Aus fünfzig Jahren deutscher Wissenschaft: Die Entwicklung ihrer Fachgebiete in Einzeldarstellungen [Reprint 2019 ed.] 9783486763669, 9783486763652


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German Pages 507 [512] Year 1930

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Table of contents :
Geleitwort
Inhaltsverzeichnis
Friedrich Schmidt-Ott Und Die Deutsche Wissenschaft
Auslandsbeziehungen Der Deutschen Wissenschaft
Bibliothekswesen
Geisteswissenschaften
Evangelische Theologie
Katholische Theologie
Philosophie
Pädagogik
Rechtswissenschaft
Staatswissenschaften
Geschichte Und Kultur Der Mittelmeerwelt Und Des Vorderen Orients Bis Zum Untergang Des Altertums
Mittlere Und Neue Geschichte
Kunstgeschichte
Deutsche Philologie
Englische Philologie
Romanische Philologie
Slavische Philologie
Semitische Philologie
Sinologie
Naturwissenschaften Und Technik
Mathematik
Arbeitsgemeinschaft Und Gemeinschaftsarbeit In Naturwissenschaft Und Technik
Theoretische Physik
Experimentalphysik
Technische Physik
Die Physik Des Erdkörpers Und Seiner Atmosphäre
Chemie
Geologie
Mineralogie
Maritime Und Geographische Expeditionen
Ozeanographie
Völkerkunde
Biologie
Medizin
Forschung Und Forschungsinstitute Auf Dem Gebiet Der Experimentellen Medizin
Tierheilkunde
Maschinenwesen
Bauingenieurwesen
Entwickelung Des Städtebaues
Landwirtschaft
Forstwissenschaft
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Aus fünfzig Jahren deutscher Wissenschaft: Die Entwicklung ihrer Fachgebiete in Einzeldarstellungen [Reprint 2019 ed.]
 9783486763669, 9783486763652

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AUS FÜNFZIG JAHREN DEUTSCHER WISSENSCHAFT

AUS FÜNFZIG JAHREN DEUTSCHER WISSENSCHAFT DIE ENTWICKLUNG IHRER FACHGEBIETE IN EINZELDARSTELLUNGEN

HERAUSGEGEBEN VON

GUSTAV ABB

1930 WALTER DE GRUYTER & CO., BERLIN - HERDER & CO., FREIBURG R. OLDENBOURG, MÜNCHEN - B. G. TEUBNER, LEIPZIG

DRUCK VON J . J . AUGUSTIN IN GLÜCKSTADT UND HAMBURG.

SEINER E X Z E L L E N Z H E R R N S T A A T S M I N I S T E R

FRIEDRICH

D. DR.

SCHMIDT-OTT

ZUR F E I E R S E I N E S SIEBZIGSTEN G E B U R T S T A G E S IM NAMEN DER DEUTSCHEN WISSENSCHAFT ÜBERREICHT VON

WALTER VON DYCK - ADOLF VON HARNACK FRIEDRICH VON MÜLLER - FRITZ TILLMANN

GELEITWORT Berlin, im Mai 1930. Ew. Exzellenz! . . . .Vertreter aller deutschen Hochschulen traten zu einer Beratung zusammen, wie der bevorstehende Jubeltag Ew. Exzellenz würdig zu feiern sei. Sofort wies man darauf hin, daß Sie bereits Doktor aller Fakultäten und auch der Ingenieurwissenschaft seien; daher wurde erwogen, Sie in Zusammenfassung aller wissenschaftlichen Ehrungen zum »Doctor universalis« zu promovieren. Dieser Vorschlag aber wurde verworfen, weil er die Eigenart Ihrer Verdienste um die Wissenschaft nicht zum Ausdruck bringe. Ein zweiter Vorschlag wurde gemacht, man solle einen ganz neuen Titel wählen und den Jubilar zum »Procurator« oder »Moderator« der Wissenschaften promovieren. Noch bevor es zur Abstimmung über diesen Antrag kam, wünschte der Vorsitzende zu hören, wie das Elogium lauten solle. Eine Fülle von Vorschlägen stellte sich sofort ein, z. B.: »Vir iudicio circumspecto et firma voluntate gravis« — »Indefessa sedulitate et diligentia eximius« — »Circa scientiarum utilitates sollicitus Semper ac pervigil« — »Optimis imbutus traditionibus autoritates doctorum clarorum Semper servavit et servatas vult« — »Fere omnes Germaniae homines doctos respiciens et recognoscens ad singulas scientiarum quaestiones absolvendas idoneos quosque invenit« — »Propositi tenacissimus scientias cum cogitando tum agendo excolendas esse profitetur«. Als es zur Abstimmung kam, wurde eingewandt, die Hochschulen besäßen nicht das Recht, einen neuen Titel für die Promotionen zu schaffen. Die Majorität erkannte diesen Einspruch an und verzichtete schweren Herzens auf den »Procurator« und »Moderator«. Was aber nun, wenn diese Anregung erfolglos bleiben mußte? M a n m u ß d i e Ehrung des Jubilars aus der Geschichte der Wissenschaften des letzten Jahrzehnts nehmen! Er hat in dieser Zeit als Präsident der »Notgemeinschaft« ausschließlich und mit allen Kräften der Wissenschaft gedient — wer kann daher für eine Ehrung aus der G e s c h i c h t e würdiger sein? Wir wollen zeigen, wiesich die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen bei uns jüngst entwickelt haben. »Das ist nicht mein Werk«, wird der Jubilar einwerfen; »ich habe nur die Früchte der Bäume bewirtschaftet; denn ein voller wissenschaftlicher Herbst ist mir Jahr um Jahr entgegengebracht worden, und die reichen finanziellen Mittel verdankt man der Reichsregierung und dem Reichstag«. Gewiß, aber ohne die zielstrebige, erleuchtete und energische Tätigkeit Ew. Exzellenz wäre das große Werk der Restitution der deutschen Wissenschaft, das uns am Herzen liegt und von der Regierung der Länder betrieben wird, nach dem Kriege schwerlich geglückt! Und so beschloß man, die Geschichte der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen der jüngst verflossenen Zeit bei uns zu schreiben und sie Ihnen, hochverehrter Herr Staatsminister, zu unterbreiten als ein Zeichen des großen Dankes, den die deutsche Wissenschaft Ihnen schuldet.

VIII

Geleitwort

Der Schreiber dieser Zeilen, der als Marburger und Berliner Professor Ihre Tätigkeit und Ihren Aufstieg im Kultusministerium sowie Ihre Arbeit als Präsident der »Notgemeinschaft« von Anfang bis heute erlebt hat, reiht sich in herzlicher Verehrung dem Kreise der dankbaren und glückwünschenden Kollegen an. Wir alle wissen aber auch Ew. Exzellenz tiefen Dank für Ihre vorbildliche Arbeitskraft und -lust und für das persönliche und kollegiale Wohlwollen, das Sie Ihren Mitarbeitern, den alten und den jüngeren, stets bewiesen haben und fort und fort beweisen. Ad multos annos! Adolf v. Harnack.

INHALTSVERZEICHNIS GELEITWORT

ADOLF VON HARNACK, Exzellenz Wirkl. Geh. Rat Prof. D. Dr.-Berlin

FRIEDRICH SCHMIDT-OTT UND DEUTSCHE WISSENSCHAFT AUSLANDSBEZIEHUNGEN SCHEN WISSENSCHAFT

DER

DIE

REINHOLD SEEBERG. Geh. Koos. Rat Prof. D. Dr.-Berlin

DEUT-

GEORG SCHREIBER. Prikt Prof. D. Dr.Münster i./W.

BIBLIOTHEKSWESEN

FRITZ MILKAU, Geh. Reg. Rat Prof. Dr.-Berlin

Sette

VII

22

GEISTESWISSENSCHAFTEN EVANGELISCHE THEOLOGIE KATHOLISCHE THEOLOGIE

FERDINAND KATTENBUSCH, Kons. Rat Prof. D. Dr.-Halle a./S.

Geh.

44

ALBERT EHRHARD, Geh. Reg. Rat Prof. D. Dr.-Bonn

58

HEINRICH MAIER, Geh. Reg. Rat Prof. Dr.-Berlin

75

PÄDAGOGIK

EDUARD SPRANGER, Prof. Dr.-Berlin

86

RECHTSWISSENSCHAFT

ERNST HEYMANN, Geh. Justizrat Prof. Dr.-Berlin

104

STAATSWISSENSCHAFTEN

HERMANN SCHUMACHER, Geh. Reg. Rat Prof. Dr.-Berlin

136

VOLKERKUNDE *)

GEORG THILENIUS, Prof. Dr.-Hamburg

384

GESCHICHTE UND KULTUR DER MITTELMEERWELT UND DES VORDEREN ORIENTS BIS ZUM UNTERGANG DES ALTERTUMS

EDUARD MEYER, Geh. Reg. Rat Prof. D. Dr.-Berlin

159

MITTLERE UND NEUE GESCHICHTE

KARL BRANDI, Geh. Reg. Rat Prof. Dr.Göttingen

174

KUNSTGESCHICHTE

ADOLPH GOLD SCHMIDT, Geh. Reg. Rat Prof. Dr.-Berlin

192

DEUTSCHE PHILOLOGIE

EDWARD SCHRÖDER. Geh. Reg. Rat Prof. Dr.-Göttingen

198

ENGLISCHE PHILOLOGIE

FRIEDRICH BRIE, i./B.

216

PHILOSOPHIE

Prof. Dr.-Freibuig

Inhaltsverzeichnis ROMANISCHE PHILOLOGIE

WILHELM MEYER-LÜBKE, Geh. Reg. Rat Prof. Dr.-Bonn

232

SLAVISCHE PHILOLOGIE

MAX VASMER, Prof. Dr.-Berlin

241

SEMITISCHE PHILOLOGIE

ENNO LITTMANN. Tübingen

Prof.

D.

Dr.-

ERICH HANISCH, Prof. Dr.-Leipzig

SINOLOGIE

250 262

NATURWISSENSCHAFTEN UND TECHNIK MATHEMATIK

GON STANTIN CARATH£ODORY, Prof. Dr. und WALTHER VON DYCK. Geh. Rat Prof. Dr.-München

275

ARBEITSGEMEINSCHAFT UND GEMEINSCHAFTSARBEIT IN NATURWISSENSCHAFT UND TECHNIK

RUDOLF SCHENCK, Geh. Reg. Rat Prof. Dr.-Münster i./W.

286

THEORETISCHE PHYSIK

MAX PLANCK, Geh. Reg. Rat Prof. Dr.Berlin

300

EXPERIMENTALPHYSIK

JAMES FRANCK, Prof. Dr.-Göttingen

310

TECHNISCHE PHYSIK

JONATHAN ZENNECK, Geh. Reg. Rat Prof. Dr.-München

323

PHYSIK DES ERDKÖRPERS UND SEINER ATMOSPHÄRE

HUGO HERGESELL. Geh. Reg. Rat Prof. Dr.-Berlin

329

CHEMIE

FRITZ HABER, Geh. Reg. Rat Prof. Dr.Berlin

343

GEOLOGIE

HANS STILLE, Prof. Dr.-Göttingen

351

MINERALOGIE

GOTTLOB LINCK, Geh. Hofrat Prof. Dr.-Jena

358

MARITIME UND GEOGRAPHISCHE EXPEDITIONEN

ALBRECHT PENCK, Geh. Reg. Rat Prof. Dr.-Berlin

362

OZEANOGRAPHIE

ALBERT DEFANT, Prof. Dr.-Berlin

371

BIOLOGIE

FRITZ VON WETTSTEIN, Prof. Dr.Göttingen

400

MEDIZIN

FRIEDRICH VON MÜLLER, Geh. Rat Prof. Dr.-München

408

WILHELM KOLLE, Geh. Med. Rat Prof. Dr.-Frankfurt a./M.

430

FORSCHUNG UND FORSCHUNGSINSTITUTE AUF DEM GEBIET DER EXPERIMENTELLEN MEDIZIN

XI

Inhaltsverzeichnis TIERMEDIZIN

HERMANN MIESSNER, Prof. Dr. und JOHANNES PAECHTNER, Prof. Dr.Hannover

444

MASCHINENWESEN

ADOLPH NAGEL, Prof. Dr.-Dresden

45a

BAUINGENIEURWESEN

GEORGE DE THIERRY, Geh. Oberbaurat Prof. Dr.-Berlin

461

FRITZ SCHUMACHER, Oberbaudirektor Prof. Dr.-Hamburg

469

FRIEDRICH FALKE, Prof. Dr.-Leipzig

479

ENTWICKLUNG DES STÄDTEBAUS LANDWIRTSCHAFT FORSTWISSENSCHAFT

Geh. Reg. Rat

ERNST MÜNCH, Prof. Dr.-Tharandt

493

*) Durch Versehen beim Druck ist der Beitrag „Völkerkunde" statt an dieser redaktionell richtigen an einer unrichtigen Stelle eingefugt worden.

REINHOLD SEEBERG FRIEDRICH SCHMIDT-OTT UND DIE DEUTSCHE WISSENSCHAFT Die gesamte deutsche Wissenschaft begeht den 4. Juni dieses Jahres als einen hohen Festtag, indem sie in aufrichtiger Dankbarkeit des 70. Geburtstages des Präsidenten der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft gedenkt. Und weit über die deutschen Grenzen hinaus wird der Name Friedrich Schmidt-Ott in diesen Tagen mit hoher Verehrung genannt werden. Nur selten ist es einem Manne vergönnt, am Abend des Lebens seine höchsten Leistungen zu vollbringen, die seinem Namen einen Platz in der Geschichte seines Volkes sichern. Zumeist glänzt über solchen Jubiläen, wie wir eins begehen, die Abendsonne dankbarer Erinnerung daran, was der Gefeierte einst auf der Lebenshöhe »bester Jahre« geleistet hatte. Es liegt in dem Leben des Mannes, dem diese Zeilen gewidmet sind, anders. Die Großtat seines Lebens hat er in dem letzten Dezennium vollbracht. Das Licht, das diesen Festtag beleuchtet, ist nicht von früheren Taten erborgt, sondern es stammt mit seinem hellen und warmen Schein aus der unmittelbaren Gegenwart, die wir alle miterlebt haben. Wenn wir von hier aus auf den Lebensweg unseres Jubilars zurückschauen, so überkommt uns der wunderbare Eindruck einer Einheit und einer Harmonie in dem Aufbau dieses Lebens, wie sie ebenfalls nicht häufig sind. Es ist uns wohl so, als wenn alle großen Wege und kleinen Nebenpfade, die dies Leben gegangen ist, mit innerer Notwendigkeit gerade so sich kreuzen und aneinander anschließen mußten, um den Wanderer sicher auf die letzte Höhe, auf der wir ihn heute erblicken, zu leiten. Man kann eines Menschen Werk nicht höher ehren, als indem man sich bemüht, den Zusammenhang zwischen der inneren Notwendigkeit seines Geschehens mit dem Triebe des Führers zu seiner Verwirklichung zu erfassen. Denn so gewinnt die geschichtliche Tatsache das Gepräge des leitenden Mannes und diesem selbst wird die schönste Ehre zuteil, nämlich als Organ lebensnotwendiger Arbeit in seinem Volke anerkannt zu werden. Von diesem Gesichtspunkt aus möchte ich einige Blicke auf das Leben unseres Schmidt-Ott werfen. Diese Aufgabe hat freilich ihre besonderen Schwierigkeiten. Wie der bildende Künstler seiner Aufgabe nicht gerecht wird durch Wiedergabe der äußeren Züge des Menschen, sondern immer die Seele in sinnlicher Form nachzubilden streben wird, so wird auch der Schriftsteller den inneren Menschen in seiner äußeren Art, seinen Geschicken und Taten zu schauen trachten. Man kann davon sagen, es sei »nur subjektiv«. Gewiß, aber es ist doch das Tiefste und Stärkste, was von dem anderen Menschen in uns lebendig wurde, oder es ist das, um dessentwillen wir ihn ehren und lieben. Doch zunächst sei es gestattet, in kurzer Skizze einen Überblick über den Lebensgang unseres Jubilars zu geben. Friedrich Gustav Adolf Schmidt ist am 4. Juni 1860 geboren in Potsdam. Sein Vater war der spätere Präsident des Berliner Konsistoriums, dessen charaktervolle und energische Persönlichkeit den Alteren unter uns noch lebhaft vor Augen steht. Schmidt besuchte das WilhelmsI

Fettschrift Schmidt-Ott

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Reinhold Seeberg

Gymnasium in Berlin und später das Friedrichs-Gymnasium in Kassel, wohin sein Vater 1873 versetzt worden war. Nachdem er Ostern 1878 die Reifeprüfung in Kassel mit Auszeichnung bestanden hatte, widmete er sich dem juristischen Studium in Berlin, Heidelberg, Leipzig und Göttingen. Wie schon der Schüler sich froh dem Geist des klassischen Gymnasiums hingegeben hatte, so betrieb der Student mit vollem Eifer und tiefgehendem Verständnis das Studium seines Faches. Davon legte die Bearbeitung einer Preisaufgabe der Berliner juristischen Fakultät über die Handelsgesellschaften in den Stadtrechten des Mittelalters (1881) ebenso ein Zeugnis ab als die Aufforderung mehrerer seiner Berliner Professoren, sich ganz der wissenschaftlichen Laufbahn zu widmen. Schmidt war im übrigen keineswegs einseitig nur auf sein Fachstudium eingestellt, sondern hatte auch einen offenen Sinn für andere allgemeinere wissenschaftliche Gebiete, wie etwa die Philosophie, die Kunst und die Sprachwissenschaft. Seiner Begabung und seiner wissenschaftlichen Richtung entsprachen die Resultate der von ihm abgelegten Fachprüfungen. Er bestand die Referendarprüfimg 1882 mit dem Prädikat »vorzüglich«, 1883 wurde er von der Berliner Juristenfakultät magna cum laude zum Doktor promoviert und 1887 erhielt er bei der Assessorprüfung das Urteil »sehr gut«. Nun war der W e g ins volle Leben hinein frei, und es war in der Tat interessant, wo immer Schmidt es zu packen bekam. Schon im Jahre 1888 wurde er Hilfsarbeiter im Kultusministerium. 1892 finden wir ihn in Göttingen als Vertreter des Kurators der Universität. Im Sommer und Herbst 1893 weilte Schmidt in Chikago zur Weltausstellung, wo er die von ihm vorbereitete Ausstellung des Preußischen Kultusministeriums ordnete und leitete. 1895 wird er dann Vortragender Rat im Berliner Kultusministerium, wo er mit Althoff zusammen arbeitete und besonders mit den allgemeinen wissenschaftlichen und Bibliotheksangelegenheiten sowie verschiedenen Universitätsfragen beschäftigt war. Darauf wurde Schmidt 1911 zum Ministerialdirektor für die Kunstangelegenheiten ernannt. Vom Juli 1917 bis November 1918 war er dann preußischer Kultusminister. Im Jahre 1920 endlich gründete er die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, als deren Präsident er nunmehr seit zehn Jahren eine segensreiche Wirksamkeit ausübt. Im Jahre 1895 hatte sich Schmidt mit Fräulein Meta Ott aus Zürich verheiratet. Fünf Söhne sind dieser Ehe entsprossen. A m Tage seiner silbernen Hochzeit nahm er mit amtlicher Genehmigung für sich und seine Söhne den Namen Schmidt-Ott an. Das ist in knappen Umrissen das Leben unseres Jubilars. Es war ein köstliches Leben, denn es war Mühe und Arbeit. So einfach die Grundlinien dieses Lebens, waren, so weit reichten sie und so sehr waren sie stets getragen von der inneren Begeisterung für die hohen Ziele und von der pflichttreuen freudigen Arbeit gemäß den stolzen Traditionen des preußischen Beamtentums. Und die Pflichttreue sowie die Freudigkeit zur Arbeit rissen nicht ab, als der alte Staat zusammenbrach. Es war nicht Schmidts Art, in Trauer und Klage zurückzublicken. Er schaute vorwärts in die Zukunft. Die Not der Gegenwart ließ ihn nicht erstarren, sondern sie wurde ihm zum Antrieb zu neuer Arbeit. Er suchte und fand sie auf dem Gebiete, auf dem von Jugend auf und dann in den Jahren seines amtlichen Wirkens sein Wirken vor allem gelegen hatte. Es war die Wissenschaft und mit ihr die gesamte Kultur unseres Volkes.

Schmidt-Ott und die deutsche Wissenschaft

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Es war in der Tat etwas Großes, um was es in jenen Tagen ging. Ich erinnere mich noch genau der ersten Sitzungen im kleinen Kreise, aus denen dann die Gründung der Notgemeinschaft erwachsen ist. Jedes Wort, das gesprochen wurde, deckte neue Nöte und Löcken auf. Mochte man nun an die großen und größten Bibliotheken oder an die Büchersammlungen der Seminare und Institute denken, es war immer die gleiche Not. Große Lücken klafften in den Zeitschriftenreihen des Inlands wie vor allem des gesamten Auslands. Unüberwindliche Schwierigkeiten stellten sich dem Druck rein wissenschaftlicher Werke, zumal aus der Feder jüngerer Gelehrter, in den Weg. Die streng fachwissenschaftlichen Zeitschriften waren ins Stocken geraten. Aber auch die Arbeit selbst war von einer völligen Lähmung bedroht. Bei der zunehmenden allgemeinen Verarmung verboten sich wissenschaftliche Reisen aus eigenen Mitteln. Ebenso war die Experimentalforschung auf das schwerste gehemmt. Die großen, mit Gelehrten anderer Länder gemeinsam unternommenen Ausgrabungen schienen sich nicht wieder aufnehmen zu lassen. Erst allmählich sind diese Nöte allgemein zum Bewußtsein gekommen. Wir können darauf hier nicht weiter eingehen, denn das würde eine Darstellung der Geschichte der Notgemeinschaft in allen ihren Verästelungen bedeuten. Aber so viel ist schon aus dem Gesagten ersichtlich, daß die Notlage der deutschen Wissenschaft in der Tat immer bedrohlichere Formen annahm, ja geradezu einer furchtbaren Katastrophe entgegenzutreiben schien. Nichts wäre so unüberlegt, als wenn man diese Lage als eine vorübergehende und daher relativ gleichgültige hinstellen würde. Ohne das Eingreifen der Notgemeinschaft wäre der wissenschaftliche Zusammenbruch auf vielen Gebieten kaum vermieden worden. Man kann das um so sicherer aussprechen, als ja auch heute noch normale und wirklich allseitig dem Bedarf entsprechende Verhältnisse auf diesem Gebiet nicht erreicht sind. Man darf das sagen, auch wenn man mit aufrichtiger Bewunderung darauf blickt, was die Notgemeinschaft, trotz der an dem Bedarf bemessen doch nur geringen Mittel, auf den verschiedensten Gebieten der wissenschaftlichen Forschung gefördert und erreicht hat, worüber man sich von ihren »Berichten« belehren lassen kann. Es war aber auch keineswegs nur das Interesse eines Standes, das bei der dargelegten Notlage auf dem Spiele stand. Der Gelehrte dient wie jeder werktätige Mensch dem Ganzen seines Volkes. Auch die entlegenste Spezialforschung fördert die Erkenntnis und damit, wenn auch vielleicht nur indirekt das geistige Leben der Menschheit. Was diesem oder jenem »unnütz« oder »entlegen« erscheinen mag, hat für andere größte Bedeutung, und einsamste Gänge der Forschung können auf Lebensquellen stoßen, die bald die breite Öffentlichkeit bewegen und beleben. Aber hierzu kommt noch ein Weiteres. Die Notgemeinschaft hat ziemlich bald nach ihren Anfangen sich die Förderung der auch direkt für das Volksleben bedeutsamen wissenschaftlichen Arbeiten angelegen sein lassen, etwa durch die Unterstützung medizinischer und naturwissenschaftlicher, soziologischer und pädagogischer Forschungen. Erst recht verkehrt wäre es, sie wegen Zurückstellung des »Modernen« zu tadeln. Was in der Wissenschaft modern ist oder nicht, darüber kann natürlich nur die Wissenschaft selbst entscheiden, und ihre Vertreter sind es

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Reinhold Seeberg

doch, die über die Verwendung der vorhandenen Mittel der Notgemeinschaft ihre Wünsche und Ratschläge vorgelegt haben. Aber noch ein Gesichtspunkt kommt hier in Betracht. Es ist der internationale Charakter der Wissenschaft. Mag auch jedes Volk vermöge seiner besonderen Begabung im ganzen eine eigenartige wissenschaftliche Richtung einhalten, so schließt das gegenseitige Anregungen und gemeinsame Arbeit in frohem Wettstreit nicht aus, sondern vielmehr ein. Es mußte daher auch in den Aufgabenkreis der Notgemeinschaft fallen, die gemeinsame wissenschaftliche Arbeit der Völker, so weit sie das vermochte, zu fördern. Daß im übrigen hierdurch sich mancherlei Mittel auch zur Verständigung der Völker untereinander ergeben können, bedarf hier keiner Ausführung. Dies sind in den allgemeinsten Umrissen die Lebensfunktionen, die sich angesichts einer gegebenen Lage mit ihren Nöten und Bedürfnissen für die Notgemeinschaft ergeben haben. Die Einsicht der Regierung und das Reichstages, die allseitige Zustimmung und sachkundige Mitarbeit der Gelehrtenwelt und die rastlose hingebende und geschickte Leitung des Präsidenten der Notgemeinschaft haben dann diese Lebensfunktionen zu einheitlichem Zusammenwirken und zu eingreifender Arbeit organisiert und verbunden. Wir brauchen hier auf die mühevolle Einzelarbeit, die dies voraussetzte und durch die es zu einer alte Ansätze erhaltenden und auch neue Ziele hervorbringenden großzügigen Tätigkeit gelangte, nicht im einzelnen einzugehen. Es soll hier ja nicht die Geschichte der Notgemeinschaft erzählt werden, sondern für uns handelt es sich heute nur darum, die verdienstvolle Arbeit unseres Jubilars dankbar hervorzuheben. Es gehörte in der Tat viel dazu, um die erheblichen Mittel flüssig zu machen, um den rechten Stab von Mitarbeitern zu gewinnen, um die mannigfaltigen Interessen und die verschiedenartigen Meinungen zur Einheit zu verbinden und um das immer mehr anschwellende Werk auch technisch richtig zu organisieren. Nur ein Mann, der aus seinen früheren amtlichen Tätigkeit viele Beziehungen und umfassende und vielseitige Kenntnisse der Behörden, der Menschen und der Dinge hatte, war zu einer solchen Arbeit geeignet. Aber zu diesem Werk gehörte doch noch viel mehr als die bloße Routine des hohen Beamten. Ohne die hingebende Liebe zur Sache, ohne ein persönliches Verständnis der mannigfaltigen Aufgaben, welche diese Sache in sich beschloß, und weiter ohne ein Zurückstellen persönlicher Neigungen und Urteile hinter das objektiv Berechtigte und Notwendige ließ sich nichts Ganzes, wirklich Nützliches und Befriedigendes erreichen. Erst wer die Gegensätze überlegt, die hier zu überbrücken waren, und der mannigfachen Tendenzen und Willen, die dabei widereinander stoßen mußten, eingedenk ist, begreift, wie groß und schwer die Aufgaben waren, die sich hier ergaben. Es gehörte nicht nur ein erhebliches formales Geschick des Leiters der Verhandlungen, sondern auch der feste Glaube an die Sache, um die es ging, dazu, um aller dieser Schwierigkeiten Herr zu werden und um darüber nie müde oder willenlos zu werden. Gerade auf diesem Gebiete und in allem, was mit ihm zusammenhängt, liegen die großen Verdienste unseres Jubilars. Sie bestehen nicht nur in sachlichen Erfolgen, sondern in der sittlichen Einstellung eines Menschen, der einer großen Sache sich selbst mit allen seinen Kräften und mit seiner ganzen Seele dienstbar macht. Denken wir dem etwas genauer nach.

Schmidt-Ott und die deutsche Wissenschaft

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Schmidt ist nicht eine jener genialen überragenden Persönlichkeiten, welche durch den Schwung ihrer Einfalle, die Wucht ihres Willens und den Glanz ihrer Rede die Hörer zeitweilig mit sich fortreißen, auch wenn sie nicht innerlich überzeugt sind und nicht in freiem Entschluß Beschlüsse fassen. Seine Art ist eine andere, die fraglos gerade bei dem Leiter eines solchen Unternehmens erhebliche Vorzüge vor der eben geschilderten haben kann. Das ruhig erwogene sachliche Element steht bei ihm immer im Vordergrund; aber es sinkt nie herab zur mechanischen Notwendigkeit, sondern es wird umfangen und getragen von einer rechten persönlichen Überzeugung. Strenge Sachlichkeit und freie Persönlichkeit ergänzen sich so zu wohlerwogenem reifem Urteil. Auch er ist dem Zauber schöner großer Möglichkeiten durchaus zugänglich, aber die harten Schranken der Wirklichkeit und ihrer widerstrebenden Mächte erstehen alsbald vor seinem Auge und machen ihn vorsichtig im Urteil. Er unterdrückt dabei keineswegs die Gründe anderer Personen, er ist vielmehr immer bereit, sich durch Gründe belehren zu lassen, zumal wenn sie von sachkundiger Seite kommen. Daher läßt er zwar Meinung um Meinung sich aussprechen in der Erwartung, daß die sachkundige Erwägung die Waage der Entscheidung richtig bestimmen wird. Und darüber bildet und festigt sich ihm das eigene Urteil. Und so wird es ein echtes Urteil, in dem persönliche Überzeugung sich stützt und gründet auf die Erwägung der Gründe der Beteiligten, wie es ja für den Präsidenten einer großen Gesellschaft angemessen ist. Schmidt ist nie Tyrann und er ist nie Parteimann. Was er will, ist, den Gesamtwillen der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen und zugleich allen begründeten Wünschen nach Maßgabe der vorhandenen Mittel gerecht zu werden. Diese Verbindung von Persönlichkeit und Sachlichkeit setzt aber eine stets empfangliche Verstandestätigkeit nicht minder voraus als einen festen einheitlichen Willen. Ich denke hierbei nicht nur an die Verwaltungstätigkeit in ihren Einzelheiten, sondern vor allem an die geistige Erfassung der großen Ziele der Notgemeinschaft und ihrer Verbindung unter sich wie mit dem geistigen Leben der Nation wie der gesamten menschlichen Kulturgemeinschaft. Nur ein Mann, der von Jugend auf zu dem geistigen Leben innere Beziehung gehabt und der sie nicht verloren sondern befestigt und ergänzt hat in seiner Lebensarbeit an der Organisation der verschiedenen Seiten der geistigen Arbeit, ist einer solchen Aufgabe gewachsen. Natürlich kann er nicht alle Gebiete der Wissenschaft mit ihren Zusammenhängen und Entwicklungstendenzen oder mit ihren Beziehungen zur Weltkultur selbständig erforschen, sondern er ist dabei auf den Rat der Sachkundigen angewiesen. Aber es gehört schon ein hohes Maß allgemeiner geistiger Bildung und ein großer Umfang der Interessen dazu, um die Absichten und Anregungen der Sachverständigen in ihrem Kern und ihrer Tragweite wirklich zu verstehen und hier nach Wert und Bedeutung gegeneinander abzuwägen, wie es doch Aufgabe des Präsidenten ist. Es ist keine Forschung, aber es ist das Erkennen der großen Linie, welche die Forschung bestimmt. Und diese Linie will nicht; nur erkannt, sondern sie will festgehalten und dauernd zur Bestimmung der Richtung der Gesamtarbeit verwandt werdeh. Das stellt aber große Anforderungen an das einheitliche und reine Wollen des leitenden Mannes. Es ist leicht, das Einzelne, was der Tag bringt, zu wollen, zumal wenn es persönlichen Erfolg verspricht. Aber

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Reinhold Seeberg

es ist eine hohe sittliche Leistung, ein großes Ziel unausgesetzt zu wollen, auch wenn der gewünschte Erfolg nicht im vollen Umfang zu erreichen ist oder wenn Widerspruch und Mißdeutung den Fortschritt hemmen. Es kann gewiß als leichter erscheinen, sich von den Zufälligkeiten des Tages treiben zu lassen — kaum jemand kann sich dem ganz entziehen —, und doch wird hierdurch dem Willen das Festhalten an der idealen Grundrichtung erst recht erschwert. Wir sind unserem Jubilar daher besonders dankbar dafür, daß er an dem Kurs der Fahrt der Notgemeinschaft unter allen Verhältnissen festgehalten hat. Er hat in seiner Stellung als Präsident der Notgemeinschaft nicht nur ein helles verständiges Urteil, sondern auch einen festen moralischen Willen bewährt. Dies ist aber nur möglich gewesen, weil die große Aufgabe, die Schmidt sich gestellt hatte, ihm ein Herzensanliegen war, an dem er mit seinem ganzen Innenleben hing. Nicht nur Verstand und Wille, sondern auch das Gemüt war an dieser Arbeit beteiligt. Wenn die Wahrnehmung des Einzelnen oder Erfolg oder Mißerfolg des Strebens nicht nur einzelne Teile unseres Gefühls, sondern dies in seiner Einheit bewegen, reden wir von Gemüt. Diese echt deutsche Eigentümlichkeit — sie ist Stärke, aber kann auch zur Schwäche führen — gilt auch von unserem Schmidt. Ich werde nie die bewegten Worte vergessen, mit denen er mir antwortete, als ich bei einer zufalligen Begegnung bald nach seiner Ernennung zum Minister ihm meinen Glückwunsch aussprach. Ahnliches ist ja auch in manchem öffentlichen und privaten Worte in seinem Wirken an der Notgemeinschaft hervorgetreten. Daher hat er die Gabe des Miterlebens von Freud und Leid und dadurch auch ein tieferes Verständnis der Menschen, mit denen er in Berührung kommt, wie andrerseits diese einen einheitlichen Eindruck von seinem freundlichen und liebenswürdigen Wesen gewinnen, auch wenn er ihre Wünsche nicht zu erfüllen vermag. Unser Gemüt gewinnt nicht nur ein intuitives Verständnis der anderen, sondern regt auch in diesen eine ähnliche Intuition hinsichtlich unser selbst an. Es hängt hiermit zusammen, daß Schmidt in seinem Leben bei Mitarbeitern, Vorgesetzten und Untergebenen persönliches Vertrauen gefunden hat. Wir haben einen glücklich und harmonisch veranlagten Menschen kennen gelernt. Fröhlich ist er in das Leben eingetreten, hat sich immer in die Menschen und in die wechselnden Verhältnisse leicht und sicher hineinzufinden gewußt und ist so von Stufe zu Stufe emporgestiegen. Es ist nicht der Weg eines kühl berechnenden Egoisten gewesen, sondern eine glückliche innere Entwicklung, die auf allen ihren Stufen als letztes Ziel das Wohl des Vaterlands im Herzen trug. Und das war nicht nur eine Folge des Glückes des Elternhauses und der Tradition der Vorfahren. Es war auch nicht bloß der naturgemäße Ausdruck einer glücklichen Anlage, die sich rasch und leicht in jeder Lage zurechtzufinden vermochte. Alles dies, so wertvoll es ist, wird noch nicht des Lebens Herr. Die schönen Möglichkeiten müssen von innen her zur einheitlichen Wirklichkeit zusammengesetzt und dauernd gebraucht werden, das geschieht aber durch den eigenen freien Willen. Die Tätigkeit aber dieses Willens in der Richtung auf die Gesamtheit der Lebensaufgaben, wie sie sich in dem Beruf zusammenfassen, ist der Fleiß. Zu der geistigen Beweglichkeit ist in dem Leben unseres Schmidt von früh auf das schlichte Pflichtbewußtsein und der sich selbst beherrschende Fleiß getreten. Und beides hat sich in diesem

Schmidt-Ott und die deutsche Wissenschaft

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Leben zu unlöslicher Einheit zusammengefunden. Gerade bei dem leicht beweglichen und vielseitig interessierten Menschen ist diese Einheit des Wollens nicht immer leicht zu gewinnen. Und wenn er sich zu ihr zwingt, so droht wohl die liebenswürdige Beweglichkeit unterzugehen in erzwungener und daher langweiliger Pedanterie. Daß Schmidt es verstanden hat, Beweglichkeit und Vielseitigkeit mit dem treuen Willen zum Fleiß zu lebendiger Einheit zusammenzufassen, das ist einer der Hauptzüge in seinem Charakterbild. Ich brauche hierfür wirklich keine Belege beizubringen. Jeder, der ihn kennt oder sein Wirken mit einigem Verständnis zu beobachten Gelegenheit hatte, wird diesem Urteil zustimmen. Man denke nur an die vielen Gänge und Reisen, die der Präsident der Notgemeinschaft im Interesse dieser machen muß, an die sich häufenden Besprechungen und Sitzungen, an die Notwendigkeit, Beziehungen zu allen Kreisen der Wissenschaft und auch der Technik zu gewinnen und zu erhalten. Und wo immer Versammlungen von Wissenschaftlern stattfinden, kann man mit einiger Sicherheit annehmen, auch Schmidt dort zu treffen. Es sei in Leningrad oder in Moskau, im Kaukasus oder in Ungarn, in München oder Berlin usw., immer ist er dabei, stets frisch und froh und immer darauf aus, für seine Zwecke zu lernen und wichtige Menschen für sie zu gewinnen. Diese Beweglichkeit des alten Mannes hat geradezu etwas Wunderbares an sich, zumal sie von jeder nervösen Überreiztheit frei und immer von schwerwiegendem sachlichen Interesse bedingt ist und sich in ungekünstelter Freundlichkeit und Freudigkeit vollzieht. Er kann wohl morgens irgendwo im Flugzeug anlangen, dann Sitzungen mitmachen oder Besichtigungen vornehmen, um abends im Schlafwagen in sein Heim zurückzukehren und am folgenden Tage wieder an die gewohnte Arbeit zu gehen. Mögen dem Siebzigjährigen die Kräfte zu solchem Wirken im Dienst deutscher Wissenschaft noch lange frisch erhalten bleiben. Ich habe ein Bild unseres hochverehrten Jubilars zu zeichnen versucht. Ich schreibe diese Zeilen fern von Büchern und Menschen in ländlicher Einsamkeit. Aber die ganze Zeit über ist es mir, als säße er mir gegenüber am Tisch. Und was ich so von ihm sehe und aus seinem Munde höre, das habe ich niedergeschrieben, so gut ich es vermochte. Hundert kleinere Züge, die mir wieder gegenwärtig wurden, mußten unterdrückt werden. Ob ich richtig gesehen habe ? Andere werden natürlich manches anders ausdrücken oder Neues hinzufügen. Auf Einzelheiten kommt es aber bei einer so knappen Skizze wirklich nicht an, sondern nur darauf, daß wirklich Geschautes in verständliche Worte gefaßt wird. — Der Leser wird vielleicht den Einwand erheben, daß ich nichts von den Schranken und Fehlern des Jubilars gesagt habe. Ersteres wäre freilich kaum richtig, denn jedes Bild trägt seine Schranken in sich und es wäre wenig künstlerisch, sie durch Ausrufungszeichen kenntlich zu machen. Daß aber jeder Mensch seine Fehler hat und selbst die hellsten Seiten in ihm ihre Schatten werfen, ist selbstverständlich. Wir pflegen es daher in Charakterschilderungen nicht besonders zu unterstreichen, vollends nicht, wenn wir ein Jubiläum zu begehen uns rüsten und dem Dank weiter Kreise dadurch Ausdruck zu verleihen versuchen, daß wir den Mann mit seinen Kräften und seinem Streben uns vergegenwärtigen, der um den Geist und die Kultur unseres Volkes sich bleibende hohe Verdienste erworben hat.

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Reinhold Seeberg

Eine Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft wird, wie wir hoffen, nicht immer zu bestehen brauchen. Sie wird naturgemäß aufhören, wenn die Not, der sie entstammt, überwunden sein wird. Das kann freilich lange dauern. Aber wenn es eintritt, wird die Notgemeinschaft eine Episode in der Geschichte der deutschen Wissenschaft sein. Wer das wünscht, entwertet damit in keiner Weise die Notgemeinschaft oder den Mann, der sie begründet und lange Jahre treuer Arbeit ihr gewidmet hat. Es ist gewiß schöner und fruchtbarer, auf der Höhe der Entwicklung wandeln und arbeiten zu dürfen. Aber darum wird man das schlichte Heldentum und den treuen Glauben derer, welche nach dem Zusammenbruch des Hochweges unter den Trümmern nach brauchbarem Gestein zu neuem Aufstieg zur Höhe gruben, für nichts Geringes ansehen. Ihr Wirken ist freilich »Nothilfe« und nichts mehr. Aber da ohne diese Hilfe die Not nicht überwunden wäre, so wird der Nothilfe in der Geschichte der deutschen Wissenschaft ein besonderes Blatt gewidmet sein. Und auf diesem Blatt wird der Name Friedrich Schmidt-Ott stets an hervorragender Stelle stehen. Den Dank, den heute die Zeitgenossen in schweren Tagen ihm widmen, werden einst die Kinder glücklicherer Zeiten bestätigen.

GEORG SCHREIBER AUSLANDSBEZIEHUNGEN DER DEUTSCHEN WISSENSCHAFT Alle Wissenschaft ist stark vomNationalen her bestimmt. Vor allem wiesen das 19. und 20. Jahrhundert mit der Menschwerdung der Nation in diese willensmächtige und lebensverbundene Richtung. Seitdem sich in unserem Lande Wissenschaft von eigentümlich deutschem Gepräge entwickelte, ist sie gleichzeitig auf das stärkste in den internationalen Fernverkehr des Geistes einbezogen. Diese operatio ad extra stieg immer wieder aus zeitlichen und sachlichen Gegebenheiten auf, die auch andere Völker ergriffen. Aber diese fernmächtige Art ruht zu allem noch in einer hervorstechenden Eigenart der deutschen Geisteshaltung, darin nämlich, daß sie stets mit großer Aufgeschlossenheit und mit besonderer Freudigkeit Schienenwege zum Ausland legte. Die neuzeitliche Wissenschaft behielt in ihrem allgemeinen Entwicklungsgang zunächst etwas von dem u n i v e r s a l i s t i s c h e n Gepräge an sich, das dem mittelalterlichen Geistesleben, den Studien an den Universitäten Paris, Bologna und dem volkstumfreundlichen, zugleich aber länderverknüpfenden Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts seinen Stempel aufdrückte. Eine europäische weltbürgerliche Gesinnung durchwehte die Bemühungen der Naturforscher wie der Juristen und Historiker des 17. und 18. Säkulums. Sie ergriff weithin die Staatslehre, vor allem die politische Theorie der Franzosen, nicht minder die Werke der großen Philosophen dieses Zeitalters, das man mit der Etikette der Aufklärung versah, obwohl dieser Sammelbegriff zur Kennzeichnung eines weltbürgerlichen Sinnes und der schöpferischen Leistung bei weitem nicht ausreicht. Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde eine europäische Bewegung erneut mit der gemeinsamen Hinwendung zur Antike und mit klassizistischen Bestrebungen aufgenommen. Allerdings machte sich bereits der starke Einschlag nationaler Geistesverzweigung geltend, der durch ein romantisches Kulturgefühl zu allem noch gestärkt wurde. Deutschlands Anteil an allen diesen Bewegungen ist bekannt. Gerade aus dem mitteleuropäischen Raum waren Anregungen ausgegangen, die der wissenschaftlichen Arbeit kontinentale Weite und internationale Gemeinsamkeit gaben. Unter den großen Philosophen des Barockzeitalters war es vor allem Leibniz, der unausgesetzt Verbindungslinien zog. Er wirkte universalistisch in der umfassenden Weite seines Kraftfeldes. Er wurde mit seiner großen Lebensnähe zum Ratgeber deutscher und außerdeutscher Fürsten und Geistesgenosse von führenden Männern der verschiedensten Nationen. Er gab sich als ein Polyhistor des Schrifttums und der Gesinnung. Zur räumlichen Erweiterung der modernen wissenschaftlichen Erkenntnis gingen sodann von deutschen Forschern in der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert entscheidende Antriebe aus. Alexander von Humboldt ward zum international anerkannten Begründer der physikalischen Geographie, während auch andere deutsche Reisende, wie Carsten Niebuhr und Buch die Länder- und Völkerkunde wesentlich bereicherten.

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Am umfassendsten ist wohl der Anteil der Deutschen an der Wiedererweckung der A n t i k e gewesen. Ihre wissenschaftliche Durchdringung wurde mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein hervorstechender Zug des deutschen Geistes. Winckelmann, der Prophet der antiken Schönheit, Friedrich AugustWolf, der eigentliche Begründer der philologischen Textkritik, und Johann Heinrich Voß, der Vorläufer einfühlender Übersetzungskunst, stehen am Anfang einer Entwicklung, die sich im 19. Jahrhundert mit der großen Reihe glänzender Namen in der deutschen Altertumsforschung fortsetzte. Deutsche Künstler und Gelehrte waren es, die in Rom an dem erwachenden internationalen Interesse für das klassische Altertum den stärksten Anteil hatten. Ganz von selbst wiesen die Wege nach dem Mittelmeerbecken, im besonderen nach der Tiberstadt. Noack hat neuerdings diese Etappen eines deutschen Lebens eingehend aufgedeckt, das in Italien und am Mittelmeer reifte. So ging denn auch von deutscher Seite im Jahre 1829 die Gründung des Instituts für archäologische Korrespondenz in Rom aus, aus dem sich bald ein preußisches bzw. deutsches Forschungsinstitut entwickelte. Es wurde ein Vorbild und Erzieher für nationale archäologische Institute der meisten Kulturvölker in Rom. Die Wiegengeschichte des antiken, des mittelalterlichen und des mit der Renaissance eingeleiteten neueren Italien ist zum guten Teil durch deutsche und österreichische Gelehrte geschrieben. Somit ist Deutschland am Werdegang des italienischen Nationalitätsprinzips beachtlich beteiligt, mit jenem Mütterlichkeitsgefühl, das überhaupt seinen Anteil an der Geburt der Nationalitätsidee der europäischen Völker kennzeichnet. Die führende Rolle, die deutscher Wissenschaft bei der Erschließung des klassischen Altertums seit jener Epoche des Klassizismus geblieben ist, hat sich bis zumKriege immer erneut herausgestellt, besonders bei internationalen wissenschaftlichen Zusammenkünften. Allerdings wurde dieses nach draußen greifende Wissenschaftsinteresse mit einer gewissen Einseitigkeit auf Italien und Griechenland gerichtet. Gleichzeitig verlor Deutschland in Osteuropa und auch im Südosten ungeheure Interessengebiete. Das sind bedauerliche Verluste und Trümmerfelder, auf die Nadler neuerdings mit berechtigter Eindringlichkeit hingewiesen hat. Inzwischen hatte die deutsche Wissenschaft, in enger Gemeinschaft mit der dichterischen und philosophischen Literatur des Landes, ebenfalls seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts eine neue und eigene Richtung eingeschlagen, in der sie zum ersten Male von dem Geist der W e s t v ö l k e r völlig und entschieden abwich. Mit Herder und Lessing begann eine Entwicklung zu einer nationaldeutschen Geistigkeit in der Wissenschaft, die dann in den Bewegungen des deutschen Idealismus und der Romantik die eigentliche Verbindung von idealer Hingabe und sittlich begründeter Vertiefung in der deutschen wissenschaftlichen Arbeit und Denkweise geschaffen hat. Das E t h o s der deutschen Wissenschaft arbeitete sich persönlich und sachlich heraus. Gerade in diesen Bewegungen, die mit kategorischen Imperativen und mit starker Selbstzucht erfüllt und gestählt waren, prägte sich auch jener universalistische und weltweite Grundzug deutschen Geistesschaffens aufs neue aus. Mit dem von Herder zunächst erweckten Interesse für Volksgeist und Volksdichtung entwickelte sich in den neubelebten philologischen Wissenschaften in Deutschland eine rege Beschäftigung mit f r e m d e n Kulturen und Literaturen.

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Die Shakespeare-Ubersetzung der Romantiker leitete eine deutsche Ubersetzungskunst ein, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts an den europäischen und an den alten und neuen orientalischen Literaturen in einem Maße, wie das kaum einem anderen Volke beschieden war, betätigt hat. Der Begriff der »Weltliteratur« wurde durch Goethe zu einem Wahrzeichen des deutschen Bemühens, die geistigen Erzeugnisse anderer Völker und Kulturen in stete Wechselbeziehungen zu einer nationalen Dichtung zu bringen, die kräftig anstieg. In Ranke erhob sich die deutsche Geschichtsschreibung zu einer bis dahin unbekannten Weite der universalgeschichtlichen Auffassung auf der Grundlage volksgeschichtlicher Einfühlung. Die Geschichte der meisten europäischen Völker wurde diesen Nationen, die an der Herausstellung ihrer eigenen politischen und kulturellen Individualität arbeiten, deutscherseits in einem neuen Lichte dargestellt. »Es liegt in der deutschen Natur«, wie Goethe einmal aussprach, »alles Ausländische in seiner Art zu würdigen und sich fremder Eigentümlichkeit zu bequemen«. Es handelt sich indes nicht um eine mechanische und das Eigene tötende Anpassung, sondern um eine innerlich-neue und eigentümliche Auffassung eigenen und fremden Kulturgutes. Es begab sich eine Hereinnahme von Auslandsgut und von kulturellem Auslandskapital, das durch das Medium deutscher Erkenntnis und auch des deutschen Gemüts von selbst zur Neubeseelung und Neuschöpfung wurde. Das Bewußtsein, an der Bildung der Menschheit zu arbeiten, verband sich mit einem neuen Verständnis fremder Geisteswelten, das in Deutschland gleichzeitig mit der Vertiefung für eigenes Wesen und Werden ausgebildet wurde. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts kräftigte und systematisierte sich in a l l e n Kulturländern die wissenschaftliche Arbeit. Sie schuf sich aber nicht nur eine reich gegliederte, fachmäßig aufgeteilte Innenarchitektur, sondern sie drängte gleichzeitig nach draußen. Sie fühlte, daß sie am Nachbar sich kräftigte und steigerte. Es setzten ein als Hohes Lied einer altruistisch empfundenen Menschlichkeit die internationalen wissenschaftlichen Kongresse, es organisierten sich die permanenten Komitees, es mehrten sich die Versuche zur Schaffung internationaler Referatenorgane, die zunächst in den Gebieten der Naturwissenschaften und der Medizin als drängende Notwendigkeiten empfunden wurden. Die deutsche Wissenschaft hat diesen Bestrebungen zu umfassenden Orientierungen ihrerseits frühzeitig mit einem eigenen ausgebildeten Referatenwesen, mit umfassenden Bibliographien und Enzyklopädien gedient. So trat sie mit einer beträchtlichen Intensivierung ihrer Arbeit in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts ein, in das Kulturschaffen des bismarckischen Zeitalters, aber auch der Münchener und auch der Wiener Donaulinie, die stark nach Südosteuropa wirkte. Die universalistische vergeistigte Haltung der ersten Jahrhunderthälfte wirkte dabei als Tradition und als fortwährender Unterton mit. Die Reichsgründung, das gewonnene außenpolitische Prestige, der Aufstieg der Wirtschaft, die technische Industrialisierung des Landes, die aus Wirtschaft, Kultur und einem neu sich orientierenden Sozialgefühl verstärkte wissenschaftliche Aktivität leiteten eine n e u e Epoche wissenschaftlicher Auslandswirkung für Deutschland ein. Die Wissenschaftsdisziplinen schafften sich mehr und mehr organisierte Institute und Versuchseinrichtungen und suchten in einem neuen Realismus die

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Erkenntnis für das L e b e n nutzbar zu machen. Wissenschaftliche Arbeit wurde die Wegbereiterin des erstaunlichen technischen Fortschritts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit dem gleichzeitig die deutsche Forschung an dem internationalen technischen und wirtschaftlichen Wettbewerb mitwirkte. Der wissenschaftliche Ehrgeiz der Völker entwickelte sich in einem lebensteigernden Rhythmus des Weltgeschehens, aber auch in einer stärkeren Beseelung des Selbstporträts einer jeden Nation. Die Erfindungen von Werner von Siemens beleuchten mit am stärksten diesen Anteil der deutschen Wissenschaft an der internationalen technischen Entwicklung, auf den Weltausstellungen kam die Auslandswirkung deutscher technischer Wissenschaft in wachsendem Maße zur Geltung, am deutlichsten auf den vom Reichsamt des Innern (Th. Lewald) zusammen mit den Ländern (Schmidt-Ott) sorgfältig vorbereiteten Ausstellungen in Chikago (1893) und St. Louis (1904). Die 1887 neugegründete Physikalisch-Technische Reichsanstalt, die für ähnliche Einrichtungen in England und Frankreich maßgebend wurde, hatte von Anfang an der international wichtigen Aufgabe der physikalischen Maßeinheiten zu dienen. Das Deutsche Reich war auch am Internationalen Maß- und Gewichtsbüro in Paris seit langem als Mitglied beteiligt. Auf Gebieten, wo eine ständige wissenschaftliche Zusammenarbeit notwendig war, trat die deutsche Wissenschaft in entsprechende V e r e i n b a r u n g e n ein, die zum großen Teil ihren festen Mittelpunkt in Deutschland erhielten. Die Zentralstelle der permanenten internationalen Erdmessung befand sich nach dem Plane des preußischen Generals Baeyer und nach der Gründung des Preußischen Geodätischen Instituts im Jahre 1868 in Berlin und wurde nach Baeyers Tod 1886 mit der Übersiedlung des Instituts nach Potsdam verlegt, wo sie bis zum Kriege blieb. Mit den nordischen Staaten bildete Deutschland die in Kopenhagen stationierte Kommission zur Erforschung der nordischen Meere. Auf Grund internationaler Vereinbarung wurden die Untersuchungen der freien Atmosphäre durch Ballonfahrten begonnen, die zur Gründung des Preußischen Aeronautischen Observatoriums in Lindenberg führten. Deutsche Gelehrte arbeiteten führend in der Internationalen Seismologischen Assoziation mit dem Sitz in Straßburg i. E. und in der Internationalen Organisation für Luftschiffahrt. Dazu kam noch vor dem Kriege die deutsche Beteiligung an der Internationalen Bibliographie der Sozialwissenschaften und am Internationalen Landwirtschaftlichen Institut in Rom, dessen Selbständigkeit — ein Wandel der Zeiten — vom Völkerbund vorübergehend in Frage gestellt war. Auch die g e i s t e s w i s s e n s c h a f t l i c h e Arbeit nahm an dem Aufschwung der Gründerjahrzehnte teil. Ihr galten vor allem die weltumspannenden Unternehmungen der Akademien der Wissenschaften und verwandter Korporationen, durch welche die Stellung der deutschen Wissenschaft neu begründet wurde. Im Namen der Preußischen Akademie der Wissenschaften forderte Theodor Mommsen kurz nach der Reichsgründung im Jahre 1874 eine erneute Aktivität der Akademien und des Staates auf dem Gebiete grundlegender Arbeit in der Sammlung und Sichtung des wissenschaftlichen Apparates. Forscherinitative und Staatsmittel schufen den Boden für umfassende Leistungen. Die großen Corpus-Unternehmungen der Altertumswissenschaft, das Corpus inscriptionum latinarum, das Corpus inscriptionum

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graecarum, die Sammlungen der antiken Arzte und Historiker, die KirchenväterAusgaben wurden ebenso wie die Regesta Pontificum Romanorum der Göttinger Akademie und das Concilium Tridentinum der Görresgesellschaft zu Sammelpunkten internationalen Interesses an deutscher wissenschaftlicher Arbeit. Aus dem großen Plan eines Thesaurus linguae latinae und zunächst zu seiner Durchführung erwuchs unter den Händen von Althoff und Schmidt 1893 das Kartell der deutschen Akademien. Naturwissenschaftliche Akademieunternehmungen von internationaler Bedeutung, wie die Geschichte des Fixsternhimmels, traten den historisch-philologischen zur Seite, wenn auch die deutschen Akademien niemals ein eigentliches G e s a m t i n t e r e s s e für alle Disziplinen praktisch zu betätigen vermochten. Der Kartellierungsgedanke, der sich unter den deutschen Akademien durchgesetzt hatte, griff nun auf die führenden außerdeutschen Akademien über. Als 1898 auf dem Kartelltage der deutschen Akademien in Göttingen Vertreter der Royal Society aus London den Gedanken eines internationalen Kataloges der wissenschaftlichen Literatur zur Sprache gebracht hatten, ergriff das deutsche Kartell seinerseits in bewußter Anknüpfung an Leibnizsche Gedanken die Initiative zur Gründung einer Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Akademien. Darauf wurde 1901 in Paris die Internationale Assoziation der Akademien aus den wissenschaftlichen Akademien von zwölf europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten gebildet. Es war das eigentlich die erste weltumfassende universale Wissenschaftsorganisation, in der die Autorität eines Wissenschaftsareopags reifte, die heute nach dem Weltkrieg in dieser Form nicht mehr besteht. Ihre erste und bedeutendste Aufgabe war die Internationale Bibliographie der Naturwissenschaften; daneben bot sie eine Grundlage für die Zusammenarbeit verschiedener Akademien, wie vor allem der Berliner und der Pariser Akademie. Die Assoziation wurde zur Repräsentantin eines gewissen Einheitsstrebens der wissenschaftlichen Forschung, die in den Kulturländern statt hatte. In einer Vorwegnahme der späteren Organisationstechnik des Völkerbundes nahm sie auch gemeinsame praktische Fragen auf, wie die internationale Regelung der Verleihung von Druckschriften und Handschriften. Berlin war für 1916 zum Tagungsort der Akademien ausersehen und übernahm wenige Monate vor dem K r i e g e die Verwaltung. Solche Einzeltatsachen, die hier mitgeteilt werden, umfassen nur einige sichtbar gewordene Vereinbarungen und Einrichtungen. Nur andeutungsweise kann daneben auf die dauernden p e r s ö n l i c h e n Wechselbeziehungen hingewiesen werden, die laufend zwischen deutschen und ausländischen Gelehrten sich bildeten. Sie mochten oft genug tiefer greifen, als es den rein organisatorischen Fäden vergönnt blieb. Sie gaben den großen wissenschaftlichen Kongressen und Jubiläumsfeiern der Vorkriegszeit die intimere Note. So vollzog sich der Anstieg eines sich stets erneuernden und vertiefenden Interesses, das wie ein leuchtendes Symbol der Völkerverbundenheit wirkte. Mit starkem Pathos, das aber zu hell und zu überlaut erklang, rühmte auf der Jubiläumsfeier der Leipziger Universität (1909) vor einem glanzvollen internationalen Gelehrtenpublikum Karl Binding die internationale Verbundenheit der Wissenschaftsbeziehungen. Das fahle gespenstische Licht der politischen Gewitterwolken wirkte dazu wie eine grelle Dissonanz.

