, wie Kant ausdrücklich sagt, ist es die Transzendentalphilosophie, die dem ästhetischen Urteil ein besonderes Interesse entgegenbringt, und zwar mit der Fragestellung: „wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" Der Gedanke Baumgartens von einer Ästhetik als Wissenschaft bleibt, wenn auch verändert, erhalten, sie ist aber nicht mehr eine jüngere Schwester der Logik, sondern gehört in das System der kritischen Philosophie. Qualität Die Untersuchung des Geschmacksurteils beginnt damit, daß gezeigt wird, was das ästhetische Urteil nicht ist. Es ist kein Erkenntnisurteil, es ist ohne Interesse, d. h. es hat keine Beziehung auf das Begehrungsvermögen, es ist gegenüber dem Wohlgefallen am Angenehmen und Guten abzugrenzen.

Kritik der Urteilskraft

131

Entscheidend ist der Satz: „ D a s Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ist ohne alles Interesse. Interesse wird das Wohlgefallen genannt, das wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden." Diese Charakteristik wird durch Ausführungen ergänzt, die einmal die Negation weiter ausdrücken, anderseits den eigentümlichen seelischen Zustand beschreiben. So heißt es in ersterem Sinne: ich will nicht wissen, ob mir an der Existenz eines Gegenstandes gelegen sei, ich liebe dergleichen nicht, es ist mir entbehrlich, ich bin ganz gleichgültig. Positiv wird der Zustand als bloße Betrachtung (Anschauung oder Reflexion), bloße Vorstellung des Gegenstandes bezeichnet. Bedeutsam ist aber dann folgende Bemerkung: „Man sieht leicht, daß es auf das, was ich aus dieser Vorstellung in mir selbst mache, nicht auf das, worin ich von der Existenz des Gegenstandes abhänge, ankomme, um zu sagen, er sei schön, und zu beweisen ich habe Geschmack." Dies „reine uninteressierte Wohlgefallen" wird weiter in seiner Eigenart durch Vergleichung mit dem Wohlgefallen am Angenehmen und am Guten charakterisiert. Beide sind mit Interesse verbunden; das erstere, weil in ihm durch Empfindung eine Begierde nach dergleichen Gegenstande rege gemacht wird, das zweite, weil sowohl das, was wozu gut ist wie das an sich Gute den Begriff des Zweckes, mithin das Verhältnis der Vernunft zum Wollen enthalten. Abschließend wird der Inhalt der drei Arten des Wohlgefallens so angegeben: „Angenehm heißt jemandem das, was ihn vergnügt; schön was ihm bloß gefällt; gut, was geschätzt, gebilligt, d. i. worin von ihm ein objektiver Wert gesetzt wird." Eine neue Beleuchtung erfährt dies Verfahren der Unterscheidung durch die Bezeichnung „freies" Wohlgefallen. Den drei Arten wird zugeordnet Neigung, Gunst, Achtung. Gunst ist das einzig freie Wohlgefallen. Die Gründe sind klar, bemerkenswert ist die Entschiedenheit, mit welcher der Gebotscharakter des Sittlichen betont und anderseits herabsetzend vom sittlichen Geschmack gesprochen wird, „der mit den Gegenständen des Wohlgefallens nur spielt, ohne sich an einen zu hängen". K a n t s Lehre vom interesselosen Wohlgefallen ist wohl am heftigsten umstritten worden. Zuerst kann sie durch eine historische Betrachtung beleuchtet werden. A n einer früheren Stelle 4 ist schon darauf hingewiesen worden, daß die Engländer das moralische Gefühl im Gegensatz zu Hobbes dahin charakterisiert hatten, daß es rein von allen egoistischen Motiven und ursprünglich sei. Bei der nahen Vereinigung zwischen Tugend und Schönheit ergab sich eine Schlußfolgerung auf das ästhetische Gefühl von selbst, ja diente doch das letztere dazu, um die Unmittelbarkeit des moralischen Gefühls zu erweisen, die Tugend wirkte als Schönheit der Seele. Auch Winckelmanns Unterscheidung der beiden Arten von Schönheit wurde schon als eine Anregung im Sinne der Kantischen Formulierung erwähnt. Ohne weitere Parallelstellen aus der zeitgenössischen Literatur aufzuzählen, ist aber doch wohl erwähnenswert, daß sich in F . J. Riedels „Theorie der schönen Künste und Wissenschaften" (neue Auflage 1774) die Formulierung K a n t s in wörtlicher Übereinstimmung findet. Nachdem Riedel als allgemeine Regel Baumgartens Definition von der vollkommenen Sinnlichkeit genannt hat, nennt er als Probierstein das „ a n sich 9*

132

Kritik der Urteilskraft

uninteressierte Wohlgefallen". Eine nähere Begründung gibt er nicht; bedeutsam ist aber eine Anmerkung, in der er auf Burkes bekannte Schrift hinweist: „Deswegen nennt der Verf die Schönheit eine gesellschaftliche Leidenschaft, weil sie uns antreibt, andere Dinge auch ohne Eigennutz zu lieben" (34/5)5. Dieser Hinweis vergrößert die Wahrscheinlichkeit der soeben gegebenen Ableitung der Lehre Kants. Dabei ist die Frage unerheblich und auch nicht zu beantworten, ob er Riedel seine Formel verdankte. Unmöglich ist es nicht, da die Wendung vom „an sich uninteressierten Wohlgefallen" leicht im Gedächtnis haften konnte. Aber selbst, wenn das der Fall wäre, so ist damit wenig gewonnen, denn Kant wandelt nicht, wie Riedel, „mit leichten Füßen" über diese „sterile Materie" hinweg, sondern bemüht sich ernstlich um den eigentümlichen Sinn seiner Formulierung. Dabei besteht von vornherein die Schwierigkeit, daß das Wort Interesse vieldeutig ist, und viele Einwände sind daraus zu begreifen, daß man von einem unwiderlegbaren Gefühl an schönen Dingen, das man Interesse nennt, ausgeht und deshalb die Zumutung ablehnt, sich in den Zustand der Interesselosigkeit, d. h. der Unempfindlichkeit, wie man meint, zu versetzen, wobei man aber vergißt, daß Kant trotz alledem von Wohlgefallen spricht. Es kommt also zuerst darauf an, zu sagen, was er unter Interesse verstand. Darüber hat er sich nun eigentlich recht klar ausgedrückt. Auf Grund der oben gegebenen allgemeinen Definition unterscheidet er ein Interesse der Sinne und ein solches der Vernunft. Die Ausscheidung des letzteren macht kaum Schwierigkeit, da dadurch die Gefahr, das Gute über das Schöne herrschen zu lassen, ausgeschlossen wird. Wenn Kant nun aber in ersterem Sinne erklärt, es dürfe mir an der Existenz eines Dinges nicht gelegen sein, und man denkt an irgendein Meisterwerk der Kunst, dessen Verlust uns gleichgültig lassen sollte, so widerstrebt einer solchen Forderung das Gefühl. Man vergißt aber, daß ein so bestimmtes Interesse erst dann sich geltend machen kann, nachdem das Urteil über die Schönheit des Kunstwerkes schon ausgesprochen war. Aber gerade auf dieses erste Urteil kommt es an, und das erklärt Kant als unabhängig von dem Interesse. Das Beispiel vom Palast zeigt dies ganz deutlich. Nachdem er die Interesselosigkeit an seiner Existenz betont hat, sagt er sehr entschieden: nur davon ist jetzt nicht die Rede. Man will nur wissen, „ob diese Vorstellung des Gegenstandes in mir mit Wohlgefallen begleitet sei". Das ästhetische Urteil muß also aus einem eigentümlichen Verhalten zu den Dingen verstanden werden. Bekanntlich hat Herder besonders leidenschaftlich an diesem Punkte Kants Ästhetik angegriffen. Er sagt, das Schöne erwecke Interesse, aber es ist doch klar, daß damit nichts Besonderes gesagt ist, und daß dagegen die Jrokesen in Paris angeführt werden können, die an den Fleischbänken Interesse nahmen. Herder spricht dann auch von einem reinen Interesse unter Ausschaltung des gröberen. Denkt man diesen Gedanken weiter, so endigt man doch wieder bei Bestimmungen, die das ausdrücken, was Kant sagen wollte. Eine gewisse Unbestimmtheit liegt in der sehr allgemeinen Fassung, es solle mir nichts an der Existenz des Gegenstandes liegen. Trotzdem ist ganz klar,

Kritik der Urteilskraft

133

was Kant sagen wollte und warum er es so sagte. Die Ablehnung eines ausgesprochen egoistischen Verhaltens hätte nicht genügt, es mußte das begehrende Verhalten überhaupt ausgeschlossen werden, da sonst die Apriorität im ästhetischen Urteil nicht zu erweisen war. Bekanntlich hat Schopenhauer die Formel vom willenlosen Anschauen aus der Kantischen entwickelt. Sie spricht das aus, was Kant sagen wollte, allerdings nur zum Teil, sie hätte ihm deshalb nicht genügt, weil er ja im ästhetischen Verhalten eine Aktivität des Gemütes sah. Es kommt ja darauf an, „was ich aus dieser Vorstellung in mir selbst mache". Der Hinweis auf diese Stelle ist noch in anderer Hinsicht wichtig. Man kann mit scheinbarem Recht geltend machen, daß ihre Lehre vom interesselosen Wohlgefallen nur eine negative Bestimmung sei und deshalb überall da versagen müsse, wo eine interessierte Haltung im Kantischen Sinne ausgeschlossen ist, z. B. dem Regenbogen und anderen Naturschönheiten gegenüber. Dagegen ist nun zu sagen, daß Kant ja nirgends verlangt hat, daß der ästhetische Betrachter erst einmal durch das begehrende Verhalten hindurchgegangen sein müsse, um nach seiner Ausscheidung zum ästhetischen zu kommen. Es liegt ein ähnliches Mißverständnis vor wie in Schillers Distichen gegen Kants Ethik. In beiden Fällen werden zuerst die notwendigen Abgrenzungen vollzogen, und zwar nur da, wo Berührungen und damit Irrtümer möglich sind. Dann folgt der positive Aufbau. Der Übergang zu ihm ist schon in den bisher behandelten Paragraphen vorbereitet. Schon in ihm ist der Reflektionscharakter des ästhetischen Urteils gekennzeichnet und auf die Lehre vom freien Spiel der Erkenntniskräfte hingewiesen. Es ist ungerecht, Kants Ästhetik nur unter dem Gesichtswinkel des interesselosen Wohlgefallens zu kritisieren, wie es oft und ohne Achtung vor dem, was der Autor damit sagen wollte, geschieht. Das Geschmacksurteil wird nach vier Momenten behandelt, und erst sie zusammen geben die ganze Lehre. Zum zweiten wollen wir uns nun wenden. Quantität Nach dem Moment der Quantität betrachtet, ergibt sich der Satz: „Das; Schöne ist das, was ohne Begriffe als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens, vorgestellt wird." Die Begründung für diese Charakteristik erfolgt durch den Hinweis auf das Fehlen des Interesses. Es sind keine „Privatbedingungen als. Gründe für das Wohlgefallen am Schönen" aufzufinden. Positiv wird dasästhetische Urteil auf mannigfaltige Weise mit immer neuen Wendungen charakterisiert. Wir muten den andern ein ähnliches Wohlgefallen zu, sinnen es ihm an, wir sprechen vom Schönen, „als ob Schönheit eine Beschaffenheit des Gegenstandes sei". Dann gibt Kant genau an, worin die „Merkwürdigkeit" des Geschmacksurteils zu sehen ist. Sie interessiert nicht den Logiker. Für ihn ist es ein einzelnes Urteil. Es kann mit anderen verbunden zu dem Urteil führen: alle Rosen sind schön. Dies wäre dann ein logisches Urteil, das auf einzelnen ästhetischen gegründet ist. Die Merkwürdigkeit geht vielmehr den Transzen-

134

Kritik der Urteilskraft

dentalphilosophen an. Dann ergibt sich der Gegensatz zwischen objektiv allgemeingültigen Urteilen und der subjektiven Allgemeingültigkeit der ästhetischen. Diese gehen nicht auf ein Objekt. Aber unter Subjektivität dürfen nicht „Privatbedingungen" verstanden werden. E s kann dabei nur eine „ S u b j e k t i v i t ä t " gemeint sein, die auch bei anderen vorausgesetzt werden, also eine Haltung der Menschen als Subjekte, die allgemein ausgesprochen werden kann. Damit ist die Aufgabe gestellt, die durch die Lehre v o m Spiel der Erkenntniskräfte gelöst wird. Vielleicht ist noch nötig zu betonen, daß K a n t nicht sagen will, daß die ästhetischen Urteile der Menschen übereinstimmen. Vielmehr zeigt die Erfahrung, daß dies nicht der Fall ist. Selbst wenn dies der Fall wäre, so würde dadurch nicht der Anspruch begründet werden können, den das einzelne ästhetische Urteil in seiner Aussage erhebt. Auf diese Bestimmung des Geltungscharakters folgt der hochbedeutsame § 9, in welchem untersucht wird, ob im Geschmacksurteile das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes oder diese vor jener vorgehe. K a n t nennt diese Untersuchung den „Schlüssel der Kritik des Geschmacks". Wie die E n t scheidung ausfallen muß, ist aus dem Vorhergehenden klar. Die erstere Annahme würde ja die ganze Fragestellung der Kritik unmöglich machen. Geht also die Beurteilung voran, so kommt alles darauf an, die Eigenart dieser Beurteilung zu bestimmen, da von ihr außerdem das Wohlgefallen abhängig ist. Wir haben eine Vorstellung von ihm, und von dieser ist nun weiterhin die Rede. In ihr ist zugleich die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes gegeben. D a s ist wichtig zu bemerken. Die Einführung des Gedankens vom Gemütszustand kann die Aussicht von einem gegenüber der bloßen Vorstellung erweiterten, reicheren Erlebnis erwecken. Aber dann käme ja keine Beurteilung zustande. Also - nicht der Gemütszustand nimmt gewissermaßen die Vorstellung in sich auf, sondern der Zustand des Vorstellens bleibt erhalten, auch gegenüber dem Gemütszustand. Ein solcher wäre ja auch nicht mitteilungsfähig. E s kann nichts allgemein mitgeteilt werden als Erkenntnis und Vorstellung, sofern sie zur Erkenntnis gehört. Nur so ist es möglich, von dem vorstellenden Verhalten zur Beurteilung zu kommen. Ein Urteil muß aber einen Bestimmungsgrund haben. Dieser ist in unserem Falle der Gemütszustand, der einmal subjektiv ist, aber andererseits doch das übersubjektive Moment der Mitteilbarkeit in sich enthält. Das Geheimnis dieses Gemütszustandes muß nun enthüllt werden, und dies geschieht mit der Frage nach den Erkenntniskräften, die durch diese Vorstellung ins Spiel gesetzt werden. „Also muß der Gemütszustand in dieser Vorstellung der eines Gefühls des freien Spiels der Vorstellungskräfte an einer gegebenen Vorstellung zu einer Erkenntnis überhaupt sein. Nun gehören zu einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, damit überhaupt daraus Erkenntnis werde, Einbildungskraft

für die Zusammen-

setzung des Mannigfaltigen der Anschauung und Verstand für die Einheit des Begriffs, der die Vorstellungen vereinigt. Dieser Zustand eines freien Spiels der Erkenntnisvermögen, bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben

K r i t i k der Urteilskraft

135

wird, muß sich allgemein mitteilen lassen, weil Erkenntnis als Bestimmung des Objekts, womit gegebene Vorstellungen (in welchem Subjekte es auch sei) zusammenstimmen sollen, die einzige Vorstellungsart ist, die für jedermann gilt." Der Gemütszustand ist nunmehr als der eines freien Spiels der Erkenntniskräfte charakterisiert; er soll mitteilungsfähig sein, damit das ästhetische Urteil ausgesprochen werden kann, das j a die Forderung der Gültigkeit in sich schließt. Wir erfahren nun weiter, daß wir uns dieser Geltung für jedermann bewußt sind in Hinblick auf „dieses zur Erkenntnis überhaupt schickliche subjektive Verhältnis". Kant hält es aber doch noch für eine, wenn „auch mindere" Frage, wie dies Bewußtwerden zu verstehen sei, ob „ästhetisch durch den bloßen inneren Sinn und Empfindung oder intellektuell durch das Bewußtsein unserer absichtlichen Tätigkeit, womit wir jene ins Spiel setzen". Das erstere ist der Fall, „jene subjektive Einheit des Verhältnisses kann sich nur durch Empfindung kenntlich machen". Noch bleibt zu untersuchen, wie die Lust oder das Wohlgefallen an dem schönen Gegenstande entsteht. Kant unterscheidet in der allgemeinen Mitteilungsfähigkeit zweierlei. Sie ist die subjektive Bedingung des Geschmacksurteils, und sie ist die Ursache der Lust an dem Gegenstande. „Diese bloß subjektive (ästhetische) Beurteilung des Gegenstandes geht vor der Lust vorher und ist der Grund dieser Lust an der Harmonie der Erkenntnisvermögen." Danach muß sich eine solche Harmonie auch sonst finden und sich beobachten lassen, ohne daß Lust dabei entsteht. In diesem Sinne spricht Kant auch am Schluß des Paragraphen von einer „proportionierten Stimmung, die wir zu aller Erkenntnis fordern". Eine solche ruft nun im ästhetischen Urteil eine einzelne Vorstellung hervor. Darin besteht seine Besonderheit. Zugleich gibt es aber diese auf durch die allgemeine Mitteilungsfähigkeit, denn diese ist ja mit dem ästhetischen Urteil allein eigentümlich. Und doch soll sie gerade das ästhetische Wohlgefallen hervorrufen. Hier ist ein Widerspruch, der sich nicht beseitigen läßt. Überhaupt wird man sagen müssen, daß der so wichtige § 9, je mehr man sich mit ihm beschäftigt, desto mehr Kritik herausfordert. Kant versucht vergeblich zu vereinigen, was sich nun einmal nicht vereinigen läßt und was als sich widersprechend in dem Begriff der „subjektiven Allgemeinheit" hervortritt. Dabei läßt sich deutlich die rationalistische Tendenz als die vorherrschende beobachten. Sie ist ausgesprochen in der bedenklichen Wendung von der Erkenntnis überhaupt und dem Gedanken von der Mitteilungsfähigkeit. Man braucht nur einmal an einfache ästhetische Erlebnisse zu denken, um sofort einzusehen, daß diese Prinzipien auf sie nicht anwendbar sind. Für sie will der komplizierte Apparat des Spielens der Erkenntniskräfte überhaupt nicht passen, da weder Einbildungskraft noch Verstand in ihnen aufgerufen werden. Ebensowenig ist es Kant gelungen, die Mitteilungsfähigkeit als Grund des Lustgefühles aufzuweisen. Kant muß selbst zugeben, daß auch für andere Gefühle eine solche Tendenz zu beobachten und daß damit Lust verbunden ist. Aber dies Problem wird noch weiter zu erörtern sein.

Kritik der Urteilskraft

136

Relation D a s dritte Moment Relation führt den bedeutsamen Begriff der Zweckmäßigkeit ein. In drei Paragraphen (10-12) wird die Verbindung zwischen ihm und dem früher charakterisierten Gefühl der Lust hergestellt. Auffallend ist, daß K a n t nicht an das in der Einleitung Gesagte anknüpft, sondern mit einem völlig neuen Gedankengang beginnt. Der Begriff des Zweckes wird nach seinen transzendentalen Bestimmungen erklärt. Und zwar wird Zweck von Zweckmäßigkeit unterschieden. „Zweck ist der Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem angesehen wird, und die Kausalität eines Begriffs

in Ansehung seines Objekts ist die Zweckmäßigkeit." Anschließend

hieran wird nun von der „Kausalität einer Vorstellung" gesprochen „in A b sicht auf den Zustand des Subjekts, es in demselben zw erhalten". Das Bewußtsein davon wird Lust genannt. Nachdem nun noch das Verhalten des Willens, der auf Zwecke gerichtet ist, herangezogen worden ist, wird unter Ablehnung einer Vorstellung des Zweckes folgende Überlegung gegeben: „Zweckmäßig heißt ein Objekt oder Gemütszustand oder eine Handlung auch, wenngleich ihre Möglichkeit die Vorstellung eines Zweckes nicht notwendig voraussetzt, bloß darum, weil ihre Möglichkeit von uns nur erklärt und begriffen werden kann, sofern wir eine Kausalität nach Zwecken, d. i. einen Willen, der sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte, zum Grunde derselben annehmen." Wenn wir nun die Ursache dieser Zweckmäßigkeit nicht in einen Willen setzen, so entsteht der Gedanke einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Die Möglichkeit einer Erklärung bleibt bestehen. E s handelt sich also um eine verschiedene Einstellung zu einem Gegenstand. Das sagen sehr klar die beiden Schlußsätze dieses Paragraphen. „ N u n haben wir das, was wir beobachten, nicht immer nötig, durch Vernunft (seiner Möglichkeit nach) einzusehen. Also können wir eine Zweckmäßigkeit der Form nach, auch ohne daß wir ihr einen Zweck (als die Materie des nexus finalis) zugrunde legen, wenigstens beobachten und an Gegenständen, wiewohl nicht anders als durch Reflexion bemerken." Dieser Gedanke einer formalen Zweckmäßigkeit, der hier zuerst nur als Idee auftritt, findet nun seine Anwendung und Bestätigung durch das'Geschmacksurteil. K a n t verwertet hier die Ergebnisse seiner Untersuchung nach den beiden ersten Momenten, um zu zeigen, daß dieses von einer solchen Vorstellung des Gegenstandes ausgeht. Weder ein subjektiver noch ein objektiver Zweck liegt ihm zugrunde. W i r erhalten demnach das Ergebnis: „Also kann nichts anderes als die subjektive Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes ohne allen (weder objektiven noch subjektiven) Zweck, folglich die bloße Form der Zweckmäßigkeit in der Vorstellung, wodurch uns ein Gegenstand gegeben wird, sofern wir uns ihrer bewußt sind, das Wohlgefallen, welches wir ohne Begriff als allgemein mitteilbar beurteilen, mithin den Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils ausmachen." Nun aber entsteht die wichtige Frage, wie eine Vorstellung Ursache von

K r i t i k der Urteilskraft

137

einem Gefühl sein könne. A priori läßt sich das nicht begreifen. Es ist offenbar, daß wir damit an dem entscheidenden Punkte stehen. Die Erinnerung an das Gefühl der Achtung wird geweckt, der Unterschied aber hervorgehoben. Immerhin ergibt sich als gemeinsam die Willensbestimmung. Im ästhetischen Zustande ist aber die Lust kontemplativ. Und nun fährt K a n t fort: „ D a s Bewußtsein der bloß formalen Zweckmäßigkeit im Spiele der Erkenntniskräfte des Subjekts bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, ist die Lust selber, weil es einen Bestimmungsgrund der Tätigkeit des Subjekts in Ansehung der Belebung der Erkenntniskräfte desselben, also eine innere K a u salität (welche zweckmäßig ist) in Ansehung der Erkenntnis überhaupt..., mithin eine bloße Form der subjektiven Zweckmäßigkeit einer Vorstellung in einem ästhetischen Urteil enthält." Hinzugefügt wird die Kausalität dieser Lust, den ästhetischen Zustand zu erhalten. „ W i r weilen bei der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproduziert." § 13 gibt eine ergänzende Untersuchung durch Betonung der Unabhängigkeit als Geschmacksurteil von Reiz und Rührung, in denen das Gemüt passiv ist. Als Abschluß kann schon an dieser Stelle die Definition, welche am Ende der Untersuchung nach dem dritten Moment zu finden ist, wiedergegeben werden: „Schönheit

ist Form der Zweckmäßigkeit

eines Gegenstandes, sofern sie ohne

Vorstellung eines Zweckes an ihm wahrgenommen wird." Die Lehre vom Spiel der Erkenntniskräfte soll eine doppelte Aufgabe lösen, die sich aus dem Wesen des ästhetischen Urteils ergibt. E s muß sein Charakter als gemeingültiges Urteil und sein Lustcharakter nachgewiesen werden. Das erste ist geleistet durch die Beziehung zwischen Einbildungskraft und Verstand. Dabei übernimmt der letztere die Garantie. Nun ist aber nicht einzusehen, wie mit der Vorstellung dieser Vereinigung ein Lustgefühl verbunden sein könne. Dies zu erklären wird der Gedanke der Zweckmäßigkeit verwertet. Daraus entsteht aber die Gefahr, daß die Vorstellung auf einen Begriff bezogen wird, wodurch der ästhetische Charakter sofort aufgehoben würde. Gewonnen wäre ein willentliches Verhalten. Die Formel von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck beseitigt jene Gefahr. Nun aber ist der Zielcharakter aufgegeben, und das Spiel bewegt sich gewissermaßen im Leeren, es hat jeden Antrieb verloren. A u s diesem Mangel ist zu verstehen, daß K a n t von einer inneren Kausalität (welche zweckmäßig ist) und von der Belebung der Erkenntniskräfte spricht. Damit ist eine Tendenz der Seele eingeführt, die den Lustcharakter des Spieles eigentlich erst erklärt. E s kann aber kein Zweifel sein, daß darin zugleich das Eingeständnis liegt, daß das bloße Spiel der Erkenntniskräfte, nur transzendentalphilosophisch erwogen, nicht ausreicht. Wir müssen uns an die Versuche früherer Ästhetiker erinnern, aus einem Grund trieb die Lust am Schönen zu erklären. D a s Unterscheidende ergibt sich aber doch aus der Stellung der Ästhetik im Zusammenhang der kritischen Philosophie. Davon wird später noch zu sprechen sein. Die Lehre vom Spiel der Erkenntniskräfte ist der eigentliche Hauptgedanke der Kantischen Ästhetik. Zu ihm führen die dem § 9 vorangehenden Para-

138

K r i t i k der Urteilskraft

graphen hin, und von ihm aus werden die entscheidenden Folgerungen gezogen. '"Es ist deshalb zu erwarten, daß diese Lehre in voller Bestimmtheit und eindeutigen Formulierung von ihrem Urheber gegeben worden sei. D a s ist aber nun keineswegs der Fall. Vergleicht man die Darstellung in der Analytik mit der in der Einleitung (VII) und weiterhin in der Lehre von der Deduktion (§ 35ff-)> so ergeben sich auffallende Unterschiede. Ich möchte die Vermutung » aussprechen, daß die Darstellung in der Analytik eine erste Fassung gibt. In § 9 wird von dem freien Spiel der Erkenntniskräfte gesprochen:

Einbildungs-

kraft (Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung), Verstand (Einheit des Begriffs, der die Vorstellungen vereinigt). Eine Ergänzung bringt dann § 12, der von der Belebung der Erkenntniskräfte und von einer inneren K a u salität spricht. Damit soll die Lust erklärt werden. E s kann einem aufmerksamen Leser nicht entgehen, daß an dieser Stelle von der Urteilskraft keine Rede ist, wohl aber von einer Tätigkeit des Subjektes, die völlig unbestimmt bleibt. Sie einzusetzen war notwendig, um einen Bestimmungsgrund für das spielende Verhalten und damit für die Lust anzugeben. Die A k t i v i t ä t der Seele im ästhetischen Verhalten mußte auf jeden Fall gesichert werden. Dagegen ist in dem entscheidenden Abschnitt V I I der Einleitung die Urteilskraft in ihre Funktion eingesetzt. Es ist da von dem Spiel der Erkenntnisvermögen in der Urteilskraft die Rede. Sie vergleicht die Auffassung der Formen in der Einbildungskraft

mit ihrem Vermögen Anschauungen auf Begriffe zu be-

ziehen. Die A k t i v i t ä t ist also in sie gelegt. Von größter Bedeutung ist dann § 35, der zur Deduktion des Geschmacksurteils gehört. Hier geht K a n t von der Urteilskraft als dem Vermögen zu urteilen aus, stellt fest, daß Zusammenstimmung von Einbildungskraft und Verstand von ihr gefordert werden, die aber nicht durch einen Begriff hergestellt werden darf. „ S o kann es nur in der Subsumtion der Einbildungskraft selbst unter die Bedingung, daß der Verstand überhaupt von der Anschauung zu Begriffen gelangt, bestehen." E s handelt sich also um Subsumtion des einen Vermögens (Einbildungskraft) unter das andere (Verstand). Hier erinnert K a n t durch die Wendung, daß „die Einbildungskraft ohne Begriff schematisiert", an die Lehre vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, die das erste Hauptstück der transzendentalen Doktrin der Urteilskraft bildet. Das Schema wird dort ein Produkt der Einbildungskraft genannt. Sie hat dabei „die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht". E s gibt Schemata sinnlicher Begriffe (z. B. Hund) und reiner Verstandesbegriffe (Kategorien). Das braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen, da die Einbildungskraft in unserem Falle ohne Begriffe schematisiert. Natürlich handelt es sich um reine Einbildungskraft. Der Stoff, den sie schematisiert, wird von K a n t einmal das Mannigfaltige der Anschauung genannt (§ 9), dann aber „Auffassung der Form eines Gegenstandes der Anschauung" (VII). Die zweite Formulierung ist wohl richtiger, da es sich ja um eine ästhetische Haltung handelt. Die einfache Zusammenfassung des Mannigfaltigen der Anschauung genügt sicherlich nicht. Anderseits bleibt K a n t uns die Antwort auf die Frage schuldig, was unter einer

Kritik der Urteilskraft

13g

Auffassung der Form zu verstehen sei. Die Einbildungskraft betätigte sich doch an einer vorhandenen Form, nicht an einem ungeordneten Stoff der Sinneserfahrung. Daß Kants Ästhetik an dieser Stelle versagt, erklärt sich aus dem allgemeinen Mangel einer klaren Unterscheidung zwischen der Form des Gegenstandes und den formenden Kräften des Subjekts, dem objektiven und dem subjektiven Faktor im ästhetischen Urteil. Und doch war gerade an dieser Stelle eine Möglichkeit gegeben, die Funktion der Einbildungskraft an den Formen der Dinge aufzuweisen. Ich erinnere nur an die Versuche, den Ausdruckswert der Linien zu bestimmen oder an die Erörterungen über die Lehre von einer Schönheitslinie. Wir erfahren dann in § 35 weiter, daß es sich um zweierlei Freiheit handelt, die Bedingungen des ästhetischen Wohlgefallens sind. Frei muß die Einbildungskraft sein, frei aber auch das Spiel der Erkenntnisvermögen. Wie die Gesetzmäßigkeit des Verstandes an diesem Spiel teilnehmen könne, bleibt allerdings ein Rätsel. In der „Kritik der reinen Vernunft" hatte Kant davon gesprochen, dies Verfahren der Einbildungskraft sei eine „verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden". Das Geheimnis hat sich auch in der dritten Kritik nicht lüften lassen. Noch einer besonderen Schwierigkeit gedenkt er in der Anmerkung zu dieser Deduktion. Es komme darauf an, daß wir „richtig" subsumieren. Bei der ästhetischen Urteilskraft bestehe in dieser Hinsicht eine unvermeidliche Schwierigkeit, weil man bei ihr „unter ein bloß empfindbares Verhältnis der an der vorgestellten Form des Objekts wechselseitig unter einander stimmenden Einbildungskraft und des Verstandes subsumiert, wo die Subsumtion leicht trügen kann". Genau besehen, ist das eine neue Charakteristik dieses rätselhaften Zusammenspiels, in der der Gedanke der Subsumtion eigentlich seinen Sinn verloren hat. Die Tatsache, daß Kant immer wieder und auf so verschiedene Weise dies Problem zu lösen sucht, läßt seine Schwierigkeit deutlich erkennen. Ähnliches läßt sich an manch anderer, nicht geringer wichtigen Stelle seiner Schriften beobachten, z. B. bei der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Es gelingt ihm nicht, zu einer klaren, verschiedene Deutungen ausschließenden Formulierung seiner Gedanken zu kommen. Das hat dann zu vielen nicht unberechtigten Vorwürfen und unendlich vielen Auffassungen seiner Lehre geführt. Für unseren Fall möchte ich die Ansicht aussprechen, daß § 9 die älteste Fassung ist. Das Fehlen der Urteilskraft an dieser Stelle gibt mir Anlaß, weitgehend eine Vermutung auszusprechen, die sich auf die ganze Analytik erstreckt. Nicht nur an dieser Stelle, sondern auch sonst läßt sich beobachten, daß Kant kaum von dem Erkenntnisvermögen der Urteilskraft spricht. Das hätte vor allem zu Beginn der Analytik geschehen müssen. Als Ersatz einer Einleitung an dieser Stelle dient die zu dem Gesamtwerk überhaupt, insbesondere der AbschnittVII. So war es für Kant möglich, auf eine besondere zur ästhetischen Urteilskraft zu verzichten, und er begnügte sich mit der Anmerkung zu § 1, die nur ganz kurz eine Definition des Geschmackes gibt und ihn dann als „diese Urteilskraft"

140

Kritik der Urteilskraft

bezeichnet. Und darauf ließ er die frühere Darstellung seiner „Kritik des Geschmackes" folgen; erst in der Deduktion kommt er auf die Urteilskraft zurück, wo sie unentbehrlich war. So scheint mir die charakterisierte, merkwürdige Unstimmigkeit eine Erklärung zu finden. Der Einwand, ein solches Verfahren sei Kant kaum zuzutrauen, wiegt nicht allzu schwer. Er war in größter Arbeitsbedrängnis und wurde in Hinblick auf sein zunehmendes Alter immer mehr von der Besorgnis getrieben, daß er die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, nicht mehr werde lösen können. Solche Klagen finden sich wiederholt in den Briefen dieser Zeit. Modalität Es dürfte zweckmäßig sein, Kants Darstellung an dieser Stelle nicht in der Folge der Paragraphen wiederzugeben, sondern, um die Betrachtung nach den vier Momenten möglichst übersichtlich in die Erscheinung treten zu lassen, zum vierten Moment überzugehen. Die Darstellung ist nur kurz und zu Beginn ohne Ertrag, da eigentlich nur wiederholt wird, was schon früher, besonders beim Moment der Quantität, gesagt worden. Sehr glücklich und erläuternd dürfte die Formulierung sein, daß die Notwendigkeit, die in einem ästhetischen Urteil gedacht, exemplarisch genannt wird, und zwar mit der Erklärung: „d. i. eine Notwendigkeit der Beistimmung aller zu einem Urteil, was als Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann, angesehen wird." (§ 18.) Seine eigentliche Bedeutung hat dieser Abschnitt in der Einführung der Idee eines Gemeinsinnes. Das wird am Schluß von § 22 ganz klar, wo in bezug auf die Analytik gesagt wird: „wir haben für jetzt nur das Geschmacksvermögen in seine Elemente aufzulösen, um sie zuletzt in der Idee eines Gemeinsinnes zu vereinigen." Um mehr handelt es sich also hier noch nicht, noch nicht um eine Deduktion. So erhalten wir eine Untersuchung, die als vorbereitend für eine solche angesehen werden kann. Die dem ästhetischen Urteil zukommende subjektive Notwendigkeit fordert ein Prinzip, und zwar ein subjektives, einen Gemeinsinn. Er wird als die „Wirkung des freien Spiels unserer Erkenntniskräfte" bezeichnet. Von der Forderung der allgemeinen Mittelbarkeit aus betrachtet, darf angenommen werden, daß, wie sich Erkenntnisse mitteilen lassen, so auch „die Stimmung der Erkenntniskräfte", und zwar die Proportion derselben, die als die „zuträglichste für beide Gemütskräfte" angesehen werden kann. Das Gefühl dieser Stimmung schließt Mitteilbarkeit in sich und verlangt einen Gemeinsinn. Dem ästhetisch Urteilenden und damit Beistimmung Fordernden stellt er sich dar als eine „bloß idealische" oder „unbestimmte Norm". Das Ergebnis der Analytik, nach den vier Momenten unterschieden, läßt sich zusammenfassen: 1. Qualität - das Wohlgefallen ohne alles Interesse, 2. Quantität - allgemeines Gefallen ohne allen Begriff, 3. Relation - Form der Zweckmäßigkeit ohne Zweck, 4. Modalität - Notwendiges Wohlgefallen ohne Begriff.