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Der selbständige Anteil der deutschen Wissenschaft an der internationalen Entwicklung aller wichtigen Wissenschaftszweige ist gerade in dem letzten halben Jahrhundert nicht hinwegzudenken und hat bis zum Kriege in einem wachsenden Bewußtsein von der Gemeinschaft der wissenschaftlichen Arbeit und der gegenseitigen Bedingtheit der Gelehrten in den verschiedenen Ländern seinen Ausdruck gefunden. Für Einzelgebiete ist diese Beteiligung natürlich sehr unterschiedlich gelagert. Auch die Arbeit der deutschen Wissenschaft, die im Auslandsraum statthatte, konnte allmählich ausgebaut werden. Das Archäologische Institut, das zunächst als internationale Stiftung unter dem Protektorat des Kronprinzen von Preußen gegründet war, erhielt schon seit 1859 Zuschüsse aus dem preußischen Staatshaushalt und wurde 1874 in ein Reichsinstitut umgewandelt. Zu dem alten römischen Institut, das auf dem Grundstück des Palazzo Caffarelli untergebracht wurde, trat die Zweiganstalt in Athen. Beide Institute wurden mit ihren Monumentenpublikationen, ihren Corpusunternehmungen und der Betätigung ihrer wissenschaftlichen Beamten und Stipendiaten zu Mittelpunkten zwischenstaatlicher Forschung auf dem Gebiete der Altertumswissenschaft, weil zum Institutscharakter wegweisende Persönlichkeiten hinzutraten. Die völkerverbindende Arbeit der Archäologie betätigte sich in den Ausgrabungen von Olympia, Milet, Pergamon, in den Forschungen der Deutschen Orientgesellschaft in Babylon, Assur und Ägypten, in den Untersuchungen in Boghazköi und den deutschen Turfanexpeditionen wie in zahlreichen anderen Grabungsunternehmungen. Die archäologische Forschung in Ägypten fand einen Mittelpunkt im Deutschen Haus in Kairo, die kunstgeschichtliche Arbeit eine Stütze im Deutschen Kunsthistorischen Institut in Florenz; der Campo Santo Teutonico in Rom wurde zur unentbehrlichen Pflanzschule für verschiedene historische Disziplinen. In Neapel und Rovigno entstanden zoologische Stationen für deutsche Gelehrte am Mittelmeer. Die deutsche Station in Neapel öffnete sich zugleich den Forschern aller Nationen. 1911 wurde aus privaten Zuwendungen eine deutsche aerologische Station auf Spitzbergen eingerichtet. Im allgemeinen überwog jedoch der Zug zum Mittelmeer, das von Deutschland aus mit wissenschaftlichen Leuchttürmen besetzt wurde. Dabei wurde die Pyrenäenhalbinsel organisatorisch vernachlässigt, und infolgedessen wurden auch manche Wege nach Südamerika nicht beschritten. In den deutschen Kolonien erhielten medizinische, geologische und geophysikalische Forschungen sowie Sprachund Literaturstudien Anregung und Stützpunkte; große Forschungsexpeditionen, wie die Deutsche Südpolarexpedition auf der »Gauß«, die Deutsche TiefseeExpedition und die Südsee-Expedition auf der »Valdivia« eroberten wissenschaftliches Neuland. Das Deutsche Reich hat seit seiner Gründung den deutschen wissenschaftlichen Unternehmungen im Auslande einen beachtlichen Wissenschaftsschutz angedeihen lassen, indem die Verwaltung und finanzielle Unterstützung der meisten wissenschaftlichen Auslandinstitute und internationalen wissenschaftlichen Mitgliedschaften übernommen wurde. Man wuchs in politisches Neuland hinein. Es gemahnt den Historiker unwillkürlich an die Zeiten, in denen staufische Kaiser aufstrebenden Kulturstätten mit Privilegien ihre besondere »tutela« verliehen

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haben. Als Träger der deutschen Außenpolitik gewann das Reich ein natürliches Interesse an wissenschaftlichen Vorpostenstellungen Deutschlands im Ausland sowie an dem Ausbau der Auslandkenntnis. Die ersten Anfange einer bewußt zu gestaltenden A u s l a n d k u l t u r p o l i t i k meldeten sich an. Die Bedürfnisse des diplomatischen Dienstes führten unter unmittelbarer Initiative Bismarcks zur Gründung des Seminars für orientalische Sprachen, das der Kenntnis lebender Sprachen und Kulturen zu dienen hatte. Allerdings blieb diesem zunächst praktisch gerichteten Unternehmen die Staffelung in die Tiefe und eine Entwicklung in die Auslandhochschule untersagt. Zudem wurde es von den Berliner Hochschulen so stark überschattet, daß es sich eine eigene größere Selbständigkeit nicht eroberte. Soweit es eine staatliche Fürsorge für die Auslandsbeziehungen der deutschen Wissenschaft im kaiserlichen Deutschland gab, liefen jedoch zahlreiche Fäden damals noch nicht so sehr bei den Reichsbehörden wie beim P r e u ß i s c h e n K u l t u s m i n i s t e r i u m zusammen, das mit seiner alten Überlieferung und seinem staatlichen Unterbau, vor allem in der Ära Althoff, bewußt der wissenschaftlichen Annäherung der Nationen zu dienen suchte. Althoff und sein Mitarbeiter und Nachfolger Friedrich Schmidt waren persönlich an dem geschilderten Aufbau der internationalen wissenschaftlichen Arbeit auf das stärkste beteiligt. Althoffs Anregungen für die Assoziation der Akademien wurden noch 19x3 von Roethe in der Preußischen Akademie der Wissenschaften lebhaft gewürdigt. Die preußische Wissenschaftsund Kunstverwaltung leitete die meisten großen Ausgrabungen, wie die erwähnten Forschungsexpeditionen ein, sie wirkte fortlaufend für die Vertretung Deutschlands auf internationalen Kongressen und führte seit 1905 den höchst bedeutsamen regelmäßigen Professorenaustausch mit amerikanischen Universitäten ein. In dem Preußischen Historischen Institut in Rom, das ursprünglich die Beziehungen Preußens zur Kurie, sodann aber auch weitergreifende historische Aufgaben in italienischen Archiven und Bibliotheken zu bearbeiten hatte, besaß Preußen zugleich einen eigenen wissenschaftlichen Auslandsposten, den es bis heute behalten hat, wenn auch manche Momente für eine Überführung an das Reich geltend gemacht sind. Im Preußischen Kultusministerium wurde auch eine starke Initiative entfaltet, als es sich für Deutschland darum handelte, gleich anderen Kulturvölkern an der kulturellen Arbeit im fernen Osten mitzuwirken. Als im Frühjahr 1 9 1 1 eine chinesische Studienkommission, der u. a. der Präsident des chinesischen Unterrichtswesens angehörte, zum Studium der öffentlichen Einrichtungen nach Deutschland kam, wurde von amtlichen und privaten Kreisen die Errichtung einer medizinischen Fachschule mit deutscher Unterrichtssprache in Aussicht genommen. Es gelang im wesentlichen aus Spenden deutscher Wirtschaftskreise und mit tätiger Beihilfe des Auswärtigen Amtes und des Preußischen Kultusministeriums eine Medizinschule und eine Sprachenschule und unmittelbar im Anschluß daran auch eine Ingenieurschule in Shanghai ins Leben zu rufen. Es glückte auch, in wenigen Jahren, allen Schwierigkeiten zum Trotz, diese Schulen zu erfolgreicher Wirksamkeit zu bringen. In einer bedeutsamen Zusammenarbeit führender Kulturbeamter und Wirtschaftler — in dem begründenden Ausschuß waren Althoff und Schmidt-Ott mit Männern wie Urbig, Böttinger, Koppel u. a. vereinigt — und in

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gemeinsamer Arbeit deutscher Kreise im Reiche mit der deutschen Ärztevereinigung in Shanghai war hier ein Werk entstanden, das zum erstenMal bewußt die deutsche wissenschaftliche Arbeit als Führerin und Lehrmeisterin fernöstlich einsetzte. Bei diesen Unternehmungen zeigte es sich fast erstmalig in der Linienführung der deutschen Wissenschaftspolitik, daß dieNotwendigkeit bestand, die W i r t s c h a f t als Kulturfaktor einzuschalten. Das Amtszimmer des Verwaltungsbeamten allein reichte nicht aus. Dabei wurde in diesen Auslandsfragen die Wirtschaft keineswegs nur als Mäzen empfunden. Soweit Hamburg und die Uberseekreise in Frage kamen, brauchte man den weitsichtigsten Blick, den Sinn für taktische Möglichkeiten, das völkerpsychologische Einfühlen dieser an den Piers von New York und an den Faktoreien von Tropenströmen geschulten Kreise, um den Auslandsbedürfnissen Rechnung zu tragen. Neue Entwicklungslinien kündigten sich damit an, die schließlich in der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft eine Dauer-Union von Wirtschaft und Wissenschaft formten. Noch eine andere Entwicklungslinie schälte sich heraus. Das Preußische Kultusministerium fühlte dort, wo es dieWege nach Übersee ging, auch die G r e n z e n seiner Wirkungsmöglichkeit. Wenn es mit dem Auswärtigen Amt zusammen arbeitete, bezeichnete letzteres keineswegs nur Brücke, Medium und Ausfallstor zu den Fremdvölkern. Allmählich erwuchs auch im Auswärtigen Amt eine gewisse Uberlieferung und eine an der allgemeinen Auslands- und Kolonialpolitik reifende Zielstellung. Diese aktive Mitwirkung lag in der Natur der Auslandskulturpolitik begründet. Letztere kann sich nur dann entfalten, wenn sie mit der allgemeinen Auslandspolitik, ja von ihr Richtung und Zielsetzung empfängt. So drängten alle Momente in die Richtung, daß das Auswärtige Amt, so dankbar es dem Preußischen Kultusministerium für seine Hilfsstellung war, auf eine gewisse S e l b s t ä n d i g k e i t seiner kulturpolitischen Linie hinarbeitete, deren volle Herausarbeitung eigentlich erst der Nachkriegszeit blieb, als sich dort den Länderabteilungen eine eigene Kulturabteilung zugesellte, als sich ferner die Notwendigkeit ergab, auch die m i t t e l d e u t s c h e n und s ü d d e u t s c h e n Wissenschaftskreise stärker heranzuziehen. Eine planvolle Mitinteressierung dieser Gruppen war noch nicht gelungen, obwohl viele Momente dort in eine auslandfreundliche Richtung wiesen. Immerhin war es für die deutsche Gesamtheit gut, wenn wenigstens Preußen eine gewisse stille Verreichlichung an sich geschehen ließ, wenn es dem Auswärtigen Amt half. Preußens Name ist ehrenvoll in die Frühzeit einer Entwicklung einbezogen, die in ihrem weiteren Ablauf natürlich ihr Wiegenzeitalter überwinden mußte. Wenn die wissenschaftliche und politische Entwicklung mehr und mehr die verschiedensten Teile der Welt zum Arbeitsfeld deutscher Gelehrter machte, so ist — wenn auch die Auffassung des Auswärtigen Amtes weiter griff — dabei doch die b e w u ß t e und zum Systemerhobene auslandkulturpolitische Absicht der deutschen Vorkriegswissenschaft meistens fremd geblieben. Nur seine Leistung, nicht seinen Einfluß suchte der deutsche Forscher im Auslande geltend zu machen. Die Bedeutung nationaler Geisteskultur und Wissenschaft für die internationale Stellung Deutschlands, die Suggestivkraft des geistigen Exports ist vor dem Kriege nicht eigentlich in das breitere Bewußtsein gedrungen.

17 Getreu dem unverkennbaren Grundzug der Weltoffenheit bemühte sich die deutsche Wissenschaft immerhin zu Beginn des 20. Säkulums im zunehmenden Maße um die Erkenntnis und das Verständnis des Auslandes und seiner Kulturen. Neben den in Deutschland seit langem einheimischen philologisch-literarischen Studien forderte die wachsende politische und wirtschaftliche Bedeutung des Auslandverkehrs die systematische Untersuchung der Realien, der Wirtschaft, des Rechtes und der Politik des Auslandes. Der Wille zur Auslandskunde wuchs, je mehr die deutsche Wirtschaft in der Vorkriegszeit anstieg, je mehr sie, wenn auch mehr instinktmäßig, die Notwendigkeit der kulturellen Schrittmacher erkannte. Es war im übrigen die politisch gewitterschwüle Zeit, die unmittelbar dem Weltkrieg voranging, welche die unabweisbare Forderung verstärkter Auslandskunde aufnahm. Wenn dieser Wunsch nicht nur in Wissenschaftskreisen, sondern auch im öffentlichen Leben der Nation ausgesprochen wurde, so mochte er nicht zum wenigsten von der Unsicherheit der politischen Lage diktiert sein. Man fühlte mit der Einkreisung, die sich immer dräuender anließ, daß die Auslandspsychologie an Wert und Bedeutung gewann. Man empfand auch, daß Versäumtes nachzuholen sei. Nicht zufallig war es der Reichstag, in dem solche Forderungen erhoben wurden. Nachdem dieses Parlament jahrelang die Auslandkulturpolitik nur gestreift hatte, weil der kulturpolitische Bau des Reiches trotz beachtlicher Teilleistungen in sich völlig unfertig geblieben war, geschah es unter dem Einfluß politischer Notzeichen, daß das Reich seine synthetische Bindekraft und den geistig-kulturellen Unterbau seiner Außenpolitik schärfer erkannte. Die vom Reichstag unmittelbar vor und erst recht während des Weltkriegs vorgeschlagenen Reformmaßnahmen blieben an sich bescheiden genug. Man überließ Einzelmaßnahmen im wesentlichen einzelnen Ländern. Die Denkschrift über die Förderung der Auslandsstudien, die 1917 dem preußischen Landtag vorgelegt und von dem Kultusminister Schmidt eingehend begründet wurde, lehnte den Gedanken besonderer Auslandsfachschulen ab und suchte dafür den Auslandsstudien einen stärkeren Platz in dem bestehenden akademischen Leben zu geben. Nicht eine Reichsanstalt oder eine einzige zentrale Hochschule für Auslandsstudien, sondern dezentralisierte Auslandsstudien an einzelnen, bestimmten Kulturkreisen zugewandten Universitäten wurden in dieser Denkschrift empfohlen und im Anschluß daran tatsächlich eingeleitet. Schon im April 1916 hatte Eduard Spranger auf Anregung des damaligen Ministerialdirektors Schmidt in einer lehrreichen Denkschrift die Grundzüge für ein Studium der Kulturkreise an den deutschen Universitäten entworfen, ausgehend von der Tatsache der geschichtlich zu begründenden und auch als geographischsoziologische Totalität aufzufassenden Ganzheit der einzelnen Kulturen. Der Gedanke der Kulturkreise leuchtete auf, der auch in der Verfassung des Auswärtigen Amtes später stärker an Raum gewinnen sollte. Demgemäß wurde an der Universität Bonn das Studium des romanischen Kulturkreises besonders ausgebaut; der Universität Göttingen wurde entsprechend der englisch-amerikanische Kulturkreis zugewiesen, den Universitäten Kiel und Greifswald der nordische, Breslau und Königsberg der slavisch-osteuropäische Kulturkreis, während zugleich die Universität Berlin mit Studieneinrichtungen für die wichtigsten Kulturkreise ausgestattet wurde. In dieser Zuteilung von Interessensphären lag ein gewisser Fortschritt, 2

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allerdings auch manches Mechanische und Zufallige. Es war an sich gut, daß den deutschen Hochschulen auch der Überseecharakter, das Merkmal von geistigen Exporthäfen aufgedrückt wurde, aber nachdem die erste Welle des Interesses vorüber war, hat mehr als eine Hochschule die volle Konsequenz der eingeschlagenen Linie verneint, zumal da staatlicherseits nicht immer die entsprechenden Mittel aufgebracht werden konnten. Diese auslandkundliche Anteilnahme griff immerhin zu besonderen institutsmäßigen Formulierungen. Das 1917 gegründete Ibero-Amerikanische Institut in Hamburg führte diesen Gedanken im Sinne einer Einrichtung weiter, die dem wissenschaftlichen und zugleich dem wirtschaftlichen Austausch mit einem Kulturkreise diente. Ahnlich entwickelten sich nach der wissenschaftlichen Seite das Amerika-Institut in Berlin, das Osteuropa-Institut in Berlin, das ChinaInstitut Richard Wilhelms in Frankfurt a. M. und andere Einrichtungen. Inzwischen hatte der Weltkrieg die internationalen wissenschaftlichen Beziehungen Deutschlands zum größten Teil zum Stillstand gebracht und zahllose Gegensätze zwischen den Gelehrten Deutschlands und der Ententeländer aufgerissen. Die Propaganda, mit der die allierten Mächte den Krieg führten, übertrug sich auf das wissenschaftliche Gebiet und bewirkte, daß der Friedensschluß sich für die internationalen Beziehungen der deutschen Wissenschaft fast noch verheerender auswirkte, als es der Krieg vermochte. In der Londoner Erklärung vom 11. Oktober 1918 wurde jede Zusammenarbeit mit deutschen Gelehrten für die Zukunft abgelehnt. Im Anschluß hieran wurden unter Ausschluß der Deutschen zwei neue internationale wissenschaftliche Organisationen mit dem Sitz in Brüssel gegründet, der Conseil International de Recherches für die Naturwissenschaften, dem Unionen für die einzelnen Wissenschaftszweige angeschlossen sind, und die Union académique internationale für die philologisch-historischen Klassen der Akademien. Die früher bestehenden Konventionen wurden durch den Versailler Vertrag mit Ausnahme der deutschen Staatsbeiträge für die internationalen Anstalten in Paris und Rom aufgelöst. Jahrelang blieb Deutschland von den meisten internationalen wissenschaftlichen Kongressen ausgeschlossen. Die deutschen Arbeitsstätten in den feindlichen Ländern verfielen zunächst der Beschlagnahme. Die katastrophale wirtschaftliche Lage Deutschlands und die wachsende materielle Not der deutschen Wissenschaft nach dem Kriege taten das Ihre, den Wiederbeginn der wissenschaftlichen Arbeit im Auslande und damit die neue Anknüpfung vieler Beziehungen fast unmöglich zu machen. Auslandskenntnis zu erwerben und im Ausland zu arbeiten, war deutschen Gelehrten nicht mehr möglich, die kaum im kümmerlichsten Rahmen in der Heimat arbeiten konnten. Seit Beginn des Krieges war Deutschland zudem von dem größten Teil der wissenschaftlichen Auslandsliteratur abgeschnürt. »Wie kann auch die stärkste Leidenschaft für die Wissenschaft«, so schrieb Adolf v. Harnack im Dezember 1922, »noch brennen, wenn alles Lebendige vom tödlichen Frost des Elends ergriffen wird.« Maßnahmen der Selbsthilfe, die Gründung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft und die Bewilligung von Reichsmitteln für ihre Tätigkeit, manche Hilfsaktionen einzelstaatlicher Verwaltungen haben Wege aus der Wissenschaftsnot der dunklen Inflationsjahre geschaffen. Damals knüpften sich auch manche

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Auslandsbeziehungen, die helfendes Wollen zum Ausdruck brachten. In Amerika wurde durch Franz Boas eine Hilfsgemeinschaft für die deutsche Wissenschaft organisiert, die jahrelang beträchtliche Hilfsmittel für die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft zur Verfügung stellte. Die Rockefeiler Foundation begann ihre Tätigkeit in Deutschland mit Stipendien für den Gelehrtennachwuchs der theoretischen Medizin und ihrer Nachbarfacher. Der japanische Großindustrielle Hoshi machte seine Stiftung für die deutsche chemisch-physikalische Forschung. Aus zahlreichen Ländern, aus Holland, Dänemark, Schweden, Finnland, Argentinien, Brasilien und aus der Schweiz flössen Spenden für deutsche Gelehrte und deutsche wissenschaftliche Institute. Auch der Spenden Pius XI. für deutsche Wissenschaftsunternehmungen muß in diesem Zusammenhang gedacht werden, der als Präfekt der Ambrosiana in Mailand rege Beziehungen zur internationalen Gelehrtenwelt unterhielt. Die Maßnahmen des Boykotts und der geistig-kulturellen Abschnürung wurden also durch bemerkenswerte Hilfsaktionen beantwortet, die alle den Grundgedanken der M e n s c h h e i t s f u n k t i o n der deutschen Wissenschaft bejahten, die immer unabhängig von allem Politischen bestehen wird. Die Arbeit der N o t g e m e i n s c h a f t der D e u t s c h e n W i s s e n s c h a f t (Deutschen Forschungsgemeinschaft) war von Anfang an bewußt darauf eingestellt, daß die Fühlung und der gleichmäßige Fortschritt mit der ausländischen Wissenschaft wiederhergestellt werden mußten und andererseits für die deutsche Wissenschaft die alte Weltgeltung wieder zu sichern war. Sie entwickelte eine Methodik der Auslandsarbeit, die durch keine Verwaltungsstube und durch keine diplomatischkonsularische Tätigkeit ersetzt werden konnte. Als eine ihrer ersten Aufgaben hat die Notgemeinschaft die Beschaffung der fehlenden Auslandsliteratur in Angriff genommen und eine planmäßige Belieferung der deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken mit der Literatur des Auslandes organisiert. Mit Hunderten von ausländischen Stellen hat sie Tauschbeziehungen angeknüpft. Sie stellt sich damit, zumal in den letzten Jahren, auch in den Dienst einer neuen Verbreitung des wissenschaftlichen Buches im Auslande. Indem die Notgemeinschaft die deutschen wissenschaftlichen Publikationen, die Zeitschriften und die großen Akademie- und Gesellschaftsunternehmungen vor dem Erliegen bewahrte und ihnen wieder zu kraftvollem Aufblühen verhalf, ermöglichte sie eine Wiederherstellung des alten Ansehens deutscher gelehrter Arbeit. Mit der Wiederherstellung der Währung konnten auch deutschen Forschern wieder wissenschaftliche Auslandsreisen ermöglicht werden. Mit Unterstützung der Notgemeinschaft sind deutsche Forschungsreisende in fast allen Ländern der Welt wieder zur Arbeit gekommen. Die deutsche Forschung gewann hierdurch erneut das weltweite Arbeitsgebiet, dessen sie bedarf, und kam durch Leistungen von internationaler Bedeutung wieder zur Geltung. In weiser Erkenntnis des Möglichen und Notwendigen hat der Leiter der Notgemeinschaft ihr Aufgabengebiet in das Ausland zu jeder Zeit so weit vorgetrieben, wie das Verhältnis der deutschen Wissenschaft im Auslande es heischte. 1925 ermutigte er den Ozeanographen Alfred Merz, den Plan einer atlantischen Expedition vorzulegen, und rüstete die Meteorexpedition aus, die als erstes großes Auslandsunternehmen der deutschen Wissenschaft nach dem Kriege einen glänzenden Erfolg davongetragen hat. In der 2*

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Internationalen Ozeanographischen Konferenz, die unter dem Vorsitz von SchmidtOtt 1928 in Berlin tagte, fand dieser Erfolg seinen internationalen Widerhall. Spätere Auslandsexpeditionen der Notgemeinschaft vertieften die Beziehungen zu einzelnen Ländern und ihren Arbeitsgelegenheiten. In Gemeinschaft mit der Russischen Akademie der Wissenschaften führte die Notgemeinschaft 1928 die Syphilisexpedition ins Baikalseegebiet und die vielbeachtete Alai-Pamirexpedition in das zentralasiatische Gebirgssystem durch. Mit besonderer Liebe wurde für den Abschluß früher begonnener Unternehmungen Sorge getragen. So konnten mit Hilfe der Notgemeinschaft die alten Ausgrabungen in Griechenland und Kleinasien bereits zum großen Teil zu Ende geführt werden. Jetzt gilt es, die Gelegenheiten, in denen deutsche Forschung sich mit Aussicht auf wissenschaftlichen Gewinn und erfolgversprechende Beziehungen an neuen Objekten ausländischer Forschung betätigen kann, diese unter kluger Abwägung der Umstände weiterhin zu ergreifen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zu würdigen, wenn die Notgemeinschaft die Initiative zu neuen Auslandsforschungen ergriffen hat und das bestehende Interesse in kluger Abwägung des Möglichen beleben wird. Es ist nicht zum wenigsten der zielbewußten Arbeit der Notgemeinschaft und der mannigfachen persönlichen Wirksamkeit ihres Leiters zu danken, wenn viele der unterbrochenen wissenschaftlichen Beziehungen sich nach und nach wieder angeknüpft haben. In großen internationalen Kongressen der letzten Jahre haben die Deutschen im allgemeinen wieder gleichberechtigt und führend mitgewirkt, wenn auch von Graben zu Graben Stellungen des Mißtrauens und der Abneigung genommen werden mußten, die zunächst uneinnehmbar erschienen. Neue Daten einer internationalen Wissenschaftspolitik eröffneten sich, an der Deutschland Anteil hatte. In die Internationale Kommission für wissenschaftliche Luftschifffahrt und die Internationale Meeresforschung ist Deutschland wieder eingetreten; für die internationale Erdmessung hat es mit den baltischen Staaten eine neue Konvention abgeschlossen. Auf dem Gebiete der internationalen Rechtsforschung stellt das 1925 in Berlin gegründete Institut für öffentliches Recht und Völkerrecht einen Posten von starker Auslandswirkung dar; Deutschland ist auch in der 1923 neubegründeten Internationalen Akademie für Rechtsvergleichung vertreten. Die 1918 gegründeten Ausschlußorganisationen haben unter Einwirkung der Neutralen, vor allem der Holländer und Schweden, aber auch der E n g l ä n d e r die formalen Hindernisse gegen einen Eintritt Deutschlands zu beseitigen versucht. Ob ein Eintritt in den nach Staaten geordneten Conseil de Recherches von der deutschen Gelehrtenschaft noch als tragbar empfunden wird, erscheint zweifelhaft. Es hat nicht an Bestrebungen gefehlt, die Fühlung mit einzelnen fachlichen Unionen zu gewinnen, von denen einzelne, wie die geodätische und geophysikalische Union, ein beträchtliches wissenschaftliches Leben entfalten. Mit welchem Erfolg, steht noch dahin. Auch die Frage eines Eintritts in die weniger politisch organisierte Union académique ist noch unentschieden. Wichtiger als diese organisatorischen Fragen ist die Feststellung, daß die Achtung vor deutscher wissenschaftlicher Arbeit im Auslande wieder wächst und bei den meisten auf Gemeinsamkeit beruhenden Arbeiten zur Geltung kommt. Vortragsreisen fremder Gelehrter in Deutschland und deutsche Vortragsreisen im Auslande, sowie Gastprofessuren in Japan, Nordund Südamerika und anderen Ländern haben diesen Gedanken in glücklicherweise

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gefördert. Neue Zugänge zur Ibero-amerikanischen Welt sind erschlossen. Vor allem aber sind durch die unermüdliche Wirksamkeit der Notgemeinschaft solche Gemeinsamkeiten der Arbeit immer mehr geknüpft und gestärkt worden in jener stillen und unaufdringlichen Art, die der öffentlichen Meinung unseres Landes zum guten Teil verborgen blieb. Noch eine andere Entwicklungslinie tut sich auf. Schon ehe Deutschland Mitglied des V ö l k e r b u n d e s war, fiel ihm auch eine gewisse Mitwirkung an den kulturellen Arbeiten des Völkerbundes zu, die zwar nicht auschließlich, aber doch zum großen Teil der wissenschaftlichen Arbeit gewidmet sind. Albert Einstein war von Anbeginn an Mitglied der Völkerbundskommission für geistige Zusammenarbeit. Langsam hat sich in der Kommission ein Wissenschaftsinteresse geformt, das vielfach noch in Ansätzen steckt und der wissenschaftlichen Forschung noch wenig Hilfe bieten konnte. Es haftete in allem mehr am Organisationstechnischen. Aber man wies dort doch den Weg zu einer von wirklicher Internationalität getragenen, auch für die Wissenschaft fruchtbaren internationalen Kulturpolitik. Vor allem ist die Atmosphäre entspannt und erhellt. Die Kommission für geistige Zusammenarbeit und das ihr angegliederte Institut für geistige Zusammenarbeit wollen nicht selbst wissenschaftliche Forschungsarbeit leisten. Das ist ein wichtiges Moment, das auch heute noch vielfach übersehen wird. Aber man stützt dort das Wissenschaftsethos als Menschheitsaufgabe und als kulturelle Weltsubstanz. Die Idee einer über das rein Wissenschaftliche hinausgehenden kulturellen Annäherung hat hier ihren Ausdruck gefunden, an der auch die deutsche Wissenschaft nicht achtlos vorübergehen kann, wenn sie eine führende Stellung in der modernen Sozialentwicklung und eine starke Wirkung dem Auslande gegenüber behalten will; wenn man auch Wert darauf legt, daß die Völkerbundinstitute nicht im rein Nationenhaften stecken bleiben. Deutschland hat vielmehr die Aufgabe, die universalistische Linie des Völkerbundes zu stärken. Wenn die deutsche Wissenschaft ihrerseits seit dem Ende des Krieges und vor allem seit dem Abschluß der Inflationsperiode es an Initiative zur Anknüpfung von Auslandsbeziehungen nicht hat fehlen lassen und dabei über viele schmerzliche Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre hinweggegangen ist, so machte sich hierin die auch in weiteren Kreisen immer mehr wachsende Überzeugung von dem Wert dieser Beziehungen und der kulturellen Annäherung überhaupt geltend. Seitdem das Deutsche Reich nicht mehr als überragende Militärmacht im Auslande auftreten kann, hat die deutsche Wissenschaft eine auslandkulturpolitische Mission von höchster Bedeutung übernommen. Sie vermag aber diese Sendung nur dann zu erfüllen, wenn sie sich zugleich als Träger k u l t u r e l l e r Arbeit und Annäherung empfindet, und dies wirkt wiederum auf eigentliche wissenschaftliche Forschungsarbeit im Ausland fördernd ein. Die Wissenschaft muß auch hier neue Wege zum L e b e n gehen und darf sich nicht zusammenhanglos und auslandfrei empfinden. Diese Erkenntnis hat sich im Nachkriegsdeutschland in wachsendem Maße durchgesetzt. Aus der veränderten politischen und kulturellen Situation heraus beschritt die Kenntnis und Erforschung des Auslandes wie die wissenschaftliche Arbeit im Auslande Wege, die früher nicht oder doch weniger begangen wurden. Die neue Zeit entwickelte eine aufstrebende Methodik des wissenschaftlichen und kulturellen Auslandverkehrs.

FRITZ MILKAU BIBLIOTHEKSWESEN I Es trifft sich gut, daß die Bibliotheksgeschichte der letzten fünfzig Jahre, obgleich die Grenzen durch einen äußeren Anlaß bestimmt sind, sich bei näherer Prüfung doch als ein leidlich geschlossenes Kapitel ausweist. Und zwar als ein Kapitel von besonderem Schlag. Denn wenn es in dem langen Leben der deutschen Bibliotheken zweifellos wissenschaftsgeschichtlich interessantere und in ihrer kulturellen Auswirkung bedeutsamere Periodeng egeben hat — man denke z. B. an die Frühzeit der Klosterbibliotheken oder an die großen Bücherbewegungen um die Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert —, so ist darunter doch keine, in der die Bibliotheken ihr Gesicht so stark verändert, ihre Auffassung der eigenen Aufgaben so gründlich revidiert und damit ihr Leben und Wirken derart gesteigert hätten, wie in diesen fünfzig Jahren. Es sind das die Jahre, in denen sich etwas eigentlich Neues herangebildet hat, etwas was man vorher kaum gekannt hatte: die moderne Bibliothek. Was das bedeutet, das wird ohne einen wenn auch noch so flüchtigen Rückblick nicht verstanden werden. Nur an der ungeheuren Langsamkeit aber, mit der das Bibliothekswesen sich entwickelt hat, liegt es, wenn selbst dieser flüchtige Rückblick fast bis auf die Urzeit zurückgehen muß. Denn, richtig gesehen, hatte schon Leibniz um 1700 als Wolfenbüttler Bibliothekar die Idee der modernen Bibliothek, d. h. der Bibliothek als einer gleich der Kirche und Schule staatsnotwendigen und daher mit der gleichen Sorgfalt und Stetigkeit zu pflegenden Anstalt, mit voller Klarheit und Schärfe herausgestellt, wie auch bereits Münchhausen, wenn man die in der Zeit liegenden Mängel abzieht, mit der Bibliothek, die er der neuen Universität Göttingen Anno 1735 zum Staunen der Mitwelt aufbaute, die moderne Auffassung zur Geltung gebracht hatte. Aber Leibnizens Stimme war wirkungslos verhallt, — wenn man nicht annehmen will, daß Münchhausen sie vernommen hatte —, und Göttingen war noch hundert Jahre und länger das Phänomen geblieben, als das es angetreten war. Und als dann doch endlich im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts Wilhelm von Humboldt die Blicke Preußens auf das glorreiche Vorbild lenkte, da hatte das verarmte Land wohl einige besonders bewunderte Einrichtungen in neuen Reglements an seine Bibliotheken übernehmen, nicht im entferntesten aber daran denken können, ihnen den zugehörigen Münchhausen mitzuliefern. Auch an ausgezeichneten Bibliothekaren hatte es den Bibliotheken jener Tage nicht gefehlt, wie die unvergessenen Namen Gesner und Heyne, Schrettinger und Schmeller, Unterholzner und Ebert es bezeugen. Aber Bibliotheken vorwärts zu bringen, dazu reichen weder Ideen aus noch Reglements. Weit mehr als alle anderen wissenschaftlichen Institutionen in Einrichtung und Leistung abhängig von äußeren Mitteln, weit mehr als alle anderen traditionsbelastet und traditionsgebunden, und schließlich, was unter ihren Hemmnissen keineswegs das geringste ist, weit weniger in den Bedürfnissen und im Bewußtsein der Allgemeinheit verankert, haben sie nur sehr schwer und sehr langsam den Weg zum Licht gefunden. Noch um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts haben sie kaum mehr erreicht als eine gewisse Festigung ihrer Existenz durch einen zwar

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äußerst dürftigen, aber doch leidlich sicheren Etat, dazu vielleicht eine etwas stärkere, wenn in der Regel auch nur durch Verfügungen sich äußernde Teilnahme der Aufsichtsbehörde, und wohl auch ein leise beginnendes, aber doch schon wertvolles Gemeinschaftsgefühl, geweckt und gepflegt durch die beiden in demselben Jahre 1840 begründeten Fachjournale (Naumanns Serapeum und Petzholdts Anzeiger). Natürlich waren auch die Bestände inzwischen gewachsen, aber die Schwierigkeiten waren dadurch häufig nur größer geworden: die Übersicht vermindert oder gar verloren, und das alte Haus, das vor langen, langen Jahren weiß Gott für welchen Zweck erbaut war und immer schon auf den Betrieb gedrückt hatte, war nun auch noch zu eng geworden. Was aber das Schlimmste war: nicht einen Schritt vorwärts gekommen war die Personalpolitik. Nach wie vor wurden die Universitätsbibliotheken nebenamtlich von Professoren verwaltet, die an dem Problem, zween Herren zu dienen, doch allzu oft scheiterten, und auch bei den Landesbibliotheken waren es, zumal wenn es sich um die leitende Stelle handelte, häufiger der Glanz des Namens oder die Notwendigkeit einer sogenannten Versorgung, die den Ausschlag gaben, als sachliche Gesichtspunkte. Daß dies System rühmliche und selbst große Leistungen nicht durchaus hat verhindern können — wie z. B. die Münchener Bibliothek es schon im Anfang der vierziger Jahre zu einem ihrer überragenden Schätze würdigen Haus und zu wohlgeordneten Katalog- und Betriebsverhältnissen gebracht hatte und in Berlin unter Julius Schräders Leitung der Realkatalog der Königlichen Bibliothek (1842—1881) zu dem Wunderwerk wurde, wie keine andere Bibliothek der Welt es besitzt, — das wird man nicht ohne Genugtuung buchen, auch wenn man sich gegenwärtig hält, daß es sich hier um die beiden großen Landesbibliotheken handelt, die, wie in allen Dingen, so auch in der Auswahl und Bemessung der Arbeitskräfte stark bevorzugt wurden. Im Allgemeinen sah es aber doch schlimm aus in den deutschen Bibliotheken, und um so peinlicher wurde das jetzt, da man die Mitte des Jahrhunderts überschritten hatte, empfunden — weniger vielleicht von den Bibliothekaren als von denen, für die die Bibliotheken da sein sollten —, als inzwischen der letzteren Zahl und Ansprüche stark gewachsen waren. Eine Situation, die auch aus der Zeit heraus nicht leicht zu verstehen ist. Freilich war das Geld knapp damals in deutschen Landen, und billiger als die nebenamtlich arbeitenden Professoren waren geeignete Kräfte schwerlich zu finden. Verständlich wird die Sache aber doch erst, wenn man noch eins dazu hält, und das ist die offenbar festeingewurzelte Ansicht der maßgebenden Gewalten, daß, wenn einmal gespart werden mußte, die Bibliotheken die nächsten dazu waren. Wie dem aber auch sei, auf jene Professoren-Bibliothekare wird kein billig Denkender einen Stein werfen. Noch heute sind es vielfach die von ihnen gebauten Kataloge, die zum täglichen Handwerkszeug gehören, und wenn die Bibliotheken darin noch keinen Grund zur Dankbarkeit sehen, so sollten sie wenigstens nicht vergessen, daß es am Ende doch diese Professoren sind, aus deren Mitte ihnen in dem jetzt allmählich erwachenden Kampf um den Platz an der Sonne der staatlichen Fürsorge eine außerordentlich wirksame Hilfe kam. Zwei gleich ausgezeichnete Männer waren es, denen ein bibliotheksfreundlicher Genius es eingegeben haben mußte — ohne ein Wunder wäre es nicht gegangen —, trotz glänzendster Erfolge

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in Forschung und Lehre nebenamtlich die Leitung ihrer Universitätsbibliothek zu übernehmen, Robert von Mohl in Tübingen (1836—1844) und Friedrich Ritsehl in Bonn (1854—1865). Beide erkannten und erfaßten sie geradezu leidenschaftlich die in der Bibliothek beschlossenen Kräfte, beiden gelang es, diese Kräfte zu stärkstem Leben zu wecken und damit ein weithin sichtbares und weit beachtetes Vorbild aufzustellen —, und beide mußten sie schließlich erkennen, daß zu dem Geschäft ein ganzer Mann gehöre, die Trennung der beiden Ämter also eine Notwendigkeit sei. Was aber für den Staatsrechtslehrer kaum in Frage kam, nämlich mit seiner bibliothekarischen Leistung Schule zu machen, das machte sich bei dem Philologen, der begeistert und begeisternd seine Schüler zur Mitarbeit auf die Bibliothek zog, von selbst. Und diese Schüler, die Klette und Ständer, Brambach und Wilmanns, Zangemeister und Dziatzko, Schaarschmidt und Laubmann, sie waren es, die jetzt bereit standen und die man heranholte, als sich zu Anfang der siebziger Jahre, begünstigt durch den politischen und wirtschaftlichen Aufstieg des Reichs, endlich auch bei den Regierenden die Erkenntnis Bahn brach, daß das System der Doppelämter nicht länger zu halten war. Verhältnismäßig schnell für unser Auge, zu langsam für die Mitlebenden vollzog sich jetzt die Durchführung der neuen Ordnung. Am Ende des Jahrzehnts, also 1880, waren es von den zehn Preußischen Universitätsbibliotheken nur noch Bonn, Greifswald und Marburg, von den elf außerpreußischen nur noch Rostock, München und Tübingen und von den Landesbibliotheken nur noch Berlin und München, die nebenamtlich von Professoren geleitet wurden. Die Selbständigkeit des bibliothekarischen Berufs — so hatte man die Forderung formuliert, obgleich es einen bibliothekarischen Beruf noch nicht gab, — war erreicht. Was damit gewonnen war, das war nicht mehr, als was jedem Beruf ohne weiteres als etwas Selbstverständliches zugestanden wird. Für die Bibliothek aber war es nicht weniger als die Rettung aus hoffnungslosem Stillstand: auf dem Wege zur Gesundung der erste Schritt. II Das schwerste der Hindernisse, die so lange Weg und Aussicht versperrt haben, ist weggeräumt. Aber jetzt erst wird deutlich, was noch zu tun ist, um die Straße gangbar zu machen. Die neuen Führer sind da, aber ihre Stäbe sind im wesentlichen noch die alten. An den 21 Universitätsbibliotheken insgesamt 63 wissenschaftliche Beamte, zu nicht ganz geringem Teil Schiffbrüchige, die in der Bibliothek den rettenden Hafen gefunden haben. Sie sind schlecht bezahlt und schlecht sind ihre Aussichten. Mittlere Beamte gibt es nicht, Bureau und Kanzlei sind unbekannt. In dem alten Haus ist der erforderliche Raum nur noch behelfsmäßig zu schaffen. Der Vermehrungsetat ist nach 1870 wesentlich erhöht, aber weit hinter dem mächtig gewachsenen Bedarf zurückgeblieben. Die Öffnungszeit ist knapp und vielfach kleinlich wechselnd über die Woche verteilt, die Benutzung behindert durch Schwerfälligkeiten aller Art. Handbibliothek und ZeitschriftenLesezimmer Ausnahmen. Noch 1874 fordert Theodor Mommsen im Landtag mit starken Worten, man solle doch die Schande von der Deutschen Nation nehmen, daß die Königliche Bibliothek in Berlin eine der schlechtesten der vorhandenen

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großen Bibliotheken sei, und zu derselben Zeit darf Johann Friedrich Schulte im Reichstag das Bibliothekswesen Deutschlands als die »partie honteuse« bezeichnen, ohne von irgend einer Seite Widerspruch zu erfahen. Kurz, die deutsche Bibliothek steht um diese Zeit, d. h. gegen das Ende der siebziger Jahre hin, sozusagen am Anfang der Dinge. Ist das Schwarzmalerei ? Hier denn zur Kontrolle ein Stück Wirklichkeit, das viel eher die Regel als eine Ausnahme darstellt. In Bonn haust die Universitätsbibliothek in dem alten Kurfürstlich Kölnischen Residenzschloß. Die Raumnöte sind seit Jahrzehnten eiserner Bestand der Berichte. Die Wände sind feucht, die Bücher stocken. Anfang 1882 hat sich in einem der großen Büchersäle unter dem Druck der überlasteten Gestelle der Fußboden gesenkt und nur durch schleunige Abstützung ist die längst befürchtete Katastrophe vermieden worden. Für Vermehrung und Einband stehen außer einem imbedeutenden Stiftungsfonds 21 600 M. zur Verfugung. Das Personal ist so knapp, daß das Ausleihegeschäft einem mit einem Stipendium honorierten Studenten überlassen werden muß. Geöffnet ist die Bibliothek — auch das Lesezimmer macht keine Ausnahme — für die Studenten und die nichtakademischen Benutzer täglich zwei Stunden, von zwei bis vier. Die bis neun Uhr froh eingehenden Bücherbestellungen werden an demselben Tage erledigt, aber nur »soweit Zeit und sonstige Geschäfte es gestatten«. Die Bürgschaft wird sehr ernst genommen. Jede auswärtige Benutzung ist abhängig von der Genehmigung des Kurators, »die nachzusuchen Sache des Entleihers ist«. Negative Bescheide erhalten die vom Kurator zugelassenen Auswärtigen nicht; »vielmehr zeigt das definitive Ausbleiben einer Sendung die Unmöglichkeit an, dem Gesuche Folge zu geben« usw. — Reicht das aus ? Wenn man bedenkt, daß diese Bestimmungen nicht etwa einem durch eine halbe Ewigkeit fortgeschleppten Gesetz entnommen sind, sondern dem unter dem 27. Juli 1882 vom Minister erlassenen Reglement für die Universitätsbibliothek Bonn? Damit hat man ungefähr die Situation, in die jetzt der Mann eintritt, der dem preußischen und damit, wie man vielleicht ohne Uberhebung sagen darf, dem deutschen Bibliothekswesen des nächsten Vierteljahrhunderts seinen Stempel aufgedrückt hat: Friedrich Althoff. Der Umfang der wissenschaftlichen Interessen, die er zu betreuen hat, ist kaum zu übersehen, und trotzdem werden nur wenige darunter gewesen sein, deren er sich nicht so angenommen hätte, daß ihre Vertreter nicht des Glaubens gelebt hätten, gerade sie hätten ihn besonders gefesselt. Das mag hier und da Verwaltungskunst gewesen sein; die Bibliotheken aber haben untrügliche Beweise die Fülle dafür, daß er, wie sein Biograph es hübsch formuliert, seine Bibliothekspolitik mit dem Herzen machte. Nicht daß er eine Passion für das Buch gehabt hätte — davon war er frei. Wohl aber könnte ihm, dem es hoher Ernst war um die Justitia distributiva und der sich fast instinktiv gegen jede Unbilligkeit wandte, die unerhörte Vernachlässigung der Bibliotheken der Anlaß geworden sein, ihnen seine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, selbst wenn er nicht, wie es tatsächlich der Fall war, in ihnen eins der mächtigsten Förderungsmittel der Wissenschaft und aller geistigen Bildung gesehen hätte. Jedenfalls beginnt mit seinem Einzug ins Preußische Kultusministerium (21. Oktober 1882) für die Bibliotheken ein neues Leben, und nicht weniger dankbar als dieses Moments

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werden sie immer auch des Tages gedenken, an dem Althofif mit glücklicher Hand den Gerichtsassessor Friedrich Schmidt ins Ministerium zog (i. Oktober 1888), denselben, der sein treuster Mitarbeiter und nach seinem Tode der treuste Hüter seines Erbes werden sollte und der von dieser Stunde an bis heute, also über vier Jahrzehnte lang, als Vortragender Rat und als Ministerialdirektor, als Kultusminister und als Präsident der von ihm ins Leben gerufenen Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft den Bibliotheken immer das gleiche, starke, weit über das Verwaltungsmäßige hinausgehende Interesse bekundet und betätigt hat, auch an ihrem inneren Leben warmherzig teilnehmend und selbst vor der eingehenden Mitwirkung bei der Regelung der Minima des Dienstes nicht zurückschreckend. Das sind die Männer, die jetzt in zähem Kampf gegen die hergebrachten Anschauungen ihrer Umgebung das Fundament schufen, auf dem das Bibliothekswesen sich aufbauen und zum gegenwärtigen Stand entwickeln konnte, und ein günstiges Geschick hat es gefügt, daß ihnen für die fachmännische Beratung in Otto Hartwig und Karl Dziatzko, in August Wilmanns und Wilhelm Erman die Besten oder doch mit die Besten zur Verfügung standen, die das deutsche Bibliothekswesen der letzten fünfzig Jahre aufzuweisen hat, die Führer, die die Grundsätze und Methoden für die Arbeit innerhalb der vier Wände festlegten und beratend und anregend den Gang der Entwicklung mitbestimmten. So wären die Kräfte vorgestellt, die am Werk waren, und desgleichen der Hintergrund, von dem ihr Werk sich abhebt. Die erste Tat nun, an der Wesen und Art der neuen Richtung sich dokumentierte, galt der Königlichen Bibliothek in Berlin. Nicht weil gerade sie einer Neuordnung besonders bedurft hätte. Aber 1884 war Richard Lepsius gestorben und die Frage seiner Nachfolge hatte sich, wie die Dinge jetzt lagen, ganz natürlich zur umfassenden Prüfung des ganzen Instituts und seiner Möglichkeiten ausgewachsen. Abgesehen von Marburg, wo noch die alte Übung herrschte, war Lepsius der letzte Professor-Bibliothekar in Preußen gewesen, hatte aber den großen Gelehrten und Organisator auch im Nebenamt nicht verleugnet und in den elf Jahren seines Regiments aus der Bibliothek gemacht, was in jener Zeit überhaupt aus ihr zu machen war. Er hatte zwar seinen wissenschaftlichen Stab nur von elf auf zwölf Köpfe verstärken können, den Vermehrungsfonds aber von 58 500 auf 96 000 M. gebracht und zudem, wie die »Allgemeinen Bestimmungen« vom 1. März 1881 zeigen, die Benutzung durchaus erträglich geregelt. Das wäre dann wohl weiß Gott wie lange so weiter gegangen, wenn jetzt nicht Althoff mit starker Hand (ex ungue leonem) eingegriffen hätte. Vielleicht hatte er Lepsius' ersten Etatsantrag vom 3 1 . März 1874 gelesen, der unter stark betontem Hinweis auf das Britische Museum eine Erhöhung seines damals 58 500 M. betragenden Vermehrungsfonds auf 135 000 M., »also zwischen dem dritten und vierten Teil des für das Britische Museum bestimmten gleichartigen Fonds«, und dazu einmalig 60000 M. für Kupferwerke gefordert hatte. Wenigstens war es für Deutschland ohne Vorgang, wenn jetzt, nachdem schon durch den Etat für 1903/04 für die Königliche Bibliothek zum Ankauf des Niederländischen Palais und für Umbau und Einrichtung drei Millionen M. bereit gestellt waren, im Extraordinarium des Staatshaushalts für 1885/86 außer 25 000 M. für Vorarbeiten zur Reorganisation der Bibliothek

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noch 75 000 M. zur Ergänzung der Bestände und zu Katalogisierungsarbeiten gefordert wurden, und daß diese Aktion alsdann Jahr für Jahr mit hohen Beträgen bis 1890 fortgeführt wurde, obgleich schon das Jahr 1889 außer einer Sonderbewilligung von 305 000 M. zum Ankauf der Meerman-Handschriften in Cheltenham die Erhöhung des ordentlichen Vermehrungsfonds um 54 000 M. auf 150 000 Mark gebracht hatte. Hand in Hand damit ging eine Verstärkung des wissenschaftlichen Stabes von 13 auf 22 Köpfe und die Beseitigung alter Rückständigkeiten durch die neue Benutzungsordnung vom 1. Februar 1887. Vielleicht noch bedeutsamer aber für die Entwicklung der Bibliothek als alle diese Hilfen und Maßnahmen war der mächtige An- und Auftrieb, den ihr mit der Erhöhung ihrer Ziele und der Ausgestaltving ihres inneren Aufbaus das ihr von Allerhöchster Stelle verliehene Statut vom 16. November 1885 brachte. Während sie sich solange von den anderen Bibliotheken des Landes nur graduell unterschieden hatte, bekam sie jetzt 1. mit der Aufgabe, »in möglichster Vollständigkeit die deutsche und in angemessener Auswahl auch die ausländische Literatur zu sammeln«, und 2. mit der Gliederung in die beiden Abteilungen für Drucke und für Handschriften, deren jede einen eigenen Direktor erhielt, während die Gesamtleitung in den Händen eines Generaldirektors lag, einen wesentlich anderen Charakter, einen Rang, der sie in die unmittelbare Nachbarschaft der großen Nationalbibliotheken des Auslands rückte, wie es denn bekannt ist, daß die Absicht, den schweren Mangel des deutschen Bibliothekswesens, das Fehlen einer Nationalbibliothek noch zu später Stunde nach Möglichkeit auszugleichen, bei dieser Regelung eine bestimmende Rolle gespielt hat. — Und hierher gehört schließlich auch, in die Zukunft weisend, die Betrauung der Bibliothek mit ihrer ersten zentralen Aufgabe, nämlich mit der Veröffentlichung von Jahresverzeichnissen zunächst der Deutschen Universitätsschriften (1885) und bald darauf auch der Deutschen Schulschriften (1889), womit sie nicht allein ein empfindliches Manko der sonst vorbildlichen deutschen Handelsbibliographie decken, sondern auch den vielen Bibliotheken, die diese Schriften erwarben, die Arbeit der eigenen Katalogisierung abnehmen konnte. — Damit war fürs erste die Reorganisation der Bibliothek beendet. Ein halbes Jahrzehnt hatte sie in Anspruch genommen. Dreimal schade, daß dies Tempo sich nicht länger hat festhalten lassen. Trotzdem: was die Staatsbibliothek heute ist, das dankt sie diesen fünf Jahren. Es ist wohl zu verstehen, daß die Universitätsbibliotheken diesen großen Sprung nicht gleich mitmachen konnten. Natürlich nahmen sie teil an der Vermehrung der Beamtenstellen und ebenso selbstverständlich wurden ihre Benutzungsordnungen, so oft die Gelegenheit sich bot, von den alten Resten übermäßiger Zurückhaltung befreit. Was sie aber in jenen fünf Jahren durch Verstärkung ihres ordentlichen Anschaffungsfonds erhielten, das war bitterwenig; ihre Zeit kam erst viel später. Um so nachdrücklicher wurde mit einmaligen Bewilligungen geholfen, die gleich 1885, also in demselben Jahre, mit dem die Kampagne für die Königliche Bibliothek ihren Anfang nahm, einsetzten und sich bis 1890 für die zehn Bibliotheken zu dem Gesamtbetrag von 450000 M. summierten. Freilich waren sie, wie auch die gleichzeitigen Extraordinaria der Königlichen Bibliothek nicht lediglich zur Ausfüllung von Lücken bestimmt, sondern zugleich

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für Katalogisierungsarbeiten, die auch damals schon die fatale Eigenheit hatten, länger zu dauern und mehr zu kosten, als selbst der vorsichtigste Rechner voraussehen konnte, so daß der Bücherkauf in der Regel zu kurz gekommen sein wird. Soweit werden die Bibliothekare mit der neuen Richtung gern einverstanden gewesen sein. Ob aber auch mit dem ersten Akt der 1886 in Angriff genommenen Personalreform, der zugleich mit der einheitlichen Regelung der Dienststunden deren Zahl von fünf auf sechs täglich heraufsetzte, das scheint nicht ganz sicher. Zweifellos werden sie aber die Dienstaltersliste von 1889 begrüßt haben, die sämtliche preußischen Bibliothekare in eine einzige Reihe brachte und damit die Möglichkeit des Aufstiegs vom Leben und Sterben innerhalb der einzelnen Anstalt unabhängig machte. Bei der großen Verschiedenheit der Herkunft, der Ausbildung und der Qualitäten — das alles mußte, um unerwünschte Folgen der bisherigen Zufallswirtschaft auszugleichen, berücksichtigt werden — kann die Aufstellung dieser Liste nicht ganz leicht gewesen sein. Noch schwieriger aber gestaltete sich offenbar die Ordnung der Hilfsvölker, die jetzt in ziemlich allen Bibliotheken zu finden waren. Das aber war so gekommen, daß Dziatzko, in dem märchenhaften Alter von dreißig Jahren 1872 zum Direktor der Breslauer Königlichen und Universitäts-Bibliothek gemacht, sich mit Feuereifer auf die Neukatalogisierung der gesamten Bestände gestürzt und bei der offensichtlichen Unmöglichkeit, die Arbeit mit dem regulären Stab zu bewältigen, auf seines Lehrers Ritsehl Amanuensenwirtschaft zurückgegriffen und eine äußerst bewegliche Schar von meist älteren Studenten und Kandidaten eingestellt hatte, zeitweise vierzig und mehr, die nun um den Lohn von 50 Pfennig für die Stunde ein paar Stunden täglich ihre Zettel schrieben und bei fleißiger Kontrolle tatsächlich die Arbeit in flottem Gang hielten. Das hatte denn auch allenthalben eingeleuchtet und bald blühten nun solche Skriptorien in den meisten Universitätsbibliotheken. Wenn es aber durchaus die Regel war, daß diese Irregulären kamen und gingen, wie es ihnen gefiel, so waren doch immer einige darunter, die nach Abschluß des Studiums hängen blieben, mit oder ohne eine kleine Vergütung geduldig ihres Schicksals harrend. Sie und andere von außen kommende Bewerber als „Volontäre" einzustellen, dazu hielt sich jeder Direktor ohne weiteres für befugt, und so entstand jenes übervolle Reservoir, dessen Gehalt der Unterrichtsverwaltung nahezu unbekannt war und aus dem sie doch zu schöpfen hatte, wenn eine Stelle zu besetzen war. Hier gab es denn auch Ermittelungen über Ermittelungen, bis endlich der Erlaß vom 1. April 1892 mit der Scheidung der unübersichtlichen Schar in Assistenten, Volontäre und Hilfsarbeiter und der Einordnung jedes einzelnen Hauptes in eine dieser drei Gruppen die notwendige Klarheit brachte. So war der Weg bereitet für den letzten und entscheidenden Schritt, die Schaffung des bibliothekarischen Berufs und der bibliothekarischen Laufbahn durch den Erlaß vom 15. Dezember 1893, der die Annahme von Anwärtern dem Minister vorbehielt, sie an bestimmte Bedingungen, darunter vornehmlich Staatsexamen und Promotion knüpfte, eine zweijährige theoretische und praktische Ausbildung festlegte und die Zuerkennung der Anstellungsfahigkeit schließlich von dem Ergebnis einer Fachprüfung abhängig machte, in der die dem Bibliothekar für seinen Dienst notwendigen speziellen Kenntnisse und Fähigkeiten nachzuweisen waren.

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Klänge es nicht etwas großartig, so würde man hier vielleicht sagen, es sei dieser Erlaß in der neueren Geschichte der Deutschen Bibliotheken — die anderen Länder schlössen sich bald mit ähnlichen Bestimmungen an — der zweite Markstein, nicht weniger sich heraushebend und richtunggebend als der erste, die Befreiung der Bibliotheken von der nebenamtlichen Verwaltung. Wobei noch zu beachten wäre, daß mit diesem Schritt auch erst die Möglichkeit gewonnen war, dem wissenschaftlichen Beamten in der staatlichen Besoldungsordnung wie in der staatlichen Hierarchie den ihm nach Vorbildung und Leistung zukommenden Platz zu verschaffen und so den Bibliothekar heranzubilden, der, festen Boden unter den Füßen, mit gesundem Selbstbewußtsein und gesundem Ehrgeiz an seine Arbeit geht, wissend, daß er mit allem, was er ist und was er kann, der Bibliothek angehört und daß sein Ansehen und seine Geltung steht und fallt mit dem Ansehen und der Geltung seiner Bibliothek. Noch aber gab es ein Überbleibsel der alten Zeit, das die Bibliothek an der Entfaltung ihrer Kräfte hinderte: das war die Unzulänglichkeit ihrer Behausung. Tatsächlich gibt es keinen Betrieb in der Welt, der dadurch stärker gehemmt werden könnte als die Bibliothek, deren Objekte nach Hunderttausenden von Individuen zählen, die nie weniger werden, immerfort nur sich vermehren, jede Berechnung ihres Wachstums zuschanden machen, in alle Ewigkeit aufbewahrt werden wollen, in ununterbrochenem Wechsel ihren Platz verlassen und wieder dahin zurückkehren und doch jederzeit greifbar oder wenigstens nachweisbar sein müssen. Das alles so untergeordnet wie lebenswichtig und möglich nur bei peinlichster Ordnung und durchsichtigster Klarheit; Ordnung und Klarheit aber nur möglich bei ausreichendem Raum und zweckmäßiger Anlage. Die aber waren nicht zu finden in den alten Palais und Klöstern und Kirchen, wo man sie, als sie unbequem zu wachsen begannen, untergebracht hatte, und es ist kein Zweifel, daß eben diese alten Häuser an der bis tief ins neunzehnte Jahrhundert andauernden Unbeweglichkeit des Bibliothekswesens wesentlich beteiligt waren. Hier also mußte Wandel geschaffen werden, wenn die Bibliothek zu neuem Leben erwachen sollte, und das geschah jetzt in so überraschend schnellem Tempo, daß man sich unwillkürlich nach einem weiteren Grund umsieht und ihn — von der Prosperität der Wirtschaft abgesehen — mit darin finden möchte, daß das 1870 in Rostock zum ersten Mal auf deutschem Boden durchgeführte Magazinsystem mit seiner enormen Überlegenheit über die bisherige Unterbringung ein kräftiger Antrieb zur radikalen Lösung der alten Schwierigkeiten durch neue Bauten geworden war. Bereits 1880 hatte die Universitätsbibliothek Halle ihr neues Haus mit Magazineinrichtung, 1882 folgte Greifswald, 1884 Kiel usw., und als mit Münster im Jahre 1906 die erste Bauperiode ihr Ende fand, da blieb eigentlich nur noch Breslau übrig; denn Göttingen und Bonn, die gleichfalls noch in ihren alten Sitzen hausten, hatten wenigstens moderne Erweiterungsbauten mit Magazinen bekommen. Wenn aber Breslau auch heute noch, im Jahre 1930, seine bauliche Singularität festhält, so geschieht das vermutlich in der Absicht, einmal das hübsche Wort Althoffs von der Haltbarkeit unhaltbarer Zustände auf seine Haltbarkeit zu prüfen. Nicht weniger schnell als in Preußen, ging man im übrigen Deutschland vor, und es mag ein Trost für Breslau sein, daß auch hier ein Rest blieb, derart daß

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es im Kreis der außerpreußischen Universitätsbibliotheken in Würzburg seine genaue Entsprechung hat. Indes blieb diese ungewöhnliche Bautätigkeit nicht auf die Universitätsbibliotheken beschränkt; vielmehr umfaßte sie auch die Landesund Stadtbibliotheken, und vielleicht gibt es für den Aufschwung des deutschen Bibliothekswesens in der Berichtszeit kein sprechenderes Zeugnis als die Tatsache, daß von 1880 bis 1914 nicht weniger als 13 Universitätsbibliotheken, 7 Landesbibliotheken und 15 Stadtbibliotheken, insgesamt also 35 Bibliotheken ihr neues Leben in neuen Häusern beginnen konnten, während gleichzeitig 5 Universitätsbibliotheken, 3 Bibliotheken Technischer Hochschulen, 4 Landes- und ebensoviel Stadtbibliotheken, zusammen mithin 16 weitere Bibliotheken durch umfangreiche und kostspielige Erweiterungs- und Umbauten dem gesteigerten Bedarf angepaßt wurden. Nicht so groß, wenn zum Teil auch einschneidend genug, sind die Bestandsveränderuivgen und Umbildungen, die für die Berichtsperiode festzustellen sind. Auch kann nur das Wichtigste hier Platz finden. Zeitlich also gehört an die Spitze die 1887 durch die Freiin Luise von Rothschild erfolgte Gründung der Freiherrlich Carl von Rothschildschen öffentlichen Bibliothek, die mit ihrer starken Betonung der neueren Sprachen und Literaturen dem Frankfurter Bibliothekswesen eine sehr erwünschte Ergänzung zugeführt hat und seit 1914 im Dienste der neuen Universität steht. — Als Bollwerk zum Schutze des Deutschtums wie seinerzeit die Universitäts- und Landesbibliothek Straßburg trat 1902 ins Leben die Kaiser Wilhelm-Bibliothek in Posen, 1907 folgte die Stadtbibliothek in Berlin, die als Zentrale des Großberliner Städtischen Volksbibliothekswesens eine hochwichtige Aufgabe zu erfüllen hat, 1908 die mächtig aufstrebende Stadtbibliothek zu Dortmund, und 1916 öffnete ihre Pforten die Deutsche Bücherei in Leipzig, ein Typ, wie ihn die gesamte Bibliothekswelt noch nicht erlebt hatte und wie er auch heute noch einzig dasteht. Wie bei allen großen Werken, die ihren Schöpfer loben, gibt es auch hier der Väter viele, und die Idee, die der Schöpfung zu Grunde liegt, läßt sich in ihren mancherlei Wandlungen, die freilich den Kern nicht berühren, weit zurückverfolgen. Ob es der nationale Gedanke ist, der den Antrieb gegeben hat, wie man es heute in der Regel hört, oder, wie nüchterne Leute sagen, die Absicht, die zentrale Stellung Leipzigs im deutschen Buchhandel durch einen neuen starken Anker zu sichern, darauf kommt es nicht im geringsten an. Die Hauptsache ist die Tat, und niemand, der die Deutsche Bücherei und ihre Arbeit kennt, wird leugnen, daß diese Tat dem deutschen Buchhandel glänzend gelungen ist. Erst die Deutsche Bücherei, die mit ihrer den ganzen Erdkreis umspannenden »Werbearbeit« nahezu ebensoviele der Öffentlichkeit nicht ohne weiteres zugängliche Erscheinungen ans Licht zieht, als die Buchhandelsbibliographie sie aufzeigt, hat der Welt einen BegrifiF vom Umfang des deutschsprachigen Schrifttums gegeben. Daß sie damit zugleich erschreckt hat und daß sie Unendliches am Leben erhält, was den Untergang verdiente, das ist ihr bei der grandiosen Einseitigkeit ihrer Ziele (Sammlung, Ordnung und Bereitstellung der deutschsprachigen Literatur seit 1913) eher nachzusehen als den großen wissenschaftlichen Universalbibliotheken, die sich in voller Unbefangenheit an dieser Sünde wider den heiligen Geist beteiligen. Kurz, wenn die Berichterstattung etwas an der Deutschen Bücherei auszusetzen hat, so ist es dies, daß sie nicht schon zugleich mit Gutenbergs erstem Druck begründet worden ist.

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Nicht neu gegründet, aber doch zu neuem Leben erweckt wurden die drei Königlichen Bibliotheken in Wiesbaden (1900), Düsseldorf (1904) und Erfurt (1908), die nicht leben und nicht sterben konnten und die nun unter dem Patronat leistungsfähiger Gemeinden eine fruchtbare Wirksamkeit entfalten. — Daß die beiden neuen Technischen Hochschulen in Danzig (1904) und in Breslau (1910) nicht ohne Bibliothek ins Leben traten, das versteht sich von selbst. — Es folgten dann vier Bibliotheken, die ihre Existenz dem großen Krieg verdanken: die Weltkriegsbücherei auf Schloß Rosenstein bei Stuttgart (1915), die der Besitzer Dr. Richard Franck in Berlin durchaus nach den Grundsätzen einer öffentlichen Bibliothek verwalten läßt, die Bibliothek des Deutschen Auslands-Instituts in Stuttgart (1917) und als Grenzposten die Pfalzische Landesbibliothek in Speyer (1923) und die Oberschlesische Landesbibliothek in Ratibor (1927) — und endlich, die Reihe der neuen Bibliotheken schließend, Oscar von Millers Technische Großbibliothek beim Deutschen Museum in München, die am 7. Mai 1930 ihr Richtfest gefeiert hat. Am Schluß dieses Überblicks aber stehen die Namen Straßburg und Posen. Wer mit Althoff, dem Vater der Kaiser Wilhelm-Bibliothek, unerschütterlich an den endlichen Sieg der Wissenschaft auch im Nationalitätenkampf glaubt, der wird die an den Aufbau der beiden Bibliotheken gewandten Mühen nicht bedauern. Die Bücher sind die stummen Lehrer. Sie haben Zeit und können warten: Grammata sola carent fato mortemque repellunt. III Vieles hat sich erreichen lassen. Unerreichbar scheint für Zeit und Ewigkeit eins, und das ist das Wichtigste: eine nach rein sachlichen Gesichtspunkten bemessene Dotierung. Aus eigenem Vermögen vermag die Bibliothek nichts oder so gut wie nichts, und ihre Werbekraft ist geringer als die jeder anderen wissenschaftlichen Sammlung. Wenn sie einen Weg gefunden hat, ihren Bedarf einleuchtend nachzuweisen, so hat sie ihn doch nicht zur Anerkennung bringen können. Wie geht es denn in der Regel zu ? Die wissenschaftliche Produktion, die Bücherund Einbandpreise, die Ansprüche des Publikums — alles das ist in ständiger Aufwärtsbewegung. Jahr für Jahr trägt die Bibliothek ihre wachsenden Nöte vor, ohne sich durch ablehnende 'Bescheide abschrecken zu lassen, bis dann auf einmal, fast wider Erwarten, die so lange geschlossene Hand sich auftut und hergibt, meist nicht mehr als vor Jahren gefordert war, zuweilen aber auch, noch weniger begreiflich, nach dem schönen Satze »It never rains but it pours«. Die Königliche Bibliothek, die ihren Vermehrungsfonds 1889 von 96 000 auf 150 000 M. hat emporschnellen sehen, bleibt auf diesem Satze stehen bis 1906, volle achtzehn Jahre, Jahre, in denen Produktion und Preise um mindestens 30% gestiegen sind, die Kaufkraft der Bibliothek also entsprechend gesunken ist, und dann: 1907 ein Mehr von 36000 M., 1910 von 40000 M., 1913 von 83 000 M., also in sieben Jahren eine Steigerung von 150 000 auf 309 000 M. Und nicht viel anders geht es, wobei es freilich hier wie dort an einmaligen Bewilligungen zum Ausgleich nicht fehlt, den Universitätsbibliotheken, die erst 1910 im Zusammenhang mit der Einführung der Bibliotheks-

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gebühr zu ihrem Recht kommen und nun gleich eine Steigerung ihres Vermehrungsfonds um durchschnittlich s 8 , 6 ° / o erfahren. Ein nicht leicht verständlicher, aber anscheinend invariabler Zug der Bibliothekspolitik, diese Sprunghaftigkeit, die man wohl oder übel hinnehmen muß, so nachteilig sie auf die Stetigkeit der Entwicklung und namentlich der Anschaffungsgrundsätze einwirkt. Immerhin, die wesentlichen Voraussetzungen für gedeihliche Arbeit sind gegeben, und bei aller Abhängigkeit der Bibliothek von jenen äußeren Mitteln bietet auch sie noch Spielraum genug für die Entfaltung menschlicher Kräfte. Und anders als zuvor fundiert sind jetzt diese Kräfte und auf andere Ziele gerichtet. War man früher damit zufrieden gewesen oder hatte man, was vielleicht richtiger ist, damit zufrieden sein müssen, die Dinge im Hause in Ordnung zu halten und den Ansprüchen der Außenwelt taliter qualiter nachzukommen, so ist jetzt ein neuer Geist zur Herrschaft gelangt: die alte Unbeweglichkeit scheint begraben, und an ihre Stelle getreten ist eine im Fortschreiten der Jahre immer stärker sich akzentuierende Aktivität. Der neugeschaffene Beruf erfaßt seine Aufgabe mit jugendlichem Eifer, und in voller Erkenntnis des hohen Wertes von persönlicherBerührung, Aussprache und Gedankenaustausch schließt er sich bereits 1900 zum »Verein der deutschen Bibliothekare« zusammen, der von nun an auf seinen jährlichen Tagungen das Ganze des Bibliothekswesens in den Kreis seiner Erörterungen zieht, tausend unsichtbare und doch bindende Fäden von Bibliothek zu Bibliothek über das ganze Reich spannt und so jenes Gemeinschaftsgefühl erzeugt und trägt, das die Kraft des Einzelnen hebt und steigert. Wie nun dies neue Leben in der Bibliothek sich auswirkt und wie die einzelnen Akte des Aufstiegs nach oder neben einander in die Erscheinung treten, das ist bei der Kürze des Zeitraums, in dem die Entwicklung sich vollzieht, ohne Belang. Die Berichterstattung folgt also dem Gang der Dinge in der Bibliothek und beginnt mit der Katalogisierung, von der schon vorher im Vorbeigehen die Rede war. Selbstverständlich hatte Dziatzko, als er 1874 an die Neuaufnahme der Breslauer Bestände ging, seinen Mitarbeitern bestimmte Gesetze — er hatte sie z. T. der Instruktion der Münchener Hof- und Staatsbibliothek entnommen — in die Hand gegeben, und diese Gesetze hatte er alsdann auf Grund der bei dem gewaltigen Katalogisierungswerk gemachten Erfahrungen zu der 1886 erschienenen »Instruktion für die Ordnung der Titel im Alphabetischen Zettelkatalog der Königlichen und Universitäts-Bibliothek zu Breslau« erweitert. Überall wurde sie begrüßt und mit Respekt angesehen, aber erstens kam sie für manche der inzwischen begonnenen Neukatalogisierungen zu spät, zweitens ließ sie nicht ganz selten im Stich, hatte überdies auch mit der Strenge und Fülle ihrer ins Unendliche gehenden Teilungen und Unterteilungen noch viel weniger Lockendes an sich, als den Instruktionen allgemein beschieden ist, und drittens schließlich schwieg sie vollständig über die Aufnahme, d. h. die Redaktion des Titels. Vorgeschrieben oder auch nur empfohlen wurde sie von der Zentralverwaltung nicht, und so war denn alles beim alten geblieben, d. h. jede Bibliothek folgte ihren eigenen Gesetzen, die, vor langen Jahren für kleinere Verhältnisse aufgebaut, jetzt meist versagten, ein Zustand, der nur dadurch gemildert wurde, daß ziemlich in jeder Bibliothek ein Spezialist saß, der gerade in diesen Dingen exzellierte und sich gern zur Entscheidung

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aufrufen ließ. Das mußte jetzt unerträglich werden für eine Verwaltung, die, für elf große wissenschaftliche Bibliotheken verantwortlich, von Anbeginn darauf ausging, deren Leistungsfähigkeit nicht lediglich durch Erhöhung der Fonds, sondern auch durch organisatorische Maßnahmen zu steigern, was am ehesten möglich schien durch eine straffe Zusammenfassung zu gemeinsamer Arbeit. Die aber setzte ihrerseits wiederum gemeinsame Arbeitsgesetze voraus, und demgemäß wurde die Reihe der Eingriffe eröffnet mit dem Erlaß der alle Preußischen Bibliotheken gleichmäßig bindenden »Instruktionen für die Herstellung der Zettel des Alphabetischen Katalogs« vom i. April 1892. Und als in demselben Jahr die Königliche Bibliothek mit dem Druck ihrer Accessio (Berliner Titeldrucke) begann, da nahm sie zunächst nur die Erwerbungen der Berliner Universitätsbibliothek mit, seit dem 1. Oktober 1897 aber bereits die sämtlicher Universitätsbibliotheken, so daß also die zentrale Arbeit der Königlichen Bibliothek alle preußischen Bibliotheken in den Stand setzte, auf dem Wege des Ausschneidens und Aufklebens ihre Kataloge mit gedruckten Titeln weiterzuführen. Eine Regelung, die mit dem 1. Januar 1909 dadurch zu dem in dergleichen Dingen erreichbaren Grad von Vollkommenheit gebracht wurde, daß jetzt gleichzeitig fertige Zetteldrucke hergestellt wurden, die übrigens nicht anders als alle sonstigen Veröffentlichungen der Bibliothek vom Buchhandel vertrieben werden und einen ansehnlichen Absatz finden. Um aber wieder zur Instruktion von 1892 zurückzukehren, so reichte sie natürlich nicht aus, um das Fundament einer gemeinschaftlichen Katalogisierungsarbeit abzugeben, weil sie sich nur mit der Aufnahme der Titel befaßte. Als daher der Gesamtkatalog der Preußischen Bibliotheken, von dem noch die Rede sein wird, die Ergänzung durch Bestimmungen über die Ordnung der Titel unerläßlich machte, wurde sie ersetzt durch die für beide Fragen maßgebenden »Instruktionen für die alphabetischen Kataloge der Preußischen Bibliotheken« vom 10. Mai 1899 (zweite Fassung vom 10. Aug. 1908), die weit über ihren amtlichen Bereich hinaus Anklang fanden und heute das Feld beherrschen. Daß die neue Bibliothek von Anbeginn bemüht war, die Schranken, die ängstliche Vorsicht zwischen Leser und Buch errichtet hatte, niederzulegen, davon ist bereits berichtet worden. Einen sehr wesentlichen Schritt weiter in dieser Richtung führte der Erlaß vom 8. Januar 1890, der großzügig die Bibliotheken des Landes ermächtigte, sogar ihre Handschriften lediglich gegen die Zusicherung der Gegenseitigkeit an Bibliotheken anderer deutscher Länder sowohl wie des Auslands direkt, also ohne Inanspruchnahme diplomatischer Vermittelung zu verleihen. Und in engstem Zusammenhang mit dieser Maßnahme — eine Handschrift existiert ja doch nur für den, der ein Wissen von ihrer Existenz hat — wurde gleichzeitig ein Unternehmen in Angriff genommen, dessen Ziel die Inventarisierung aller Handschriften im preußischen Besitz war. Ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, damals wie leider auch heute noch, denn die Arbeit, die zum Beginn des Wintersemesters 1889/90 in die bewährten Hände Wilhelm Meyers aus Speyer gelegt war, mußte bereits 1894, nachdem die drei Bände des Göttinger Inventars der Öffentlichkeit vorgelegt waren, aus Mangel an Mitteln wieder eingestellt werden. Und so stattlich die dreißig Quartbände der Handschriftenverzeichnisse der Königlichen Bibliothek, die fast ausschließlich der Berichtsperiode ihr Dasein verdanken, 3

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sich ausnehmen, so bleibt doch zu bedauern, daß selbst dies große und mächtige Institut, das Vorbild Münchens vor Augen, trotzdem auch heute noch nahezu die Hälfte seines Handschriftenbesitzes nur in handgeschriebenen Katalogen vorführen kann. Noch weniger glücklich aber als dies Unternehmen, das, vom Standpunkt der Forschung gesehen, zweifellos in der Wichtigkeitsskala obenan steht, endete ein anderes, zu gleicher Zeit begonnenes, bei dem man — hier muß es gestattet sein, zu sagen verwunderlicherweise, — das Schwergewicht des Bestehenden nicht genügend in Rechnung gezogen hatte. Freilich schien es nahe zu liegen, den in den Bibliotheken der Universitätsanstalten angehäuften Bücherreichtum weiteren Kreisen nutzbar zu machen. Gab es doch Universitäten, bei denen die Summe der den Instituten zur Anschaffung von Büchern ausgesetzten Mittel über den Vermehrungsetat der Universitätsbibliothek hinausging. Und so wurden denn — der Erlaß trägt das Datum vom 15. Oktober 1891 — die Institutsdirektoren angewiesen, den Lehrern der Universität sowie den Examenskandidaten den Zutritt zu ihrer Bibliothek zu gewähren, den Direktoren der Universitätsbibliotheken aber wurde aufgegeben, diese Bibliotheken regelrecht in zwei Exemplaren aufzunehmen und die Kataloge — ein Exemplar sollte dem Institut verbleiben, das andere auf der Universitätsbibliothek aufbewahrt werden, um mit den übrigen Anstaltskatalogen zu einem Gesamtkatalog vereinigt zu werden — durch jährliche Nachträge auf dem laufenden zu halten. Man stelle sich nun so eine Seminar- oder eine klinische Bibliothek vor, die — damals grundsätzlich ohne Entschädigung — von einem älteren Studenten oder einem Assistenten verwaltet wird, der von bibliothekarischer Technik gänzlich unberührt ist, keinerlei Neigung und keinerlei Verpflichtung hat, Tag für Tag zu bestimmten Stunden zur Stelle zu sein usw., und man wird es verstehen, daß der Gedanke, nachdem man in Berlin und in Bonn die Sache praktisch durchprobiert hatte, fallen gelassen wurde, ohne daß ihm eine Träne nachgeweint worden wäre. A m wenigsten von den Institutsbibliotheken, die ihre spezifischen und sehr wertvollen Vorzüge gegenüber der großen Universalbibliothek nur bei vollster Freiheit von gleichviel welcher bürokratischen Fessel entfalten können. Um so glänzender wirkten sich zwei andere Maßnahmen aus, die gleichfalls ihre Wurzel in dem Bemühen hatten, die Unzulänglichkeit der Bestände durch Steigerung der Auswertung des Vorhandenen wett zu machen: der »Leihverkehr« und der »Gesamtkatalog«. Unter dem 5. Januar 1892 hatte Erman dem Ministerium über seine Wahrnehmungen auf einer im August und September 1891 ausgeführten Bibliotheksreise berichtet und dabei von einem festgeregelten Verkehr zu gegenseitiger Aushilfe zwischen den beiden hessischen Bibliotheken Gießen und Darmstadt gesprochen. Es ist also nicht unwahrscheinlich, daß Althoff hieran anknüpfte, als er, wie die Rede geht, im April 1892 bei einem Aufenthalt in Göttingen den Entwurf zur Einrichtung eines Leihverkehrs zwischen Göttingen und Marburg (der Erlaß trägt das Datum vom 15. Mai 1892) dem Bibliothekar Paul Schwenke, dem späteren Ersten Direktor der Königlichen Bibliothek, in die Feder diktierte, dieweil Dziatzko und der damals gerade den Universitätskurator vertretende Hilfsarbeiter im Kultusministerium Friedrich Schmidt Paten standen. Kein Wunder, daß aus

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diesem Täufling etwas geworden ist. Unmöglich, die einzelnen Stadien seiner Entwicklung hier vorzuführen. Es muß genügen, ihn zu zeigen, wie er heute, und zwar unter dem heutigen Namen und in der heutigen Gestalt seit 1924, lebt und wirkt: der »Deutsche Leihverkehr« also umspannt das ganze Reich; 753 wissenschaftliche Bibliotheken faßt er zu einer einheitlich arbeitenden Organisation zusammen, die jedermann, der in seiner Bibliothek vergeblich angeklopft hat, gegen die nominelle Gebühr von 10 Pf. für den Druckband oder 1 M. für die Handschrift das gesuchte Buch verschafft, sofern es in einer der anderen 752 Bibliotheken vorhanden ist, alles ohne daß ihm daraus die geringste Schreiberei oder sonstige Schererei erwüchse. Das ist etwas Großes, auch wenn man es nicht an der Leistung der alten Bibliothek mißt. Und doch ist mit seinen gegenwärtigen Leistungen und mit seinen Zukunfitsmöglichkeiten noch bedeutender der Gesamtkatalog der Preußischen Bibliotheken. Der Gedanke, den eigenen Bücherbesitz zu ergänzen und zu stärken durch den Nachweis fremden Bücherbesitzes, ist uralt, und ganz und gar gleichgültig ist es daher, ob es Althoff oder Treitschke oder ein Dritter war, dem zuerst die Idee kam, die gesamten Bestände der elf großen wissenschaftlichen Bibliotheken des Landes virtuell zusammenzufassen. Jedenfalls war es AlthofF, der — und das ist das Entscheidende — die Einstellung der erforderlichen Mittel zur Herstellung des Gesamtkatalogs in den Staatshaushaltsetat für 1895/96 durchsetzte, und aller Nutzen und aller Segen, den dies Unternehmen den Bibliotheken bereits gebracht hat, täglich bringt und in Zukunft bringen wird, ist keinem anderen zu danken als ihm. So viele Vorgänger aber der Plan hatte: ihn in die Wirklichkeit umzusetzen, war noch nie und nirgends versucht worden, und so ist es zu begreifen, daß mit der Suche nach dem besten Weg und mit den vielerlei Vorarbeiten — dazu gehörten auch die Instruktionen von 1899 und die durchgehende Revision der Einzelkataloge — ganze Jahre vergingen, bis — das geschah am 2. Januar 1903 — die erste Zettelsendung von Berlin aus ihren Rundgang durch die Bibliotheken zur Hinzufügung ihres Plus antrat. Heute steht der Gesamtkatalog fertig da, mit seinen 2 % Millionen Titeln ein lautredendes Zeugnis dreißigjährigen Fleißes. Was die Arbeit nebenher sozusagen ungewollt erzwungen hat, die gründliche Revision der alten Kataloge, die Ausmerzung der ungezählten Fehler, die sich im Lauf der langen Jahrzehnte eingeschlichen hatten, die Vereinheitlichung der Ordnung — dies Nebenprodukt allein würde ausreichen, Mühe und Kosten zu rechtfertigen. Aber schon in seiner Entstehung hat der Gesamtkatalog auch seine selbeigene Existenzberechtigung außer Zweifel gestellt, mit jedem Jahre stärker, bis er sich zu dem mächtigen Arbeitsinstrument ausgewachsen hat, das alle Vorteile des Leihverkehrs herauszuholen und zu steigern ermöglicht. Seine eigentliche und seine ganze Bedeutung aber wird er erst zeigen, wenn er, durch den Druck der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, der Wissenschaft ein unvergleichliches Hilfsmittel in die Hand und den beteiligten fünfzehn Bibliotheken — mit dem 1. Januar 1928 sind die Bibliotheken der vier Preußischen Technischen Hochschulen hinzugekommen — die Möglichkeit gibt, ihre längst überalterten Kataloge durch neue zu ersetzen. Am 1. April 1930 hat der Druck begonnen. Möchte der Himmel ihn vor dem Geschick des Grimmschen Wörterbuchs und des Thesaurus linguae latinae bewahren I 3*

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Noch sind indes die Segnungen des Gesamtkatalogs nicht erschöpft. Schon im zartesten Alter — die Berichterstattung muß bis zum Jahre 1905 zurückkehren — hat er nämlich einen Zweig getrieben, der zwar auch heute noch seine Hauptnahrung dem mütterlichen Stamm entnimmt, sonst aber sich zu einem durchaus selbständigen Leben entwickelt hat: das ist das »Auskunftsbureau der Deutschen Bibliotheken«. Auch hier ist es Althoff, den die Tradition als den Schöpfer nennt : er sei ungeduldig geworden über den langsamen Fortgang des Gesamtkatalogs und habe daher der Leitung aufgegeben, bis auf weiteres dem Interessenten die mühselige Nachforschung nach dem Vorhandensein eines Buches für den Bereich des Gesamtkatalogs abzunehmen und die erforderlichen Ermittelungen selbst anzustellen. Das war noch im Jahre 1904 geschehen, und schon am 1. April 1905 ist aus diesen bescheidenen Anfängen das Auskunftsbureau der Deutschen Bibliotheken geworden, das zunächst in aller Eile nahezu 300 Bibliotheken in seinen Wirkungskreis zieht, von Anbeginn seine Ehre darein setzt, über das Mechanische hinaus auch die verzweifeltsten Fälle zu klären, die schwierigsten Fragen zu beantworten, die verderbtesten Zitate unterzubringen, und das sich damit bei Gelehrt und Ungelehrt so viel Sympathie erwirbt und dauernd erhält, wie es auf deutschem Boden bibliothekarischen Einrichtungen nur ganz selten beschieden ist. Heute, wo das Bureau auf fünfundzwanzig Jahre Arbeit zurückblickt, kann es bereits von mehr als 1000 Bibliotheken berichten, mit denen es verkehrt, und von weit über 1000 Anfragen, die selbst das Ausland ihm im letzten Jahre vorgelegt hat. Kein Wunder also, daß das Institut de coopération intellectuelle vor kurzem allen Ländern die Schaffung von Auskunftsbureaus nach dem Vorbild des Deutschen empfohlen hat. Und schließlich gehört bis zu einem gewissen Grade hierher, weil derselben Wurzel entstammend, auch die bei der ersten systematischen Regelung der Vermehrungsetats im Jahre 1910 erfolgte Zuweisung von Sonderaufgaben an einzelne Universitätsbibliotheken. So erhielten Göttingen, Bonn, Kiel und Breslau bestimmte Praecipua — es waren für Göttingen und Bonn je 8000, für Kiel und Breslau je 4000 M. — mit der Weisung, diese besonderen Beträge auf die besondere Berücksichtigung bestimmter Kulturkreise zu wenden, des anglo-amerikanischen (Göttingen), des romanischen und niederländischen (Bonn), des nordischen (Kiel) und des slavischen (Breslau), — zweifellos ein ausgezeichneter Weg, der Wissenschaft eine größere Quote der ausländischen Literatur zugänglich zu machen, als es bei Verteilung der nämlichen Mittel auf alle zehn Bibliotheken möglich wäre. IV Wie es eigentlich gekommen ist, daß man es unterlassen hat, zu dem neugeschaffenen Beruf des wissenschaftlichen Bibliothekars auch gleich den mittleren Bibliotheksdienst einzurichten, das ist um so schwerer zu verstehen, als die rein technischen, eine gelehrte Bildung nicht voraussetzenden Arbeiten sich schon damals enorm gesteigert hatten. Selbst die Befreiung des wissenschaftlichen Personals von Bureau- und Kanzleiarbeiten — sie begann, zunächst zögernd und nicht sehr glücklich, 1896 mit der Begründung einiger Expedientenstellen — ließ lange auf sich warten, und erst das Jahr 1909 erlebte, nachdem die beabsichtigte Neuerung

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eine dreijährige Versuchszeit in Berlin, Breslau und Göttingen überstanden hatte, die Einführung der »Diplomprüfung für den mittleren Bibliotheksdienst an wissenschaftlichen Bibliotheken sowie für den Dienst an Volksbibliotheken und verwandten Instituten« (10. August 1909), der zwei Jahre später (Erlaß vom 23. Mai 1911) die Regelung der Anstellung von Bibliothekssekretären und Bibliothekssekretärinnen folgte. Zweifellos in der neueren Geschichte der deutschen Bibliotheken der bedeutsamste Fortschritt seit der Schaffung des bibliothekarischen Berufs zwanzig Jahre zuvor. Keineswegs unerwünscht, aber durchaus unerwartet waren die Folgen. Das zwar wird bei der freien Gestaltung der vierjährigen Ausbildung, die auf ein fortgesetztes Unter-den-Augen-haben, dafür aber auch auf eine fortgesetzte Beschäftigung nach dem Abschluß der Ausbildung bewußt verzichtet, niemand überrascht haben, daß es fast ausschließlich junge Mädchen waren, die sich der neuen Laufbahn zuwandten, und gern wird festgestellt, daß es alles in allem tüchtige und zum Teil ausgezeichnete Kräfte waren, die so dem Bibliotheksdienst zugeführt wurden, was auch durch die Tatsache bezeugt wird, daß heute in Preußen z.B. den 120 wissenschaftlichen Beamten 99 mittlere, darunter 49 weibliche, gegenüberstehen. Niemand aber hatte an solch einen Zustrom gedacht, wie er sich, zumal nachdem Krieg und Inflation die Sicherheit der wirtschaftlichen Existenz so schwer erschüttert hatten, über die Bibliotheken ergoß und heute stärker als je sich ergießt. Es haben eben auch andere Verwaltungen und Betriebe entdeckt, daß die Ausbildung in der Bibliothek eine gute Grundlage für alle möglichen Bureau- und Ordnungsarbeiten gibt, so daß immer noch Angebot und Nachfrage einander die Wage halten. So geht denn trotz der mancherlei privaten Kurse, die die Aneignung des theoretischen Wissens zu erleichtern versprechen, durch die Bibliotheken ein lebendiges Unterweisen und Bilden. Die Bibliotheken selbst aber, die immer und überall fleißige Hände brauchen, gehen dabei nicht leer aus und haben dazu neben dem angenehmen Bewußtsein ihrer Beteiligung an der Lösung einer sozialen Aufgabe noch die Freude, auf diesem Wege die leider immer noch sehr losen Beziehungen zur jüngeren Schwester, der Volksbibliothek, ein wenig pflegen zu können. Aber auch der wissenschaftliche Nachwuchs konnte für seine Ausbildung nicht lediglich der Praxis überlassen bleiben. Es gibt einmal eine Reihe besonderer Kenntnisse und Fähigkeiten, deren der Bibliothekar in seiner beruflichen Tätigkeit nicht entraten kann die während des Studiums zu erwerben, er aber keine Möglichkeit gefunden hat, weil sie im Lehrplan der Universität keine oder keine ausreichende Berücksichtigung finden, — als da sind die Entwicklung der Schrift, die Geschichte des Drucks, die Geschichte des Buchs in ihrer mannigfachen Verzweigung, die Geschichte der Bibliotheken und der literarischen Uberlieferung usw. Diese Arbeitsgebiete aber sind für den Bibliothekar um so wichtiger, als sie ihm nicht allein erleichtern, zu seiner Arbeit dasjenige Verhältnis zu gewinnen, das den wissenschaftlichen Menschen vom reinen Techniker unterscheidet, sondern auch deshalb, weil sie ihm, dessen berufliches Leben sich um das Buch dreht, als eigenste Domäne zufallen und daher vielleicht eher als seine Fakultätswissenschaft, von der er sich hat loslösen müssen, die Kraft haben werden, ihn festzuhalten und ihm das nötige Gegengewicht gegen die Fülle der unvermeidlichen Arbeit zu geben, die der Tag verschlingt. Das hatte Althoff, dessen Auge auch hier weiter reichte als das



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seiner Umgebung, bereits 1886 erkannt, als er in Göttingen das erste und bis auf weiteres letzte Ordinariat für Bibliothekshilfswissenschaften errichtete. Wenn aber aus diesem Keim nicht die Pflanzschule wurde, an die man vielleicht gedacht hatte, so liegt das nicht an den Inhabern des Lehrstuhls, an Dziatzko und seinem Nachfolger Pietschmann, deren Namen vielmehr noch heute von ihren Schülern nur in Dankbarkeit genannt werden, sondern ganz wesentlich daran, daß man sich anscheinend nicht dazu hat entschließen können, den Besuch Göttingens obligatorisch zu machen und dem ganzen Unterricht eine geschlossene Organisation zu geben. Diesen Fehler hat man in München vermieden, wo man 1905 die theoretische Unterweisung der Volontäre in eine feste Ordnung brachte, die Durchführung des Lehrplans aber nicht einem Einzelnen übertrug, sondern die erfahrensten und geeignetsten Beamten der Bibliothek zu Lehrern bestellte. Das war denn auch das Vorbild, an das die Berliner Staatsbibliothek sich anschloß, als sie zu Anfang der zwanziger Jahre ihre Kurse einrichtete und im Ausblick auf eine höheres Ziel das 1921 von Göttingen nach Berlin übertragene Ordinariat für Bibliothekshilfswissenschaften im Jahr 1924 ohne allzu großen Schmerz dem Abbau verfallen sah. Diesem höheren Ziel aber glaubt die Unterrichtsverwaltung jetzt einen Schritt näher gekommen zu sein durch die vor kaum zwei Jahren (Erlaß vom 30. Juli 1928) erfolgte Begründung des »Bibliothekswissenschaftlichen Instituts« bei der Universität Berlin, dessen Lehrkräfte sich zu ziemlich gleichen Teilen aus Universitätslehrern und aus Bibliothekaren zusammensetzen und dessen Aufgabe es ist, dem wissenschaftlichen Nachwuchs jene besonderen, dem Bibliothekar notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu übermitteln, von denen eben die Rede war. Und wenn von diesem Institut, bei dessen Begründung doch schon ein wenig an die »École des chartes« und an das »österreichische Institut für Geschichtsforschung« gedacht wurde, eine bessere Lösung der Aufgabe erwartet wird, als sie bisher durch verwandte Einrichtungen erreicht worden ist, so gründet sich diese Hoffnung auf bestimmte Maßnahmen, die einstweilen ihm allein eigen sind: das ist 1. die Heranziehung der besten irgend erreichbaren Lehrer ohne Bindung an das Personal der Bibliothek, 2. die Anlehnung an die Universität, die das Niveau des Unterrichts sichert, und 3. endlich die Beschränkung des praktischen Dienstes der Volontäre auf höchstens die Hälfte der Pflichtstunden. So gut aber die Dinge sich anzulassen scheinen, so ist die Einrichtung doch noch zu jung, um ein abschließendes Urteil zu erlauben. Noch aber muß erwähnt werden, daß die alten Kurse der Staatsbibliothek mit der Begründung des Instituts nicht ganz aufgehört haben, sondern nur auf diejenigen Fächer beschränkt sind, die sich für den Universitätsunterricht nicht eignen und besser an der Hand der Praxis behandelt werden. Auch hier wird man abwarten müssen, ob nicht am Ende der Schulmeisterei etwas zu viel wird. Einstweilen aber ist nur zu melden, daß diese »Hauskurse« mit besonderem Beifall aufgenommen werden. Was hier noch übrig bleibt — die Berichterstattung ist wieder weit vorausgeeilt — , das ist Althoffs letzter organisatorischer Akt auf dem Gebiete des Bibliothekswesens: die unter dem 23. Juni 1907 erfolgte Errichtung des »Beirats für Bibliotheksangelegenheiten«. Wie sein erster Eingriff galt auch dieser letzte der

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Königlichen Bibliothek, deren bisher nur auf ihren zentralen Leistungen beruhende zentrale Stellung er offiziell festlegte, indem er in den Verkehr zwischen den Universitätsbibliotheken und dem Minister den Generaldirektor als Zwischeninstanz einschaltete und ihm gleichzeitig gewisse Befugnisse einräumte, wie sie die preußische Behördenorganisation im allgemeinen nur in dem Verhältnis des Vorgesetzten zum Untergebenen kennt. Wenn indes die Universitätsbibliotheken — seit 1925 gehören auch die Bibliotheken der vier preußischen Technischen Hochschulen zum Bereich des Beirats — durch die neue Einrichtung eine gewisse Mediatisierung erfuhren, so wurden sie dafür reichlich dadurch entschädigt, daß sie jetzt unter allen Umständen einer fachmännischen Beurteilung ihrer Anliegen und, wenn die Sache dazu angetan war, einer sehr viel wirksameren Förderung sicher sein konnten, als sie von sich aus hätten erreichen können. Jedenfalls ist es kein schlechtes Zeugnis für die Haltung des deutschen Bibliothekars, daß dies Verhältnis nie zu einem Mißklang geführt hat. Die eigentliche Absicht der neuen Regelung, die Königliche Bibliothek zur gesetzlich fundierten Zentrale des gesamten Kreises der wissenschaftlichen Bibliotheken des Landes zu erheben, durch das Statut von 1885 und seine Auswirkungen wohl vorbereitet, wurde wie etwas Selbstverständliches aufgenommen. Die materiellen Folgerungen ließen nicht auf sich warten, und unter Adolf von Harnacks genialer Führung schreitet die Königliche Bibliothek jetzt von Erfolg zu Erfolg bis zu ihrem großen Tag, dem 22. März 1914, wo ihr mit einem glänzenden Weiheakt, der zugleich auch die letzte öffentliche Repräsentation des angestammten Herrscherhauses sein sollte, der mächtige neue Bau Unter den Linden übereignet wird. In den sieben Jahren von 1907—1914 hat sie ihren Vermehrungsfonds von 150000 auf 316000 M. gebracht, ihr Personal von 148 auf 327 Köpfe, ihren Zuwachs von 19 027 auf 42 327 Bände, ihre Verleihung von 392 079 auf 508 442 Werke — ein Tempo der Steigerung, das sie wohl nie wieder erreichen wird, auch dann nicht, wenn ihr ein zweiter Harnack erstünde. V Die Wunden, die Krieg und Inflation den Bibliotheken geschlagen haben, werden noch lange fühlbar bleiben. Wenn es ihnen aber gelungen ist, die Schäden so weit zu heilen, daß die Wissenschaft, soweit die Literatur dabei eine Rolle spielt, die abgerissenen Fäden wieder hat aufnehmen können und heute überall in voller Arbeit steht, keineswegs geneigt, die alte Position aufzugeben, so verdanken sie das in erster Linie ihren angestammten Pflegern, die in voller Würdigung der jetzt gewaltig gesteigerten Bedeutung des öffentlichen und also allgemein zugänglichen Bücherbesitzes ihre ganze Kraft einsetzten, dem neuen Leben den Weg frei zu machen. Trotzdem wäre bei der Verarmung der Länder durch den Verlust ihrer Finanzhoheit das Ziel nicht erreicht worden ohne die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, die vom ersten Tage ihrer Existenz an (1920) der Bedrängnis der Bibliotheken ihre besondere Aufmerksamkeit zuwandte und namentlich in der Ergänzung der mit dem Beginn des Krieges stecken gebliebenen ausländischen Zeitschriften wie der wissenschaftlichen Literatur des Auslands überhaupt eine ihrer dringlichsten und wichtigsten Aufgaben erkannte. Was sie in diesen zehn Jahren,

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die seitdem ins Land gegangen sind, für die deutschen Bibliotheken geleistet hat, das läßt sich angemessen in Ziffern nicht zum Ausdruck bringen, obwohl es schon etwas sagen will, wenn man ihren Aufwand für die deutschen Universitätsbibliotheken z. B. auf fast ein Drittel der staatlichen Vermehrungsfonds berechnet hat. Dazu müßte man vielmehr noch rechnen, was sich überhaupt nicht errechnen läßt: das sind die mannigfachen Vorteile, die sie, der man als einer rein wissenschaftlichen, allen politischen oder wirtschaftlichen Zwecken fernstehenden Selbstverwaltung überall volles Vertrauen entgegenbrachte und entgegenbringt, auf den mannigfachsten Wegen den Bibliotheken auch sonst noch hat zuführen können: durch die Erzielung besonders günstiger Einkaufsbedingungen, durch die Organisation eines weit ausgedehnten Tauschverkehrs, durch die Vermittlung wertvoller Schenkungen und schließlich, was nicht am wenigsten bedeutet, durch eine planvolle Ergänzung und Erweiterung jenes Systems von Sonderaufgaben im Ausbau der Bestände, mit dem Preußen 1910 begonnen hatte. Nichts sehnlicher also zu wünschen, als daß die gegenwärtige Konstellation von Unterrichtsverwaltung und Notgemeinschaft, der die Bibliotheken ihre Rückkehr zu leidlich normalen Verhältnissen verdanken, sich in Permanenz erklärte. Sicherlich wäre es hübsch, wenn der vorstehende Bericht jetzt noch durch eine wenn auch noch so skizzenhafte Darlegung der Erwerbungen und der Leistungen in diesen fünfzig Jahren ergänzt werden könnte. Aber das gestatten weder Raum noch Zeit. Und wenn sie's täten, dann wäre damit auch noch nicht viel gewonnen, weil man vor einem halben Jahrhundert noch vielfach im Stande der Unschuld lebte und die Statistik, die erst 1903 in die Bibliotheken eingezogen ist, nicht kannte, oder aber, wenn man solche Erhebungen schon anstellte, dabei doch nach anderen Grundsätzen verfuhr als heute, so daß die Möglichkeit der Vergleichung wegfallt. Immerhin soll das wenige, was ohne langwierige Schreiberei zu erreichen war, dem Leser nicht vorenthalten werden. Hier also das Ergebnis, und zwar mit dem Bemerken, daß bei den Etats weder die einmaligen Bewilligungen noch die Zuschüsse der Notgemeinschaft berücksichtigt sind.

Bibliothek

Bestand an Drucken: Binde 1880

Berlin SB München SB Breslau SuUB Erlangen UB

1929

644098 2287821

Zuwachs an Drucken: Bände 1880 14428

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Das ist, wie gesagt, wenig genug, aber auch in dieser Dürftigkeit bewähren die Zahlen ihre Kraft, der Vorstellung einen Halt zu geben. Dazu aber stellt als Helfer sich kein Geringerer als Lessing ein, weiland Bibliothekar zu Wolfenbüttel, der

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einmal, als er auf seines Vorgängers Jacob Burckhard »Historia Bibliothecae Augustae« zu sprechen kommt, die These aufstellt, daß es bei der Geschichte einer Bibliothek nicht darauf hauptsächlich ankomme, »daß man die gleichgültigem Umstände ihrer Entstehung und ihrer allmählichen Vermehrung mit einer ängstlichen Gewissenhaftigkeit hererzählt, — sondern darauf, daß man zeigt, wozu es denn auch der Gelehrsamkeit und den Gelehrten genutzt habe, daß so viele Bücher mit so vielen Kosten hier zu Haufe gebracht worden. Das allein sind die Thaten der Bibliothek: und ohne Thaten gibt es keine Geschichte.« Dagegen ließe sich freilich mancherlei einwenden, und überdies ist es auch damals nicht jedem Bibliothekar so gut gegangen wie ihm, der nach dem ausgesprochenen Willen seines hohen Gönners mehr die Bibliothek, als daß die Bibliothek ihn nutzen sollte. Aber am Ende ist es doch ein durchaus richtiger Gedanke, der Lessings Anschauung zu Grunde liegt, nur daß es heute bei dem Massenbetrieb schlechterdings unmöglich wäre, die Einwirkung der Bibliothek auf den Gang oder die Leistung der Wissenschaft zu erfassen. Von Zeit zu Zeit erscheint wohl ein Mann wie Friedrich Paulsen, der erklärt, er hätte die Geschichte des gelehrten Unterrichts nie schreiben können ohne den Realkatalog der Königlichen Bibliothek. Aber er ist ein weißer Rabe, und der schwarzen, die an der Bibliothek nur die Unzulänglichkeiten sehen und ihre Klage darüber in die Welt rufen, gibt es mehr. Aber es bleibt noch genug übrig, um auch nach Lessings Rezept darzutun, daß die Bibliotheken nicht geschichtslos durch die fünfzig Jahre gegangen sind: das sind nicht die Werke, die außenstehende Gelehrte nur an der Hand in der Bibliothek vorhandener Schätze haben publizieren können — an sie besonders denkt Lessing —, sondern die kaum übersehbare Reihe von Veröffentlichungen, die von Bibliotheken oder von einzelnen Bibliothekaren ausgegangen sind, alle in der Bibliothek wurzelnd und doch zum großen Teil aus der Enge bibliothekstechnischer Interessen hinaufstrebend in die Weite der freien wissenschaftlichen Forschung. Wobei natürlich nicht zu denken ist an die zahllosen Titelverzeichnisse, von der Liste der ausliegenden Zeitschriften aufwärts bis zum »Gesamtverzeichnis der ausländischen Zeitschriften« (1928) oder gar zum Preußischen Gesamtkatalog, die sämtlich sich auf rein praktische Zwecke beschränken. Wohl aber gehören hierher die Handschriftenkataloge, die Reproduktionen besonders wertvoller oder gefährdeter Handschriften — München allein mit fünfzehn weit voran —, die Inventare von Miniaturen, die großen Einbandwerke, die alle mit ihren gelehrten Einleitungen sich vollwertig in den Gang der wissenschaftlichen Forschung eingliedern. Größer aber noch in seiner allgemeinen Bedeutung wie als Dokument bibliothekarischer Forschungsarbeit ist der 1904 noch unter starker persönlicher Anteilnahme Althoffs begründete »Gesamtkatalog der Wiegendrucke«, der mit seinen drei ersten bereits im Druck vorliegenden Bänden (1925—1928) das Fegfeuer der Kritik glänzend überstanden hat und nun in fest organisierter stetiger Arbeit vorwärts schreitet, zweifellos dazu berufen, einmal zusammen mit dem großen Akademiewerk, den »Mittelalterlichen Bibliothekskatalogen«, der Wissenschafts- und Kulturgeschichte des Mittelalters einen neuen und starken Impuls zu geben. Die Geschichte der Bibliotheken, die Geschichte des Buches, die Handschriftenkunde, die Geschichte des Drucks und die junge Einbandforschung — sie haben

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Fritz Milkau

ihre Heimat heute in der Bibliothek. Kaum gibt es ihrer eine, deren Geschichtc nicht in diesen letzten fünfzig Jahren geschrieben oder wenigstens vorbereitet wäre. Und wer sich die Zeit nähme, die 47 Jahrgänge des »Zentralblatts für Bibliothekswesen« (seit 1884) mit seinen 62 »Beiheften« (seit 1888) und weiter Dziatzkos »Sammlung bibliothekswissenschaftlicher Arbeiten« mit ihren 42 Heften (seit 1887) etwas aufmerksamer durchzusehen, der würde zum wenigsten anerkennen müssen, daß der heutige Bibliothekar von einem starken Interesse für die Aufgaben seines Berufs getragen wird. VI Wie wird es weiter gehen ? Wird der künftige Bibliothekshistoriker das Ende dieses halben Jahrhunderts sich ebenso von der Folgezeit abheben sehen, wie dem heutigen der Beginn sich als der Eintritt in eine neue Entwicklungsperiode dargestellt hat ? Daß die Bibliotheken heute an einer scharfen Ecke stehen, das unterliegt keinem Zweifel. Der Raum wird knapp überall, selbst in den neuen Häusern. Noch sind die Kriegs- und Nachkriegsschäden in den Beständen nur zur Not geheilt, noch haben die Verpflichtungen gegen das Ausland sich nicht voll ausgewirkt, und schon beginnen allenthalben die Kürzungen der ohnehin durchaus unzulänglichen Mittel. Und was das bedeutet, das bekommt niemand so zu fühlen wie die Bibliothek. Es ist ein wunderhübschesWort, das man James Watt zuschreibt »It is a great thing to know how to do without«, und in tausend Situationen mag es sich bewähren, auch im wissenschaftlichen Betrieb. Was aber hilft es der Bibliothek ? Wie will sie weiter den Mangel an Händen ersetzen, der durch die nun fast zwei Jahrzehnte andauernde Zurückhaltung in der Begründung neuer Stellen und durch den Abbau entstanden ist ? Und dazu spukt es vom Numerus currens, von accessorischer Aufstellung, vom Dezimalsystem, und in internationalen Ausschüssen »normt« man Formate und Formulare und Abkürzungen usw. Zweifellos, jede Zeit hat das gute Recht, mit ihren eigenen Augen zu sehen. Also kann und soll gegen diese und andere Neuerungen nichts gesagt werden. Daß sie aber, falls sie sich durchsetzen, die deutsche wissenschaftliche Bibliothek wesentlich umgestalten würden, das scheint sicher. Ob in bonam oder in malam partem — wer wollte es sagen ? Einstweilen aber darf auch der durch seinen Beruf zur Bescheidenheit erzogene Bibliothekar mit Genugtuung zurückblicken auf das, was in den fünfzig Jahren erreicht ist. Es ist das, was im Eingang dieses Berichts die »moderne Bibliothek« genannt wurde: die Bibliothek, die ihres Veilchendaseins müde, Tür und Tor weit geöffnet hat; die durch Bekanntmachung ihrer neuen Erwerbungen und durch Ausstellungen aller Art ihren Nutzeffekt steigert; die mit ihren Schwestern wetteifert in der Zugänglichmachung ihrer Bestände und nicht zufrieden, freigebig aus dem Eignen zu spenden, zu Gunsten ihrer Klientel fremden Besitz heranzieht von nah und fern; die sich an der wissenschaftlichen Auswertung der eigenen Schätze aktiv beteiligt und sich zu Unternehmungen großen Stils mit anderen Bibliotheken verbündet; die auf Tagen und Kongressen die Klärung schwebender Fragen sucht und ihre Auserwählten auf Studienreisen schickt und die schließlich

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neben der praktischen auch die theoretische Ausbildung des wissenschaftlichen wie des mittleren Personals mit ihren eigenen Kräften durchführt. Im vierten Bande seines »Raisonnements über die protestantischen Universitäten in Deutschland« (1776) nennt Johann David Michaelis die Bibliothek — nicht eine bestimmte Bibliothek, sondern schlechthin die Bibliothek—ein »Corpus mortuum«, und Wilhelm von Humboldt rechnet in seiner »Denkschrift über die Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin« von 1809 die Bibliothek unter die »leblosen Institute«. Michaelis und Humboldt, beides ausgesprochene Freunde der Bibliothek, überzeugt von ihrer hohen Bedeutung für die Wissenschaft und frei von jedem Verdacht, diese Benennungen in irgendwie geringschätzigem Sinne zu brauchen. Was also darin zum Ausdruck kommt, das ist nichts anderes als die allgemeine Auffassung ihrer Zeit. Und ist es so lange her, daß diese Auffassung gegenüber dem Forschungs- und dem Unterrichts-Institut eine gewisse Berechtigung hatte? Diese Zeit ist vergessen, jene Bezeichnungen werden heute nicht mehr verstanden. Die deutsche Bibliothek ist heute keine tote Sammlung mehr: seit Jahrzehnten ist sie ernsthaft und nicht ohne Erfolg bemüht, sich einzureihen in den Kreis der lebensvoll und lebenskräftig an dem nie fertigen Bau der Wissenschaft arbeitenden Anstalten. Und von allen Errungenschaften der letzten fünfzig Jahre ist dies die größte. Sie festzuhalten und auszubauen wird die schönste Aufgabe der Zukunft sein.

FERDINAND KATTENBUSCH EVANGELISCHE THEOLOGIE Es gibt heute Theologen, die meinen, es müsse mal wieder ein Strich unter die Art gemacht werden, wie »bisher« Theologie getrieben worden. Das meinten wir — meine Generation, »wir«, die wir uns 1880 vordrängten, wir »Ritschlianer« — auch und waren überzeugt, es gehe so, wie die, die es nicht mit Albrecht Ritsehl (in Göttingen) hielten, noch fortsetzten, nicht weiter. Ee kam vieles anders, als wir dachten. Und wir hatten doch nicht völlig unrecht. A. Ritsehl war damals wirklich ein Bahnbrecher für Wege, die die Theologie auf eine Höhe führten. Seinen Ruhm (ich glaube, daß jeder Historiker der deutschen evangelischen Theologie im 19. Jahrhundert ihm solchen zugesteht) hatte er gewonnen durch sein dreibändiges Werk »Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung« 1870—74. Nicht jedes umfangreiche Werk ist inhaltreich. Ritschis Werk war es; nirgends darf man es »breit« schelten. Aus dem Titel wird man heraushören, daß es sich darin um das Grundproblem Luthers, überhaupt des sich als Christengemeinschaft, K i r c h e , verstehenden Protestantismus handelt. Und es stieß an vieles an, stieß vieles um, was da in der letzten Zeit gegolten. Es ist überhaupt Ritschis Großtat, Luther wieder lebendig gemacht, ihn, seine Person, seine »eigentlichen« Gedanken in den Vordergrund gerückt zu haben. Heuer, im Jahre des 400jährigen Jubiläums des »Augsburgischen Bekenntnisses« wird niemand gewillt sein, es oder überhaupt die lutherischen Bekenntnisse (es gehören auch Schriften Luthers selbst dazu) abzuweisen oder für gering zu erklären. Aber es gibt eine falsche gesetzliche Bindung der »lutherischen« Kirche an ihre vorsichtig-tapferen, verständnisvollen und doch durch ihre Zeitbedingungen, Zeit Streitigkeiten, zum Teil beengten »Zeugnisse« von ihrem Glauben. Luther und seine Welt neuer Erkenntnisse ließ sich nicht darin »abfangen«. Auch Ritsehl hat nicht entfernt den »ganzen« Luther zu seinem Rechte und notwendigem Einflüsse auf den »Protestantismus« gebracht. Aber er stellte sich ausdrücklich zu ihm, suchte (was dann selbstverständlich wird) sein Bibelverständnis weiter, als gang und gäbe war, wieder zu erschließen, und bot einen großen, weithalligen Bau eigener Systematik auf diesem Grunde. Ich denke nicht daran, die damals herrschende, noch lange amtlich in der »Herrschaft« bleibende Art der Theologie der Geringschätzung preiszugeben; man kann ja nicht verkennen, daß sie überwunden ist (einzelne Nachzügler sind kein Gegenbeweis); aber das besagt nicht, daß sie überhaupt wertlos gewesen sei. Sie war wesentlich von Schleiermacher (zum Teil von Hegel) abhängig, in verschiedenem Maße, aber trotz der heftigen bitteren Gegnerschaft ihrer Einzelschulen untereinander doch so weit von einem Gefühl der Verwandtschaft getragen, daß sie sich in allen ihren — drei — Richtungen ablehnend zu Ritsehl stellte. Und Ritsehl wollte doch nicht mal Schleiermacher »stürzen«, wußte, daß auch er ihm Erhebliches verdankte, nur eben auch, daß seine Führerschaft angefangen, mehr gefahrlich als förderlich zu sein. Ich kann es nicht vermeiden, Ritsehl und Schleiermacher zu vergleichen, natürlich kurz; nur so kann ich deutlich machen, was Ritsehl gewollt und geleistet

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hat. Ich beachte bei beiden nur das »Entscheidende«, das heißt das, was sie im besonderen charakterisiert und für ihr Verhältnis zueinander (in Übereinstimmung und Unterschied) spezifisch in Betracht kommt. Schleiermacher (1768—1834, seit der Gründung der Universität in Berlin deren Mitglied, zugleich, wie auch früher schon, Pfarrer dort) war ein reicherer Geist als Ritschi. Er war so Philosoph wie Theolog, Platokenner wie in seiner Zeit keiner. Auch interessierte er sich für alle A r t e n theologischer, ja auch philosophischer Aufgaben. Das war für ihn nicht schlechthin ein Segen (seine Philosophie hat seine Theologie mehr beeinflußt, als er bemerkt). Als s y s t e m a t i s c h e r Theolog vertrat er v i e r Hauptideen. 1. Er entdeckt, daß Religion ein Geistesgebiet für sich ist, natürlich gedanklich »erfaßt« werden kann, aber an sich nicht von oder in Gedanken lebt. Auch nicht von dem, was Kant — dem er in der K r i t i k der »reinen Vernunft« folgt — als »praktische Vernunft« bezeichnet. Als Kantianer war er gegen den Rationalismus der Theologen seiner Zeit gefeit. Ob er sich durch Kants »Kritik der Urteilskraft« (des ästhetischen Sinns und Vermögens) hat beeinflussen lassen, stehe dahin. Ihm war die Religion ein souveränes Gefühl, wie er sie abschließend definierte, »schlecht hinniges Abhängigkeitsgefühl«. »Gott« ist ihm das »Woher« dieses Gefühls. Das Denken kann der Religion weder ihre Sicherheit noch ihren Inhalt geben. Sie ruht rein in sich selbst als Gefühl. Man kann sich nur auf sie (auf Gott) besinnen oder aber an ihr achtlos »vorübergehen«. Jeder Mensch, »der« Geist, hat die Religion in sich. Es kommt nur darauf an, daß das »religiöse Bewußtsein« sich selbst entdeckt und in Überlegung seiner Art in sich hell und klar werde. Dann »regiert« es den Geist in seiner Selbstdeutung, der »unmittelbaren« G e w i ß h e i t über sein »Wesen«. 2. Letzteres Moment verweist uns auf die geistige Atmosphäre, die lebendige Stimmung, in der Schleiermacher wurde, der er als Theologe war. Er war R o m a n tiker, gehörte in den entscheidenden Jahren seiner geistigen Reifung zu dem Berliner Kreise um die Schlegel. Daß er da Theolog b l i e b , für die »Religion« so bewußt und entschlossen eintrat, daß er eben auch (zeitlebens) P r e d i g e r blieb, erklärt sich nur aus dem ihm angestammten (er war Pfarrerssohn) Herzensg l a u b e n , der in der Herrenhuter Gemeinde (worin er als Schüler einheimisch geworden) seine Prägung gefunden. Er schöpfte bei den Herrenhutern aus der ihnen eigenen C h r i s t u s l i e b e den Antrieb, als Theolog gerade auch darauf zu achten, was Christus dem religiösen Menschen sei, für das »religiöse« Bewußtsein bedeute: er war ihm der nie versagende, immer lebendig als geistig nahe »gefühlte« Anreger desselben. Man muß bei Schleiermacher unterscheiden, was ihm Herkunft und Erziehung geboten und was er als »Romantiker« in sich aufnahm und in erster Linie sich zum t h e o l o g i s c h e n Leitmotiv werden ließ. Seine Theologie hat nicht alles zu verarbeiten vermocht, was in ihm »lebte« (Damit hängt zusammen, daß es Fragen in seiner »Systematik« gibt, über die Streit bleiben wird). Als R o m a n t i k e r kam er dazu, die Religion als Gefühl, »nur« Gefühl zu verstehen und dabei vieles Konkrete, was ihm heilig war, nach ästhetischen Begriffen zu v e r s t e h e n oder zu bewerten. Das G u t e , das »Sittliche«, das er durchaus — von Christus her — mit dem religiösen Bewußtsein in Verbindung brachte, war ihm »begrifflich« weithin das H a r m o n i s c h e , Reine, Schöne.