Kritik der Urteilskraft

141

Diese Übersicht läßt die Künstlichkeit in der Beweisführung der Analytik deutlich hervortreten. Hatte sich die Übernahme der aus ganz anderen Motiven entstandenen überlieferten Urteilstafel in der ersten Kritik schon als schädlich erwiesen, so macht sie sich in der dritten noch mehr in dieser Richtung geltend. Das gab ja Kant auch selbst zu, als er mit der Qualität begann, und frühere Versuche haben gezeigt, daß er die Reihenfolge mehrfach änderte. Die rein negative Bestimmung vom interesselosem Wohlgefallen verlangte nach einer positiven Ergänzung durch die Lehre von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck und die Einführung des Formgedankens. Statt dessen erhalten wir eine Folgerung in bezug auf die ästhetischen Urteile, deren Charakter noch unbestimmt geblieben war. Künstlich ist auch die Erhaltung des vierten Momentes, das eigentlich nichts Neues enthält, ja in der Formulierung von dem notwendigen Wohlgefallen irreführend ist und mehr besagt, als damit gemeint sein darf. Und schließlich erhalten wir den Hinweis auf einen Gemeinsinn, der erst später erörtert werden soll. Nach Darstellung der vier Momente des Geschmacksurteils sind die Erläuterungen zu betrachten, die Kant ihr gegeben hat. Seine wichtigste Absicht ist, das reine Geschmacksurteil frei von allem Interesse zu halten. Deshalb schließt er Reiz und Rührung aus. Die Beispiele sollen diesem Zwecke dienen. Das schwerste Problem ist für Kant, an den einfachen Farben und Tönen die Eigenschaft aufzuzeigen, die den Urteilen über sie den Charakter ästhetischer Urteile, nicht bloßer Sinnenurteile verleiht. Es scheint, als ob beide bloß die Materie der Vorstellungen, nämlich lediglich Empfindung zum Grunde haben. Die Behauptung, ein Ton oder eine Farbe seien rein, betreffe schon die Form, wird wenig überzeugen. Problematisch bliebt, ob Kant Eulers Theorie der Farben und Töne wirklich angenommen hat. Er hätte dann das Prinzip der Einheit in der Mannigfaltigkeit anwenden können und hätte damit die Form gewonnen. Wahrscheinlich ist das aber nicht, jedenfalls enthält seine eigene Erklärung dies Moment nicht. Er sagt nur: „Das Reine in einer einfachen Empfindungsart bedeutet, daß die Gleichförmigkeit derselben durch keine fremdartige Empfindung gestört und unterbrochen wird, und gehört bloß zur Form, weil man dabei von der Qualität jener Empfindungsart (ob und welche Farbe, oder ob und welchen Ton sie vorstelle) abstrahieren kann." Es dürfte nicht leicht sein, den Sinn dieser Worte zur völligen Klarheit zu bringen. Es ist doch wohl deutlich, daß der Charakter des „Reinen" nur negativ durch Ausschluß dessen, was die Reinheit trübt, bestimmt wird. Schwer zu deuten ist das Wort von der „Gleichförmigkeit", jedenfalls kommt eine solche auch Eindrücken zu, die nicht ästhetisch beurteilt werden. Ängstlich ist Kant bemüht, den Reiz fernzuhalten, so sehr, daß ihm einmal sogar die Wendung von dem „trockenen Wohlgefallen" entschlüpft. Verständlicher sind die anderen Beispiele: so, wenn Kant in der Malerei, Bildhauerkunst, Baukunst, Gartenkunst die Zeichnung für das Wesentliche erklärt. Des weiteren erhalten wir für die Form die Unterscheidung von Gestalt und Spiel. Von der Musik wird gesagt, daß in ihr die Komposition das Wesentliche ist. Auch Zierrate werden in bezug auf Form gewertet, sie vergrößern das Wohlgefallen. Auffallend ist aber doch ihre Auf-

142

Kritik der Urteilskraft

Zählung, denn es werden nebeneinander genannt: Einfassungen der Gemälde, Gewänder der Statuen, Säulengänge um Prachtgebäude. Es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß recht Verschiedenartiges miteinander verbunden ist. Hier ist der Ort über den formalen Charakter der Kantischen Ästhetik zu sprechen. Es ist offenbar, daß wir zu unterscheiden haben zwischen der Form des Gegenstandes und der subjektiven Zweckmäßigkeit in der Vorstellung desselben. Hier entsteht die Frage nach der Verbindung beider. Es muß nun festgestellt werden, daß Kant eine prinzipielle Erörterung nicht gegeben hat. So bleibt nur übrig, zuerst einmal an seinen Beispielen festzustellen, was er unter Form der Gegenstände, die schön genannt werden, versteht. Er nennt: reine Farben und Töne, Zeichnung, Komposition, schöne Produkte der Natur, Form in aller schönen Kunst. In einer Anmerkung zu § 17 spricht er von steinernen Geräten, deren Gestalt Zweckmäßigkeit verrät, die aber trotzdem nicht schön sind, und nennt im Gegensatz dazu eine Tulpe. Es ist unleugbar, daß hier recht verschiedene Gegenstände unter dem gemeinsamen Gedanken schöner Formen zusammengefaßt werden. Man müßte erwarten, daß K a n t eine Lehre von den ästhetischen Formen geben würde. Sie war ja in der Ästhetik vor ihm längst versucht worden. Ich erinnere an Begriffe wie Einfachheit, Einheit, Einheit in der Mannigfaltigkeit, Ganzheit, Symmetrie, Proportion, Harmonie usw. An zwei Stellen finde ich eine Erwähnung solcher Prinzipien. Gelegentlich der Anspielung auf Eulers Theorie der Farben und Töne spricht er von Einheit eines Mannigfaltigen und unter dieser Voraussetzung von formaler Bestimmung im Gegensatz zu bloßen Empfindungen (§ 14). An einer anderen Stelle kritisiert er den Versuch, die geometrisch-regelmäßigen Gestalten als die einfachsten und unzweifelhaftesten Beispiele der Schönheit anzuführen, geht dann auf die Forderungen der Symmetrie über, aber diese Regelmäßigkeit setzt einen Begriff voraus und gehört zur Erkenntnis. So würde das freie Spiel der Gemütskräfte unmöglich sein. In diesem Zusammenhang gibt er dem englischen Geschmack in Gärten den Vorzug. „Alles Steif-Regelmäßige (was der mathematischen Regelmäßigkeit nahe kommt) hat das Geschmackswidrige an sich: daß es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung derselben gewährt." (V, 242 f.) Nach alledem kann kein Zweifel sein, daß das Schwergewicht des ästhetischen Wohlgefallens in das Subjekt verlegt wird. Es kommt eben darauf an, was ich aus den Eindrücken, die mir die Sinnlichkeit vermittelt, mache. Anderseits ist klar, daß nur auf diesem Wege ein Apriori des ästhetischen Gefühls zu retten war. ANHÄNGENDE

SCHÖNHEIT UND IDEAL DER

SCHÖNHEIT

(§ 15-18) In diesen Paragraphen untersucht Kant die Frage nach der Verbindung des ästhetischen Wohlgefallens mit einer durch den Verstand vermittelten Beurteilung der Dinge. Zuerst wird der Grundbegriff der rationalen Ästhetik unter-

Kritik der Urteilskraft

143

sucht und dann das Problem eines Ideales der Schönheit erwogen. Die Betrachtung wird angeknüpft an den Begriff der Zweckmäßigkeit. Es handelt sich um objektive Zweckmäßigkeit, die entweder eine äußere oder eine innere ist. Die erstere als Nützlichkeit ist bereits abgelehnt, die letztere soll „den Grund der inneren Möglichkeit des Gegenstandes" enthalten. Es muß „der Begriff von diesem, was es für ein Ding sein solle, vorangehen und die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in demselben zu diesem Begriffe ist die qualitative Vollkommenheit". Sie ist also nur durch einen Begriff festzustellen, und damit ist schon gesagt, daß die Beobachtung einer formalen Zweckmäßigkeit im Sinne der ästhetischen Beurteilung des Vollkommenheitsbegriffes nicht nur nicht bedarf, sondern ihn nach ihrem festgestellten Grundcharakter ausschließt. Es besteht ein „spezifischer" Unterschied zwischen Erkenntnis- und Geschmacksurteil. Damit ist die Definition des Geschmacksurteils als eines verworrenen Verstandesurteils endgültig beseitigt. Diese endgültige Abrechnung erscheint mir so wichtig, daß ich die Schlußworte hier wiedergebe. „Wollte man verworrene Begriffe und das objektive Urteil, das sie zum Grunde hat, ästhetisch nennen, man einen Verstand haben würde, der sinnlich urteilt, oder einen Sinn, der durch Begriffe seine Objekte vorstellt, welches sich widerspricht. Das Vermögen der Begriffe, sie mögen verworren oder deutlich sein, ist der Verstand; und obgleich zum Geschmacksurteil, als ästhetischem Urteile, auch (wie zu allen Urteilen) Verstand gehört, so gehört er zu demselben doch nicht als Vermögen der Erkenntnis eines Gegenstandes, sondern als Vermögen der Bestimmung des Urteils und seiner Vorstellung (ohne Begriff) nach dem Verhältnis derselben auf das Subjekt und dessen inneres Gefühl, und zwar sofern dies Urteil nach einer allgemeinen Regel möglich ist." Diese Kritik ist gegen die Ästhetik Baumgartens und seiner Anhänger gerichtet. Kant spricht von „namhaften Philosophen, die die objektive innere Zweckmäßigkeit doch mit dem Beisatze, wenn sie verworren gedacht wird, für einerlei mit der Schönheit gehalten" haben. So richtig nun seine Ablehnung der Rede vom verworrenen Denken ist, so muß doch gefragt werden, ob seine Kritik eine gerechte ist. Es ist in dem Vorangehenden fortlaufend Kants Verhältnis zum Vollkommenheitsgedanken verfolgt worden, besonders die Unterscheidung zwischen logischer und ästhetischer Vollkommenheit. Diese Trennung hatten aber schon Baumgarten und Meier vollzogen. Jener nannte die Schönheit eine perfectio phaenonomenon und er bemühte sich, die Merkmale einer solchen darzustellen. Als solche unterschied er in seiner Ästhetik: ubertas, magnitudo, veritas, lux, certidudo, vita cognitionis aesthetica. Es ist klar, daß diese Bestimmungen über die Idee einer objektiven inneren Zweckmäßigkeit, die sich nur durch einen Begriff von dem, was das Ding sein soll, bestimmen ließ, weit hinausgehen. Das Verdienst Baumgartens bestand doch gerade darin, daß er sich bemühte, der sensitiven Erkenntnis eigene Werte abzugewinnen, die durch eine abstrakte Erkenntnis nicht nur nicht gefördert, sondern geschädigt werden. Kants Kritik ist also gegen eine Lehre gerichtet, die der Begründer der Ästhetik selbst abgelehnt hatte.

144

Kritik der Urteilskraft

Wenn er dann den Gedanken einer bloßen Form „einer Vollkommenheit (ohne alle Materie und Begriff von dem wozu zusammengestimmt wird)" als einen „wahren Widerspruch" bezeichnet, so wird man dies nur dann zugestehen können, wenn man seinen Begriff der Vollkommenheit angenommen hat. Es liegt hier eine petitio principii vor. Befreit man sich von ihr, so wird man nicht leugnen können, daß es ein sinnliches Erfassen von Formen der Natur und Kunst gibt, das den Eindruck des Vollkommenen im Sinne eines letzten Wohlgefallens gibt, das die Seele ganz erfüllt und im Erleben der Form gefangen hält. Die Schönheit der Naturformen, der Wohllaut einer Kuppel, die uns umfangende und mit sich führende Kraft einer Melodie, die Formvollendung eines Gedichtes - es gibt unendlich viele Beispiele für ein solches Empfinden, das Kant im letzten Grunde doch fern blieb. Zugleich kann die Erinnerung an Baumgartens Idee einen Mangel der Kantischen Theorie deutlich machen. So bedeutsam die Befreiung des ästhetischen Wohlgefallens vom Urteil des Verstandes war, so verhängnisvoll wirkt sich die Methode des Isolierens der Seelenvermögen aus, da nun nur das Gefühl, aber nicht die Sinne sprechen durften. Kant hatte früher versucht, ein zweites Apriori für sie zu finden, aber nach der Klassifizierung im System der kritischen Philosophie erschien ihm das nicht mehr möglich. Er fürchtete jetzt für einen Versuch, ein Apriori des Gefühls aufzuzeigen, dessen Unabhängigkeit von den Gegenständen sich doch irgendwie erweisen ließ. Außerdem hatte er nun einmal eine Antipathie gegen die Ansprüche der Sinnlichkeit. So gab er wertvolle Anregungen Baumgartens auf und verfiel der berechtigten Kritik Schillers6 und Herders. § 16 führt nun den Begriff einer anhängenden Schönheit ein. Noch einmal wird die reine durch Beispiele erläutert: Blumen, viele Vögel, eine Menge Schaltiere, Zeichnungen ä. la grecque, Laubwerk zu Einfassungen oder auf Papiertapeten, Phantasien in der Musik, die ganze Musik ohne Text. Sie sind für sich bestehende „Schönheiten". Die anhängende Schönheit setzt einen Begriff und die Vollkommenheit des Gegenstandes nach demselben voraus. Beispiele zu ihrer Art sind: die Schönheit eines Menschen, eines Pferdes, eines Gebäudes (als Kirche, Palast, Arsenal oder Gartenhaus). Diese adhärierende Schönheit wird nun weiter begriffen als eine Verbindung des „Guten" mit der Schönheit, wobei wieder die Parallele zum Angenehmen gezogen wird: Eine Klammer sagt aber, wie das „Gute" hier verstanden werden soll, nämlich als das, „wozu das Mannigfaltige dem Dinge selbst, nach seinem Zwecke gut ist". Das Gute wird also in einem allgemeineren Sinne, nicht als das Sittlich-Gute genommen. Dies zeigen die Beispiele, die in Hinblick auf den jeweiligen Zweck gewisse Schönheiten ablehnen, die an sich Anerkennung verdienen: Zieraten-Kirche, Tätowieren Mensch, feinere Züge und sanfter Umriß - kriegerischer Mann. Es ist nun klar, daß ein unter diesem Einfluß ausgesprochenes Geschmacksurteil nicht rein ist. Interessant ist aber die nähere Begründung, denn in ihr setzt sich Kant mit dem ästhetischen Prinzip der Einheit in der Mannigfaltigkeit auseinander. Dieses ist für ihn nicht ein formales, was es doch sein kann,

Kritik der Urteilskraft sondern er sagt ausdrücklich: „ d a s Wohlgefallen an dem Mannigfaltigen in einem D i n g e in Beziehung auf den inneren Z w e c k , der seine Möglichkeit bestimmt, ist ein auf einem Begriffe gegründetes Wohlgefallen." Z w a r m u ß anerkannt werden, d a ß der Geschmack „ d u r c h diese Verbindung deis-. ästhetischen Wohlgefallens mit dem intellektuellen darin gewinnt, daß er fixiert

w i r d " . Der neue, bisher nicht verwertete Gedanke v o n „intellektuellen

W o h l g e f a l l e n " findet dann aber eine eigentümliche Verwertung dadurch, d a ß der unbestimmte Begriff v o m G u t e n nun plötzlich aufgegeben u n d der des Sittlich-Guten eingeführt wird. D a ergibt sich dann eine ganz neue Perspektive. E s heißt an der betreffenden Stelle: E s findet s t a t t „ d i e Vereinbarung des Geschmacks mit der Vernunft, d. i. des Schönen mit dem Guten, durch welche jenes z u m Instrument der A b s i c h t in Ansehung des letzteren brauchbar wird, u m diejenige Gemütsstiipmung, die sich selbst erhält u n d v o n subjektiver allgemeiner Gültigkeit ist, derjenigen Denkungsart unterzulegen, die nur durch mühsamen V o r s a t z erhalten werden kann, aber o b j e k t i v allgemeingültig i s t " . Sogleich erhalten wir eine Einschränkung. W e d e r gewinnen Vollkommenheit oder Schönheit, aber die Vereinigung v o n V e r n u n f t u n d E m p f i n d u n g bedeutet doch einen Gewinn f ü r das gesamte Vermögen der Vorstellungskraft. Hier t u n sich Hintergründe auf, denn es ist offenbar, d a ß der ästhetische Z u s t a n d als Vorbereitung für die sittliche H a l t u n g gedacht wird. D a ß die subtile Scheidekunst K a n t gelegentlich in Gefahr bringt, mit sich selbst in Widerspruch z u geraten, zeigt der letzte A b s a t z des Paragraphen. Hier werden die Urteile verglichen, die ein Mensch fällt, der den Z w e c k eines Gegenstandes nicht kennt u n d also „ r i c h t i g " ästhetisch urteilt mit einem anderen, der ihn kennt u n d damit die anhängende Schönheit sieht. Beide urteilen in ihrer A r t richtig: „ d e r eine nach dem, w a s er v o r den Sinnen, der andere nach dem, w a s er in Gedanken h a t . " Dagegen w ä r e z u sagen, d a ß das ästhetische Urteil doch nicht nur das enthält, w a s m a n v o r den Sinnen hat. N a c h K a n t s eigenen B e s t i m m u n g e n liegt der Ü b e r g a n g v o n dem einen z u dem anderen Urteil da, w o die Beziehung auf Erkenntnis überhaupt z u einer Beziehung auf einen bestimmten Begriff wird. § 17 handelt v o m Ideal der Schönheit. E r bringt eine Frage zur Entscheidung, die, wie oben gezeigt, K a n t mannigfach beschäftigt hatte. Die Lösung i s t : „ E i n Prinzip des Geschmackes, welches das allgemeine Kriterium des Schönen durch bestimmte Begriffe angäbe, z u suchen, ist eine fruchtlose B e m ü h u n g . " K a n t nimmt aber doch die in einer solchen liegenden Tendenz auf unter B e r u f u n g auf eine V e r m u t u n g „ v o n dem tief verborgenen, allen Menschen gemeinschaftlichen Grunde der Einhelligkeit in Beurteilung der Formen, unter denen ihnen Gegenstände gegeben w e r d e n " . O h n e eigentliche B e g r ü n d u n g wird der Gedanke eines höchsten Musters, eines Urbildes des Geschmackes ausgesprochen, das sich jeder bilden muß. E s ist dies ein Vernunftbegriff, eine Idee, oder richtiger Ideal, da es nur in einer einzelnen Darstellung vorgestellt werden k a n n . Die F r a g e i s t : „ W i e gelangen wir nun z u einem solcher! Ideal der Schönheit? A priori oder empirisch? Imgleichen: welche G a t t u n g des Schönen ist eines 10

Menzer, Kants Astethik

146

Kritik der Urteilskraft

Ideals fähig?" Diese Fragestellung ist außerordentlich interessant, und zwar nicht nur in Hinsicht auf das Ergebnis, sondern als solche. Im Darstellen eines Ideales der Schönheit müssen sich Vernunft und Geschmack vereinigen. Von der ersteren hören wir, daß sie „die unbestimmte Idee von einem Maximum" liefert, in bezug auf den letzteren wissen wir, daß er nicht nach einem Begriff urteilt. Von den aufgeworfenen Fragen ist die letzte am leichtesten zu beantworten. Es handelt sich um eine fixierte Schönheit. Daß diese Fixierung in unserem Fall durch eine Idee geschehen müsse, nicht bloß durch einen Begriff, wie bei der inneren Vollkommenheit, wurde gesagt und so erhalten wir im unbestreitbaren Gegensatz zur ersten Formulierung die Forderung: „da muß irgend eine Idee der Vernunft nach bestimmten Begriffen zum Grunde liegen." Und diese Verschärfung der Forderung hat nun zur Folge: „Nur das, was den Zweck seiner Existenz in sich selbst hat, der Mensch, der sich durch Vernunft seine Zwecke selbst bestimmen, oder, wo er sie von der äußeren Wahrnehmung hernehmen muß, doch mit wesentlichen und allgemeinen Zwecken zusammenhalten und die Zusammenstimmung mit jenen alsdann auch ästhetisch beurteilen kann; dieser Mensch ist also eines Ideales der Schönheit, sowie die Menschheit in seiner Person als Intelligenz des Ideals der Vollkommenheit unter allen Gegenständen in der Welt allein fähig." In dem Ideal der Schönheit sind also Normalidee und Vernunftidee zu verbinden. Die erstere versucht Kant psychologisch zu verdeutlichen. Sie ist, wie es abschließend heißt, „das zwischen allen einzelnen, auf mancherlei Weise verschiedenen Anschauungen der Individuen schwebende Bild für die ganze Gattung, welches die Natur zum Urbilde ihrer Erzeugungen in derselben Spezies unterlegte, aber in keinem Einzelnen völlig erreicht zu haben scheint". Die Darstellung ihrer würde nicht durch Schönheit gefallen, sie ist nur „schulgerecht". Das Ergebnis ist nun, daß das Ideal des Schönen nur an der menschlichen Gestalt erwartet werden darf. An ihr besteht das Ideal in dem Ausdrucke des Sittlichen. Diese Vereinigung von Körper und Seele, schon früher viel erörtert und in der folgenden Zeit so wichtig, wird deshalb hier in Kants eigenen Worten wiedergegeben: „Der sichtbare Ausdruck sittlicher Ideen, die den Menschen innerlich beherrschen, kann zwar nur aus der Erfahrung genommen werden, aber ihre Verbindung mit allem dem, was unsere Vernunft mit dem SittlichGuten in der Idee der höchsten Zweckmäßigkeit verknüpft, die Seelengüte oder Reinigkeit oder Stärke oder Ruhe usw. in körperlicher Äußerung (als Wirkung des Inneren) gleichsam sichtbar zu machen, dazu gehören reine Ideen der Vernunft und große Macht der Einbildungskraft in demjenigen vereinigt, welcher sie nur beurteilen, viel mehr noch, wer sie darstellen will." Diese Lehre vom Ideal der Schönheit wird nur verständlich, wenn man sich klar darüber ist, daß sie nicht allein aus ästhetischer Fragestellung zustande gekommen ist. Geht man von der Bestimmung aus, daß die Vernunft ein Maximum fordere, so ist nicht einzusehen, weshalb ein Ideal schöner Blumen, z. B. eine nach Form und Farbe vollkommen gebildete Rose nicht möglich sein soll.

Kritik der Urteilskraft

147

Aber schon der Gedanke, daß das Ideal nur in einer einzelnen Darstellung möglich ist, nimmt die Entscheidung vorweg, da es sich ja so nur um ein Kunstwerk handeln kann. Nun wird der Gedanke des Zweckes verwertbar. Er dient zur „Fixierung". Diese soll nur durch einen Begriff von objektiver Zweckmäßigkeit möglich sein. Damit sind Naturschönheiten ausgeschlossen. Es ist aber ganz unerlaubt, neben ihnen zugleich das Ideal eines schönen Wohnhauses oder Gartens abzulehnen. Wenig überzeugend ist der Gedanke, daß in diesen Fällen der Zweck durch Begriffe nicht genug fixiert sei. Die Begründung gibt nicht die Ästhetik, sondern die Ethik, und diese hatte gelehrt, daß die Zweckbetrachtung ihr Ende bei einem Wesen findet, das den Zweck seiner Existenz in sich selbst hat. Hier entsteht nun eine neue Schwierigkeit. Von der Normalidee wird gesagt, daß sie nicht das ganze Urbild der Schönheit in einer Gattung sei. Sie ist zwar die unachlässige Bedingung der Schönheit, sie kann aber als solche „nichts Spezifisch-Charakterliches enthalten". Wenn nun aber zu ihr der Ausdruck des Sittlichen hinzutritt und erst dadurch das Ideal möglich wird, so ist nicht einzusehen, wie auf diese Weise das der Normalidee Fehlende gegeben ist, ganz abgesehen davon, daß das Ideal des Sittlichen doch niemals in einem Individuum darstellbar ist. Unbefriedigend bleiben auch die kurzen Ausführungen über die Vereinigung über Schönheit und Sittlichkeit. Es wird eigentlich nur das Postulat der Zusammenstimmung aufgestellt, wie sie möglich ist, aber nicht untersucht. Hier setzen dann Schillers Betrachtungen über Anmut und Würde ein. Die charakterisierten Mängel in dieser Lehre erklären sich auch daraus, daß Kant nicht einen deutlichen Unterschied zwischen Natur- und Kunstschönheit machte. Darüber wird später noch ausführlicher zu sprechen sein. Schließlich bleibt es doch eine merkwürdige Paradoxie, daß nach Kant das Ideal der Schönheit sich doch nur in einer Art der Schönheit denken läßt, die nicht reine Schönheit ist. Es ist auffallend, wie unsicher hier seine Werturteile sind, und der letzte Grund liegt in der Vermischung ästhetischer und ethischer Ideen. ANALYTIK DES

ERHABENEN

Die „Beobachtungen" hatten das Gefühl des Erhabenen als eine aus Wohlgefallen und Grauen gemischte Empfindung bezeichnet. Die unendliche Größe des Weltbaues, die Gedanken von Ewigkeit, Vorsehung, Unsterblichkeit lösten dies Gefühl aus. Eng verbunden erschien es mit dem moralischen Empfinden, echte Tugend wurde erhaben genannt. Diese Verbindung mit dem moralischreligiösen Erlebnis bestand wohl weiter. Eine Erörterung des in ihm liegenden ästhetischen Problems, der Frage also, wie es doch schließlich ein Wohlgefallen genannt werden könne, die Seele bereichere und erhebe, findet sich in den „Beobachtungen" nicht, da sie ja nur eine Beschreibung der ästhetischen Gefühle geben wollten. Das Problem findet sich auch nicht in den Reflexionen. Seine Lösung wurde an anderer Stelle, in der Ethik, gefunden. Sie ist in den 10«

148

Kritik der Urteilskraft

beiden berühmtesten Worten Kants enthalten: in der Anrede an die Pflicht und in der Gegenüberstellung: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Die Pflicht wird ein erhabener großer Name genannt und der Gegensatz zu den Neigungen, d. h. zur Sinnlichkeit, als wesentlich bezeichnet, dann aber betont, daß ihr Gebot doch im Gemüte Eingang findet. Das ist nur zu verstehen aus ihrem Ursprung in einer anderen, der intelligiblen Welt. „Da es denn nicht zu verwundern ist, wenn der Mensch, als zu beiden Welten gehörig, sein eigenes Wesen in bezug auf seine zweite und höchste Bestimmung nicht anders als mit Verehrung und die Gesetze derselben mit der höchsten Achtung betrachten muß." (V, 87.) Noch näher führen uns die Betrachtungen des „Beschlusses" an das Problem und seine Lösung. Ich setze die entscheidenden Worte her, die keine Umschreibung wiedergeben kann noch soll: „Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit als eines tierischen Geschöpfes, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten... wieder zurück geben muß, nachdem es eine kurze Zeit... mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert als einer Intelligenz unendlich durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens soviel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz...abnehmen läßt." (V, 162.) Der Unendlichkeit der Welten in Raum und Zeit wird die „wahre Unendlichkeit" gegenübergestellt. Nur eine Reflexion (993, etwa 1788/9) kann angeführt werden, in der das ästhetische Problem des Erhabenen vor der „Kritik der Urteilskraft" erörtert wird: „Vom Erhabenen. Es ist das, in dessen Vorstellung (der Einbildungskraft) das Gemüt seine Bestimmung oder Anlage fühlt, sich bis zu dem zu erweitern, was allen Maßstab der Sinne übertrifft. Es ist gleichsam die Entdeckung eines Abgrundes in unserer eigenen, über die Sinnengrenzen sich erstreckenden Natur. - Eine Furcht, die immer durch das Besinnen seiner Sicherheit vertrieben wird, und einer Neugierde, welche für unsere Fassungskraft zu groß ist...Die Tiefe des Gemüts im Moralischen ist erhaben." Die Reflexion gibt noch nicht die Lösung. Welche Aufgabe noch zu lösen war, läßt sich aber deutlich sehen. Das dieÄsthetik beherrschende Prinzip der Zweckmäßigkeit mußte auch auf das Gefühl des Erhabenen Anwendung finden. E s bleibt nur noch übrig zu erwähnen, daß nach E ' 1 das zweite Buch der Analytik zum Inhalt haben sollte: „Kritik des Geistesgefühls (in der bloßen Reflexion über einen Gegenstand) oder der Beurteilung des Erhabenen." (XII.) In der Analytik des Erhabenen hebt Kant zuerst das Übereinstimmende der beiden Urteilsarten hervor. Die entscheidenden Sätze sind: das Erhabene gefällt für sich selbst, es setzt ein Reflexionsurteil voraus, das Wohlgefallen in ihm ist an die bloße Darstellung oder das Vermögen der Einbildungskraft geknüpft, das Urteil ist ein einzelnes und kündigt sich doch als allgemein gültig an.

Kritik der Urteilskraft

14g

Dann werden „namhafte" Unterschiede aufgeführt: „Das Schöne der Natur betrifft die Form des Gegenstandes, die in der Begrenzung besteht; das Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegenstande zu finden, sofern Unbegrenztheit an ihm oder durch dessen Veranlassung vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird." Die Zuordnung: für das Schöne - Darstellung eines unbestimmten Verstandesbegriffes, für das Erhabene - eines unbestimmten Vernunftbegriffes führt dann zur Unterscheidung von Qualität (Schön) und Quantität (Erhaben), wobei wohl wieder der Gedanke für das letztere maßgebend ist, daß die Vernunft ein Maximum anstrebt. Es folgt dann noch eine psychologisch zu nennende Beschreibung, die hier wörtlich wiedergegeben werden muß: „das Schöne führt direkt ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich... das Erhabene ist aber eine Lust, welche nur indirekt entspringt, nämlich so, daß sie durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf desto stärkeren Ergießung derselben erzeugt wird, mithin als Rührung kein Spiel, sondern Ernst in der Beschäftigung der Einbildungskraft zu sein scheint." Auf diese Betrachtung, die unter dem Gesichtspunkt der Form angestellt war, folgt nun eine solche nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit. Sie bringt den „wichtigsten und inneren" Unterschied. Naturschönheit führt Zweckmäßigkeit in ihrer Form mit sich, das, was das Gefühl des Erhabenen erregt, ist aber „zweckwidrig für unsere Urteilskraft, unangemessen unserem Darstellungsvermögen und gleichsam gewalttätig für die Einbildungskraft". Sofort wird die Folgerung gezogen, daß wir eigentlich keinen Gegenstand der Natur erhaben nennen können. Deshalb trifft das Erhabene Ideen der Vernunft, das Gemüt wendet sich von der Vernunft geleitet, zu einer „höheren Zweckmäßigkeit". Die Idee des Erhabenen muß von der einer Zweckmäßigkeit der Natur ganz abgetrennt werden. Die Lehre vom Erhabenen wird deshalb zu einem Anhang zur ästhetischen Beurteilung der Zweckmäßigkeit der Natur. Bezeichnend ist, daß Kant, offenbar geleitet von dem Bedürfnis, das Wesen des Erhabenen gegensätzlich zu dem des Schönen zu bestimmen, stärker als bisher den objektiven Charakter des letzteren betont. E r sagt geradezu, daß wir zum Schönen der Natur einen Grund außer uns suchen ünd spricht von der Technik der Natur, die in selbständiger Naturschönheit entdeckt wird. Wir kommen da zu einer Erweiterung unseres Begriffes von der Natur, „nämlich als bloßem Mechanismus zu dem Begriff eben derselben als Kunst; welches zu tiefen Untersuchungen über die Möglichkeit einer solchen Form einladet". Daß die neue Analytik nach dem Schema der früheren abgehandelt wird, ist selbstverständlich, aus der oben angegebenen Unterscheidung ergibt sich, daß hier mit der Quantität begonnen wird. Vor interessante Probleme stellt uns aber dann die Einteilung in das mathematisch und das dynamisch Erhabene. Vorbereitend ist die Bemerkung, daß das Gefühl des Erhabenen sich von der ruhigen Kontemplation beim Schönen durch das Merkmal der Bewegung unterscheidet. Diese Bewegung des Gemüts kann nun von der Einbildungskraft entweder auf das Erkenntnis- oder das Begehrungsvermögen bezogen werden.

150

Kritik der Urteilskraft

Nach ihrer Zweckmäßigkeit für diese Vermögen wird gefragt, und es ergibt sich der Unterschied der beiden Gefühle. Diese Problemstellung erweckt die höchste Erwartung, und ihre Lösung gehört wohl zu den feinsten gedanklichen Konstruktionen, die Kant vollzogen hat. Er mußte zeigen, daß der durch die Zweckwidrigkeit erzeugte seelische Zustand doch zu dem Erlebnisse einer Totalität übergeleitet wird, da ja sonst kein ästhetisches Urteil möglich ist. Die Lösung muß für die beiden Arten des Erhabenen verschieden ausfallen, und es wird vor allem nötig sein auf die Bedeutung des Gedankens von der Totalität zu achten. Die Erörterung beginnt mit einer Namenerklärung: „Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist", und an späterer Stelle mit deutlicher Beziehung auf diese Formulierung: „Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein i s t . . . " Die Lösung des Problems knüpft an den Begriff der Größenschätzung an, die für ein ästhetisches Urteil nicht mathematisch sein darf, vielmehr in der „bloßen Anschauung (nach dem Augenmaße) stattfindet". Für diese, gewissermaßen mit mathematischen Mitteln nicht versehene Schätzung, Auffassung ist eine Zusammenfassung nicht möglich. Es entsteht „ein Gefühl der Unangemessenheit der Einbildungskraft für die Idee eines Ganzen, um sie darzustellen, worin die Einbildungskraft ihr Maximum erreicht und bei der Bestrebung, es zu erweitern, in sich selbst zurücksinkt, dadurch aber in ein rührendes Wohlgefallen versetzt wird". Das ist aber doch nur möglich, wenn das beschriebene Gefühl subjektive Zweckmäßigkeit hat. Hier liegt das Problem. Ehe Kant es löst, präzisiert er die Fragestellung im Interesse der Reinheit des ästhetischen Urteils. So werden Kunstwerke und Naturdinge ausgeschlossen, die ersteren, insofern sie durch einen menschlichen Zweck bestimmt sind, die zweiten, wenn an ihnen eine Naturbestimmung zu beobachten ist. Es handelt sich also nur um die „rohe Natur", und zwar bloß sofern sie Größe enthält. Höchst eindrucksvoll beginnt der Abschnitt, der die Lösung bringt. Es ist, als ob ein Geheimnis offenbar werden sollte: „Nun aber hört das Gemüt in sich auf die Stimme der Vernunft, welche zu allen gegebenen Größen...Totalität fordert, mithin Zusammenfassung in eine Anschauung und für alle jene Glieder einer fortschreitend wachsenden Zahlenreihe Darstellung verlangt, und selbst das Unendliche (Raum und verflossene Zeit) von dieser Forderung nicht ausschließt, vielmehr es unvermeidlich macht, sich dasselbe (in dem Urteile der gemeinen Vernunft) als ganz (seiner Totalität nach) gegeben zu denken." Dies Denken-Können des Unendlichen ist entscheidend. „Das gegebene Unendliche aber dennoch ohne Widerspruch auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im menschlichen Gemüte erfordert. Denn nur durch dieses und dessen Idee eines Nooumenons, welches selbst keine 'Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung zum Substrat unterlegt wird, wird das Unendliche der Sinnenwelt in der reinen intellektuellen Größenschätzung unter einem Begriffe ganz zusammengefaßt, obzwar es in der mathematischen durch Zahlbegriffe nie ganz gedacht werden kann."