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3. Als Romantiker kam Schleiermacher dazu, »das« (sein) Bewußtsein um Gott zu verstehen vom U n i v e r s u m aus. Ist Religion »schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl«, (die Formel ist glänzend und sicher ein oder das psychische Grundelement der Religion), in diesem Gefühl von »Beziehung zu Gott«, als seinem »Woher«, das Ein und Alles, worum es geht, so begreift man, daß Schleiermacher sie als Phänomen nur ontologisch (gegebenes Moment am »Dasein« des Menschengeistes) hinzunehmen und dann von dem »All« des Seins, seiner letzten Einheit aus, zu deuten weiß. Es ist das Spezifische an Schleiermachers Theologie, daß er das Sein (zu dem der Menschengeist »gehört«) nicht von Gott aus, sondern umgekehrt Gott von diesem, d. i. dem Universum, aus »verstehen« zu sollen und allein zu können meint. Schleiermacher wollte dabei nicht Pantheist sein (man »schimpfe« ihn so, sagt er). Aber er kennt doch auch keine Transzendenz Gottes, nur »Immanenz«. Und vollends keine Persönlichkeit Gottes. Gott und Welt (All, »Universum«) sind zu unterscheiden, aber in keinem Sinn zu »scheiden«. Sein »Wesen« im »Unterschiede« vom All ist lediglich Geheimnis. 4. Ein Hauptmerkmal der Schleiermacherschen Theologie ist schließlich ihre M e t h o d e . Sie war völlig neu in der Systematik und hat faszinierend gewirkt, schien sie doch einen »sturmfreien« Ausgangspunkt für Einstellung auf die Sache (letztlich natürlich den Gottesgedanken) zu gewähren. Schleiermacher meint, der »Fromme« allein könne Theolog (»Glaubenslehrer«, Gottesdeuter) sein. Natürlich ist das soweit richtig, als z. B. Kunstdeuter nur sein kann, wer Kunst»sinn« besitzt. Aber »religiöser« Sinn ist nicht ohne weiteres »Gottes«gewißheit oder »Instinkt« für die »Wahrheit« von Gott. Der Gottesgedanke hat seine »Quelle« nicht im Menschengeiste, entstehtnichtbei Selbstbesinnung, sondern ist immer und überall von »außen« gegeben und b e z w e i f e l b a r . Mindestens muß es erst bewiesen werden, daß er bloß das »Woher« des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls sei, nichts anderes. Schleiermacher unterschied nicht Form und Inhalt des »religiösen Bewußtseins« bzw. des »Gottesbegriffs«. So übt er seine — großartige — Fähigkeit als Systematiker nur als Analytiker primär seines religiösen »Gefühls«. Aber dabei kommt doch ein weiteres in Betracht, was ebenfalls sehr folgenreich wurde. In der Besinnung auf sich, sein religiöses Bewußtsein wird ihm klar, daß »er« doch evangelischer C h r i s t sei, zur evangelischen K i r c h e »gehöre«, in ihr geworden sei, der er als homo religiosus sei. Kein Zweifel, daß ihm dieser »Einschlag« in seiner Frömmigkeit so als zu seinem und aller seiner Konfessionsgenossen »Bewußtsein« gehörig erscheint, daß er es für selbstverständlich ansah, wenn er denn durch »Introspektion«, »Einschau« in sein »Gefühl«, die »Lehren« (Glaubens»sätze«) gewinnen wolle, auf die es für den T h e o l o g e n ankomme, immer mit darauf achten zu müssen. Der Titel seines Hauptwerks wird von da aus verständlich. Er lautet: »Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche«. Schleiermacher wollte in concreto evangelischer Theolog sein. Es ist nun möglich, Ritschis Theologie sehr kurz zu schildern. Ritsehl (1822 bis 1889) stand nicht mehr zur Romantik und war der erste, der sich ihren Nachwirkungen völlig entzog. Auch ihm war die Religion eine Sache »für sich«, ein Etwas im Geistesleben, das spezifischen Eigenboden habe. Das hat er von Schleiermacher übernommen. Aber sie war ihm durchaus nicht »bloß« Sache des »Gefühls«, nur ein

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konstatierbares Sondergefühl. Für Schleiermacher handelt es sich bei ihr ja nicht in dem Sinn um ein psychisches »Datum«, daß sie einfach »Funktion« sei, sie hatte für ihn deutlich transzendentalen Charakter. Das »Psychische« ist an ihr »Gefühl«, dieses ist aber sachlich schlechthin sui generis, die B e s t i m m t h e i t , die es hat, ist ein Urdatum, bezeichenbar, aber nicht ableitbar (weil nicht »leeres« Gefühl für das Universum, sondern, so sagt Schleiermacher, »Gott darin«, der als solcher Geheimnis ist.) Für Ritsehl hat die »Religion« mit Anteil an Denken und Wollen, ist irgendwie g e t r a g e n von jedem geistigen Sinn. Dabei ist zu bemerken, daß Ritsehl kurzweg an das Christentum als »die« r i c h t i g e (wahre) Religion denkt. (Für Schleiermacher ist das Christentum eine, und, sofern es Christus hat, »die« H o c h st form der Religion, nämlich sofern in ihm das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl an sich »unverworren« mit sonstigem Gefühl ist). Die wahre (nicht bloß abgeklärteste) Religion ist das Christentum für Ritsehl insofern, als es auf einer (der allein »vollen«) O f f e n b a r u n g Gottes ruht. Die P e r s o n C h r i s t i ist ihm die »Erscheinung«Gottes in der »Geschichte«. Sie ist nicht nur unerschöpflicher Anreger (Urbild) der Religion, sondern ihr Rechtsgrund, ihreGewähr. In ihm besitzen wir einBild von Gott als »Person«. Gott »ist« schlechtweg transzendent, hat seine Existenz nicht in Verquickung, wenn auch dauernd in V e r b i n d u n g mit der Welt, seiner »Schöpfung«. Er hat ein Weltziel, das in der G e s c h i c h t e sich anbahnt, wenn auch nicht vollendet: dieses Ziel ist für Ritsehl das »Gottesreich«, die Gewinnung der Menschen für Gottes » H e r r s c h a f t « . Christus hat endgültig verständlich gemacht, welcher Art diese Herrschaft sei: sie ist sittlicher Art, Durchdringung der Menschenherzen mit der L i e b e , wie es Gott selbst in Christo als Inhalt seines »Tuns« an und in der Welt kund gemacht hat, so zwar, daß ihm und uns Christus auch der B ü r g e dafür ist, daß sein »Wille« s i e g r e i c h werde. Die Menschen leben »von Natur« im Widerspruch mit seinem Willen, sind von ihm a b g e f a l l e n . So hat er Recht auf Z o r n und G e r i c h t . Aber in Christus »offenbart« er Gnadenwillen, »versöhnt« er sich mit den Menschen, die ihm »glauben«, d. h. ihm so, wie er in Christus sich z e i g t , »vertrauen«. Da mündet Ritschis Theologie in Luthers Glaubensgedanken. Einig ist Ritsehl mit Schleiermacher, daß der einzelne zum Glauben kommt »in« der Kirche, der e v a n g e l i s c h e n Kirche, die er (Ritsehl) nun doch »wirksam« an den H e r z e n der Menschen nur werden läßt durch »Predigt« vom »Evangelium«, d. h. durch immer neue Verkündigung der in der Bibel niedergelegten Botschaft von Christo. Ritsehl hatte vor Schleiermacher vorab ein sehr genaues, reiches Wissen von der Geschichte der christlichen Lehre. Schleiermacher war gelehrter Kenner der Geschichte der Philosophie, nicht der Theologie. Ritsehl konnte viel sicherer als er beurteilen, wie weit die evangelische Kirche im V e r s t ä n d n i s des Evangeliums vorgedrungen sei. Und er hielt die Theologie unverworren mit der Philosophie. Keine Metaphysik, keine Spekulation! Lediglich Ausdeutung, Durchdenkung des Evangeliums! Schleiermacher wollte die »Religion« ganz für sich selbst sprechen lassen: die Gesamtintuition, die er von ihr aus gewann, kam doch ganz von selbst in die Nähe der »idealistischen« Theorien. Sobald man auf seine speziellen Theologumena eingeht, sieht man, wie verwandt er als »Denker« im Grunde Hegel war. Wie ich sagte, traf Ritsehl auf drei »Schulen«, die sich wider- oder nebeneinander noch lange erhalten haben. Sie repräsentierten gemeinsam den Schleier-

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macherianismus, nur doch in sehr verschiedener Ausprägung. Bei Lebzeiten hatte Schleiermacher keinen allzugroßen Erfolg. Der »Rationalismus« blieb in Geltung. Und dann »siegte« Schleiermacher doch, weil der neue Geist, den die großen Dichter (Goethe!!) und die großen Philosophen (Fichte, Hegel, Schelling) geweckt, auch in der Theologenwelt eine neue Stimmung schuf. Die neue pietistische Welle nach den Befreiungskriegen (die »Erweckung«) half da in ihrer Weise (fromme Gefühligkeit) mit. Andererseits begann der Geschichtssinn anzusteigen. Für die Theologie war David Friedrich Strauß (gest. 1874) ein Aufschrecker. Sein Werk »Das Leben Jesu« (die erste ernstliche historische V o l l Untersuchung der Berichte) 1 835/36, meinte zeigen zu können, daß die Evangelien wesentlich Mythen böten. Von da ab datiert die moderne Bibelkritik, die durch Ferd. Christ. Baur (gest. 1859) in die Bahn geleitet wurde, daß das ganze Urchristentum bis zum »Fertigwerden« der »Kirche« (um 200) nach den Quellen untersucht wurde. Ritsehl hatte da zuerst sich einen Namen erworben, indem er nachgewiesen, daß Baurs (von der Hegeischen Geschichtsphilosophie, ihrer Theorie von den immer wiederkehrenden drei »Stufen« inspirierte) Konstruktion unhaltbar sei. Geblieben war als großes »Problem« die Echtheit der kirchlichen (im Kanon festgelegten) Tradition über die »Verfasser« und die »Komposition« der einzelnen Schriften des »Neuen Testaments«. Für das Alte Testament waren solche Fragen schon älter, für das Neue belangr e i c h wurden sie erst durch Strauß und Baur. Die drei Schulen, die sich »nach Schleiermacher« ausbildeten, wurden in Anlehnung an den politischen Parteischematismus der vierziger Jahre bezeichnet als die »liberale, die konserv a t i v e , die V e r m i t t e l u n g s - T h e o l o g i e « . Von den beiden ersten sprach man auch als der »Linken« und der »Rechten«. Oder auch als einer »negativen« und »positiven« Richtung. Die liberale Theologie hat noch in unserem Jahrhundert an Männern, wie O.Pfleiderer (in Berlin gest. 1909) und besonders H. I. Holtzmann (in Straßburg gest. 1910), mit Recht hochangesehene Vertreter gehabt. Als Systematiker hatte sie ihre K o r y p h ä e n an A. E. Biedermann (in Zürich gest. 1885) und Richard Adalbert Lipsius (in Jena gest. 1892). Es geht nicht, alle Namen, die an sich wert wären, genannt zu werden, hier zu notieren (auch im weiteren beschränke ich mich auf eine Auswahl, die nicht als geringschätziges Urteil über die Übergangenen angesehen werden darf). Was bei Schleiermacher (zum Teil Hegel) festhielt, Eingehen auf Ritsehl vielen erschwerte, war der Vorwurf des »Moralismus« wider des Letzteren Deutung und Wertung der Idee des »Gottesreichs«. Es ist doch nur die tiefernste N ü c h t e r n h e i t , mit der Ritsehl da die Gedanken formt, die das spezifisch Religiöse scheinbar zurücktreten läßt. Man übersah die Wucht, mit der er Luthers hohen Gedanken »von der Freiheit eines Christenmenschen», d. h. seiner G e b o r g e n h e i t vor der Welt im Glauben, vertrat (als erster wieder praktisch in den Vordergrund stellte). Man vermißte die M y s t i k , die Schleiermacher freilich praktisch nahelegt. Auch verfing man sich in dem Bedürfnis »spekulativer« philosophischer Neudeutung und Idealisierung des Christentums. Da war Schleiermacher nicht imstande gewesen, seinen Grundstandpunkt konsequent innezuhalten und blieb vollends Hegel eine Lockung. Im einzelnen auch nur bei den genannten »liberalen« Theologen zu zeigen, wie weit sie Schleiermacher (oder aber Hegel: so Biedermann) folgen, führt mich zu weit. — Die K o n s e r v a t i v e n bildeten zweierlei

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Richtungen, eine reinbiblizistisehe und eine kofessionalistische. Beide waren eine Repristination der alten Orthodoxie, die letztere recht eigens s y s t e m a t i s c h auf Grund der Methode Schleiermachers. In Erlangen, wo sie ihre großen Vertreter gehabt (Thomasius, gest. 1875, Hofmann, gest. 1877, Frank, gest. 1894), besteht sie noch. Hofmann stellt eigens als Grundsatz auf: »ich, der Christ, bin mir dem Theologen das nächste Objekt«, wobei er sich aber sofort darauf besinnt, daß er konfessionell l u t h e r i s c h e r Christ sei, also zu beachten habe, was seine Kirche und ihr Glaube (ihr »Bekenntnis«) ihm sagen und geistig zu erleben geben. Thomasius lieferte mit Hilfe des Hegeischen Geschichtsschemas eine Rechtfertigung der »bisher« von der Kirche sanktionierten Dogmen (zumal der altkirchlichen). Im übrigen griffen diese Theologen bei letzter Sichtung und Begründung der Dogmen mit Luther und den Bekenntnissen »seiner« (ihrer) Kirche zur Bibel. Und da ist denn zu sagen, daß Hofmann in bedeutsamer, eindrucksvoller Art aus der Bibel eine (bei Adam einsetzende, bei Christus ihren Höhepunkt gewinnende, »prophetisch« bis zum Weltende vorausangedeutete) »Heilsgeschichte« des »Volkes Gottes« (der Kirche) herleitete. Als Exeget war Hofmann überaus fein. Und einen wirklich großen Erforscher der neutestamentlichen Kanongeschichte gewann die Schule an dem (neunzigjährig) noch lebenden Theodor Zahn. Noch lebt auch ein anerkannter Systematiker: L. Ihmals (Professor zuletzt in Leipzig, jetzt Landesbischof von Sachsen). — Die zweite »konservative« Schule, die b i b l i z i s t i s c h e , kann ich mit der V e r m i t t e l u n g s t h e o l o g i e zusammen charakterisieren. Sie ist immer wesentlich auf den altpreußischen Universitäten vertreten gewesen und hielt zur U n i o n (also nicht im engeren Sinn zur lutherischen oder etwa reformierten »Konfession«). Ihr liegt nur daran, die Bibel zur Geltung zu bringen. In ihren Anfängen den Inspirationsgedanken für jedes »Bibel«wort geltend machend (Hengstenberg, Berlin gest. 1869) war sie in ihrem feinsten, geistig freiesten Vertreter, M. Kähler (in Halle gest. 1912), doch auch in H. Cremer (Greifswald, gest. 1903) — z. Zt. in Ad. Schlatter (Tübingen), W. Lütgert (Berlin), P. Feine (Halle), eingestellt auf das, »was Christum treibet«. Kähler war von da aus zugänglich für Ritschi. Ihm war das Kreuz Christi (wie doch auch den anderen) das eigentliche Geheimnis biblischen Glaubens. Aber er hat dabei eine für jeden, dem die Bibel, »Christus«, die Hauptsache ist, wichtige Beobachtung zu werten gewußt, nämlich, daß wir im N. T . doch lauter »Glaubens «aussagen in bezug auf Christi Person, also einen von den Aposteln »gedeuteten« Meister treffen. Da konnte er sich anlehnen an Schleiermachers Methode, um die lebendigen Eigenerfahrungen in Hinsicht der Bibel »lehre« theologisch geltend zu machen. Kähler lehnt es nicht ab, mit zu den Vermittlungstheologen gerechnet zu werden, wollte nur nicht »parteihaft« sein. Die Männer, die mit Betonung auf »Vermittlung« zwischen »links« und »rechts« bedacht waren, wollten von beiden Seiten das G u t e festhalten, nur der »Übertreibung« (sei es der Bibelkritik, sei es der Introspektion, sei es der Spekulation, sei es der »gesetzlichen Bindung« an bekenntnismäßig fixierte Dogmen) wehren. Das war leichter gesagt als getan. Die eigentlichen Größen der Schule waren um 1880 schon tot: ein C. J. Nitzsch (Bonn, zuletzt Berlin, gest. 1868), Tholuck und Julius Müller (beide in Halle, gest. 1877 bzw. 1878), der gelehrteste, Isaak Aug. Dorner (Berlin), starb 1884. Doch waren Willib. Bey4

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schlag (Halle, gest. 1900) und Bernh. Weiß (Berlin, gest. 1918) sicher gediegene Exegeten. Köstlin (Halle, gest. 1902) war der erste, der Luthers Theologie als Ganzes dargestellt hat. Ob K. Weizsäcker (Tübingen, gest. 1899) sieb z u r Gruppe zählte, weiß ich nicht, seine hervorragenden Forschungen bezüglich der Person Jesu und des Urchristentums sind aber deutlich vorsichtig und lernbereit gegenüber von links und rechts. Als eigentliche Vertreter der Ritschlschen Schule kommen wesentlich Systematiker in Betracht. Sie sind fast alle tot. Ich nenne nach der Reihe ihres Abscheidens: M. Reischle (gest. in Halle 1905), J. Gottschick (gest. in Tübingen 1907), Wilhelm Herrmann (Marburg, gest. 1922), Julius Kaftan (Berlin, gest. 1926), H. H. Wendt (Jena, gest. 1928), Theod. Häring (Tübingen, gest. 1928). Ich selbst bin von der alten Garde wohl der letzte. Ritsehl nahe stand auch sein Kollege in Göttingen Herrn. Schultz, gest. 1903. Von ihnen hatte jeder seine Eigennote. Und es gehörte zu Ritschis innerer Freiheit, keinen »Schüler« je zu behindern, auch Sonderwege zu gehen. Ja, er ließ sich gegebenenfalls von einem beeinflussen, so z. B. besonders durch Herrmann in bezug auf Metaphysik und Religionsphilosophie. Herrmann ging mitschroffer Ablehnung ihm da v o r a n . Kaftan hielt umgekehrt fest an »Fühlung« mit der Philosophie (nicht »idealistischer«, sondern »realistischer« Art): er war ursprünglich von Herbart gewonnen (Herrmann von Kant). Was hauptsächlich alle Ritschlianer einigte, war die Orientierung an Christus, nicht irgendwie am »Christen«, dem der Theolog in ihm vielmehr nur aufzuachten hat, daß er nicht hineinrede, wo Christus (das »verkörperte« Wort Gottes an die Menschen) redet. Der feinsinnigste Ritschlianer war wohl Häring. Die Theologie des Göttingers verfiel nicht nur dem Vorwurf des Moralismus sondern auch des Historismus. In der Tat hat Ritsehl eine Stimmung g e w e c k t , die gegenüber sorgsam und vorurteilslos gewonnenen »Resultaten« der B i b e l forschung allzu v e r t r a u e n s v o l l war: er gründete seine religiöse Wertung Christi auf seine historischen Ergebnisse über ihn, wie wenn es bei ihnen Zweifel nicht mehr geben könne. Das wirkte sich »dogmatisch« f a l s c h beruhigend aus. Es entstanden nur allzubald neue »Zweifel«! Aber zugleich gab Ritschis Geschichtsforschung einen mächtigen Auftrieb für die um 1880 einsetzende große Welle historisch-wissenschaftlichen Interesses in der Theologie. Ohne im speziellen durch Ritsehl (seinen Lehrer) inspiriert zu sein, trat Julius Wellhausen 1878 mit seiner »Geschichte Israels« hervor, die die alttestamentliche Forschung in Aufruhr brachte und jahrzehntelang nun mit ihrer Grundidee, daß das »Gesetz« des »Moses« nicht am Anfang, sondern am Schluß der eigentlichen Werdezeit des Volkes gestanden habe, die Geister beherrschte. Wellhausen starb in Göttingen 1916. Die gesamte alttestamentliche Forschung trat in eine Blütezeit, wie sie sie noch nicht gehabt. Sehr fruchtbar waren B. Stade (Gießen, gest. 1906), R. Smend (Göttingen, gest. 1913), K. Budde (Marburg). Die spätjüdische Geschichte stellte E. Schürer (Göttingen, gest. 1910) mustergültig sorgfältig dar. Vielseitiger noch als Wellhausen wirkte Ad. Harnack mit seinem »Lehrbuch der Dogmengeschichte« (1886, er war damals in Gießen). Es ist eine erstklassige Großleistung, wie er durch sein Eindringen in die Geschichtsquellen und durch Darlegung der Zeiteinflüsse (des hellenischen Denkens) der hegelisch konstruierten, von der »Linken« und der

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»Rechten« (doch auch von dem Vermittelungsmann Dorner) ihrem Geschmack für das, was »Entwicklung« der Theologie sei und bedeute, dienstbar gemachten Dogmengeschichte das Gebilde entgegensetzte, das dem vors Auge trete, der die »Väter des Dogmas« über ihre Gedanken frei anhört. Daß auch Harnack nicht nur Richtiges bot, ist ja selbstverständlich. Hauptsächlich neben ihn traten, vieles ergänzend oder anders deutend, dennoch seinem Werke nirgends zum Verhängnis, Fr. Loofs (in Halle gest. 1928) und Reinh. Seeberg (Berlin), sie beide auch mit Gesamtdarstellungen. Auf die Dogmengeschichte des Protestantismus (bisher vier Bände!) beschränkte sich Otto Ritsehl (in Bonn, Albrecht R.'s Sohn). Wie beim Alten Testament entstand eine unübersehbar gewordene Fülle von Einzeluntersuchungen. Harnack, jetzt fast achtzigjährig, ist da unermüdlich geblieben. Auf die Mitforscher, die er gefunden, kann ich näher nicht eingehen: höchstens daß ich Ad. Jülicher (Marburg) und K. Holl (Berlin gest. 1926) herausheben darf, die beide selbst ersten Ranges sind. Bald ergab sich Zusammenarbeit mit den klassischen Philologen (zumal bei dem weitschichtigen Unternehmen einer kritischen Neuausgabe der altkirchlichen Autoren: Ed. Schwartz, jetzt in München u.a.). Nicht ganz so v ö l l i g neu wie die Dogmengeschichte gestaltet sich die »Kirchengeschichte«. Doch brauche ich nur auf Forscher wie A. Hauck (in Leipzig gest. 1918) und Karl Müller (in Tübingen) hinzuweisen, um es zu belegen, daß auch dieses Gebiet in eine Blütezeit eintrat. (Was ein Th. Brieger, Leipzig, gest. 1915, H. Böhmer, Leipzig, gest. 1927, H. v. Schubert, Heidelberg, G. Krüger, Gießen, Walter Köhler, Zürich, jetzt Heidelberg, beigetragen haben und beitragen, ist mir mit vor Augen). Bald nach 1890 kam es zu einem neuen Einschnitt (ich sage nicht: Abschnitt) in der Theologie durch die Erkenntnis, daß das Christentum sich dem doch nicht entziehen dürfe, mit den anderen geschichtlichen Religionen v e r g l i c h e n zu werden. Es sind zwei F l ü g e l , die sich da bildeten. 1. Der eine ist der der allgemeinen Religionsgeschichte. Hier sind Nichttheologen vorangegangen. Vor allen anderen ist zu nennen Wilh. Wundt (Leipzig, gest. 1920). In der Theologie erster Bodenlockerer war P. A. deLagarde(in Göttingen, gest. 1891), er doch mehr nur, sofern er das Problem abstrakt sah; der Niederländer Chantepie de la Saussay (Professor in Amsterdam) und der Schwede N. Söderblom (Prof. in Leipzig, jetzt Erzbischof von Uppsala) übertrugen das Interesse in unsere Theologie. (Ich denke an A. Bertholet, Berlin, C. Giemen, Bonn, H. Haas und A. Jeremias, Leipzig). Die bloße »Kenntnis« der anderen Religionen kann nicht das Hauptstück für sie bleiben. Vielmehr ergibt sich naturgemäß einerseits dabei die Frage nach dem allgemeinen Wesen der Religion, eine Frage, die zur ReligionsPsychologie führt, andererseits die nach dem W e r t e der v e r s c h i e d e n e n Religionen, die letztlich für den Theologen die Frage nach der Stellung wird, die das Christentum unter den Religionen habe, ob es den Höchstwert besitze und Wahrheitscharakter (allein oder nach welchem Stufenmaße ?) für sich beanspruchen müsse. Da kommts zur R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e . Die Religionspsychologie, die Wundt ins Auge faßte, ist weiter fortgeschritten als die letztere. K. Girgensohn (in Leipzig, gest. 1925), K. Beth (in Wien), G. Wobbermin (in Göttingen) haben da Verdienste. (Auf die sich später entwickelnde »Religionsphilosophie« komme ich noch). 2. Sicherer geworden ist der Ertrag eines Spezialzweigs der Religionsvergleichung, der der 4*

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Hineinstellung der Bibel, der Geschichte und Religion des Alten Testaments, nicht minder des Neuen Testaments in ihre U m w e l t ! Hier begegnen wir der »religionsg e s c h i c h t l i c h e n Schule« im engeren Sinne. Zugleich nahen wir uns mit ihr der Gegenwart; denn sie blüht unzweifelhaft noch. Für das Alte Testament ist die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstandene, dann vollends seither ausgebaute Assyriologie (aber auch die neuere Ä g y p t o l o g i e ) sehr einflußreich geworden. Wellhausens so überzeugend gewesene Idee vom »Gesetze« Israels ging von Vorstellungen über das »Ur-Israel« aus, die sich nur halten ließen, solange man nicht wußte, wie hoch entwickelt besonders das Ethos der Babylonier und Assyrer war (»Gesetz des Hamurapi«!). Eine Gesamtgeschichte Israels, die die überaus reichhaltigen Ergebnisse der Ausgrabungen verwertete, bot Rud. Kittel (in Leipzig, gest. 1929). Auf dem Boden Palästinas ist auch durch Ausgrabungen vieles zu Tage getreten, was »alten« Vorstellungen wieder ein Recht gab. Überhaupt durch die Religions- und Literaturvergleichung gewann die ganze Behandlung des Alten Testaments eine Fülle von Anregungen, »neuen« Fragen. Nach Seiten der Form brachte H. Gunkel (Halle) eine Fülle neuer Ideen, indem er begann, die vielerlei E r z ä h l u n g s a r t e n zu sichten: Märchen, Mythen, Legenden, Sagen, Berichte etc., aber auch die poetischen Stilformen: (geistliche, weltliche) Dichtung, Psalmen, Heldenlieder etc., was dann natürlich wieder »historische Fragen« nach den Festen, den Dichtern, Kultberufen u. a. weckte. Aber zumal auch hinsichtlich der r e l i giösen Ideen des Alten Testaments ergab die Vergleichung mit denen der Umwelt eine Menge neuer, wenn noch nicht Erkenntnisse, so mindestens Probleme (z. B. in bezug auf die Messiashoffnungen, Engelvorstellungen). Gunkels bedeutendster Schüler war wohl H. Gressmann (Berlin, gest. 1927). — In Hinsicht des Neuen Testaments ergaben sich mutatis mutandis ganz analoge, zuvor nicht geahnte Probleme. Vorab stand da, daß Ritschis Zeichnung des Christusbildes schon seit W. Wrede (Breslau, gest. 1906) insofern beanstandet war, als siedemeschatologischen Momente der messianischen Idee in der Tat kaum aufgeachtet hatte. Alb. Schweitzer (Straßburg, der jetzige Missionsarzt) hat vollends immer neu die Bedeutung dieses Moments unterstrichen. Konnte bei Ritsehl für oberflächliches Einfühlen in seine Idee vom Gottesreich der Eindruck entstehen, als ob für Christus die sittliche Erneuerung der G e s c h i c h t s z u s t ä n d e eine Art Z i e l gewesen, so schlug der Pendel der Betrachtung jetzt dahin um, daß man Christi »Ethos« kaum noch würdigte, alles so auf den Gedanken der nahen Endkatastrophe zuspitzte, daß man ihm zutraute, nur ad interim noch »Weisungen« gegeben zu haben. Die Vergleichung der Ideen dann des Paulus mit der hellenistischen (ihrerseits vom P a r s i s m u s u. a. beeinflußten) Umwelt ergab je länger je mehr ein Bild vom »Neuen Testament«, das fast Schrecken erregen könnte. Die »religionsgeschichtliche Schule« hatte ja natürlich auch wieder Extreme. Die Theologen wurden fast überall zu bereit, sich von den altklassischen Philologen (einem Usener, Bonn, gest. 1905, Albr. Dieterich, Heidelberg, gest. 1908, R. Reitzenstein, Göttingen) führen zu lassen. Kann man Forscher, wie G. Heinrici (Leipzig, gest. 1915), A. Deissmann (Berlin), E. v. Dobschütz (Halle), J. Leipoldt (Leipzig), selbst Joh. Weiß (Heidelberg, gest. i9i4)undW. Heitmüller (zuletzt Tübingen, gest 1927), noch vorsichtig nennen, so vermißt man bei dem trotz allem vielverdienten

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W. Bousset (zuletzt in Gießen, gest. 1920) die Vorsicht leider sehr. Es ist eine an Talenten reiche Altersklasse, die die religionsvergleichende Theologie ausbildete. (Ich nenne noch H. Weinel, Jena, K. Wernle, Basel, und H. Windisch, jetzt Kiel). Selbst so »Philologe« wie Theologe (Exeget, Kirchenhistoriker wie A. Jülicher) steht heute H. Lietzmann (Berlin) wohl voran. Zu erwähnen ist noch der große Fortschritt, den die Lexikographie der neutestamentlichen »Gräcität« machte. (Cremer-) Kögel, Kiel, gest. 1928, (Preuschen-) Bauer, Göttingen. Sodann zumal aber auch der Gewinn, den die Erforschung der spätjüdischen Literatur mit ihren Parallelen zu Jesu und der Apostel Lehre ergeben hat. Ganz besonders zu nennen sind da H. Strack (Berlin, gest. 1922: Strack-Billerbeck , Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 4 Bde., 1922—28), A. Schlatter (s. schon oben), G. Dalman (Greifswald), aber auch K. Bornhäuser (Marburg), P. Fiebig (Leipzig) und Gerh. Kittel (Tübingen). Die systematische Theologie (Dogmatik) hat in den Jahrzehnten 1890 bis 1900 nicht viel andere Vertreter gehabt als die alternden, schließlich »alten« eigentlichen Ritschlianer, die ich nannte. Die Religionsgeschichte, gar -vergleichung, bot anscheinend so überwältigend viele neue »Probleme, ungeahnte Lichter, daß die »Jugend« einfach glaubte, sich daran genügen lassen zu sollen. Immerhin haben E. Troeltsch (zuletzt in Berlin, gest. 1923), Rud. Otto (Marburg), G. Wobbermin doch sorgfältige Vergleichungen, zumal der geschichtlichen Hochformen der Religionen (Otto, der kundigste, speziell derjenigen Indiens) unter dem Gesichtspunkt angestellt, daß sie die Frage nach überragender Bedeutung, prinzipiell nach der A b s o l u t h e i t (»Eigenquell«, »Offenbarungs«charakter) des C h r i s t e n tums ins Auge fassen. Es ist nicht überraschend, daß besonders Troeltsch (auch Wobbermin, er doch »überlegsamer«) auf Schleiermacher, speziell auch seine Methode zurückgreifen zu sollen gemeint. Otto ist an »Eigen«wissen und Eigeneinsicht der überragende. Troeltschs zweifellos hohe Begabung, erstaunliche Arbeitskraft, Erschlossenheit für das »Leben« (das kirchliche, politische, kulturelle) waren nicht begleitet von eigentlicher O r i g i n a l i t ä t des Denkens. Als theologischer und philosophischer H i s t o r i k e r hat er Stoffmengen wie wenige bewältigt (mannigfach freilich auch vergewaltigt, besonders Luther). Er war ein berühmter Mann, das nicht zu Unrecht. Nicht übergehen darf ich die »praktische« Theologie. Es liegt in der Natur der Sache, daß sie zum Teil technisches Gepräge hat. Sie lehrt die »Kunst« des Predigens, Katechisierens etc. Und muß dabei doch mitten in der geistigen Bewegung der Theologie (nicht nur in ihr, auch in den Strömungen des Volkslebens, jeweils der Zeit) stehen. Als Wissenschaft begründet ist sie nächst Schleiermacher von Carl I. Nitzsch. Ein gelehrter Vertreter war G. v. Zezschwitz (in Erlangen, gest. 1886), hernach besonders P. Drews (zuletzt in Halle, gest. 1912). Ich nenne des weiteren noch als literarisch vor andern wirksam E. Achelis (Marburg, gest. 1912), O. Baumgarten (Kiel), Er. Foerster (Frankfurt), Joh. Meyer (Göttingen), F. Niebergall (Marburg), M. Schian (Breslau), von der jüngeren Generation L. Cordier (Gießen), K. Fezer (Heidelberg). — Ein Spezialzweig der praktischen Theologie, die Missionskunde, hat durch G. Warneck (Halle, gest. 1910) wissenschaftliche Form gewonnen. Ich nenne auch Jul. Richter (Berlin). — Zu gedenken

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ist auch der Entwicklung der christlichen Archäologie, die sich ausgeweitet hat überhaupt zu christlicher Kunstgeschichte (Geschichte der Bauten, der Bilder, der Lieder, der Musik, der liturgischen Form, etc. der Kirche): Viktor Schultze, Greifswald (der Veteran), Joh. Ficker, Halle, Jul. Smend, Münster; Hans Achelis, Leipzig, Gg. Stuhlfauth, Berlin, Wolfg.Beyer, Greifswald, (des gelehrten Nik. Müller, Berlin, gest. 1913, und des feinsinnigen F. Spitta, gest. 1922 in Göttingen, wie Ficker und Smend vorher in Straßburg, nicht zu vergessen). Der liturgischen Form widmet sich fast eine Sonder »schule« (R. Otto, G. Frick; anders Fr. Heiler: alle drei in Marburg). Der Weltkrieg, Deutschlands Niederlage, die Revolution, der Sozialismus, die Scheidung von Staat und Kirche, die Senkung der öffentlichen Moral, propagandistische Irreligiosität, Umschichtung der Gefühlswelt, besonders der Jugend, man sollte denken, die evangelische Theologie sei davon tief mitberührt. In Wirklichkeit ist ihre Arbeit in den meisten Zweigen immer ruhig weitergegangen. Die Schulen begegneten sich leidlich in Frieden. Das mag damit zusammengehangen haben, daß innerhalb der Kirche eine Milderung der Parteigegensätze eingetreten war. Neue praktische Interessen haben sich eingestellt. Ich denke an die sogenannte ökumenische Bewegung, das Streben nach innerer, wenn möglich dogmatischer Annäherung, die Schaffung eines »Weltbundes für Freundschaftsarbeit« der Kirchen. Die wissenschaftliche (literarische) Produktivität ist stark (wie mir scheint, zum Teil etwas eilfertig). Man kann den Eindruck haben, daß die neutestamentliche Forschung einer Krise entgegengehe: sollten es richtige Dauerergebnisse sein, die aus der Vergleichung der religiösen Umwelt für das Urchristentum gewonnen worden, so gilt das vollends. (Ihre bedeutendsten jüngeren Führer, R. Bultmann, Marburg, M. Dibelius, Heidelberg, K. L. Schmidt, Bonn, haben offenbar eine Empfindung dafür und suchen das Korrektiv in anderer Sphäre). Man spricht wohl mit Recht von w i e d e r e r w a c h t e m Interesse für die Systematik. Der Historismus der Zeit von 1890 bis 1920 hat ermüdet. Die Frage des W o z u denn all dieses Fragen nach mal »Gewesenem« konnte nicht ausbleiben. Die »dogmengeschichtliche« (altkirchliche) Forschung ist so spezialisiert, daß kaum jemand noch vollen Überblick, volles Interesse haben kann. In der Systematik ist Ritsehl scheinbar vollends zurückgetreten, aber vieles, das Wertvollste an ihm, ist wie von selbst mit eingegangen in das Denken: so möge man über die »Methode« streiten. Berechtigt ist das erneute Achten auf die Philosophie. Man sucht sich dabei auch klar zu machen, wo die G r e n z e n theologischen und philosophischen Denkens liegen, letzteres ersterem keinen Dienst mehr tuen könne. K. Heim (Tübingen) hat den großen Vorzug, auch dem eigentlichen Weltbilde der Gegenwart (bis hin zu den Gedanken des Mathematikers Einstein) aufgeachtet zu haben und dadurch zu sehr konkreten Problemen gekommen zu sein. Ein besonders allseitig in den einzelnen Naturwissenschaften kundiger Religionsphilosoph ist Artur Titius (Berlin). In seiner Art steht er einzig da. Hervorzuheben ist auch, was W. Koepp (Greifswald) und Rob. Jelke (Heidelberg) geleistet haben. K. Bornhausen (Breslau) ist bei allseitigem Blick auf die Religionsgeschichte im Grunde »Schleiermacherianer« (mit höherem Verständnis für Christus). Natürlich fehlt es auch nicht an solchen, die die Theologie in Philosophie »umsetzen«, wie weiland D. Fr. Strauß (P. Tillich,

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Frankfurt a. M., er doch unfraglich dabei geleitet von religiösem Interesse). Zusammenfassende d o g m a t i s c h e Werke boten in den letzten Jahren Reinh. Seeberg (Berlin, er ist der überragende), H. Stephan (Leipzig), M. Rade (Marburg), beide von Ritsehl und Schleiermacher ausgehend, sehr umsichtig den Problemen nahend; K. Stange (Göttingen) hat begonnen, eine vielseitige, so historisch wie systematisch (auch philosophisch) vorgedrungene Forschung mit einem solchen zu krönen. An »Grundrissen« (für Vorlesungen) ist kein Mangel: O. Kirn, (Leipzig, gest. 1910), M. Schulze (Königsberg), K. Girgensohn u. a. Wichtige Einzelprobleme griffen auf P. Althaus (Erlangen), H. E. Weber (Bonn), G. Wehrung, (Halle), G. Mulert (Kiel), Th. Siegfried (Marburg), Fr. Traub (Tübingen). Es ist ein zweifelloses Verdienst, daß G. Wünsch (Marburg) das »Wirtschaftsproblem« mit e i n g e h e n d e m Werke vorgenommen hat (Da liegt eine der u n u m g ä n g l i c h sten Fragen der Jetztzeit! Unbegreiflich, daß sie noch so wenig als »brennend« empfunden wird!). Zur Signatur fast aller Dogmatiker gehört die Ablösung vom älteren »Schulschematismus*, bei ehrlichem Willen, alles »gute«Alte mitzubenutzen. So kann man kaum von »Typen« sprechen. Im Hintergrunde sieht der Kundige doch letztlich mehr Schleiermacher oder Ritsehl leuchten (beide auf ihre »Enkel« durch »Schüler«, das heißt unter allerhand Abwandlungen ihrer Ideen, wirksam). Methodisch von Schleiermacher wie Ritsehl, deren Denken er »anthropozentrisch« findet, dem Willen nach radikal abrückend, hat H. Schäder (Breslau) schon vor dem Krieg, aber neuerdings eigens darauf zurückkehrend eine neue (wie er es nennt: »theozentrische«) Orientierung gesucht. Das soll mich auf das Letzte hier führen. Ich denke an die sogenannte dialektische Theologie oder die »Theologie der Krisis«. Es ist wohl möglich, daß sie die Zukunftstheologie wird. Ihr Hauptführer (Begründer) ist Karl Barth (ein Schweizer, jetzt in Bonn). Neben ihn getreten, literarisch fast tätiger noch als er sind E. Brunner (Zürich), Fr. Gogarten (Jena), O. Piper (Münster) — um nur akademische Namen zu nennen. Die theologische Jugend ist zum Teil hingerissen. Ich erkenne Folgendes als charakteristisch, in bestimmtem Maße neu: 1. Die Wiederbetonung des »Wortes Gottes«. Die Bibelforschung ist so einseitig den Weg »historischer« Untersuchung gegangen, daß eines Tages die Frage kommen mußte, was die T h e o l o g i e von solcher »Gelehrsamkeit« habe. Die Resultate der »vergleichenden« Exegese — wenn gültig — degradieren vieles in beiden Testamenten: die paulinische Christologie wird schier Mythologie. Es scheint mir kein Zufall, daß Barth gerade mit einem Kommentar (zum Römerbrief) eingesetzt hat: mit dem Willen, »Gottes« Wort an uns, den Ewigkeitswert dessen, was Paulus in dem Brief verkündete, zu G e h ö r zu bringen. Er verlangt »pneumatische« Exegese. In der Tat, die Theologie ist nicht für sich selbst da, sondern für die Kirche. Das hatten unsere Exegeten vergessen. Barth denkt daran, und das ist ein gellender Mahnruf. Wie weit er mit seiner Exegese im einzelnen das Richtige trifft, ist eine Frage für sich. Die Exegese darf freilich auf nichts verzichten, was die »Wissenschaft« fordert. Wird sie damit enden, uns die Bibel als überwunden zu zeigen ? Was dann ? Oder ist eben das ihr Fehler, daß sie über dem »Buchstaben« den »Geist« vergessen hat?! 2. Barth hört als G r u n d Verkündigung des Geistes, daß die Welt im Argen liegt! Wahrlich auch

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ein gellendes Mahnwort an die Menschheit der Gegenwart! Alles Menschenleben ist in steter »Krise«, steht auf der Schneide des Verderbens. Die alte Kunde von »Adams« Sündenfall und der Erbsünde in j e d e m soll wieder h e r v o r t r e t e n , dazu die von Gottes Gerichtsspruch über alles, soweit nicht in dem »Kreuze Christi« das »Wort von der Versöhnung« erschallt. Jeder sei unerbittlich vor ein Entweder — oder gestellt, vor die Frage der Beugung unter das Gericht und die »Gnade des K r e u z e s « oder Verlorenheit. Die »alten« Biblizisten (ein Kahler, Cremer etc.) haben das auch verkündet. Und es ist Luther wie Calvin, deren Weisheit Barth da vertritt. Möchte es ihm gegeben sein, die Gewissen und den G l a u b e n aufzurütteln, ohne daß verwüstendes P h r a s e n t u m entstünde! 3. Barth richtet im »Sein« (nicht nur im »Willen«) eine undurchdringliche Schranke zwischen Gott und »uns« auf. Der Mensch »ist« ein Nichts. Die Schöpfung begründet lauter Abstand: »finitum non capax est infiniti«. Das führt zu dialektischen Spekulationen, da auf Schritt und Tritt Paradoxien sich auftun. Ein Schleiermacher mit seiner Berufung auf sein (»des« Menschen) Gottes»gefühl« verfallt fast dem Spott. Und gar die Mystik als Form der Frömmigkeit. »Glaube« als »Hohlraum« zur Aufnahme des »Worts« ist alles, worauf es ankommt, was »mögliches« Verhältnis zu Gott darstellt. Hier trifft man auf Barths C a l v i n i s m u s . Wer von L u t h e r herkommt, hat Blick für Christus als auch eine B r ü c k e für »Diesseits« und »Jenseits«, als v e r s t e h b a r e n Erwecker des Glaubens (seelisch begreiflichen V e r t r a u e n s zu Gott). Luther kennt auch einen verborgenen Gott. Doch anders als Calvin und Barth. Er nimmt auch im »Verkünder des Worts«, dem Pfarrer, den Menschen, die »Person« normalerweise als »Zeugen« in Anspruch. Doch da steigt ein nie so ernst als nötig erfaßtes R ä t s e l auf; Calvin soll nicht einfach verscheucht werden! 4. Auf das Wirken des Christen in der Welt kommt nicht viel an: »alle« Lebenshaltung steht unter dem Fluch. Mehr als »Reue und Buße* verlangt Gott auch vom Gläubigen nicht. Die »Kultur« gehört und v e r f ä l l t »dieserWelt«. Eine»Entwicklung«,eine »Vorbereitung« des Gottesreichs gibt es nicht. Gott setzt der Geschichte ihr Ende, »wann er will«. Der Christ lebt in der Welt, die Natur »gebrauchend«, ohne eigenwillige Askese, in stiller, letztlich in der Sache gleichgültiger »Mitarbeit« auch an der Kultur, wo immer ihm Gott den »Platz« gewiesen. Er »hofft« nur nichts von ihr. Daß falscher Kulturoptimismus auch in der »Kirche« sich breit macht, wer wird es leugnen? Ritschis Betonung des »Sittlichen« ist nicht frei von solchem Optimismus, aber Barths Stimmung kann zu bequemem Ruhekissen für den Pfarrer »unter der Kanzel« werden. Er wird sehr darauf zu achten haben, daß die »Jugend« ihn nicht mißversteht. 5. Der Idealbegriff der Kirche als der Stätte, da Gott als Geist »regiert«, gibt Barth und seinen Freunden viel Vertrauen zum »Dogma« der »Kirche«. Man vermißt da zum Teil dogmengeschichtliche Sachkenntnis. Ob es gelingen wird, den starken Isoliertrieb der »Fächer« in rechterWeise zu überwinden, muß sich zeigen. Die Generation 1890 bis 1920 war innerlich allzu i n d i v i d u a l i s t i s c h (das war ja die Signatur überhaupt unseres Gemeinlebens!). Vielleicht war Barths exegetische Attacke der Auftakt zu neuem theologischwissenschaftlichen Sinn. In der Systematik hat W. Hermann (der einflußreichste Ritschlianer!) allzusehr deren Unabhängigkeit (ja Gleichgültigkeit) gegenüber den »Resultaten« insonderheit der Exegese vertreten: mit dadurch hat letztere sich

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»freien Gewissens« gefühlt, gar nicht erst zu fragen, was sie im Organismus der Theologie bedeute. Aber die Einzeldisziplinen der Theologie haben nicht lediglich »wissenschaftliche«, sondern alle gleich sehr praktische, spezifische G l a u b e n s probleme vor sich. Nicht die Kultur, die K i r c h e als communio »fidelium« hat die Theologie geschaffen, trägt sie! Eine H o f f n u n g bedeutet es, daß die Gegenwart ernsteres, gründlicheres Lutherstudium sich verbreiten sieht, als je eine frühere Zeit es zeigt. Die Weimarer Ausgabe der Werke Luthers, die 1883 begann und bis hierher 75 dicke Quartbände »kritisch« bearbeitet bringen konnte (das Ende ist noch nicht nahe!), hat im letzten Jahrzehnt besonders anregend gewirkt. Voran stehen unter den Lutherforschern K. Holl (Berlin, gest. 1926), Joh. Ficker und O. Albrecht (beide in Halle), O. Scheel (Kiel). Sehr wertvolle Studien boten ferner (der 1907 verstorbene J. Gottschick), P. Althaus, Werner Eiert (beide in Erlangen), Emanuel Hirsch, Joh. Meyer, K. Stange (alle drei in Göttingen), Erich Seeberg (Berlin), K. Thieme (Leipzig). Es ist noch eine besondere Freude, daß auch die Jugend sich überall regt und Luther studiert.

ALBERT EHRHARD KATHOLISCHE THEOLOGIE I In der Geschichte der katholischen Theologie Deutschlands bilden die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts einen weithin sichtbaren Einschnitt. Nach einer Unterbrechung von mehr als drei Jahrhunderten sah das Jahr 1870 wieder ein allgemeines Konzil des katholischen Gesamtepiskopates tagen, zum erstenmal in Rom selbst, wo es in St. Peter am 8. Dezember 1869 eröffnet wurde, aber schon am 20. Oktober 1870 infolge des Ausbruches des Deutschfranzösischen Krieges und der Einnahme Roms durch die Piemontesen auf unbestimmte Zeit vertagt werden mußte. Der Widerspruch gegen die in der 4. Sitzung am 18. Juli erfolgte Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes, wenn er »ex cathedra« spricht, d. h. wenn er als oberster Lehrer der katholischen Christenheit eine Glaubens- oder Sittenlehre als von Gott geoffenbart erklärt und die ganze Kirche zu ihrer gläubigen Annahme verpflichtet, führte zur Entstehung des A l t k a t h o l i z i s m u s , der auch die katholische Theologie durch den Verlust einer Reihe von angesehenen Vertretern in Mitleidenschaft zog. Der hervorragendste unter ihnen war J. J . I. von Döllinger, der seit 1827 Professor der Kirchengeschichte und des Kirchenrechts an der Universität München war und sich über Deutschlands Grenzen hinaus eines hohen Rufes erfreute. An seine Seite traten in München selbst sein enger Gesinnungsgenosse und späterer Biograph Joh. Friedrich (f 1917), in Bonn die Professoren B. H. J. Hilgers (f 1874), Fr. H. Reusch (f 1900), Jos. Langen (f i90i)nebst P. Knoodt (f 1889), in Breslau die Professoren J. B. Baltzer (f 1871), J. H. Reinkens (f 1896 als erster altkatholischer Bischof) und Theod. Weber (f 1906 als Nachfolger von Reinkens), endlich Professor Fr. Michelis in Braunsberg (f 1886). Im Unterschied zu seinen Anhängern nahm aber Döllinger keinen Anteil an der Gründung der altkatholischen Kirche (1872) und ließ sich auch nicht zu einer unfruchtbaren Polemik gegen die katholische Kirche hinreißen. Er setzte seine Gelehrtenarbeit noch zwei Jahrzehnte fort, bis ihn ein später Tod (geb. 1799, t 1890) aus dieser Zeitlichkeit abrief. Die katholische Theologie Deutschlands verlor in ihm einen ihrer fruchtbarsten Schriftsteller und erfolgreichsten Forscher. Das Verdienst, das er sich um ihr Ansehen und ihre Fortschritte erworben hatte, namentlich durch sein dreibändiges Werk über die Reformation, ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen (1846—48), seine ausgezeichneten Untersuchungen über Hippolytus und Kallistus (1853), über Heidentum und Christentum (1857), Christentum und Kirche in der Zeit der Grundlegung (1860), bevor er den Schritt tat, der sein Leben in zwei ungleiche Hälften zerriß, bleiben ihm unvergessen. Zu diesem ersten ungünstigen Umstand trat bald ein zweiter hinzu in Gestalt des preußischen K u l t u r k a m p f e s , der mit dem sogenannten Kanzelparagraphen 1871 anfing, mit den Maigesetzen der Jahre 1873—75 seinen Fortgang nahm und bis zum Jahre 1887 fortdauerte. Die unheilvolle Auswirkung des schweren Konfliktes zwischen Staat und Kirche beschränkte sich nicht auf das religiös-kirchliche Leben der preußischen Katholiken. Sie dehnte sich auch auf die theologische Wissenschaft

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aus durch die Zerrüttung ihrer Lehranstalten, die Entvölkerung ihrer Hörsäle, die Minderung der Schaffenskraft ihrer Vertreter und dergleichen mehr. Am schlimmsten stand es mit der Bonner theologischen Fakultät, deren katholischer Lehrkörper bald nur noch aus drei Professoren bestand: H. J. Floss (t 1881), H. Th. Simar (der 1891 Bischof von Paderborn, 1899 Erzbischof von Köln wurde, f 1902) und Fr. Kaulen (t 1907). Der Schwerpunkt des theologischen Unterrichtes wie der theologischen Forschungsarbeit lag daher in den siebziger und achtziger Jahren in Süddeutschland. Die theologischen Fakultäten von Würzburg, München, Tübingen und Freiburg sowie die bayerischen Lyzeen, insbesondere das bischöfliche Lyzeum von Eichstätt, sahen Semester für Semester ihre Hörsäle mit zahlreichen Theologiestudierenden aus den preußischen Diözesen sich füllen. Unter den Fakultäten ragten die W ü r z b u r g e r und die T ü b i n g e r besonders hervor. An der ersteren wirkten die Professoren J. Hergenröther (Kirchengeschichte und Kirchenrecht, bis zu seiner Erhebung zum Kardinal 1879, t 1890), H. Denzinger (Dogmatik, seit 1854, t 1883). Fr. Hettinger (Apologetik und Dogmatik, f 1890), Jos. Grimm (N.T., f 1896), A. Scholz (A.T., f 1908), J. Nirschl (Kirchengeschichte, seit 1892 Domdekan, f 1904), H. Kihn (Kirchenrecht und Patrologie, t 19 1 2), Fr. A. Göpfert (Moraltheologie, t 1913). von denen jeder eine charakteristische Gelehrtennatur war. Die größte Anziehungskraft übte Hettinger aus vermöge seiner besonderen Lehrgabe, seines ausgezeichneten Vortrages und seiner nie versagenden Hingabe an seine Schüler, die in seinen Briefen an einen jungen Theologen (1890) einen beredten Ausdruck fand. Seine »Apologie des Christentums« hatte schon in den Jahren 1863—67 seinen Namen über die Grenzen Deutschlands hinausgetragen; sie war eine stilistisch glänzende Leistung und blieb sein Hauptwerk. Als er im Jahre 1884 von der Apologetik- zur Dogmatik-Professur überging, wurde ein junger Doktor der Theologie sein Nachfolger, dessen Name später (von 1897 an) zum Zeichen des Widerspruches werden sollte, Herman Schell (geb. 1850), eine spekulative Kraft ersten Ranges. Seine Vorlesungen über Apologetik und Religionsgeschichte imponierten seinen damaligen Hörern gewaltig durch die Originalität und Tiefe der Gedanken und durch das mächtige Pathos, mit dem er sie in einer manchem Anfanger schwer verständlichen Sprache vortrug. In dieser ersten stillen Periode seiner Lehrtätigkeit schuf er seine bedeutsamsten Werke (Das Wirken des dreieinigen Gottes (1885); Katholische Dogmatik, 3 Bände 1889/93; Gott und Geist, 2 Bände 1895). Von größerer innerer Geschlossenheit als die Würzburger Fakultät war die von T ü b i n g e n , deren Lehrkörper in der Kulturkampfzeit aus folgenden Professoren bestand: M. Aberle (Exegese und Moraltheologie seit 1850, t I 875); Joh. Kuhn (Dogm. von 1839—1882, f 1887); E. Himpel (A.T., f 1890); Fr.Q. Kober (Kirchenrecht t 1897); F. X. Linsenmann (Moraltheologie, 1889 Domkapitular, f 1898 als präkonisierter Bischof von Rottenburg); P. Schanz (N. T., von 1883 an Dogm. u. Apol., f 1905); F. X. Funk (KG. u. Patrol., f 1907); P . W . Keppler (1883 N. T., von 1889 an Moraltheol., 1894 Prof. in Freiburg in Br., f als Bischof v. Rottenburg 1926). Diese schwäbischen Theologen, von denen fast jeder eine anerkannte Größe in seinem Fach war, gaben ein seltenes Beispiel intensivster Kollegialität durch ihre täglichen Zusammenkünfte abends von 8—10 Uhr in einem bescheidenen Lokal

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Alt-Tübingens »Zur Farbe«. Sie kamen mir vor wie eine schola Antiochena rediviva, als ich in den Jahren 1885—87 von Würzburg kommend von Ende Juli bis zum 15. August den Vorzug hatte, ihre Vorlesungen zu hören und mit noch größerer Freude ihren anregenden Unterhaltungen in der »Farbe« zu lauschen. Mochten aber die behandelten Fragen noch so brennend, die Diskussionen darüber noch so lebhaft sein, beim Schlag 10 Uhr von der nahen Stiftskirche erhoben sie sich wie ein Mann und gingen zur Ruhe, um am nächsten Abend nach getaner Arbeit den Diskussionsfaden weiterzuspinnen. Ehre ihrem Andenken! In M ü n c h e n blieb Döllinger Mitglied der theologischen Fakultät, stellte aber von 1873 an seine Vorlesungen ein, die von dem Kirchenrechtslehrer Js. Silbernagl (f 1904) suppliert wurden, bis i. J. 1886 A. Knöpfler (f 1917) sein Nachfolger wurde. In demselben Jahr wurde O. Bardenhewer als Nachfolger von P. Schegg (f 1885) für das N. T . nach München berufen. Neben AI. Schmid, der seit 1866 Dogmatik und Apologetik vortrug, zogen sie die Studenten am meisten an. An der F r e i b u r g e r Fakultät wirkte der berühmte Volksschriftsteller Alban Stolz, der i. J. 1847 als Professor der Pastoraltheologie und Pädagogik ernannt worden war, noch bis zum Jahr 1883, während der Professor der Kirchengeschichte J. B. Alzog, der 1853 von Hildesheim in die Alemannenstadt gekommen war, i. J. 1878 starb. Als sein Nachfolger wurde F. X. Kraus aus Straßburg berufen, wo er seit 1872 a. o. Professor der Kunstgeschichte war. Er war ein reich und vielseitig begabter, weltgewandter Mann und bezaubernder Gesellschafter, ein feiner Stilist und Essayist, ein gewiegter Kunstkenner, der sich bald eines internationalen Rufes erfreuen sollte, wie kein anderer katholischer Theolog jener Zeit. Er huldigte kirchenpolitischen Ansichten, die er später auf die Formel brachte: hie religiöser — hie politischer Katholizismus, und am deutlichsten in den (anonymen) Spektatorbriefen der Münchener Allgemeinen Zeitung von 1895—99 aussprach. In seinen Vorlesungen, die seine Hörer oft zu heller Begeisterung hinrissen, ließ er sie aber diskret zurücktreten. Der preußische Kulturkampf überschritt seinen Höhepunkt am Anfang der achtziger Jahre dank den Bemühungen Leos XIII., der schon am Tage seiner Wahl zum Papst (20. Febr. 1878) an den Kaiser Wilhelm I. mit der Bitte herangetreten war, den kirchlichen Frieden wiederherzustellen. Er erreichte sein Ziel erst i. J. 1887. Noch vor diesem Zeitpunkt hatten sich die Verhältnisse an den theologischen Fakultäten in Preußen gebessert. Als der katholische Lehrkörper der Bonner Fakultät nach dem Tode des Professors Floss nur noch aus zwei Personen bestand, Simar und Kaulen, bekam er einen Zuwachs durch die Ernennung der Professoren K. A. Heinrich Kellner (1882, t 1915), B. Fechtrup (1886, f 1898), H. Schrörs (1886, t 1928) und Kirschkamp (1887, f 1913). Leo XIII. war aber nicht nur ein geschickter und erfolgreicher Diplomat. Er griff auch in das Gebiet der theologischen Wissenschaft ein durch Maßnahmen, die noch in die Kulturkampfzeit fallen und sich später in Deutschland auswirkten. Seine berühmte Enzyklika über den hl. Thomas v. Aquin (1879) förderte in Philosophie und Dogmatik die neuscholastische Richtung, deren älteste Vertreter Fr. Jak. Clemens (t 1862) und die Jesuiten Kleutgen (t 1883) und Konst. v. Schäzler (t 1880) waren, als Gegner der bereits genannten Professoren Kuhn, Baltzer und Knoodt. Durch die Öffnung des Vatikanischen Archivs 1881 erschloß er der

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kirchengeschichtlichen Forschung neue Quellen, an deren Hebung auch die deutschen Theologen einen namhaften Anteil nehmen. Einer der ihrigen, der Würzburger Professor J. Hergenröther, wurde, worauf sie stolz sein konnten, 1879 nach Rom berufen, um die Vorbereitungsarbeiten zu leiten, und wurde der erste Präfekt des Archivs in seiner neuen Gestalt. II Nach der Beendigung des Kulturkampfes trat eine ruhigere und fruchtbarere Zeit für die katholische Theologie in Deutschland ein, deren Gesamtverhältnisse im wesentlichen dieselben bleiben bis zum Ausbruch des Weltkrieges. In diese Zeit fallt eine N e u e r u n g im S t u d i e n b e t r i e b der theologischen Fakultäten und über sie hinaus durch die allmähliche Einführung der sogenannten Seminarübungen für sämtliche theologische Fächer. Praktische Übungen in einigen Fächern waren allerdings schon vor 1870 üblich gewesen. Sie nahmen aber von der Mitte der achtziger Jahre einen neuen Charakter an, indem sie nunmehr die Aufgabe erhielten, eine Auswahl von Studierenden in die Methoden der ihnen zusagenden Fächer einzuführen und auf diese Weise den akademischen Nachwuchs systematisch heranzubilden. Dadurch vermehrte sich die Zahl der theologischen Schriften und hob sich ihre wissenschaftliche Qualität. Das trat besonders bei den Promotionsund Habilitationsschriften in die Erscheinung, von denen man behaupten darf, daß sie wesentlich zum Fortschritt der theologischen Wissenschaft beigetragen haben. Dieser Fortschritt wäre noch größer geworden, wenn die theologischen Seminare wenigstens annähernd mit denselben Mitteln ausgestattet worden wären wie die übrigen Institute der Universitäten. Daß aber die Theologie wie die Geisteswissenschaften überhaupt sich der Fürsorge der Unterrichtsministerien der einzelnen deutschen Bundesstaaten in geringerem Maße zu erfreuen hatten als die Naturwissenschaften, wird niemand leugnen wollen. Dieser Fortschritt wurde auch dadurch gehemmt, daß die Vermehrung der theologischen Lehrstühle hinter den übrigen Fakultäten weit zurückblieb. Ich denke dabei besonders an den fast vollständigen Mangel an etatmäßigen außerordentlichen Professuren; denn ich finde darin die Erklärung für eine merkwürdige Erscheinung. Bei der Durchsicht der einzelnen Jahrgänge des »Katholischen Literaturkalenders« von H. Keiter (1891—1914) begegnet man einer ganzen Reihe von Namen, bei denen die Titel von Doktordissertationen stehen, die wie ebenso viele frohe Verheißungen anmuten. Auf diese Titel folgt aber in vielen Fällen kein zweiter oder es finden sich literarische Arbeiten verzeichnet, die mit dem Gegenstand der betreffenden Doktordissertationen nichts zu tun haben. Dieser Sachverhalt hat selbstverständlich verschiedenartige Gründe, innere und äußere, persönliche und außerpersönliche. Einer der wirksamsten ist ohne Zweifel der beregte Mangel; denn er war geeignet, junge Doktoren der Theologie von der Privatdozentur abzuschrecken, da sie bei nur 7 oder 8 ordentlichen Lehrstühlen für das ihnen zusagende Fach keine Aussicht hatten, in absehbarer Zeit der Sorge um ihren Lebensunterhalt überhoben zu werden. Damit erklärt sich auch, wenigstens zum Teil, eine weitere Erscheinung, die ich bereits in meiner Ubersicht über die internationale Lage der katholischen

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Theologie in der Internat. Wochenschr. i (1907) 273—275 konstatiert habe. Die katholische Theologie Deutschlands wurde je länger desto mehr von der französischen überflügelt. Der Vorsprung, den diese durch die günstigere wirtschaftliche Lage und das intensivere Interesse der begüterten katholischen Laienwelt Frankreichs erhielt, hätte in Deutschland nur auf dem angedeuteten W e g eingeholt werden können. In den späteren Zeitabschnitt zwischen dem Kulturkampf und dem Weltkrieg fielen zwei innerkirchliche Tatsachenkomplexe, deren nähere Würdigung in diesem gedrängten Rückblick nicht möglich ist, die aber nicht übergangen werden dürfen: der sogenannte R e f o r m k a t h o l i z i s m u s und der M o d e r n i s m u s . Beide werden vielfach zusammengeworfen; sie sind aber sowohl ihrem Inhalt als ihrer Tendenz nach voneinander grundverschieden. Den Auftakt zu der reformkatholischen Bewegung bildet die programmatische Schrift des Würzburger Professors Herman Schell: Der Katholizismus als Prinzip des Fortschrittes (1897). Was ihn veranlaßte, aus seiner rein wissenschaftlichen Tätigkeit vor die große Öffentlichkeit zu treten, war der i. J. 1896 erbrachte doppelte Nachweis: 1. »eines allzu großen wissenschaftlichen Rückstandes der deutschen Katholiken in der höheren Schulbildung und Berufspflege, 2. eines bedenklichen Mangels an Widerstandskraft gegen die Wahngebilde des Aberglaubens, wie sie die Wortführer des Satanismus-Feldzuges, insbesondere Leo Taxil seit zwölf Jahren weiten kirchlichen Kreisen mit Erfolg anzubieten vermochten« (Nachtrag zu den 5 ersten Auflagen 1898 S. 3). Diesen beschämenden Tatsachen gegenüber wollte er den Nachweis erbringen, daß nicht der Katholizismus als solcher dafür verantwortlich sei, weil er seiner Natur und Geschichte zufolge eine Triebkraft des Fortschrittes darstelle, sondern eine Reihe von zeitgeschichtlichen Faktoren, gegen die er sich in temperamentvoller Weise wandte und Mittel zur Abhilfe zur Erörterung stellte. Diese Erörterung wurde sehr lebhaft, dauerte aber nur kurze Zeit. Um seinen zahlreichen Gegnern Rede und Antwort zu stehen und zugleich seine Ansichten näher zu erläutern und die vielen Mißverständnisse richtig zu stellen, ließ H. Schell eine erste Verteidigungs- und Erläuterungsschrift: »Die neue Zeit und der alte Glaube« i. J. 1898 folgen, an die sich zwei weitere: »Wissenschaft und Kirche«; »Aberglaube und Gottesbegriff« anreihen sollten. Nachdem aber am 15. Dezember 1898 die zwei Reformschriften nebst der Dogmatik und der apologetischen Schrift: »Gott und Geist« auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt worden waren, nahm er von einer Weiterverfolgung dieser Kontroverse Abstand und wandte sich wieder seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zu, die der katholischen Theologie noch zwei wertvolle Schriften schenkte: Die Apologie des Christentums 1901—05 und das köstliche Buch über das Evangelium und seine weltgeschichtliche Bedeutung mit dem Titel »Christus« (1903). Seinem Wirken machte aber ein früher Tod schon i. J. 1906 ein Ende. Der Reformkatholizismus war somit keine spezifische Angelegenheit der theologischen Wissenschaft; er gehört in die Geschichte jener innerkirchlichen Reformbewegungen, in denen die einander bekämpfenden Parteien grundsätzlich auf dem Boden der katholischen Kirche standen und ihr nach bestem Wissen und Gewissen dienen wollten.

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Ganz anders verhält es sich mit dem M o d e r n i s m u s , für dessen Charakteristik und Abgrenzung anderen Richtungen gegenüber ich die Enzyklika Pascendi des Papstes Pius X. vom 8. September 1907 als maßgebend betrachte. Das hier beschriebene und verurteilte System ist grundsätzlich nicht bloß antikatholisch, sondern letzten Endes ganz und gar antichristlich und überhaupt antireligiös, weil es dem religiösen Leben jegliche Grundlage entzieht. Ich sage nichts Neues, wenn ich feststelle, daß die katholische Theologie Deutschlands an der Entstehung des Modernismus ganz unbeteiligt war. Agnostizismus, Immanentismus, Symbolismus: diese Trilogie war nicht bloß in keinem ihrer Hörsäle zum Wort gekommen, sie stand auch mit den Lehren und inneren Überzeugungen der katholischen Dogmatiker in vollem Widerspruch, mit Einschluß von Herman Schell, den man zum Modernisten gestempelt hat, während er in Wirklichkeit ein entschiedener, ja sogar einseitiger Intellektualist war! Die Indizierung seiner Dogmatik hat mit dem Modernismus nichts zu tun. Als daher am 1. September 1910 der sogenannte Antimodernisteneid für alle in der Seelsorge oder im Unterricht tätigen katholischen Geistlichen vorgeschrieben wurde, war es für den Kardinal Fischer von Köln ein leichtes, auf eine Anregung seitens des Bischofes Dr. Fritzen von Straßburg, Pius X. die Bitte auszusprechen, es möchten die deutschen Universitätsprofessoren aus kirchenpolitischen Gründen von der Leistung des Eides dispensiert werden. Die Gewährung des Dispenses ermöglichte der katholischen Theologie Deutschlands einen ruhigen Fortgang ihrer Arbeit. Dieser Ruhe erfreute sie sich aber nur noch wenige Jahre. Im August 1914 kam es zu dem längst befürchteten Weltkrieg, der die Hörsäle aller theologischen Lehranstalten fast völlig leerte und viele junge Dozenten der Theologie aus ihrem Wirkungskreis riß. Der alte Spruch: Inter arma silent musae, hat sich indes in diesem ganz neugearteten Krieg glücklicherweise nicht ganz erfüllt. Während seiner mehr als vierjährigen Dauer konnte noch manche theologische Schrift dem Druck übergeben werden. Schwieriger gestalteten sich die Dinge nach dem katastrophalen Ende des Krieges, bis durch die Initiative des Mannes, dem diese Blätter gewidmet sind, die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft ins Leben gerufen wurde, die wie allen übrigen Wissenschaftszweigen so auch der katholischen Theologie ihre Fürsorge angedeihen ließ. Die bisherigen Jahresberichte über die Tätigkeit der Notgemeinschaft legen dafür Zeugnis ab. III Diese Skizze der allgemeinen Lage der katholischen Theologie vom Jahre 1870 an bis zur Gegenwart läßt zur Genüge erkennen, daß dieser Zeitabschnitt im großen und ganzen nicht unter günstigen Auspizien für sie stand. Damit ist aber der Standpunkt noch nicht gewonnen, von dem die tatsächlichen Leistungen der katholischen Theologie im Vergleich mit denen der evangelischen richtig beurteilt werden können. Der tiefste Grund, aus dem die literarische Produktivität des katholischen Theologen als solchen dem akatholischen gegenüber erfahrungsgemäß zurücktritt, liegt in seiner auf innerer Glaubensüberzeugung beruhenden Gebundenheit an das kirchliche Dogma, vermöge welcher alle literarischen Versuche, die Lehre der

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Kirche auf eine neue Grundlage zu stellen oder ihr eine von der kirchlichen Formulierung abweichende subjektive Deutung zu geben, von vornherein ausgeschlossen sind. Er liegt aber noch häufiger in dem Gemeinschaftsgefühl, das ihn mit der ganzen katholischen Kirche verbindet. Der katholische Theologe steht nicht für sich allein da und ist auch nicht bloß sich selbst verantwortlich. Das hält ihn davon ab, Gedanken und Hypothesen, die ihm heute einfallen, schon morgen dem Druck zu übergeben, mögen sie noch so interessant sein. Daraus ergeben sich unleugbar Hemmungen, deren Stärke sich natürlich von Person zu Person wie auch von Fach zu Fach verschiedenartig auswirkt. A m wenigsten werden die historischen Fächer davon berührt, so lange es sich um nichts anderes handelt als um die Feststellung von geschichtlichen Tatsachen nach den Gesetzen der historischen Forschung. Sobald aber die Beurteilung des letzten Sinnes und Wertes von Tatsachenkomplexen in Frage kommt, ist nicht nur der katholische, sondern jeder Historiker von Voraussetzungen abhängig, die nicht geschichtlicher, sondern weltanschaulicher Natur sind. Wirksamer als dieser tiefste Grund sind aber in der Regel konkrete Verhältnisse und Bedingungen, die nach den Ländern und Zeiten wechseln. Um der katholischen Theologie Deutschlands gerecht zu werden, muß man sich zunächst gegenwärtig halten, daß die Katholiken nur ein Drittel der Gesamtbevölkerung Deutschlands ausmachen und daß dieses Drittel wirtschaftlich schwächer ist als der evangelische Volksteil. Sodann muß beachtet werden, daß die katholisch-theologischen Lehranstalten nicht einen einheitlichen Organismus darstellen, wie ihn die Protestanten in ihren 18 (seit 1918 sind es 17) theologischen Fakultäten besitzen. Bis zum Jahre 1903 gab es in Deutschland nur 7 katholisch-theologische U n i v e r s i t ä t s f a k u l t ä t e n , drei im Norden (Bonn, Breslau, Münster) und vier im Süden (Freiburg i. Br., München, Tübingen, Würzburg). Als achte trat im Herbst 1903 die Straßburger Fakultät hinzu, rund 30 Jahre nach der Gründung der Universität des Reichslandes, der eine evangelisch-theologische Fakultät von Anfang an eingegliedert worden war. Dieser jüngsten Fakultät war eine Lebensdauer von nur 15 Jahren beschieden, von denen die vier letzten unter dem Druck des Weltkrieges standen. Die 11 Jahre eigentlicher Arbeit waren durch das Mißtrauen belastet, das ihr von zwei Seiten entgegengebracht wurde, von dem größeren Teil des elsässischen Klerus, der sich noch unmittelbar vor ihrer Gründung für die Beibehaltung des Priesterseminars als Bildungsstätte seines Nachwuchses ausgesprochen hatte, und von der Straßburger Universität selbst. Mußte sie doch bis zum Jahre 1911 warten, bevor sie durch die Wahl eines ihrer Mitglieder zum Rektor der Universität vor der Öffentlichkeit als gleichberechtigt anerkannt wurde. Die Fakultät selbst bestand zum größten Teil aus jüngeren Dozenten, denen die volle Entfaltung ihrer Kräfte im Dienst derselben durch verschiedenartige Umstände, zuletzt durch die Katastrophe des Jahres 1918 versagt blieb. Der Versuch, die 1892 von zwei eng befreundeten jungen Professoren des Priesterseminars ins Leben gerufenen »Straßburger theologische Studien« zum periodischen Organ der Fakultät zu machen, scheiterte an Verlagsschwierigkeiten. Neben den Fakultäten stehen zunächst die b a y e r i s c h e n L y z e e n (Bamberg, Dillingen, Eichstätt, Freising, Passau und Regensburg), von denen Eichstätt bischöflich, die anderen staatlich sind. Sie führen jetzt die amtliche Bezeichnung

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»Philosophisch-theologische Hochschule« und bestehen je aus einer philosophischen und einer theologischen Fakultät mit Universitätsrang, aber ohne Promotionsrecht. So sehr die Sorge der bayerischenRegierung um eine möglichst gediegene Heranbildung des Klerus auch jener Diözesen, innerhalb deren Grenzen keine Universität besteht, anerkannt werden muß, so liegt doch auf der Hand, daß sie die Lyzeen nicht mit den Mitteln aussteuern konnte, die im Rahmen des heutigen Wissenschaftsbetriebes für eine erfolgreiche Forschungsarbeit die unentbehrliche Vorbedingung bilden. Wenn trotzdem die bayerischen Lyzeen in dem Zeitabschnitt, der hier zur Behandlung steht, einen bedeutenden Anteil an den Leistungen der katholischen Theologie nahmen, so lag das an jenen ihrer Mitglieder, die durch einen intensiven Forscherwillen die Unzulänglichkeit der sachlichen Mittel zu überwinden wußten und annoch wissen. Von den Verstorbenen betätigten sich als Schriftsteller in B a m b e r g die Professoren V. Loch (f 1893), K. Härtung (f 1921), H. L. Haas (f 1926); in D i l l i n g e n Th. Specht (f 1918); in E i c h s t ä t t M. Schneid (f 1893), A. Stöckl (f 1895), Fr. Morgott (f 1900), J. Ev. Pruner (f 1907), O. Lochner v. Hüttenbach (f 1920), J. Hollweck (f 1926); in F r e i s i n g Seb. Huber (f 1919), Jos. Schlecht (f 1925); in Passau A . Linsenmayer (f 1921), G. Pell (f 1927)» M. Leitner (f 1929), Ign. Klug (f 1929); in R e g e n s b u r g A . Weber (f 1915). W. Schenz (f 1916), J. Sachs (f 1919), J. A. Endres (f 1924). Ganz ähnlich organisiert wie die bayerischen Lyzeen ist die preußische Akademie (Lyceum Hosianum) von Braunsberg, die ebenfalls mit einer philosophischen und einer theologischen Fakultät ausgestattet ist. Aus der älteren Generation ihrer Professoren, die literarisch auftraten, ragten H.Oswald (f 1903), A. Thiel (t 1908 als Bischof v. Ermland), H . W e i ß (f 1909), Fr. Dittrich (f 1915 als Domprobst in Frauenburg) noch in unsern Zeitabschnitt hinein. Von der jüngeren folgten ihnen Jos. Kolberg (f 19x7) und J. B. Kissling (f 1928) im Tode nach. Eine dritte Art von theologischen Lehranstalten stellen die bischöflichen P r i e s t e r s e m i n a r e mit theoretischem Studienbetrieb in Fulda, Mainz und Trier dar. Sie standen an Lehr- und Forschungsmitteln nicht nur hinter den Universitätsfakultäten, sondern auch hinter den bayerischen Lyzeen zurück. Sie erbrachten aber einen glänzenden Beweis für die entscheidende Bedeutung der Persönlichkeit im Reiche der Geisteswissenschaften; denn sie haben theologische Schriftsteller zu verzeichnen, die hinter den Vertretern derselben Fächer an den Universitäten und Lyzeen nicht zurückstehen. In F u l d a entfaltete Konstantin Gutberiet von 1862 an eine sehr fruchtbare wissenschaftliche Tätigkeit als neuthomistischer Philosoph und als Dogmatiker, die auch nicht unterbrochen wurde, als er während des Kulturkampfes das nach Würzburg verlegte Fuldaer Priesterseminar allein zu leiten hatte. In den siebziger und achtziger Jahren war das Trifolium von M a i n z J. B. Heinrich (Dogm., f 1891), Fr. Chr. Ign. Moufang (Moral und Pastoral, f 1890) und P. L. Haffner (Philos. u. Apol., f 1899 als Bischof von Mainz) in ganz Deutschland bekannt und von den Katholiken hochverehrt nicht bloß als fruchtbare theologische Schriftsteller, sondern auch als Verteidiger der Rechte der katholischen Kirche. Ihnen zur Seite standen die Professoren der Exegese L. Hundhausen (f 1900) und J. B. Holzammer (f 1903) sowie der Kirchenhistoriker B. H. Brück, der Haffhers Nachfolger als Bischof von Mainz wurde (f 1903). Die Mainzer Tradition 5

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wurde weiter geführt durch den Domkapitular J. M. Raich (t 1907) und den Professor Jos. Selbst (t 1919 als Generalvikar). Das Priesterseminar von T r i e r nahm der Kulturkampf hart mit; es wurde am 31. Dezember 1873 staatlicherseits geschlossen und die Professoren am 9. März 1874 polizeilich aus ihren Wohnungen entfernt! Bald nach der Wiedereröffnung des Seminars (1886) gründeten die Professoren P. Einig (f 1908) und A. Müller (t 1922) eine Zeitschrift für kirchliche Wissenschaft und Praxis mit dem Titel »Pastor bonus«. Neben ihnen waren literarisch tätig die Professoren L. Schütz (f 1901 als Domkapitular), Jak. Ecker (t 1912), Chr. Willems (t 1919), Jak. Marx (| 1924). Eine besondere Stellung nimmt die bischöfliche Lehranstalt von Paderborn ein, die 1844 als Fortsetzung der alten von dem Fürstbischof Theodor v. Fürstenberg (t 1618) gegründeten Universität unter dem Namen »Seminarium Theodorianum« errichtet wurde und 1916 den Rang einer philosophisch-theologischen Akademie erhielt. Im Unterschiede von den erwähnten Priesterseminaren befaßt sie sich nicht mit der praktischen Ausbildung der Priesteramtskandidaten, die einer eigenen Anstalt anvertraut ist; im Unterschiede von den bayerischen Lyzeen und dem Lyceum Hosianum besteht sie nur aus einer philosophisch-theologischen Fakultät und hat keinen Universitätsrang. Während des Kulturkampfes war sie geschlossen und konnte erst im Sommer 1887 ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Seit 1909 besitzt sie auch ein wissenschaftliches Organ mit dem Titel »Theologie und Glaube«. Unter ihren verstorbenen Mitgliedern ragte W. Schneider (f 1909 als Bischof von Paderborn) besonders hervor. Neben ihm sind Jos. Feldmann (t 1927) und H. Poggel (t 1928) zu nennen. Den Beweis dafür, daß auch innerhalb der engen Grenzen eines rein praktischen Priesterseminars eine bedeutsame schriftstellerische Tätigkeit entfaltet werden kann, darf man darin erblicken, daß der bedeutendste katholische Dogmatiker Deutschlands im 19. Jahrhundert, M. J. Scheeben (f 1888), seine Werke als Professor am Priesterseminar von Köln schrieb, wie das auch der langjährige Subregens des Priesterseminars zu St. Peter bei Freiburg i. Br. Nik. Gihr (t 1924) tat. IV Alle bisher genannten Theologen gehörten dem Weltklerus an; ein sehr namhafter Teil der theologischen Gesamtproduktion entfallt aber auf den Ordensklerus. In vorderster Linie steht die Gesellschaft J e s u , die sich trotz ihrer Verbannung aus Deutschland durch das Gesetz vom 4. Juli 1871 an der theologischen Arbeit eifrig beteiligte. Dazu befähigte sie vor allem der Umstand, daß die theologische Fakultät der Universität Innsbruck seit 1857 unter ihrer Leitung stand. Wenn diese Fakultät auch außerhalb des Deutschen Reiches liegt, so befindet sie sich doch auf deutschem Volks- und Sprachgebiet. Sie zählte eine Reihe von Reichsdeutschen Vinter ihren Lehrern und wurde von reichsdeutschen Theologiestudierenden viel besucht. Seit 1877 besitzt sie ein eigenes Organ mit dem Titel »Zeitschrift für katholische Theologie«. Die Dozenten der philosophisch-theologischen Lehranstalt der deutschen Provinz in Maria-Laach hatten in denJahren 1865—71 in je 12 Heften zu den brennenden Fragen Stellung genommen, die mit dem Syllabus Pius' IX. (1864) und dem Vatikanischen Konzil zusammenhingen, mit dem Unter-

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titel »Stimmen aus Maria-Laach«. Im Juli 1871 gründeten sie eine periodische Zeitschrift mit diesem Titel, der auch nach der Schließung der Anstalt (1872) beibehalten wurde, bis sie 1915 den Titel »Stimmen der Zeit« bekam. Diese Zeitschrift sowie ihre zahlreichen Ergänzungshefte beschränkten sich aber nicht auf die Theologie. Rein theologisch ist die von den Professoren des Ignatiuskollegs in Valkenburg (dem Ersatz für Maria-Laach) seit 1926 herausgegebene Zeitschrift »Scholastik«, die sich die historische und systematische Erforschung der Scholastik und ihrer Beziehungen zu Problemen der Gegenwart zur besonderen Aufgabe stellt. Im Jahre 1925/26 wurde endlich die »Zeitschrift für Aszese und Mystik« von Priestern der Gesellschaft Jesu gegründet. Die Zahl der einzelnen Arbeiter, die der Jesuitenorden stellte, ist zu groß, um hier aufgeführt werden zu können. Von den Verstorbenen sind die bekanntesten folgende: St. Beissel (f 1915), O. Braunsberger (f 1926), H. Brewer (f 1922), R. Gornely (f 1908), G. M. Dreves (t 1909), G. Gietmann (t 1912), J. Hilgers (f 1918), Fr. v. Hummelauer (f 1914), H. Hurter (f 1914), B. Jungmann (f 1895), J. Jungmann (f 1885), J. Knabenbauer (t 1911), A. Lehmkuhl (f 1918), E. Michael (t 1917), H. Noldin (f 1922), Chr. Pesch (f 1925), Tilm. Pesch (f 1899), G. Schneemann (f 1885), F. Stentrup (t 1898), Fr. Wernz (f 1914), Ath. Zimmermann (f 1911). Nicht unerwähnt darf der noch lebende frühere Bibliothekar der Vaticana und jetzige Kardinal Fr. Ehrle bleiben, der in der ganzen geisteswissenschaftlichen Welt höchstes Ansehen genießt. Von dem Benediktinerorden waren es besonders die der Beuroner Kongregation (bestätigt i. J. 1884) angehörigen Klöster in Deutschland, Beuron selbst, Maria Laach, Gerleve (Abtei St. Joseph bei Coesfeld), Weingarten, Neresheim, die neben ihrer praktisch-religiösen eine wissenschaftliche Tätigkeit im Dienste der Theologie entfalteten bzw. zu entfalten begonnen haben. Das Palimpsestinstitut der Erzabtei Beuron inaugurierte ein »Spicilegium Palimpsestorum« mit dem 1. Band (Codex Sangallensis 193) i. J. 1913. Seit 1917 besitzt sie als Organ ein Sammelwerk mit dem Titel »Texte und Arbeiten herausgegeben durch die Erzabtei Beuron«, dessen 1. Abteilung »Beiträge zur Ergründung des älteren lateinischen christlichen Schrifttums und Gottesdienstes« bringt (bisher 14 Hefte). Maria-Laach konzentrierte sich namentlich seit dem Regierungsantritt des jetzigen Abtes Ildefons Herwegen (i9i3)auf die wissenschaftliche Pflege der beiden Lebenselemente des Benediktinerordens, Mönchtum und Liturgie, und schuf sich nacheinander folgende Organe: »Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinerordens« (1912, bisher 15 Hefte); »Liturgiegeschichtliche Quellen und Forschungen« (1918), die bis 1928 als zwei getrennte Sammlungen erschienen; »Jahrbuch der Liturgiewissenschaft« (von 1921 an). Nachdem eine große Anzahl von Mitgliedern seines Klosters vornehmlich an der Universität Bonn zu Fachgelehrten ausgebildet waren, entschloß sich der Abt Herwegen zur Errichtung einer wissenschaftlichen Schule des Mönchtums für den ganzen Benediktinerorden, die unter dem Namen »Benediktiner Akademie Maria Laach« am 1. Nov. 1930 eröffnet werden wird. Der Lehrkursus umfaßt 4 Semester und soll mit einer druckreifen Dissertation abschließen. Der Lehrplan legt neben den Vorlesungen besondern Wert auf seminaristische Übungen, die in die Methode der wissenschaft5*

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liehen Arbeit einführen und die Studierenden befähigen sollen, nach Abschluß ihres Lehrganges auf einem der von ihnen zu wählenden Spezialgebiete (Mönchtum oder Liturgie) zu arbeiten. Von den älteren süddeutschen Benediktinerklöstern hatte St. Bonifaz in München die gelehrten Traditionen des Ordens schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts wieder aufgenommen, dank der Initiative des bedeutenden Orientalisten und Professors der Exegese des A. T. an der Universität München, Haneberg, der 1850 in das Kloster eintrat und 1852 dessen Abt wurde (f 1876 als Bischof v. Speier). An seiner Seite stand sein Altersgenosse Pius Gams (wie Haneberg 1816 geboren), der 1855 ins Kloster kam und sich der Kirchengeschichte zuwandte (f 1892). Hanebergs wissenschaftlichen Geist erbte der bekannte P. Odilo Rottmanner (t 1907), der allerdings kein großes Werk verfaßte, der aber die Stifitsbibliothek zu einem vorzüglichen Arbeitsmittel ausbaute, zahlreiche kleinere Beiträge zur biblischen und patristischen Forschung beisteuerte und als der beste Augustinuskenner seiner Zeit galt. Die Stunden, die ich besonders imSommer 1889 in anregendsten Gesprächen mit ihm in seinem kleinen Bibliothekarszimmer verbrachte, gehören zu den schönsten meines Lebens! Das Generalkapitel der bayerischen Kongregation gründete i. J. 1921 die »Bayerische Benediktiner Akademie« zu dem Zwecke, die wissenschaftlich tätigen Mitglieder der einzelnen Klöster in engere Fühlung zu bringen, die reichen Schätze der benediktinischen Vergangenheit zu heben und die wissenschaftliche Arbeit auf allen im Interessenkreis des Benediktinerordens liegenden Gebieten zu fördern. Sie errichtete bisher drei Abteilungen, eine ordensgeschichtliche (1921), eine liturgische (1923) und eine solche für systematische Theologie (1928). Die erste übernahm i. J. 1925 die seit 1880 erscheinenden »Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige«. Die wissenschaftlichen theologischen Leistungen der F r a n z i s k a n e r stehen hinter denen der Jesuiten und Benediktiner zurück. Von den verstorbenen Schriftstellern des Ordens sind zu nennen die Patres P. Hötzl-München (f 1902 als Bischof v. Augsburg); L. Schuler-Breslau (t 1919); K. Eubel-Würzburg (f 1922); Th. Witzel-Fulda (| 1923); P. Minges-München (f 1926). Die Quote der Franziskaner steigt aber infolge des Umstandes, daß das bekannte Kollegium von Quarachi bei Florenz, dem wir die Ausgaben der Werke des hl. Bonaventura, der Summa theologica Alexanders v. Haies und der Werke von Duns Scotus (noch nicht abgeschlossen) verdanken, von 1881—1903 unter der Leitung desP. Ign. Jeiler-Paderbom (t 1904) stand, dessen Nachfolger P. L. Lemmens wurde (t 1929 als Ordensarchivar in Rom). Ein deutscher Franziskaner, P. Dionys. Schuler-Gorheim bei Sigmaringen (t 1926 als General des Ordens), begründete i. J. 1908 die internationale Zeitschrift für die Geschichte des Franziskanerordens »Archivum Franciscanum historicum«. Seit 1914 erscheinen die »Franziskanischen Studien«, hrsg. von P. F. Doelle-Kreuzberg bei Bonn, mit zwanglosen Beiheften. Sie widmen sich ebenfalls der Ordensgeschichte. Die bayerische Ordensprovinz besitzt seit 1910 eine gemeinsame philosophisch-theologische Hochschule in dem Kloster St. Anna-München, die allerdings in erster Linie Unterrichtsanstalt sein will, von deren Lektoren sich aber mehrere an der wissenschaftlichen Forschung beteiligen.

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In der geringen Zahl der deutschen Dominikaner- Klöster und ihrer intensiven Inanspruchnahme durch die praktische Seelsorge erblicke ich den Grund, weshalb sie sich an der theologischen Forschung so wenig beteiligt haben. Die von P. Paul von Loe-Düsseldorf (t 1919) und seinem damaligen Mitbruder B. Reichert (t 1917) i. J. 1907 ins Leben gerufenen »Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, zunächst in Deutschland« brachten es bisher auf 25 Hefte. Zu erwähnen sind noch der Prof. des Kirchenrechts an der Universität München A. M. Gietl (f 1918) und der Prior des Berliner Klosters M. Rings (t 1924). Ein Gelehrter von der überragenden Bedeutung des berühmten Sohnes der Tiroler Berge, P. H. Denifle, der 1861 in das Grazer Kloster eintrat und 1883 als Unterarchivar des Hl. Stuhles nach Rom berufen wurde (tigos), blieb der Provincia Teutonica (Deutsches Reich nebst dem Kloster Venloo i. Holl.) des Dominikanerordens versagt! Bekanntlich wurde die i. J. 1890 an der staatlichen Universität des Kantons Freiburg i. Schw. errichtete theologische Fakultät dem Dominikanerorden anvertraut, deren Lehrstühle aber bei ihrer Gründung nicht alle mit Mitgliedern des Ordens besetzt wurden. Von den Professoren, die sich entweder ausschließlich oder vorzugsweise der deutschen Sprache in ihren Schriften bedienten, gehören die meisten (Jos. Beck, H. Felder, G. Häfele, G. Manser) der Schweiz, J. P. Kirsch (jetzt zugleich Leiter des von Pius XI. errichteten Päpstlichen Archäologischen Institutes in Rom) Luxemburg, V. Zapletal Mähren von Geburt an. Reichsdeutscher war der bekannte Apologet A. M. Weiß (t 1925). Eine letzte Kategorie von theologischen Schriftstellern bilden jene Mitglieder des Weltklerus, die keiner wissenschaftlichen Korporation angehörten und daher als Privatgelehrte bezeichnet werden können. Sie weist der Hauptsache nach folgende Namen auf: A. Beilesheim, Stiftskan. in Aachen (Kirchengesch., f 1912); G. Grupp, Biblioth. in Maihingen (Kirchen- und Kulturgesch., f 1922); B. Neteler, Hausgeistlicher in Loburg-Westf. (Exegese des A. T., f nach 1899); J. Schmitt, Domkapit. in Freiburg i. Br. (Dogm., f 1915); Fr. Schneider, Domkap. in Mainz (Christi. Kunstgesch., t 1907); A. Schnütgen, Domkap. in Köln (Christi. Kunst gesch., t 1918); Fr. Sprotte, Domkap. in Breslau (Kirchengesch., t 1920); F. H. Thalhofer-München (Katech., f 1925) u. a. Die einzige katholische Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaften, die i. J. 1876 gegründet wurde und sich nach dem berühmten rheinischen Publizisten und Gelehrten J. J. Görres (f 1848) benannte, glaubte allerdings die Theologie, die älteste Wissenschaft der christlichen Völker, aus ihrem Arbeitsfeld ausschließen zu sollen: ein Vorgehen, das von der österreichischen Leogesellschaft (gegründet i. J. 1892) glücklicherweise nicht nachgeahmt wurde! Dessen ungeachtet hat die Görresgesellschaft die historischen Disziplinen der katholischen Theologie in ihren verschiedenen Organen: Historisches Jahrbuch, Philosophisches Jahrbuch, Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte, Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums, Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft, Collectanea Hierosolymitana, in dankenswertester Weise gefördert. Zwei weitere Publikationen, die Vatikanischen Quellen zur Geschichte der päpstlichen Hof- und Finanzverwaltung im 14. Jahrhundert und der Oriens christianus,

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stehen im Dienste der Kirchengeschichte. Das bisherige Hauptunternehmen, die Herausgabe der Akten des Tridentinischen Konzils, liegt vollends auf theologischem Gebiete. Die jüngere Gesellschaft des Corpus catholicorum, die 1917 von Professor Jos. Greving in Münster in Westf. (f 1919 als Professor in Bonn) gegründet wurde, setzte sich die Herausgabe von Werken katholischer Schriftsteller im Zeitalter der Glaubensspaltung zum Ziele. Neben diesem Hauptunternehmen (bisher 16 Hefte) gibt sie »Reformationsgeschichtliche Studien und Texte« heraus (bisher 54 Hefte) und seit 1927 kleinere Vereinsschriften unter dem Titel »Katholisches Leben und Kämpfen im Zeitalter der Glaubensspaltung« (bisher 3 Hefte). V Durch das Zusammenwirken der genannten Körperschaften und vieler Einzelpersonen entstand trotz der angedeuteten Schwierigkeiten und Hemmungen in den Jahren 1870 bis zur Gegenwart eine umfangreiche theologische Literatur, deren Einzelbetrachtung und Würdigimg sich von selbst verbietet. In dem engen Rahmen, der den Einzelbeiträgen zu dieser Festschrift zugewiesen werden mußte, läßt sich nur eine ganz allgemein gehaltene Orientierung über die H i l f s m i t t e l und O r g a n e an das bisher Gesagte anschließen. Um den Interessenten die Möglichkeit zu geben, sich über das massenhafte Material, das in den einzelnen theologischen Fächern zerstreut ist, bequem zu orientieren, hatten die Professoren Wetzer (Freiburg i. Br.) und Welte (Tübingen) in den Jahren 1847/56 ein »Kirchenlexikon« geschaffen. Davon erschien unter der Leitung des Kardinals Hergenröther, sodann des Professors Fr. Kaulen-Bonn (f 1907) die zweite Auflage in 12 starken Bänden (1882—1901) nebst einem Registerband (1903), die einer Neuschöpfung gleichkam. Als Professor in Freising stellte ihm M. Buchberger (jetzt Bischof von Regensburg) ein »Kirchliches Handlexikon« in 2 Bänden (1907 u. 1912) zur Seite unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter. Die 2. Auflage, betitelt »Lexikon für Theologie und Kirche«, ist im Erscheinen begriffen. Sie ist auf 10 Bände mäßigen Umfanges berechnet. Zur Befriedigung eines zweiten Bedürfnisses, die Neuerscheinungen auf sämtlichen Gebieten der Theologie kennen zu lernen und über ihren wissenschaftlichen Wert unterrichtet zu werden, mußten die katholischen Theologen zu akatholischen kritischen Organen oder zu dem »Literarischen Handweiser« von Fr. Hülskamp (seit 1861, t 1911), der »Literarischen Rundschau« (von 1875—1914 Freiburg bei Herder) greifen, bis sie durch die Initiative von Professor Fr. Diekamp-Münster i. J. 1902 ein eigenes Organ erhielten in der »Theologischen Revue«. Jede lebendige Wissenschaft braucht periodische Organe, die Beiträge ihrer Vertreter, die nicht umfangreich genug sind, um in Buchform erscheinen zu können, der Öffentlichkeit zugänglich machen. Diesem dritten Bedürfnis diente vor allem die von der Tübinger kath.-theologischen Fakultät i. J. 1819 gegründete »Theologische Quartalschrift«, sodann die mehr praktisch gerichtete Monatsschrift »Der Katholik«, die 1821 von den späteren Bischöfen Räß und Weiß ins Leben gerufen wurde (erschien bis zum Jahre 1918), sodann die schon genannten jüngeren Organe, die »Zeitschrift für katholische Theologie«, »Pastor bonus«, »Theologie und Glaube« und die Passauer »Theologisch-praktische Monatsschrift«

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(1890—1920). Als jüngstes Organ trat 1924 die »Bonner Zeitschrift für Theologie und Seelsorge« hinzu. Erfreulicherweise trat eine ganze Reihe von Organen hinzu, die sich auf ein bestimmtes theologisches Fach oder eine Fachgruppe beschränkten, entweder in Gestalt periodischer Zeitschriften oder als Sammlungen selbständiger Schriften. Es empfiehlt sich, diese Organe bei den theologischen Fächern zu nennen, denen sie sich widmen. Das Wort Theologie hat ja seinen ursprünglichen Sinn schon längst verloren. In der Gegenwart dient der Ausdruck als gemeinsame Bezeichnung für eine große Zahl von wissenschaftlichen Disziplinen, die sich sowohl durch ihren nächsten Gegenstand als besonders durch ihre Methode sehr voneinander unterscheiden, die sich aber alle kraft ihres Gesamtobjektes und ihres gemeinsamen Zieles zusammenschließen als wissenschaftliche Erforschung und Darstellung der christkichen Religion nach allen Seiten ihres Wesens und Wirkens. Sie lassen sich in vier Gruppen einteilen, die biblische, die systematisch-theoretische, die systematischpraktische und die historische, von denen jede aus mehreren Fächern besteht. I. Biblische G r u p p e : Biblische Studien (1895). Biblische Zeitschrift (1903). Biblische Zeitfragen (1908). — Alttestam. Abhandlungen hrg. v. J. Nikel u. a. (1908). Exegetisches Handbuch zum Alten Testament hrsg. v. Joh. Nikel (1911). Die hl. Schrift des A. Test. hrsg. v. Fr. Feldmann u. H. Herkenne (1923). — Neutestamentl. Abhandlungen hrsg. v. M. Meinertz (1908). Die hl. Schrift des N. Test. hrsg. v. Fr. Tillmann (1912). II. Systematisch-theoretische G r u p p e : Jahrbuch für Philosophie u. spekulative Theologie (1886), fortgesetzt mit dem Titel Divus Thomas (1914). Scholastik (1926). Freiburger theologische Studien (1910). Münstersche Beiträge zur Theologie (1923). Sie berücksichtigen auch die historische Gruppe. III. Systematisch-praktische G r u p p e : 1. Kirchenrecht: Archiv f. kathol. Kirchenrecht (1857; seit 1913 hrsg. v. Nik. Hilling-Freiburg i. Br.). Kanonistische Studien und Texte hrsg. v. A. M. Koeniger-Bonn (1928). 2. Moraltheologie: Abhandlungen aus Ethik und Moral hrsg. von Fr. Tillmann-Bonn (1921). Zeitschrift für Aszese und Mystik (1925/26). 3. Pastoraltheologie: Schlesischea Pastoralblatt (1880). Oberrheinisches Pastoralblatt (1898). Rottenburger Monatsschrift f. prakt. Theologie (1917). a) Katechetik: Katechetische Blätter (1875). Monatsblätter f. den Religionsunterricht an höheren Lehranstalten (1899), fortgesetzt u. d. T. Zeitschrift für den kath. Rel. an höh. Lehr. (1924)b) Homiletik: Chrysologus (1861). Kirche und Kanzel (1890). Predigtstudien, hrsg. v. A. Dondera u. Th. Soiron OFM. (1919). c) L i t u r g i k : Ecclesia orans. Zur Einfuhrung in den Geist der Liturgie, hrsg. v. I. Herwegen (1918). Jahrbuch f. Liturgiewissenschaft (1921). Liturgisches Handlexikon v. J. Braun S. J. (1922). Liturgische Zeitschrift hrsg. v. Fr. Schubert-Breslau (1929). IV. H i s t o r i s c h e G r u p p e .

Die intensivste Pflege erfuhr die vierte Gruppe im Zusammenhang mit dem Aufschwung, den die Geschichtswissenschaft überhaupt im 19. Jahrhundert genommen hat. Die kirchengeschichtliche Literatur des Zeitabschnittes von 1870 an scheint nun auf den ersten Blick nicht bloß unübersehbar, sondern auch unorganisch zu sein. Wenn man aber auf die obersten Gliederungsfaktoren achtet, die für die Kirchengeschichte wie überhaupt für jede Disziplin der Geschichtswissenschaft maßgebend sind, den chronologischen oder zeitlichen, den räumlichen und den sachlichen, so heben sich die drei Abteilungen klar und deutlich voneinander ab,

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in die sie zerfallt. Aus der gleichmäßigen Berücksichtigung aller drei Gliederungsfaktoren entstand schon längst die allgemeine K i r c h e n g e s c h i c h t e mit ihrer gebräuchlichen Einteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Die Einschränkung des räumlichen Gliederungsfaktors auf einen bestimmten Teil des gesamten katholischen Kirchengebietes von einem ganzen Land oder einer der Kirchenprovinzen dieses Landes bis herab zur Einzelpfarrei, führte zur k i r c h l i c h e n P a r t i k u l a r geschichte. Charakteristisch für diese ist die volle Geltung des sachlichen Gliederungsfaktors innerhalb der räumlichen Begrenzung, während der zeitliche in beliebiger Abstufung berücksichtigt werden kann. Der Reichtum des kirchlichen Lebens mußte endlich schon früh dazu anregen, die Darstellung auf ein einziges Lebensgebiet einzuschränken. Durch diese Auflösung des sachlichen Gliederungsfaktors entstanden nach und nach die k i r c h e n h i s t o r i s c h e n E i n z e l d i s z i p l i n e n , bei denen der zeitliche und der räumliche Gliederungsfaktor in Geltung bleiben, aber entweder in ihrem vollen Umfang oder in verschiedenartiger Begrenzung zur Geltung gebracht werden können. Sie bildeten sich selbstverständlich nicht nach einem vorgefaßten Schema aus, sondern nach Maßgabe praktischer Bedürfnisse oder infolge der kraftvollen Initiative von Einzelpersonen. Sie sind im Grunde genommen nichts anderes als selbständig gewordene Teile der allgemeinen Kirchengeschichte und lassen sich selbst wieder in mehrere zusammengehörige Gruppen bringen nach Maßgabe des kirchlichen Lebensgebietes, das ihnen gemeinsam ist. Ein Wort über jede dieser Abteilungen! i. A l l g e m e i n e Kirchengeschichte. Ihre Organe waren und sind noch z. T. folgende: Kirchengeschichtliche Studien hrsg. von A. Knöpfler-München (f 1917), H. Schrörs-Bonn (f 1928) u. M. Sdralek-Münster u. Breslau (f 1913) von 1891—1903. Veröffentlichungen aus dem Kirchenhist. Seminar München hrsg. v. A. Knöpfler von 1899 bis 1920; fortgesetzt als Münchener Studien z. hist. Theol. (1921). — Kirchenhist. Abhandlungen hrsg. v. M. Sdralekvon 1903—1920; fortgesetzt als Breslauer Studienz. histor. Theologie (1922). —Dazukommt noch das Historische Jahrbuch der Görresgesellschaft (1880).

Sie fand eine Reihe von Darstellungen, die aus den Vorlesungen ihrer Verfasser herauswuchsen und zu Lehr- und Lernzwecken dienen sollten. Diese Verfasser sind: F. X. Kraus-Straßburg, Freiburg (1875, 4. Aufl. 1896); H. Brück-Mainz (1874, 9. Aufl. hrsg. v. J. Schmidt-Mainz 1906); J. Hergenröther-Würzburg, Rom (das ausführlichste Handbuch in 3 starken Bänden 1876—1880; 4. — 6. Aufl. neubearbeitet von J. P. Kirsch-Freiburg i. Schw. 1911—1925, die 5. u. 6. in 4 Bänden); F. X. Funk-Tübingen (1886, 8. Aufl. neubearbeitet v. K. Bihlmeyer-Tübingen, 1. Teil 1926); A. Knöpfler-München (1895; 6. Aufl. 1920, Neudruck 1924); J. Marx-Trier (1903, 9. Aufl. von Fr. Pangerl-Innsbruck 1929); J. Schmidt-Mainz (Grundzüge der Kircheng. 1925). Allen diesen Gesamtdarstellungen ist die Einteilung in Altertum, Mittelalter (dessen Beginn verschieden angesetzt wird) und Neuzeit (von 1517 an, mit Ausnahme des Lehrbuches von F. X. Kraus, der die Neuzeit mit dem Zeitalter des Humanismus beginnt) gemeinsam. Die Polemik von K. Heussi (Altertum, Mittelalter und Neuzeit in der Kirchengeschichte, Tübingen 1921) gegen diese Dreiteilung schießt mit der Bestreitung der Universalgeschichte als solcher und der Behauptung, daß Perioden in der objektiven Wirklichkeit überhaupt nicht vorhan-

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den sind, sondern lediglich im Geiste des Historikers existieren, weit über das Ziel hinaus. Man darf aber an der üblichen Abgrenzung der drei Zeiträume und noch mehr an der Auffassung, als stünden alle drei auf einer Ebene, berechtigte Kritik üben. Die Zeiträume Mittelalter und Neuzeit gelten nicht für die allgemeine, sondern nur für die abendländische Kirchengeschichte; denn sie wurden durch grundlegende Ereignisse herbeigeführt, die sich im Abendlande zutrugen und deren Auswirkung sich auf das Abendland beschränkte. Die griechisch-byzantinische Kirche hatte kein Mittelalter, wenn man diesem Ausdruck einen wissenschaftlich eindeutigen Sinn gibt; noch viel weniger darf man den orientalischen Nationalkirchen ein solches zuschreiben. Die übliche Einteilung hatte daher zur Folge, daß diese beiden Kirchengebiete in den erwähnten Gesamtdarstellungen recht stiefmütterlich behandelt wurden. Um ihnen gerecht werden zu können, muß man ihnen eine eigene Darstellung widmen; diese findet aber ihre naturgemäße Stelle im Anschluß an das christliche Altertum, für die byzantinische Kirche bis zum Fall von Konstantinopel (1453) und für die orientalischen Kirchen sogar bis zum Ausgang desWeltkrieges; denn diese sind erst in unserer Gegenwart in ein zweites Lebensstadium eingetreten. Einen zweiten Mangel der besagten Gesamtdarstellungen erblicke ich darin, daß sie zu große Zeitabschnitte als Perioden zusammenschließen, die manchmal sogar mehrere Jahrhunderte umfassen. Damit läßt sich eine bequeme Übersicht über die Resultate der kirchlichen Arbeit geben, aber kein genügender Einblick in die Entwicklungsfaktoren und den realen Entwicklungsgang dieser Arbeit gewinnen. Als historische Disziplin muß auch die allgemeine Kirchengeschichte bis zu den letzten Zeiteinheiten vorstoßen, in die ein Zeitraum zerfallt, bevor sie an die Betrachtung der einzelnen Lebensgebiete herantritt, und diese darf sich nicht an eine Schablone binden; sie muß vielmehr in der Darstellung jene Tatsachenkomplexe an die Spitze stellen, die in der realen Wirklichkeit an der Spitze standen. 2. Kirchliche Partikulargeschichte. Ihre Organe beziehen sich fast ausschließlich auf die Kirchengeschichte Deutschlands: Freiburger Diözesan-Archiv(i86s). Dazu: Abhandlungen zur oberrheinischen Kirchengeschichte hrsg. vonE. Göller Freiburg i. Br. (1922). — Diözesenarchiv für Schwaben (1884). — Quellen u. Abhandlungen zur Gesch. der Abtei und der Diözese Fulda hrsg. v. G. Richter-Fulda (1904). — Reformationsgesch. Studien u. Texte hrsg. v. J. Greving-Bonn (1906). — Archiv f. die Geschichte des Hochstiftes Augsburg hrsg. v. A. Schröder-Dillingen (1909). — Rottenburger Monatsschrift (1917, berücksichtigt die Gesch. der Diözese). —Archiv f. elsissische Kirchengesch. hrsg. v. J. Braun (1926). — Historisches Archiv des Erzbistums Köln hrsg. v. F. W. Lohmann (1928). — Dazu kommen die Organe der zahlreichen lokalen Geschichtsvereine, die hier nicht aufgeführt werden können. Für die außerdeutsche Partikulargeschichte: Beiträge zur Erforschung der orthodoxen Kirchen hrsg. von F. Haase-Breslau u. A . Hudal-Rom (1922).

3. Kirchenhistorische Einzeldisziplinen. Eigene Organe besitzen folgende: a) M i s s i o n s g e s c h i c h t e : Die katholischen Missionen (1873). Zeitschr. f. Missionswissenschaft hrsg. v. J. Schmidlin-Münster (1911); Missionswissensch. Abhandlungen hrsg. von demselben (1916, bisher 12 Hefte). Abhandlungen aus Missionskunde und Missionsgesch. hrsg. i. Auftr. des Franziskus Xaverius-Missionsvereins (1918, bisher 53 Hefte).

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Albert Ehrhard b) Patrologie u. theol. L i t e r a t u r g e s c h i c h t e : Forschungen z. christl. Literatur- und Dogmengeach. hrag. v. A. Ehrhard-Bonn u. J . P. Kirsch-Freiburg i. Schw. (1900). — Corpus Catholicorum begründet von J . Greving (1919). — Noch immer sehr wertvoll ist das Archiv f. Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters hrsg. v. H. Denifle u. Fr. Ehrle (7 Bände, 1885—1900). c) Dogmengeschichte: vgl. Forschungen (sub b). d) L i t u r g i e g e s c h i c h t e : vgl. oben die period. Publikat. der Abtei Maria-Laach. e) Hagiographie: Hagiogr. Jahresbericht hrsg. v. L. Helmling-Beuron (1901/04). f ) Ordensgeschichte: vgl. oben die Organe f. die Gesch. der Benediktiner, Franziskaner und Dominikaner. g) C h r i s t l i c h e Archäologie: Römische Quartalsschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte (begründ. 1891 v. Ant. de Waal; mit Supplementheften). h) C h r i s t l i c h e Kunstgeschichte: Archiv f. christl. Kunst (1883). Zeitschrift f. christl. Kunst hrsg. v. A. Schnütgen (1888). Die christl. Kunst hrsg. von der Gesellschaft f. ehr. K. München (1904)-

Es versteht sich von selbst, daß auch andere Einzeldisziplinen gepflegt wurden, wie z. B. die Konziliengeschichte (C. J. von Hefele, J. Hergenröther, St. Ehses, Th. Granderath). In der letzten Zeit standen die Missions- und Liturgiegeschichte im Vordergrund und nahmen einen solchen Aufschwung, daß von einer Missionsbzw. Liturgiewissenschaft gesprochen werden konnte. Die Dogmengeschichte erhielt eine Reihe von wertvollen Einzelbeiträgen; ihre einzige Gesamtdarstellung von J. Schwäne-Münster (t 1892) ist aber eher eine Dogmatik im historischen Gewände. Trotz ihrer intensiven Pflege durch akatholische Theologen hat übrigens die Dogmengeschichte noch nicht jene Form gefunden, die ihre spezifische Eigenart fordert. Hier muß das Schema: Altertum, Mittelalter, Neuzeit m. E. durch eine Gliederung ersetzt werden, die den Hauptstadien des dogmengeschichtlichen Prozesses entspricht. Das sind aber 1. die Entstehung und grundlegende Ausbildung des christlichen Dogmas in der griechischen und lateinischen Gesamtkirche des Morgen- und Abendlandes; 2. seine Erstarrung in der byzantinischen Reichskirche und den orientalischen Nationalkirchen; 3. seine Fort- und Weiterbildung in der römisch-katholischen Kirche; 4. seine allmähliche Auflösung in den akatholischen Kirchenbildungen der alten und neuen Welt. Nicht nur auf diesem, sondern auf allen übrigen Gebieten der theologischen Wissenschaft winken den katholischen Theologen hohe und wichtige Aufgaben. Möge ihrer heranwachsenden Phalanx ein günstigeres Geschick beschieden sein als jenes, unter dem die zur Rüste gehende Generation, zu der auch der Schreiber dieser Zeilen gehört, zu arbeiten und zu leiden verurteilt war!