K r i t i k der Urteilskraft

151

E s ist hier wohl zu beachten, daß die Forderung der Totalität dadurch befriedigt wird, daß das Unendliche, das durch sinnliche Größenschätzung immer unvollendbar bleibt, als gegeben gedacht wird. Der Ton liegt dabei auf gegeben, wie aus einem Zusatz in der zweiten Auflage hervorgeht, da K a n t in ihr zu Unendlichkeit der ersten Auflage „gegebene" hinzusetzt. Das soll nun dadurch ermöglicht werden, daß das Unendliche unter einem Begriff, nämlich der Idee des Nooumenon, ganz zusammengefaßt wird. Eine logische Unterordnung kann damit unmöglich gemeint sein. Das Nooumenon soll der Anschauung der Welt als bloßer Erscheinung zugrunde gelegt werden. Die Lösung ist also metaphysisch, ontologisch. Da aber nun das Nooumenon in der Anschauung nicht gegeben ist, so werden alle Brücken abgebrochen. Aber K a n t spricht von einer intellektuellen Größenschätzung. Sie könnte als eine hinzukommende aufgefaßt werden. Dann würde die von der Einbildungskraft vorbereitete Zusammenfassung der Teile durch sie zu einem Ganzen ergänzt gedacht werden. Das ist aber unmöglich, so lange unter Größe etwas in der Anschauung ursprünglich Gegebenes aufgefaßt wird. Ausdrücklich wird jedes Zahlenverhältnis abgelehnt. So heißt es an einer späteren Stelle: in einer „ästhetischen Größenschätzung muß der Zahlbegriff wegfallen oder verändert werden". Die intellektuelle Größenschätzung muß also eine ganz andersartige sein, und damit ist ihre zusammenfassende Funktion an einem sinnlich Gegebenen unmöglich geworden. Wie das Verhältnis der Unendlichkeit der Sinnenwelt zu der übersinnlichen Welt zu denken, bleibt ungeklärt. E s bleibt die Aufgabe, diese Lehre vom Erhabenen mit dem Grundprinzip der Zweckmäßigkeit zu verbinden. Von einem Spiel der Erkenntniskräfte kann hier nicht gesprochen werden, da die Einbildungskraft ja fruchtlos ihr Vermögen verwendet, aber sie führt den Begriff der Natur auf ein übersinnliches Substrat, sie sucht also eine Beziehung zu Ideen der Vernunft. In genauer Parallele heißt es: „Also, gleichwie die ästhetische Urteilskraft in Beurteilung des Schönen die Einbildungskraft in ihrem freien Spiel auf den Verstand bezieht, um mit dessen Begriffen überhaupt (ohne Bestimmung derselben) zusammenzustimmen, so bezieht sie dasselbe Vermögen in Beurteilung eines Dinges als erhabenen auf die Vernunft, um zu deren Ideen (unbestimmt welchen) subjektiv übereinzustimmen, d. i. eine Gemütsstimmung hervorzubringen, welche derjenigen gemäß und mit ihr verträglich ist, die der Einfluß bestimmter Ideen (praktischer) auf das Gefühl bewirken würde." E s ist schon gesagt worden, daß im Gefühl des Erhabenen sich die ästhetische Urteilskraft mehr als in dem vom Schönen von den Gegenständen loslöst. Wenn K a n t betont, „ d a ß die wahre Erhabenheit nur im Gemüte des Urteilenden, nicht in dem Naturobjekte...müsse gesucht werden", so bleibt doch die Veranlassung zu diesem Gefühl in der Beziehung zu den Gegenständen. Dafür hatte K a n t den Satz ausgesprochen: „Erhaben ist also die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt." Nicht unwichtig ist eine Ergänzung, die der letzte Absatz von § 26 bringt. D a ß die einfache Zahlensteigerung eigentlich nicht genügt, um das Gefühl des

1^2

Kritik der Urteilskraft

Erhabenen zu erklären, ist wohl klar, und so führt K a n t den Gedanken ein, daß die Natur da erhaben wirke, wo „große Einheit als M a ß " gegeben wird, und in sinngemäßer Steigerung führt er uns vom B a u m zum Berg, Erddurchmesser, Planetensystem, Milchstraße, Nebelsterne und deren System. Es ist gewissermaßen ein Anschaulichmachen des Eindrucks und eine Gliederung im Aufstieg zum Weltgebäude. § 27 versucht in immer neuen Wendungen die Qualität des Wohlgefallens in der Beurteilung des Erhabenen zu erklären und zu beschreiben. Zuerst wird das Gefühl der Achtung eingeführt als „das Gefühl der Unangemessenheit unseres Vermögens zur Erreichung einer Idee, die für uns Gesetz ist". Diese Unangemessenheit wird hier durch den Gegensatz erläutert: Gesetz der Vernunft in Richtung auf das Absolut-Ganze - Einbildungskraft - Unangemessenheit trotz ihrer größten Anstrengung - Gefühl der Unlust - zugleich aber Gefühl der Lust Ubereinstimmung dieses Urteils der Unangemessenheit mit Vernunftideen. Damit ist die Zweckmäßigkeit dieses Vorganges erwiesen, da durch ihn „ d a s Gefühl unserer übersinnlichen Bestimmung in uns rege gemacht wird". Eine Parallele zum Gefühl des Schönen kann zu weiterer Erläuterung dienen: beim Schönen Einhelligkeit

zwischen Einbildungskraft und Verstand, beim Erhabe-

nen Widerstreit zwischen Einbildungskraft und Vernunft. Trotzdem aber in letzterem Falle auch subjektive Zweckmäßigkeit, „nämlich ein Gefühl, daß wir reine selbständige Vernunft haben". An einer anderen Stelle wird das Versagen der Einbildungskraft „als für die ganze Bestimmung

des Gemüts zweckmäßig" ,

bezeichnet. Es ist wohl deutlich, daß die auf diese Weise erzeugte Gemütsstimmung nicht mehr eine ästhetische ist. In dieser Lust wird etwas ganz anderes erlebt. Dies gibt K a n t auch zu, wenn er sagt: es „gehört zu unserer Bestimmung, alles, was die Natur als Gegenstand der Sinne für uns. Großes enthält, in Vergleichung mit Ideen der Vernunft für klein zu schätzen". Ein Erhabenes, das klein geschätzt wird, verdient nicht mehr seinen Namen. Die Darstellung des Dynamisch-Erhabenen

in der Natur hat zwei Aufgaben

zu lösen. Einmal ist der ästhetische Charakter des Gefühles gegenüber der N a tur als Macht zu sichern und in Parallele zum Mathematisch-Erhabenen der Übergang zu den Ideen. D a s erstere geschieht durch die Forderung, daß die Seele nicht Furcht empfinden dürfe, auch wenn sie die Natur als furchtbar erlebt, daß die körperliche Sicherheit gewährleistet sei. Dann wirkt das Erhabene der Natur anziehend, „und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer A r t in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können". Wie wir in diese Haltung des Widerstehenwollens kommen, ist allerdings damit noch nicht erklärt. Hier beginnt die Lösung des zweiten Problems, und in deutlichem Parallelismus tritt an die Stelle der Unermeßlichkeit die Unwiderstehlichkeit, an die des Versagens der Einbildungskraft physische Ohnmacht, an die der Idee der Totalität das Vermögen, uns von der Natur unabhängig zu beurteilen. Dabei ergibt sich „eine Selbsterhaltung von ganz anderer

Kritik der Urteilskraft

igg

A r t " . Diese Loslösung von der erhabenen Natur wird erläutert durch die Befreiungen, derer der Mensch sonst fähig ist, nämlich von Gütern, Gesundheit und Leben, die als klein geschätzt werden. Das Ergebnis ist: „Also heißt die Natur hier erhaben, bloß weil sie die Einbildungskraft zu Darstellung derjenigen Fälle erhebt, in welchen das Gemüt die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung, selbst über die Natur, sich fühlbar machen kann." Wieder wäre zu sägen, daß das ästhetische Erleben in ein ethisches umschlägt. Kant zieht ja auch hier die Folgerung, daß die Natur eigentlich nicht erhaben sei, und seine Beispiele zeigen nun die Erhabenheit des Menschen in Furchtlosigkeit. Die Gestalt des Feldherrn, ja der Krieg werden erhaben genannt. Die Gefahr, den Gott im Ungewitter, im Sturm, im Erdbeben zu fürchten, wird dann abgewandt durch die Schilderung wahrer religiöser Stimmung, die Gott nicht fürchtet. Der sich fürchtende Mensch „befindet sich gar nicht in der Gemütsfassung, um die göttliche Größe zu bewundern, wozu eine Stimmung zur ruhigen Kontemplation und ganz freies Urteil erforderlich ist". Auffallend ist die geringe Rolle, die der Einbildungskraft zugeschrieben ist. Sie erweist sich nicht als darstellend, nicht als produktiv, sie ruft nur zu dem anderen Widerstande auf. Es ist nicht selten, daß ein Denker, nachdem er seiner Lehre den knappsten Ausdruck und systematische Form gegeben hat, das Bedürfnis empfindet, sich in einer Anmerkung gelöster und deshalb auch persönlicher zu äußern. So auch Kant. Die „Allgemeine Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflektierenden Urteile" enthält eine Fülle von Einzelbemerkungen, in denen Sym- und Antipathie mit Zeiterscheinungen hervortritt. Auch fehlen nicht Betrachtungen anthropologischen Charakters im Sinne der „Beobachtungen". Sie im einzelnen hier zu würdigen, ist nicht möglich; einige haben schon oder werden in der Schlußbetrachtung Berücksichtigung finden. Das Interesse muß sich hier vornehmlich den Erläuterungen zuwenden, die Kant zu seiner Lehre vom Erhabenen gibt, Ergänzungen, die den größten Teil der Anmerkung ausmachen. Wir erhalten eine kurze Erklärung: „Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt." Auffallend ist doch hier, daß von einem Interesse der Sinne gesprochen wird. Der Kampf, der in der Ethik gegen die Sinnlichkeit geführt wird, wird in der Ästhetik fortgesetzt. Ja, wenn man so will, es ist immer noch die Bemühung, die Grenzen zwischen Vernunft und Sinnlichkeit zu ziehen. Kant erinnert daran, daß im echten sittlichen Verhalten Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt antun muß, nur, „daß im ästhetischen Urteil über das Erhabene diese Gewalt durch die Einbildungskraft selbst, als durch ein Werkzeug der Vernunft, ausgeübt vorgestellt wird". Wenn Gewalt angewandt werden muß, so muß ein Gegner da sein, der niedergezwungen werden soll. Ein solcher Gegner ist die Sinnlichkeit, aber in welchem Sinne? Doch wohl in einem doppelten. Erstens als Gegner des Entstehens einer ästhetischen Stimmung zum Beispiel, wenn der Mensch in Furcht ist. Dann wird das sinnliche Interesse zum Schweigen gebracht: „das Erhabene bereitet uns vor, etwas wider unser {sinnliches) Interesse hochzuschätzen". Hier wirkt die Einbildungskraft nach

154'

Kritik der Urteilskraft

dem Assoziationsgesetze, „sie macht unseren Zustand der Zufriedenheit physisch abhängig". Zweitens aber fügt die Einbildungskraft das Mannigfaltige zu einheitlicher Anschauung zusammen. Daß sie darüber hinausgeht, ist aber eigentlich nicht eine in ihr liegende Tendenz. Ich muß hier Kant ausführlich zitieren: „Wenn wir unser empirisches Vorstellungsvermögen (mathematisch oder dynamisch) für die Anschauung der Natur erweitern, so tritt unausbleiblich die Vernunft hinzu, als Vermögen der Independenz der absoluten Totalität, und bringt die obzwar vergebliche Bestrebung des Gemüts hervor, die Vorstellung der Sinne dieser angemessen zu machen." Diese Bestrebung und das Gefühl der Unerreichbarkeit der Idee durch die Einbildungskraft ist selbst eine Darstellung der subjektiven Zweckmäßigkeit unseres Gemütes im Gebrauche der Einbildungskraft für dessen übersinnliche Bestimmung und nötigt uns, subjektiv, die Natur selbst in ihrer Totalität als Darstellung von etwas Übersinnlichem zu denken, ohne diese Darstellung objektiv zustande bringen zu können. Kann hier eigentlich von Gegnerschaft der Sinnlichkeit die Rede sein? Sie ist doch eigentlich nur Mittel zum Zweck. Sie wird zu einer „vergeblichen Bestrebung" veranlaßt. Aber dadurch wird sie zugleich erhöht: „Die Einbildungskraft nach Prinzipien des Schematismus der Urteilskraft (folglich sofern der Freiheit untergeordnet) ist Werkzeug der Vernunft und ihrer Ideen, als solches aber eine Macht, unsere Unabhängigkeit gegen die Natureinflüsse zu behaupten, das was nach der ersteren groß ist, als klein abzuwürdigen und so das SchlechthinGroße nur in seiner (des Subjekts) eigenen Bestimmung zu setzen." Offensichtlich will Kant dem Gefühl des Erhabenen trotz alledem seinen Charakter als eines ästhetischen Verhaltens wahren, aber ist ihm das gelungen? Ich weise auf früher Gesagtes zurück und damit in Zusammenhang auf die Wendung, daß das Große in der Natur „als klein abgewürdigt" wird. Es ist dies keine ästhetische Haltung mehr. Das Erhabene wird in den Dienst des Sittlichen gestellt. Es ist also nicht so, daß das ästhetische Erlebnis als solches das ethische Verhalten vorbereitet, sondern jenes erhält erst seinen eigentümlichen Sinn durch dieses. Die reine praktische Vernunft führt jedenfalls an dieser Stelle den Primat. Zu ihren Ideen gibt es aber einen direkten Weg. Es scheint, als sei sich Kant der Schwierigkeiten dieser Theorie später selbst bewußt geworden. Jedenfalls bringt die „Anthropologie" eine Lehre, die mit ihr nicht übereinstimmen will. In § 67/8 der genannten Schrift, deren gemeinsame Uberschrift heißt: „Vom Gefühl für das Schöne, d. i. der teils sinnlichen, teils intellektuellen Lust in der reflektierten Anschauung, oder dem Geschmack' wird erklärt: „Schönheit ist allein das, was für den Geschmack gehört." Dann fährt Kant fort: „das Erhobene gehört zwar auch zur ästhetischen Beurteilung, aber nicht für den Geschmack. Aber es kann und soll die Vorstellung des Erhabenen doch an sich schön sein, sonst ist sie rauh, barbarisch und geschmackswidrig." § 68 handelt dann noch besonders vom Erhabenen und entwickelt, wenn auch nur unbestimmt, die Theorie. Im Beispiel geht Kant nur auf das DynamischErhabene ein, wenn er vom Donner über unserem Haupte und von einem hohen wilden Gebirge spricht. Dann heißt es weiter: „wobei, wenn man selbst in Sicher-

Kritik der Urteilskraft

155

heit ist, Sammlung seiner Kräfte, um die Erscheinung zu fassen und dabei Besorgnis, ihre Größe nicht erreichen zu können, Verwunderung (ein angenehmes Gefühl durch kontinuierliche Überwindung des Schmerzens) erregt wird." Dann wird das Erhabene das „Gegengewicht, aber nicht das Widerspiel vom Schön e n " genannt, „weil die Bestrebung und der Versuch, sich zu der Fassung (apprehensio) des Gegenstandes zu erheben, dem Subjekt ein Gefühl seiner eigenen Größe und K r a f t erweckt; aber die Gedanken Vorstellung desselben in der Beschreibung oder Darstellung kann und muß immer schön sein". Und am Schluß heißt es noch einmal: „ D a s Erhabene ist also zwar nicht ein Gegenstand für den Geschmack, sondern für das Gefühl der Rührung ; aber die künstliche Darstellung desselben in der Beschreibung und Bekleidung (bei Nebenwerken, parerga) kann und soll schön sein : weil es sonst wild, rauh und abstoßend und so dem Geschmack zuwider ist." Beispiele hat Kant leider nicht gegeben, es müßte denn an die Gestalt „des personifizierten Todes bei Milton" gedacht werden, von der Kant spricht, aber sie dient doch wohl nur als Beispiel für die Darstellung des Bösen und Häßlichen, da ja auch Thersites genannt wird. Die Erinnerung an die oben entwickelte Theorie des Erhabenen macht es schwer, zu dieser Darstellung in der Anthropologie Stellung zu nehmen. Soweit jene noch anklingt, hat sie alles verloren, was ihre Eigenart und ihren Tiefsinn ausmachte. Es ist fast peinlich, zu beobachten, wie unbestimmt nun die Formulierungen sind und wie nicht einmal zwischen den beiden Arten des Erhabenen deutlich unterschieden wird. Es ist nicht nötig, hervorzuheben, wie ungenügend das Problem der Erhebung behandelt ist, es wird nur von der „Sammlung der K r ä f t e " gesprochen. Auffallend ist auch, daß Kant nun auch Werke der Kunst als erhaben bezeichnet, denn er spricht ja von der künstlichen Darstellung derselben. Man könnte sagen, daß Kant in der Anthropologie eben nur als Anthropologe spricht. Ob die Darstellung unter diesem Gesichtspunkte nicht auch unzulänglich sei, mag ununtersucht bleiben. Aber wenn er das Schöne, als zum Geschmack gehörig, ansah, so meinte er, wie er ausdrücklich sagt, „den Wohlgeschmack, dessen Regel a priori begründet sein muß". (§ 67.) Ein Zweifel kann also nicht bestehen, daß er das Gefühl des Erhabenen davon ausschloß. Es liegt kein Material vor, um diesen merkwürdigen Wandel der Anschauung begreiflich zu machen. Vielleicht liegt die Erklärung darin, daß die „Anthropologie" ein Alterswerk ist.

DEDUKTION DER REINEN ÄSTHETISCHEN

URTEILE

Die Fragestellung bei der Deduktion der reinen ästhetischen Urteile muß aus der Geschichte dieses Problems innerhalb der kritischen Philosophie verstanden werden. In Kants Brief vom 21. 2. 1772 tritt es zum erstenmal auf. Nach der Mitteilung eines Entwurfes zu einer Schrift über „Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft" weist er auf ein Problem hin, das er in der Dissertation vom Jahre 1770 noch übersehen habe. Die Frage sei, wie die auf unserer inneren

156

Kritik der Urteilskraft

Tätigkeit beruhenden „intellektuellen" Vorstellungen mit den Gegenständen übereinstimmen können. In der Vorrede zur ersten Auflage der ersten Kritik betont Kant dann die Wichtigkeit der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, die ihm die meiste Mühe gemacht habe, und bezeichnet als die Hauptfrage: „wie viel kann Verstand und Vernunft frei von aller Erfahrung erkennen?" Die Lösung des Problems kann am kürzesten durch Zitierung des „kurzen Begriffs" dieser Deduktion wiedergegeben werden: „Sie ist die Darstellung der reinen Verstandesbegriffe (und mit ihnen aller theoretischen Erkenntnisse a priori) als Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung, dieser aber als Bestimmung der Erscheinungen in Raum und in der Zeit überhaupt, - endlich dieser aus dem Prinzip der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption als der Form des Verstandes in Beziehung auf Raum und Zeit als ursprüngliche Formen der Sinnlichkeit." Damit ist also das Problem auf ein besonderes Gebiet eingeschränkt. Betrachtet man es als einen Spezialfall der klassischen Frage: wie sind synthetische Urteile a priori möglich?, so muß weiter geprüft werden, welchen Sinn eine Deduktion haben kann, wenn sie auf andere als die theoretische Erkenntnis a priori angewandt wird. Maßgebend ist für alle reine Erkenntnis die transzendentale Methode, und sie ist schon angewandt worden in der transzendentalen Ästhetik. Hier sagt Kant ausdrücklich, daß er „vermittelst einer transzendentalen Deduktion die Begriffe des Raumes und der Zeit zu ihren Quellen verfolgt und ihre objektive Gültigkeit a priori erklärt und bestimmt habe". Das wäre eine „subjektive" Deduktion zu nennen; eine Deduktion, die untersucht, „wie diese als Erkenntnisse a priori sich gleichwohl auf Gegenstände beziehen müsse", ist nicht nötig, weil Raum und Zeit als reine Anschauungen die Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände als Erscheinungen a priori enthalten. Schon in dem soeben genannten Brief hatte Kant erklärt, daß „in der Moral von den guten Zwecken" der Verstand Ursache des Gegenstandes sei, und in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" hat er dann den kategorischen Imperativ rein aus dem Begriff eines solchen entwickelt und seine Geltung auf die Idee der intelligiblen Freiheit begründet. Da eine Erkenntnis von Gegenständen möglicher Erfahrung durch reine praktische Begriffe ausgeschlossen war, so erschien eine Deduktion überflüssig. Trotzdem hat Kant in der Kritik der praktischen Vernunft eine solche gegeben, er erklärt aber, den Gegensatz zur spekulativen Erkenntnis klar betonend, daß er mit einer Deduktion im Sinne der „Kritik, der reinen Vernunft" nicht so gut fortzukommen hoffen dürfe. „Etwas anderes und ganz Widersinnisches tritt an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduktion des moralischen Prinzips, nämlich, daß es umgekehrt selbst zum Prinzip einer Deduktion eines unerforschlichen Vermögens dient,... nämlich der Freiheit." Es ist klar, daß damit der Sinn der Deduktion völlig verändert worden ist. Die Aufgabe einer Deduktion in der dritten Kritik muß von dem Ergebnis der Analytik der ästhetischen Urteilskraft, und zwar ihrem ersten Teil der des Schönen aus verstanden werden. Es lautet: „Schön ist, was ohne Begriff als

K r i t i k der Urteilskraft

157

Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird." Hier ist nun zuerst z u betonen, daß für das Gefühl des Erhabenen eine Deduktion nicht möglich ist. Dafür erhalten wir eine doppelte Begründung. In dem Abschnitt über die Modalität des Urteils über das Erhabene der Natur wird als Voraussetzung für ein solches Urteil eine Kultur der Seele durch sittliche Ideen gefordert, aber doch gesagt, daß es seine Grundlage in der menschlichen Natur habe, und zwar in der Anlage zum moralischen Gefühl. Und deshalb sind wir doch berechtigt, auch diesem Urteil Notwendigkeit beizulegen, allerdings „unter einer subjektiven Voraussetzung, nämlich der des moralischen Gefühls im Menschen". E i n Unterschied liegt aber doch darin, daß, weil beim ästhetischen Urteil des Schönen die Urteilskraft die Einbildung bloß auf den Verstand bezieht, wir von jedermann Zustimmung fordern können. Zum zweitenmal, und zwar gleich zu Beginn des § 30, wird die Frage nach der Geltung der ästhetischen Urteile des Erhabenen erörtert. Es wird gefragt, ob zur Exposition derselben noch eine Deduktion verlangt werden könne. Das ist nicht der Fall, insofern j a schon in der ersteren nachgewiesen wurde, daß nicht eigentlich die Natur, sondern die Denkungsart erhaben sei: „Dieser sich bewußt zu werden, gibt die Auffassung eines sonst formlosen und unzweckmäßigen Gegenstandes bloß die Veranlassung, welcher auf solche Weise subjektiv-zweckmäßig gebraucht, aber nicht als ein solcher für sich, und seiner Form wegen beurteilt wird (gleichsam species finalis accepta non data)." Deshalb ist die E x position zugleich die Deduktion dieser Urteile. Und wir erhalten eine andere Begründung: „Denn wenn wir die Reflexion der Urteilskraft in denselben [Urteilen] zerlegten, so fanden wir in ihnen ein zweckmäßiges Verhältnis der Erkenntnisvermögen, welches dem Vermögen der Zwecke (dem Willen) a priori zum Grunde gelegt werden muß und daher selbst a priori zweckmäßig ist; welches denn sofort die Deduktion, d. i. die Rechtfertigung des Anspruchs eines dergleichen Urteils auf als allgemein-notwendige Gültigkeit enthält." Die Unstimmigkeiten zwischen diesen Begründungen und das Schwanken der Lehre über die Geltung der Urteile des Erhabenen dürften offensichtlich sein. Besonders ist aber nun auf die Wendung zu achten, in der gesagt wurde, daß die schönen Gegenstände für sich und ihrer Form wegen beurteilt werden, sie sind eine species finalis data. Dem entspricht, daß zu Beginn unseres Paragraphen ausdrücklich gesagt wird, daß eine Deduktion der Urteile über das Schöne der Natur notwendig sei, da diese ein Wohlgefallen oder Mißfallen an der Form des Objekts betreffen. „ D e n n " , so heißt es weiter, „die Zweckmäßigkeit hat alsdann doch im Objekte und seiner Gestalt ihren Grund". In bezug auf die anderen Urteile war nur von Veranlassung die Rede. Daraus geht unzweifelhaft hervor, daß eine Deduktion notwendig war, und zwar auch in dem Sinne, daß nach der Rechtfertigung der Geltung subjektiver Urteile für Gegenstände der Außenwelt gefragt werden mußte. Dieser Forderung genügt nun die Aufgabenstellung in § 31 nicht. Es wird nur gesagt, daß das Verfahren einer Deduktion, die für Urteile, die den Anspruch auf Notwendigkeit machen, erforderlich ist, auch Anwendung auf solche subjektiver Allgemeinheit finden könne.

Ij8

Kritik der Urteilskraft

Zuerst wird die Abgrenzung des gedachten Urteils von Erkenntnis- und praktischen Urteilen vollzogen. Sein Charakter wird bestimmt als allgemeine Gültigkeit eines einzelnen Urteils. Es ist also a priori und als solches nach den Merkmalen der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit zu untersuchen. E s besitzt zwei logische Eigentümlichkeiten. 1. Die Allgemeingültigkeit a priori und doch nicht eine logische Allgemeinheit nach Begriffen, sondern die Allgemeinheit eines einzelnen Urteils; 2. eine Notwendigkeit (die jederzeit auf Gründen a priori beruhen muß), die aber doch von keinen Beweisgründen a priori abhängt. Vorerst soll nur die ästhetische Form mit der Form der objektiven Urteile verglichen, vom Gefühl der Lust also abstrahiert werden. § 32 und 33 bringen nun den beiden eben zitierten Sätzen entsprechend zwei Formulierungen, die als eine Anwendung der allgemeinen Charakteristik auf das ästhetische Urteil angesehen werden können. Sie lauten: 1. D a s Geschmacksurteil bestimmt seinen Gegenstand in Ansehung des Wohlgefallens (als Schönheit) mit einem Anspruch auf jedermanns Beistimmung, als ob es objektiv wäre (§ 32). 2. Das Geschmacksurteil ist gar nicht durch Beweisgründe bestimmbar, gleich als ob es bloß subjektiv wäre (§ 33). In dieser zweiten Formulierung der Eigentümlichkeit tritt als neues Moment der Gegensatz von „ o b j e k t i v " und „bloß subjektiv" auf. Die erstere Bestimmung würde bedeuten, daß Schönheit einem Gegenstande als Eigenschaft beigelegt wird, z. B. einer Blume. Das würde aber nur möglich sein, wenn das ästhetische Urteil a priori einen Begriff vom Objekt als Prinzip seiner Erkenntnis enthalten würde, was aber nicht der Fall ist. Die Meinung, das ästhetische Urteil sei bloß subjektiv, wird durch den Nachweis gestützt, daß dasselbe weder durch einen empirischen noch durch einen Beweis a priori begründet werden könne; es wird durchaus immer als ein einzelnes Urteil vom Objekt gefällt, aber - und das ist das Wesentliche - es nimmt alle Subjekte in Anspruch. Das Ergebnis, das die Charakteristik der beiden Eigentümlichkeiten herbeiführt, sind die beiden Sätze: „ E s ist kein objektives Prinzip des Geschmacks möglich" (§ 34) und „ D a s Prinzip des Geschmacks ist das subjektive Prinzip der Urteilskraft überhaupt" (§35). Von einem Prinzip kann allerdings gesprochen werden, aber nur einem subjektiven. Das Verfahren der Urteilskraft ist nun Subsumtion. E s darf aber nicht eine solche unter Begriffe sein, und so bleibt nur die „des Vermögens der Anschauungen oder Darstellungen (d. i. der Einbildungskraft) unter das Vermögen der Begriffe (d. i. der Verstand), sofern das erstere in seiner Freiheit zum letzteren in seiner Gesetzmäßigkeit

zusammen-

stimmt". Der überindividuelle Charakter des Geschmacksurteils wird also dadurch gesichert, daß es sich bei ihm um eine Zusammenstimmung der Vermögen handelt.

K r i t i k der Urteilskraft

159

Damit ist eigentlich das Problem gelöst. K a n t gibt aber seiner Fragestellung noch einen besonderen Ausdruck. Nachdem er in einer sehr glücklichen Formulierung des Geschmacksurteils als Reflexionsurteil von dem bloßen Empfindungsurteil unterschieden hat, fragt er: „wie sind Geschmacksurteile möglich?" und stellt, nachdem er ihren synthetischen Charakter betont hat, dies Problem unter das allgemeine Problem der Transzendentalphilosophie: „ W i e sind synthetische Urteile a priori möglich?" (§ 36) Die Antwort erfolgt nicht sogleich, vielmehr bringt § 37 die überraschende Formulierung: „ W a s wird eigentlich in einem Geschmacksurteile von einem Gegenstande a priori behauptet?" Diese Fragestellung erregt eine Erwartung, die aber getäuscht wird, denn nicht von der Beziehung des Urteils auf den Gegenstand ist die Rede, sondern es wird nur noch einmal eingeschärft, daß es nicht die Lust ist, sondern die Allgemeinheit dieser Lust, „die mit der bloßen Beurteilung eines Gegenstandes im Gemüte als verbunden wahrgenommen wird, welche a priori als allgemeine Regel für die Urteilskraft für jedermann gültig, in einem Geschmacksurteile vorgestellt wird." So hat denn die „Deduktion der Geschmacksurteile" (§ 38) nur noch jene Allgemeinheit zu sichern. § 38 bringt die Lösung: „ D a nun die Urteilskraft in Ansehung der formalen Regeln der Beurteilung ohne alle' Materie (weder Sinnenempfindung noch Begriff), nur auf die subjektiven Bedingungen des Gebrauchs der Urteilskraft überhaupt (die weder auf die besondere Sinnesart noch einen besonderen Verstandesbegriff eingeschränkt ist) gerichtet sein kann; folglich auf dasjenige Subjektive, welches man in allen Menschen... voraussetzen kann: so muß die Übereinstimmung einer Vorstellung mit diesen Bedingungen der Urteilskraft als für jedermann gültig a priori angenommen werden können." Ein Rückblick auf diese Deduktion zeigt wohl, daß sie eigentlich nicht das leistet, was sie anfangs verspricht. In dem einleitenden Paragraphen (30) wird die Notwendigkeit einer Deduktion nach der Exposition der ästhetischen Urteile dadurch begründet, daß diese „ein Wohlgefallen oder Mißfallen" an der „ F o r m des Objekts" betreffen. Auch wird weiter gesagt, daß die Zweckmäßigkeit „im Objekte und seiner Gestalt ihren Grund" habe. Die Geltung ästhetischer Urteile kann also von der Geltung für bestimmte Gegenstände oder ihre schöne Form nicht losgelöst werden, und diese „objektive" Geltung hätte ihrer Möglichkeit nach aufgewiesen werden müssen. Das hat K a n t aber nicht geleistet und insofern ist die Deduktion unbefriedigend. Das hat er auch wohl empfunden, wenn er in der Anmerkung zu ihr die Frage formuliert: „wie ist es möglich, die Natur als einen Inbegriff von Gegenständen des Geschmacks a priori anzunehmen?" Als Antwort verweist er auf die Teleologie, „weil es als ein Zweck der Natur angesehen werden müßte, der ihrem Begriff wesentlich anhinge, für unsere Urteilskraft zweckmäßige Formen aufzustellen. Aber die Richtigkeit dieser Annahme ist noch sehr zu bezweifeln, indes die Wirklichkeit der Naturschönheit der Erfahrung offenliegt". Bleibt eine solche Berufung auf Erfahrung nicht immer „pöbelhaft", auch wenn es sich in diesem Fall um übereinstimmende, nicht um widerstreitende handelt?

i6o

K r i t i k der Urteilskraft

Die Paragraphen 39-42 lassen sich ihrem wesentlichen Inhalt dahin zusammenfassen, daß in ihnen untersucht wird, welche Wirkung das Erlebnis des Schönen durch seine Mitteilbarkeit ausübt. Diese besondere Art wird nach entsprechender Erörterung über die Mitteilbarkeit der Sinnenempfindung, der Lust des Genusses, des sittlichen Gefühles und der Lust am Erhabenen charakterisiert als „Lust der bloßen Reflexion". Sie muß bei allen Menschen auf den gleichen Bedingungen beruhen und ist deshalb mitteilbar. Das gibt die Veranlassung, von einem sensus communis zu sprechen. Dieser, als sensus communis aestheticus vom logicus unterschieden, verdient eher diesen Namen, und zwar deshalb, weil „Sinn" hier ein angemessenerer Ausdruck ist, handelt es sich doch um eine Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüt, und „da versteht man unter Sinn das Gefühl der Lust". So erhalten wir eine neue Definition des Geschmackes: er ist „das Vermögen, die Mitteilbarkeit der Gefühle, welche mit gegebener Vorstellung (ohne Vermittlung eines Begriffs) verbunden sind, a priori zu beurteilen". In den beiden folgenden Paragraphen handelt Kant von zwei Arten des Interesses am Schönen, die nach ihrer Eigenart recht verschieden von einander sind. Nachdem er noch einmal auf das Wohlgefallen ohne alles Interesse hingewiesen hat, betont er, daß mit dem ausgesprochenen ästhetischen Urteil sich noch ein anderes, indirektes Interesse verbinden könne. Diese Lust ist entweder empirisch aus einer Neigung der menschlichen Natur entsprungen oder etwas Intellektuelles als die Eigenschaft des Willens a priori durch Vernunft bestimmt werden zu können. Das erstere ist ein empirisches, das andere ein intellektuelles. Bestimmter könnte man wohl sagen, daß es sich um die Bedeutung des Schönen für die Gesellschaft und das moralische Empfinden handelt. Kant nennt Geselligkeit die Tauglichkeit und den Hang zur Gesellschaft und will sie zur Humanität rechnen. Das Bedürfnis, sich anderen mitzuteilen, erscheint ihm dann als eine sehr wesentliche Ursache für das künstlerische Schaffen. Dieses erhebt sich von den primitivsten Formen bis zu der Verfeinerung des zivilisierten Lebens, wo die Rücksicht auf das allgemeine Urteil entscheidend wird. In dieser Betrachtung vermißt man einmal ein Verständnis für den Schaffensdrang des Künstlers, andererseits den Versuch, zu zeigen, wie das Erlebnis des Schönen Menschen verbindet und die Kunst sozialisierende Wirkungen ausübt. Sie erscheint nur als ein Objekt des geselligen Triebes nicht als eine seelische Macht, die die Menschen erhebt. So mißt denn Kant diesem empirischen Interesse keine Wichtigkeit bei. Dieser Geschmack, selbst wenn er verfeinert ist, gibt doch nur einen sehr zweideutigen Ubergang vom Angenehmen zum Guten ab. Das Urteil ist ihm dadurch schon gesprochen, daß er einer Neigung frönt. So entsteht die Frage, ob ein solcher Übergang nicht bloß befördert werden könne, wenn der Geschmack „in seiner Reinigkeit" genommen wird. Damit ist das intellektuelle Interesse eingeführt. Kant beginnt mit einer leicht ironischen Bemerkung über diejenigen, welche

Kritik der Urteilskraft

161

das Interesse am Schönen als ein Zeichen eines guten moralischen Charakters angesehen haben. Er stimmt vielmehr der Ansicht zu, daß ein Virtuose des Geschmacks keineswegs vor der sittlichen Beurteilung bestehen könne. Dann aber ist die Unterscheidung zwischen dem Interesse am Schönen der Kunst und dem unmittelbaren Interesse an der Schönheit der Natur entscheidend. Das Interesse an ersterem gibt gar keinen Beweis „einer dem Moralischguten anhänglichen oder auch nur dazu geneigten Denkungsart" ab. Dann heißt es: „Dagegen behaupte ich, daß ein unmittelbares Interesse an der Schönheit der Natur zu nehmen...jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele sei." Als Gegenstände eines solchen Interesses, d. h. also eines Interesses an ihrer Existenz, werden genannt: die schöne Gestalt einer wilden Blume, eines Vogels, eines Insekts. Um die Eigenart dieses Interesses zu bestimmen, wird Nutzen ausgeschaltet, ja die Schädlichkeit als möglich vorausgesetzt. Trotzdem will man die Genannten „nicht in der Natur überhaupt vermissen". Dies Interesse ist deshalb ein intellektuelles. Weiter wird die Notwendigkeit betont, daß die schönen Gegenstände wirklich Natur sind, z. B. wirkliche, nicht künstliche Blumen. Der entdeckte Betrug hebt das Interesse auf. So gestimmte Menschen, besonders die, die den Gegensatz von Kunst- und Naturschönheit empfinden, nennt Kant „eine schöne Seele". Und man möchte meinen, daß mit dem Worte auch eine Erinnerung an den, der es prägte, auftaucht, die Anlaß zu einer Rousseaustimmung gibt. Es ist eine der persönlichsten Äußerungen, die wir in der „Kritik der Urteilskraft" finden, und deshalb sei sie hier in ihrem ganzen Umfang wiedergegeben: „Wenn ein Mann, der Geschmack genug hat, um über die Produkte der schönen Kunst mit der größten Richtigkeit und Feinheit zu urteilen, das Zimmer gern verläßt, in welchem jene, die Eitelkeit und allenfalls gesellschaftliche Freuden unterhaltenden Schönheiten anzutreffen sind, und sich zum Schönen der Natur wendet, um hier gleichsam Wollust für seinen Geist in einem Gedankengange zu finden, den er sich nie völlig entwickeln kann, so werden wir diese seine Wahl selber mit Hochachtung betrachten, und in ihm eine schöne Seele voraussetzen, auf die kein Kunstkenner und Liebhaber um des Interesses willen, das er an seinen Gegenständen nimmt, Anspruch machen kann." Selbst ein unbedingter Verehrer Kants muß wohl diese Zeilen mit einigem Befremden lesen. Zuerst die Dürftigkeit der Beispiele, mit denen Kant das Interesse am Naturschönen erläutert. Dann das Hineintragen von Eitelkeit und gesellschaftlichen Freuden in den Kunstgenuß, die doch mit ihm eigentlich nichts zu tun haben. Man denke an den schweigenden Genuß einer Bachschen Fuge durch gleichgestimmte Seelen oder das Erleben der Neunten Symphonie einer begeisterten Zuhörerschar. Man muß gestehen, daß der Mangel an künstlerischen Erlebnissen hier kraß in die Erscheinung tritt. Recht primitiv muß es doch anmuten, wenn Kant von einer Sprache der Natur durch die Farben spricht und nun nach ihrer Reihenfolge im Spektrum ihnen Ideen zuordnet, der roten die Idee der Erhabenheit, der violetten der Zärtlichkeit usw. Führten diese Betrachtungen vom ästhetischen Erlebnis zum ethischen, so Ii

Menzer, Kants Ästhetik

162

Kritik der Urteilskraft

versucht Kant auch den umgekehrten Weg zu bahnen. Das moralische Gefühl entspringt aus einem Interesse an den Ideen der Vernunft, und diese ist ihrerseits daran interessiert, daß ihre Ideen in der Natur objektive Realität haben. Findet sich nun im Schönen der Natur eine Spur von einer gesetzmäßigen Übereinstimmung der Naturprodukte mit einem interesselosen Wohlgefallen,' so „kann das Gemüt über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessiert zu finden. Dieses Interesse aber ist der Verwandtschaft nach moralisch". Und daraus dürfen wir dann die Folgerung ziehen: „Wen die Schönheit der Natur unmittelbar interessiert, bei dem hat man Ursache, wenigstens eine Anlage zu guter moralischer Gesinnung zu vermuten." Dies' unmittelbare Interesse will Kant mit dem Wohlgefallen an der schönen Kunst nicht verbunden sehen. Die Begründung dieses Satzes entwickelt zwei Möglichkeiten. Entweder ist Kunst Nachahmung der Natur, die bis zur Täuschung geht. Dann tut sie die Wirkung als (dafür gehaltene) Naturschönheit. Oder ist sie eine absichtlich auf unser Wohlgefallen sichtbarlich gerichtete Kunst Dann interessiert der Zweck, nicht die Kunst. In beiden Fällen also mittelbar. Nachdem Kant so die Kunstschönheit schon in Grenzen gewiesen hat, wendet er sich nun zu einer auf sie gerichteten Untersuchung. KUNST UND SCHÖNE

KUNST

Zuerst wird von der Kunst überhaupt, dann von der schönen Kunst gehandelt. Kunst wird abgegrenzt von Natur, Wissenschaft und Handwerk. Dann wird mechanische und ästhetische Kunst unterschieden. Erstere schafft der Erkenntnis eines möglichen Gegenstandes angemessen, die letztere hat das Gefühl der Lust zur unmittelbaren Absicht. Diese Bestimmung macht dann noch die Abtrennung der angenehmen Künste notwendig, und wir erhalten nun die abschließende Definition: „Schöne Kunst ist eine Vorstellungsart, die für sich selbst zweckmäßig ist und obgleich ohne Zweck, dennoch die Kultur der Gemütskräfte zur geselligen Mitteilung befördert." Über die Unzulänglichkeit dieser Definition kann kaum ein Zweifel bestehen. Sie spricht ja doch nur vom Zustand des ästhetish Urteilenden, nicht vom Künstler und seinem Werk. Eine gewisse Ergänzung bringt der Satz: „Schöne Kunst ist eine Kunst, insofern sie zugleich Natur zu sein scheint." Aber auch hier erheben siph schwere Bedenken gegen Kants Beweisführung. Es wird zuerst betont, daß man an einem Produkte der schönen Kunst sich bewußt werden müsse, daß es Kunst sei und nicht Natur. Nun wird ohne Begründung mit dem Gedanken der Kunst der vom Zwang willkürlicher Regeln verbunden und verlängt, daß ein Kunstwerk davon frei sei: „die Zweckmäßigkeit in der Form desselben [Produkt der schönen Kunst] muß von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei." Nur dann ist das Gefühl der Freiheit im Spiel unserer Erkenntnisvermögen möglich. Und nun heißt es: „Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als

Kritik der Urteilskraft

163

Natur aussieht." Es ist doch wohl kaum zu leugnen, daß Kants Beweisführung einen recht sonderbaren Weg geht. Er hatte, da Natur im Sinne eines bloßen Mechanismus keinen Zugang zu den schönen Gegenständen in ihr eröffnet, sie betrachtet, als ob sie eine Technik, eine Kunst anwende. Er hatte die Natur durch den Gedanken an künstlerisches Hervorbringen interpretiert. Und nun wird umgekehrt die Kunst mit Hilfe der Natur gedeutet, aber die letztere doch dabei so aufgefaßt, wie er sie in Analogie mit der Kunst aufgefaßt wissen wollte. Eine Beweisführung, die sich im Kreis dreht, da Natur durch Kunst und Kunst durch Natur in einer Als-ob-Betrachtung gegenseitig einander erläutern sollen. Das Ganze ist mehr ein paradoxes Gedankenspiel als eine Erklärung, denn es genügt doch nicht, wenn gesagt wird, von Natur wie von Kunstschönheit gelte der Satz: „schön ist das, was in der bloßen Beurteilung gefällt." Über diesen Satz sind wir nicht hinausgeführt. Vielleicht wirkte in diese Gedanken schon die Lehre vom Genie hinein, denn zur Interpretation fügt Kant hinzu, daß zwar Pünktlichkeit in der Übereinkunft mit Regeln angetroffen werden müsse, „aber ohne Peinlichkeit". Daß diese Forderungen auf die Natur nicht passen, ist wohl klar, wohl aber auf den Künstler, dessen Freiheit von der Regel schon hier gefordert wird. GENIE

Kants Lehre vom Genie beginnt mit den programmatischen Sätzen: Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: „Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt." Ich füge sogleich die vier Bestimmungen bei, die zur Erläuterung dieser Definition dienen: 1. 2. 3. 4.

Originalität ist die erste Eigenschaft des Genies. Seine Produkte müssen exemplarisch sein. Es gibt als Natur die Regel. Die Natur schreibt durch das Genie nicht der Wissenschaft, sondern der Kunst die Regel vor. Eine Interpretation dieser Lehre muß vor allem die Begriffe Regel und Natur klären. In der Einleitung heißt es: „Die ästhetische Urteilskraft ist ein besonderes Vermögen, Dinge nach einer Regel, aber nicht nach Begriffen, zu beurteilen." Damit ist der entscheidende Gegensatz gegeben und gesagt, daß der Künstler sich nicht durch Begriffe von den Gegenständen, die er schaffen will leiten lassen darf. Aber noch mehr, eine Regel im Sinne einer Schulform darf dem Künstler nicht vorschweben. Allgemein: Die schöne Kunst darf sich nicht Regeln ausdenken. Nun aber setzt jede Kunst Regeln voraus. Und so bleibt dann nichts übrig, als daß die Natur die Regel gibt. Sie gibt sie durch das Genie, näher im Schaffensprozeß. Und da diese Tätigkeit nicht nach irgendwie formulierten Absichten, Zweckbegriffen irgendwelcher Art, geschehen darf, so muß 11*

164

K r i t i k der Urteilskraft

es sich unbewußt vollziehen. Der Künstler „weiß nicht, wie sich in ihm die Ideen dazu [zum Produkt] herbeifinden". E r hat es auch „nicht in seiner Gewalt, dergleichen nach Beheben oder planmäßig auszudenken". Das zweite Problem bildet das Wort von der Natur. K a n t braucht es im allgemeinen und im besonderen Sinne. In der Definition heißt es, daß die Natur der Kunst durch das Genie die Regel gebe. In der dritten Erläuterung finden wir aber schon die Wendung, daß das Genie als Natur die Regel gebe. Es wird also vom Wirken der Natur, aber in einer besonderen Gestaltung, im Zusammenhang eines individuellen Daseins gesprochen und schließlich an dieser Stelle von dem „genius, dem eigentümlichen, einem Menschen bei der Geburt mitgegebenen schützenden und leitenden Geist". Die Besonderheit solcher Veranlassung drückt sich auch in der Wendung von den „Günstlingen der N a t u r " in Hinblick auf das Genie aus. Noch weiter führt uns die letzte Äußerung über das Genie am Schluß der 1. Anmerkung zur Antinomie des Geschmacks. Hier wird es bestimmt durch das „Vermögen ästhetischer Ideen", und dadurch soll erklärt werden, „warum in Produkten des Genies die Natur (des Subjekts)... die Regel gibt". Es ist klar, daß diese Formulierung die Frage herausfordert, wie ein Subjekt die Regel geben könne, und deshalb ist notwendig, zu sagen, was hier unter Natur zu verstehen ist. Wir erhalten dann auch wirklich eine Antwort. Nachdem noch einmal eingeschärft ist, wie das Schöne nicht beurteilt werden dürfe, heißt es: „so kann nicht Regel und Vorschrift, sondern nur das, was bloß Natur im Subjekt ist, aber nicht unter Regeln oder Begriffe gefaßt werden kann, d. i. das übersinnliche Substrat aller seiner Vermögen (welches kein Verstandesbegriff erreicht), folglich das, auf welches in Beziehung alle unsere Erkenntnisvermögen zusammenstimmend zu machen, der letzte, durch das Intelligible unserer Natur gegebene Zweck ist, jener ästhetischen, aber unbedingten Zweckmäßigkeit in der schönen Kunst, die jedermann gefallen zu müssen rechtmäßigen Anspruch machen soll, zum subjektiven Richtmaße dienen. So ist es auch allein möglich, daß dieser, der man kein objektives Prinzip vorschreiben kann, ein subjektives und doch allgemeingültiges Prinzip a priori zum Grunde liege." In einer nicht allzu straffen, aber recht bewegten Darstellung gibt K a n t in den nächsten Paragraphen (48-50) eine Art Psychologie des Genies und seines Schaffens. Zum Schluß zählt er vier Vermögen auf: Einbildungskraft, Verstand Geist und Geschmack, und sagt in einer Anmerkung, daß die drei ersteren durch das vierte allererst ihre Vereinigung bekommen. E s ist offenbar, daß diese Vermögen in der Reihenfolge auftreten, wie wir sie im ästhetischen Urteil fanden. Es fehlte dort der Geist. Anderseits muß die Einbildungskraft eine andere Bedeutung haben, da ja die Einwirkung von außen fehlt wie bei dem Anschauen des Schönen in der Natur oder in der Kunst. U m ihr den produktiven Charakter zu verleihen, wird sie mit dem, was K a n t Geist nennt, im Genie verbunden gedacht : ,,Geist, in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip im Gem ü t e " , er ist ein „Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen", und unter einer solchen wird eine „Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken

Kritik der Urteilskraft

165

gibt, verstanden." Ausdrücklich betont Kant die Freiheit der Einbildungskraft von den Assoziationen. Die Natur leiht zwar den Stoff, er wird aber von uns zu einem anderen verarbeitet. Ästhetische Ideen versuchen der Darstellung von intellektuellen nahe zu kommen. Solche Vernunftideen sind etwa unsichtbare Wesen, das Reich der Seligen, die Ewigkeit usw. Dabei bedient sich die Kunst der Attribute. Diese Wendung zum Gedanklichen, dem keine Darstellung ganz genügen kann, veranlaßt auch den Verstand ins Spiel zu setzen. So besteht das Genie eigentlich in dem „glücklichen Verhältnis... zu einem gegebenen Begriffe Ideen aufzufinden, und anderseits zu diesen den Ausdruck zu treffen, durch den die dadurch bewirkte subjektive Gemütsstimmung, als Begleitung eines Begriffs, andern mitgeteilt werden kann". Diese Betonung der schöpferischen Kräfte des Genies führt zur Ablehnung jeder Nachahmung, und an dieser Stelle findet Kant die Worte, die ihm so hohes Lob eingetragen haben: „Mut ist an einem Genie allein Verdienst; und eine gewisse Kühnheit im Ausdruck und überhaupt manche Abweichung von der gemeinen Regel steht demselben wohl an, ist aber keineswegs nachahmungswürdig, sondern bleibt immer an sich ein Fehler, den man wegzuschaffen suchen muß, für welchen aber das Genie gleichsam privilegiert ist, da das Unnachahmliche seines Geistesschwunges durch ängstliche Behutsamkeit leiden würde." Dies Zugeständnis an das Genie verlangt aber doch eine gewisse Einschränkung, und diese kommt von den Forderungen des vierten Vermögens, des Geschmacks, her. Hier knüpft Kant an die allgemeine Funktion der Urteilskraft an. Sie ist Disziplin (oder Zucht) des Genies. Es muß sich von ihr leiten lassen, und gedämpfter klingt es aus, wenn gesagt wird: „Wenn im Widerstreite beiderlei Eigenschaften an einem Produkte etwas aufgeopfert werden soll, so müßte es eher auf der Seite des Genies geschehen; und die Urteilskraft, welche in Sachen der schönen Kunst aus eigenen Prinzipien den Anspruch tut, wird eher der Freiheit und dem Reichtum der Einbildungskraft als dem Verstände Abbruch zu tun erlauben." Es ist nun möglich, zu einer abschließenden Würdigung von Kants Genielehre zu kommen, für welche die Darstellung an früherer7 Stelle zu vergleichen ist. Ich knüpfe an eine enthusiastische Äußerung Windelbands an, der seine Charakteristik der Kantischen Ästhetik mit den Worten schließt: „der große Philosoph denkt den großen Künstler - Kant konstruiert den Begriff der Goetheschen Dichtung." In dem Worte „konstruiert" liegt die Ansicht, daß dies ohne Kenntnis der Goetheschen Werke geschehen sei. Das ist wohl richtig, aber es muß gefragt werden, ob sich Goethes Dichtung wirklich auf die Kantische Formel bringen läßt. Zwischen dem Dichter des „Götz" und der „Iphigenie" und des „Tasso" besteht doch wohl ein gewaltiger Unterschied, und man könnte Kants Lob auf den Mut des Genies mehr auf den Dichter des ersteren als den der letzteren anwenden. Und wenn wir nach der Charakteristik Schillers Goethe als einen naiven Dichter bezeichnen wollen, so ist doch wohl klar, daß Kant mehr den sentimentalen charakterisiert hat. Leider hat er seine Theorie nur durch einen Hinweis erläutert, und zwar durch Nennung Homers und Wie-

i66

Kritik der Urteilskraft

lands. Er sagt von ihnen, daß keiner von ihnen anzeigen könne, „wie sich seine phantasiereichen und doch gedankenvollen Ideen in seinem Kopf hervor und zusammen finden". Muß diese Zusammenstellung schon recht wunderlich erscheinen, so würde sie es noch mehr werden, wollte man nun noch den Namen Goethe hinzusetzen. Bekanntlich hat dieser mit aller Entschiedenheit es abgelehnt, Dichtungen aus einer Idee verstehen und beurteilen zu wollen. Wie er über Kants Ästhetik und Genielehre dachte, soll mit zwei Zitaten belegt werden. Am I i . April 1827 rät er Eckermann, die Kritik der Urteilskraft zu lesen, „worin er [Kant] die Rhetorik vortrefflich, die Poesie leidlich, die bildende Kunst aber unzulänglich behandelt hat". Sehr viel schärfer ist das unmittelbar während der Lektüre über die Genielehre in der „Anthropologie" gefällte Urteil. Er schreibt am 19.12. 1798 an den Minister Voigt: „Genie und Talent sind ihm überall im Wege, die Poeten sind ihm zuwider, und von den übrigen Künsten versteht er Gott sei Dank nichts." Wenn auch in der „Anthropologie" sich manche ungünstige Äußerung findet, die in dem ästhetischen Hauptwerk fehlt, so enthält sie doch auch die entscheidenden Sätze über das Genie. Diese Lehre sprach Goethe aber trotzdem nicht an. Und so ist Windelbands Gedanke mehr blendend als wahr. Wenn auch der „Tasso" im gleichen Jahr wie „die Kritik der Urteilskraft" erschien, so waren beide Werke doch nicht aus dem gleichen Zeitgeist geboren. Kants Genielehre ist ein Ausdruck der literarischen und ästhetischen Ideen, wie sie die Geister um das Jahr 1760 beherrschten. Nun aber wäre noch zu untersuchen, worin die Eigenart der Kantischen Genielehre gegenüber seinen Vorgängern zu sehen ist. An früherer Stelle ist ihre Entwicklung dargestellt und der große Einfluß Gerards hervorgehoben worden. Aber gerade die Vergleichung mit der Lehre desselben ergibt einen sehr wesentlichen Unterschied. Er hatte die Eigenschaften: Einbildungskraft und Urteilskraft verbunden als charakteristisch für das Genie bezeichnet. Es fehlte aber der Geist. Dafür treten die Assoziationen ein, und zwar mit den drei Forderungen Kraft, Regelmäßigkeit, Tätigkeit und Munterkeit. Kant befreit ausdrücklich das Genie von dem Mechanismus der Assoziationen, da er erkannte, daß dieser nie schöpferisch sein konnte. Aber darauf kam es gerade an. Und hier liegt meiner Ansicht nach das Entscheidende. An einer wenig beachteten Stelle (II, 199) spricht Kant von Leibnizens Lehre, daß die Seele das ganze Universum mit ihrer Vorstellungskraft befasse und fährt fort: „In der Tat müssen alle Arten von Begriffen auf der inneren Tätigkeit unseres Geistes, als auf ihrem Grunde beruhen." Darin liegt der Quell der Kantischen Erkenntnistheorie, und sollte nicht auch das künstlerische Schaffen so verstanden werden können? Und als nun Kant an die Ausarbeitung seiner Ästhetik ging, hatte er die innere Gesetzmäßigkeit unseres Geistes charakterisiert und nach ihrer Besonderheit unterschieden. Während die analytische Betrachtung der Engländer die Seelenvermögen nur zerlegte, hatte er sie in ein Getriebe des Miteinanderwirkens gebracht. Der Gedanke von der Urteilskraft lebt ja doch geradezu von der Idee der aktiven Kräfte der Seele. •Bedenkt man nun weiter, daß Urteilskraft (Geschmack) doch schließlich als

K r i t i k der Urteilskraft

167

Vereinigung aller Vermögen des Genies erscheint, deren Forderungen es sich fügen muß, und weiter, daß das ästhetische Urteil dem eigentümlichen Rhythmus des Zusammenstimmens der Erkenntniskräfte folgen mußte, wie konnte es anders sein, als daß der Vorgang des Hervorbringens den gleichen Weg gehen mußte, nur mit dem Unterschied, daß der Anstoß von innen, nicht von außen kam. Und wie nun das ästhetische Erleben zu Ideen führte und damit zum Übersinnlichen, so mußte auch das Genie an das Übersinnliche heranreichen. Diese Folgerung findet sich auch, denn aus der übersinnlichen Natur des künstlichen Subjektes entspringen Ideen, die zum Übersinnlichen führen, denn sonst könnte das Kunstwerk nicht Gegenstand der Mitteilbarkeit der Lust sein. Und ebenso ergibt sich die Lehre von der Freiheit des Genies aus der Lehre vom ästhetischen Genießen. Freiheit im Spiel der Erkenntniskräfte nur in Hinblick auf Erkenntnis überhaupt, Schaffen in Freiheit ohne Begriff nur in Ahnung auf ein -Allgemeines, sie entsprechen sich durchaus. Wie hätte ein Werk nach der Regel je den Charakter des Unabsichtlichen erhalten kö»nen? Nach Darstellung der Lehre vom Genie, zu dessen Vermögen ja auch die Einbildungskraft gehört, ist es wohl am Platze, über sie noch einmal zusammenfassend zu sprechen. Dabei sei an die Ausführungen im dritten Teil erinnert. Es genügt, zu erwähnen, daß dort ihre Aufgabe als Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Verstand bestimmt wurde. In den verschiedenen Fassungen der Deduktion ließ sich ein Weg von unten nach oben (Sinnlichkeit-Verstand) und von oben nach unten (Verstand-Sinnlichkeit) unterscheiden. Es ist nun klar, daß in der Ästhetik der erstere Weg beschritten werden muß. So beginnt denn Kant auch mit der Auffassung (apprehensio) der Form eines Gegenstandes der Anschauung. Hier wird die Einbildungskraft „Vermögen der Anschauungen a priori" genannt. (V, i8gf.) In ihrer Freiheit betrachtet, ist sie „produktiv und selbsttätig" ' (als Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen. (V, 240.) An anderer Stelle wird in Anspielung auf sie vom „Vermögen der Darstellung [der Begriffe]" gesprochen mit dem Zusatz: „welches mit dem der Auffassung eines und dasselbe ist". (V, 279.) Und schließlich sei angeführt, daß in Anspielung auf Zusammenstimmung der beiden Vorstellungskräfte die Funktion der Einbildungskraft bestimmt wird „für die Anschauung und die Zusammenfassung des Mannigfaltigen derselben". (V, 287.) Noch aber fehlt die Vermittlung. Hier tritt wieder das Schema auf. „Die Einbildungskraft schematisiert ohne Begriff." (V, 287.) Darin besteht ihre Freiheit, aber anderseits kann sie nicht von selbst gesetzmäßig sein. Hier wirkt der Verstand mit, es ist aber eine Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz. Merkwürdig ist das Schicksal der Einbildungskraft in der Lehre vom Erhabenen. Hier wird bekanntlich Auffassung (apprehensio) und Zusammenfassung (comprehensio aesthetica) unterschieden und gesagt, daß diese der Einbildungskraft nicht gelingt. Als Grund wird hier angegeben, „daß die zuerst aufgefaßten Teilvorstellungen der Sinnenanschauung in der Einbildungskraft zu erlöschen anheben" (V, 252), ein Mangel, der eigentlich nur die reproduktive trifft. Dieses Versagen der Einbildungskraft in der Größenschätzung führt aber dann zu der Idee des

i68

Kritik der Urteilskraft

Übersinnlichen. J e t z t wird sie zu einem „ W e r k z e u g der V e r n u n f t nach Prinzipien des Schematismus der U r t e i l s k r a f t " . A l s solches ist sie „eine Macht, unsere Unabhängigkeit gegen die Natureinflüsse zu b e h a u p t e n " . (¥,269.) E s ist deutlich, d a ß der Einbildungskraft hier K r ä f t e zuwachsen, die ihr eigentlich nicht zukommen, die sie vielmehr der V e r n u n f t verdankt. U n d schließlich die Einbildungskraft als Vermögen des Genies. Zuerst wird darauf hingewiesen, d a ß der Geschmack nur ein Beurteilungs-, nicht ein produktives Vermögen sei. D a n n wird Geist als das belebende Prinzip im Gemüte bezeichnet, u n d wir erhalten die Definition, „dieses Prinzip sei nichts anderes als das Vermögen der Darstellung ästhetischer I d e e n " . D a s ist doch w o h l ein weiterer Schritt, u n d K a n t geht nun auch wirklich sofort zur Einbildungskraft über, denn Idee ist eine „ V o r s t e l l u n g der Einbildungskraft, die viel z u denken v e r a n l a ß t " . Sie ist schöpferisch. Später erhalten wir allerdings eine neue Definition v o m Geist. J e t z t wird er das Vermögen des Ausdrucks der Ideen genannt u n d gesagt, d a ß er „ d a s schnell vorübergehende Spiel der Einbildungskraft auffassen u n d in einen Begriff vereinigen müsse, der sich ohne Z w a n g der Regeln mitteilen l ä ß t " . (V, 3 1 3 f f . ) I n der endgültigen Zusammenstellung werden dann genannt: Einbildungskraft, Verstand, Geist u n d Geschmack. U n d in einer A n m e r k u n g erfahren wir, daß die drei ersteren Vermögen allererst durch das vierte ihre Vereinigung finden. (V. 320.) Die E i n f ü h r u n g des Gedankens der ästhetischen Idee h a t K a n t veranlaßt, sich allgemein über Ideen z u äußern. E r t u t dies zuerst bei der Lehre v o m Genie (§49). E r nennt sie hier Vorstellungen der Einbildungskraft u n d sagt v o n ihnen, d a ß „sie z u etwas über die Erfahrungsgrenze hinaus Liegendem wenigstens streben und so einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe z u k o m m e n suchen". Der H a u p t g r u n d , diese Vorstellungen Ideen z u nennen, ist der, „ d a ß ihnen als inneren Anschauungen kein Begriff a d ä q u a t sein k a n n " . Der Dichter w a g t es, Vernunftideen v o n unsichtbaren Wesen usw. z u versinnlichen. Z u einer prinzipellen Erörterung k o m m t es dann in A n merkung z u § 57. Allgemein gilt von den Ideen, „ d a ß sie nach einem gewissen Prinzip auf einen Gegenstand bezogene Vorstellungen sind, sofern sie doch nie eine Erkenntnis desselben werden k ö n n e n " . Dies Prinzip ist entweder ein subj e k t i v e s oder ein objektives. I n ersterem F a l l sind es ästhetische Ideen, i m zweiten Vernunftideen. V o n jenen gilt n u n : „sie werden nach einem bloß subjektiven Prinzip der Übereinstimmung der Erkenntnisvermögen untereinander (der Einbildungskraft u n d des Verstandes) auf eine A n s c h a u u n g bezogen". E i n e ästhetische Idee ist also eine Anschauung der Einbildungskraft, sie ist eine inexpönible Vorstellung der Einbildungskraft. W e i t e r wird das Verhältnis der Idee z u m Verstände dahin bestimmt, d a ß dieser bei ihr „ d u r c h seine Begriffe nie die ganze innere Anschauung der Einbildungskraft erreicht, welche sie mit einer gegebenen Vorstellung v e r b i n d e t " . W i r h ä t t e n demnach den Prozeß der künstlerischen Intuition wohl so z u verstehen, daß der K ü n s t l e r v o n einer Vorstellung ausgeht, d a ß die Einbildungskraft sie versinnlicht, d. h. reicher ausstattet, aber doch geleitet ist v o n dem Prinzip der Übereinstimmung mit

Kritik der Urteilskraft

X6Q

dem Verstände, da ja sonst eine Formung des Inhaltes nicht zustande käme. D a es aber bei einem freien Spiel bleibt, kann nie Zwang entstehen. Es ist klar, daß der Prozeß des künstlerischen Schaffens parallel zu dem Vorgang des ästhetischen Genießens gedacht wird, nur mit dem Unterschied, daß bei letzterem die Anregungen von außen, bei diesem von innen her kommen. Dadurch bekommt die Einbildungskraft allerdings einen anderen Charakter. Ihre Funktion im ästhetischen Genießen war Zusammenfassung des Mannigfaltigen, jetzt hat sie die entgegengesetzte Funktion, Fülle der Vorstellung zu geben, sie soll ja schöpferisch sein.

EINTEILUNG DER SCHÖNEN

KÜNSTE

K a n t s Lehre vom Genie wird bei dem Leser große Erwartungen erweckt haben, seine Gedanken über die verschiedenen Künste kennenzulernen. Sie werden allerdings kaum befriedigt. Wir erhalten zuerst eine Einteilung der schönen Künste, die ihr Verfasser aber selbst nur als einen Entwurf zu einer möglichen Einteilung bezeichnet. Andere Versuche seien möglich. Nur ist notwendig, die Definition vorauszuschicken: „Schönheit ist der Ausdruck ästhetischer Ideen." Das Einteilungsprinzip nimmt Kant aus der Analogie der Kunst mit der Art des Ausdruckes, dessen sich die Menschen bedienen. Dieser besteht in Wort, Gebärde und Ton. Diese sich so ergebende Einteilung wird vielleicht am besten in Form einer tabellarischen Übersicht gegeben. Kunst I Ausdruck Worte

Gebärde

(Gedanke)

(Anschauung)

Ton (Empfindung)

redende Kunst

bildende Kunst

Kunst des schönenSpiels der Empfindungen

a) Beredsamkeit

a) Plastik

a) Musik

(Sinnenwahrheit) b) Dichtkunst ad a) Verstand-Spiel a d b ) Spiel-Verstand

b) Bildhauerkunst a) Baukunst ß) Malerei

b) Farbenkunst

(Sinnenschein) 1. Malerei (schöne Schilderung der Naturprodukte) 2. Lustgärtnerei (schöne Zusammenstellung der Naturprodukte)

170

Kritik der Urteilskraft

Zu dieser Einteilung hat Kant nun eine knapp sechs Seiten umfassende Erläuterung gegeben, aus der ich nur das Wesentliche herausnehme, um dann einige prinzipielle Fragen zu erörtern. Die redenden Künste werden gegensätzlich zueinander so charakterisiert: „Beredsamkeit ist die Kunst, ein Geschäft des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft zu betreiben; Dichtkunst, ein freies Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft des Verstandes auszuführen." Die Charakteristik des Dichters erfährt dann noch den Zusatz, der Dichter kündige bloß ein unterhaltendes Spiel mit Ideen an: „Es kommt doch so viel für den Verstand heraus, als ob er bloß dessen Geschäft zu treiben die Absicht gehabt hätte." Und in einer späteren Anmerkung gesteht Kant, daß ein schönes Gedicht ihm immer ein reines Vergnügen gemacht habe. Etwas gezwungen erscheint die „Gebärdung" als Mittel des Ausdrucks für die bildenden Künste. Das hat Kant wohl empfunden. So gibt er am Schluß der Besprechung die Rechtfertigung, „daß der Geist des Künstlers durch diese Gestalten von dem, was und wie er gedacht hat, einen körperlichen Ausdruck gibt und die Sache gleichsam mimisch sprechen macht: ein sehr gewöhnliches Spiel unserer Phantasie, welche leblosen Dingen ihrer Form gemäß einen Geist unterlegt, der aus ihnen spricht". Diese Wendung muß überraschen. Es mag ununtersucht bleiben, ob sie die notwendige Rechtfertigung enthält; sicherlich übt hier die Phantasie eine andere Funktion als die Einbildungskraft im Spiel der Erkenntniskräfte aus. Eine Verbindung zwischen beiden ist nicht hergestellt. Dem entspricht wohl auch, daß der Ausdruck durch Gebärdung bei der weiteren Charakteristik der bildenden Künste keine Rolle spielt. Sie werden die Künste des Ausdrucks für Ideen in der Sinnenanschauung genannt und geben entweder Sinnenwahrheit oder Sinnenscheiii. Die Plastik wendet sich an zwei Sinne (Gesicht und Gefühl), die Malerei nur an das Gesicht. Die Plastik zerfällt in Bildhauerkunst und Baukunst. Die erstere stellt körperliche Begriffe von Dingen dar, „so wie sie in der Natur existieren könnten", die zweite Begriffe von Dingen, die nur durch Kunst möglich sind, bei diesen ist ein gewisser Gebrauch die Hauptsache. Zur Plastik rechnet Kant Bildsäulen vonMenschen, Göttern,Tieren und dergleichen, zur Baukunst Tempel, Prachtgebäude, Wohnungen, Ehrenbogen, Säulen, Kenotaphien, aber auch Hausgeräte, entscheidend für diese Zurechnung ist der Gebrauch. Die Malerkunst wird geschieden in die schöne Schilderung der Natur (eigentliche Malerkunst) und die schöne Zusammenstellung ihrer Produkte (Lustgärtnerei). Beide geben Schein, die erstere der körperlichen Ausdehnung, die zweite den Schein von Benutzung. Zur Malerei im weiteren Sinne will Kant dann noch Verzierung der Zimmer durch Tapeten, Aufsätze und alles schöne Ameublement, Kunst der Kleidung nach Geschmack (Ringe, Dosen) ein Parterre von Blumen, ein Zimmer mit allerlei Zieraten und festlich geschmückten Damen rechnen. Das alles macht ein Gemälde aus. Ebenso ist auch die schöne Zusammenstellung wie sie Lustgärtnerei gibt, aufzufassen. Ausdrücklich wird betont, daß die Formen das Entscheidende für die Beurteilung sind.