HEINRICH MAIER PHILOSOPHIE In der Schätzung der Philosophie hat sich während der letzten fünf Jahrzehnte ein völliger Umschwung vollzogen. Noch vor vierzig Jahren ging die Rede, es sei nun mit der Philosophie zu Ende, ihr bleibe nur noch die Liquidation der Masse, d. h. der Rückblick auf die eigene Vergangenheit, die historische Beschäftigung mit den von den früheren Geschlechtern ersonnenen »Systemen«, den »Romanen der Denker«, für die man immerhin noch ein kulturgeschichtliches Interesse hatte, und darüber hinaus die Absteckung der Grenzen des menschlichen Erkennens — womit die Philosophie ihr eigenes Todesurteil unterschreiben und begründen sollte. Von dieser Stimmung ist heute nichts mehr zu spüren. Die positiven Wissenschaften selbst, und nicht allein die Geisteswissenschaften, die, vielleicht zu ihrem Nachteil, die Verbindung mit der Philosophie nie ganz durchschnitten hatten, auch die Naturwissenschaften suchen wieder engste Fühlung mit der philosophischen Arbeit. Kein Zweifel: die Philosophie ist in ihr volles wissenschaftliches Recht wieder eingesetzt. Aber sie ist geradezu populär geworden, und zwar in einem Maße, das dem nüchternen Philosophen nachgerade unheimlich zu werden beginnt. Was traut und mutet man nicht heute wieder der Philosophie zu! Nicht bloß, daß sie, wie einst in alten Tagen, wieder die Führerin des Lebens sein, daß sie zum mindesten eine Welt- und Lebensanschauung erarbeiten soll, die dem modernen Menschen einen Ersatz für den vielen verloren gegangenen religiösen Glauben zu bieten vermöchte. Und nicht bloß, daß ihr die Aufgabe gestellt wird, die große Synthese zu vollziehen, durch welche die Einheit der Wissenschaft gegenüber der weitgehenden Arbeitsteilung und Spezialisierung im heutigen Wissenschaftsbetrieb wiederhergestellt und gesichert werden soll. Der Gang der Forschung, die der Welt und dem Leben ihre Geheimnisse abzulauschen sucht, ist ein langsamer und überaus mühsamer. Von der Philosophie aber erwartet man Abkürzung des Verfahrens, rasche und abschließende Beantwortung all der Fragen, von denen sich menschliche Neugier und menschlicher Wissenstrieb an- und aufgeregt fühlen. Und wo die Philosophen von Fach zu versagen scheinen, da treten Poeten und Literaten in die Lücke. Eine üppige Dilettantenphilosophie ist emporgeschossen, die keine wissenschaftlichen Hemmungen kennt und die Welträtsel spielend zu lösen unternimmt. Anlaß zu klagen haben wir darum nicht. Auch diese Phantastik ist ein Ausfluß des hochgesteigerten Interesses, das unsere Zeit der Philosophie entgegenbringt. Hat sich also die äußere Lage der Philosophie während der letzten fünfzig Jahre recht erheblich geändert, so ist auch sie selbst inzwischen eine gänzlich andere geworden. Der große Einschnitt fällt in die Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Natürlich läßt sich bei geistigen Bewegungen eine scharfe zeitliche Grenze nicht ziehen. Ungefähr aber wurde damals die letzte philosophische Periode, die von der Mitte des Jahrhunderts bis in sein letztes Jahrzehnt gewährt hatte, durch die Philosophie der Gegenwart abgelöst. Gewiß sind seit dem Weltkrieg, dem auch in den Siegerländern tiefste seelische Erschütterungen gefolgt sind, neue philosophische Impulse hervorgetreten. Zunächst schien, nicht bloß in Deutschland,

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auch in der geistigen Region alles in die Brüche zu gehen. Aber die primitivistischen und nihilistischen Stürme von damals sind längst abgeflaut. Was geblieben ist, war schon vorher vorbereitet. O b hieraus nicht doch vielleicht mit der Zeit eine neue Gesamteinstellung erwachsen wird, die das Ende der gegenwärtigen philosophischen Generation bedeuten würde, kann nur die Zukunft lehren. Die philosophische Wandlung selbst, die sich von der vorigen zur jetzigen Generation vollzogen hat, kann geradezu als ein Umschlag ins Gegenteil bezeichnet werden. An die Stelle der naturalistischen Tendenz, die in der letzten Epoche dominiert hatte, ist eine ausgeprägt idealistische getreten, und an die Stelle der genetisch-relativistischen und agnostisch-skeptischen drängte sich zunächst eine stark rationalistische und absolutistische, d.h. eine entschieden Vernunft- und erkenntnisbejahende. Mit der emporstrebenden Vernunftphilosophie aber wich auch die pessimistische Stimmung, die immerhin eine starke Nebenströmung in der philosophischen Entwicklung der letzten Periode gebildet hatte, einer optimistischen Welt- und Lebensauffassung. Die ganze wissenschaftliche Denkweise der vorigen Generation war naturalistisch orientiert. Gleich am Anfang hatte L. Feuerbach die hochgestimmte Geistesmetaphysik Hegels, die die recht eigentlich repräsentative Erscheinung im Zeitalter des philosophischen Idealismus gewesen war, in eine Sinnlichkeitsphilosophie umgestaltet, die bald genug in den vollen Materialismus überging, und an diesen junghegelischen Materialismus hat Karl Marx seine materialistische Geschichtsauffassung angeschlossen, in der statt der Hegeischen »Idee« der Wechsel der wirtschaftlich-technischen Produktionsweise als die treibende Kraft der geschichtlichen Entwicklung eingesetzt ist. Bekanntlich ist diese Theorie in der Folgezeit als geschichtsphilosophisches, wirtschaftliches, soziales und politisches Dogma zur weltgeschichtlichen Potenz geworden. Die damalige Zeit indessen gehörte der Naturwissenschaft. Und schon war ein anderer Materialismus emporgekommen, der sich als die naturwissenschaftliche Weltanschauung einführte, der Materialismus der Karl Vogt, Moleschott, Büchner, der, unbekümmert um philosophische Einreden, die mechanisch gefaßte Materie als das Wesen der Welt und den Geist als eine »Funktion« oder ein Erzeugnis dieser Materie betrachtete. Ein langes Leben freilich war diesem Materialismus nicht beschieden, schon darum nicht, weil die denkenden Naturforscher selbst von dieser robusten Metaphysik nichts wissen wollten. Auch das aufregende Nachspiel, das durch D. Fr. Strauß', des alten Hegelianers, letztes Werk heraufgeführt wurde, blieb eine kurze Episode. Allein die Naturwissenschaft ihrerseits war inzwischen in ihr »mechanisches« Zeitalter eingetreten; sie hatte, geleitet von dem neuentdeckten Gesetz der Erhaltung der Energie, ihren Siegeszug bereits angetreten. Sie schickte sich an, auch die Tatsachenregion, die sich bis jetzt noch an entscheidenden Punkten der physikalischchemischen Erklärung entzogen hatte, das Gebiet der Lebenserscheinungen, vollends im Sturme zu erobern. Und bald bot ihr die durch Darwin neu fundierte Entwicklungslehre die Möglichkeit, einen wichtigen Teil der biologischen Probleme — das Rätsel der organischen Arten und die mit ihm eng verbundene Frage der Zweckmäßigkeit der organischen Bildungen — in Angriff zu nehmen. Daraus erwuchs mit der Zeit eine evolutionistische Philosophie, zunächst die vorsichtig-

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zurückhaltende im Ursprungsland der Entwicklungslehre, in England, dann die derbe Evolutionsmetaphysik, wie sie von E. Häckel in Deutschland ausgebildet wurde. Häckel war nicht mehr Materialist. Er rechnet mit einer schon ursprünglich beseelten Materie. Seine Weltbetrachtung ist vielmehr ein naturalistischer Monismus. Dem evolutionistischen Monismus Häckels aber hat sich nachher der energetische W. Ostwalds zur Seite gestellt, der sich noch weiter vom Materialismus entfernt, indem er nicht allein den Begriff der Materie zugunsten des Energiebegriffs völlig ausschaltet, sondern auch geneigt ist, eine besondere seelische Energieform ausdrücklich anzuerkennen. Häckel und Ostwald wurden die Vorkämpfer des neugegründeten »Monistenbundes«, der noch in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg für seine Sache eine recht lärmende Propaganda getrieben hat. Recht in Fluß gekommen war die monistische Bewegung freilich erst in unserem Zeitalter. Entsprungen aber ist sie ganz aus dem naturalistischen Geist der vorigen Generation. Charakteristisch für die wissenschaftliche Gesamtstimmung dieser Zeit ist indessen besonders, daß damals die Naturwissenschaft ganz allgemein, auch bei den Philosophen, als die Wissenschaft anerkannt und gepriesen wurde. Kein Wunder, daß sie auch den Geisteswissenschaften, die eben erst, in der romantischen Epoche, ihren Zusammenschluß und ihre wissenschaftliche Begründung gewonnen hatten, als methodisches Vorbild aufgedrängt wurde. Gesellschafts- und Volkswirtschaftslehre, aber auch Sprach-, Religions-, Kunstwissenschaft usf. sind weithin in den Bann der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise und Methodik geraten. Und selbst die Geschichte, die sich doch, frühzeitig aus der romantischen Umklammerung freigeworden, mit virtuoser Sicherheit ihre Untersuchungsmethoden geschaffen hat, blieb nicht verschont: die Leistungen der naturalistisch-soziologischen und der evolutionistischen Geschichtsphilosophie sind bekannt. Am stärksten aber hatte die Psychologie, die seit Fechner eine experimentelle Wissenschaft geworden war, unter der Abhängigkeit von der Naturwissenschaft zu leiden. Das zeigte sich nicht sowohl in der Anwendung des experimentellen Verfahrens, auch nicht in der Beschränkung auf die Psychophysik, die sich die psychologische Forschung zunächst auferlegte, wohl aber in der extrem assoziationspsychologischen Auffassung des Seelenlebens, die damals vorherrschte und später nicht mit Unrecht als mindstuff-Theorie gebrandmarkt wurde. Mit dem Naturalismus der letzten Periode nun stand ihr Relativismus im engstem Zusammenhang, d. h. das Bestreben, die geltenden Normen, Ideale und Werte in Abhängigkeitsbeziehungen zu menschlicher Subjektivität zu bringen. Und wenn dieser Philosophie nachher Psychologismus, Historismus und Evolutionismus zum Vorwurf gemacht wurden, so sind damit zutreffend die verschiedenen Richtungen bezeichnet, nach denen diese Relativierung versucht wurde. Immer sind es Nützlichkeitserfahrungen, aus denen die positivistische Philosophie, die hauptsächliche Trägerin der relativistischen Tendenzen, zunächst die praktischen Normgesetze herzuleiten suchte. Die Erfahrung selbst aber, die man hierbei als Erklärungsquelle verwandte, ist teils die individuelle, teils die gesellschaftlichhistorische, teils endlich die generell-entwicklungsgeschichtliche. Sowieso würden die sittlichen Normen, an denen am Ende alles hängt, was für den Menschen unbedingten Wert hat, ihrer Unbedingtheit entkleidet, und die Relativierung fiel



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um so radikaler aus, als sie zugleich genetische Auflösung war; denn sie war in Wahrheit heterogenetische Deutung d. h. ein psychologisches, historisches oder entwicklungsgeschichtliches Ableiten aus naturhaften Trieben und Instinkten. Am schärfsten zugespitzt hat sich das relativistische Streben im Gebiet der Erkenntnis. Daß es nicht bloß Wahrheit, sondern auch Wirklichkeit nur in bezug auf menschliches Erkennen gebe, daß in jedem Fall unserer Wissenschaft nur eine solche relative Wirklichkeit zugänglich sei, war die gemeinsame Überzeugung der Positivisten. Aber der theoretische Positivismus scheidet sich in zwei Hauptrichtungen. Die eine geht auf A. Comte zurück, der, so sehr er grundsätzlich alle metaphysischen Begriffe ausscheiden wollte, faktisch doch beider gegenständlichen Erfahrung der positiven Wissenschaft stehen blieb und in und mit dieser gewisse gegenständliche Erkenntnisformen (Kategorien) festhielt. Die evolutionistische Philosophie hat dann unter Führung H. Spencers dieser Spielart des Positivismus die Unterlage gegeben, indem sie die gegenständlichen Formen unserer Erfahrungserkenntnis als individuell angeboren, aber als generell, in der tierisch-menschlichen Entwicklung in stetiger Wechselwirkung des Empfindens und Wahrnehmens mit dem absolut Wirklichen geworden bezeichnete. Agnostisch-relativistisch indessen war auch der Positivismus der positiven Wissenschaft: das an sich Wirkliche selbst ist unerkennbar, und die Wissenschaft von dem an sich Wirklichen, die Metaphysik, ist unmöglich: erreichbar ist uns nur die in unsere Vorstellungsformen eingegangene Wirklichkeit. Sehr viel weiter ging der Positivismus der reinen Erfahrung, der einst von D. Hume begründet worden war und nun von J. St. Mill seine moderne Form empfangen hatte. Die »reine« Erfahrung ist die durchaus rezeptive, die alle spontan-noetischen Elemente von sich fernhält. Erkenntnis zu gewinnen, freilich vermochte auch dieser Positivismus nur, indem er zu den Elementen der reinen Erfahrung gewisse aus dieser assoziativ-naturhaft hervorgewachsene, teils in der individuellen Entwicklung des Einzelnen, teils in der historischen der Gesellschaft entstandene Formprinzipien hinzunahm. Am folgerichtigsten verfuhr die Theorie E. Machs, die wirklich nur die Ergebnisse der reinen Erfahrung gelten ließ und alles, was der assoziativ-individuellen, der historischen und der entwicklungsgeschichtlichen »Erfahrung« entstammt, für subjektive Zutaten hielt: rein empfangend verhalten wir uns nur in den Empfindungen, und auch der mathematische Funktionsbegriff, der allein von den oder statt der Kategorien bleibt, ist nur ein subjektiver Hilfsbegriff, der zur Ordnung der Empfindungsdaten dient, als solcher für das Erkennenwollen unentbehrlich, aber darum noch nicht objektiv gültig. Der Wirklichkeitsbegriff selbst wurde vom Positivismus der reinen Erfahrung ziemlich allgemein abgelehnt und durch den Begriff des Gegebenen ersetzt; darum ist für diesen die Metaphysik von vornherein ein Unding. Neben den Positivismus hat sich in Deutschland einst der Kritizismus gestellt, der viel weniger radikal war als jener. Er ist aus der Neukantbewegung hervorgegangen, wie sie sich in ihrem ersten, ihrem kritischen Stadium abspielte. Auch er weist mancherlei Spielarten auf. Psychologistische und historistische Erwägungen haben nur auf einen Teil der Kritizisten Einfluß gewonnen. Am nächsten berührt er sich mit dem Positivismus der positiven Wissenschaft. Nur daß er die Gültigkeit der entwicklungsgeschichtlich gewordenen Formen niemals auf die evolutionistische

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Erfahrung gründet. Relativistisch und agnostisch dagegen ist er ganz im Sinn dieses Positivismus: erkennbar sind nur die Erscheinungen; das Ding an sich, ob es nun als ein bloßer Grenzbegriff betrachtet oder als ein positives Etwas vorausgesetzt wird, ist unerreichbar, und die Metaphysik, die auch von diesen Kritizisten als dieWissenschaft vom „an sich Wirklichen" genommen wird, gehört ins Reich der Träume. Diejenige Richtung der an Kant orientierten Philosophie, die, wenigstens mittelbar, von den Erscheinungen aus zu den Dingen an sich vordringen zu können hofft, ist erst in unserem Zeitalter recht wirksam geworden. Naturalismus und Relativismus sind also in der Tat die leitenden Tendenzen der letzten philosophischen Epoche gewesen. Seit den neunziger Jahren aber sind die beiden Gegenströmungen zu beherrschender Stärke angewachsen: die idealistische und die absolutistische. Die idealistische Tendenz hat sich zunächst nach der methodologischen Seite ausgewirkt, als ein mächtiges Streben, die Geisteswissenschaft von der naturwissenschaftlichen Bevormundung loszulösen, die Eigenart und die Eigengesetzlichkeit des Geistigen zur Geltung zu bringen und der Selbständigkeit und Freiheit des Geistes gegenüber der Natur zum Recht zu verhelfen. Frühe schon hat D i l t h e y diese Bahn eröffnet und vor allem die naturalistische Geschichtsphilosophie und Soziologie bekämpft. Auch der Streit in der Nationalökonomie um den Gesetzesbegriff hat die neue Wendung vorbereitet. Hierzu kam der Kampf um das Wesen der Geschichte, um Ziel und Objekt des geschichtlichen Erkennens, in dem Windelband und Rickert wenigstens das entscheidende Problem gestellt und ins Licht gerückt haben — das Problem der historischen Verallgemeinerung. Besonders beachtenswert aber ist die Wandlung, die sich in der Psychologie vollzog. Die Ablehnung der atomistischen Seelenkonstruktion wurde symptomatisch. W. Wundt, W. James, C. Stumpf u. a. haben sich entschlossen von der Assoziationspsychologie abgewandt. Dieser stellte sich die Apperzeptions-, die Funktions- und schließlich die Gestaltpsychologie entgegen. Immer stärker wurde mit der Einheitlichkeit die aktive Seite des Seelenlebens herausgekehrt. Damit hängt es zusammen, daß damals die Parallelismushypothese wieder durch die Lehre von der dualistischen Wechselwirkung ersetzt wurde. Bereits traten auch neben die experimentelle Methode andere Verfahrungsweisen. Wundts Völkerpsychologie hat wenigstens einen bedeutsamen Anstoß gegeben. Fast noch wichtiger geworden ist indessen ein zunächst wenig gelungener Versuch Diltheys, eine beschreibende und eine erklärende Psychologie zu unterscheiden. Dabei war der ersteren die Mission zugedacht, den Geisteswissenschaften die theoretische Grundlage zu liefern. An ihre Stelle ist neuerdings die verstehende Psychologie getreten. Noch befindet sich diese zwar im Stadium des Werdens. Aber worauf sie hinauswill, ist deutlich zu merken. Bis jetzt wurden die seelischen Tatsachen in ihrem Ablauf untersucht. Aber die seelischen Erlebnisse sind Funktionen, die sich überall auf Gegenstände richten: die Vorstellungen auf Vorstellungsobjekte, die Urteile auf Urteilsgegenstände, die Gefühle aufWertobjekte, die Begehrungen auf Ziel- oder Zweckgegenstände. Und nur wenn die Psychologie auch diesen funktionellen Relationen sorgfaltig nachgeht, wird sie ihre Aufgabe lösen können. Nur dann vermag sie die grundlegende theoretische Geisteswissenschaft zu werden, die sich zu den theoretischen Teildisziplinen der besonderen Geistes-

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Wissenschaften ebenso verhält, wie die allgemeine Geschichte zu den historischen. Daß übrigens das »Verstehen« für das geschichtliche Erkennen eine analoge Bedeutung hat, wie für das psychologische, sei hier nur kurz angedeutet. Aber das Interesse des methodologischen Idealismus beschränkt sich nicht auf das historische und psychologisch-theoretische Erkennen des geistig Wirklichen oder Wirklichgewesenen, es wendet sich vielmehr mit besonderer Energie der Besinnung auf das Seinsollende zu, der normativen Arbeit am Ideal, die in der letzten Generation hinter dem genetischen Interesse mehr als billig zurückgetreten war. Und auch hier lag ein universales Problem: es galt und gilt die Autonomie des Geistes zu sichern, die Ziele, die das sittliche Wollen sich setzt, treu und unverfälscht herauszuarbeiten — eine schwierige aber dankbare Aufgabe angesichts der heteronomen Entgleisungen der vorigen Periode. Dieses normative Interesse indessen war um so stärker, als in die methodologischen Bemühungen praktisch-idealistische Tendenzen hereinwirkten. Die letzte Generation hatte dem Menschen recht geflissentlich zum Bewußtsein gebracht, daß er ein bloßes Naturwesen sei, im Grunde den Tieren qualitativ gleich, jedenfalls aber aus ihrer Reihe hervorgegangen. Jetzt war man dieser Versicherungen müde geworden, man besann sich darauf, daß es doch auch etwas gebe, was die Menschen über die Naturbedingtheit heraushebt. Und das faßte man zusammen in das Ideal einer sittlichen Kultur. Nun ringt man um einen »neuen geistigen Lebensinhalt«, wie R. Eucken sich ausdrückt, der geistvolle Vorkämpfer dieses praktischen Idealismus, der sein ganzes Leben diesem Werk gewidmet hat. Aus der abstrakten Unbestimmtheit freilich strebt man heraus in den konkreten Reichtum des Lebens. Erblickt man, mit E. Troeltsch zu reden, in der großen »Gegenwartssynthese« die Krönung der Geschichtsphilosophie, so will die Kulturphilosophie der Gegenwart vor allem auch ihre bestimmten Aufgaben vorzeichnen; sie will die Gegenwartsoder vielmehr die nächsten Zukunftsideale aufdecken. Der Menschheit von heute sollen die Wege erschlossen werden, die die Menschheit von morgen zu gehen hat. Noch ragt am Anfang Fr. Nietzsches dämonische Gestalt in unser Zeitalter herein. Aber der brutal egoistische Aristokratismus seiner Kulturphilosophie stimmt wenig zu dem ethischen Sozialismus, der seitdem zur Herrschaft gekommen zu sein scheint. Die alte Moral des »allgemeinen Besten«, des »Gemeinwohls«, die einst, in der romantischen Zeit, nicht zuletzt durch Hegel, ihren metaphysischen Unterbau erhalten, in veränderter Form aber auch die positivistische Zeit überdauert hat, hat der Gegenwart ihr dominierendes Kulturideal gegeben. Es ist die Moral, die in ihren letzten Konsequenzen von dem Einzelnen auch das volle Opfer der Persönlichkeit zugunsten der Gesamtheit fordert. Für sie ist Nietzsche mit seinem »Jenseits von Gut und Böse« der Antipode jeder sittlichen Lebensauffassung. Indessen auch Nietzsche hat ein Menschheitsideal, und die aristokratische Auslese ist für ihn nur das Mittel, um zur Verwirklichung des Ziels, zur Erhöhung des »Typus Mensch«, zu gelangen, und das Menschheitsideal selbst ist ihm zuletzt eine Gesellschaft selbständiger, kraftvoller Menschen. Auch das ist Moral, allerdings eine individualistische Moral, die aber nicht verloren ist. Wenigstens beginnt heute ein freilich nicht mehr egoistisch eingestellter ethischer Individualismus sich zu regen, ein Individualismus der sittlichen Persönlichkeit, der das soziale Interesse nicht bekämpft, sondern im

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Gegenteil aufs nachdrücklichste betont, weil der Einzelne nur in der individuellen Arbeit an der gemeinsamen Kulturaufgabe seinen Menschenberuf erfüllen kann, der aber als das Letzte und Höchste, dem auch das soziale Empfinden und Streben sich unterzuordnen hat, die Verwirklichung der persönlich-sittlichen Freiheit betrachtet. Bereits ist die Überzeugung, daß die sittliche Kultur nicht eine sachliche Leistung ist, sondern nur als das Werk einer Gemeinschaft sittlich freier Persönlichkeiten lebendig werden kann, im Begriff, den ethischen Sozialismus abzulösen. Der methodologische und der praktische Idealismus münden aus in einen metaphysischen. Die naturalistische Weltanschauung wird durch eine idealistische verdrängt. Zur selben Zeit, als der naturalistische Monismus sein aufdringliches Werben am geräuschvollsten betätigte, war er innerlich bereits überwunden. Jetzt wurde das Schlagwort vom Primat des Geistes wieder eine Macht. Und auch der Gedanke wagte sich wieder hervor, daß die Weltwirklichkeit in ihrem tiefsten Grunde G e i s t sei. Mußte unter diesen Umständen nicht die Erinnerung an die großen Tage des deutschen Idealismus wieder lebendig werden? In England, wo der letztere einst wenig Beachtung gefunden hatte, hat man zuerst wieder auf Hegel zurückgegriffen. Und noch heute ist dort Hegel der Philosoph des Tages. Auch in anderen Ländern, zumal in Italien und den Niederlanden, hat sich eine zahlreiche Hegel-Gemeinde gebildet. In Frankreich, wo die naturalistische Strömung nicht minder stark als in England gewesen war, hat H. Bergson einen metaphysischen Spiritualismus begründet, der in der geistigen Potenz die wirksame Kraft der ganzen Weltentwicklung erblickt und die anorganische Materie am Ende nur als eine schlackenhafte Ausscheidung aus diesem dynamisch-spirituellen Prozeß einschätzt. In Deutschland waren auch in der kritisch-positivistischen Zeit die Verbindungsfäden mit der idealistischen Epoche nie ganz abgerissen. Jetzt wurden die Epigonen der idealistischen Spekulation, Th. Fechner, H. Lotze, zu denen sich auch W.Wundt und in anderer Weise E. v. Hartmann gesellt hatten, philosophische Autoritäten. Neue spiritualistische Gedankenschöpfungen kamen hinzu. Und seit dem Beginn unseres Jahrhunderts geht auch in Deutschland die Parole um: zurück zur Philosophie des deutschen Idealismus! Hielt man sich zunächst auch vorwiegend an Fichte, so hat doch bald auch Hegel aufs neue Schule gemacht. Kurz, allenthalben geben metaphysisch-idealistische und spiritualistische Intentionen der Philosophie unseres Zeitalters einen wesentlichen Teil ihres besonderen Gepräges. Später als die idealistische, aber nicht weniger stark,hat die a b s o l u t i s t i s c h e Bewegung eingesetzt. Das Bedürfnis, für Leben und Handeln feste Richtungspunkte und einen unbedingt sicheren Halt zu gewinnen, stellt sich der relativierenden Verflüchtigung und Herabwürdigung der Ideale, die den Wert des Menschenlebens ausmachen, mit voller Entschiedenheit entgegen. Man glaubt wieder an ab s o l u t e Ideale und Werte. Die Verbindlichkeit des sittlichenWollens wird zu einer absoluten Geltung umgedeutet, und mit den sittlichen Idealen werden alle diejenigen, die von diesen in das Licht unbedingter Werte gerückt werden, — es sind die kulturellen Werte, Kunst, Religion, Wissenschaft, Recht, Staat und wie sie alle heißen—in dieseAbsolutheit einbezogen. Sie werden über die Region des menschlichen Begehrens hinausgehoben und als an sich geltende Werte anerkannt. Man spricht von einem sittlichen, einem logischen, einem ästhetischen, einem religiösen, einem rechtlichen Apriori. Und 6

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wo die Geltung der absoluten Werte nicht ganz auf sich selber gestellt wird, da erhält dieses Apriori seine Begründung in einer überindividuellen, überempirischenVernunft. Das altmodische Wort Vernunft, das in der Philosophie der letzten Epoche suspekt geworden war, ist wieder Mode geworden. Aber die neue »Vernunftphilosophie« ist eine Art K u l t u r p h i l o s o p h i e , und die absolutistische Tendenz berührt sich nicht nur mit der idealistischen, sie kreuzt sich auch mit ihr und greift da und dort hemmend in sie ein. Die Abneigung gegen die genetisch-historischen und psychologischenAuf lösungstendenzen hat zu einer gewissen Geschichts- und Psychologiefeindschaft, einem ausgesprochenen Antihistorismus und Antipsychologismus geführt. Das ist für die Methodologie der Geisteswissenschaften, zumal für die der geschichtlichen und der theoretischen Disziplinen, verhängnisvoll geworden. Aber es hat auch der metaphysischen Erkenntnis schwere Hemmungen bereitet: über den absoluten W e r t e n ist der W i r k l i c h k e i t ihr Recht verkümmert worden. Auffallend ist, wie nahe diese Vernunftphilosophie an die Aufklärungsdenkweise des 18. Jahrhunderts heranrückt. Auch sie zwar will auf die Philosophie des deutschen Idealismus zurückgehen. Aber gerade die Vernunftphilosophen halten sich zum Teil—man denke an Rickert, aber auch an J. Royce — mehr an Fichte als an Hegel, und es ist nicht die vorwärts gerichtete, der Romantik zugewandte, sondern die rückwärts schauende, an der Auf klärung orientierte Seite der Fichteschen Philosophie, an die sie anknüpfen. Die Mehrzahl allerdings berührt sich mit Hegel, in dessen allgemeiner Vernunft sie die Werte fundieren. Dieses Schwanken zwischen Fichte und Hegel ist besonders auch in der zweiten absolutistischen und idealistischen Phase der deutschen Kantbewegung hervorgetreten. Im Gegensatz zu Rickerts Fichtekultus ist die Marburger Schule demHegeltum wieder ziemlich nahe gekommen, undWindelband hat zuletzt für Hegel eine recht spürbare Sympathie gewonnen. Stark macht sich auch die absolutistische Tendenz namentlich in der Erkenntnisregion bemerkbar. Der skeptischen Zurückhaltung, der immer wiederkehrenden Behauptung, daß unsere Erkenntnis ganz in die Schranken unseres subjektiven Vorstellens eingeschlossen sei und niemals das an sich Wirkliche erreichen, niemals darum auch die volle Wahrheit gewinnen könne, war man bis zum Ekel überdrüssig geworden. Jetzt stellt man kurz entschlossen der Relativierung der Wahrheit den Glauben an absolute Wahrheit und Wahrheiten entgegen. Nicht um ein absolut Wirkliches müht man sich zunächst. Die Versuche, die Metaphysik des »an sich Wirklichen« zu retten, bleiben vereinzelt. Die Auseinandersetzung zwischen den idealistischen und realistischen Theorien, die Frage, ob Wirklichsein ein „unabhängig von allem Vorstellen und Denken Bestehen« oder nur ein »Enthaltensein in einem allgemeinen Bewußtsein" bedeute, wird mehr, als recht ist, zurückgedrängt. An die Stelle der Dinge an sich treten die Wahrheiten an sich. An alle unsere Urteilsüberzeugungen knüpft sich, wenn sie im Ernst vollzogen werden, das Bewußtsein ihrer Wahrheit. Aber dieses Wahrheitsbewußtsein wird nicht mehr im Sinn von Sigwarts »immanentem« Wahrheitsbegriff gedeutet: es ist nur die Art und Weise, wie wir uns eine an sich geltende Wahrheit aneignen. Die Wahrheiten an sich aber sind unabhängig von der Art, wie menschliche Subjekte sie sich zu eigen machen, und über den Wahrheiten an sich steht das, was ihnen allen gemeinsam ist, die Wahrheit an sich. So argumentieren die einen, die Vertreter des logistischen Wahrheitsabsolutismus, Th.

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Lipps, Husserl und die Phänomenologen, Meinong und die Gegenstandstheoretiker. Bradley und auch Windelband stehen dieser Position nahe. Die anderen (Rickert, Royce) betrachten als das an sich Geltende nicht eine ruhende Wahrheitswesenheit sondern die Wahrheitsnorm, das Wahrheitsgebot und dessen Zielgegenstand, den Wahrheitswert. So wie so wird die Wahrheit von der Wirklichkeit abgelöst. Mag die eine Klasse von Wahrheiten sich auf Wirkliches beziehen, die anderen sind völlig wirklichkeitsfreie Wahrheiten. In jedem Fall gründet sich die Wahrheit ihrerseits in sich selbst. Und die philosophische Aufgabe ist, den Aufbau der Wahrheiten und der Wahrheit, die Formgesetzmäßigkeiten, die hier walten, zu ermitteln. Die Absolutheit der Wahrheit oder der Wahrheitsnorm aber wird wiederum entweder als ein „ganz auf sich Stehen" oder als ein »von einer allgemeinen, überempirischen und überindividuellen Vernunft Gesetztsein« gefaßt. Das ist philosophischer Rationalismus vom reinsten Wasser. Begreiflich genug, daß sich ihm gegenüber wieder der alte Widerspruch regt. Der Positivismus ist in modifizierter Gestalt zu neuem Leben erwacht. Aus seinem Gedankenkreis ist auch die Wahrheitstheorie erwachsen, die nicht bloß keine absolute, sondern überhaupt keine objektive, ursprüngliche Wahrheit anerkennt. Der »Pragmatismus« liegt ganz in der Bahn des alten Positivismus: wie dieser die Sittlichkeit, so führt jener die Wahrheit auf die Nützlichkeit zurück: was wir Wahrheit nennen, ist nichts anderes als die Nützlichkeit, die Werthaftigkeit der Vorstellungen für uns. Einschneidender indessen als der Pragmatismus, dem auch die vielberedete Als-Ob-Philosophie Vaihingers nahe steht, hat eine andere Bewegung gewirkt, die, seit längerer Zeit vorbereitet, erst seit dem Weltkrieg ganz in Gang gekommen ist, eine unmittelbare Reaktion gegen den abstrakten Vernunftkultus, die bereits recht umfassende Dimensionen angenommen hat. An die Stelle der Vernunft wird die »Intuition« und das »Erlebnis« gesetzt. In der Einleitung zu meiner »Philosophie der Wirklichkeit« habe ich dargelegt, wie es dahin gekommen ist, wie Bergsons metaphysische Intuitionsmethode mit Anregungen aus der Stefan George- Schule und mit der von einem Teil der Phänomenologen umgestalteten phänomenologischen Wesensschau Husserls zusammengewirkt hat, wie aber vor allem neue mystische Strömungen nach dieser Richtung gewiesen haben. Unbestreitbar ist, daß im Arbeitsleben jedes produktiven Forschers und Denkers plötzliche, scheinbar unvermittelte Einfälle, die wir auch Intuitionen nennen, das Beste tun. Sicher ferner ist, daß das gesamte Universum als eine große Individualität, wie alles Individuelle, zuletzt nur dem anschauendvorstellenden, nicht dem begrifflichen Erkennen zugänglich ist. Aber die Intuition, um die es sich hier handelt, ist etwas ganz anderes. Sie will in unmittelbarem Eindringen das tiefste Wesen der natürlichen und geistigen Welt ergründen. Durchaus berechtigt ist an sich auch der Drang zum mystischen Erleben. Ja, die Mystik, das Verlangen, mit Gott wesenseins zu werden, ist und bleibt der Kern des religiösen Lebens. Aber zu unterscheiden ist immer zwischen der Wirklichkeit der mystischen Glaubenserlebnisse und ihrer Wahrheit. Und diese Grenze ist von der mystischen Erlebnisphilosophie nicht immer gezogen. Was sie uns bietet, ist nichts anderes als eine Summe von Phantasiegebilden, die aus starken Affekten herausgeboren sind. Die suggestive Kraft der Affekte gibt dem willig Glaubenden die Illusion der Wahrheit. 6»

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Bequem allerdings ist diese Philosophie. Wo strenges Forschen und Denken not tut, läßt sie die dichtende Phantasie walten. Aber sie ist ein Verrat an der ernsten Wahrhaftigkeit. Und seit sie im Schwange geht, hat in der philosophischen Welt eine erschreckende Kritik- und Steuerlosigkeit Platz gegriffen. Was heute auch in Deutschland die Glaubensempfänglichkeit eines modernen »gebildeten« Menschen an Absurditäten verdauen kann, hätte noch vor dreißig Jahren niemand für möglich gehalten. Ich brauche nur an die Steinersche Anthroposophie zu erinnern. Noch bedenklicher ist, daß auch unter den deutschen Philosophen neuerdings die okkultistische und spiritistische Bewegung um sich zu greifen beginnt — von der Wiederkehr des astrologischen Aberglaubens ganz zu schweigen. Die Intuition schwelgt im Irrationalen. Nichts ist für die heutige Lage bezeichnender. Vom Vernunftabsolutismus zum Irrationalismus! E i n Gutes freilich hat diese Wendung gebracht. Die Abkehr von der Wirklichkeit, die den Absolutismus in die Lage brachte, sich in unfruchtbarem Formalismus zu verlieren, beginnt zu schwinden. Ein starker Drang zur Wirklichkeit beherrscht heute das philosophische Denken: die Philosophie besinnt sich wieder auf ihre metaphysische Aufgabe. Und diese Umkehr ist um so hoffnungsvoller, als die Metaphysik heute nicht mehr in dem engen Sinn der agnostischen Zeit gefaßt wird. Auch die Phänomenologen haben sich neuerdings der Metaphysik oder, wie sie mißverständlicherweise sagen, der »Ontologie« zugewandt. Aber ihre intuitive Verfahrungsweise, die Methode der »gegenständlichen« Betrachtung, hat bis jetzt nur zur Wiederaufnahme des alten naiven Realismus geführt, und das ist nicht einmal in unserer Zeit ein Novum: der amerikanische Neorealismus z. B. ist hier längst vorangegangen. Daß das Wirklichkeitsproblem wieder in den Vordergrund gerückt wird, ist immerhin ein Fortschritt. Aber wenn man diesen als eine Wendung der Philosophie vom Subjekt zum Objekt charakterisieren will, so offenbart dieses Schlagwort die ganze Gefahr. Die in den letzten zwei Jahrhunderten gewonnenen Einsichten kann die heutige Philosophie nicht ungestraft ignorieren. Das Wirklichkeitsproblem läßt sich nun einmal durch rein gegenständliche Betrachtung nicht vollständig lösen. Die der Wirklichkeit unlösbar anhaftende Beziehung zum Subjekt, zu möglichem Vorstellen und Denken, bleibt hierbei unbeachtet. In dieser Beziehung aber liegt der Schlüssel zum erkenntnistheoretischen Wirklichkeitsverständnis: nur das Eindringen in das Wesen der Erkenntnisfunktionen und ihre Beziehung zu ihren Gegenständen vermag das auszeichnende Element der letzteren, das Wirklichkeitsmoment, begreiflich zu machen. Insofern ist es der Weg von der Wahrheit zur Wirklichkeit, den wir zu gehen haben. Diese erkenntnistheoretische Ergründung des Sinns des Wirklichseins aber ist der einleitende und grundlegende Teil der Metaphysik. Diese selbst ist und bleibt die abschließende Wirklichkeitswissenschaft. Sie hat aber nicht etwa den Inhalt der Weltwirklichkeit zu erforschen: der bleibt für immer den positiven Wissenschaften vorbehalten. Sache der Metaphysik vielmehr ist es — ich kann das hier nur andeuten —, die gegenständlichen, d. h. die kategorialen und systematischen Formen, zuletzt die formale Gesamtstruktur der Welt herauszuarbeiten. Das ist die Wirklichkeitsphilosophie. Noch wirkt in unseren Tagen die idealistische Bewegung in alter Kraft weiter. Sie hat ihr Ziel noch nicht ganz erreicht. Noch ist ja nicht einmal die Aufgabe

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gelöst, die elementaren Formen der geistig-gesellschaftlichen Wirklichkeit zu ermitteln und kritisch zu fixieren. Bereits aber ist die idealistische Bewegung in eine ähnliche Einseitigkeit hineingeraten, wie einst die naturalistische. Sie ist im Begriff, mit der Naturwissenschaft in ernsthaften Konflikt zu kommen. Die letztere hat inzwischen einen ungeheuren Aufschwung genommen. Welch gewaltige Umwälzungen sich insbesondere in der Physik vollzogen haben, ist bekannt. Nach dem Vorbild der Physik aber hat das Naturerkennen überhaupt begonnen, sich über seine Grundlagen und letzten Voraussetzungen klar zu werden. So geht es im ganzen ruhig seinen methodischen Gang, ohne die Neigung, seine Kompetenz zu überschreiten. Auch die Naturforscher betrachten heute ihre Wissenschaft nicht mehr als die Wissenschaft. Die Übergriffe kommen allein von idealistischer Seite. Die Versuche, geisteswissenschaftliche Methoden und Kategorien in die Natur hineinzutragen, sind nicht mehr selten. Hierzu gehören letzten Endes auch die neovitalistischen Bestrebungen, die sich in unserem Zeitalter wieder hervorgedrängt haben. Die Philosophie aber hat allen Anlaß, dem drohenden Streit vorzubeugen. Sie wird sich hüten müssen, den Gegensatz von Natur und Geist dadurch auszugleichen, daß die beiden gewaltsam einander angenähert werden. Die Dualität ist vielmehr in voller Schärfe festzulegen. Die Metaphysik hat die Formstruktur der beiden Welthälften in ihrer Eigenart zu ermitteln. Indem sie aber auch den eigentümlichen Bau der geistigen Wirklichkeit aufdeckt, wird sie zugleich auf das Band treffen, das die beidenWelten zur Einheit des Universums zusammenknüpft. Die geisteswissenschaftliche Arbeit selbst freilich sorgt sich, dabei bleibt es, nicht bloß um das Seiende, sondern auch um das Seinsollende. Diese Reflexion aber strebt hin auf ein umfassendes Ideal sittlich-geistiger Kultur, deren Träger die sittlichen Persönlichkeiten sind, ein Ideal, das in seinem Grundelement das Menschheitsideal ist, dessen besonderer Inhalt aber sich von Generation zu Generation wandelt, so gewiß jede Zeit ihre eigene Mission zu erfüllen hat. Und hier ist es nun auch, wo die Dilettantenphilosophie am Platze ist. Wer immer den Beruf fühlt, seiner Zeit den Weg des Ideals zu zeigen, Literaten, Künstler, Dichter, Staatsmänner, Historiker, Soziologen, Theologen, Juristen, Nationalökonomen, Pädagogen — sie alle mögen mitarbeiten an der Lösung der großen Aufgabe: dem Ethiker vom Fach bleibt immer die methodisch-kritische Besinnung nicht bloß auf die sittlichen Tendenzen seiner Generation sondern auch, und zuerst, auf die k o n s t a n t e n Ziele des sittlich-kulturellen Wollens. Dem Bedürfnis aber, für die menschlichen Werte und Ideale einen sicheren Rückhalt zu finden, wird Erfüllung, indem diese in den metaphysischen Rahmen der geistigen Wirklichkeit hereingestellt werden. Auf diese Weise wird uns zugleich die Gewißheit, daß das Beste, was in uns lebt, Ewigkeitswert hat. Indem wir jedoch die jeweiligen Ergebnisse der positiven Wirklichkeitsforschung und den jeweiligen Ertrag der normativ-ethischen Besinnung in das Weltbild der Metaphysik einbeziehen, gewinnen wir das, was wir eine oder vielmehr die wissenschaftliche Welt- und Lebensanschauung nennen können.

EDUARD SPRANGER PÄDAGOGIK Die klassische Epoche Deutschlands hat nicht weniger als 7 Pädagogen von überragender Bedeutung hervorgebracht: Herder und Wilh. v. Humboldt, Pestalozzi — Fichte — Froebel, Herbart und Schleiermacher. Die große schöpferische Bewegung von 1770—1830 war nicht nur eine literarische und philosophische, sondern eine Bildungsbewegung im höchsten Sinne, die bis zum sittlichen Läuterungs- und zum religiösen Erlösungsgedanken anstieg. Fast alle ihre Mitträger: Philosophen und Dichter, Historiker und Philologen, Staatsmänner und Juristen haben auch eine pädagogische Bedeutung. Trotzdem ist es nur bei Herbart und Schleiermacher zum Ausbau eines wissenschaftlichen pädagogischen Systems gekommen. Mit dieser Unabgeschlossenheit der Theorie hängt es wohl zusammen, daß zu dem Zeitpunkt, mit dem unsere Darstellung einsetzt, um das Jahr 1880, die Pädagogik an den Universitäten noch nicht als selbständige Wissenschaft geachtet wurde. Sie kam an ihnen in vierfacher Form, immer aber ziemlich nebenbei, zur Geltung: 1. als Anhang zur praktischen Theologie — ein Erbe vor allem der pietistischen Zeit; 2. als Zweig der praktischen Philosophie, und zwar meist nur als ziemlich unerwünschte Lehrverpflichtung; 3. als gelegentliche praktische Ausstrahlung der klassischen Philologie, gemäß der Nachwirkung der neuhumanistischen Bewegung auf den höheren Schulen; damit stand endlich 4. in Verbindung der Lehrauftrag für Gymnasialpädagogik an erfahrene Schulräte und Schulmänner. Der von ihnen — nach dem Muster von F. A.Wolfs »Consilia scholastica« — geschaffene Literaturtypus »Gymnasialpädagogik« erhob keine wissenschaftlichen Ansprüche (z. B. Jäger, Schräder, Schiller, Matthias, Münch, Cauer.) Nennenswerte Neuschöpfungen auf dem Gebiete der philosophischen Pädagogik kamen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr empor. Ja auch der innere Zusammenhang mit der klassischen deutschen Pädagogik war um 1880 so gut wie ganz abgerissen. Nur ein pädagogisches System: das Herbartische, hatte zu einer großen Schulebildung geführt und nahm beinahe eine Monopolstellung ein. Seine Vertreter an den Universitäten waren Stoy, Ziller, Rein und Otto Willmann. Gerade in den 80er Jahren setzte sich die sorgfaltig durchgefeilte, aber allmählich scholastisch werdende Methodik der Herbartianer auch im höheren Schulwesen in weitem Umfange durch. Ein Sammelwerk wie die von O. Frick 1884 begründeten »Lehrproben und Lehrgänge« kennzeichnet die enge Auffassung von den Aufgaben der Pädagogik, die man damals hegte. So bedeutet der Aufschwung der wissenschaftlichen Pädagogik in der Zeit von 1880—1930 fast eine Neuentstehung, obwohl sie ohne die Wiederanknüpfung an die Geistesfülle jener klassischen deutschen Pädagogik nicht möglich gewesen wäre. Natürlich besteht immer ein viel verflochtener Zusammenhang zwischen der allgemeinen geistigen und gesellschaftlichen Bewegung der Zeit, ihren praktischpädagogischen Versuchen im Erziehungsleben und der teils voraneilenden, teils das konkrete Tun zur Besinnung bringenden Theorie. Der wesentlichste Ertrag dieses halben Jahrhunderts liegt darin, daß die Pädagogik als wirkliche Erziehung

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wie als Theorie aus der einseitigen Bindung an die Schule befreit und in den vollen Lebensprozeß der Kultur hineingestellt wird. Trotzdem wollen wir die Gliederung dieses Vorganges an 2 Schulkonferenzen orientieren, die ihrerseits wieder Symptome tiefer liegender Gesamtveränderungen in der Kultur sind: an der preußischen Schulkonferenz von 1900 und an der Reichsschulkonferenz von 1920. Es ergeben sich somit 3 Perioden: 1880—1900, 1900—1920 und 1920—1930. I (1880—1900) A) Im pädagogischen Leben der beiden letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts steht das Interesse an den höheren Schulen im Vordergrund. Äußerlich gesehen, ging der Kampf um die Aufhebung des sog. »Gymnasialmonopols«, d. h. um die Frage, welche neunstufigen Schulen die Berechtigung zum Universitätsbesuch erteilen dürften. Dieser Kampf endete auf der Schulkonferenz von 1900 mit der Erklärung des Prinzips der Gleichberechtigung von Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule. Etwas tiefer gesehen, handelte es sich um die Auseinandersetzung zwischen Humanismus und Realismus. Sie verlief im 19. Jahrhundert so, daß man den allgemeinbildenden, den persönlichkeitsbildenden Wert auch der Naturwissenschaften und modernen Sprachen betonte, um einer bloß utilitarischen Auffassung von der Schulbildung zu entgehen. Den tiefsten Gegensatz, der hinter diesen Diskussionen lag, erkannte man damals noch nicht. Heute sehen wir in diesen kleinen Schulfehden ein Stück der großen Auseinandersetzung zwischen westlichem Positivismus und deutschem Idealismus, die bis in die Gegenwart fortdauert. Auch Nietzsches, P. de Lagardes und Langbehns Anteil an der Umformung der Bildungsidee blieb in jenem Zeitraum ziemlich unbemerkt. Erst nach 1920 sind diese verhallenden Stimmen nachträglich akzentuiert worden."^ Im Volksschulwesen, das in Preußen durch die »Allgemeinen Bestimmungen« von 1872 von dem Geist der Stiehlschen Regulative befreit worden war, wurde fleißig gearbeitet. Neue Gedankenrichtungen aber traten nicht auf; vielmehr bildete sich hier die heute — manchmal allzusehr — angegriffene Unterrichts- und Lernschule heraus, die das neue Jahrhundert zu überwinden suchte. Das Fortbildungsschulwesen wurde von Oskar Pache bewußt auf das Berufsprinzip umgestellt — zunächst ein Ausdruck für die wachsenden Bildungsbedürfnisse in Handwerk und Industrie. Das außerschulische Bildungswesen spielte — abgesehen von der gerade jetzt erheblich aufblühenden Pflege der Wissenschaft — beinahe gar keine Rolle. Die spärlichen Volkshochschulen standen überwiegend unter der geistigen Nachwirkung Alexander von Humboldts. B) Literarisch hat diese Epoche zwar eine ungeheure Flut von Programm- und Reformschriften, speziell auch für die Fragen der Volksschulgesetzgebung hervorgebracht. Wissenschaftlich aber ist sie erstaunlich unproduktiv. Die' eigentlich systematische Pädagogik steht zunächst noch ganz im Banne Herbarts. Diese Richtung erzeugt allerdings im Bunde mit dem Neuthomismus ein pädagogisches Werk von Geist und Gehalt, nämlich Willmanns »Didaktik als Bildungslehre« (2 Bde. 1882—1889). Das Bildungsproblem wird hier in großem historischem Zusammenhange gesehen. Auch der systematische Teil greift über

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die bloße Schulpädagogik hinaus. Diesem Werk ist dem sachlichen Charakter nach auch Wilhelm Reins große »Pädagogik in systematischer Darstellung« anzureihen, obwohl sie erst 1902/06 erschienen ist. Reins charaktervolle Lebensarbeit greift schon deutlich in soziale Probleme hinüber und hat auch der Volkshochschulbewegung nachhaltige Anstöße gegeben. Zunehmend machte sich aber doch eine Abwendung von Herbarts Grundgedanken bemerkbar. Die Kritik (z. B. Ostermann, Linde, Rißmann) richtete sich vorwiegend gegen seinen Intellektualismus und Individualismus (beides traf vielleicht mehr die lebenden Herbartianer als genau Herbarts Meinung), ganz zentral aber gegen die Grundlehre vom erziehenden Unterricht, d. h. von der Erziehung allein durch Unterricht und vom Unterricht allein als Erziehung. Nur eine philosophische Richtung war in jenen philosophiefeindlichen Jahrzehnten stark genug, einen neuen Ansatz pädagogischer Gedankenbildung hervorzubringen: der Neukantianismus. Unter den Neukantianern wieder aber hat nur einer ein primär pädagogisches Interesse gehabt, das in einem echten und starken Ethos wurzelte: Paul Natorp. Seine »Sozialpädagogik« von 1898 ist das einzige bedeutende Werk zur wissenschaftlichen Pädagogik aus der Periode, von der wir hier reden. Heute erscheint es uns seltsam aus sehr heterogenen Bestandteilen zusammengestückt. Historisch lehnt es sich an Plato, Pestalozzi und Kant an. Sachlich ist es die Empörung der Willenstheorie gegen reinen Verstandeskultus (Intellektualismus), der Arbeitsidee gegen den Primat des Unterrichts, der Erziehung durch Gemeinschaft und zur Gemeinschaft gegenüber dem Ideal der selbst genugsamen Persönlichkeit. Gerade in der letzten Hinsicht aber blieb eine damals nicht zu bewältigende Unklarheit. Denn der Gedanke: »von der Heteronomie zur Autonomie« bedeutete im Grunde nur eine neue Fassung der individuellen Selbständigkeit und Selbsttätigkeit. Es fehlte diesem System der Blick für die geschichtliche Geistesbewegung und für die konkrete Gegenwartssituation. Das Interesse an bloß methodischen, bloß erkenntnistheoretischen Konstruktionen herrschte noch vor. Doch war die Wiederbelebung Pestalozzis, die Natorp versuchte, von größter Bedeutung. Im ganzen war es noch eine naturwissenschaftlich denkende Generation, die die beiden Jahrzehnte von 1880—1900 beherrschte. Sie bereitete die psychologische Fundierung der Pädagogik vor, die bis zum großen Kriege die Gedankenrichtung bestimmte, gewiß nicht ohne inneren Zusammenhang mit dem Naturalismus und Impressionismus der gleichzeitigen Kunst. In der nicht von Kant beeinflußten Philosophie war das psychophysische Problem, das Weber und Fechner formuliert hatten, die Hauptangelegenheit. Ein Physiologe war es, der das grundlegende Buch zur Kinderpsychologie schrieb. Nicht zufallig aber behandelte Wilhelm Preyers »Seele des Kindes« (zuerst 1883) nur das 1. bis 3. Lebensjahr. Für die späteren Altersstufen reichten die Voraussetzungen nicht aus. Die weiteren Versuche auf diesem Gebiet, die bis 1900 folgten, sind noch unsicher und tastend. Wilhelm Ament verdient jedenfalls anerkennende Erwähnung. Weit mehr als die Physiologie hätte die Biologie zu dem Problem der Jugendentwicklung und -erziehung beitragen können. Frankreich, England und Amerika schlugen Wege in dieser Richtung ein. Die Werke von Spencer, Bain, Romanes, Ribot und James

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wurden ins Deutsche übersetzt. Aber sie hatten im Lande der Humanitätsidee eine verhältnismäßig geringe Wirkung. Nur die geistvollen Schriften von Karl Groos, die aber z. T . schon der nächsten Epoche angehören, haben dauernd befruchtend gewirkt. Für das Ringen des alten deutschen historischen Bewußtseins mit dem neuen westlichen Entwicklungsgedanken ist charakteristisch Diltheys Akademieabhandlung »Über die Möglichkeit einer allgemeingiltigen pädagogischen Wissenschaft« (1888), die von Schleiermacher und Spencer beeinflußt ist, aber keine unmittelbare Wirkung hatte. Das größte Denkmal wissenschaftlichen Geistes aus jener Zeit ist F. Paulsens »Geschichte des gelehrten Unterrichts« (1. Aufl. in 1 Bande 1885. — 2. Aufl. 2 Bde. 1896/7). Dies bis heute nicht übertroffene Werk ist durchaus von Gegenwartsproblemen her unternommen. Es sollte — roh gesagt — eine geschichtliche Rechtfertigung des modernen Gymnasiums, des Realgymnasiums, sein. Aber dem Verfasser selbst ging dabei doch die ungeheure antike Tradition, besser: die fortzeugende Fruchtbarkeit der Antike im deutschen Bildungsleben erst ganz auf, und so gelangte er mehr und mehr zu einer gerechten Anerkennung des altsprachlichen Gymnasiums neben den neuen Formen der höheren Schule, denen er auch einen »humanistischen« Charakter im modern erweiterten Sinne zusprach. Zuletzt beschäftigte ihn die Gestalt Wilhelm von Humboldts, dessen Gesicht nach rückwärts und nach vorwärts er gewiß tief verstanden hätte, wenn ihm dazu noch die Zeit vergönnt gewesen wäre. Theobald Zieglers »Geschichte der Pädagogik« (1894) ruht nur teilweise auf eigenen Forschungen und trägt mehr den Charakter eines Lehrbuches. — Das deutsche historische Bewußtsein kam auch in der Gründung eines ehemaligen Volksschullehrers zum Ausdruck: Karl Kehrbach rief 1890 die »Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte« ins Leben. Sie schuf ein achtungswertes Gegenstück zu den von Stein und Pertz inaugurierten »Monumenta Germaniae Historica« durch die Herausgabe der »Monumenta Germaniae Paedagogica«. In ihren bis heute (1930) rund 60 Bänden von Quellenpublikationen und Darstellungen und in ihren Zweigunternehmungen ist neben manchem toten Rohmaterial auch ungemein Wertvolles zutage gefördert worden. Diese Schöpfung allein gibt dem einigermaßen unproduktiven Charakter der pädagogischen Wissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts ein nicht gering zu schätzendes Gegengewicht. Gewiß haben sich seitdem die Gesichtspunkte der Geistesgeschichte ungeahnt vertieft. Es ist zu beklagen, daß nur ganz enge Kreise sich das aktive Interesse für den Wert der Bildungsgeschichte, Schul- und Schulverfassungsgeschichte bewahrt haben. Von Handbüchern für die Praxis abgesehen, ist in dieser Epoche ein großes pädagogisches Sammelwerk erschienen, das ebenfalls noch dem Zusammenhang der Herbartischen Schule angehört: Reins »Enzyklopädisches Handbuch der Erziehung« (1. Aufl. 7 Bde. 1895—99. 2. Aufl. 9 Bde. I902ff.). Wissenschaftlich erreicht es nicht ganz die Höhe der älteren »Enzyklopädie des gesamten Erziehungsund Unterrichtswesens« von K. A. Schmid, die noch aus dem Kreise der christlichgymnasialen Bewegung hervorgegangen und 1859—1876 in 1., 1876—1887 in 2. Aufl. erschienen war. Von demselben Herausgeber K. A. Schmid wurde ein zweites Sammelwerk erst in den neunziger Jahren unternommen: »Die Geschichte



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der Erziehung von Anfang an bis auf unsere Zeit«, in 5 mehrfach untergeteilten Bänden. Die Beiträge sind von sehr ungleichem Wert. Für die Geschichte der Erziehung im Mittelalter ist — abgesehen von F. A. Spechts 1885 erschienener »Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland von den ältesten Zeiten bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts« — die Darstellung von Masius im 2. Bande des genannten Sammelwerkes bis heute die einzige Gesamtübersicht, die wir besitzen. Auf dem Gebiete des Zeitschriftenwesens war von großer Bedeutung die Gründung der »Deutschen Schule« im Jahre 1897, die R. Rißmann im Auftrage des »Deutschen Lehrervereins« herausgab. Sie wurde von Anfang an der Ort des Kampfes gegen den einseitigen Herbartianismus und verfolgte alle wichtigen pädagogischen Reformbestrebungen unter besonderer Betonung der zukunftsreichen Arbeitsschulidee. Für die höheren Schulen standen die 1898 von Ilberg und Richter übernommenen »Neuen Jahrbücher für Philologie und Pädagogik« im Vordergrund. I I (1900—1920) A) Hochschulen, Forschungsinstitute und höheres Schulwesen standen zu Beginn des neuen Jahrhunderts in Preußen unter dem schöpferischen Verwaltungseinfluß von F. Althoff. Neben ihm spielte bis zu dem gemeinsamenTodesjahr 1908 Friedrich Paulsen im deutschen Bildungswesen die Rolle des geistigen Führers. Auf dem Gebiet der höheren Schulen blieb es nicht bei dem Prinzip der Gleichberechtigung für den Hochschulbesuch. Vielmehr fallt in den Zeitraum von 1900 bis 1920 der entscheidende Teil des Vorganges, der die alte Gelehrtenschule endgiltig in eine Gebildetenschule verwandelt. Die Frauenbewegung erreicht ihre wesentlichen schulpolitischen Ziele: 9-stufige höhere Schulen und Immatrikulationsberechtigung für Mädchen. Daneben entwickeln sich die beruflichen Frauenschulen stärker: die sozialen Ausbildungswege treten neu hinzu. In der Volksschule macht sich jetzt erst der Einfluß der künstlerischen Bewegung vom Schluß des 19. Jahrhunderts bemerkbar: Symptom dafür sind die Kunsterziehungstage in Dresden (1901), Weimar (1903) und Hamburg (1905) und die Ausstellungen unter dem Motto: »Kind und Kunst«. Es regen sich — besonders von Hamburg und anderen Hansestädten her — die ersten Anzeichen des pädagogischen Impressionismus und Expressionismus, die im folgenden Zeitabschnitt noch allgemeiner hervortreten werden. Kerschensteiner veröffentlicht 1905 seine umfangreichen Münchener Untersuchungen über »die Entwicklung der zeichnerischen Begabung«. Durch seine vorbildliche schulorganisatorische Tätigkeit empfangt vor allem das Berufsschulwesen einen starken Antrieb und wird in nähere Verbindung mit den Bildungsbedürfnissen wie den Bildungswerten der Handarbeit im weitesten Sinne gebracht. Aber auch auf außerschulischem Gebiete regen sich ganz neue Bewegungen. Das Zeitalter, dem die schwedische Schriftstellerin Ellen Key etwas sentimental den Namen: »Jahrhundert des Kindes« gegeben hatte, setzte sogleich mit einer höchst eigenartigen Jugendbewegung ein. Sie schuf der Altersklasse von 14 bis zu 21 Jahren eigentümliche Lebensformen, in starker wechselseitiger Berührung mit den neuen Landerziehungsheimen, die durch den Geist von G. Wyneken und

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H. Lietz ihr Gepräge erhielten. Der Gemeinschaftsgedanke dieser Kreise, ihr beseeltes Volksverständnis und dann das tiefgreifende Kriegserlebnis bereiteten den Boden für die allenthalben aufkommenden Volkshochschulbestrebungen neuen Stiles. Überhaupt hat der Krieg die pädagogischen Kräfte natürlich stark auf die Erziehung durch Staat und Volk und für Staat und Volk hingelenkt (vgl. meine Schrift: 25 Jahre deutscher Erziehungspolitik (1890—1915) Berlin 1915). Der Kampf gegen den Individualismus beginnt. Die neuen Bindungen nach einem Jahrhundert von Emanzipationsbewegungen sieht man zunächst nur unter dem gefühlsmäßigen Zeichen »Gemeinschaft« (im Sinne von Tönnies). Innerhalb dieses Gemeinschaftsrahmens freilich blühen Individualitätskultur und liberalste Freiheitsideen vorläufig ungehemmt weiter. B) Die pädagogische Theorie trägt entsprechend diesen vielseitigen Wandlungen in der Erziehungswelt und der Welt überhaupt stark gegensätzliche Züge. Ihr unbestimmtes Suchen äußert sich vor allem in den 3 Schlagworten: »Alles vom Kinde aus«, »Sozialpädagogik« und »Arbeitsschule«. Nur ganz allmählich kommt es seit 1920 zur Klärung der vielfaltigen Motive, die mit diesen Namen gemeint sind. Das erste Schlagwort betrifft die psychologische Wendung der Erziehung, mit der der Impressionismus der »Erlebnispädagogik« und der Expressionismus der »Ausdrucksbildung« verbunden sind. — Unter Sozialpädagogik versteht man ziemlich ungeklärt a) Abhängigkeit der Erziehung von der bestehenden Gesellschaftsordnung und ihren Formen überhaupt (Soziologische Pädagogik), b) Lehre von den spezifischen Gesellschafts- und Gemeinschaftsformen, in denen sich der Erziehungsvorgang abspielt (Pädagogische Soziologie), c) Hineinstellung der Jugenderziehung in die Jugendgemeinschaft und ihre plastisch bildenden Kräfte (Sozialpädagogik: i. e. S.), d) Erziehung f ü r die Gesellschaft, insbesondere auch für den Staat (Erziehung zum Gemeinschaftsgeist, antiindividualistische Zielsetzung), e) Erziehung der sozial Gedrückten und Gefährdeten. — D i e A r b e i t s s c h u l e wird anfangs stark im Sinne des Bildungswertes manueller Arbeit gedeutet; später wird die geistige Arbeit (im Gegensatz zum passiven Lernen) stärker betont. Anfangs überwiegt in beiden Beziehungen ein künstlerischer Expressionismus; später kehrt man zum Wert exakten Gestaltens und sachgesetzlich gebundener Leistung zurück. Der gemeinsame Gegner, gegen den sich die Sozialpädagogik und die Arbeitsschulidee wenden, ist Herbarts Lehre vom erziehenden Unterricht und von der Bildung des Charakters vorwiegend durch den Gedankenkreis. Alle diese Themata werden in einer Flut von Zeitschriftenartikeln, Broschüren und Sammelwerken behandelt, denen nur selten ein wissenschaftlicher Wert zukommt. Gemäß der Führerstellung, die immer mehr an Georg Kerschensteiner übergeht, ist auch seinen kleinen Schriften in ihren vielen, immer verbesserten Auflagen besondere Bedeutung eigen. Seine Aufsatzsammlung »Grundfragen der Schulorganisation« (zuerst 1909) gibt ein anschauliches Bild von den Fragen, die unmittelbar vor dem Kriege lebendig waren. Neben ihm übte Hugo Gaudig für die Persönlichkeitspädagogik und die Methodik der geistigen Schularbeitsgemeinschaft eine stark erweckende Wirkung (»Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit«, zuerst 1917). Seine aphoristische Schreib- und Denkweise strebt aber nirgends wissenschaftliche Begründung und systematische Zusammenhänge