Kritik der Urteilskraft

171

Gegenüber diesen Andeutungen fällt auf, daß Kant eine ausführliche Theorie der Musik8 gegeben hat. Zugrunde gelegt hat er eine zwiefache Fragestellung: einmal untersucht er, ob Musik eine angenehme oder eine schöne Kunst sei, zweitens will er eine Erklärung dafür geben, weshalb sie nächst der Dichtkunst am meisten Reiz und Bewegung des Gemüts hervorruft. Bei der ersten Untersuchung wird Musik mit der Farbenkunst als Kunst des schönen Spiels der Empfindungen bezeichnet. Anknüpfend an ihr gemeinsames Ausdrucksmittel, den Ton, wird dieser begriffen „als die Proportion der verschiedenen Grade der Stimmung (Spannung) des Sinnes, dem die Empfindung angehört". Führend ist also in dieser gemeinsamen Charakteristik der Gehörssinn. Von diesem aus schließt Kant nach der Analogie auf den Gesichtssinn. Es ist wohl zweifellos, daß er sich dabei von Castels Idee eines Farbenklaviers hat anregen lassen. So vergleicht er miteinander die Proportion der Schwingungen in der Musik mit der Farbenabstechung. Es werden nun zwei Gründe für den Charakter der beiden Künste als schöner angegeben. Das Mathematische in den eben genannten Proportionen und die veränderte Qualität der Empfindung bei den verschiedenen Anspannungen auf der Farben- und Tonleiter. Während die Wahrnehmung der „Licht- und Luftbebungen" bei deren Schnelligkeit eine Beurteilung nicht ermöglicht, lassen sich die erwähnten Unterschiede, da ihre Zahl bestimmt ist, begreifen. So ist eine Beurteilung möglich und so sind die an Ton und Farbe sich anschließenden Empfindungen „nicht als bloßer Sinneneindruck, sondern als die Wirkung einer Beurteilung der Form im Spiele vieler Empfindungen anzusehen". Musik ist also nach dieser Betrachtung eine schöne Kunst. In der zweiten Untersuchung (V, 328ff.) wird in Anspielung auf die Dichtkunst von der Musik gesagt, daß sie zwar nichts „zum Nachdenken" übrig läßt, aber „doch das Gemüt mannigfaltiger und obgleich bloß vorübergehend, doch inniglicher bewegt". Sie erzeugt ein Gedankenspiel, „das Wirkung einer gleichsam mechanischen Assoziation" ist. In diesen Worten ist der Grundgedanke der Theorie angegeben, die nun in einem Satzungeheuer entwickelt wird. Ich zerlege es in einzelne Sätze, um das Verständnis zu erleichtern. Jeder Ausdruck der Sprache hat im Zusammenhange einen Ton, der dem Sinn desselben [Ausdruck] angemessen ist; der Ton bezeichnet einen Affekt des Sprechenden, im Hörenden wird die Idee erregt, die in der Sprache mit solchem Ton ausgedrückt wird, die Musik ist also eine Sprache der Affekte; nach dem Gesetz der Assoziation teilt sie die damit natürlicherweise verbundenen ästhetischen Ideen mit. Wie aber, so muß an dieser Stelle gefragt werden, kann die Musik ein Ganzes übermitteln? Der Ablauf der Assoziationen ist ja doch regel- und grenzenlos. Kant hebt selbst hervor, daß der Ausdruck durch die Musik nicht eine Sprache ist, die Form hat. Die bisher noch nicht nachgewiesene Form ergibt sich aus der Erinnerung, daß die Zusammensetzung dieser Empfindungen (Harmonie und Melodie) in einer Form geschieht. Und so kann er schließen, daß die Musik „die ästhetische Idee eines zusammengesetzten Ganzen einer unnennbaren Gedankenfülle, einem Thema gemäß, welches den in dem Stücke herrschenden

1^2

Kritik der Urteilskraft

Affekt ausmacht", ausdrückt. Während also die Mathematik an Reiz und Gemütsbewegung nicht den geringsten Anteil hat, ist sie die unumgängliche Bedingung für das Zustandekommen eines ästhetisch zu nennenden Erlebnisses. Noch einmal, und zwar in der Anmerkung zu § 53, erwähnt Kant die Musik. Hier geht er von dem Gegensatz zwischen Gefallen und Vergnügen aus und spricht von dem Spiel der Empfindungen, das vergnügt. Diese Spiele sind: Glücks-, Ton- und Gedankenspiel. Nur die beiden letzteren kommen in Betracht. Der Unterschied ist wieder der, daß die Musik von Empfindungen zu Ideen geht, in diesen hebt das Spiel von Gedanken an. Gleichzeitig sind sie, insofern sie den Körper beeinflussen, ja das von ihnen erweckte Vergnügen und muß aus dieser Verbindung verstanden werden. „Nicht die Beurteilung der Harmonie in Tönen oder Witzeinfällen, die mit ihrer Schönheit nur zum notwendigen Vehikel dient, sondern das beförderte Lebensgeschäft im Körper, der Affekt, der die Eingeweide und das Zwerchfell bewegt, mit einem Worte das Gefühl der Gesundheit machen das Vergnügen aus, welches man daran findet, daß man dem Körper auch durch die Seele beikommen kann und diese zum Arzt von jenem brauchen kann." Zur Ergänzung dieser physiologischen Theorie sei auf die „Anthropologie" hingewiesen, wo Kant lehrt, daß die Musik den Vitalsinn „unbeschreiblich lebhaft und mannigfaltig nicht bloß bewegt, sondern auch stärkt". (§ 18.) Auf diese Theorie näher einzugehen, dürfte kaum lohnen, da ihr ja alle wissenschaftliche Beobachtung und experimentelle Untersuchung fehlt. Kant hat sie auch verwertet, um die Wirkung des Erhabenen und des Tragischen zu erklären, wie er anderseits zu merkwürdigen therapeutischen Vorschlägen kam. Man darf aber nie vergessen, daß er immer nur vom Vergnügen, nicht vom Gefallen sprach. Kants Theorie der Musik erscheint als eine konsequente Durchführung seines allgemeinen Formprinzips. Sie erweckt aber dadurch ein besonderes Interesse, als wir in ihr eine Verbindung zwischen den formenden Kräften der Seele und den Formen, in denen die Reize auf die Sinne wirken, finden. Es ist an einer' früheren Stelle betont worden, daß diese Verbindung an Stellen fehlt, wo sie erwartet werden konnte, z. B. in Beziehung zum Rhythmus einer Linie oder zu Symmetrie und Proportion. Hier ist es der Fall. Die gesetzmäßige Ordnung der Töne und Farben ist die unentbehrliche Grundlage, auf der ein ästhetisches Verhalten erst möglich wird. Im Anschluß an diese Lehre von den einzelnen Künsten folgt eine Betrachtung über die Verbindung der schönen Künste in einem und demselben Produkt. Am schnellsten orientiert auch hier eine schematische Übersicht. Schauspiel = Beredsamkeit + malerische Darstellung Oper

= Poesie + Musik (Gesang) + malerische (theatralische Darstellung)

Tanz . . . . = Musik (Spiel der Empfindungen) + Spiel der Gestalten Gereimtes Trauerspiel, Lehrgedicht, Oratorium = Darstellung des Erhabenen + Schönheit.

Kritik der Urteilskraft

173

D a ß diese Verbindung nicht mehr als eine bloße Zusammenstellung ist, in der wir nichts über das Zusammenwirken der verschiedenen K ü n s t e u n d ihre besondere B e d e u t u n g in ihm erfahren, ist wohl klar. V o n Interesse ist aber, d a ß K a n t kritisch fragt, ob die schöne K u n s t in diesen Verbindungen schöner werde. E r bezweifelt das, „ d a sich so mannigfaltige verschiedene A r t e n des W o h l gefallens einander durchkreuzen". E s folgt nun der berühmte § 53, in dem K a n t die schönen K ü n s t e nach ihrem ästhetischen W e r t beurteilt. Viel Persönliches ist in diesen Wertungen enthalten, das an andrer Stelle schon B e a c h t u n g gefunden h a t ; hier k o m m t es viel mehr darauf an, den Zusammenhang dieser Werturteile mit der ästhetischen Theorie aufzuweisen. W e n n K a n t der D i c h t k u n s t den obersten R a n g einräumt, so geschieht es, weil sie fast ganz dem Genie ihren Ursprung verdankt. E i n e B e g r ü n d u n g gibt er nicht, m a n m ü ß t e sie denn darin sehen, daß der D i c h t k u n s t nachgerühmt wird, sie bringe „eine Gedankenfülle hervor, der kein Sprachausdruck völlig a d ä q u a t ist u n d sich also ästhetisch zu Ideen e r h e b t " . D a das Genie das Vermögen ästhetischer Ideen besitzt, so ist wohl der Z u s a m m e n h a n g deutlich. Sehr charakteristisch heißt es in der Anthropologie: „ D e r

Naturmaler

mit dem Pinsel oder der Feder (das letztere sei in Prosa oder in Versen) ist nicht der schöne Geist, weil er nur n a c h a h m t ; der Ideenmaler ist allein der Meister der schönen K u n s t . " (VII, 248.) Die Beredsamkeit erfährt eine entschiedene Ablehnung. Ihr wird vorgeworfen, daß sie durch schönen Schein hintergehe. Sie darf sich nicht da einmischen, w o es sich u m richtige Erkenntnis und gewissenhafte B e o b a c h t u n g der Pflicht handelt. Demgegenüber geht in der Dichtkunst alles ehrlich u n d aufrichtig z u . Sie will nur ein unterhaltendes Spiel geben u n d „ v e r l a n g t nicht den Verstand durch sinnliche Darstellung z u überschleichen u n d z u verstricken". E i n anderer M a ß s t a b der Beurteilung ist der nach „ R e i z u n d B e w e g u n g des G e m ü t s " . A u c h hier gebührt der erste R a n g der Dichtkunst, dann aber der Musik. Z w a r g i b t sie nicht, wie die Poesie, etwas z u m Nachdenken, sie „ist mehr G e n u ß als K u l t u r " , aber sie bewegt das G e m ü t mannigfaltiger und obgleich bloß vorübergehend, doch „inniglicher". Hier folgt nun die oben dargestellte Theorie der Musik, die dann eine E r g ä n z u n g im Zusammenhang der Lehre v o m Spiel erfuhr. A u s dieser sei deshalb nur noch die dort gegebene Theorie des Lachens erwähnt. D u r c h den Wechsel der Vorstellungen wird das G e m ü t belebt. Dies gilt allgemein. B e i m Lächerlichen m u ß etwas Widersinniges i m Spiele sein, und, da der V e r s t a n d an diesem kein Interesse hat, so kann es nur eine körperliche R e a k t i o n sein. So ergibt sich die Definition: „ D a s L a c h e n ist ein A f f e k t aus der plötzlichen V e r w a n d l u n g einer gespannten E r w a r t u n g in nichts." D a z u wird dann eine physiologische E r k l ä r u n g geben. V o n dieser Theorie aus versucht K a n t auch das Wesen des N a i v e n z u bestimmen. E s erregt zuerst Lachen über eine Einfalt, die es noch nicht versteht, sich z u verstellen. Zugleich aber bringt die offenbar gewordene Lauterkeit der Denkungsart E r n s t u n d Hochschätzung in dieses Spiel der Urteilskraft. Eine R ü h r u n g der Zärtlichkeit verbindet sich mit einem gutherzigen Lachen. B e -

174

Kritik der Urteilskraft

deutungsvoll, wenn an Schiller gedacht wird, sind die Sätze: „Eine Kunst naiv zu sein ist ein Widerspruch; allein die Naivität in einer erdichteten Person vorzustellen, ist wohl möglich und schöne, obzwar auch seltene K u n s t . " Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Wertungen zurück, um den allgemeinen Standpunkt, von dem sie geschehen, zu charakterisieren, so ergibt sich, daß eine rationalistische und eine moralisierende Haltung vorherrscht. Die erstere wurde schon deutlich bei der Würdigung der Dichtkunst, diese „läßt etwas zum Nachdenken übrig". Die letztere tritt deutlich hervor, wenn Kant das geistige Gefühl der Achtung für moralische Ideen von den minder edlen des Geschmacks abhebt. An einer anderen Stelle, wo die Bedeutung der Form im Gegensatz zur Malerei der Empfindung hervorgehoben wird, da nur so „die Lust zugleich Kultur ist und den Geist zu Ideen stimmt", heißt es ziemlich unvermittelt: „Wenn die schönen Künste nicht nahe oder fern mit moralischen Ideen in Verbindung gebracht werden, die allein ein selbständiges Wohlgefallen bei sich führen, so ist das letztere ihr endliches Schicksal", d. h. wie der bloße Genuß, so „macht die Kunst den Geist stumpf, das Gemüt wird mit sich selbst unzufrieden und launisch". (§52.) Es ist klar, daß hier ein bedeutsames Thema, natürlich nicht zufällig bei der Betrachtung der Kunstschönheit, angeschlagen wird, das nun dem Sinne nach die Kritik der Urteilskraft bis zu ihrem Schluß beherrscht. Ehe wir die Darstellung zu ihrem Ende führen, erscheint es notwendig, zwei Fragen eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden: einmal dem Verhältnis von Natur- und Kunstschönheit und zweitens Kants Verhältnis zur Lehre vom ästhetischen Schein.

NATUR UND

KUNSTSCHÖNHEIT

Die Unterscheidung von Natur- und Kunstschönheit erfährt zuerst eine systematische Behandlung in § 43, aber schon vorher hat Kant Beispiele aus beiden entnommen, so in der Erläuterung zu § 14. Auch bei der Erörterung über freie und anhängende Schönheit verfährt er ebenso. So nennt er als Beispiele für die letztere nebeneinander: Mensch, Pferd, Gebäude usw. Die Erwartung, daß bei der Entwicklung des Begriffs vom Ideal der Schönheit die Kunst besondere Beachtung erfährt, wird enttäuscht. Zwar werden Polyklets Doryphoros und Myrons K u h als Beispiele für die Normalidee genannt, aber die Frage, wie die Kunst das Ideal darstellen könne, wird nicht beantwortet. Bekanntlich kann es allein an der menschlichen Gestalt erwartet werden, und zwar im Ausdruck des Sittlichen. Daß die Natur dies Ideal nicht geben kann, ist wohl klar. Es wird also entweder im Urteil über die aus der Erfahrung zu entnehmende Einheit zwischen der Idee des Guten und ihrem körperlichen Ausdruck bestehen oder in einem Werke der Kunst, das sich diese Aufgabe stellt. Hier hätte Kant an Winckelmann anknüpfen können. Er hat es nicht getan, er bemerkt nur, daß zum Erfassen dieser Harmonie „reine Ideen der Vernunft und große Macht der Einbildungskraft in demjenigen vereinigt gehören, welcher sie nur beurteilen, viel mehr noch,

Kritik der Urteilskraft '

175

wer sie darstellen will". Es kann zweifelhaft sein, ob Kant hier nur an den Künstler gedacht hat, sicher aber ist dies der Fall in der Wendung von „darstellen". Es muß nun auffallen, daß Kant, als er in § 42 vom intellektuellen Interesse am Schönen spricht, ohne Begründung das Schöne der Kunst vom Naturschönen unterscheidet, und zwar zugleich mit einer Abwertung des ersteren gegenüber dem letzteren. Das Interesse an diesem ist ein Kennzeichen einer guten Seele, jene gibt aber „keinen Beweis einer dem Moralischguten oder auch nur dazu geneigten Denkungsart". Weiter wird behauptet, daß „das Wohlgefallen an der schönen Kunst im reinen Geschmacksurteile nicht ebenso mit einem unmittelbaren Interesse verbunden sei, als das an der schönen Natur", einmal, weil manche Werke der Kunst nur Nachahmungen sind und deshalb ihre Schönheit der Natur verdanken oder sie sind Darstellungen, die auf einen bestimmten Zweck gerichtet sind und deshalb ist das Interesse mittelbar. Schließlich wird die Notwendigkeit betont, daß Reize der schönen Natur auch wirklich von ihr kommen müssen, der nachgeahmte Gesang der Nachtigall oder die Entdeckung eines solchen Betruges enttäuscht: ,,Es muß Natur sein oder von uns dafür gehalten werden, damit wir an dem Schönen als einem solchen ein unmittelbares Interesse nehmen." Mit § 43 beginnt dann die systematische Entwicklung des Begriffes „Kunst". Überraschend muß der erste Satz wirken: Kunst wird von der Natur unterschieden. Es folgen die Abtrennungen von Wissenschaft und Handwerk. Können und Freiheit sind ihre unterscheidenden Merkmale. § 44 führt dann den Begriff „ästhetische Kunst" ein. Sie hat das Gefühl der Lust zur unmittelbaren Absicht, im Gegensatz zur angenehmen, die auf Genuß abzweckt. Dem entspricht die Definition: „Schöne Kunst ist eine Vorstellungsart, die für sich selbst zweckmäßig ist und, obgleich ohne Zweck, dennoch die Kultur der Gemütskräfte zur geselligen Mitteilung befördert." § 45 stellt dann ausdrücklich fest, daß die Bestimmung: „schön ist das, was in der bloßen Beurteilung gefällt" auf Natur- und Kunstschönheit anzuwenden ist. Diese Folgerung wird gezogen aus dem Satz, der als Überschrift dient: „Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint." Der anfangs ausdrücklich gegebene Unterschied wird also wieder aufgehoben, und zwar durch Unterordnung der Kunst unter die Natur. Zu beachten ist, daß ausdrücklich gesagt wird „scheint". Ich setze noch einen Satz her: „Also muß die Zweckmäßigkeit im Produkte der schönen Kunst, ob sie zwar absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d. i. schöne Kunst muß als Natur anzuseilen sein, ob man sich ihrer zwar als Kunst bewußt ist." Ich füge noch einen Satz aus E 1 an, wo es heißt: „Die Beurteilung der Kunstschönheit wird nachher als bloße Folgerung aus denselbigen Prinzipien, welche dem Urteile über Naturschönheit zum Grunde liegen, betrachtet werden müssen" ( X X S. 251). Nun beginnt in § 46 die Genielehre. Damit ist notwendig der Ausgangspunkt ein anderer geworden. Bisher nahm Kants Natur- und Kunstschönheit als an Gegenständen in der Erfahrung vorhanden an und sprach vom Standpunkt des ästhetisch Beurteilenden. Jetzt aber versetzt er sich in die Seele des Künstlers

176

Kritik der Urteilskraft

und versucht, die Vermögen des Gemüts aufzuzeigen, die das Genie ausmachen, das Ergebnis wäre das Kunstwerk. E s entsteht die Frage, ob dieser neue Ausgangspunkt nicht eine Bedeutung für die gedachte Unterscheidung mit sich führen muß. Zuerst erhalten wir allerdings die bekannte Definition: „Genie ist die angeborene Gemütslage, durch welche die Natur der Kunst die Regel g i b t . " Also auch hier wieder Natur! Der Zusammenhang mit den eben behandelten Forderungen an die Kunstschönheit ist wohl deutlich. Weiter begegnen wir der Unterscheidung der beiden Arten der Schönheit in § 48, der vom Verhältnis des Genies zum Geschmack handelt. Es heißt zuerst im Sinne einer Definition: „Eine Naturschönheit ist ein schönes Ding, die Kunstschönheit ist eine schöne Vorstellung von einem Dinge." Wieder ist die Rede von dem ästhetisch Genießenden. Merkwürdigerweise finden wir jetzt als unterscheidendes Merkmal, daß den Urteilen über schöne Kunstdinge ein Begriff, „was das Ding sein soll" zugrunde gelegt werden muß. Die Vollkommenheit des Dinges muß in Anschlag gebracht werden. Es wird schwer möglich sein, diese Lehre mit der allgemeinen ästhetischen Theorie in Einklang zu bringen, besonders wenn man an die Zweckmäßigkeit ohne Zweck denkt und das als Natur-Wirken. Verständlich werden diese Ausführungen aus dem Zusammenhang, in dem sie stehen. K a n t will nämlich zeigen, daß Geschmack noch nicht ausreicht, um das Schöpferische des Genies zu erklären, „Geschmack ist bloß ein Beurteilungsnicht ein produktives Vermögen". Dies ist der Geist, und er ist das „Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen". Damit ein ist neuer wichtiger Begriff eingeführt. Während K a n t an der ersten Stelle, wo er von der Idee spricht, sie nur als Vernunftbegriff bezeichnet, unterscheidet er die ästhetische Idee ausdrücklich davon, sie ist das Gegenstück zur Vernunftidee, sie ist „innere Anschauung", der kein Begriff völlig adäquat sein kann. Und nun beginnt § 51, der von der Einteilung der schönen Künste handelt, mit dem Satz: „Man kann überhaupt Schönheit (sie mag Natur- oder Kunstschönheit sein) den

Ausdruck

ästhetischer Ideen nennen." Der trotzdem bestehende Unterschied wird so formuliert: „nur daß in der schönen Kunst diese Idee durch einen Begriff vom Objekt veranlaßt werden muß; in der schönen Natur aber die bloße Reflexion über eine gegebene Anschauung ohne Begriff von dem, was der Gegenstand sein soll, zur Erweckung und Mitteilung der Idee, von welcher jenes Objekt als der Ausdruck betrachtet wird, hinreichend ist." K a n t hat nun ausdrücklich gesagt, daß er die Lehre vom Ausdruck ästhetischer Ideen zum Prinzip seiner Einteilung der schönen Künste gemacht habe, aber die Erwartung, einen systematischen Ausbau zu finden, wird enttäuscht. Zwar werden die Arten des Ausdrucks der Einteilung zugrunde gelegt, aber die Frage, in welch verschiedener Weise, und die andere, ob mehr oder weniger die verschiedenen Künste Ideen zum Ausdruck bringen, wird nicht aufgeworfen. Ich erinnere an die Verwertung der platonischen Ideenlehre in Schopenhauers Ästhetik. K a n t spricht recht im allgemeinen von ästhetischen Ideen ohne schärfere Bestimmungen. So wird vom Redner wie vom Dichter gesagt, daß sie mit Ideen spielen, Plastik und Malerei machen Gestalten im Räume zum

Kritik der Urteilskraft

177

Ausdruck von Ideen, der Dichtung wird ihre Gedankenfülle nachgerühmt, die Darstellung erhebt sich ästhetisch zu Ideen, die Tonkunst teilt allgemein ästhetische Ideen mit, die assoziativ hervorgerufen werden, sie drückt „die ästhetische Idee eines zusammenhängenden Ganzen einer unnennbaren Gedankenfülle, einem gewissen Thema gemäß, welches den in dem Stücke herrschenden Affekt ausmacht", aus; zweierlei Arten des Spiels mit ästhetischen Ideen oder auch Verstandesvorstellungen sind Musik und Stoff zum Lachen. Diese Zusammenstellung zeigt wohl, daß Kant wenig Mühe auf die Durchführung des Ideenprinzips verwandt hat. E r spricht j a auch nur von einem „Versuch". Nach alledem drängt sich die Erkenntnis auf, daß keine prinzipielle Klarheit über das Verhältnis von Natur- und Kunstschönheit gewonnen ist. Ein persönlicher und rein sachlicher Grund läßt sich für dies Versagen angeben. Wie das erste Kapitel gezeigt hat, fehlte es Kant für die große Mehrzahl der Künste an einem inneren Verhältnis. Letzte Ergebnisse künstlerischen Genießens waren ihm fremd. Die Welt seines tiefsten Erlebens war nun einmal die moralische. Der in ihr waltende Ernst war durch künstlerische Gestaltung nie ganz auszudrücken. Kunst blieb doch immer Menschenwerk und wandte sich irgendwie an die Sinne. Auch wirkte wohl noch immer der Gedanke Rousseaus nach, daß Kunst ein Erzeugnis des Luxus sei und zur Überfeinerung und Künstelei führe. Der zweite Grund lag in dem Unternehmen, ein Apriori für das Geschmacksurteil nachzuweisen. Nun ließ das Erlebnis der Naturschönheit dem Spiel der Erkenntniskräfte gewisse Freiheit, seine Reinheit war nicht gefährdet. Darin lag zugleich ein Kriterium für die Erlebnisse der Kunstschönheit. So erscheint denn die Natur als das Ideal, dem der Künstler in seinen Werken nachzustreben hat. Gelingt ihm die Nachahmung der Natur, so bleibt doch dieser das Verdienst. Diesen Gedanken mußten aber doch die anderen entgegenwirken. In der Lehre vom Genie trafen sie aufeinander. Das Schaffen desselben gründete schließlich in dem übersinnlichen Substrat aller seiner Vermögen. Seine Größe lag in dem Reichtum an ästhetischen Ideen. Wie nahe lag doch hier der Gedanke, in der Kunst eine Deuterin der Naturschönheit zu sehen. Tatsächlich wendet Kant dann auch die Definition der Kunst als Ausdruck ästhetischer Ideen auf die Natur an. Hätte er auf dieser Grundlage einen Vergleich zwischen Natur und Kunst vollzogen, so hätte er wohl zugunsten der letzteren ausfallen müssen, weiß sie doch nicht nur von der Schönheit der Natur, sondern auch von den „geheimen tiefen Wundern" unseres Innern Kunde gibt. Solche Folgerungen hat Kant nicht vollzogen, es ist dies einer der nicht seltenen Fälle, wo er in Anschauungen befangen blieb, über die seine theoretischen Einsichten ihn hätten hinausführen müssen.

KUNST ALS WELT D E S

SCHEINS

Der Gedanke von der Welt der Kunst als einer Welt des Scheins enthält eine Fülle von Problemen in sich, die hier nur so weit erörtert werden können, als dadurch Kants Stellung zu dieser Frage deutlich bestimmt werden kann. Eine 12

Menzer, Kants Ästhetik

178

Kritik der Urteilskraft

erkenntnistheoretische Überlegung, die von der Subjekt-Objekt-Beziehung auszugehen hat, wird Schein nach diesen beiden Seiten zu betrachten haben. Dann ist klar, daß er für ein auffassendes Bewußtsein besteht, also subjektiv ist. Die Lehre vom Schein findet demnach in einer subjektiven Ästhetik von vornherein ihren Platz. In diesem Sinne führt Kants Lehre vom interesselosen Wohlgefallen zu ihr. Da durch sie die Beziehung des Willens zum Gegenstande, die einzige, in der Wirklichkeit unmittelbar gegeben ist, aufgehoben wird, wird das ästhetische Erlebnis zu einem Spiel der Vorstellungskräfte, das unabhängig vom Gegenstande stattfindet. So drängt sich der Gedanke vom Schein ohne weiteres auf. Andererseits ist der Schein doch wieder nicht ganz von dem zu sondern, wovon der Schein eben nur ein Bild gibt. Diese Scheinwirklichkeit der künstlerischen Gebilde zeigt aber nun einen recht verschiedenen Charakter. Der Bildhauer und Maler schafft eine Welt des Scheins, aber an Gegenständen, die mit den Sinnen als wirkliche erfaßt werden können, und wieder anders ist die Scheinwelt der Bühne zu verstehen. In diesen Fällen bleibt Wirklichkeit doch immer noch in der Nähe. Anders ist es mit der Dichtung und Musik. Während es für die letztere keine Wirklichkeit gibt, als deren Scheindarstellung sie aufgefaßt werden kann, können die verschiedenen seelischen Vorgänge, die die Dichtung darstellt, doch irgendwie nach ihrer Möglichkeit an den Erfahrungen und dem Wissen von seelischen Erlebnissen geprüft werden. Eine Theorie des ästhetischen Scheines müßte nun auf Grund einer Lehre über den Grund unseres Vergnügens an einem solchen diese verschiedenen Arten des Scheines und seine Wirkungen auf die Seelen der Menschen untersuchen. Solche Illusionstheorien sind im 19. Jahrhundert von E. v. Hartmann und K. Lange ausgebildet worden. Die rationale Ästhetik stand der Lehre vom Schein im allgemeinen ablehnend gegenüber, eine Haltung, die verständlich ist, wenn man bedenkt, daß das Schöne letzthin auf ein Rationales hinweist. Die Lehre von den Fiktionen führte aber naturgemäß in die Nähe einer Lehre vom Schein. Die Untersuchung über deren Berechtigung geschah unter dem Gesichtspunkt der ästhetischen Wahrscheinlichkeit oder mit der Frage nach dem erlaubten Wunderbaren. Die Tendenz war aber doch immer, das Recht des Dichters zu beschneiden und den Gebrauch der Fiktionen einzuschränken auf solche, die nicht allzu weit von dem natürlichen Ablauf der Dinge abwichen. Stärker mußte die englische Ästhetik nach ihrem subjektiven Charakter zur Lehre vom Schein führen. So hat Home versucht, die Wirkung einer idealen Gegenwart in Kunstwerken zu erklären, Mendelssohn und Lessing haben dann die Scheinwirklichkeit der Kunst, besonders der Dichtung zum Beispiel in der Theorie des Tragischen betont. Bei ihnen tritt nun eine eigentümliche Antinomie auf. Sie betonen und verlangen, daß die Welt der Kunst eine Welt des Scheines sei, aber nicht, um eine volle Hingabe und ein volles Leben in ihr zu fordern, sondern vielmehr, um den Menschen niemals im Zweifel zu lassen, daß es nur eine Scheinwelt sei, die sein Verstand jederzeit als eine solche erkennen und deshalb zerstören müsse, um sich zeitig von falschen Illusionen und zu starken Emotionen lösen zu können,

Kritik der Urteilskraft

17g

sich auf sich selbst zu besinnen und gegebenenfalls einen moralischen Gewinn für sich daraus zu ziehen. An dieser Stelle zeigt sich nun noch einmal, wie eng Kant doch mit dieser Aufklärungsästhetik verbunden blieb. Auch bei ihm finden wir keine systematisch ausgebildete Lehre vom ästhetischen Schein. Der Gedanke vom Schein wird für die Einteilung der Künste verwertet. Der Redner und der Dichter spielen beide mit Ideen, der erstere so, daß er ein Geschäft ankündigt und es so ausführt, als ob es bloß ein Spiel sei, der letztere kündigt ein solches an, aber es kommt etwas für den Verstand heraus. Dann aber werden Rhetorik und Dichtkunst nach ihrem ästhetischen Wert verglichen, und da wird die Wendung vom „Spiel mit dem Schein" gebraucht. Von der Dichtkunst wird hier gesagt, daß sie damit spiele, „ohne doch dadurch zu betrügen", und an anderer Stelle heißt es, daß in „ihr alles ehrlich und aufrichtig zugehe". Der Rednerkunst aber wird vorgeworfen, daß sie zu Unrecht mit ernsten Dingen spiele. „Wenn es um bürgerliche Gesetze, um das Recht einzelner Personen oder um dauerhafte Belehrung und Bestimmung der Gemüter zur richtigen Kenntnis und gewissenhaften Beobachtung ihrer Pflicht zu tun ist, so ist es unter der Würde eines so wichtigen Geschäftes, auch nur eine Spur von Üppigkeit des Witzes und der Einbildungskraft, noch mehr aber von der Kunst, zu überreden und zu irgend jemandes Vorteil einzunehmen, blicken zu lassen." Wie weit dies Urteil über die Rhetorik richtig ist, mag hier ununtersucht bleiben; bedenklich ist es, wenn wir die Nutzanwendung auf die Dichtung machen. Ihr müßte dann wohl verboten sein, da sie ja nur Spiel mit Ideen ist, ethische und politische Probleme zu behandeln. Dementsprechend würde Marquis Posas Rede für Gedankenfreiheit unter dies Verdikt fallen, ebenso wie die Lehre von der Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet. Das der Dichtung erteilte Lob verliert dann aber wohl an seinem Wert. Hier füge ich eine Bemerkung Kants über den Begriff der Naivität an. Im Vergnügen an ihr sind vereinigt das geistige Gefühl der Achtung für moralische Ideen und das des „minder edlen Geschmacks". Sie ist der „Ausbruch der der Menschheit ursprünglichen Aufrichtigkeit wider die zur anderen Natur gewordenen Darstellungskunst". Dieser Gegensatz wird dann auch durch die Gegenüberstellung: „der schöne, aber falsche Schein" und „unverdorbene schuldlose Natur" ausgedrückt. In einem anderen Sinne wird der Gedanke vom Schein verwertet, um die bildenden Künste zu unterscheiden. Plastik ist Kunst der Sinnenwahrheit, Malerei des Sinnenscheines, die Gestalt in ihrer körperlichen Ausdehnung oder nach ihrer Apparenz in der Fläche. Die Malerei stellt den Sinnenschein künstlich mit Ideen verbunden dar. Und um die Lustgärtnerei mit ihr verbinden zu können, wird von dieser, die doch die Dinge nach ihrer Wahrheit gibt, gesagt, daß dies nur „Schein von Benutzung und Gebrauch zu anderen Zwecken, als bloß für das Spiel der Einbildung in Beschauung ihrer Formen" sei. Während Sinnenschein bei der Malerei doch eigentlich nur im technischen Sinne gemeint sein kann, wird im zweiten Fall von ästhetischem Schein gesprochen. 12*

i8o

Kritik der Urteilskraft

Nach alledem ist wohl klar, daß die Lehre vom Schein in Kants Ästhetik eine nur untergeordnete Rolle spielt, die nur lose mit seiner Theorie verbunden ist. Ebenso ist deutlich, daß auch er geneigt ist, den schönen Schein als eine Art Betrug aufzufassen und ihn nur da dulden will, wo er ungefährlich ist. Und diese Abneigung wird noch verstärkt durch seine moralisierende Betrachtung. DIALEKTIK DER ÄSTHETI SCHEN

URTEILSKRAFT

Man wird zuerst geneigt sein die „Dialektik der ästhetischen Urteilskraft" nur verstehen zu wollen aus dem durch die „Kritik der reinen Vernunft" gegebenen und auf die „Kritik der praktischen Vernunft" angewandten Schema. Und man wird enttäuscht sein über die Künstlichkeit dieser dritten Dialektik. Sie wird so eingeführt. Die Urteilskraft muß vernünftelnd sein, d. h. ihre Urteile müssen auf Allgemeingültigkeit a priori Anspruch machen. Wo dies nicht der Fall ist, gibt es keine Dialektik, also nicht beim Sinnenurteil und auch nicht bei Geschmacksurteilen, bei denen jeder sich nur auf seinen eigenen Geschmack beruft und einschränkt. So kann der Streit nur über die Begründung des ästhetischen Geschmackes entstehen oder, wie Kant sagt, „in Ansehung der Prinzipien". Es ist also eine Antinomie der Prinzipien. So entsteht die Antinomie: 1. Thesis: Das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf Begriffen; denn sonst ließe sich darüber disputieren (durch Beweise entscheiden). 2. Antithesis: Das Geschmacksurteil gründet sich auf Begriffen; denn sonst ließe sich, ungeachtet der Verschiedenheit desselben, darüber auch nicht einmal streiten. Wie bei jeder Antinomie muß der Schein entdeckt werden, wenn sie aufgehoben werden soll. Der Schein hat darin seinen Ursprung, daß man „Begriff" nicht in einerlei Sinne braucht. Eine Umformung zum Zwecke der Auflösung dieses Scheines ergibt die Sätze: Thesis: das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf bestimmten Begriffen. Antithesis: das Geschmacksurteil gründet sich doch auf einem, obzwar unbestimmten Begriffe. Bedeutsam ist, daß in der Antithesis von einem unbestimmten gesprochen wird, während die Thesis den Plural hat. Die Erinnerung an die Analytik stellt wohl außer Frage, daß Kant dort nicht den Singular anwandte. Welches dieser Begriff sei, wird uns sehr bald gesagt: „Das subjektive Prinzip, nämlich die unbestimmte Idee des Übersinnlichen in uns, kann nur als der einzige Schlüssel der Enträtselung dieses uns selbst seinen Quellen nach verborgenen Vermögens [des Geschmacks] angezeigt, aber durch nichts weiter begreiflich gemacht werden." Der Leser, der die Antinomie mit gemischten Gefühlen gelesen und sich nicht ohne Grund gesagt hat, daß nach dem, was die Analytik über den erkenntnistheoretischen Charakter der Geschmacksurteile festgesetzt hat, eigentlich ein solcher Schein unmöglich und damit die ganze Antinomie überflüssig ist, wird an dieser Stelle aufhorchen und ahnen, daß sich ihm hier neue Einsichten in die

Kritik der Urteilskraft

181

letzten Gedanken der Kantischen Ästhetik eröffnen. Und so ist denn diese Antinomie nicht nach dem, was sie für sich allein betrachtet, bringt, zu beurteilen. Der Gedanke an das überlieferte Schema genügt allein auch nicht, sondern man muß sich klar darüber sein, daß die Lösung der Antinomien in der „ K r i t i k der reinen Vernunft" entscheidend war für das gesamte Philosophieren Kants, und diese Lösung war der Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus. In dieser Beleuchtung wird die Bedeutung der Anmerkung V zu § 57 ohne weiteres klar. Es gibt ,,dreierlei Arten der Antinomie der reinen Vernunft, die aber alle darin übereinkommen, daß sie dieselbe zwingen, von der sonst natürlichen Voraussetzung, die Gegenstände der Sinne für die Dinge an sich selbst zu halten, abzugehen, sie vielmehr bloß für Erscheinungen gelten zu lassen und ihnen ein intelligibles Substrat (etwas Übersinnliches, wovon der Begriff nur Idee ist und keine eigentliche Erkenntnis zuläßt) unterzulegen". Daß es drei Antinomien gibt, folgt aus der Dreizahl der Erkenntnisvermögen, ihr gemeinsames Thema ist das Übersinnliche, es ergeben sich drei Ideen: 1. das Übersinnliche überhaupt als Substrat der Natur, 2. als Prinzip der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur, 3. als Prinzip der Zwecke der Freiheit und Prinzip der Übereinstimmung derselben mit jener im Sittlichen.

DAS

ÜBERSINNLICHE

Eine besondere Erörterung verlangt an dieser Stelle der Begriff des Übersinnlichen. Er fehlt noch in der „Kritik der reinen Vernunft" und tritt meines Wissens zum erstenmal in der Vorrede zu deren zweiten Auflage auf, die in zeitlicher Nähe zur „Kritik der praktischen Vernunft" steht. Dazwischen liegt die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", die die Wirklichkeit der Freiheit erweist und die Idee eines Reiches der Zwecke entwickelt. In der zweiten Kritik findet sich nun eine vielfache Verwertung des Wortes „übersinnlich". In der Verteidigung seiner Lehre von dem verschiedenen Erfolg der spekulativen und der reinen praktischen Vernunft spricht Kant geradezu von dem „übersinnlichen Gebrauch" der Kategorien, schränkt diesen dann allerdings insofern ein, als er später sagt, daß praktische Vernunft ... einem übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Kausalität, nämlich der Freiheit, Realität verschafft. (V, 5f.) So spricht er von dem „Grundgesetz einer übersinnlichen Natur, das das moralische Gesetz ist, und vergleicht die urbildliche (Natura „archetypa") mit der nachgebildeten (Natura ectypa). (V, 43.) An anderer Stelle findet sich die Wendung von der „großen Erweiterung im Felde des Übersinnlichen" durch die Idee der Freiheit. (V, 103.) Die erste Einleitung zur „Kritik der Urteilskraft" verwendet ebenfalls den Begriff des Übersinnlichen, und zwar in Übereinstimmung mit dem Gebrauch im Werke selbst, aber es fehlt die programmatische Erklärung in Abschnitt I X der zweiten Vorrede. Darauf ist schon an früherer Stelle hingewiesen worden; hier sei noch einmal in übersichtlicher Form die verschiedene Bedeutung der Erkenntnisvermögen für das „übersinnliche Substrat" angezeigt:

182

Kritik der Urteilskraft

1. Verstand - unbestimmt, 2. Urteilskraft - bestimmbar, 3. Vernunft - bestimmt. Z u 1. genügt es, darauf hinzuweisen, daß das übersinnliche Substrat hier identisch ist mit dem, was K a n t früher das Ding an sich oder Nooumenon im negativen Verstände nannte, mit der bekannten Begründung, daß Erscheinung auf etwas hinweist, das erscheint. In der „ K r i t i k der praktischen Vernunft" heißt es einmal ganz deutlich: „in Ansehung der Sachen an sich selbst (des Übersinnlichen"). (V, 56.) Das Hauptinteresse muß sich aber nun der Verwendung des gedachten Begriffes in der „ K r i t i k der Urteilskraft" zuwenden. Ich zitiere noch einmal, und zwar mit einigen von mir vorgenommenen Sperrungen den entscheidenden S a t z : „ D i e Urteilskraft verschafft durch ihr Prinzip a priori der Beurteilung der Natur nach möglichen besonderen Gesetzen derselben, ihrem übersinnlichen Substrat {in uns und sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellektuelle

Vermögen."

Auffallen muß, daß mit der Wendung „nach möglichen besonderen Gesetzen" streng genommen nur die teleologische Urteilskraft gemeint sein kann. E s liegt hier eine ungenaue Formulierung vor, es kann aber kein Zweifel sein, daß sie auch für die Funktion der ästhetischen Urteilskraft gelten soll. D a s ergibt sich ja deutlich aus der Unterscheidung: in und außer uns. K a n t setzt also ein übersinnliches Substrat der Natur in uns voraus. Uber den Ursprung dieses Gedankens kann kein Zweifel sein. E s ist das Bewußtsein der Freiheit, und es genügt auf die berühmte Anrede an die Pflicht hinzuweisen, wo mit dem Gedanken der Persönlichkeit der von der Zugehörigkeit zur intelligiblen Welt verbunden wird. Aber was bedeutet das Übersinnliche „in uns" innerhalb der Ästhetik? E s tritt in recht verschiedener Bedeutung auf. Ganz allgemein wird schon in der ersten Einleitung gesagt, daß die Gemütskräfte „nicht allein aufs Sinnliche, sondern auch aufs Übersinnliche bezogen sind". ( X X , 244.) Oder es wird „ v o n der übersinnlichen Bestimmung der Gemütskräfte des Subjekts" zur Erregung eines Gefühles der Zweckmäßigkeit gesprochen. ( X X , 250.) Weiter wird die Gültigkeit der ästhetischen Urteile auf einen Bestimmungsgrund zurückgeführt, der „als das übersinnliche Substrat der Menschheit" bezeichnet wird, und abschließend heißt es: „ D a s subjektive Prinzip, nämlich die unbestimmte Idee des Übersinnlichen in uns, kann nur als der einzige Schlüssel der Enträtselung dieses uns selbst seinen Quellen nach verborgenen Vermögens angezeigt werden." (V, 341.) Und dem Sinne nach übereinstimmend wird an anderer Stelle gesagt, daß der Geschmack „auf das Intelligibele" hinaussieht. (V, 353.) Welche Rolle der Gedanke vom „übersinnlichen Substrat" in der Genielehre spielt, wurde früher gezeigt. Zur Ergänzung sei noch kurz auf die Funktion des Übersinnlichen in der teleologischen Urteilskraft hingewiesen. Hier wird es zur Lösung der Antinomie zwischen mechanischer und teleologischer Erklärungsart verwertet, es ist „das gemeinschaftliche Prinzip beider Ableitungen, welches wir der Natur als Phänomen unterlegen müssen". (V, 412.) A n anderer Stelle wird von der

Kritik der Urteilskraft

183

Möglichkeit aus, Produkte der Natur nach dem Begriff der Endursachen zu betrachten, weiter geschlossen, daß „die Einheit des übersinnlichen Prinzips... für das Naturganze als System ... als gültig betrachtet werden muß". (V, 381.), Die Vernunftidee vom Übersinnlichen bedarf hier keiner weiteren Erörterung. Daß wir der Vernunft und ihr allein sie verdanken, hat Kant ausdrücklich auch in der dritten Kritik betont (V, 195.) Die Darstellung hat aber gezeigt, daß der Gedanke vom Übersinnlichen eine Verwertung auch in der Ästhetik findet. Sieht man näher zu, so zeigt sich, daß Kant meist vom Übersinnlichen in uns spricht. In der Analytik des Schönen, wo die Rede vom Übersinnlichen außer uns sein könnte, findet es sich nicht, wohl aber in der des Erhabenen, aber da handelt es sich nach der Theorie dieses Gefühls ja nicht um die erhabene Natur, sondern um das Gemüt, das, durch die Natur angeregt, sich zu seiner übersinnlichen Bestimmung erhebt. Auffallen muß die Verwertung des Übersinnlichen in der teleologischen Urteilskraft. Wir erinnern uns, daß Kant es für möglich hielt, die logische Beurteilung der Natur der theoretischen Philosophie anzuhängen. Dann aber müßte das übersinnliche Substrat der Natur unbestimmt bleiben, da der Verstand ja mehr nicht geben kann. Eine Vereinigung der beiden Prinzipien in einem ihnen übergeordneten wäre unmöglich, es fehlt ja die Bestimmbarkeit. So ist ja auch Kant in der „Kritik der reinen Vernunft" bei Erörterung des Problems der Teleologie bei dem Nebeneinander der Prinzipien stehengeblieben. Wenn er jetzt darüber hinausgeht oder, richtiger vielleicht, hinausgehen kann, so hat ihm die praktische Philosophie den Weg gebahnt. Darin liegt ein neuer Beweis für die Ansicht, daß die Idee des Endzweckes die Teleologie beeinflußt und die Lösung ihrer Probleme ermöglicht habe. Dieser Zusammenhang wird am Schluß des § 82 deutlich. Nachdem die beiden Prinzipien noch einmal charakterisiert sind, wird ihre Vereinbarkeit gesehen „in dem übersinnlichen Prinzip der Natur (sowohl außer uns als in uns)". Auffallen muß der Zusatz „in uns", denn für die logische Betrachtung der Natur ist diese Art des Übersinnlichen schlechterdings nicht notwendig. In der weiteren Ausführung wird aber dann von den Zwecken der Vernunft gesprochen, „die übersinnlich sind." Niemand wird leugnen wollen, daß der Gedanke des Übersinnlichen eine metaphysische Idee ist. Als Kausalität im vernünftigen Wesen und damit im Menschen ist das Übersinnliche aber mehr als eine Idee, es ist wirklich, es ist wirkende Kraft. Das gleiche gilt nun auch von dem „Übersinnlichen in uns", wie es die dritte Kritik kennt. Mag es allgemein im Geschmacksvermögen, in der Bestimmung des Gemüts, im Erlebnis des Erhabenen, in der schöpferischen Kraft des Genies gesehen werden, überall muß es als eine wirkende Kraft aufgefaßt werden, die nach der Idee, die schließlich die Vernunft gibt, hinstrebt. Mindestens muß es die Tendenz über das Sinnliche hinaus zum Übersinnlichen hin in sich tragen. Wäre dies nicht der Fall, wie könnte dann das ästhetische Erlebnis jene Kluft überspannen? Damit ist der Übergang zur Besprechung der beiden letzten Paragraphen vorbereitet. Die Zwischenstellung der Kritik der Urteilskraft stellt die weitere Auf-

Kritik der Urteilskraft gäbe, deren Ergebnisse an der theoretischen und der praktischen Philosophie zu erläutern und mit ihnen in Beziehung zu setzen. Daraus ergeben sich die Inhalte der §§58 und 59, deren ersterer die Verbindung mit der Erkenntnistheorie, der zweite mit der Ethik herstellt. VOM I D E A L I S M U S D E R Z W E C K M Ä S S I G K E I T D E R NATUR SOWOHL ALS

KUNST

Zuerst werden die beiden einander entgegengesetzten Standpunkte eines Empirismus und eines Rationalismus auch für die Kritik des Geschmacks unterschieden. Dieser ist dann entweder mit einem Realismus oder einem Idealismus der Zweckmäßigkeit verbunden zu denken. Der erstere würde eine A b sicht der Natur voraussetzen, unserer Einbildungskraft den Stoff für ihre Tätigkeit zu bieten. Ihm „reden die schönen Bildungen im Reiche der organisierten Natur gar sehr das W o r t " . Kant faßt unter dem Namen der freien Bildung der Natur die Erscheinungen der Kristallisation und andere der anorganischen Natur zusammen, um dann aber die Möglichkeit einer rein mechanischen Erklärung zu erweisen, und meint, daß z. B. auch die Schönheit der Blumen aus chemischen Gesetzen abgeleitet werden könne. Die Entscheidung fällt also zugunsten des Idealismus aus, und zwar so entschieden, daß er schließlich von einer „ G u n s t " spricht, „womit wir die Natur aufnehmen, nicht Gunst, die sie uns erzeigt." Selbstverständlich gilt das Prinzip des Idealismus auch für die schöne Kunst. Der Schluß dieses Paragraphen zieht dann ganz deutlich die Parallele zwischen der Lehre von der Idealität der Gegenstände der Sinne als Erscheinungen und diesem Idealismus der Zweckmäßigkeit. Nur so ist in beiden Fällen die Möglichkeit apriorischer Urteile zu erklären. Hatte dieser Paragraph eigentlich nur eine Betrachtung hinzugefügt, deren Ergebnis der Leser leicht selbst ziehen konnte, da es ja eigentlich vorher schon ausgesprochen war, so eröffnet uns die Lehre „Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit" einen neuen Ausblick. Kant unterscheidet zwei Arten der Versinnlichung, und zwar eine solche der reinen Verstandesbegriffe und eine solche der Vernunftbegriffe. Von der ersteren handelt der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe. Eine solche schematische Versinnlichung ist bekanntlich für Vernunjtbegriffe nicht möglich, und es bleibt nur eine symbolische, „da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche untergelegt wird". Und weiter: „die Urteilskraft verrichtet ein doppeltes Geschäft, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden." Symbolisch ist die Darstellung des monarchischen Staates nach inneren Volksgesetzen durch einen beseelten Körper, des absoluten durch eine Handmühle. Symbolisch ist alle unsere Erkenntnis von Gott. Und

Kritik der Urteilskraft

185

dann heißt es mit besonderer Betonung: „Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlich-Guten; und auch nur in dieser Rücksicht (einer Beziehung, die jedermann natürlich ist und die auch jedermann anderen als Pflicht zumutet) gefällt es, mit einem Ansprüche auf jedes anderen Beistimmung, wobei sich das Gemüt zugleich einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneseindrücke bewußt ist . . . Das ist das Intelligibele . . . worauf der Geschmack hinaussieht." Ein Verständnis dieser Lehre muß aus der doppelten Funktion der Urteilskraft gewonnen werden, wobei die Einführung eines von Kant gegebenen Beispieles Hilfe leisten kann. Erstens wendet sie einen Begriff (despotischer Staat) auf einen Gegenstand sinnlicher Anschauung an, zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung (Handmühle) auf einen ganz anderen Gegenstand (despotischer Staat), von dem der erstere (Handmühle) nur das Symbol ist. Da die Anwendung im ersteren Sinne nicht ganz willkürlich sein kann, so muß irgendeine Ähnlichkeit sich auffinden lassen, die j a in einer Betrachtung nach der Analogie Bedingung ist. In unserem Falle ist sie in der Gleichartigkeit der Kausalität zu sehen. Sie ist die Regel für die Reflexion, die sich auf Begriff und anschaulich gegebenen Gegenstand ausbreitet. Nach diesen Bestimmungen mußte Kant nun zeigen, inwiefern das Schöne ein Symbol des Sittlichen sein könne. Worin lag die Ähnlichkeit? In vier Punkten wird die Analogie gesehen. Ich stelle sie schematisch zusammen: Schönheit

Sittlichkeit

I. Das unmittelbare Gefallen in der reflektierenden Anschauung - im Begriff I I . Gefallen ohne alles Interesse

- mit Interesse, aber vor dem Urteil über das Wohlgefallen

Freiheit des Willens I I I . Freiheit der Einbildungskraft (Gesetzmäßigkeit des Verstandes) - (allgemeines Vernunftgesetz) IV. subjektive Allgemeinheit

- objektive Allgemeinheit.

Damit wäre also Ähnlichkeit festgestellt. Die Frage ist nur: wo zwischen? Offenbar zwischen den ästhetischen und den ethischen Urteilen, die in ihrem Charakter gewisse Übereinstimmungen zeigen. Das hätte dann Anlaß geben können, die Frage nach einem symbolischen Ausdruck zu stellen. Der Weg mußte dann der sein, daß das Intelligible in einem anschaulich gegebenen Gegenstande wiedergefunden wurde. Das hat Kant aber keineswegs geleistet. Er hat nicht gezeigt, wie dieser Vernunftbegriff eine indirekte Darstellung in einer Anschauung eine symbolhafte Versinnlichung findet. Das zeigen seine Beispiele. E r geht von unten nach oben, er beruft sich auf den gemeinen Verstand, der „Gebäude oder Bäume majestätisch und prächtig oder Gefilde lachend und fröhlich; selbst Farben werden unschuldig, bescheiden, zärtlich genannt, weil sie Empfindungen erregen, die etwas mit dem Bewußtsein eines

i86

Kritik der Urteilskraft

durch moralische Urteile bewirkten Gemütszustandes Analogisches enthalten". In allen diesen Bezeichnungen ist der Vorgang doch der, daß sich mit den ästhetischen Urteilen verwandte ethische verbinden, wie Kant schon in den „Beobachtungen" gezeigt hatte. Er hat die Aufgabe, die in der Überschrift dieses Paragraphen gestellt wird, nicht gelöst. Dafür läßt sich auch der Grund angeben. Er liegt in der soeben charakterisierten Lehre vom Idealismus der Zweckmäßigkeit. Hätte Kant an seiner Theorie vom Symbol festgehalten, so hätte er zeigen müssen, wie in einem in der Anschauung gegebenen Gegenstand das InteOigible sich ausdrückt. Das würde erstens bedeuten, daß Schönheit eine objektive Eigenschaft von Naturdingen und Kunstwerken und daß die an ihnen haftende Schönheit ein Ausdruck des Sittlichen sei. Eine große Anzahl von Problemen und Möglichkeiten ergab sich hier. Es konnte die viel erörterte Frage nach dem Zusammenhang der körperlichen und der geistigen Schönheit des Menschen untersucht werden. Ein Weg hätte auch zu einer ästhetischen Naturauffassung im Sinne Shaftesburys geführt, die das Schöne mit dem Guten in der Natur vereinigt sah. Auffallen muß auch hier die Vernachlässigung der Kunst. Sollte es dem Dichter nicht möglich sein, in seinen Helden und ihren Taten im Sinne der Kantischen Lehre sittliche Ideen zu verkörpern, das Intelligible in uns der Anschauung nahezubringen? Hier lagen für ihn Grenzen, die ihm seine Natur oder die er selbst der Natur gezogen hatte. Schließlich muß aber doch eine Rechtfertigung dafür gefunden werden können, daß Kant von dem Symbolcharakter der Schönheit sprechen zu dürfen glaubt. Wir sahen schon, daß er die Ähnlichkeit in den beiden Urteilsarten sah; näher kommen wir seiner Meinung, wenn wir von der Ähnlichkeit der Gemütszustände sprechen. Er sagt, daß das Gemüt im ästhetischen Wohlgefallen „sich einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke bewußt ist". Hier ist also die Ähnlichkeit zu finden, und sie weist hin auf ein Gemeinsames, das Intelligible. So läßt sich also verstehen, wie Kant es gewissermaßen in sinnlicher Verkleidung in der Schönheit sehen konnte. Der Weg führte aber auch hier von unten nach oben. Mehr als Ahnung eines höheren Zusammenhanges wollte er nicht aussprechen. „Die Urteilskraft gibt in Ansehung der Gegenstände eines so reinen Wohlgefallens ihr selbst das Gesetz... und sieht sich, sowohl wegen dieser inneren Möglichkeit im Subjekt, als wegen der äußeren Möglichkeit einer damit übereinstimmenden Natur auf etwas im Subjekte selbst und außer ihm, was nicht Natur, auch nicht Freiheit, doch aber mit dem Grunde der letzteren, nämlich dem Übersinnlichen verknüpft ist, bezogen, in welchem das theoretische Vermögen mit dem praktischen auf gemeinschaftliche und unbekannte Art zur Einheit verbunden wird." Man beachte die Unbestimmtheit und Vorsicht der Formulierung. Der Satz von der Schönheit als einem Symbol der Sittlichkeit kann als die klassische Formel bezeichnet werden, durch die der Charakter der Kantischen Ästhetik ausgeprochen wird. Daß die Schönheit nur ein Symbol der Sittlichkeit genannt wird, sichert ihr die Autonomie. Die Lust an der Form der Gegenstände

Kritik der Urteilskraft

jg^

verfällt nicht der sittlichen Beurteilung. Diese Lust ist aber anderseits nicht ein passives Aufnehmen, vielmehr das Gefühl von der Spontaneität der Erkenntniskräfte. Hier ist der Punkt, wo das ästhetische Gefühl sich mit dem moralischen berührt, da beide ihren Grund im Bewußtsein einer Freiheit haben. Das ästhetische Freiheitsgefühl „befördert die Empfänglichkeit des Gemüts für das moralische Gefühl". (V, 197.) Es hilft also die K l u f t zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs und dem des Freiheitsbegriffs überwinden. Es wäre nun möglich gewesen, im Sinne einer wertphilosophischen Betrachtung eine Ordnung der ästhetischen Werte zu geben, wie dies Plotin oder Schopenhauer getan haben. Ein Ansatz dazu läßt sich bei Kant in der Unterscheidung der freien und anhängenden Schönheit beobachten. Der Gedanke blieb aber unfruchtbar, da er durch die erkenntnistheoretische Bemühung um ein reines Geschmacksurteil in seiner Entwicklung gehemmt wurde. Auch fehlt eine tiefere Untersuchung der verschiedenen Künste nach den ihnen eigentümlichen Mitteln und Ausdrucksmöglichkeiten. Ebenso stand einer rein ästhetischen Wertordnung die mindere Einschätzung der Schönheit der Kunst gegenüber der der Natur im Wege. Überhaupt hat ja die Darstellung an verschiedenen Stellen gezeigt, daß Kant auf eine moralisierende Betrachtung doch nicht ganz verzichtet hat. Von dieser Seite her gesehen, war die Zwischenstellung für die Ästhetik eine Gefahr. Anderseits erhielt sie dadurch eine neue Würde, die sie über die Bewertung seitens der Aufklärung weit emporhob. Man könnte auch an der Unbestimmtheit, in der der Symbolcharakter des Schönen gehalten wird, Anstoß nehmen. Kant konnte und wollte nicht weitergehen, weil er die Sphäre des Sittlichen in seiner Würde bestehen lassen wollte. Es ist aber möglich, in solch einer behutsamen Haltung eine tiefe Erkenntnis zu sehen. Liegt doch das Geheimnis künstlerischer Erlebnisse eben gerade darin, daß in ihnen sich überall Bezüge zu einem Höheren auftun, die sich mehr ahnen als aussprechen lassen.

ÄSTHEXISCHE

ERZIEHUNG

Dem Bedürfnis nach abschließender Systematik einer kritischen Untersuchung folgend, fügt Kant nun in einem Anhang eine Methodenlehre des Geschmacks hinzu. Allerdings gibt es eigentlich eine solche nicht, da die Methodenlehre Vorbereitung einer Wissenschaft ist. Es gibt ja aber keine Wissenschaft des Schönen. So tritt an die Stelle der Lehrart die Manier. Hier wird nur das wiederholt, was wir aus der Lehre vom Genie schon wissen. Der Meister gibt das Muster, sklavische Nachahmung muß aber vermieden werden, auch muß er zur Kritik fähig bleiben, um selbst als Künstler wirken zu können. Als Muster werden dann die Humaniora genannt. Dabei wird als Voraussetzung für die Kunst ein Zeitalter „angemessener Geselligkeit" unter den Menschen bezeichnet und den Alten nachgerühmt, daß sie um die Vereinigung von Freiheit und Zwang gerungen haben. Dieser Vereinigung entspricht dann eine Kunst, die den ausgebildeten Teil des Volkes mit dem rohen verbindet und

i88

Kritik der Urteilskraft

„dasjenige Mittel zwischen der höheren Kultur und der genügsamen Natur zuerst erfindet, welches den richtigen, nach keinen allgemeinen Regeln anzugebenden Maßstab auch für den Geschmack als allgemeinen Menschensinn ausmacht". Diese nur andeutungsweise ausgesprochenen Ideen wollen wohl die Eigenart und Einmaligkeit der griechischen Kunst aus einem glücklichen sozialen und politischen Ausgleich zwischen den Volksklassen ableiten. Kant bezweifelt, ob ein solcher Zustand je wieder sich herstellen lasse und meint deshalb, daß kein späteres Zeitalter jene Muster entbehrlich machen könne. Ein Schlußabschnitt fügt dann noch den entscheidenden Gedanken hinzu, „daß die wahre Propädeutik zur Gründung des Geschmacks die Entwicklung sittlicher Ideen und die Kultur des moralischen Gefühls sei". Diese Methodenlehre muß notwendig ein Gefühl der Enttäuschung zurücklassen, wenn man sich an den Satz von der Schönheit als einem Symbol der Sittlichkeit erinnert. Die Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft hatte sich die Aufgabe gestellt, dem moralischen Gesetz Eingang in das Gemüt zu verschaffen. Etwas Analoges wäre hier zu leisten gewesen, und es kann kein Zweifel sein, daß Kants Ästhetik Momente enthielt, die das „Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen" in seiner Bedeutung für die Bildung zur Persönlichkeit zu untersuchen Anlaß geben. In diesem Sinne hätten ausgewertet werden können: das interesselose Wohlgefallen, das Spiel der Erkenntniskräfte, in dem sich doch eine Aktivität der Seele kundtat, die Hinleitung zu ästhetischen Ideen, das Ideal der Schönheit in seiner Bezogenheit auf den Menschen, das Erlebnis des Erhabenen und schließlich die Vereinigung von Natur und Freiheit. Die Ernte, die hier möglich war, hat Kant nicht selbst eingesammelt, Schiller hat es getan. Dies Versagen kann aber wohl Anlaß zu einer erneuerten Untersuchung über Kants Verhältnis zu ästhetischen Erlebnissen geben, die ich durch die Fragestellung einführen will: wie dachte Kant über einer ästhetische Erziehung? Zu ihrer Beantwortung liegt ein ziemlich reichliches Material vor. Zuerst die Frage nach einer ästhetischen Erziehung, die Erziehung durch einen vielseitigen und umfassenden Genuß der verschiedenen Künste. Hier liegt eine Äußerung über den Virtuosen vor, die wohl auf Shaftesbury zurückgeht. Kant erwähnt die Meinung, daß das Interesse am Schönen ein Zeichen eines guten moralischen Charakters sei und fährt dann fort: Dem „ist aber nicht ohne Grund von anderen widersprochen worden, die sich auf die Erfahrung berufen, daß Virtuosen des Geschmacks nicht allein oft, sondern wohl gar gewöhnlich eitel, eigensinnig und verderblichen Leidenschaften ergeben, vielleicht noch weniger wie andere auf den Vorzug der Anhänglichkeit an sittliche Grundsätze Anspruch machen könnten". Kant geht hier so weit, zu sagen, daß das Gefühl für das Schöne vom moralischen Gefühl „spezifisch" unterschieden und daß das Interesse an den beiden Arten des Gefühls nicht durch „innere Affinität vereinbar sei". Dann aber erfolgt eine Einschränkung. Zwar bleibt das Verdikt über das Schöne der Kunst bestehen, aber das unmittelbare Interesse an der schönen Natur soll das Kennzeichen einer guten Seele sein. Und in der schon oben erwähnten, stark persönlichen Äußerung über den Menschen, der vor den

Kritik der Urteilskraft

189

Genüssen der Kunst sich in die Einsamkeit der Natur flüchtet, wird dann auf einen solchen das Wort von der „schönen Seele" angewandt. Diesem Gedanken, der K a n t durch Shaftesbury und Rousseau geläufig war, begegneten wir schon früher, und zwar in der Reflexion: „ D i e gefühlvolle Seele ist die größte Vollkommenheit." Wichtiger als diese unter dem noch beherrschenden Eindruck Rousseaus geschriebene Stelle ist aber wohl die Definition, die K a n t in § 67 der „Anthropologie" gegeben h a t : Nachdem er von der Schönheit gesprochen hat, sagt er in Beziehung auf sie: „Mit dem Ausdruck einer schönen Seele sagt man alles, was sich, sie zum Zwecke der innersten Vereinigung mit ihr zu machen sagen läßt; denn Seelengröße und Seelenstärke betreffen die Materie .. aber die Seelengüte die reine Form, unter der alle Zwecke sich müssen vereinigen lassen und die daher, wo sie angetroffen wird, gleich dem Eros der Fabelwelt ur schöpferisch, aber auch überirdisch ist, - diese Seelengüte ist doch der Mittelpunkt, um welchen das Geschmacksurteil alle seine Urteile der mit der Freiheit des Verstandes vereinbaren sinnlichen Lust versammelt". Diese in ihrer Präzision wundervolle Formulierung drückt mit aller Deutlichkeit aus, daß die zur harmonischen Vollendung formende K r a f t von der Güte herkommen müsse. Zugleich wird der Gedanke einer möglichen Bildung zu diesem Ideal und damit eine Erziehung zu ihm als unmöglich abgelehnt. Die Vermutung liegt wohl sehr nahe, daß wir in diesen Bestimmungen einen Gegensatz zu Schiller zu sehen haben. Ich erinnere an die bekannte Anmerkung in der zweiten Auflage der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", in der K a n t sich mit Schillers „Über Anmut und W ü r d e " auseinandersetzt. E r sagt hier, daß er dem Pflichtbegriffe keine Anmut beigesellen könne, und will vielmehr nur von dem Gefühl des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung sprechen, was uns mehr hinreißt als alles Schöne. „ D a v o n sei die Tugend als fest gegründete Gesinnung, seine Pflicht genau zu erfüllen, zu unterscheiden. Sie ist in ihren Folgen auch wohltätig, mehr wie Alles, was Natur und Kunst in der Welt leisten m a g . " Dann fährt er fort: „ U n d das herrliche Bild der Menschheit, in dieser Gestalt aufgestellt, verstattet gar wohl die Begleitung der Grazien, die aber, wenn noch von Pflicht allein die Rede ist, sich in ehrerbietiger E n t fernung halten." (VI, 23A.) A u s alledem wird deutlich, daß K a n t in einer rein ästhetischen Erziehung eine Gefahr für den Charakter sah. Der Gedanke einer schönen Seele war ihm ein überirdisches Ideal, von einem Menschen nicht zu verwirklichen. Der W e g durch das Schöne zum Sittlichen widersprach dem Ernste der moralischen Forderung. In diesem Sinne lehnte er also eine ästhetische Erziehung ab, es bleibt aber doch zu untersuchen, ob und in welchen Grenzen er sie für möglich hielt. Leider besitzen wir nicht eine systematische Pädagogik K a n t s und sind nur auf den kümmerlichen Ersatz angewiesen, den die Rinksche Veröffentlichung bietet. Dieser, der unzuverlässigste unter den Schülern Kants, hat sich über die von ihm verwerteten Manuskripte nicht näher geäußert. Der vorliegende T e x t hat keine eindeutige Disposition, ist reich an Wiederholungen und enthält Formulierungen, die aus verschiedenen Zeiten stammen. Zur Chronologie kann

jgo

Kritik der Urteilskraft

nur gesagt werden, daß Kant 1776/77 zum ersten und 1786/87 zum letztenmal eine pädagogische Vorlesung hielt. Die Ausbeute für unsere Frage ist nun sehr gering. Es wird eine physische und eine praktische Erziehung unterschieden, die letztere wird in eine solche zur Geschicklichkeit, Weltklugheit und Sittlichkeit geteilt. Bei Besprechung der ersteren wird auch der Musik gedacht, aber nur insofern sie den, der sie gelernt hat, „beliebt" macht. Für die freie Kultur der Gemütskräfte wird der wichtige Satz aufgestellt, „daß keine Gemütskraft einzeln für sich, sondern jede nur in Beziehung auf die andere müsse kultiviert werden; z. E. die Einbildungskraft nur zum Vorteile des Verstandes". (IX, 472.) An anderer Stelle zählt Kant die Gemütskräfte auf. Es sind: Erkenntnisvermögen, Sinne, Einbildungskraft, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Witz. Dann heißt es weiter: „Was die Kultur der Einbildungskraft anlangt, so ist folgendes zu merken. Kinder haben eine ungemein starke Einbildungskraft, und sie braucht gar nicht erst durch Märchen mehr gespannt und extendiert zu werden. Sie muß vielmehr gezügelt und unter Regeln gebracht werden, aber doch muß man sie auch nicht ganz unbeschäftigt lassen" (a. a. O. 475/76). An anderer Stelle wird geraten, Kindern „alle Romane aus den Händen zu nehmen". Ihre Lektüre schwäche das Gedächtnis und, „indem sie sie lesen, bilden sie sich in dem Romane wieder einen neuen Roman, da sie die Umstände sich selbst anders ausbilden, herumschwärmen und gedankenlos dasitzen" (a. a. 0. 473). Auch von der Ausbildung des Geschmackes ist einmal die Rede, und zwar in Parallele zu der des Verstandes. Das Kind soll lernen Wissen vom bloßen Meinen und Glauben zu unterscheiden: „In der Art bereitet man einen richtigen Verstand vor und einen richtigen, nicht feinen oder zarten Geschmack. Dieser muß zuerst Geschmack der Sinne, namentlich der Augen, zuletzt aber Geschmack der Ideen sein" (a. a. O. 474). Die höchste Aufgabe ist natürlich die moralische Kultur, die sich auf Maximen gründen soll (a. a. 0. 480). Mehr läßt sich aus dem dürftigen Material nicht gewinnen. Sicherlich gab die Vorlesung mehr durch Ausführung der einzelnen Gedanken, die in dem gedruckten Text mehr als Stichworte wirken. Zu verkennen ist aber nicht, daß der Geist der Vorlesung stark von dem Nützlichkeitsprinzip der Philanthropen beeinflußt ist. Von größter Bedeutung für unsere Frage ist nun die mit dem § 6g der „Anthropologie" beginnende Untersuchung, die durch die Überschrift eingeleitet wird: „Der Geschmack enthält eine Tendenz zur äußeren Beförderung der Moralität." Ausgehend von der sozialen Funktion des Geschmackes wird gesagt, daß er einmal den Menschen „gesittet, wohlanständig, manierlich geschliffen (mit Abstoßung der Rauhigkeit)" mache; das ist aber nur eine negative Bedingung. Davon wird der Kunst- oder ideale Geschmack unterschieden. Es gibt bei diesem eine äußerlich intuitive Vorstellungsart dieser Eigenschaften an einem Gegenstande oder der eigenen Person für Gehör und Gesicht (Musik und bildende Kunst) und die diskursive Vorstellungsart durch laute Sprache-oder durch Schrift (Beredsamkeit und Dichtkunst). Auch hier zieht Kant seine Trennungsstriche, er fragt deshalb nicht, was etwa Kunstübung und Kunstgenuß zur Gesittung beitragen können.