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an. Für die ethische Erziehung fanden eine Zeitlang F. W . Försters Schriften starke Beachtung. Die eigentliche philosophische Pädagogik dieses Zeitraums ist in drei Richtungen gespalten. Dem vordringenden Positivismus entspricht die psychologische Pädagogik, die das Bildungsverfahren noch großenteils nach dem Muster der Technik deutet. Die Idealsetzung (die normative Seite) steht noch ganz unter dem Einfluß des Neukantianismus. Die Verbindung beider zu einer Pädagogik, die die Erziehung im Zusammenhang der ganzen Kultur und Geisteswelt (»noologisch«) betrachtet, kündigt sich nur in gelegentlichen Versuchen an, die meist von Euckens Philosophie herkommen. Diltheys historisch-geisteswissenschaftliche Betrachtungsweise kommt vorläufig nur in Vorlesungen zur Geltung. In der Entwicklung der psychologischen Pädagogik von 1900—1920 spiegelt sich die zunehmende Schwerpunktverlegung von der naturwissenschaftlichen Denkweise zur geisteswissenschaftlichen. Der führende Psycholog der Zeit, Wilhelm Wundt, machte selbst diese Bewegung von einer ausdrücklich physiologischen Psychologie zur Entwicklungs-, Völker- und Kulturpsychologie in bewundernswerter Weise mit. Auf der Grundlage seiner Psychologie ruhte ein damals viel gelesenes charakteristisches Buch von Paul Barth: »Die Elemente der Erziehungsund Unterrichtslehre«(zuerst Leipzig 1906), in dem noch ganz die alte Einteilung in Willens-, Gefühls- und Verstandesbildung maßgeblich ist. Die größten Hoffnungen aber setzte man damals auf die Anwendung des Experimentes zur wissenschaftlichen Erforschung und Begründung pädagogischer, vor allem didaktischer Methoden. Im extremsten Falle hoffte man sogar, wie in Amerika, die Erziehung den allgemeinen Methoden der psychotechnischen Erkundung und Beeinflussung unterordnen zu können. Den umfassendsten, freilich etwas schnell gearbeiteten Entwurf einer experimentell-psychologischen Begründung der Erziehungslehre gab Ernst Meumann in seinen damals viel gerühmten »Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen« (1. Aufl. in 2 Bden. Leipzig 1907., 2. Aufl. in 3 Bänden 1911 ff.). Sie enthielten Ansätze zu einer psychologischen Begabungslehre und zur psychologischen Fundierung des Elementarunterrichts einschließlich einer sehr anfechtbaren Gedächtnislehre. Meumanns Wirkung zeigte sich besonders in den wissenschaftlichen Instituten und Arbeiten der Volksschullehrervereine, z. B. in Leipzig. Die Anwendung des Experimentes und der statistischen Erhebung hat man seitdem in der pädagogischen Forschung, wennschon unter vorsichtigerer Beschränkung auf geeignete Gebiete, mit gutem Recht beibehalten. Aber die psychologischen Anschauungen wandelten sich doch gerade in dieser Zeit beträchtlich von einer Psychologie der seelischen Elemente zur Ganzheits- und Gestaltpsychologie, von einer ganz allgemeinen zur differentiellen und zur Entwicklungspsychologie, von einer rein naturwissenschaftlichen zur geisteswissenschaftlich orientierten Psychologie. Alle diese Wendungen deuten sich schon in dem wertvollsten, aus jener Zeit stammenden Buch zur Kinderpsychologie an, nämlich in William Sterns »Psychologie der frühen Kindheit« (zuerst Leipzig 1914), dem eine Anzahl fruchtbarer Spezialuntersuchungen des Ehepaares Stern parallel gingen. Auch W . Sterns »Differentielle Psychologie« (als erweiterte Fassung einer älteren Schrift zuerst unter diesem Titel Lpzg. 1911)

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ist für die Pädagogik förderlich geworden. Die in England und Amerika besonders gepflegte Verbindung biologischer und psychologischer Gesichtspunkte fand auch in Deutschland manche Vertreter, an deren Spitze Karl Groos mit seinem gehaltreichen Buch »Das Seelenleben des Kindes« (zuerst Berlin 1908) und mit seinen Untersuchungen zur psychologischen Theorie des Spieles zu nennen ist. Das stark zunehmende Interesse an kinderpsychologischer Forschung wird weiter bekundet durch Karl Bühlers Werk »Die geistige Entwicklung des Kindes« (zuerst Jena 1918) und Otto Tumlirz' »Einführung in die Jugendkunde«. (2. Bde. zuerst Leipzig 1920). Der Zusammenhang mit dem allgemeinen Geist der Zeit, der nicht nur überhaupt an der seelischen Innenwelt interessiert ist, sondern ein wenig kulturmüde zum Kind und zur Jugend flüchtet, tut sich auf, wenn man die Fülle von Dichtungen und Romanen aus jener Epoche überblickt, die Kinderschicksale zum Mittelpunkt haben. Die Gefahr, über dem psychologischen Bemühen die feste Zielsetzung der Erziehung zu verlieren, lag freilich auch nahe. Ein Gegengewicht konnte damals nur von der philosophischen Richtung herkommen, deren allgemeine Funktion im Geistesleben es war, durch entschiedenen Rückgang auf das Apriorische die relativistischen Wirkungen des Historismus, Psychologismus und des Positivismus überhaupt zu verhüten. Wieder war es Paul Natorp, der den Gesichtspunkt des Normativ-Verpflichtenden auch für die Pädagogik durchführte. Seine Aufsatzsammlung »Philosophie und Pädagogik« (zuerst Marburg 1909) arbeitete den methodischen Ort der Pädagogik im neukantischen Systembau scharf heraus. Später (1920) folgte sein »Sozialidealismus«. Einflüsse dieses Standpunktes sind besonders bei Meumann und bei O. Meßmer auch im Rahmen der psychologisch betonten Richtung spürbar. Schon von Rickerts Wertphilosophie beeinflußt war Hönigswalds Untersuchung »Über die Grundlagen der Pädagogik« (zuerst München 1918)), die sich allerdings ganz auf logisch-erkenntnistheoretische Überlegungen beschränkte. In den gleichen systematischen Zusammenhang gehören spätere Arbeiten von B. Bauch und Johannsen. Nur ein Buch näherte sich mehr der geistesphilosophischen Tradition, wie sie in der Pädagogik besonders von Schleiermacher eröffnet war: Jonas Cohns »Geist der Erziehung. Pädagogik auf philosophischer Grundlage« (zuerst Leipzig 1919). Im übrigen fand das Eingelagertsein der Erziehung in das Ganze der Kultur vor 1920 noch keine systematische Darstellung. Nur ihre Beziehungen zum Staat traten begreiflicherweise in den Vordergrund. Auf Kerschensteiners Erfurter Preisschrift von 1901 »Die staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend« folgten allmählich einige beachtliche Werke zu diesem Thema, dessen Dringlichkeit Kaiser Wilhelm II. schon auf der Schulkonferenz von 1890 betont hatte, bis zu dem geistvollen, aber dem eigentlichen Staatsgeist fremden Buch von F. W. Förster »Politische Ethik und Politische Pädagogik« (3. Aufl. München 1918, kürzere 1. Fassung schon 1914). Von »Erziehung in soziologischer Beleuchtung« war damals in Deutschland noch nicht die Rede. Jedoch hat ein deutscher Philosoph und Pädagog den ersten Versuch gemacht, die Prinzipien der in Frankreich und England einheimischen gesetzebildenden Soziologie (die zugleich Philosophie der Geschichte sein sollte) auf die Entwicklung der Erziehungsformen und -theorien anzuwenden:

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Paul Barths »Geschichte der Erziehung in soziologischer und geistesgeschichtlicher Beleuchtung« (i. Aufl. 1911) fiel aber allzu konstruktiv aus, als daß sie mit ihrem großen Stoffgehalt die historische Auffassung wirklich hätte vertiefen können. Kein unwesentlicher Ertrag dieser Epoche ist es, daß — in stetem Kampf gegen Herbarts Theorie vom erziehenden Unterricht und gegen seine Formalstufen — der Durchbruch zu dem Geist der klassischen deutschen Pädagogik wieder erfolgte. Für das Verständnis Pestalozzis hat (neben Hunziker und Wiget) vor allem P. Natorp durch seine wertvollen, wennschon wiederum stark kantisch gefärbten Analysen sich die größten Verdienste erworben. Seine Auswahl aus Pestalozzis Werken mit einer biographischen Einleitung erschien in Greßlers Klassikern der Pädagogik (1905.) Zahlreiche Einzelabhandlungen und Schriften von Natorp über Pestalozzi folgten. In diesem Zusammenhang ist auch die zweite Pestalozziausgabe zu erwähnen, die Seyffarth 1899—1902 in 12 Bänden erscheinen ließ, obwohl sie eigentlich kritischen Ansprüchen nicht genügte, und die dreibändige Pestalozzibibliographie von Israel in den »Monumenta Germaniae Paedagogica« (seit 1903). Heubaums »Pestalozzi« (Die großen Erzieher Bd. III. 1910) versuchte historisch unbefangener zu verfahren, als Natorp mit seinem vorwiegend systematischen Interesse es getan hatte, und Wilhelm Schäfers Pestalozziroman: »Der Lebenstag eines Menschenfreundes« (zuerst 1915) trug das Bild dieses größten deutschen Erziehers in weite Kreise. Bewußt aber knüpfte Kerschensteiner die moderne Pädagogik an Pestalozzis Erbe an mit seiner in Zürich 1908 gehaltenen Gedenkrede »Die Schule der Zukunft eine Arbeitsschule«. — Auch Wilhelm v. Humboldts lange hinter Alexanders Ruhm verborgene Gestalt trat auf Grund seiner durch die Akademieausgabe neu bekannt gewordenen Werke für das pädagogische Denken der Gegenwart wieder hervor. Nachdem schon 1896/99 Bruno Gebhardt den Staatsmann Humboldt geschildert hatte, erschien 1909 Eduard Sprangers Werk: »Wilhelm v. Humboldt und die Humanitätsidee*, das in der Besinnung über das Bildungsideal des deutschen Klassizismus seine Wurzeln hatte. 1910 folgte das auf neuen Archivfunden ruhende Buch des gleichen Verfassers »Wilhelm v. Humboldt und die Reform des Bildungswesens«, das besonders die Entstehung des neuhumanistischen Gymnasiums in Preußen klarstellte. Fichtes politisch-pädagogische Ideen wurden durch eine umfangreiche Kriegsliteratur ebenfalls neu belebt. Sonst ist der Zeitraum von 1900—1920 auffallend arm an größeren wissenschaftlichen Darstellungen zur Geschichte der Pädagogik. Abgesehen von der Fortführung der Monumenta Germaniae Paedagogica, die vorwiegend die territoriale Schulgeschichte betrafen, und von Wilhelm Kahls Aufsätzen »Zur Geschichte der Schulaufsicht« (1913), ragt nur ein unvollendetes Werk hervor, das freilich unter der drückenden Arbeitslast des verdienten Verfassers nicht die letzte Abrundung erhalten konnte: Alfred Heubaums »Geschichte des deutschen Bildungswesens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts«, die das Zeitalter der Berufs- und Standeserziehung etwa bis 1763 behandelte. Außerhalb der historischen Literatur im engeren pädagogischen Sinne wurden allerdings viele wertvolle neue Gesichtspunkte zutage gefördert, so vor allem durch Dilthey, Schmoller-Hintze, v. Wilamowitz, v. Arnim, Troeltsch, Max Weber, Burdach, Walter Sohm, Paul Mestwerdt u. a. Doch kam dies alles vorläufig nur in Universitätsvorlesungen über Erziehungs-

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geschichte zur Geltung. — Anhangsweise sind 3 Sammelwerke zu erwähnen, in denen sich der Stand des deutschen Bildungswesens vor dem Kriege einigermaßen spiegelt: W. Lexis, »Die Reform des höheren Schulwesens in Preußen«, Halle 1902. W. Lexis, »Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich«, 4 Bde. Berlin 1904, und P. Hinneberg, »Die Kultur der Gegenwart«, Bd. I: Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart »Leipzig 1906 (mit pädagogischen Beiträgen von Paulsen, Matthias, Kerschensteiner, H. Gaudig u. a.). Die katholische Pädagogik erhielt ein Nachschlagewerk in E. M. Roloffs » Lexikon der Pädagogik«, 5 Bde. Leipzig 1913—17. Unter den pädagogischen Zeitschriften behielt die seit 1913 von Pretzel herausgegebene »Deutsche Schule« die Führung. Daneben brachten die »Zeitschrift für pädagogische Psychologie« (O. Scheibner) und die »Zeitschrift für angewandte Psychologie« die Interessen der Zeit an den psychologischen Grundlagen der Pädagogik zur Geltung. III (1920—1930) A) Schon während des Weltkrieges war in Deutschland eine erhebliche Verbreiterung und Vertiefung des pädagogischen Interesses zu bemerken. Dieser Krieg, der die ganze Gegenwart und Zukunft des Volkes in Frage stellte, erweckte naturgemäß den alten deutschen Glauben, eine gute Erziehung werde die ungelösten weltgeschichtlichen Knoten der Zeit lösen. Sehr oft dachte man sogar, schon die bloß äußere Umorganisation des öffentlichen Schulwesens in der Richtung auf Demokratisierimg der Bildung könne Wunder bewirken. Wer tiefer blickte, setzte seine Hoffnung auf eine Erneuerung der Gesinnung und auf ein geläutertes Menschentum. In den ersten Jahren nach dem Verlust des Krieges aber schien alles durcheinanderzuwirbeln. Seltsame Schwärmer fingen noch einmal mit dem pädagogischen Urschlamm an, und manche Dinge wurden durchexperimentiert, deren Unmöglichkeit oder Geringwertigkeit man auch ohne Experiment hätte voraussagen können. Ohne Zweifel stand man an einer weltgeschichtlichen Wende. Äußerlich wurde sie sichtbar in der Umgruppierung der Machtverhältnisse unter den Staaten der Welt und in der gesellschaftlichen Umschichtung, die vor allem den festesten Träger der bisherigen deutschen Bildung, den höheren Mittelstand, zurückdrängte, ja in seinen Überzeugungen unsicher machte. Die heraufdrängenden Schichten aber brachten, im Gegensatz zu dem Siegeszug des Bürgertums nach 1789, kein eigenes geistiges Erbe mit. Sie hatten zudem lange Zeit unter dem ausschließlichen Einfluß einer Theorie gestanden, die die spontane Kraft ethischer Willensmächte leugnete. So erklärt sich die eigentümliche Tatsache, daß die pädagogischen Tendenzen, die mit dem Vordringen der sozialistisch denkenden Massen emporkamen, zunächst den Solidaritäts- und Gemeinschaftsgedanken mit dem Liberalismus der alten Emanzipationsbewegungen vereinigten. Die »Erlösung der Massen zum Menschentum« mußte natürlich eine neue Färbung der Humanitätsidee bedeuten. Aber ein entscheidend neuer Bildungsinhalt war zunächst nicht da, und mit der Verbreiterung der Bildung konnte nur die Nivellierung in einer gewissen Durchschnittslage verbunden sein. Originellere Züge schien die allmählich sich herausarbeitende Pädagogik in der Sowjetunion zu tragen. Dieser Staat aber mußte vieles nachholen, was in Westeuropa längst durchgesetzt war, und so erinnert sein päda-

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gogisches System an den im Westen 200 Jahre älteren Typus absolutistischer Staatserziehung mit teils noch merkantilistischen, teils schon sozial ausgleichenden Tendenzen. Mit einemWort: tatsächlich geändert hatten sich die politischen, die gesellschaftlichen, die wirtschaftlich-technischen Verhältnisse. Der ideale Menschentypus der neuen Zeit aber war weder im religiös-ethischen Sinne, noch in ästhetischer Darstellung geboren. Deutschland gemäß seiner mittleren Lage kam in das Kreuzfeuer der drei aktuellen Mächte und Lebensformen der Gegenwart: eines technisch-fortschrittsfreudigen Amerikanismus, des antikapitalistischen, uniformierenden Bolschewismus und eines ebenso diktatorisch gesinnten nationalistischen Faschismus. In dieser Mittellage suchte man einen Gleichgewichtsszustand zu retten durch den Anschluß an die demokratisch-parlamentarisch-rechtsstaatlichen Ideen, die ihren sichtbarsten Ausdruck im Völkerbund fanden. Wir werden jedoch sehen, daß Deutschland mit Erfolg gegenüber diesem Balancesystem im Erziehungsleben seine eigentümliche Note festzuhalten versuchte, und zwar unter dem mißverständlichen Namen des Ideals vom »Deutschen Menschen«. Wie man zwischen diesen 5 Richtungen auch Partei ergreifen mochte: das eine mußte allen Beteiligten klar werden, daß Erziehungsprobleme nicht nur Schul- und Unterrichtsprobleme sind, sondern daß sie mit dem Gesamtinhalt und der Gesamtbewegung der Kultur, aber nicht nur der wirtschaftlichen und politischen, in unlösbarem Zusammenhang stehen. Diese Einsicht freilich trat in manchen Gedankenbildungen der wenigen Jahre seit 1920 nur sehr einseitig zutage. Der Ernst solcher Einseitigkeiten aber führte in Deutschland ein Weltanschauungsringen herauf, das die Anhänger der alten Verstandesaufklärung ganz unvorbereitet traf. Diese neue Welt ist voll von gefahrlichen Spannungen; sie ist aber auch voll von einem Ringen der Geister, wie es in gleicher Kraft seit dem Reformationsjahrhundert nicht mehr erlebt worden war. Schon während des Krieges — 1915 — hatte sich auf Anregung pädagogisch interessierter Einzelpersönlichkeiten der »Deutsche Ausschuß für Erziehung und Unterricht« gebildet, der nach einer kurzen Unterbrechung seines Bestehens 1925 neu belebt wurde. Das erste Thema, das er 1915 aufgriff, war die liberal-demokratische Idee des »Aufstiegs der Begabten«. Fast gleichzeitig mit dem »Deutschen Ausschuß« begann in Berlin das »Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht« seine Tätigkeit, die sich auf pädagogische Sammlungen, Ausstellungen und Lehrveranstaltungen erstrecken sollte. Der praktische Leiter war von Anfang an Ludwig Pallat. Eine Zeitlang hat F. Schmidt-Ott den Vorsitz im Geschäftsführenden Vorstand gehabt, später C. H. Becker. Die zahlreichen Veröffentlichungen des Zentralinstituts geben ein ziemlich vollständiges Bild von der Entwicklung der Schulformen und der pädagogischen Hauptfragen, die seit dem Kriege behandelt wurden. Von besonderer systematischer Bedeutung aber wurde die mit etwa 700 Teilnehmern vom 11.—17. Juni 1920 unter dem Vorsitz von Heinrich Schulz tagende Reichsschulkonferenz. Im Vordergrund der Beratungen stand das Thema: Einheitsschule. Schon auf der Pfingstversammlung des deutschen Lehrervereins in Kiel 1914 hatte Kerschensteiner das Programm eines einheitlichen, in sich aber nach Begabungen und Bildungswegen reich gegliederten Schulorganismus entwickelt. Die seit 1848 angestrebte Demokratisierung des öffentlichen Bildungswesens war durch die Schulbestimmungen der Reichsverfassung von 1919 und durch das Grundschul-

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gesetz von 1920 wesentlich gefördert worden. Ein zweites Hauptthema war der Arbeitsunterricht, das dritte die Frage der Lehrer-, besonders der neuen Volksschullehrerbildung. Der letztgenannte Gegenstand gab die stärkste Veranlassung, das Gesamtgebiet der Erziehungsprobleme neu zu durchdenken, die jetzt viel plastischer erschienen als in der Zeit einseitig didaktischer Fragestellung. Die Geistesart des Erziehers wurde in ihrer spezifischen Eigentümlichkeit, der Erziehungsvorgang in seiner allseitigen Verwobenheit mit dem Ganzen der Kultur und der Gesellschaftslage gesehen. Die Grundbegriffe einer solchen »Kulturpädagogik« begannen sich herauszuarbeiten: Bildungsideal, Bildungswert, Bildungsgut; Bildsamkeit des Zöglings, Bildungsgemeinschaft und Bildungsverfahren (vgl. Eduard Spranger, Gedanken über Lehrerbildung, Leipzig 1920). Aber auch das Schulleben selbst gestaltete sich um: man suchte immer stärker die bildenden Kräfte des Gemeinschaftslebens der Jugend zur Wirkung zu bringen: Die Arbeitsschule erweiterte sich zur Idee der Lebensgemeinschaftsschule, die ihren rein pädagogischen Wert auch unabhängig von politisch gefärbten Hoffnungen auf eine neue Gesellschaftsordnung besitzt. Endlich trat die große Aufgabe der Volkserziehung überhaupt, insbesondere der sozial gedrückten oder gefährdeten Schichten in den Bereich der pädagogischen Denkarbeit. Jugendbewegung, Volkshochschulbewegung, soziale Frauenarbeit, wirtschaftliche Berufsverbände, politische Gesinnungsgruppen hatten daran gleichmäßig Anteil (Jugendwohlfahrtsgesetz 1922, Jugendgerichtsgesetz 1923). Bei der erregten politischen Lage nach der Revolution war es begreiflich, daß sich auch parteipolitische Tendenzen in der Erziehung scharf vordrängten. Und da die Parteien in Deutschland stark weltanschaulichen Charakter haben, so wurde der Zusammenhang zwischen der Erziehung und der religiösen oder nicht-religiösen Weltanschauung zu einem Brennpunkt politischer Erörterungen (Gesetz über die religiöse Kindererziehung 1921. Versuche eines Reichsvolksschulgesetzes 1921 bis 1928). Auch hierin zeigte sich, daß man nicht mehr auf dem Boden eines neutralen Unterrichtes stand, sondern daß sich geistige Auseinandersetzungen von ungeahnter Schwere über letzte ethische und religiöse Uberzeugungen anbahnten. Inmitten dieser Gegensätze trat an einer Stelle ein neu gefärbtes Bildungsideal zutage: in der preußischen Reform des höheren Schulwesens von 1924, deren Geist natürlich auch auf das Volksschulwesen abfärbte. Es handelte sich um das Ideal des deutschen Menschen, also einen Versuch der inneren Erneuerung und Einigung der Nation aus den reichen Quellen ihres geistigen Besitzes. Die Humanitätsidee der deutschen Klassiker, die sich noch sehr am idealisierten Bilde der Antike orientierte, wurde im spezifisch deutschen Sinne umgestaltet. Nicht nur die klassische Epoche des deutschen Geistes, sondern sein ganzer Entwicklungsgang sollte die zentralen Bildungsgüter für die deutsche Schule liefern. Man zog also auch die gotischen und die romantischen Ausdrucksformen des deutschen Wesens für den Formungsprozeß des Menschen heran. So entstand der neue Begriff der Deutschkunde und in entsprechender Anwendung auf fremde Volksgeister der Begriff der Kulturkunde überhaupt. Der Führer dieser Schulreform war Hans Richert; sein Bildungsprogramm hatte er schon in der Schrift vom Jahre 1920: »Die Deutsche Bildungseinheit« umrissen. Auch dieser Weg mußte zu einer Kulturpädagogik hinführen. 7

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Selbstverständlich konnte das Wirtschaftsleben in einer Zeit schwersten wirtschaftlichen Ringens von der allgemeinen pädagogischen Welle nicht unberührt bleiben. Obwohl es noch nicht zu einem über die Verfassungsbestimmungen hinausgehenden Reichsgesetz über die Fortbildungsschulpflicht kam, nahmen die Berufsund Fachschulen einen großen Aufschwung; man erkannte noch mehr als im vorangehenden Zeitabschnitt, daß die echte Berufsbildung auch menschenbildende Werte enthält und wie sie fruchtbar gemacht werden können. Sozialistische Kreise, vertreten durch die »Entschiedenen Schulreformer«, erwogen den Plan einer »Produktionsschule« als Normalschule überhaupt. Große wirtschaftliche Unternehmungen entsannen sich ihrer lange verabsäumten pädagogischen Pflichten: eine eigene Industriepädagogik (Kautz, Schürholz) und Handelspädagogik (Feld) ist in der Entwicklung begriffen. Mit eigenen »Werkschulen« für den Lehrlingsnachwuchs der Betriebe wurden hoffnungsvolle Anfange gemacht. Die Ausbildung der Volksschullehrer wurde teils (wie in Sachsen, Thüringen und Hamburg) den bestehenden Hochschulen angegliedert, teils besonderen Pädagogischen Akademien übertragen (Preußen). An den letzteren versuchte man, den Bildungstrieb der Jugendbewegung und das deutschkundliche Ideal zu verwerten unter starker Betonung der heimatkundlichen und volkskundlichen Bildungs werte (vgl. Gonwentz-Schoenichen, Handbuch der Heimaterziehung, Teil 2, Berlin 1923). So entrollt sich uns das Bild eines pädagogisch leidenschaftlich bewegten Zeitalters. Noch immer drohte durch die Überschätzung der schulmäßigen Form der Bildung die alte Gefahr einer »Verschulung Deutschlands«. Andererseits aber ist nicht zu verkennen, daß auch die freien gesellschaftlichen Kräfte — Elternschaft, Berufsverbände, Kirchen, Wohlfahrtsvereine — neben dem Staat und der öffentlichen Schule energisch für pädagogische Wirksamkeit mobilisiert wurden. B) In der Fülle so verschiedenartiger Gesichte hatte die wissenschaftliche Pädagogik eine schwere Aufgabe, aber auch ein unvergleichlich reichhaltiges Material. Mit einer bloß psychologischen oder gar einer experimentell-psychologischen Pädagogik ließ sich das Erforderliche nicht mehr leisten. Die neu belebte Geisteswissenschaft und Geistesphilosophie mußte auch die Pädagogik in ihren Rahmen aufnehmen. In dieser Richtung bewegen sich die neuen Versuche auf dem Gebiet der philosophischen Pädagogik, deren Ende man im streng positivistischen, stark am Muster der Naturwissenschaft orientierten Lager noch eben geglaubt hatte voraussagen zu dürfen. Der philosophische Idealismus war in drei herrschenden Richtungen vertreten: in dem späten Zweig des Neukantianismus, der durch H. Rickert die Gestalt einer Wertphilosophie empfangen hatte, durch Diltheys mehr historisch-psychologische Philosophie des Geistes und durch die von Husserl begründete, von Scheler ins Ethische weitergeführte Phänomenologie. Ganz neuerdings machte sich auch die Mitwirkung eines Neuhegelianismus bemerkbar (vgl. Th. Litt: Die Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluß auf das Bildungsideal, Leipzig 1925). Aus all diesen Strömungen nahm die philosophische Pädagogik Motive auf. Die drei Pädagogen, die das neue systematische Gebäude aufzurichten bestrebt waren: G. Kerschensteiner, Th. Litt und Eduard Spranger, arbeiteten in so naher literarischer und persönlicher Geistesgemeinschaft, daß schon

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heute schwer zu sondern ist, was zuletzt von dem einen oder dem andern herstammt. Kerschensteiner hatte schon in seiner Schrift: »Das Grundaxiom des Bildungsprozesses« (zuerst 1917) auf Sprangers psychologisches Werk »Lebensformen« Bezug genommen. Litt steuerte (z. T. befruchtet durch Anregungen von Simmel und Freyer) Gesichtspunkte einer neuen, geisteswissenschaftlich gedachten Soziologie und Geschichtsphilosophie bei (»Geschichte und Leben«, zuerst 1918. »Individuum und Gemeinschaft«, zuerst 1920). Beiträge zur Theorie der Kulturkunde enthielt Sprangers kleine Schrift: »Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule« (zuerst 1922). Der starke Einfluß von Aloys Fischer auf das praktisch-pädagogische Leben hat literarisch bisher nur in weit verstreuten, höchst gehaltreichen Aufsätzen literarischen Niederschlag gefunden. Das gleiche gilt von Hermann Nohl. Abgesehen aber von dem methodischen Programm, das Litt in seinem Beitrag »Pädagogik« zu der neuen Auflage des 1. Bandes der „Kultur der Gegenwart" (1921) gegeben hat, ist bisher aus diesem Kreise nur ein zusammenfassendes Werk hervorgegangen: G. Kerschensteiners »Theorie der Bildung« (1. Aufl. 1926). Es ist der erste Wurf in der Richtung auf eine Theorie der Bildung im Rahmen der ganzen Kulturzusammenhänge. Die Grundlage wird durch eine Erörterung des Bildungsbegriffes (der Bildungsidee) und seiner verschiedenen Seiten geschaffen. Der zweite Teil behandelt das Bildungsverfahren im Hinblick auf die Bildsamkeit des Zöglings, auf die Bildungsgüter in der objektiven Kultur und auf die Persönlichkeit des Erziehers. Sieben Prinzipien des Bildungsverfahrens machen den Schluß. Eine notwendige Ergänzung mußte durch geschichtsphilosophische Betrachtungen und durch eine philosophische Analyse der gegenwärtigen Geisteslage gegeben werden, wie sie in bisher skizzenhafter Form Spranger unter dem Titel: »Das deutsche Bildungsideal der Gegenwart in geschichtsphilosophischer Beleuchtung« versucht hat. Neben Kerschensteiners Werk, dem eine »Theorie der Bildungsorganisation« folgen soll, sind zwei andere zusammenfassende Bücher von verwandtem Grundstandpunkt zu erwähnen: auf katholischer Seite: F. X. Eggersdorfers »Jugendbildung. Allgemeine Theorie des Schulunterrichts« (München. 1928), und die einführende Darstellung von K. F. Sturm, »Allgemeine Erziehungswissenschaft« (Osterwiek 1927). In Deutschland spielt nach der Tradition von Hegel und Schleiermacher die Kulturphilosophie oder Geistesphilosophie die Rolle, die in den westlichen Ländern der Soziologie zukommt. Die Grenzen zwischen Kulturphilosophie und Soziologie sind aber nicht mehr scharf, seitdem (besonders durch Tönnies, Simmel, Max Weber, Sombart, v. Wiese und Vierkandt) die Soziologie auch bei uns eine intensivere Pflege fand. Von manchen Autoren wird sie bewußt auf eine Seite der Kulturphilosophie, nämlich die Formen der Gesellschaft beschränkt; bei anderen schließt sie die sachlichen Kulturgehalte mit ein, beleuchtet sie aber speziell von der jeweils zugehörigen Gesellschaftsstruktur aus. Beide Fragestellungen sind auch in der Pädagogik möglich und gegenwärtig beliebt. Auf P. Barths erwähnten ersten Versuch folgten in Deutschland einzelne Schriften über »soziologische Pädagogik«, die parteidogmatisch gehalten und wissenschaftlich unkritisch waren. Beachtlicher sind die — übrigens sonst der Geistesphilosophie nahestehenden — Schriften von Ernst Krieck (»Philosophie der Erziehung« 1922, »Menschenformung« 1925), aber 7*

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auch sie ruhen noch nicht auf eigener Forschung. Th. Geiger, Lochner u. a. bringen beachtenswerte Ansätze zur begrifflichen Grundlegving der soziologischen Pädagogik. In diesen Zusammenhang reiht sich als neuer Forschungszweig die »pädagogische Milieukunde« ein (Adolf Busemann,Walter Popp). Vermutlich wird auch die von M. Scheler nur in leichten Umrissen schnell angedeutete Soziologie des Wissens (»Die Wissensformen und die Gesellschaft«, 1926) noch für die theoretische Pädagogik bedeutsam werden. Die jüngsten Ansätze zur Ideologienlehre (K.Mannheim) aber bedürfen noch sorgfältiger kritischer Überlegung. Zur Soziologie in einem über den deutschen Sprachgebrauch hinaus erweiterten Sinne könnte man auch die Behandlung der Grenzfragen zwischen Staatsrecht, Verwaltungsrecht (bzw. Verwaltungslehre) und Pädagogik rechnen. Dieses Thema hat nach Pölitz, Lorenz v. Stein und R. v. Gneist Eduard Spranger in einer Akademieabhandlung: »Die wissenschaftlichen Grundlagen der Schulverfassungslehre und Schulpolitik« (1928) wieder aufgenommen. Der beste lebende Kenner des Schulrechtes und verwandter Probleme ist W. Land6 (»Die Schule in der Reichsverfassung« 1929 u. a.). — Auch in der Epoche einer kulturphilosophischen Pädagogik bedarf die psychologische Seite der Erziehung eingehender wissenschaftlicher Bearbeitung. Die oben angedeutete Bewegungsrichtung der Psychologie hat sich fortgesetzt: Ganzheits-, Gestalt- und Strukturpsychologie wie auch Entwicklungspsychologie (der Tiere, Primitiven, Kinder und Jugendlichen) stehen im Vordergrunde des Interesses, ohne daß die experimentelle M e t h o d e (die nicht mit einem grundsätzlichen psychologischen Standpunkt verwechselt werden darf) aufgegeben wäre. Die speziell geisteswissenschaftliche Strukturpsychologie betont die Beziehung der seelischen Erlebnisse undVerhaltungsweisen zu den Sinngebilden einer historisch gewordenen Kultur. Sie beruht auf der auch pädagogisch grundlegend wichtigen Theorie des »Verstehens«. Nach Dilthey durch Scheler, Spranger, Stern, Jaspers, Wach u. a. weiter entwickelt, hat sie besonders auch auf die Ausgestaltung der Pädagogik und der pädagogischen Psychologie eingewirkt. Teilhaben an Kulturgehalten ist nicht möglich ohne Verstehen. Ebenso setzt das Wirken des Erziehers selbst ein Verstehen des Zöglings, seiner Entwicklungsstufe und seiner Individualität voraus. Während es bis 1920 kein einziges nennenswertes Werk in deutscher Sprache zur Psychologie des Jugendalters gab, ist jetzt eine ganze Reihe schnell nacheinander erschienen. Erwähnt seien: Walter Hoffmann, »Die Reifezeit«, 1922, Charlotte Bühler, »Das Seelenleben des Jugendlichen«, 1922, Ed. Spranger, »Psychologie des Jugendalters«, 1924. Alle herrschenden Richtungen der Psychologie: die von Jaensch, Stern, Krueger, Köhler-Wertheimer-Koffka, Katz u. a. lieferten auch Beiträge zur Kinderund Jugendpsychologie. Besondere Erwähnung verdient Oswald Krohs »Psychologie des Grundschulkindes« (1928). Endlich hat auch die Psychoanalyse in ihren drei Hauptrichtungen: Freud, Adler und Jung bereits eine sehr breite pädagogische und jugendpsychologische Literatur erzeugt, die jedoch in ihren wissenschaftlichen Grundbegriffen noch sehr stark schwankt und vielfach über das Ziel hinausschießt. Die psychoanalytischen Methoden selbst sind pädagogisch gerichtete Psychotherapie. In diesem Sinne besonders fruchtbar ist heute schon die an Adler anknüpfende »Individualpsychologie«. Der starken Bewegung auf dem Gebiete der Heilpäda-

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gogik, die von Medizinern und Erziehern gefördert wird, kann in diesem Rahmen nur kurz gedacht werden (Hornberger, Heller, A. Fuchs u. a.). — An der Grenze der wissenschaftlichen Pädagogik stehen diejenigen Denker, die durch theoretische Reflexion selbst zur Begrenzung der Theorie gelangen. Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist in der Erziehung mindestens so kompliziert wie in der Politik. Nur in ganz bescheidenem Umfang vermag die Pädagogik z. B. technische Anweisungen zu geben. Sie ist in der Hauptsache eine philosophische Besinnung über Umfang und Möglichkeiten der Erziehung. Sie bewirkt eine Erweiterung des Horizontes und eine Vertiefung des Erziehungsethos. Auch diese Leistung der Theorie aber wird neuerdings in Frage gestellt, teils aus einer radikal zugespitzten protestantischen Religiosität, teils aus Nachwirkungen der Kierkegaardschen Philosophie. In dieser Hünsicht ist aufrüttelnd, wennschon nicht im tieferen Sinne fruchtbar das Buch von Eberhard Grisebach »Die Grenzen des Erziehers und seine Verantwortung« (Halle 1924), das durch sein ethisches Werk »Gegenwart« ergänzt wird. Indem der Verfasser, gegen Historismus und Individualismus kämpfend, alles Wissen und alle geistigen Formungen als bloß »Erinnertes« aus dem Bereich der aktuell verantwortlichen Gegenwartsentscheidungen herausverweist, hebt er den Wert der Kulturgüter, an deren Ewigkeitsgehalt nach der Ansicht der Kulturpädagogik die Erweckung des ethischen Kernes der Persönlichkeit erfolgen muß, wieder auf und verengert die Existenz des Menschen zu einer Punkthaftigkeit, die nicht nur unaufhörliche Unruhe, sondern absolute Ratlosigkeit bedeutet. Etwas von der Kulturverzweiflung, die manche in unsrer Zeit ergriffen hat, spiegelt sich in diesen und ähnlichen pädagogischen Grenzstandpunkten. Schon hiermit ist angedeutet, daß die Hauptlinie des gegenwärtigen Denkens — im Gegensatz zu den Generationen von Dilthey und Troeltsch — nicht gerade dem Historischen zugewandt ist. Dieser Antihistorismus macht sich auch darin bemerkbar, daß die Geschichte der Pädagogik wenig gepflegt wird. Gerade sie aber könnte durch Herübernahme der neuen geistesgeschichtlichen Gesichtspunkte sehr Fruchtbares zutage fördern. Ein Beispiel hierfür sind Werner Jaegers Ansätze zu einer Geschichte der 7taiSeia zunächst im griechisch-römischen Altertum (vgl. besonders »Piatos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung«, Berlin 1928). Seine Schüler haben monographisch Weiteres zu diesem Thema beigetragen. Die Zeitschrift »Die Antike« ist auch bildungsgeschichtlich wichtig. Eine neue Auffassung vom Wesen der Renaissance und Reformation haben Konrad Burdachs weit ausgreifende Forschungen begründet (zusammengedrängt in zwei Abhandlungen »Reformation, Renaissance, Humanismus« 1. Aufl. 1918). Die monographische Literatur, z. B. über Cicero, Augustinus, Luther, Comenius, Rousseau, kann hier nicht genannt werden. Ein bildungsgeschichtlich wichtiges Thema behandelt Benno Böhms » Sokrates im 18. Jahrhundert«, Leipzig 1929. Besonders intensiv ist in den letzten Jahren die Pestalozziforschung getrieben worden. Sie hat ganz neue Quellen erschlossen. Herbert Schönebaum hat das feinste Forscherauge und Finderglück bewiesen. Der Pestalozzideutung gab das Buch von Delekat »Pestalozzi, der Mensch, der Philosoph, der Erzieher« (Leipzig 1926) eine neue Wendung. Seit 1926 ist eine kritische Gesamtausgabe der Werke Pestalozzis im Erscheinen, her. von

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A. Buchenau, E. Spranger und H. Stettbacher (bisher 6 Bde.); die große Arbeit erfolgt unter der redaktionellen Leitung von W. Feilchenfeld. Die dringend erwünschte kritische Ausgabe von Fröbels Werken konnte noch nicht in Angriff genommen werden. Wichtige Vorarbeiten für eine Gesamtdarstellung der genialen Pädagogik von Fröbel haben A. Prüfer und F. Halfter geleistet. Die Ära Wilhelm von Humboldts ist durch eine Reihe von Einzeluntersuchungen über Ludwig Natorp (G. Thiele), Schleiermacher (Kade), W. Süvern (W. Süvern), A. F. Bernhardi (Horstmann) u. a. nunmehr fast völlig aufgeklärt; Schulpolitiker, wie Thiersch (Löwe), Falk (Förster), Althoff (Sachse), haben ihre Biographen gefunden. — Hermann Lesers Darstellung der Pädagogik in der Neuzeit unter dem Titel »Das pädagogische Problem« ist bis zum 2. Bande gediehen (München 1925. 1928). Endlich ist eine Reihe pädagogischer Sammelwerke im Erscheinen. In der Hauptsache sind es Handbücher für den Gebrauch der Lehrer an höheren Schulen und Volksschulen. Wichtig für die Orientierung auf einem stark in der Entwicklung befindlichen Gebiet ist das von A. Kühne herausgegebene »Handbuch für das Berufs- und Fachschulwesen« (Leipzig 1. Aufl. 1923. 2. Aufl. 1929). Ein »Pädagogisches Lexikon« gibt seit 1929 Hermann Schwartz im Auftrage der Gesellschaft für evangelische Pädagogik heraus (4 Bde., von denen 3 erschienen sind). Es ist trotz seiner Kürze von hohem Wert. Aus der unübersehbaren Fülle der pädagogischen Zeitschriften können außer der altbewährten »Deutschen Schule« und den »Neuen Jahrbüchern für Philologie und Pädagogik« nur zwei genannt werden, die sich ausdrücklich die Pflege der w i s s e n s c h a f t l i c h e n Pädagogik zur Aufgabe machen: »Die Erziehung« (seit 1926 her. von Flitner, Litt, Nohl und Spranger) und die katholisch gerichtete »Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik« (seit 1925 her. von Honecker, Rosenmöller und Clostermann). Die Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht sind bereits erwähnt. Die Erfurter »Akademie der gemeinnützigen Wissenschaften« läßt unter dem Titel »Die Erziehungswissenschaftliche Forschung« eine pädagogische Gesamtbibliographie erscheinen, die mit dem Jahre 1925 eingesetzt hat. — Wir stehen inmitten einer unabgeschlossenen Bewegung. Die neuen Motive, die in ihr seit etwa 1910 zur Geltung gekommen sind, sind fast unübersehbar. Kaum je hat das pädagogische Leben in Deutschland so stark pulsiert; wer die Meeresstille noch miterlebt hat, die — abgesehen von Organisations- und Berechtigungsfragen — vor dieser Zeit herrschte, empfindet den Kontrast in voller Stärke, sieht aber auch die Gefahren. Das Wort »Erlebnis«, das seit Diltheys Buch »Das Erlebnis und die Dichtung« (1906) plötzlich zum beherrschenden Schlagwort der Zeit wurde, kennzeichnet den allgemeinen Impressionismus, der um die Jahrhundertwende lebendig war. Er hat auch auf die Pädagogik übergegriffen. Die vielfach wahllose Fülle der Bildungsgüter, die man heute zur Geltung bringen möchte, erdrückt den jungen Geist nicht weniger als die enzyklopädische Stoffüberlastung, die auf dem deutschen Schulwesen des 19. Jahrhunderts lastete. An die Generation des Impressionismus reihte sich eine Zeit mit expressionistischem Grundstil an. Auch er hat eine starke pädagogische Auswirkung gehabt; zur Erlebnispädagogik gesellte sich die Ausdruckspädagogik. Man sah fast die ganze Aufgabe der Erziehung darin, daß der junge Mensch sich ausdrücken lerne, sei es sprachlich oder in künst-

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lerischer Betätigung. Diese ästhetische Erlebnisfülle und Ausdruckskultur erscheint uns schon heute nicht mehr als letztes Ziel. Eine entschiedene Wendung zum Ethischen hat eingesetzt: der Mensch soll sich aus letzter Verantwortung für die ethischen Bindungen entscheiden, die die Gemeinschaft,vor allem aber die Sinngehalte der sittlichen Kultur von ihm fordern. Jedes Kulturgebiet hat sein eigentümliches, sachliches Strukturgesetz. Die inneren Kräfte zu wecken, die diesen sachlichen Sinngesetzen gemäß sind, ist ewige Aufgabe der Erziehung. Es gibt da gewisse Urphänomene, die — einmal mit ganzer Seele erlebt — nie wieder aus der Seele verschwinden können. An solchen e i n f a c h e n , ewigen Gehalten bildet sich der Mensch in der Jugendzeit. Die Fülle des Stoffes und der Anwendungen wächst ihm im Leben selber zu. Wenn wir in diesem Sinne zu einfachen großen Linien zurückkehren, wird wieder eine F o r m des Menschentums gefunden werden, die der Gegenwart gemäß ist und innere Festigkeit gibt. Denn alle wahre Erziehung müßte den Menschen zu seiner Form führen. Zu seinerForm, d. h. unter Förderung des Positiv-Wertvollen in seiner Individualität; aber auch zu seiner For m, d. h. nicht nur zu flüchtigen Eindrücken und Perspektiven oder zum Ausdrücken seiner zufälligen Innenwelt, sondern zum Haben und Bejahen ewiger Sinngestaltungsgesetze. Bildung haben heißt, das Gesetz der objektiven Geistesgebiete in die eigne Seele aufnehmen, damit auf diese Weise die sittlichen und religiösen Tiefen der Person entbunden werden. Um die Herausstellung dieser Wahrheit, die dem pädagogischen Impressionismus und Expressionismus überlegen ist, ringen wir noch. Je mehr sie gefunden wird, um so eher werden auch die organisatorischen Schulformen vereinfacht werden können, die heute ein unübersehbares Gewirr bilden. Einfachheit im Großen und Entscheidenden — darum geht es heute wieder im Erziehungsleben. Die theoretische Besinnung muß den Weg bahnen zu den ewigen Grundmotiven, aus denen sich das Leben zusammenwebt. Gebildet im letzten Sinne ist, wer ihren Klang rein in sich aufnimmt.

ERNST HEYMANN RECHTSWISSENSCHAFT Wenn die deutsche Wissenschaft Friedrich Schmidt-Ott ihre Huldigung darbringt, darf auch ein kurzer Blick auf die Wirksamkeit der deutschen Jurisprudenz nicht fehlen. Ist doch der Gefeierte selbst Jurist, Doktor der Berliner Juristenfakultät, von der er auf Grund einer heute noch immer wichtigen Schrift über Handelsgesellschaften in den deutschen Stadtrechtsquellen des Mittelalters 1882 promoviert wurde, die als 15. Heft der damals jungen Untersuchungen Otto v. Gierkes erschienen ist. Vor allem aber hat er, seinem Doktoreide getreu, seit jener Zeit in der Unterrichtsverwaltung wie in freier Tätigkeit, für die Rechtswissenschaft und ihre Jünger gesorgt, nicht bloß mit der gleichen Liebe wie für andere Zweige der Wissenschaft und Kunst, sondern vielleicht noch mit einem besonderen persönlichen Unterton, wie er den Schüler Beselers und Brunners, der in jenen großen Zeiten der Berliner juristischen Fakultät studiert hat, in seinen Empfindungen beherrschen mußte und beherrscht hat, ein Unterton historischweltmännischer Juristenbildung, in der sein weitgespanntes Geistesleben doch letzten Endes wurzelt. Der Blick auf die Jurisprudenz der letzten 50 Jahre muß kurz sein; denn es handelt sich nicht darum, den seit Gründung des Reichs ungeheuerlich angewachsenen, ja geradezu lawinenhaft aufgeschwollenen Stoff zu betrachten und seine Bewältigung durch Gesetzgebung, Judikatur und Wissenschaft im einzelnen zu schildern. Vielmehr kommt es nur darauf an, das Geleistete in den Gesamtzusammenhang der Wissenschaft andeutungsweise einzugliedern. Dabei liegt zwar um 1870 und um 1918 eine scharfe Caesur in der deutschen Rechtsentwicklung, nicht aber im gleichen Maße eine ebenso scharfe Caesur für die deutsche Rechtswissenschaft vor, welche die seitherige Arbeit von der vorausgegangenen innerlich schiede. Vielmehr ist trotz aller neuen Aufgaben, die seit 1870 und seit 1918 gestellt wurden, und trotz aller veränderten Zeitverhältnisse doch der alte Geist entscheidend gewesen, der sich fortentfaltet hat und trotz mancher Abirrungen siegreich bleiben muß. Manche neuen Aufgaben sind aufgetaucht, manche neuen methodischen Fragen sind aufgeworfen worden. Aber in einer Jahrtausende alten Wissenschaft mit praktischen Zielen wie der Jurisprudenz wird das, was die römischen Klassiker, was Bartolus, was Leibniz und Thomasius, was Savigny und Eichhorn lehrten, immer Bedeutung behalten und den festen Kern der Fortentwicklung bilden. Das, was als neue Methode ausgerufen wird, ist gewöhnlich längst nicht so neu, wie es scheinen könnte, wenngleich tiefgehende Veränderungen des Rechtslebens immer neue Triebe aus dem Baum der Rechtswissenschaft hervorlocken, deren Grünen und Blühen durch den alten Stamm gesichert ist und deren Wert nicht unterschätzt werden darf. Als das Bismarcksche Reich kam, schloß sich die fortan zum großen Teil einheitliche Gesetzgebung an die Bemühungen an, welche schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts hervorgetreten waren, hervorgetreten in dem Streben nach konstitutionellen Verfassungen, in Verwaltungsreformen wie denen Steins und Hardenbergs und später in den Bestrebungen Gneists, in der Wirtschaftsgesetzgebung des

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Preußischen und Sächsischen Berggesetzes, der Allgemeinen Deutschen Wechselordnung, des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs, in dem Streben nach einem einheitlichen Zivilgesetzbuch, wie es die langwierigen Vorarbeiten des Preußischen Gesetzgebungs-Ministeriums aufwiesen, in dem Kampf um eine verfeinerte Strafgesetzgebung seit demALR. und Feuerbachs Bayerischem Gesetzbuch, in dem alten Bemühen um brauchbare Verfahrensvorschriften, in welchem besonders Hannover im Anschluß an Frankreich vorausgegangen war. Im Schutze der neuen Bismarckschen Reichsverfassung reifte das alles: die Reichsjustizgesetze, das Strafgesetzbuch von 1871, die zahlreichen Verwaltungsgesetze der Einzelstaaten besonders Preußens, das Bürgerliche Gesetzbuch mit seinen Nebengesetzen und die komplizierte Wirtschaftsgesetzgebung über Marken- und Musterschutz, über unlauteren Wettbewerb, über Urheber- und Patentrecht, über Börse und Bankwesen und vieles andere mit der schließlichen Neugestaltung des Handelsgesetzbuchs, über die Aktien-Novelle hin. Ein buntes Leben entstand, und mit den alten juristischen, in der gemeinrechtlichen Zeit erarbeiteten Mitteln meisterte man die neuen Normen. Die Jahre von 1870—1914 bedeuten einen Ausbau der deutschen Staatsrechtslehre unter Führung Labands, des deutschen Zivilprozesses unter Führung J. W. Plancks und Wachs und sodann Kohlers, des deutschen Strafrechts unter Führung Bindings und v. Liszts, des deutschen Handelsrechts unter Führung L. Goldschmidts, Cosacks und Staubs, des Privatrechts zunächst unter Führung Windscheids und Dernburgs und andererseits Gierkes, dann im Anschluß an das neue Bürgerliche Gesetzbuch unter Führung von G. Planck u. a. — Arbeiten, die in der gesamten Kulturwelt Aufmerksamkeit erregten und Nachahmung fanden, eine große Zeit der deutschen Rechtswissenschaft, die heute in einer gewissen Abgeschlossenheit vor uns liegt, die aber natürlich auch die Gefahr einer Isolierung gegenüber dem Auslande insofern in sich schloß, als sie sich an die heimische Gesetzgebung anzuschließen gezwungen war. Dann kam der Krieg, durch die komplizierten kriegswirtschaftlichen und ernährungswirtschaftlichen Maßnahmen ganz neue Fragen auslösend, Fragen, die man vorher teilweise, wie z. B. das militärische Beschlagnahmerecht, gesetzgeberisch und wissenschaftlich geradezu vernachlässigt hatte, Fragen, die auch z. B. im sogenannten Sozial wucherrecht alte kanonistische Wirtschaftsrecht-Ideen aufs Neue wieder in Bewegung setzten, vielfach ohne daß die Verkünder der neuen Lehren das selbst wußten. Und unmittelbar daran schließt sich die Inflationszeit mit ihrer Aufwertungsgesetzgebung, die ganze Bändereihen von Judikatur schuf und die Praktiker in atemloser Spannung hielt. Aus all diesem Wirrwarr aber erhoben sich neue Gebilde: die neue Verfassung, das neue Arbeitsrecht, das neue Steuerrecht, eine Unzahl neuer Verwaltungsrechtsvorschriften u. a., zunächst alles als rein praktische Probleme; aber schnell verdichteten sich daraus neue wissenschaftliche Fragen, von denen man sehr bald nach den alten Problemen und Methoden des Privatrechts und öffentlichen Rechts wieder ausspähen mußte. Es ist ein großartiger Anblick, wie sich aus diesem Wirrwarr die deutsche Rechtswissenschaft wieder erhoben und sich der einzelnen Fragen bemächtigt hat, wie man Altes weiter ausbaute und wie man gegenüber der massenhaften Spreu und der mit ihr verbundenen Gefahren der Versandung die alte brauchbare Jurisprudenz weiterzuführen vermochte. Nicht sowohl neue Methoden sind es, die nach dem

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Krieg verwendet worden sind, obwohl dies bisweilen selbstsicher behauptet wird und obgleich hie und da eine besondere Färbung z. B. in der Betonung der Rechtsvergleichung und vor allem in der Verstärkung der wirtschaftlichen Erwägungen sich zeigte, sondern die deutsche Rechtswissenschaft hat dank ihrer objektiven, fein durchdachten Mittel die schwierigen Fragen des Übergangs in vollkommen neue politische und rechtliche Verhältnisse mit großartiger Objektivität zu bewältigen gewußt. Dabei stehen die deutschen Rechtsfakultäten neben dem Reichsgericht in vorderster Reihe. — Im Gebiete des Staatsrechts brachte die Zeit seit 1870 einen großen Aufschwung der Lehre, die vorher, trotz einiger hervorragender Erscheinungen doch ziemlich zurückgestanden hatte, eine Folgeerscheinung des Absolutismus. Dabei hat, wie schon erwähnt, Labands großes Werk im Bismarckschen Reiche lange die Führerstellung gehabt. Nicht unbedingt zum Vorteil des Sache, da die stark formale Auffassung des scharfsinnigen Gelehrten die dynamische Seite des Staatsrechts nicht genügend zur Geltung kommen ließ. Aber wie schon Hänel, der allmählich als Nestor des Staatsrechts erschien, auch nach dieser letzteren Richtung gearbeitet hatte, und wie Otto v. Gierke in seiner genossenschaftlichen Konstruktion des Reichs die lebenden Kräfte der Verfassung zur Geltung brachte, wie schon Georg Meyer und sein Fortsetzer Anschütz, der auch in Holtzendorff- Kohlers Enzyklopädie eine Gesamtdarstellung gab, im gleichen Sinne gearbeitet hatten, so bildete sich allmählich eine historisch-zweckbetonte Richtung des Staatsrechts heraus, die aus der Praxis des staatlichen Lebens schöpfte, in großen Gutachten wie in denjenigen Wilhelm Kahls im Lippeschen Erbfolgestreit zutage trat, und unter deren Vertretern in zahlreichen großen Monographien besonders Triepel hervorleuchtete. Diese Richtung konnte auf einer tiefgehenden Literatur des allgemeinen Staatsrechts aufbauen, in der neben den bereits genannten und neben Richard Schmidt, Hatschek, Bornhak besonders Jellinek mit ausgezeichneten Schriften beteiligt war. Als die neue Reichsverfassung von Weimar, von Preuß geformt, entstand, ergriff diese Richtung alsbald die Verarbeitung des neuen Stoffes und schuf eine monographische Literatur und allmählich sogar in zusammenfassenden Werken eine Wissenschaft des neuen Staatsrechts, die sich als Fortsetzung der besten Traditionen der alten Staatsrechtslehre darstellt. Unabhängig von der Einstellung der politischen Parteien, hat sie uns für das staatliche Leben des Reichs und der Länder heute schon eine Richtschnur gegeben, wie sie angesichts der starken Umstellung des Rechtszustandes kaum ein anderes Land der Welt hätte aufbringen können. Es braucht nur an die Arbeit des von Triepel und Holstein geleiteten und durch wertvolle eigene Arbeiten unterstützten Archivs für das öffentliche Recht erinnert zu werden, ferner an das Jahrbuch des öffentlichen Rechts (Triepel, Koellreutter u. a.), an den Kommentar Anschütz' zur Reichsverfassung, ein Joh. Victor Bredts lebensvolles Werk über den Geist der deutschen Reichsverfassung, an Nipperdeys großes Handbuch über die Grundrechte der Reichsverfassung, an dem die Staatsrechtslehrer in großer Zahl mitgearbeitet haben, an Hatscheks, Stier- Somlos und besonders auch Pötzsch-Heffters Bücher über die Reichsverfassung, an Koellreuthers interessante rechtsvergleichende und dogmatische Studien, C. Schmitts, Nawiaskys, Waldeckers, Glums und Leibholz' Schriften und nicht zuletzt, sondern vor allen an Smends tiefgehende Arbeiten. Reich ist dabei auch der Nachwuchs an Staatsrechtslehrern, der mit ausgezeich-

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ncten Leistungen aufgetreten ist und für die z. T. Triepels, Kaufmanns und Smends öffentlichrechtliche Abhandlungen zu einer Pflegestätte wurden. Groß ist endlich die Bedeutung der unter Triepels Führung errichteten Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, die durch ernste juristische Erörterungen der wichtigsten Fragen des Staatslebens der Wissenschaft die gebührende Rangstellung indem Strome der Politik zu verschaffen sucht. Eng mit der Behandlung des Staatsrechts hängt die des Verwaltungsrechts zusammen. Je mehr der deutsche Staat Rechtsstaat wurde, wie besonders Gneist es gefordert hatte, desto mehr verzweigten sich die verwaltungsrechtlichen Erörterungen in die Einzelheiten, desto tiefer wurde zugleich der innige Zusammenhang des Verwaltungsrechts mit den Fundamenten des Privatrechts empfunden. Es darf hier an einen grundlegenden Aufsatz Erich Kaufmanns in Stengel-Fleischmanns inhaltsreichem Wörterbuch des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts erinnert werden, der geradezu programmatische Bedeutung hat. Andererseits aber neben den zusammenfassenden Werken von Loening, Georg Meyer, Dochow, Fleiner und Hatschek auch an die tiefe konstruktioneile Gedankenarbeit Otto Mayers in seinem zweibändigen Werke in Bindings Handbuch, das freilich gerade die materiale Auffassung nicht so stark betont, wie es wohl manchem wünschenswert erschien. Ergänzt werden diese Arbeiten durch sorgfältige systematisierende Zusammenstellung des komplizierten Materials, wie sie neben den erwähnten Handund Lehrbüchern namentlich das sehr brauchbare, jetzt von Peters herausgegebene Buch des Grafen Hue de Grais sowie eine Reihe von einfachen Sammlungen des Gesetzgebungsstoffs den Praktikern schon seit langem geboten hat. Das alles fand Verwendung in der immer mehr ausgebreiteten Verwaltungsrechtsprechung, die in der großartigen, freien, dem Zwecke der Normen Rechnung tragenden Judikatur des Preußischen Oberverwaltungsgerichts gipfelte. Dabei bildeten sich zahlreiche Untersparten des Verwaltungsrechts, die von den Beamten der verschiedenen Ressorts und durch sonstige Praktiker eifrig gepflegt wurden und deren Bearbeitung nicht selten über bloße Registrierung hinauswuchs. Es sei hier besonders an das Bergrecht erinnert, das in der alten Zeitschrift für Bergrecht eine wertvolle Förderung erfahren hat, das aber auch in dem großen Lehrbuche Müller-Erzbachs eine systematische Zusammenfassung fand, ferner darf man z. B. auch die Kommentare zum Enteignungsgesetz und zum Baufluchtliniengesetz, zum Eisenbahnund Postrecht, zu den Gesundheitsgesetzen, zum Beamtenrecht etc. hervorheben. Diese Arbeiten mußten ihre intensive Fortsetzung nach den Verfassungsänderungen 1919 finden. Jetzt brach eine Hochflut verwaltungsrechtlicher Gesetzgebung los, die alle Dämme zersprengte. Obwohl der Stoff sich fast wöchentlich ändert und alle Ressorts in einer Uberfülle von neuen Bestimmungen wetteifern, hat sich die deutsche Rechtswissenschaft doch daran gemacht, auch dieses Gebiet zu sichten und zu durchdringen. Es ist begreiflich, daß hier neue zusammenfassende Werke wenig erscheinen konnten. Doch wurden eine Reihe der älteren Hand- und Lehrbücher umgearbeitet, W. Jellinek veröffentlichte sein Lehrbuch, und es erschien neben vielen Einzelaufsätzen in den Zeitschriften eine große Reihe von kleineren und größeren Kommentaren zu den verschiedenen Gesetzen, die dazu bestimmt sind, die Praxis an die Literatur und Judikatur heranzubringen. Von den Zeitschriften steht auch hier im Vordergrund das Archiv für öffentliches Recht,