Kritik der Urteilskraft

igi

Es folgen nun anthropologische Bemerkungen, die, eine andere Unterscheidung zugrunde legend, zuerst vom Modegeschmack handeln, der aber eigentlich nicht so genannt werden dürfte, da Mode Sache der Eitelkeit ist. Der Erörterung des Kunstgeschmackes schickt Kant die Bemerkung voraus, daß eine pragmatische Anthropologie „den Menschen nach dem kennen sucht, was aus ihm zu machen ist". Allerdings schränkt er das Thema insofern ein, als er nur.von den redenden Künsten sprechen will, „weil diese auf eine Stimmung des Gemüts angelegt sind". Leider wird auch hier wieder die Erwartung enttäuscht. Die Untersuchung ist nicht eine pragmatische. Wir erhalten Betrachtungen über Geist und Einbildungskraft und Urteile über die genannten Künste, die nicht neu sind. Soweit sie Ergänzungen zur „Kritik der Urteilskraft" enthalten, sind sie früher verwertet worden. So bleibt nichts übrig, als die wenigen Bemerkungen zu unserem Thema anzuführen. Von der Dichtergabe "wird gesagt, daß von ihr großer („oft auch nachteiliger Gebrauch") im Leben gemacht werde, da sie „zum-Teil auf (obzwar süße, oft auch indirekt heilsame) Täuschung ausgeht". Wieder wird die Dichtung an die erste Stelle gerückt: „Ein gutes Gedicht ist das eindringendste Mittel der Belebung des Gemütes". Die Feststellung, daß die poetische Ader im Alter vertrockne, wird daher abgeleitet: „daß Schönheit eine Blüte, Wissenschaft aber Frucht ist, d. i. Poesie eine freie Kunst sein muß,. welche der Mannigfaltigkeit halber Leichtigkeit erfordert, im Alter aber dieser leichte Sinn (und das mit Recht) schwindet". An einer späteren Stelle wirft Kant dann noch die Frage auf, warum junge Leute mehr das tragische Schauspiel lieben, die Alten dagegen das komische bis zum burlesken. Die Antwort ist so charakteristisch, daß sie hier im Wortlaut wiedergegeben werden soll: „Die Ursache des Ersteren ist zum Teil eben dieselbe, als die, welche die Kinder treibt, das Gefährliche zu wagen: vermutlich durch einen Instinkt der Natur, um ihre Kräfte zu versuchen, zum Teil aber auch, weil bei dem Leichtsinn der Jugend von den herzbeklemmenden oder schreckenden Eindrücken, sobald das Stück geendigt ist, keine Schwermut übrig bleibt, sondern nur eine angenehme Müdigkeit nach einer starken inneren Motion, welche aufs Neue zur Fröhlichkeit stimmt. Dagegen verwischt sich bei Alten dieser Eindruck nicht so leicht, und sie können die Stimmung zum Frohsinn nicht so leicht wieder in sich hervorbringen. Ein Harlekin, der behenden Witz hat, bewirkt durch Einfälle eine wohltätige Erschütterung ihres Zwerchfelles und der Eingeweide: wodurch der Appetit für die darauf folgende gesellschaftliche Abendmahlzeit geschärft und durch Gesprächigkeit gedeihlich wird." (VII, 263.) Diese Bemerkung ist anthropologisch und deshalb ohne Werturteil. Man könnte sie deshalb hingehen lassen wollen, aber dann hat man nicht bemerkt, wie unverständlich doch die ganze Fragestellung ist. Anscheinend hat Lessings Theorie des Tragischen, obgleich sie schließlich in den Gedanken von der sittlichen Besserung durch die erregte Mitleidsempfindung hinauslief, auf Kant keinen tieferen Eindruck gemacht. In solchen Fällen ist man geneigt, nach den persönlichen Gründen eines derartigen Fehlurteils zu fragen. Eine Antwort ist auch möglich. Oberflächliche Beobachter haben von einer ursprünglich heiteren Grundstimmung Kants ge-

IQ2

Kritik der Urteilskraft

sprochen. Das Gegenteil ist richtig. Er selbst redet von einer „natürlichen Anlage zur Hypochondrie", die er auf Beängstigungen durch seine flache Brust zurückführte. Pietistische Einflüsse und auch wohl wirtschaftliche Not ließen ihn das Leben als schweren Kampf empfinden. In die Schilderung des Melancholikers gab er viel von seinen eigenen Empfindungen hinein und schilderte die Gefahren solcher Stimmungen. Einmal spricht er von seinem leicht affizierbaren Gemüt. So bekämpfte er weichmütige Gefühle und gesteigerte Affekte als schwächend und der Seele die Freiheit nehmend. Durch die eigentümliche Energie, mit der er sein Leben nach Grundsätzen zu beherrschen und zu meistern wußte, gelangte er zu einer gewissen Überlegenheit über Menschen und Dinge und damit zur Heiterkeit. Er nannte das letzte erstrebenswerte Ziel auch wohl ein fröhliches Herz. Diese erkämpfte innere Ruhe wollte er durch das Bild des Leidens, das tiie Tragödie bietet, nicht stören lassen. E r kannte aus letzter Erkenntnis die Misere des Lebens, daß er nicht noch einmal leben wollte. Was konnte ihm demgegenüber der Schein des Leidens in der Dichtung-oder auf der Bühne sagen? Die dadurch erweckten Erschütterungen waren schließlich nicht echt. Es wäre für ihn eine überflüssige Erregung der Seele gewesen. So wollte er auch keine Trauermusik hören. Erwähnt sei noch, daß Kant in der „Anthropologie" die Kunst einmal auch als eine Art Stimmungshelfer charakterisiert. Das Flackern eines Kaminfeuers, der über Steine rieselnde Bach und auch die Musik erzeugen einen Zustand des Spieles. Die letztere „kann einen Dichter und Philosophen in eine Stimmung setzen, darin ein jeder nach seinen Geschäften oder seiner Liebhaberei Gedanken haschen und derselben auch mächtig werden kann, die er, wenn er in seinem Zimmer einsam sich hingesetzt hätte, nicht so glücklich würde aufgefangen haben". Er versucht das so zu erklären, daß die Seele durch die genannten Empfindungen von anderen Gegenständen abgezogen wird, ohne doch auf jene besonders aufzumerken. Dadurch wird das Denken erleichtert und belebt. (VII, 173t.) Nachdem aus dieser Darstellung deutlich geworden ist, daß Kants Lebensideal kein ästhetisches war, ist nun zu fragen, worin er die für den Menschen letzthin zu lösende Aufgabe sah. Darüber geben die „Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre" Aufschluß. Hier werden als die beiden Zwecke, die zugleich Pflichten sind: Eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit genannt. Nur die erstere interessiert uns hier. Auf sie hinzuarbeiten, ist die Aufgabe, und zwar: durch Kultur des Verstandes und des Willens. Durch die erstere soll sich der Mensch von der Rohigkeit seiner Natur zur Menschheit erheben, die letztere hat als Ziel die reinste Tugendgesinnung, „da das Gesetz zugleich die Triebfeder seiner pflichtmäßigen Handlungen wird". (VI, 3850.) Wie wichtig es Kant erscheint, daß bei der ethischen Erziehung die richtige Methode angewendet würde, geht daraus hervor, daß er sie an zwei Stellen erörtert hat. In der „Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft" versucht er zu zeigen, wie auch subjektiv die Darstellung der reinen Tugend die größte Macht über die jugendliche Seele habe. Die Methode soll nun zuerst die Be-

Kritik der Urteilskraft

urteilung nach moralischen Gesetzen ausbilden. Aber diese Beschäftigung der "Urteilskraft ist nur Unterhaltung. Sie gibt „der Tugend oder der Denkungsart eine Form der Schönheit, die bewundert, darum aber nicht gesucht wird". Das so entstehende Wohlgefallen kann mit dem ästhetischen verglichen werden. Dann aber soll die „zweite Übung" beginnen „in der lebendigen Darstellung der moralischen Gesinnung an Beispielen die Reinigkeit des Willens bemerklich zu machen". E s ist bemerkenswert, wie nahe Kant hier dem Gedanken der ästhetischen Erziehung kommt, besonders wenn man erfährt, daß das ästhetische Wohlgefallen „als die Veranlassung angesehen wird, der über die Tierheit erhabenen Anlage der Talente in uns inne zu werden". Das Ganze ist nichts mehr als eine Parallele; es fehlt jeder Versuch, diese Erhebung über die Sinnlichkeit als Vorbereitung für die Besinnung auf Freiheit und moralisches Gesetz zu verwerten. Unter den Beispielen, an denen für den Zögling äer Pflichtgedanke entwickelt werden soll, findet sich nirgends eine dichterische Gestalt, vielmehr spricht Kant einen entschiedenen Tadel gegen das Reden über „sogenannte edle (überverdienstliche) Handlungen, mit welchen unsere empfindsamen Schriften so viel um sich werfen", aus. Man bringe auf diese Weise nur „Romanhelden" hervor. In die gleiche Richtung ziehen auch die Anspielungen auf die „schmelzenden, weichherzigen Gefühle oder hochfliegenden, aufblähenden und das Herz eher welk als stark machenden Anmaßungen". Noch einmal kommt Kant auf diese Frage in dem „Bruchstück eines moralischen Katechism" in den ' „Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre" zurück. Der Gedankengang ist der gleiche und bringt für unser Problem nichts Neues. Diese Erziehung will den Begriff der Pflicht in aller Klarheit entwickeln und wendet sich an den Verstand, nicht an das Gefühl. Noch ein Wort über Kants Auffassung von der Bedeutung der Kunst für die Entwicklung der Menschheit. Wir haben früher bei Betrachtung der „Beobachtungen" auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlich-bürgerlicher Ordnung und der Blüte der Kunst bei den Griechen hingewiesen. Den gleichen Standpunkt fanden wir in der „Kritik der Urteilskraft". In den „Beobachtungen" •wird die Entartung der Kunst mit der Regierung der römischen Kaiser in Verbindung gebracht. Für ihr Wiederaufblühen in der neueren Zeit werden entsprechende Momente nicht aufgewiesen. Es kann aber kein Zweifel sein, daß Kant an jener Theorie festhielt. Dies sagt ganz deutlich der achte Satz aus der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, der lautet: „Man kann die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Planes der Natur ansehen, um eine innerlich - und zu diesem Zwecke auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zustande zu bringen,als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann." Diese Voraussetzung gilt vornehmlich für Wissenschaft und Kunst. Und in den vorausschauenden Gedanken auf die Zukunft wird die Hoffnung, abgesehen von der gesellschaftlich-staatlichen Ordnung, auf Aufklärung und zunehmende Freiheit gesetzt. Diese Ideen werden aber doch nur ausgesprochen ; es fehlt ganz und gar der Versuch zu einer erklärenden Theorie. J a , 13

Menzer, Kants Ästhetik

ig^

Kritik der Urteilskraft

noch mehr! Es läßt sich sogar aufweisen, daß trotz dieser Eingliederung die Geschichte der Kunst einem eigenen Gesetz unterworfen zu sein scheint. Während die Entfernung von der Natur, das Heraustreten aus der Rohigkeit, eine notwendige Voraussetzung aller Kultur sein mußte, bedeutet die Entfernung der Kunst von der Natur für sie eine Gefahr, ja eine Grenze. Die Überlegenheit der Griechen wird ja auf ihre Nähe zur Natur zurückgeführt. Die in aller Kultur auftretende Üppigkeit bringt die Gefahr mit sich, daß Kunst ins Übersteigerte, Gesuchte und Verzerrte ausartet. Nachdem die Kunst ein Maximum erreicht hat, wird sie nur Unnatur, eine Höherentwicklung gibt es nicht mehr. So muß es wegen der in aller modernen Kultur sich vollziehenden Entfernung von der Natur zweifelhaft erscheinen, ob die Kunst jemals eine solche Höhe wie einst die griechische erreichen kann. Zu dem gleichen Ergebnis mußte auch die Genielehre führen. An der berühmten Stelle, an der Kant dem Wissenschaftler Genie abspricht, fügt er doch die Bemerkung hinzu, daß die Entdeckungen der großen wissenschaftlichen Talente der „immer fortschreitenden größeren Vollkommenheit der Erkenntnisse" dienen. Eine solche Kontinuität gibt es in der Geschichte der Kunst nicht. Die Kunst steht für die Genies irgendwo still. Ihre Kunst stirbt mit ihnen, ,,bis die Natur einmal einen anderen begabt". Dieser Hinweis auf die Natur hebt das Auftreten von Genies aus dem Zusammenhang der Kulturentwicklung ausdrücklich heraus und leugnet jede Kontinuität. Aus dem Gesagten ergibt sich die Folgerung, daß Kant der Gedanke, der Staat müsse das Volk zur Kunst und durch Kunst erziehen, fern lag. Dabei läßt sich nicht verkennen, daß er sich sehr wohl mit der von ihm gebildeten grundlegenden geschichtsphilosophischen Theorie hätte verbinden lassen. Dies muß um so mehr auffallen, als diese Forderung an den Staat seiner Zeit nicht fern lag. Es mag hier nur an Sulzer erinnert werden. Dieser hat in dem Artikel „Künste" seiner „Allgemeinen Theorie" den Gedanken einer ästhetischen E r ziehung entwickelt. Nach ihm besteht das Wesen der Künste darin, daß sie den Gegenständen unserer Vorstellungen sinnliche Kraft geben; ihr Zweck ist lebhafte Rührung des Gemüts, und in ihrer Anwendung haben sie die Erhöhung des Geistes und Herzens zum Augenmerke. Aus dem durch Kunst gebildeten Menschen „kann man durch eine weise Anwendung der Künste alles machen". Der schöngebildete Mensch gibt die Einheit zwischen dem rohen und dem nur erkennenden Menschen, der nie zum Handeln kommen würde. Hier entsteht nun für den Staat eine wichtige Aufgabe. Er soll die Künste pflegen, die Künstler leiten, für gute Gebäude und Denkmäler sorgen, die Sprache verbessern helfen, die Ausbreitung der Künste „muß bis in die niedrigen Hütten der gemeinsten Bürger dringen". So dient der Staat der menschlichen Glückseligkeit. Das Beispiel Sulzers zeigt, daß wir nichts Unmögliches von Kant erwarteten,, wenn wir die Frage stellen, ob er zu den Aufgaben des Staates auch die E r ziehung der Kunst rechnete. Die Gründe für seine Haltung sind angegeben worden, es sei nur noch bemerkt, daß er mit zunehmendem Alter immer skeptischer über die Möglichkeiten der Erziehung dachte.

Kritik der Urteilskraft

igj

Am Schluß dieser Darstellung der ästhetischen Urteilskraft ist noch ein Blick auf die teleologische zu werfen, allerdings nur in der Fragestellung, ob diese einen Beitrag für das Verständnis jener bringen kann. Es entsteht die Aufgabe, zu zeigen, wo eine Berührung beider Gebiete stattfindet. Was bedeutet die Lehre von der objektiven Zweckmäßigkeit für die von der subjektiven? Kant hat nun selbst in dem Begriff von der „Technik der Natur" den leitenden Gedanken für eine solche Fragestellung gegeben. In beiden Einleitungen und dann im Werke selbst ist er mehrfach verwertet und überall daran festgehalten, daß diese Idee nicht dogmatisch gebraucht werden dürfe. Trotzdem lassen sich einige Unterschiede im Maß der Anwendung in E l u n d E 2 beobachten. Nachdem in ersterer der gedachte Begriff als aus der Urteilskraft entspringend eingeführt worden ist, und zwar in Gleichsetzung der Natur als Kunst (XX, 204), erhalten wir später folgende Definition: „Die Kausalität der Natur, in Ansehung der Form ihrer Produkte als Zwecke, würde ich die Technik der Natur nennen" (a. a. 0. S. 219). Sie wird der Mechanik der Natur entgegengesetzt. Nach Unterscheidung des ästhetischen Reflexions- und des teleologischen Urteils spricht Kant dann von einer formalen Technik der Natur, als einer Zweckmäßigkeit derselben in der Anschauung und einer realen als einer Zweckmäßigkeit nach Begriffen. Und in weiterer Ausbildung dieses Gedankens wird unter ästhetischem Gesichtspunkt von der Zweckmäßigkeit der Formen und entsprechend von einer figürlichen Technik der Natur (technica speciosa) geredet. Davon ist unterschieden die plastische oder, wie Kant lieber will, organische Technik. Auch E 2 führt den Begriff einer Technik der Natur ein, und zwar in Anwendung auf „organisierte Körper" als Naturzwecke (V, 193). Später, und zwar in § 72, der von den „mancherlei Systemen über die Zweckmäßigkeit der Natur" handelt, wird eine absichtliche und eine unabsichtliche Technik der Natur unterschieden, wodurch die Systeme des Realismus und des Idealismus der Naturzwecke bezeichnet werden. Beide werden als dogmatisch abgelehnt, und der gedachte Begriff wird nur als kritisches Prinzip der Vernunft für die reflektierende Urteilskraft anerkannt. Soweit die rein teleologische Betrachtung. Auf den Gedanken einer Technik der Natur führt aber von sich aus auch die ästhetische. In dem die Unterscheidung des Schönen vom Erhabenen vorbereitenden § 23 wird gesagt, daß die selbständige Naturschönheit uns eine Technik der Natur entdecken lasse. Dann wird eingeschränkt hinzugefügt: „Sie erweitert ... zwar nicht unsere Erkenntnis der Naturobjekte, aber doch unseren Begriff von der Natur als bloßen Mechanismus, zu dem Begriff von eben derselben als Kunst; welches zu tiefen Untersuchungen über die Möglichkeit einer solchen Form einladet." Gegen diese Formulierung lassen sich nun zwei Bedenken erheben, die uns beide Kant selbst an die Hand gibt. Einmal darf die Wendung von der Natur als Kunst nicht so verstanden werden, als würde das Wesen der ersteren vollständig durch die letztere ausgedrückt. In dem grundlegenden § 65 „Dinge als Naturzwecke sind organisierte Wesen" wird es ausdrücklich abgelehnt, die Natur als Analogon der Kunst zu bezeichnen, man sage damit zu wenig von ihr, 13a*

Menzer, K a n t s Ä s t h e t i k

ig6

Kritik der Urteilskraft

weil sie sich selbst organisiere, man spreche also besser von ihr als einem Analogon des Lebens. Dagegen erheben sich die bekannten Einwände und das Ergebnis ist, „daß die Organisation der Natur nichts .Analogisches mit irgendeiner Kausalität hat, die wir kennen". Dagegen bleibt es dabei, daß man Schönheit der Natur ein Analogon der Kunst nennen könne. Die beigegebene Erläuterung ist nun recht geeignet, das zweite Bedenken zu begründen. Kant sagt nämüch, daß Schönheit der Natur „den Gegenständen nur in Beziehung auf die Reflexion über die äußere Anschauung derselben, mithin nur der Form der Oberfläche wegen beigelegt wird." Im Gegensatz dazu steht die Frage nach der inneren Naturvollkommenheit. Wenn dem so ist, muß aber die Frage entstehen, ob wirklich die Beobachtung schöner Formen der Natur zu einer Erweiterung über den Mechanismus der Natur führen müsse. Die Ablehnung dieser Behauptung können wir in § 58 entnehmen, in dem Kant sich zu einem Idealismus der Zweckmäßigkeit der Natur sowohl als Kunst bekennt. Ein Realismus wird abgelehnt, obgleich die Blumen, Blüten, vor allem die harmonische Zusammensetzung der Farben an Tieren ihm „gar sehr das Wort reden". Diese Ablehnung erfolgt aus dem methodischen Prinzip, eine Vervielfältigung der Prinzipien zu verhüten. Und nun folgt eine ausführliche Begründung, deren Ergebnis hier hur angegeben werden soll. Es läßt sich wohl denken, „daß, was die Schönheit der Blumen, der Vogelfedern, der Muscheln ihrer Gestalt sowohl als Farbe nach betrifft, diese der Natur und ihrem Vermögen, sich in ihrer Freiheit ohne besondere darauf gerichtete Zwecke, nach chemischen Gesetzen durch Absetzung der zur Organisation erforderlichen Materie, auch ästhetisch-zweckmäßig zu bilden, zugeschrieben werden könne". Das gilt^für Schönheiten an iebenden Wesen, denkt man an Schönheit, die uns die anorganische Natur bietet, so ist der Widerspruch noch offenbarer. Kant bekehrt sich also zu einem Idealismus und prägt für diese Haltung das Wort von der „Gunst, womit wir die Natur aufnehmen, nicht Gunst, die sie uns erzeigt". An diese Wendung knüpft er nun eine Betrachtung, die als das Thema abschließend angesehen werden kann. Nachdem die Notwendigkeit, die Organismen als Naturzwecke zu betrachten, erwiesen ist, wird die Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke entwickelt. Sie ist nur ein regulatives Prinzip, eine Maxime die lautet: „Alles in der Welt ist irgend wozu gut, nichts in ihr ist umsonst." Die Möglichkeit, sie anzuwenden, wird durch zum Teil recht fragwürdige Beispiele, die an die Nützlichkeitslehre der Aufklärung erinnern, belegt. Kant selbst will die Erscheinung des Traumes so verständlich machen. Dann aber wird auf die Schönheit der Natur hingewiesen und sie für diese Betrachtung herangezogen mit der Rechtfertigung, „wenn einmal die teleologische Beurteilung derselben [Natur] durch die Naturzwecke, welche uns die organisierten Wesen an die Hand geben, zu der Idee eines großen Systems der Zwecke der Natur uns berechtigt hat"(§Ö7). Nun können wir von einer Gunst der Natur sprechen, und in einer Anmerkung wird der Satz aus der ästhetischen Urteilskraft zitiert. Das letzte Wort dieser teleologischen Betrachtung in ihren verschiedenen Stufen liegt natürlich in der Idee des Übersinnlichen.

VI. S C H L U S S B E T R A C H T U N G Die Entwicklung der Kantischen Ästhetik erstreckt sich über einen Zeitraum von 35 Jahren, von den ersten ästhetischen Aufzeichnungen in den Vorlesungskompendien von Baumgarten und Meier bis zur „Kritik der Urteilskraft", mit der das kritische Geschäft seinen Abschluß fand. Für Anfang und Ende gilt, daß die Ästhetik im Zusammenhang philosophischer Systematik auftritt. Zuerst war es der enzyklopädische Gedanke der Wolffischen Philosophie, der eine Philosophie des Schönen als zum System gehörig forderte. Einen ersten Versuch unternahm Baumgarten in seiner Ästhetica vom Jahre 1750. Die Ästhetik ist nach ihm eine Schwester der Logik, eine Logik der Sinnlichkeit. Er wollte sie zum Rang einer Wissenschaft erheben. Darin sprach sich mehr als das Bedürfnis, eine Lücke im System zu füllen, aus. Ein eigenes Verhältnis zum dichterischen Schaffeh hatte in ihm die Uberzeugung vom Werte der Kunst für das Leben gewährt. E r nahm am literarischen Leben seiner Zeit Anteil und wollte ihm dienen. Für sie wollte er Regeln und Form und Inhalt geben. Es ist ja für den Beginn unserer nationalen Dichtung charakteristisch, daß ihr die Theorie den Weg zu bahnen suchte. Der Gedanke von der Ästhetik als einer Logik der Sinnlichkeit war von bleibender Bedeutung. Kant hat ihn vollendet. In dieser Anknüpfung an die Logik lag zugleich eine Gefahr. Die Selbständigkeit der Ästhetik war doch nur eine scheinbare. Es konnte nicht anders sein, als daß die ältere Schwester die jüngere in ihrem Bann hielt. Diese kam nicht zu einer eigenen Begriffsbildung. Ansätze dazu waren vorhanden, vor allem in der Unterscheidung einer extensiven und einer intensiven Klarheit. Wohl war man sich bewußt, welche systembildende Kraft in dem Grundgedanken Leibnizens von der Spontaneität der Seele lag, die formende Kraft der Sinnlichkeit hatte man doch nicht erkannt, sie blieb ein „unteres Vermögen", denn das Streben der Seele nach Vollkommenheit fand seinen höchsten Ausdruck letzthin in rationaler Erkenntnis. Einen eigenen Begriff von einer ästhetischen Wahrheit fand diese neue Disziplin nicht. Ebenso fehlte eine Psychologie des Gefühls und des künstlerischen Schaffens. Die auf sie gerichtete Analyse arbeitete doch überall mit den für die Denktätigkeit gewonnenen Kategorien. Zwar war man der Überzeugung, daß die Kunst Affekte hervorrufen sollte, aber darin lag doch nur ein sehr unvollkommener Ausdruck für das ästhetische Erlebnis, und eine moralisierende Be-

Ig8

Schlußbetrachtung

trachtung ließ seinen Eigenwert nicht erkennen. So ist die rationale Ästhetik weder nach Form noch Inhalt zu einer Einheit durchgedrungen. Ihre Begriffe haben trotzdem die literarische Kritik der Zeit maßgebend beeinflußt, Gottsched die Schweizer und auch Lessing denken in ihnen. Durch die französische, vor allem aber durch die englische Ästhetik wurde dann das Gefühl als eine eigentümliche Art seelischen Erlebens aufgezeigt. Die Analyse des menschlichen Verstandes im Sinne Lockes wurde nun auf die sittlichen und ästhetischen Gefühle ausgedehnt. Dabei war das Entscheidende, daß diese Gefühle in der Tiefe der in ihnen ruhenden und zum Ausdruck kommenden Erlebniswerte erfaßt wurden. Die methodisch anfechtbare Verflechtung der sittlichen und ästhetischen Gefühle hatte für diese doch die Bedeutung, daß ihr Gehalt eine ganz neue, höhere Würde erhielt. Baumgarten glaubte sich noch entschuldigen zu müssen, als er eine Lehre von der sensitiven Erkenntnis einzuführen versuchte. Shaftesbury verkündete eine Weltanschauung, die ihre letzte Sicherheit im Gefühle vom Schönen und Guten fand. Unter diesen Einflüssen mußte die vornehmlich von den Engländern ausgebildete Lehre vom Genie eine besondere Bedeutung erhalten. Sie erweckte in Deutschland eine ungeheure Literatur, die im Kampf für eine neue Dichtung die Regeln verwarf und sich schließlich zu den Forderungen der Stürmer und Dränger aufsteigerte. So erhielt die deutsche Ästhetik eine Bereicherung gerade da, wo es ihr gemangelt hatte. Allerdings konnten diese Anregungen kaum dem Versuch eines systematischen Aufbaues dienen. Der englische Empirismus war ja systemfeindlich und erschütterte den Glauben an die Gültigkeit ästhetischer Urteile. Immerhin glaubte er doch in den so verschiedenen Lebensäußerungen ein Gemeinsames, die menschliche Natur wiederfinden zu können. Es ist nun geschildert worden, wie sich Kants ästhetische Anschauungen und Lehren unter diesen Einflüssen entwickelt haben. An dieser Stelle wäre nun daran zu erinnern, daß er an dem Gedanken einer Kritik des Geschmacks festhält, die nicht den Rang einer Wissenschaft beanspruchen kann. Es fehlte aber an einem methodischen Prinzip ihrer Begründung. Das lag auch sicherlich daran, daß in den sechziger Jahren ein viel dringlicheres Problem sein ganzes Denken in Anspruch nahm: das Problem einer Methode des philosophischen Denkens überhaupt. Und so ist einleuchtend, welche Bedeutung die Dissertation vom Jahre 1770 haben mußte. Sie brachte eine Logik der Sinnlichkeit. War doch in ihr der Nachweis eines Apriori der sinnlichen Anschauung gegeben. Die ihr immanente Gesetzlichkeit war gefunden, denn das ist ja die Entdeckung der transzendentalen Methode. Es scheint nun so, als habe Kant den Versuch gemacht, die Analogie zu der in den Formen der Anschauung gefundenen Gesetzmäßigkeit nach gewissen Ordnungen in den ästhetischen Erlebnissen zu suchen, die er noch nicht im Gefühl, sondern der Sinnlichkeit annahm, gewissermaßen einer über der räumlich-zeitlichen Ordnung liegend. Mehr läßt sich kaum sagen. Daß diese Versuche nicht zu einem Ergebnis führten, ist auch wieder aus der Entwicklung seiner Philosophie überhaupt zu verstehen. Die Dissertation gab ja nicht endgültige Ergebnisse, es vergingen elf Jahre bis zum Erscheinen der

Schlußbetrachtung

ig g

ersten Kritik. In dieser Zeit mußten die ästhetischen Probleme in den Hintergrund treten, während die ethischen in ständiger Wechselwirkung mit den theoretischen blieben. Es schien nun so, als ob die „Kritik der reinen Vernunft" endgültig über das Schicksal der Ästhetik entschieden hätte. Das Unternehmen Baumgartens und der Name der neuen Wissenschaft wird abgelehnt. Das geschah aber nur für das System der Kritik, wie Kant es damals verstand. Schon eine Bemerkung in den „Prolegomenen" zeigt, daß darum der Gedanken Regeln für das ästhetische Urteil zu finden nicht aufgegeben wurde. Allerdings fehlte der systematische Ort für eine solche Kritik des Geschmacks. Er wurde gefunden in einer Zwischenstellung zwischen den beiden ersten Kritiken. Die theoretische Philosophie hatte den Gegensatz einer Welt der Natur und einer der Freiheit begründet. Der Verstand lehrte jene als eine in sich geschlossene Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen begreifen. Diese Welt war in sich abgeschlossen und verlangte von sich aus nach keiner Ergänzung. Aber über sie hinaus führten die Vernunftideen, denen die theoretische Philosophie einen regulativen Gebrauch zugestehen wollte. Die praktische Philosophie entwickelte, unabhängig von der theoretischen, die Idee eines Reiches der Zwecke. So standen sich diese beiden Welten gegenüber, aber den Primat führte die praktische Philosophie, die, über die Grenzen der theoretischen hinausgehend, die Wirklichkeit einer intelligiblen Welt erwies. Damit war eine Achsendrehung vollzogen. In der sittlichen Forderung an den Menschen war zugleich die Forderung an die Natur gestellt, sich dieser intelligiblen Ordnung angliedern zu lassen. Die Welt der Freiheit soll auf die Welt der Natur Einfluß haben. Die zwischen beiden bestehende Kluft mußte überbrückt werden. In der Idee eines Endzweckes gab die Ethik den Gedanken an eine letzte Synthese. Eine solche allgemeine Zwecklehre führte von der Erklärung der organischen Wesen bis zur Frage nach dem Sinn der menschlichen Kultur. Und so ist es denn das Prinzip der Zweckmäßigkeit gewesen, das die ästhetische und teleologische Naturbetrachtung miteinander in der „Kritik der Urteilskraft" vereinigen konnte. Während aber die letztere in ihren wesentlichen Zügen schon vollendet war, war das Problem einer ästhetischen Urteilskraft noch zu lösen. Zuerst war ein Ansatzpunkt für das Prinzip der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur zu finden. Ihn gab die schon in der „Naturgeschichte und Theorie des Himmels" gefundene Synthese von der Schönheit der Natur in ihrer Gesetzmäßigkeit. Der bestirnte Himmel und die Ideen von der Unendlichkeit des Kosmos lösten das Gefühl von Schönheit, Größe und Erhabenheit aus. Ein Übergang von ihm zur Zweckbetrachtung war nicht schwer zu finden. Aber die Aufgabe war noch zu lösen, das ästhetische Wohlgefallen als ein Gefühl auszuweisen, das sich als Zweckbetrachtung interpretieren ließ, ohne doch seinen Charakter als Gefühl zu verlieren. Das hieß nichts anderes, als daß sein apriorischer Charakter erwiesen und gewahrt werden mußte. Kant wagte sich an die Aufgabe, auch für das dritte Seelen vermögen die Möglichkeit apriorischer Urteile aufzuzeigen. Die Lösung war die Lehre vom Spiel der Erkenntniskräfte.

200

Schlußbetrachtung

Die von Kant geplante Kritik des Geschmacks sollte zwei Aufgaben erfüllen; Sie sollte die Autonomie des Geschmacksurteils nachweisen und sich als ein Zwischenglied in das System einer Kritik der reinen Vernunft einfügen. Bei Lösung der ersten Aufgabe folgte Kant den Ideen Baumgartens. Aber während es diesem und der ihm folgenden Aufklärungsästhetik nicht gelungen war, die neue Wissenschaft aus einem Prinzip zur systematischen Vollendung zu bringen, gelang es Kant mit Hilfe der transzendentalen Methode, ein Apriori des Gefühls nachzuweisen. Wie in der Ethik die Autonomie des Willens, so wurde in der Ästhetik die der Geschmacksurteile gesichert. Damit war 40 Jahre nach den Anregungen Baumgartens die Ästhetik als Wissenschaft begründet und ist von da ab als ein integrierender Teil eines Systems der Philosophie in Anerkennung geblieben. Die Befreiung der Ästhetik durch die kritische Methode war zugleich eine Unterordnung unter sie. Diese war gewonnen aus der Reflexion über die Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens, deren Möglichkeit Kant erklären wollte. Sie fand ihre klassische Formulierung in der Frage: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" und wurde dann auf die Ethik und schließlich auf die Ästhetik übertragen. Äußerlich läßt sich der Einfluß dieser Methode darin beobachten, daß Kant das architektonische Gerüst der ersten Kritik nun auf die dritte anwandte, auch in ihr gab es eine Analytik mit der Urteilstafel, eine Deduktion, eine Dialektik, und gar eine Methodenlehre. Es kann kein Zweifel sein, daß die Darstellung dadurch gezwungen und unnatürlich wurde, Wiederholungen sind nicht selten, manche Fragestellungen, z. B. in der Dialektik, erscheinen überflüssig. Von dieser Erscheinung aus hat man schlechthin verwerfende Urteile über die dritte Kritik ausgesprochen. Aber solche Betrachtung bewegt sich doch an der Oberfläche, da es möglich ist, Kants Gedanken über das ästhetische Wohlgefallen aus dieser Umklammerung zu lösen und dann auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Es ändert sich ja nichts an der Lehre vom interesselosen Wohlgefallen, wenn man sie prüft, ohne dabei der Tatsache zu gedenken, daß sie nach dem Schema der Urteile unter dem Modus der Qualität behandelt wird. Tiefer führt eine andre Überlegung. Kant hatte seine transzendentale Methode zuerst an den beiden Erkenntnisvermögen Verstand und Vernunft erprobt. So abwechselnd sie auch in ihren Resultaten sein mochten, gemeinsam war ihnen doch, daß sie sich als Quell von Gesetzen nachweisen ließen. In ihnen drückte sich eine den Erkenntnisvermögen immanente, nach ihrem letzten Ursprung transzendentale Wahrheit aus, denn der Gedanke an eine jenseitige ideale Ordnung hat trotz aller kritischen Vorsicht doch immer Kants Philosophie beherrscht. Wie konnte ein gleiches Ergebnis von einer Analyse des Gefühls, dem Irrationalen, erwartet werden? Die Erinnerung an eine frühere Fragestellung ist vielleicht hier noch am Platze. In der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" ging Kant vom moralischen Gefühl, dem guten Willen aus und wies seine Treffsicherheit in der Beurteilung menschlicher Handlungen nach ihren Motiven nach. Trotzdem wollte er ihm nicht die Führung überlassen und

Schlußbetrachtung

201

leitete, vom Pflichtbegriff ausgehend, die Formel des kategorischen Imperativs aus der reinen praktischen Vernunft ab. Das war in bezug auf das ästhetische Wohlgefallen nicht möglich, da es ja sonst seinen Charakter eingebüßt hätte, es war auch nicht notwendig, da es nicht unbedingte Geltung beanspruchte. Worauf Kant seine Erwartung gründete, hat er selbst im Brief an Reinhold angegeben. Er sprach dort von der Entdeckimg des Systematischen im menschlichen Gemüte, auf das ihn die Zergliederung des Verstandes und der Vernunft geführt hatte. Ein Vermögen des Gemüts war auch das Gefühl der Lust und Unlust. Absolute Regellosigkeit konnte unmöglich in einem solchen Vermögen walten. In der „Kritik der reinen Vernunft" findet sich einmal der Satz: „Keine Kraft der Natur kann von selbst von ihren eigenen Gesetzen abweichen." (III, 234; vgl. auch II, 291). Die Anwendung ergibt sich von selbst. Und diese Grundüberzeugung wurde nun für das ästhetische Wohlgefallen durch seinen geselligen Charakter und damit seine Mitteilbarkeit bestätigt. Die Tendenz war also, dies verborgene rationale Moment im Geschmacksurteil aufzufinden. So entstand im Zusammenhang mit der Entdeckung von der produktiven Einbildungskraft in der ersten Kritik die Konstruktion vom Spiel der Erkenntniskräfte. In ihm wurde die Einbildungskraft zwar nicht an einen Begriff, aber doch an eine vom Verstand auferlegte Schranke gefunden. Diese rationalistische Tendenz wurde wohl noch verstärkt, als Kant die Kritik des Geschmacks in eine solche der Urteilskraft einfügte. In der Anmerkung zu § 1 wird dann auch ganz deutlich gesagt, daß im Geschmacksurteile immer noch eine Beziehung auf den Verstand enthalten sei. So geistvoll Kants Konstruktion des aus dem Spiel der Erkenntniskräfte entspringenden Gefühls sein mag, die Besinnung auf das ursprüngliche ästhetische Erlebnis wird es kaum bestätigen können. So hat er den Strom des Erlebens in das enge Bett eines Spieles der Erkenntniskräfte gezwängt. Kants Apriori war ein Apriori der Form, nicht des Inhalts. Das galt für die theoretische wie die praktische Philosophie. In Betracht kommt an dieser Stelle nur die erstere. In ihr hatte er den formenden Kräften der Sinnlichkeit den ungeordneten Stoff der Erfahrung gegenübergestellt. Die an den Erscheinungen zu beobachtende geordnete Mannigfaltigkeit hatte ihren Grund in den Formen der Anschauung. Vom Geschmacksurteil läßt sich nun die Beziehung zu Gegenständen der Außenwelt, mit denen das Wohlgefallen verbunden ist, nicht wegdenken. Es bezieht sich aber anderseits nicht auf die Gegenstände schlechthin, sondern auf die schönen unter ihnen. Nennen wir Schönheit eine höhere Ordnung gegenüber der in Raum und Zeit, so ist die Frage, worin wir die formende Kraft in diesem Falle zu sehen haben. Die schönen Gegenstände sind ja doch geformte. Ein Zeugnis davon können die sinnlichen Wahrnehmungen von, ganz allgemein gesprochen, Symmetrie, Harmonie und Rhythmus liefern. Aber wenn von ihnen das Geschmacksurteil etwas aussagen sollte, wurde es notwendig, ein empirisches. So blieb kein Ausweg, wenn das Apriori gerettet werden sollte, als die Verlegung des Formprinzips in das Subjekt, der Gedanke von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Das Geschmacksurteil verlor damit die

202

Schlußbetrachtung

Fühlung mit den Gegenständen und den Sinnen. Und so erhielt Kants Ästhetik einen einseitigen, subjektiven Charakter, am stärksten in der Lehre vom Erhabenen, die dadurch eine geistreiche Paradoxie wurde. Dies Zurückweichen auf das Subjekt verschloß zugleich den Weg zur Natur als Schöpferin der Schönheit. Das war um so merkwürdiger, als Kant als ursprüngliches Erlebnis das Gefühl von der Schönheit der Natur kannte, das er aus der Erkenntnis der in ihr wirkenden Kräfte gewann. Vor dem Weg zur Natur als Kunst war aber eine Verbotstafel aufgerichtet, auf der der Satz vom Mechanismus des Naturgeschehens stand. Allerdings konnte sich Kant der Anlockung, ihn doch zu beschreiten, nicht ganz entziehen. Er sprach von einer Technik der Natur, der über den Mechanismus hinausführe zu dem Begriff der Natur als Kunst, „welches zu tiefen Untersuchungen über die Möglichkeit einer solchen Form einladet". (§ 23.) Ebenso trennte die Lehre vom Apriori Form und Inhalt der schönen Gegenstände. Reine Schönheit sollte nur Formschönheit sein. Abgesehen davon, daß die Theorie gegenüber einfachen ästhetischen Eindrücken, z. B. Farben und Tönen, versagte, erwies sie sich aus anderem Grunde unzureichend gegenüber den Werken der Kunst. Der Gehalt eines solchen kann aus der Formbetrachtung allein nicht gewonnen werden. Dieser Schwierigkeit sollte die Einführung einer anhängenden Schönheit abhelfen, in deren Namen schon ausgedrückt war, daß durch sie die zu fordernde Einheit von Form und Gehalt nicht hergestellt wurde. Auch gerieten dadurch die Werturteile in eine merkwürdige Verwirrung. Wenn dann später die Kunst als Ausdruck ästhetischer Ideen bezeichnet wurde, so lag darin indirekt ein Eingeständnis, daß ihre Werke nicht allein nach ihrer Form zu beurteilen seien. Die dritte Kritik erhält nun dadurch eine besondere Bedeutung, daß Kant ihr eine Stellung zwischen den beiden andern gegeben hat. Das kritische System wurde durch sie erst vollendet, das durch die beiden früheren Kritiken aufgegebene Problem, die Kluft zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriff zu überbrücken, wurde durch sie gelöst. Das gilt natürlich in vollem Umfange für die Gesamtschrift. Wir fragen jetzt nur, was diese Eingliederung für die Ästhetik bedeutete. Drohte hier nicht wieder die Gefahr, daß sie in ihrer Fragestellung trotz allem Streben nach Autonomie in bestimmter Richtung beeinflußt wurde? Das ist sicherlich der Fall, denn die Zwischenstellung bedeutete ja nicht nur lokale Eingruppierung. Die Ästhetik geriet in den Bereich zweier Prinzipien oder in ein Feld, in dem die von beiden ausgehenden Kräfte hineinwirkten. Sie hatte Ansprüche zu befriedigen, die in sie hineingetragen wurden. Dabei war nun zweifellos der von der Ethik kommende der stärkere, gab sie doch den höchsten systematischen Begriff des Endzweckes, durch den die Idee einer allgemeinen Zwecklehre erst möglich wurde. Und wenn Kant sich auch nun bemühte, das ästhetische Urteil in seiner Eigenart von allen moralisierenden Einflüssen freizuhalten, so mußte doch seine Überzeugung, daß die Bestimmung des Menschen im Praktischen lag, mindestens zu einer Bewertung des ästhetischen Erlebnisses kommen, das einen ungerechten Maßstab an dasselbe legte. Das trat weniger in der Auffassung der Naturschönheit hervor als in seinen Anschauungen

Schlußbetrachtung

203

über die Werke der Kunst. Hier wirkte sich der Gedanke vom Spiel schädlich aus. Aus dieser ethischen Einstellung erklären sich manche seiner schiefen Urteile. Aber der Gedanke von der Schönheit als eines Symbols der Sittlichkeit wird doch noch zu ganz anderen Überlegungen führen. Es handelte sich bei Kant nicht mehr um die eudämonistische Ethik der Aufklärer, die gern der Kunst ein Verdienst um das Glück der Menschen zuschreiben wollte, es handelte sich um die Ethik des kategorischen Imperativs. In ihr war durch ihren Urheber die sittliche,Verpflichtung zu einer Reinheit geläutert worden wie nie zuvor. Und nun wurde die Schönheit in den Dienst dieses sittlichen Ideales gestellt und empfing von ihm ihre Würde. Ein Künstler, der von dieser Weltanschauung •erfüllt war, konnte in seinem Schaffen nur dem Gebot höchster Verpflichtung •gegen sich und die Menschheit folgen. Zeuge dafür ist Schiller und die Verkörperung seiner großen Gesinnung in seinen dichterischen Gestalten. Diesen weitwirkenden Einfluß Kants hat Goethe im Gespräch mit dem Kanzler Müller vom 22. April 1818 mit folgenden Worten anerkannt: „Die Moral war gegen Ende des letzten Jahrhunderts schlaff und knechtisch geworden, als man sie dem schwankenden Kalkül einer bloßen Glückseligkeitstheorie unterwerfen wollte. Kant faßte sie zuerst in ihrer übersinnlichen Bedeutung auf, und wie überstreng er sie auch in seinem kategorischen Imperativ ausprägen wollte, so hat er doch das unsterbliche Verdienst, uns von jenerWeichlichkeit, in die wir versunken wären, zurückgebracht zu haben." So muß die Bedeutung der Kantischen Ästhetik historisch von dem Hintergrunde seines philosophischen Gesamtwerkes verstanden werden. Als die „Kritik der reinen Vernunft" im Jahre 1781 erschien, wurde sie von der mit ihm gleichaltrigen Generation als dem Genius der Zeit nicht entsprechend abgelehnt. Dies Urteil hat durch die Nachwelt erst seinen rechten Sinn erhalten. Es war wirklich nicht ein Weiterdenken in überlieferten Formen, es war ein absoluter Bruch mit der Vergangenheit. Gegenüber einer durch formale Systematik zusammengehaltenen, durch den Einbruch der empirischen Betrachtungsweise aber in Unordnung geratenen Enzyklopädie war ein Prinzip für die Philosophie gefunden, das von innen heraus zu einem Ganzen führen konnte. Es war der Gedanke, daß die dem Erkennen immanente Gesetzmäßigkeit seiner Funktionen eine Philosophie möglich mache, die Natur und Freiheit gegeneinander abgrenzte. Diese Philosophie war ebensosehr vom Geiste exakter Forschung erfüllt, wie sie den Bedürfnissen des menschlichen Herzens Befriedigung geben wollte. Nicht die Gleichaltrigen, wohl aber die Jugend wurde von ihr ergriffen. Die Universitäten begannen nicht ohne Widerstand der kritischen Philosophie ihre Tore zu öffnen, sie durchdrang das geistige Leben. Wie die Vollendung der Kantischen Ethik nach ihrer Ankündigung in der ersten Kritik ungeduldig erwartet wurde, so auch die Kritik des Geschmacks, als man zuerst von ihr erfuhr. Die Auswirkungen, die nun von der „Kritik der Urteilskraft" ausgingen, beschreiben, hieße nichts anderes als eine Geschichte des deutschen Idealismus zu geben. Hier kommt es nur darauf an, zu sagen, in welchem Zustand die deutsche Ästhetik sich befand, als Kants Werk erschien. Die Aufklärungs-

204

Schlußbetrachtung

ästhetik, den einzigen Lessing ausgenommen, war vergessen. Als in den Jahren 1771/74 Sulzers hoffnungsvoll erwartete „Theorie der schönen Künste" erschien, war sie, von ihrer gedanklichen Unzulänglichkeit ganz abgesehen, längst überholt. Gegen die die Hauptgedanken zusammenfassende Abhandlung über „Die schönen Künste" (1772) schleuderte der junge Goethe in den „Frankfurter gelehrten Anzeigen" seinen Bannstrahl. Im Wesen der Sturm- und Drangperiode lag es, daß sie zu einer systematischen Ästhetik nicht kommen konnte; Herder, ihr größter Anreger, war nach seinen genialen, aber zeitgebundenen ästhetischen Jugendschriften nicht zur Vollendung durchgedrungen. So war in den achtziger Jahren, gegenüber der Hochflut kritischer und ästhetischer Literatur der vorangehenden Jahrzehnte, eine Ebbe eingetreten. Da erschien die „Kritik der Urteilskraft". Und dies Ereignis wurde zu einer Schicksalsstunde für unser gesamtes geistiges Leben. Unsere beiden großen Dichter, wenn auch in verschiedener Weise, bekannten sich zu den Ideen dieses Buches. Goethe hatte in Italien aus der wissenschaftlichen Beobachtung der Natur und dem Erlebnis der klassischen Kunst die Idee einer Vereinigung der Gesetze der Natur und der Schönheit, wie er sie in den Meisterwerken der Alten verwirklicht sah, gebildet. Er hatte eine unbedingte Sicherheit für seine künstlerischen Überzeugungen gefunden. An dieser Stelle bedurfte es keiner Philosophie. Und so war es denn mehr der Eindruck des Gesamtwerkes, wenn er mit seinem Erscheinen „eine höchst frohe Lebensepoche" verband: „Hier sah ich meine disparatesten Beschäftigungen nebeneinandergestellt, Kunst und teleologische Urteilskraft erleuchteten sich wechselweise. Wenn auch meiner Vorstellungsart nicht eben immer dem Verfasser sich zu fügen möglich werden konnte, wenn ich hie und da etwas zu vermissen schien, so waren doch die großen Hauptgedanken des Werkes meinem bisherigen Schaffen, Tun und Denken ganz analog; das innere Leben der Kunst sowie der Natur, ihr beiderseitiges Wirken von innen heraus war im Buche deutlich ausgesprochen." Wie besonders die letzten Worte zeigen, ging Goethe zu einer Synthese fort, die Kant nicht vollzogen hatte. Ebenso Schiller. Nach dem stürmischen Schaffen seiner Jugendjahre war in ihm ein Gefühl der Leere entstanden. Die Geschichte bereicherte seine Vorstellungswelt. Aber immer wieder litt er unter dem quälenden Gedanken, sich auf einem ihm fremden Felde zu bewegen. War er doch immer von dem Bewußtsein seiner Berufung, seiner künstlerischen Sendung geleitet. Und wie es nun immer sein Bedürfnis war, über sein Wirken in Leben und Kunst zu gedanklicher Klarheit zu kommen, fühlte er sich in diesem kritischen Augenblick durch den „lichtvollen, geistreichen Inhalt" des Kantischen Werkes hingerissen (an Körner, 3. März 1791). Man hat Schiller den geistvollsten Kantianer genannt, und dies ist er vor allem in dem Sinne, daß er nicht bei seinem philosophischen Lehrer stehenblieb, sondern über ihn hinausging. Gegenüber dem asketischen Zug der Kantischen Ethik kämpfte er für das Recht der Sinnlichkeit und suchte nach einer Synthese zwischen Anmut und Würde. An die Stelle des Spieles der Erkenntniskräfte setzte er die Harmonie der Sinnlichkeit und Persönlichkeit, von Stoff- und Formbetrieb. Und im Bewußtsein seines Künst-

Schlußbetrachtung

205

lertums erhob er sich bis zu der Idee, daß die Schönheit eine notwendige Bedingung der Menschheit sei. Als Schiller die ästhetischen Briefe schrieb, stand er in lebendigem Gedankenaustausch mit Goethe, und dieser gestand nach der vierzehntägigen Konferenz, daß „wir in Prinzipien einig sind" (an Schiller am 1. Oktober 1794; vgl. auch den Brief vom 26. Oktober). Von dieser Zeit ab läßt sich nun die Kantische Ästhetik von dem künstlerischen Ideal der verbündeten Dichter nicht mehr trennen, und diese Vereinigung hat dann auf Humboldt und die Romantik gewirkt. Kant hat auf einem losen Blatt, das zeitlich wohl nicht weit von der Arbeit an der „Kritik der Urteilskraft" anzusetzen ist, niedergeschrieben: „Geniemäßig tief entwickelte philosophische Fragen zu behandeln: auf diese Ehre tue ich gänzlich Verzicht1. Ich unternehme es nur, sie schulmäßig zu bearbeiten. Wenn hierin die Arbeit, die stetigen Fleiß und Behutsamkeit bedarf, gelungen ist, so bleibt es wahren Genies (nicht denen, die aus Nichts alles zu machen unternehmen) überlassen, den erhabenen Geistesschwung damit zu verbinden und so den Gebrauch trockener Prinzipien in Gang zu bringen" (Reil. 990). Vollziehen wir zuerst die notwendige Korrektur, daß Kant in diesem Fragment sein Werk doch zu gering einschätzt, so läßt sich in bezug auf die letzte Kritik doch sagen, daß er in ihr aus kritischer Vorsicht vor Folgerungen zurückschreckte, die er selbst vorbereitet hatte und nicht unbedingt ablehnen wollte. Es gehört zur Eigenart dieses Werkes, daß es zu weiterer Vereinigung der Prinzipien anreizte. Die Verbindung: Natur - Genie - Kunst gab eine leitende Idee, die ein von künstlerischer Phantasie geleitetes Denken zu einer letzten Einheit zusammenzuschließen sich gedrängt fühlen mußte. Das geschah zuerst in Schellings „System des transzendentalen Idealismus". Historische Forschung trifft bei ihrem Versuch, die Vergangenheit zu begreifen, zuerst auf die Abfolge der Erscheinungen als eine erste Ordnung des Geschehens. Ursächliche Erklärung versucht, den Vorgängen den Zusammenhang einer notwendigen Folge zu geben. Für die neuere Geistesgeschichte liegt eine Fülle von Tatsachen vor, die die ursächlichen Beziehungen enger und enger ziehen lassen. Es gab eine Zeit, da man glaubte, durch den Nachweis aller beeinflussenden Bedingungen ein volles Verständnis geistesgeschichtlichen Geschehens erarbeiten zu können. Und doch bleibt eine solche Betrachtung an der Oberfläche haften. Sie hat keinen Blick für das sinnvolle Zusammenspiel der Kräfte, aus dem das Außerordentliche entspringt. Daß Kants Ästhetik erst erschien, nachdem seine theoretische und praktische Philosophie vollendet war, läßt sich aus den Schwierigkeiten der Probleme und auf Grund seiner eigenen Mitteilungen aufzeigen. Aber daß sie in eine Zeit hineintraf, in der sie mit unserer klassischen Literatur sich verbinden konnte, erscheint wie der Wille einer höheren Lenkung. Das ursprünglich auf ganz andere Ziele gerichtete Philosophieren des einsamen Königsberger Denkers befruchtete das künstlerische Schaffen unserer beiden großen Dichter, die unter seinem Zeichen sich damals zu gemeinsamem Wirken fanden. Über diesen Geschehen waltet ein Unerforschliches, das wir bewundern und „ruhig verehren" wollen.

A N M E R K U N G E N

I.

V g l . meine Schrift „ K a n t s Lehre von der E n t w i c k l u n g in N a t u r und Geschichte Berlin 1 9 1 1 . R . B . JACHMANN, J . K a n t , geschildert in Briefen, Königsberg 1804, S. 99. E s kommen hauptsächlich die Reflexionen zur L o g i k und Anthropologie (Bd. X V und X V I ) in B e t r a c h t ; v g l . die A n m e r k u n g unter II, 1. . V g l . I . K a n t s Menschenkunde, her. v o n FR.CH. STARKE, Quedlinburg und Leipzig 1838 und O. SCHLAPP, K a n t s Lehre v o m Genie und die E n t s t e h u n g der „ K r i t i k der U r t e i l s k r a f t " , Göttingen 1901. SCHLAPP h a t die seinerzeit f ü r die geplante A u s g a b e der A k a d e m i e gesammelten Vorlesungshefte v e r w e r t e t und zahlreiche A u s z ü g e aus ihnen gegeben. D a r i n h a t er wertvolles Material für die Quellen der K a n t i s c h e n Ä s t h e t i k geliefert. Leider l ä ß t SCHLAPP jedes philosophische Verständnis vermissen. K A R L VORLÄNDER, I . K a n t , L e i p z i g 1 9 2 4 , B d . I , S. 2 2 - 4 3 .

E . A . CH. WASIANSKI, I . K a n t in seinen letzten Lebensjahren, K ö n i g s b e r g 1804, S. 4 6 . V g l . F. T H . R l N K , Ansichten aus I. K a n t s Leben, Königsberg 1805. R . berichtet, d a ß K a n t die W o r t e des L u k r e z : „ N e cede malis sed contra audentior i t o " m i t „ w a h r e m Jugendfeuer" rezitierte (a. a. O. S. 20). V , 158 werden als eine A r t K o m pendium der Pflichten Juvenals W o r t e : „ E s t o bonus m i l e s " usw. angeführt. Gildemeister erzählt gerüchtweise, d a ß K a n t einem literarischen Zirkel angehört habe. U b e r das geistige L e b e n in Königsberg zu dieser Zeit vgl. F. J. SCHNEIDER, T H , G . V . H I P P E L 1 9 1 1 , S. 46ff. und R . UNGER, H a m a n n und die A u f k l ä r u n g , 1 9 1 1 . I, S. 196Ü. D i e Schrift des Grafen Veri erschien in deutscher Übersetzung von CHR.MEINERS unter d e m T i t e l „ G e d a n k e n über die N a t u r des V e r g n ü g e n s " 1777, das Original 1 7 7 3 ; vgl. V I I , 2 3 2 u. 362. M.MENDELSSOHNS ges. Schriften, Leipzig 1743f. B d . I V , 1, S. I 5 7 f f . L . E.BOROVVSKI, Ü b e r I m m a n u e l K a n t , Königsberg 1804, S. 168 f. V I I , 150 wird gesagt: „ W i e R a p h a e l MENGS von d e m G e m ä l d e der Schule der Peripatetiker (mich deucht v o n Corregio) sagt, daß, w e n n m a n sie lange ansieht, sie zu gehen scheinen"; vgl. dazu die E r l ä u t e r u n g . V g l . E . A . H A G E N , Geschichte des Theaters in Preußen, Königsberg 1854, S. H 4 f f .

Anmerkungen

207

II. 1

Die Verwertung der Reflexionen ist auf Grund der von Adickes in den Bänden des handschriftlichen Nachlasses vorgenommenen Datierung geschehen. Über die Anordnung des Stoffes hat er in Band X I V , p. X X V f f . und Band X V I I , p. VIff. Rechenschaft abgelegt. Die von ihm in entsagungsvoller Aufopferung in Jahrzehnten geleistete Arbeit muß mit dankbarer Bewunderung anerkannt werden. Gegen seine Unterscheidung von etwa 40 Schriftphasen ist mehrfach Einspruch erhoben worden, der sich besonders gegen die Verwertung von Unterschieden der Tinte wandte. Das ist wohl nicht ohne Grund geschehen, aber Adickes hat mit Recht dagegen geltend gemacht, daß vor allem die Stellungsindizien als wesentliches Hilfsmittel zu betrachten sind. Dazu kommen Datierungen, die sich aus der Kenntnis der Entwicklung des Kantischen Denkens nach den Werken und Briefen gewinnen lassen. Es ist nicht zu leugnen, daß durch Verwertung dieser Gesichtspunkte die Veröffentlichung der Reflexionen durch Adickes eine erheblich größere Zuverlässigkeit erhalten hat als etwa die von B. Erdmann. Unbedingte Sicherheit in der Datierung wird sich allerdings nie erreichen lassen. Auch liegen die Verhältnisse für die verschiedenen Disziplinen recht verschieden, über die Reflexionen zur Ästhetik ist im Text das Nötige gesagt worden.

2

Über den Wert der Nachschriften von Kants Vorlesungen ist eine kritische Bemerkung notwendig. Besonders die Untersuchungen von Adickes (Untersuchungen zu Kants physischer Geographie (1911) und meine eigenen haben mich überzeugt, daß wir Hefte, die wir mit Sicherheit auf eine bestimmte Vorlesung zurückführen und so fest datieren können, kaum besitzen. Wir haben es meist mit Abschriften zu tun, die von Studenten oder Abschreibern hergestellt worden sind und wohl durch Kauf von Hand zu Hand gingen. Die auf den Titelblättern zu findenden Jahreszahlen, ja Hinweise auf ein bestimmtes Semester, können nicht als sichere Datierungsmerkmale angesehen werden. Ohne ein bestimmtes Heft im Auge zu haben, möchte ich der Kürze wegen die mögliche Entstehung eines solchen Heftes mit fiktiven Zahlen einmal schildern. Im Jahre 1775 schrieb ein Student eine Vorlesung mit und arbeitete sie vielleicht zu Hause aus. Er gab sie dann weiter und ein zweiter Hörer trug in das Heft einiges Neue ein. Dann kam ein Abschreiber, der den ursprünglichen Text mit den gedachten Zusätzen vereinigte usw. Es gab wohl auch Hefte z. B. für die Ethikvorlesung, die besonders beliebt waren und trotz ihres Alters immer wieder abgeschrieben und mit neuen Datierungen versehen wurden. So geben die Hefte oft einen Text wieder, der einer vor Jahren gehaltenen Vorlesung entspricht. Da wir nun unmöglich Trennungen mit Sicherheit nach der Chronologie vornehmen können, schweben alle Datierungsversuche im Unsicheren. Zu bedenken ist ferner, daß wir es nicht mit Kants eigenen Worten, sondern mit Aufzeichnungen von Zuhörern zu tun haben, die immer nur einen fragwürdigen Wert besitzen. Kant stand ihnen selbst sehr kritisch gegenüber (XII, 361). Das hat wohl jeder akademische Lehrer einmal erfahren. Besondere Vorsicht ist notwendig, wenn es sich um Abschriften ungebildeter Abschreiber handelt; in manchen dieser Hefte ist kein Name richtig geschrieben und auch von dem Besitzer des Heftes nicht verbessert worden. Nach alledem ist größte Vorsicht bei Verwertung der Hefte anzuempfehlen, vor allem ist notwendig zur Kontrolle die Kompendien und die Reflexionen heranzuziehen. Wertvoll haben sich die Hefte durch das Material, das sie bieten, vielfach erwiesen und so mannigfach gedient, unverständliche Stellen des handschriftlichen Nachlasses aufzuklären. Für die vorliegende Untersuchung kommen neben der Publikation von JÄSCHE (Logikix, iff.) undF.CH. STARKES Ausgabe die Auszüge in Betracht, die SCHLAPP

208

Anmerkungen

in seinem schon genannten Buch gegeben hat. Im ganzen bin ich in der Verwertung der Vorlesungen zurückhaltend gewesen. Vieles, was sie enthalten, war vielleicht für Kants Zuhörer von Wert, hat darüber hinaus aber kaum Bedeutung. 3

Vgl. E.BERGMANN, Die Begründung der deutschen Ästhetik durch A. G. BAUMGARTEN und G. F.MEIER, Leipzig 1911 und zum Ganzen die Darstellung A. BAEUMLERS, Kants Kritik der Urteilskraft I, Halle 1923.

4

A. G.BAUM GARTEN, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, Halae 1735. Vgl. den Neudruck der „Aesthetica" und der „Meditationes", Barii 1936.

6

Vgl. meinen Aufsatz „Zur Entstehung von A. G. BAUMGARTENS Ästhetik", Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie Bd. 4, 1938. Die Frage, inwieweit Kant, abgesehen von der Vermittlung durch Meier, direkt von Baumgartens Ästhetik beeinflußt worden ist, läßt sich genauer nicht beantworten. Sicher ist, daß die ästhetischen Definitionen der „Metaphysica" von großer Bedeutung für einige wichtige Grundbegriffe gewesen sind. Diesen Zusammenhängen wird an den betreffenden Punkten nachzugehen sein. Darüber hinaus läßt sich aber nirgends eine besondere Auseinandersetzung mit dem Hauptwerk Baumgartens nachweisen. Vieles, was dasselbe enthielt, lag ja auch außerhalb des Kantischen Interessenkreises. So bleibt nichts übrig als Äußerungen anzuführen, die ein allgemeines Urteil über Kants Verhältnis zu Baumgarten ermöglichen und Rückschlüsse in bezug auf die angeregte Frage erlauben. Bekannt ist das Wort von dem „vortrefflichen Analysten" im Zusammenhang der Ablehnung einer Ästhetik als Wissenschaft (III, 50A). In dieser Charakteristik ist wohl nicht nur ein Lob zu sehen. Das geht aus Refl. 5081 (um 1776-78) hervor: Baumgarten: Der Mann war scharfsichtig (im Kleinen), aber nicht weitsichtig (im Großen)*. Anstatt seiner Ästhetik paßt sich besser das Wort: Kritik des Schönen. (* ein Kyclop von Metaphysiker, dem das eine Auge, nämlich Kritik fehlt.) (8 ein guter Analyst, aber nicht architektonischer Philosoph; seine Abrisse von Wissenschaften. Ähnlich äußert sich Kant in Refl. 5125.)

6

Vgl. II, 208 und zu dem folgenden Satz Lukrez: „ D e rerum natura" I, 936ff.

7

Das Wort kommt nach dem Grimmschen Wörterbuch gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf. J. U. König in dem Anhang zu seiner Ausgabe der Gedichte des Frh. v. Caniz (1727) handelt ausführlich vom Geschmack. E r nennt ihn eine zusammengesetzte Kraft der Seele zu empfinden und zu urteilen. Auch spricht er von unserer inneren Empfindung oder Beurteilungskraft. Abschließend sagt er: „ D e r Geschmack schließt allemal eine Beurteilung, aber das Urteil nicht notwendig den Geschmack in sich." Kant stellt selbst den Zusammenhang mit diesem Gebrauch des Wortes her, wenn er sagt: „Die reflektierende Urteilskraft ist diejenige, welche man auch das Beurteilungsvermögen (facultas dijudicandi) nennt". (I.Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, X X , 211.)

9

Philosophia rationalis sive Logica 2. Aufl. 1732.

9

HUTCHESON, An Inquiry into the Origin of our Ideas of Beauty and Virtue, 1725, Deutsche Übersetzung 1762.

10

M.MENDELSSOHNS gesammelte Schriften, 18430., I, S. 254. III.

1

Die Verwendung der Bezeichnung sensitiva verdient insofern eine Anmerkung, als Kant damit an eine durch Baumgarten berühmt gewordene Formulierung anknüpft. Wolff hatte schon zwischen dem appetitus in genere und dem appetitus

Anmerkungen

209

sensitivus unterschieden und gesagt, d a ß dieser „ o r i t u r e x i d e a boni c o n f u s a " . D a r a u f b e r u f t sich B a u m g a r t e n in §3 der „ M e d i t a t i o n e s " und s a g t dazu, d a ß er so die repraesentationes sensitivas v o n den intellectualibus unterscheiden will. In § 640 der M e t a p h y s i k z ä h l t er die f a c u l t a t e s nexus confusius cognoscentes auf und n e n n t als solche: ingenium sensitivum, a c u m e n s., m e m o r i a s., facultas fingendi, Judicium s., e x s p e c t a t i o c a s u u m similium, facultas charakteristica s. Sie bilden zus a m m e n das analogon rationis (das der V e r n u n f t Ähnliche). V i e l l e i c h t h a t a u c h hier Bilfinger die A n r e g u n g gegeben. E r definiert m i t Wolfif die sensationes als m u t a t i o n e s corporis durch äußere Dinge, die fünf Sinne sind die Organa sensoria. D a n n f ü g t er h i n z u : „ E t p o t e n t i a repraesentandi eiusmodi mutationes generaliter dicitur potentia sentiendi v e l e t anima sensitiva, rectius animae p o t e n t i a s e n s i t i v a " (Dilucidationes philosophicae 3 , 1746, § 246). Diese Terminologie k o m m t der höheren S c h ä t z u n g der Sinnlichkeit durch B a u m g a r t e n entgegen. D i e L e h r e v o n der animae p o t e n t i a sensitiva erhielt dann einen neuen Sinn durch K a n t s Theorie v o n R a u m u n d Zeit in der Dissertation. 2

Herders Briefwechsel m i t Nicolai, her. v o n O. HOFFMANN, Berlin 1887, S. 74.

3

V g l . E . Z l L S E L , D i e E n t s t e h u n g des Geniebegriffes, T ü b i n g e n 1926, und H e r m a n n W o l f i , V e r s u c h einer Geschichte des Geniebegriffs in der deutschen Ä s t h e t i k des 18. Jahrhunderts I. (Von Gottsched bis auf Lessing) B e i t r ä g e z u r Philosophie, 9, Heidelberg, 1923.

4

S . 50.

5

V g l . Lessings H a m b u r g i s c h e D r a m a t u r g i e , 48. S t ü c k und d o r t den H i n w e i s auf Diderot. IV.

1

V g l . N a t o r p s E i n l e i t u n g zur K r i t i k der praktischen V e r n u n f t , V , 489a.

a

X I , 74.

3

K a n t s K r i t i k der U r t e i l s k r a f t , her. v . B . E r d m a n n , 1880, S . X I X .

1

M i t E 1 u n d E 2 bezeichne ich die beiden E i n l e i t u n g e n . E l i s t j e t z t X X , 193®. abgedruckt.

6

V g l . die E i n t e i l u n g in den „ M e t a p h y s i s c h e n A n f a n g s g r ü n d e n der T u g e n d l e h r e " , VI, 4170.

V. 1

V g l . oben S S . 3 3 f . und 9 2 f f .

2

V g l . oben (S. 96fi.).

3

Vgl. I X ,

1

V g l . oben (S. 39f.).

5

R . H A Y M h a t in das j e t z t i m B e s i t z der Hallischen U n i v e r s i t ä t s b i b l i o t h e k befindliche E x e m p l a r e i n g e t r a g e n : „ a l s o B u r k e g i b t den Begriff des Uninteressierten." W e n n a u c h nicht wörtlich, so doch sachlich s t i m m t Mendelssohn m i t K a n t s L e h r e überein: „ W i r betrachten die Schönheit der N a t u r und der K u n s t ohne die m i n deste R e g u n g v o n B e g i e r d e m i t Vergnügen und W o h l g e f a l l e n . E s scheint v i e l m e h r ein besonderes M e r k m a l der Schönheit zu sein, d a ß sie m i t ruhigem W o h l g e f a l l e n b e t r a c h t e t w i r d ; d a ß sie gefällt, w e n n w i r sie a u c h n i c h t besitzen und v o n d e m Verlangen sie zu b e n u t z e n a u c h noch so w e i t e n t f e r n t s i n d " ( „ M o r g e n s t u n d e n " [1785], ges. Schriften, I I , S. 295).

5o3ff.

210

Anmerkungen

6

Ich verweise auf Schillers Brief an Körner vom 25. 1. 1793: „Ich finde, daß seine [Kants] Bemerkung den großen Nutzen haben kann, das Logische von dem Ästhetischen zu scheiden, aber eigentlich scheint sie mir doch den Begriff der Schönheit völlig zu verfehlen. Denn eben darin zeigt sich die Schönheit in ihrem höchsten Glänze, wenn sie die logische Natur ihres Objekts überwindet; und wie kann sie überwinden, wo kein Widerstand ist? Wie kann sie dem völlig farblosen StoS ihre Form erteilen? Ich bin wenigstens überzeugt, daß die Schönheit nur die Form einer Form ist, und daß das, was man ihren Stoff nennt, schlechterdings ein geformter Stoff sein muß. Die Vollkommenheit ist die Form eines Stoffes, die Schönheit hingegen ist die Form dieser Vollkommenheit, die sich also gegen die Schönheit, wie der Stoff zur Form verhält."

7

Vgl. oben S. 8 3 ff.

8

Vgl. G.WIENINGER, I.Kants Musikästhetik, I. D. München 1929. VI.

1

Goethe hat einmal dieser Zurückhaltung eine interessante Deutung gegeben. Er sagt: „ K a n t beschränkt sich mit Vorsatz in einen gewissen Kreis und deutet ironisch immer darüber hinaus." (Maximen und Reflexionen Nr. 1198; Schriften der Goethe-Gesellschaft Bd. 21, 1907.)

WERKE GOETHES Herausgegeben von der D E U T S C H E N A K A D E M I E D E R W I S S E N S C H A F T E N ZU B E R L I N Die mit der Divan-Ausgabe beginnende Reihe der „ W e r k e Goethes" ist aus Anlaß des 200jährigen Geburtstages Goethes im J a h r e 1949 von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Angriff genommen worden. Ihr Ziel ist es, die dichterischen Hauptwerke Goethes in kritisch bereinigten Einzelausgaben vorzulegen und die entsprechenden Bände der heute wissenschaftlich und editionstechnisch veralteten Sophien-Aus 0 abe durch neue, modernen Ansprüchen genügende Ausgaben zu ersetzen. Sie berücksichtigt dabei nicht n u r die wichtigen textgeschichtlichen Erkenntnisse, die seither gewonnen worden sind, sondern auch den beträchtlichen Zuwachs, den die handschriftlichen Bestände der öffentlichen und privaten Sammlungen und besonders die Bestände des Weimarer Goethe-und Schiller-Archivs inzwischen erfahren haben. Durch ihre kritische Auswertung konnte in vielen Fällen eine, neue Textgestaltung gewonnen und der ursprüngliche T e x t mit der Goethe eigenen Schreibung und Interpunktion gegenüber dem im wesentlichen durch die Ausgabe letzter H a n d bestimmten Text der Sophien-Ausgabe wiederhergestellt werden Das Unternehmen soll nicht nur der Forschung dienen, sondern auch dem großen Kreise der Goethefreunde und -Verehrer in aller Welt eine neue, textlich zuverlässige Volksausgabe zur Verfügung stellen. E s erscheint deshalb in Einzelausgaben, die in sich bandweise 'aufgeteilt sind, so d a ß auch der nicht wissenschaftlich interessierte Leser die besonders billig gehaltenen T e x t b ä n d e erwerben kann, ohne dadurch zum Kauf der in erster Linie f ü r den Forscher bestimmten Bände mit den Lesarten und den Zeugnissen und Materialien oder zur Abnahme der ganzen Reihe verpflichtet zu ' sein. Das Unternehmen steht unter der Leitung des bekannten Goetheforschers und Altertumswissenschaftlers Prof. E r n s t Grumach und arbeitet mit einem festen Stab wissenschaftlicher Mitarbeiter in Berlin und im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, dem sich bedeutende Germanisten des In- und Auslandes als freiwillige Mitarbeiter angeschlossen haben. Zunächst

erscheint:

WEST-ÖSTLICHERDIVAN BEARBEITER: ERNST

GRUMACH

Band 1: T e x t • I V und 248 Seiten, 4 Seiten Beilage mit Titel- und Schmuckblatt der Erstausgabe von 1819 nach der Originaldruckplatte im Besitz des Goethe-NationalMuseums in Weimar, in Ganzleinen gebunden, mit Goldprägung DM8,50 Band 2: Noten und Abhandlungen • IV und 208 Seiten, in Ganzleinen gebunden, mit Goldprägung DM 6,50 Band 3: Paralipomena • Erscheint Herbst 1952 Band 4: Überlieferung und Lesarten • Erscheint E n d e 1952 Band 5: Zeugnisse und Materialien • Bearb. von K.Mommsen, ersch. Ostern 1953 Band 6: Register Bestellungen

an eine Buchhandlung

erbeten

A K A D E M I E - V E R L A G • B E R L I N NW 7

DIE A B H A N D L U N G E N DER DEUTSCHEN A K A D E M I E DER W I S S E N S C H A F T E N ZU B E R L I N erscheinen

ab Jahrgang

i p j i in folgenden

fünf

Klassen:

Klasse für Mathematik und allgemeine Naturwissenschaften Klasse für medizinische Wissenschaften Klasse für technische Wissenschaften Klasse für Sprachen, Literaur und Kunst Klasse für Gesellschaftswissenschaften Jede Klasse kann für sich abonniert werden, jedoch nur im festen Abonnement für einen ganzen Jahrgang, d. h. die Abnahme des ersterscheinenden Heftes eines Jahrganges verpflichtet zum Bezüge des betreffenden Jahrganges dieser Klasse. Einzelne Hefte können erst nach Belieferung aller Festbezieher abgegeben werden.

DIE ABHANDLUNGEN DER DEUTSCHEN A K A D E M I E D E R W I S S E N S C H A F T E N ZU B E R L I N erscheinen in zwangloser Folge. Sie werden sofort bei Erscheinen den Abonnenten geliefert. Die Berechnung erfolgt einzeln. Die Preise der Hefte richten sich je nach ihrem Umfang.

Bitte geben Sie Ihre Bestellungen. - in Jahresabonnements und getrennt nach Klassen - Ihrer Buchhandlung, damit Sie immer rechtzeitig beliefert werden

Fordern

Sie ein Verzeichnis

der bisher

erschienenen

Hefte

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN NW7

vom