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daneben das Verwaltungsarchiv, die Annalen des Deutschen Reichs, das Reichsverwaltungsblatt u. a. Vor allem hat die neueste Zeit eine Reihe wertvoller Einzelschriften gezeitigt, die über die Fülle des bloßen Stoffes hinaus zu den Grundfragen durchdrangen, von denen nur Coesters Rechtskraft der Staatsakte, Holsteins Lehre von der öffentlichen Eigentumsbeschränkung u. a., Lassars Erstattungsanspruch, Peters Grenzen der Kommunalverwaltung genannt sein mögen. Einige Gebiete des Verwaltungsrechts, eng verbunden mit privatrechtlichen Fragen, sind aber besonders gepflegt worden und treten scharf hervor. Zunächst waren es während des Krieges die zahlreichen Gesetze und Verordnungen, welche mit Rücksicht auf den Kriegszustand erlassen wurden. Dahin gehörte die militärische Kriegswirtschaft mit ihren Enteignungen, Beschlagnahmen, die tief in das Enteignungsrecht und das Gewerberecht eingriff und über die ich mich in einem Buche zusammenfassend äußern durfte, und andererseits die Vorschriften über die Kriegsernährung; hier war es besonders auch die bereits gestreifte Erweiterung des Wucherbegriffs, die im sogenannten Sozialwucher hervortrat, und über die namentlich Heinrich Lehmann eine grundlegende Studie vorlegte und Alsberg ein vielgebrauchtes praktisches Buch verfaßte. Man darf sagen, daß dieses große Meer von Vorschriften in schwierigster Zeit nur erlassen und praktisch bewältigt werden konnte mit dem Rüstzeug, welches die Wissenschaft des deutschen Verwaltungsrechts, Strafrechts und Zivilrechts an ganz anderen Objekten vorbereitet hatte; und zwar war dies um so schwerer, als die legislative Vorbereitung dieser Dinge im Gegensatz namentlich zu Frankreich völlig versagt hatte. Lag hierin schon eine gewaltige, wenn auch vorübergehende Leistung deutscher Wissenschaft, so trat das gleiche noch einmal zur Nachkriegszeit in der Bewältigung des Abwicklungsrechts und später in der — wesentlich das Zivilrecht betreffenden und bei diesem nochmals zu erwähnenden — Aufwertungsgesetzgebung hervor. Unmittelbar aus dem Kriegsrecht heraus insbesondere im Anschluß an das Hilfsdienstgesetz und das Demobilmachungsrecht sowie an das bisherige Sozialrecht erwuchs im Rahmen der veränderten politischen Verhältnisse das neue Arbeitsrecht und ebenso in Anlehnung an die sozialisierende Kriegsgesetzgebung das neue deutsche Gewerberecht. Man darf dabei das Neue dieser Regulierungen nicht überschätzen; die Grundgedanken des Arbeitsrechts und der damit zusammenhängenden Sozialversicherung waren bereits im Bismarckschen Reich besonders seit der berühmten Botschaft Kaiser Wilhelms I. ausgebaut worden, das Bürgerliche Gesetzbuch und die Gewerbeordnung hatten dem sozialen Gedanken in weitem Umfange Rechnung getragen. Der Tarifvertrag, das Recht auf Arbeitseinstellung waren weit entwickelt. Es handelt sich im wesentlichen um Steigerung und Verfeinerung der vorhandenen Ideengänge und Normen, namentlich im Sinne einer Verstärkung der Arbeiterorganisationen in den Betriebsräten, in der Verschärfung der Tarifvertragsbestimmungen, im Ausbau der Arbeitslosenversicherung und anderem. Dazu kam der Versuch einer Verwirklichung des Sozialisierungsgedankens für die Unternehmungen und der Schutz gegenüber Auswüchsen des Kartellwesens. Aber immerhin brachte diese Gesetzgebung unendlich viel überaus schwer zu überblickende Einzelheiten und doch auch eine Anzahl völlig neuer Ge-

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danken, welche der veränderten politischen und wirtschaftlichen Sachlage entsprachen. Dabei aber vermochte man in der Bearbeitung durchaus an das wissenschaftlich Vorhandene anzuknüpfen. Die Wissenschaft des Arbeitsrechtes hatte bereits vor dem Kriege bei uns auf einer sehr hohen Stufe gestanden. Es sei an die Namen Rosin, Laß, Klehmet, Kaskel-Sitzler, Manes, Stier-Somlo im Sozialversicherungsrecht und die zahlreichen dazu erschienenen Kommentare, an den Kommentar Landmanns zur Gewerbeordnung, an Nelkens und SeydelSchechers gewerberechtliche Arbeiten, an das Werk Lotmars zum Arbeitsvertrag und die ebenfalls hierher gehörigen Schriften von Sinzheimer, Potthoff, Kaskel erinnert. Alles wurde getragen und unterstützt von den Werken der Nationalökonomen, wie Schmoller, Herkner und viele andere. Hieran vermochte man nach dem Kriege anzuknüpfen und weiter zu bauen. Auf dem Gebiete des Arbeitsrechtes kommt dabei ein hohes Verdienst dem allzu früh verstorbenen Kaskel zu, der sich diesem Gegenstande völlig hingab. Ferner ist hier zu erinnern an die Arbeiten von Oertmann, Nipperdey, Hueck, Erwin Jacobi, ferner an Sitzler, Syrup und Hoeniger, an die großen Sammelwerke von Schultz-Wehrle und von v. Karger-Erdmann, an die neue Zeitschrift für Arbeitsrecht von Kaskel-Sitzler, die neben Potthoffs alte Zeitschrift für Arbeitsrecht trat, ferner an die von Erwin Jacobi herausgegebene ausgezeichnete Reihe von Schriften des Instituts für Arbeitsrecht an der Universität Leipzig und auch an eine Anzahl von Schriften in den von mir herausgegebenen Arbeiten zum Handels-, Landwirtschafts- und Gewerberecht, besonders an das von Molitor, Nipperdey und Schott bearbeitete europäische Arbeitsvertragsrecht. Dazu kommen zahlreiche Sonderzeitschriften. Für das Gewerberecht sind besonders die neue Auflage des Landmannschen Kommentars durch Rohmer, die zusammenfassenden Darstellungen des Wirtschaftsrechtes von A. Nußbaum und Hans Goldschmidt und die wertvollen Kartellbücher Flechtheims und Isays zu nennen, sowie J. W. Hedemanns hervorragendes Buch über Reichsgericht und Wirtschaftsrecht. Alles dieses begleitet von einer Uberfülle kleinerer Schriften und Kommentare, einer kaum übersehbaren Reihe von Entscheidungen und einer großen Literatur der lege ferenda. Wie längst schon vor dem Kriege steht Deutschland nicht nur mit der Gesetzgebung, sondern auch mit der wissenschaftlichen Verarbeitung dieser Materien an der Spitze der Weltliteratur, was nicht ausschließt, daß neben der Bewältigung des Stoffes noch eine erhebliche Konzentrierung auf grundlegende Fragen möglich bleibt. Eine andere Seite des Verwaltungsrechtes (und ausschließlicher diesem zugewandt) ist das Finanz- und Steuerrecht. Ursprünglich vor allem in den Lehrbüchern der Finanzwissenschaft mitbehandelt, war es allmählich Gegenstand besonderer verwaltungsrechtlicher Darstellung geworden, nicht nur in StengelFleischmanns und von Bitters Lexiken, sondern auch in besonderen, teils streng juristisch, teils mehr wirtschaftspolitisch orientierten Schriften, von denen hier namentlich diejenigen von Strutz (z. B. über direkte Staatssteuern, Abgabenrecht), von Schwarz-Strutz über den preußischen Staatshaushalt, von Johann Viktor Bredt über die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit hervorgehoben sein mögen, Schriften, wie sie besonders seit der Miquelschen Finanzreform hervortraten. — Das infolge der Staatsumwälzung stark veränderte Steuerwesen rief nicht

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nur ein ganz neues Steuerrecht im Anschluß an die Reichsabgabenordnung hervor, sondern erzeugte auch eine neue Literatur, welche immer mehr in die feinsten Einzelfragen juristisch einzudringen suchte, was freilich bei dem seiner Natur nach ephemeren Steuerrecht bisweilen nicht ganz unbedenklich ist. Werke wie Beckers Buch über die Reichsabgabenordnung (1928 IV ) und der von ihm und anderen herausgegebene Kommentar über die Reichssteuergesetze, Popitz' Kommentar zum Umsatzsteuergesetz, Strutz' Einkommensteuergesetz und das tiefgehende Werk von Kipp über das Erbschaftssteuergesetz (1924) führten zu prinzipiellen Erörterungen hinüber, wie sie uns in Strutz' Grundlehren, in Bühlers Lehrbuch des Steuerrechtes, in Albert Hensels und L. Waldeckers Steuerrecht entgegentreten, während H. Mirbt eine Übersicht im Grundriß gab. Dazu kamen vor allem die Entscheidungen des neu gegründeten Reichsfinanzhofes und mannigfache sonstige Judikatur. Hier ist ein Zweig des Verwaltungsrechtes in der Ausbildungbegriffen, welcher auch im Rechtsunterricht zur Behandlung privatrechtlichöffentlicher Grenzgebiete geeignet erscheint, der aber bei aller hohen Bedeutung für die Volkswirtschaft und Politik nach der grundsätzlich-juristischen Seite nicht so ausgiebig sein kann, wie manche annehmen möchten, da die eigentlichen grundlegenden Probleme doch schließlich in den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Problemen zum guten Teil aufgehen und da auch ähnlich wie beim Arbeitsrecht die Wichtigkeit der mit dem Steuerrecht zusammenhängenden wirtschaftlichen und sozialen Fragen leicht zu einer Überschätzung der juristischen Seite in der Presse und sonst in der öffentlichen Meinung führt. Immerhin hat hier deutscher Scharfsinn und deutscher Fleiß sich ein neues Gebiet erobert. Das Kirchenrecht hat in Deutschland seit alters besondere Pflege gefunden. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist die wichtigste, für die ganze Welt bedeutsame Erscheinung das Werk von Hinschius über das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten (1869—1897) gewesen. Das schloß den Einfluß der seit Eichhorn entstandenen sonstigen Lehrwerke nicht aus. Insbesondere nicht den des berühmten Kirchenrechtslehrbuches von Aemilius Richter, das zuerst Dove, dann Wilhelm Kahl neu herausgaben. Kahl hat in jener Zeit auch die wichtigsten Grundlehren, namentlich des Staatskirchenrechts in seinem Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik (I, 1894) lebensvoll dargestellt. Von evangelischer Seite kamen daneben besonders Friedbergs Lehrbuch und sein Werk über das geltende Verfassungsrecht der evangelischen Landeskirchen in Betracht, ferner Schöns zweibändige Darstellung des preußischen evangelischen Kirchenrechts. Auf der anderen Seite stehen die Arbeiten über das katholische Kirchenrecht von Philipps, dessen letzter Band 1889 von Vering herausgegeben wurde, ferner HergenrötherHollwerk, Sägmüller, Lämmer, Silbernagl, des deutschbürtigen Generals der Gesellschaft Jesu, Wernz, und andere. Besonders tiefgehend entwickelte sich aber in dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die geschichtliche Forschung auf dem Gebiet des Kirchenrechts; Editionen wie Hinschius' Pseudo-Isidor, Friedbergs Corpus Juris Canonici und zahlreiche andere erschienen, Emil Seckel bereitete in seinen tiefbohrenden Studien zum Benedictus Levita die notwendige Neuausgabe dieses Werkes vor. Von Arbeiten darstellenden Charakters sind besonders Lönings Geschichte des deutschen Kirchenrechtes, Werminghoffs Geschichte

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der Kirchenverfassung in Deutschland und Sohms Kirchenrecht in Bindings Handbuch zu erwähnen. Vor allem bemühte sich U. Stutz mit großem Erfolge um die Geschichte des Kirchenrechtes. Seine glänzende Darstellung in Holtzendorffs Enzyklopädie, sein Buch über das Eigenkirchenwesen und die von ihm geleitete Sammlung Kirchenrechtlicher Abhandlungen sowie die von ihm (jetzt gemeinsam mit Feine) geführte kanonistische Abteilung der Savigny-Zeitschrift haben weithin die kirchliche Rechtsgeschichte gefördert. An Zeitschriften haben namentlich das Archiv für katholisches Kirchenrecht (Vering, Hilling und andere) und die leider eingegangene deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht (Friedberg, Sehling) gewirkt. Diese kirchenrechtliche Arbeit bekam durch zwei Ereignisse eine besondere Wendung, durch den neuen Codex Juris Canonici der katholischen Kirche und durch die organisatorische Neugestaltung der evangelischen Kirchen Deutschlands infolge des Fortfalls des Summepiscopats der deutschen Landesherren. Dazu kamen die Ereignisse der Staatsumwälzung, welche die Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche notwendig nach sich zog — reichlicher Neustoff für die Arbeit am Kirchenrecht, die um so schwieriger wurde, als der Kreis der Mitarbeiter auf wissenschaftlichem Gebiet sich immer mehr lichtete. Immerhin ist auch hier erfreulich weiter gearbeitet worden. Stutz hat in seinem Geist des Corpus Juris Canonici die Fragen des neuen katholischen Kirchenrechtes in Angriff genommen und durch Fortführung seiner Abhandlungssammlung und der kanonistischen Abteilung der Savigny-Zeitschrift organisatorisch gewirkt. Johann Victor Bredt hat durch sein dreibändiges, namentlich auch in der historischen Darstellung wertvolles Neues evangelisches Kirchenrecht für Preußen (1921—1927) dieses Gebiet zusammenfassend in Angriff genommen. Wichtige Monographien zum evangelischen Kirchenrecht haben in der Frage der Stifter besonders Alfred Schultze und Heckel geliefert, und Holstein hat die Grundlehren des evangelischen Kirchenrechtes erörtert. Unter den sonstigen kirchenrechtsgeschichtlichen Einzelschriften ragen besonders Feines und Heckeis Arbeiten hervor. Auch die Editionstätigkeit schreitet wieder vorwärts: jüngst hat die preußische Akademie der Wissenschaft die von Emil Seckel noch vorbereitete Reihe der Texte zur Geschichte des römischen und kanonischen Rechtes des Mittelalters mit Ernst Pereis' Ausgabe der Vita Christiana des Bonizo, einer wichtigen Kanones-Sammlung des 11. Jahrhunderts, eröffnen können. Es ist zu hoffen und zu wünschen, daß das Kirchenrecht, obwohl seine Pflege an den juristischen Fakultäten im Sinken ist, in Deutschland wieder auf die alte Höhe gelangt. Das Völkerrecht war in Deutschland seit langer Zeit im engen Zusammenhange mit der Völkerrechtswissenschaft der anderen Staaten, namentlich Frankreichs, Englands und Italiens, gepflegt worden. Auf die Werke von Martens, Klüber und Heffter waren in dem hier in Betracht kommenden Zeitraum Holtzendorffs Handbuch des Völkerrechtes, die Abrisse von Holtzendorff, Stork, v. Martitz und besonders von Heilborn, die Lehrbücher von Gareis, Zorn, Ulimann, Rivier, von Liszt, sowie Stier- Somlos Handbuch des Völkerrechts gefolgt. Eine rege monographische Literatur entstand, der unter anderem auch in Kohlers und Oppenheims Zeitschrift für Völkerrecht, aber auch in Niemeyers Zeitschrift für Internationales Recht eine Stätte bereitet war. Große Einzelwerke, wie von Martitz* zweibändiges Werk über

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die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (1888/1897) und Triepels Völkerrecht und Landesrecht (1899), zeigten, daß die guten Methoden der deutschen Rechtswissenschaft sich auch auf dem Gebiete des Völkerrechts bewährten. In der letzten Zeit vor dem Kriege finden wir neben der eingehenden Erörterung des Problems der Gerichtsbarkeit über fremde Staaten eine starke Diskussion über die alte Frage der clausula rebus sie stantibus, wobei besonders das viel erörterte Buch Erich Kaufmanns von 1911 hervortrat, an das sich später (1921) seine Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie anschloß. Die Haager Konferenz und die pazifistische Bewegung lösten dann vor dem Kriege eine vielfach politisch gefärbte Literatur aus, in der etwa neben Lammaschs Internationaler Schiedsgerichtsbarkeit besonders Walter Schückings Schriften, von großer Begeisterung getragen, stark hervortraten, viel bekämpft, aber doch mancherlei Gedanken bringend, welche man, wie die Zukunft zeigte, nicht immer genügend beachtet hatte. Aber auch Schücking stand in vielen Fragen nicht nur unter dem Einfluß der damaligen pazifistischen Ideen, sondern auch er sah, wie viele andere Völkerrechtslehrer, bisweilen zu gläubig auf die völkerrechtlichen Ansichten der westlichen Völker, namentlich Englands und Amerikas. Der Krieg und sein Ausgang zeigten deutlich, daß besonders die englische Kriegsrechtlehre Sätze enthielt, die bis dahin als allgemein gültige in ganz Europa angenommen, doch stark auf die Bedürfnisse der englischen Seestellung zugeschnitten waren. Im Kriege entstand nun eine reiche Literatur des Kriegsrechts, die unserer Völkerrechtslehre viele neue Noten brachte. Es sei hier an Triepels Freiheit der Meere und seine Schrift über die Blockade, an die zahlreichen und inhaltsreichen Schriften von Pohl sowie an Wehbergs Seekriegsrecht erinnert; Triepel unternahm mit Pohl auch die Herausgabe einer Sammlung von Quellen und Studien zum Seekriegsrecht. Der für uns furchtbare Abschluß des Krieges mit dem Versailler Vertrage und die im Völkerbunde gipfelnden Versuche nach einer Neugestaltung der internationalen Organisation lösten dann eine reiche weitere Literatur aus, welche sich mit allen diesen Fragen befaßt. Das Völkerrecht bedarf gerade in der heutigen Lage bei uns der eingehendsten Pflege, und zahlreiche Kräfte sind an der Arbeit, was keineswegs ausschließt, daß hier noch mehr geschehen könnte. Neben den erwähnten völkerrechtlichen Autoritäten, von denen die noch Lebenden in vielfältigen Publikationen fortarbeiten, begegnen neue Erscheinungen, wie Herbert Kraus' Staatsethos im Internationalen Verkehr, PohlSartorius' Modernes Völkerrecht, Hatschecks Völkerrecht als System rechtlich bedeutsamer Staatsakte, Kohlers Lehrbuch, zahlreiche Arbeiten zum Völkerbundsrecht, wie die Schrift v. Bülows und eine größere Anzahl von Schriften Schückings sowie vielfältige Arbeiten zur Tätigkeit der gemischten Schiedsgerichte. Eigentümlich neue Gedanken zur Souveränitätslehre und damit zum Völkerrecht hat Kelsen entwickelt, dem freilich mannigfacher Widerspruch zuteil geworden ist; neue Gedanken führte auch v. Verdross in zahlreichen Schriften aus. Auf der andern Seite wurde von Liszts Völkerrecht durch Fleischmann dankenswert neu herausgebracht; in vierter Auflage erschienen Strupps Grundzüge des positiven Völkerrechts, der auch sonst in Einzelschriften unermüdlich arbeitete und durch sein Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie (1922—28) ein wichtiges Orientierungswerk geschaffen hat. Er gibt auch zusammen mit Fleischmann jetzt die Zeitschrift für Völker-

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recht heraus. Eine besondere Stätte aber ist durch das Institut der Kaiser-WilhelmGeseüschaft für öffentliches Recht und Völkerrecht unter der Leitung von Victor Bruns geschaffen worden, welches die ausgiebige Heranziehung der ausländischen Literatur und sonstiger Auslandsbeziehungen ermöglicht und welches durch seine Zeitschrift, wie deren erster Band beweist, die Probleme durch die organisatorische Kraft und die eigene wissenschaftliche Betätigung seines Leiters entscheidend fördert. Auch die von dem Institut herausgegebenen monographischen Beiträge beweisen dessen befruchtende Tätigkeit. Im Rahmen des Instituts gibt ferner Triepel jetzt auch den von ihm schon seit 1908 geleiteten Recueil de Traités (Martens) heraus, das bedeutendste Quellenwerk des Völkerrechts für die ganze zivilisierte Welt. Es ist zu wünschen daß gerade das Völkerrecht auch im Unterricht weitere reiche Pflege findet, damit wir einen Nachwuchs von streng wissenschaftlicher Art heranreifen sehen. Viel ist schon geschehen, noch mehr bleibt zu tun. Das Strafrecht hatte unter dem Bismarckschen Reich durch das Strafgesetzbuch vom 15. Mai 1871 endlich die notwendige Vereinheitlichung erfahren, und eine intensive Arbeit, welche auch für das Ausland vorbildlich wurde, hat sich daran geknüpft. Auf den Grundlagen, welche schon das allgemeine Landrecht und dann besonders Feuerbach, weiterhin Mittermaier, Köstlin, Hefter, Berner und andere geschaffen hatten, wurde das damals neue Recht bearbeitet, und bald rangen sich zwei Schulen heraus, die unter Binding und v. Liszt sich bekämpften und deren Gegensatz sich als ungemein fruchtbar erwiesen hat. Die sogenannte klassische Lehre Bindings fand in v. Liszts soziologischer Betrachtung des Verbrechens ihre notwendige Ergänzung, und v. Liszts Bestrebungen drängten in Strafrecht, Strafvollstreckung und Strafprozeß naturgemäß besonders stark auf eine gesetzliche Neuregelung der Materie hin, die ja naturgemäß niemals, auch nicht zeitweise, ganz befriedigend geordnet sein kann, weil das Strafrecht immer ein Notrecht bleiben muß, das die primitive Sicherheit der menschlichen Existenz mit primitiven Mitteln herzustellen hat und das mit seinem System fester Strafen den hier gerade besonders in Betracht kommenden feinsten Regungen der Menschenseele sich noch schwerer anzupassen vermag als das Recht mit seinen auf Massenerscheinungen eingestellten Regeln überhaupt. Aber schon ehe es zu einer Neuregelung kommen konnte, hatte die deutsche Strafrechtswissenschaft eine Verarbeitung der Rechtssätze angestrebt, welche diese Schwierigkeiten zu überbrücken suchte. Freilich lief ein großer Teil der Rechtsprechung und mit ihr auch ein großer Teil des Schriftwesens in überfeine Scholastik aus. Wenn man als Nichtkriminalist das ungeheure Entscheidungsarchiv durchmustert, welches wir inOlshausens Kommentar vor uns haben, und wenn man dazu namentlich die älteren Reichsgerichtsentscheidungen heranzieht, so fragt man sich unwillkürlich, ob mit dieser Zerfaserung der Strafrechtsbestimmungen der Menschheit wirklich genützt wird und ob nicht ein grobkörniges Strafrecht, wie es England und auch Frankreich haben, vielleicht eindringlicher und klarer zu wirken vermöchte, namentlich bei sorgfaltiger Erforschung der Strafzumessungsfragen und des Vollzugs. Aber trotz aller Scholastik lebt in diesem Gewirr von Rechtssätzen, welche aus den 370 Paragraphen des Strafgesetzbuches und aus den schon vor dem Kriege leider viel zu zahlreichen strafrechtlichen Sanktionen der sogenannten Nebengesetze entwickelt worden sind, da8 Festschrift Schmidt-Ott

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neben soviel wertvollstes Gedankengut, so viel philosophische, wirtschaftliche, allgemein kulturelle, historische und rechtsvergleichende Betrachtung, daß man auf dieses Erzeugnis der deutschen Strafrechtswissenschaft stolz sein muß. Die Ergebnisse der Strafrechtswissenschaft sind in einer reichen Literatur enthalten, welche in zahlreichen Monographien, Zeitschriftenaufsätzen, Lehr- und Handbüchern sowie Kommentaren niedergelegt worden sind. Es mag hier an Bindings Normen erinnert sein, an v. Liszts, Merkels, Geyers, Glasers, Kohlers gesammelte Schriften, an v. Bars Gesetz und Schuld, an die Lehrbücher von Berner, v. Liszt, Binding, Meier-Allfeld, Merkel, die Grundrisse vonBinding, v. Beling, Geyer, v. Lilienthal, Birkmeyer, Wachenfeld und andere, an den vorbildlichen Kommentar R. Franks, an die Arbeiten zum Gefangnisrecht von B. Freudenthal, an Holtzendorffs und Jagemanns Handbuch des Gefangniswesens und das Lehrbuch Krohnes; an die Lehrbücher des Strafprozesses von Bennecke-Beling, v. Rosenfeld, an die Kommentare zur Strafprozeßordnung von Stenglein, Loewe-Hellweg und viele andere. Eine große Reihe von Zeitschriften entstand und gedieh. An der Spitze steht die von v. Liszt gegründete Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (seit 1881), jetzt von Kohlrausch geleitet, ferner der Gerichtssaal (ötker und Finger), das Archiv für Strafrecht (Goldtammer, dann J. Kohler), das Großsche Archiv für Kriminalanthropologie und Aschaffenburgs Monatsschrift für Kriminalpsychologie. Von Deutschland her, durch Franz v. Liszt, wurde auch die internationale kriminalistische Vereinigung gegründet. Von dieser wurde die Strafgesetzgebung der Gegenwart herausgegeben (1894—1898), und es erschien zur Vorbereitung der Gesetzgebung die vergleichende Darstellung des deutschen und außerdeutschen Strafrechtes in sechzehn Bänden (1903—1909). Die Reformbestrebungen führten 1909 zum Vorentwurf eines Strafgesetzbuches, es folgten Entwürfe von 1913, 1919 und schließlich der amtliche Entwurf von 1925, der jetzt im Reichstag zur Beratung steht. So führt die Reformarbeit, in der sich jetzt in Deutschland alle Interessen der Strafrechtswissenschaft kreuzen, als Brücke aus dem Vorkriegszustand herüber zu unserer Zeit. Im Strafrechtsausschuß und in der Reformbewegung überhaupt hat die wissenschaftliche Führung Wilhelm Kahl, der ehrwürdige Nestor der Berliner Juristenfakultät, der reine und edle Mensch. Die Gegensätze der Lisztschen und Bindingschen Schule, im einzelnen natürlich für alle Zeiten vorhanden, sucht Kahl in seiner unermüdlichen Tätigkeit gesetzgeberisch auszugleichen, und dies ist dieselbe Linie, auf der die ReichsjustizVerwaltung unter Führung des hervorragenden Staatssekretärs Joel schon lange arbeitet. Dieses wissenschaftliche Kompromiß findet seine weniger erfreuliche Ergänzung in den Kompromissen zwischen den politischen Parteien auf strafrechtlichem Gebiete, deren Gegensätze das Fortschreiten des Werkes bisweilen ernstlich gefährden. Sofern politische Parteien wirklich von Lebensanschauungsgegensätzen ausgehen, ist ein Machtstreben bei der tiefeinschneidenden Materie des Strafrechtes durchaus verständlich. Aber schließlich muß doch der Gedanke der Gerechtigkeit und die sorgsame und zugleich milde Abwägung der Lebensinteressen unter diesem Gesichtspunkt als letztem Leitstern entscheiden, wie die Wissenschaft sie in heißem Bemühen anstrebt. Es ist mit Sicherheit zu erwarten, daß es der deutschen Wissenschaft gelingt, hier den Sieg zu erreichen; Kompromisse freilich werden

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dabei noch genug übrig bleiben. Man darf aber sagen, daß dasWerk, wie es gegenwärtigheranwächst und wie es in Fühlung mit der ganzen zivilisiertenWelt entsteht, als Zwischenlösung auch für die ganze Welt Bedeutung haben wird, ja selbst dann Bedeutung haben würde, wenn die heißen Bemühungen nicht alsbald zu einem legislatorischen Abschluß fuhren würden. Dabei dringen siegreich viele soziale Gedanken durch, wie sie gerade für die Gesetzgebung Franz v. Liszt gewiesen hat, und die Betonung des sozialen Gedankens wird stets der größte Ruhm einer Strafgesetzgebung bleiben. Wurde und wird dieses Reformwerk von den Gedankengängen der deutschen Strafrechtswissenschaft getragen, so hat diese doch ihre Arbeit auch am positiven Recht unverdrossen fortgesetzt. Auch nach dem Kriege erschienen neue Auflagen von Franks Kommentar, von v. Liszts Lehrbuch durch Eberhard Schmidt, von den Lehrwerken Allfeld und v. Belings; es erschien der sogenannte Leipziger Kommentar von Ludwig Ebermeyer und anderen; ferner Heinrich Gerlands kluges Buch über das deutsche Reichsstrafrecht, R. v. Hippels allgemeine Grundlagen des Strafrechts, Kohlrauschs scharfsinnige Handkommentare zum Strafgesetzbuch und zur Strafprozeßordnimg, Naglers Strafe, Mezgers und Erik Wolfs gehaltvolle Schriften und vieles Andere. Der Stand unserer Strafrechtsliteratur, wie er etwa auch in dem strafrechtlichen Bande der großen Reichsgerichtfestschrift der deutschen Juristenfakultäten hervortritt, gibt die Sicherheit, daß dem Versuche, das künftige Strafgesetzbuch nach seinem Erscheinen in Scholastik aufzulösen, ein kräftiger Widerstand entgegengesetzt wird. Weiter zurück steht die wichtige und längst geforderte Revision des Strafprozesses. Daß sie noch nicht voll durchgeführt werden konnte und daß man sich mit einigen Verbesserungen der Rechtszugsordnung, der Verfahrensvorschriften und einer Erweiterung der Privatklage und des Strafbefehles 1924 begnügen mußte, hat seine Gründe nicht etwa im Versagen der deutschen Wissenschaft, sondern in der stark politischen Bedeutung des Strafprozesses. Die Wissenschaft hat auch hier neben der Reform-Diskussion am positiven Recht weiter gearbeitet, neben der Neuauflage des Löweschen Kommentars und des Großschen Handbuchs für Untersuchungsrichter ist auf die grundlegenden systematischen Werke von Heinrich Gerland (1927), von Beling (1928) und Graf Dohna (1925) sowie auch die Grundrisse von Ernst Meyer und von Lilienthal hinzuweisen. — Das Fundament des gesamten Rechtes, das Privatrecht, hat bekanntlich in der hier zu schildernden Periode in Deutschland eine tief einschneidende Veränderung erfahren. Bei der Gründung des Bismarckschen Reiches herrschte noch das gemeine römische Recht in weiten Gebieten praktisch, und es war zugleich der Mittelpunkt der gesamten Juristenausbildung und damit der Rechtslehre. Das daneben geltende preußische Allgemeine Landrecht, das sächsiche bürgerliche Gesetzrecht und mancherlei Partikularrechte traten etwas zurück. Am 1. Januar 1900 kam das bürgerliche Gesetzbuch nach langer Vorbereitung zur Geltung. Daher haben wir bis dahin zunächst noch eine breite gemeinrechtliche und daneben eine partikulare Privatrechts-Literatur. Die erstere gipfelt in denPandektenlehrbüchern von Windscheid, Dernburg, Brinz, Regelsberger, Ernst Immanuel Bekker, abgesehen von den älteren Werken seit Savigny und Puchta; sie war angetrieben durch Iherings ein8*

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schneidende Wirkung im Sinne einer zweckbetonten, das römische Recht überwindenden Jurisprudenz. Daneben aber standen die Werke über deutsches Privatrecht, unter denen Otto Stobbes und besonders Otto v. Gierkes Werk, dessen erster Band 1895 erschien, mächtig im Sinne einer nationalen Fortbildung des Rechtes wirkten, unterstützt von bedeutenden partikularrechtlichen Werken wie besonders den von Dernburg und Förster-Eccius über preußisches Privatrecht. Im Ganzen war es ein monumentaler Abschluß der gemeinrechtlichen Periode, weit über Deutschlands Grenzen hinaus von Bedeutung. Denn diese Literatur, das Ergebnis einer durch ein Jahrhundert fortgesetzten und auf älteren Fundamenten beruhenden Arbeit der deutschen Gelehrten, hat wie in den romanischen Rechten, so sogar im englischen Rechte tiefe Spuren hinterlassen. Sie stützte sich auf eine üppige Fülle monographischer Arbeiten, welche teils in Einzelschriften, teils in hochangesehenen Zeitschriften zur Geltung kamen. Es darf hier auf das Archiv für die zivilistische Praxis, auf Iherings dogmatische Jahrbücher, auf die SavignyZeitschrift, auf Grünhuts Zeitschrift, auf Kohlers und Rings Archiv für bürgerliches Recht, auf Gruchots Beiträge, seit 1872 auch schon die juristische Wochenschrift, seit 1896 die deutsche Juristenzeitung hingewiesen werden, sowie auf die großen Entscheidungssammlungen, namentlich das alte Seuffertsche Archiv, die Entscheidungen des preußischen Obertribunals, sowie die Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichtes und Reichsgerichtes. Besonders seit Mitte der achtziger Jahre bemühte sich diese Literatur auch um die Vorbereitung des bürgerlichen Gesetzbuches, namentlich in den Zeitschriften und in Einzelschriften, an der Spitze O. v. Gierkes Kritik, und dann auch in besonderen Sammlungen, wie Bekkers und Fischers Beiträgen; daran schließt sich das mächtige Material zur Ausarbeitung des bürgerlichen Gesetzbuches, das namentlich in seinen Vorentwürfen der Redaktoren und den daraus abgeleiteten Motiven überall die engen Verbindungsfäden zur damaligen Rechtswissenschaft aufweist und aus ihr herausgewachsen ist. Wir haben es erlebt, wie dann mit der Fertigstellung des Gesetzbuches um die Jahrhundertwende die Bearbeitung des neuen Rechtsstoffes, geschult an der bisherigen wissenschaftlichen Methode, einsetzte. Es war natürlich, daß zunächst eine gewisse Scholastik und ein gewisser Paragraphenkult sich breit machte, der dann, als in größerer Zahl Gerichtsentscheidungen vorhanden waren, in einen Präjudizienkultus umschlug. Aber von Anfang an erschien auch eine Literatur, welche tiefer griff und die wahren Schätze zu heben trachtete. Es darf hier an die hohen Verdienste der von Otto Fischer herausgegebenen Sammlung zum bürgerlichen und Prozeßrecht erinnert werden, an die oben genannten zivilistischen Zeitschriften, die noch durch andere, wie die Leipziger Zeitschrift, vermehrt wurde, an zahlreiche Einzelschriften, für die nur Namen wie Strohal, O. Fischer, Rümelin, Stammler, Kipp, Titze, Rabel, Rudolf und Franz Leonhard, Manigk, Hachenburg, Oertmann, Seckel genannt sein mögen. Es entstanden alsbald Lehrbücher großen Stils, wie Dernburg, Endemann, Crome, Cosack, Kohler, Enneccerus-Lehmann, später Eneccerus-Kipp-Wolff, das sich zum führenden Lehrbuch entwickelte, neben denen aber vor allem die Fortsetzung des Gierkeschen deutschen Privatrechtes für Sachenrecht und Schuldverhältnisse hervorzuheben ist. Zahlreiche kleinere Werke, wie Strohais Erbrecht, Ecks wertvolle Vorträge, die Bücher von Landsberg und Matthias, das praktisch

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gerichtete Buch von Simeon-David und andere traten ergänzend hinzu. Zugleich erhob sich eine große Kommentarliteratur, in der allen voran Plancks Kommentar schritt, daneben der vielgebrauchte, als ungeheueres Sammelwerk erscheinende Staudingersche Kommentar, beide von einer ganzen Reihe von Mitarbeitern verfaßt. Ferner die Bearbeitung einzelner Teile des Gesetzbuches durch Oertmann, Biermann, v. Blume-Opet, Franz Leonhard, Niedner, Hölder, Schollmeyer, A. B. Schmidt und Fuchs und zahlreiche kleine Handkommentare, unter denen besonders Achilles und Fischer-Henle, die in vielen Tausenden von Auflagenziffem erschienen, zu erwähnen sind. Das alles wird ergänzt durch die Kommentare zu den Nebengesetzen, von denen besonders die Grundbuchordnung eine Bearbeitung zuerst durch Turnau, ferner besonders durch Güthe und durch Eugen Fuchs erfuhren. Diese Literatur ist nach dem Kriege einfach fortgesetzt worden; manche weniger in Gebrauch befindliche Kommentare und Lehrbücher sind versandet, dafür entfalten sich andere in Neuauflagen, so die Lehrbücher von DernburgRaape, Cosack - Mitteis, Simeon-David und vor allen Eneccerus - Kipp - WolfF, weiterhin dieKommentare von Planck und Staudinger. Neu traten hinzu z. B. Rosenbergs Sachenrecht, Grundrisse über einzelne Teile des Gesetzbuches, namentlich von Heinrich Titze, Heinrich Lehmann, Julius von Gierke und andere, welche vielfach umfassende Lehrbücher überragen, ferner das scharfsinnige Werk Ph. Hecks über die Schuldverhältnisse und die glückliche Fortsetzung desTuhrschen Bürgerlichen Rechts in Bindings Handbuch durch Franz Leonhard für die Schuldverhältnisse. Es gelang ferner nach dem Kriege die oben genannten zivilistischen Zeitschriften aufrecht zu erhalten, eine reiche monographische Literatur bestand fort. Freilich hat sich im Laufe der Zeit, wie es nicht anders sein konnte, der Charakter der Arbeit vielfach geändert. Das bürgerliche Gesetzbuch und seine Nebengesetze sind durch die ungeheuer angewachsene Judikatur, die im Ubermaße gedruckt wird, weiterhin aber auch durch die Literatur, im Zusammenhang mit den neuen aus den veränderten Wirtschaftsverhältnissen sich ergebenden Fragen, derart umgemodelt und ergänzt worden, daß, wer den Stoff des bürgerlichen Rechts heute mit dem Stoff von etwa 1900 vergleicht, ein vollkommen neugestaltetes Recht vor sich sieht. Nicht nur weil die sogenannte Freirechtsschule drängte, sondern aus Naturnotwendigkeit ging die zunächst noch nach altem Gerichtsgebrauch eng am Wortlaut klebende Judikatur immer mehr zur freieren Auslegung über, gestützt auf die Wissenschaft, die man freilich in steigendem Maße in den Entscheidungen nicht mehr zu zitieren pflegte, aber trotzdem reichlich ausschöpfte. Nicht nur weil der hochverdiente Verein »Wirtschaft und Recht« es dringend verlangte, sondern durch die Bedürfnisse der Zeit und das innerste Wesen des Rechts getrieben, ging die Judikatur, namentlich des Reichsgerichts, auch hier von der Wissenschaft getragen, allmählich zu einer Betrachtung des Rechts über, welche wirtschaftliche und überhaupt kulturelle Gesichtspunkte über die Paragraphenscholastik setzte. Freilich der Aufbau des bürgerlichen Gesetzbuches ist so kompliziert, seine Gedankengänge sind unter dem Drucke, der höchst verschiedenartigen und oft sehr kasuistischen Rechtsideen der vorausgegangenen Zeit und auch infolge des bürokratischen Geistes eines Teils der Gesetzverfasser so verwickelt, daß unser

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Recht in dieser Hinsicht vom französischen und englischen, wie auch von dem — auf dem Deutschen Gesetzbuche doch schließlich aufgebauten — Schweizer Zivilgesetzbuche Eugen Hubers sich doch nicht immer günstig unterscheidet. Man muß eine überaus komplizierte Gesetzestechnik beherrschen, wenn man anfangen will, sich frei und schöpferisch zu bewegen; es ist in dieser Hinsicht eine Routine unentbehrlich, wie sie im Auslande sonst etwa nur noch im englischen Immobiliarrecht erforderlich ist. Wie schlicht wirken dagegen die Deduktionen der französischen Juristen. Ohne Beherrschung dieser Technik etwa schöpferisch Recht schaffen zu wollen, würde, wenngleich manche extremen Freirechtler es wünschen, zu bloßen Willkürlichkeiten führen. Es konnte nicht ausbleiben, daß, wie schon zur Zeit des seligen Obertribunals, weitere, wenn auch nicht gerade wirklich wissenschaftliche juristische Kreise in einer solchen scharfsinnigen Technik gewissermaßen der juristischen Weisheit letzten Schluß erblicken. Sie übersehen dabei, daß das, was der Meister der Technik als bloße Vorarbeit betrachtet und mit Scharfsinn schöpferisch überwindet, — wie wir es zum Beispiel bei Martin Wolff sehen, — zugleich das gefahrliche Netz sein kann, in der die bescheidene juristische Fliege hängen bleibt und, rabulistisch um sich schlagend verendet. Unerfahrene und gar Böswillige nehmen dann ein solches Verhalten zum Maßstab für den Wert des bürgerlichen Rechts und seiner wissenschaftlichen Bedeutung. Völlig mit Unrecht. Die gute Literatur — denn daß es daneben auch eine minderwertige gibt, kann niemand bezweifeln—dringt durch das Gestrüpp hindurch und bemüht sich heute, durch vernünftige wirtschaftliche Erwägungen, auch hier und da durch philosophische und historische Behandlung, die aber im Gegensatz zu England, Italien und Frankreich noch oft fehlt, sowie in steigendem Maße durch Rechtsvergleichung den Dingen auf den Grund zu kommen. Wie überall steigt verheißungsvoll eine junge Generation herauf — auch hier genügt es, auf die Reichsgerichtsfestschrift der Rechtsfakultäten hinzuweisen, ferner auf die Schriften von Kipp jun., Dölle, Eißer, Schumann, Rühl, die neben den neueren Schriften der Alteren, wie Oertmann, Hoeniger, Nussbaum, Nipperdey, Hans Goldschmidt und anderer bereits Genannter hervortreten. Gewiß ist hier noch nicht alles erreicht, was geschehen könnte. Wir kämpfen immer noch gegen Stoff und falsche Methoden, wir sind hie und da auch durch prinzipielle Auseinandersetzungen über den Wert der geschützten Interessen gehemmt und waren es besonders durch die Kriegs- und Inflationsjahre, welche die wissenschaftliche Arbeit überhaupt erschwerten. Aber die Wissenschaft geht ihren Weg. Und sie hat auch ihr Ansehen im Ausland, wenngleich natürlich die an die deutsche Kodifikation gehefteten Erwägungen nicht die breite Bedeutung im Ausland haben können, wie ehemals die Darlegungen über das der ganzen Welt angehörige römische Recht. Noch ausgeprägter und noch günstiger zeigt sich dieser Entwicklungsgang im Handelsrecht. Hier lag die Kodifikation viel weiter zurück, und seit den sechziger Jahren hatten Männer, wie Thöl und L. Goldschmidt, Behrend und Hahn, und die zahlreichen Verfasser des alten Endemannschen Handbuchs, dann späterhin Staub und Cosack sich mit dem Handelsgesetzbuch in seiner alten und seit 1897 in seiner neuen Form auseinandergesetzt und das Recht gefördert. Die Judikatur des Reichsoberhandelsgerichts und anschließend des Reichsgerichts sowie die der

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Oberlandesgerichte, besonders des Hanseatischen Oberlandesgerichtes, hatte erfolgreich gearbeitet, zahlreiche Einzelschriften und Zeitschriftenaufsätze, besonders in Goldschmidts Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht, hatten mit tiefem Eindringen in die wirtschaftlichen, geschichtlichen und internationalen Zusammenhänge das Handels- und Wechselrecht sowie seine sonstigen Nebengebiete gefördert. Zu den letzteren waren zahlreiche Kommentare erschienen; ich erinnere an die Kommentare zum Gesetze über die Gesellschaften mit beschränkter Haftung von Liebmann (später von Sänger bearbeitet), von Staub-Hachenburg und andern, zur Wechselordnung von Staub (später den beiden Stranz), von Rehbein (später Mansfeld), von Gareis und anderen; die Kommentare zum Börsengesetz von Riesser u. a. und von A. Nussbaum; zum Gesetz über den unlauteren Wettbewerb von Rosenthal, von Pinner-Elster, von Finger und an die Erläuterungen zu zahlreichen anderen Gesetzen. Dieser Stoff wurde auch vielfach systematisch behandelt. Es sei hier an H. Brunners grundlegende Arbeiten zu den Wertpapieren erinnert, an Grünhuts Wechselrecht, an Klausings und Jacobis wertpapierrechtliche Arbeiten, an Göpperts Arbeiten zum Börsenrecht, ferner an die Arbeiten J. Kohlers zum Markenrecht und sonst zum Gewerberecht, an die hervorragenden versicherungsrechtlichen Arbeiten Ehrenbergs und Ritters, an Pappenheims scharfsinnige seerechtliche Forschung, an Schaps, Sievekings, Wüstendörfers und Mittelsteins schifffahrtsrechtliche Bücher. Im Ganzen zeigt das Handelsrecht zunächst starkes Streben nach konstruktioneller Erkenntnis, wie sie zuerst Thöl gepflegt hatte, aber die Zweckerwägungen auf rechtshistorischer und rechtsvergleichender Grundlage lagen bei diesem Rechtszweig ja besonders nahe und wurden schon seit L. Goldschmidt eifrig betont. Seit 1900 begannen dann immer stärker die Zusammenhänge mit dem neuen bürgerlichen Recht hervorzutreten und das Handelsrecht aus einer gewissen Isoliertheit zu befreien, freilich bisweilen auf Kosten seiner Eigenart und gerade jener wirtschaftlichen Erwägungen. Aber diese drängten doch schließlich in steigendem Maße auf Grund der allgemeinen Stimmung und der besonderen Bedürfnisse von Handel und Industrie immer stärker hervor. Im Ganzen war unser Handelsrecht, wie zum Beispiel die französische und italienische Literatur zeigen, vor dem Kriege weithin außerhalb Deutschlands als mustergültig anerkannt. Dabei war längst, namentlich durch das revidierte Handelsgesetzbuch von 1897, das Handelsrecht zugleich das Recht der Industrie geworden. Der Krieg und die Inflationszeit brachten für das Handelsrecht mannigfache neue Probleme. Die Eingriffe der militärischen Verwaltung, das neue Wucherrecht des Krieges griffen, wie schon erwähnt, gerade in die Handels- und Industrieverhältnisse tief ein. Die Geldentwertung und die Aufwertung sowie die ihr zu Grunde liegende Stabilisierung der Währung mußten gerade diese Wirtschaftszweige besonders ergreifen. Es erschienen Werke, wie Mügels und wie Schlegelberger-Harmenings Aufwertungsrecht, sowie die Arbeiten über Goldbilanzen von Breit, Geiler, Schlegelberger, Quassowski- Susat, Crisolli und anderen. In sichtlichem Zusammenhang damit setzte die Literatur zur Reform des Aktienrechtes ein. Heftig diskutierte Reformfragen zum Aktienrecht gab es, solange es besteht, und besonders seit der Gründerzeit und der Aktiennovelle von 1884 erörterte man diese Fragen ununterbrochen. Aber die Erörterung stieg unter dem Druck der

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jähen wirtschaftlichen Umgestaltung, die keineswegs nur in den Währungsverhältnissen oder den Mißbräuchen von Interessentengruppen ihren Grund hatte, sondern viel tiefer in der Umgestaltung bzw. Fortbildung der ganzen wirtschaftlichen Struktur, insbesondere in dem Aufstieg eines immer mehr sich vollendenden Hochkapitalismus, wie ihn Sombart meisterhaft schildert, ihren Grund hat. Die heutige wissenschaftliche Untersuchung der Aktienfrage geht — wenn auch eine Menge Spreu sie begleitet, — in ihren Hauptdarstellungen so in die Tiefe, wie das in früheren Zeiten kaum je der Fall gewesen ist. Die Handelsrechtswissenschaft hat in diesen Erörterungen die Waffen gebraucht, welche in den aktienrechtlichen Arbeiten vor dem Kriege, in den Lehrbüchern, Kommentaren und Einzelschriften geschmiedet worden sind, und die vielfach feinen Erwägungen wären nicht möglich gewesen, wenn man nicht ein Arsenal wie etwa Staub-Pinners Aktienrechtkommentar immer zur Hand gehabt hätte. Aber die starke Beteiligung der Wirtschaftskreise, vielfach vom Interessentenstandpunkt aus, und die Notwendigkeit mit ausländischem Kapital zu rechnen, belebte die Diskussion und brachte neue wirtschaftliche und rechtsvergleichende Argumente in dem Gesamtzusammenhang der Darlegung. Der Kampf ist auch hier der Vater der Dinge, die sich schließlich in objektiver Betrachtung zu wissenschaftlicher Erkenntnis durchringen müssen. Kämpfer wie Nußbaum auf der einen Seite und Solmssen auf der anderen Seite haben darum ihre hohen Verdienste und die Diskussionen in den großen Verbänden, wie dem Juristentage und seiner Aktienrechts-Kommission, dem Reichswirtschaftsrat, dem deutschen Anwaltsverein, dem Reichsverband der Industrie u. a., haben zumindest als Erkenntnisquellen für die wissenschaftliche Betrachtung höchsten Wert. Aber — und das muß man zur hohen Ehre der deutschen Handelsrechtwissenschaft besonders betonen — diese legislatorischen Erörterungen sind meist vollkommen von wissenschaftlichem Geiste durchdrungen und schaffen mit Ausnahme einiger flacher Agitatoren in der Diskussion selbst schon wissenschaftliche Ergebnisse. Die Schriften des von Nußbaum geleiteten Verbandes zeigen das ausnahmslos, auch wo man ihnen nicht zustimmen kann. Auch die Presse, welche in unzähligen Artikeln diese Frage verfolgt und fördert, steht im Ganzen auf einem sehr hohen Niveau. Vielleicht sind wenige Erscheinungen so geeignet, den hohen Stand unserer Handelsrechtwissenschaft zu beweisen wie dieser für Recht und Wirtschaft gleich wichtige, wenn auch nicht gerade erfreuliche Kampf. Die Liste der Mitarbeiter an der Reformliteratur ist sehr groß, und es seien hier nur einige Namen genannt, denen sich aber noch viele anfügen lassen: Abraham, Bondi, Breit, R. Fischer, Flechtheim, Friedländer, Frieters (Friedmann), Geiler, Giesecke, H. Goldschmidt, Göppert, Hachenburg, Hamburger, Hausmann, Heinrici, Heinitz, Heymann, Horwitz, Hueck, Klausing, J. Lehmann, Liefmann, Lion, Ludewig, Müller-Erzbach, Nipperdey, Nußbaum, Passow, Pinner, Planitz, Ruth, Schlegelberger, Schmalenbach, Schmey, Schmulewitz, O. Schreiber, Sontag; das mag genügen, um zu sehen, wie sich Verwaltungsbeamte, Richter, Rechtsanwälte, Professoren und vor allem auch Männer der wirtschaftlichen Praxis im Wetteifer bemüht haben, für diese Sache zu arbeiten. Der Vergleich der deutschen Literatur mit der des Auslandes, vor allem mit der besonders regen anglo-amerikanischen, aber auch mit der italienischen und französischen, zeigt an diesem

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wichtigen Beispiel, wie hoch unsere Handeigrechtswissenschaft auch im Verhältnis zum Auslande nach dem Krieg steht. Das beweisen aber auch monographische Arbeiten großen Stils auf anderen Gebieten, wie sie etwa aus der Feder des allzu früh verschiedenen Otto Schreiber (namentlich sein Buch über die Kommanditgesellschaft auf Aktien) und Oppikofers (Unternehmensbegriff) oder neuerdings Ulmers stammen; das beweisen die bereits erwähnten Arbeiten zum Industrierecht, ferner besonders die großen monographischen Arbeiten in dem hauptsächlich während und nach dem Kriege erschienenen Ehrenbergschen Handbuch des Handelsrechts mit Beiträgen von Paul Rehme, H. Tietze, Martin Wolff, Rundnagel, Fr. Scholz, Wüstendörfer, Mittelstein, Oertmann, Feine u. a., insbesondere auch von Ehrenberg selbst, ein Werk, wie es — das darf man sagen — heute kein anderes Land der Welt aufzuweisen hat. Dazu kommt die Fortführung der leitenden Kommentare, wie des Staubschen Kommentars (Bondi, Pinner, Könige), des Düringer-Hachenburgschen Kommentars mit vielen Mitarbeitern, unter denen hier nur Flechtheim und Geiler besonders hervorgehoben seien, des Mosseschen Handkommentars (herausgegeben von E. Heymann), der alten bewährten Lehrbücher wie des Cosackschen mit seinen scharfsinnigen Darlegungen, des Karl Lehmannschen, fortgesetzt von Höniger. Dazu kommen neue Kommentare, wie der von Könige zum HGB. und wertvolle neue Lehrbücher wie besonders das von Müller-Erzbach und das von Julius von Gierke. In größtem Maßstabe behandelt das Handelsrecht (1920, I.) der Deutsch-Schweizer K. Wieland in Bindings Handbuch. Erinnert sei auch an das Lehrbuch des österreichischen Handelsrechts von Pisko. Die Goldschmidtsche Zeitschrift für Handelsrecht arbeitet unter Leitung J. v. Gierkes weiter, daneben findet sich viel handelsrechtliche Erörterung in den allgemein zivilrechtlichen Zeitschriften, wie besonders der Leipziger Zeitschrift und bei Gruchot sowie in der wertvollen Hanseatischen Rechtszeitschrift (Mittelstein). Neu entstanden ist das Zentralblatt für Handelsrecht. Eine Abhandlungsreihe zum Handels-, Gewerbe- und Landwirtschaftsrecht gebe ich seit 1908 heraus; mehr spezialisiert sind die ausgezeichneten Sammlungen der Uberseestudien von Wüstendörfer und Bruck (seit 1923) und Hoenigers Abhandlungen (seit 1926). Zahlreiche Einzelschriften sind erschienen. Eine Vereinigimg der Handelsrechtslehrer deutscher Hochschulen hat sich gebildet. Ein überaus reiches Leben sprüht aus allen diesen Büchern, Schriften, Sammelwerken und Zeitschriften hervor. Es wird belebt durch die eng verwandte, hier im einzelnen nicht zu schildernde volkswirtschaftliche und betriebs-wissenschaftliche Forschung, durch zahlreiche Arbeiten auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechtes und durch eine umfassende rechtsvergleichende Forschung, auf die noch in anderem Zusammenhange zurück zu kommen ist und die in ihren Auswirkungen die gesamte neuere Handelsrechtliteratur durchzieht. Eng mit dem Handelsrecht hängt das Urheber- und Erfinderrecht samt seinen verschiedenen Nebenmaterien zusammen; es handelt sich dabei zum größten Teil um gewerblichen Rechtsschutz. Hier hatte das deutsche Recht durch das literarische Urhebergesetz von 1870, revidiert 1901 und ergänzt 1910, sowie durch das Reichspatentgesetz von 1877, revidiert 1891 und ergänzt 1923, nebst den dazugehörigen Nebengesetzen einen gesetzgeberischen Abschluß erlangt, welcher der

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wissenschaftlichen Behandlung einen großen Auftrieb geben mußte. An der Spitze nicht nur der Deutschen, sondern der Literatur der Welt steht hier unbestreitbar Josef Kohler mit seinen zahlreichen Werken, namentlich mit seinem Patentrecht (1900), seinem Markenrecht, seinen Büchern über literarisches und künstlerisches Urheberrecht. Von seinen Arbeiten sind Ströme von Gedanken ausgegangen, welche befruchtend nach allen Richtungen gewirkt haben. Das hindert aber gewiß nicht, die hohe Bedeutung der klassischen Darstellung des Urheber- und Erfinderrechts in Otto v. Gierkes deutschem Privatrecht anzuerkennen, die als ruhender Pol gegenüber den vorwärtsstürmenden Gedankengängen Kohlers erscheint. Daneben zeigte die Zeit vor dem Kriege ausgezeichnete Kommentare, es sei hier nur an die Patentkommentare von Seligsohn und von Isay, an die Kommentare zum Urhebergesetz von Allfeld und von Voigtländer erinnert. Alle diese Arbeiten sind nach dem Kriege mit sehr großem Eifer fortgesetzt worden. Zum Teil wurden ältere Werke neu bearbeitet; ferner erschien zum Beispiel das ausgezeichnete Buch A. Elsters über den gewerblichen Rechtsschutz oder, wie es seit der zweiten Auflage heißt, über Urheber- und Erfinder-, Warenzeichen- und Wettbewerbsrecht, das den wettbewerblichen Gedanken für alle diese Gebiete zur Geltung zu bringen sucht. Ferner sind zu erwähnen die zahlreichen Aufsätze in der schon weit zurückgehenden Zeitschrift »Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht« sowie in dem neugegründeten Archiv für Urheber-, Film- und Theaterrecht (Dienstag mit anderen) und dem daneben stehenden Archiv für Funkrecht (W. Hofmann). Legislatorische Fragen erregen namentlich auf dem Gebiete des Urheberrechts die Gemüter, und man kämpft um die Gestaltung eines neuen Urheberrechtsgesetzes und um die Fragen der Berner Konvention mit einer Heftigkeit, wie sie nur auf wenigen Gebieten begegnet und wie sie aus der Lebhaftigkeit der Dichter, Schriftsteller und Künstler, aber noch mehr aus der auf diesem Gebiete sich stark betätigenden Organisation der Interessentengruppen und ihrer Generalsekretäre sich erklärt. Hier ist alles im Flusse und die Beratungen der verschiedenen Kommissionen zeigen neben den Zweckerwägungen auch rein theoretische Deduktionen, wie man sie gerade bei Praktikern sonst kaum findet und die sogar bisweilen von des Gedankens Blässe bedenklich angekränkelt sind. Zugleich zeigt sich hier und da ein Anlehnungsdrang an ausländische, namentlich französische Vorbilder, der öfter wie beim sogenannten droit moral aus internationaler Mode stammt und dabei bisweilen verkennt, daß wir Errungenschaften wie das droit moral in seinem allein wertvollen Grundbestandteil in unserer Lehre vom Persönlichkeitsrecht längst haben. Aber trotzdem wird aus alledem ein brauchbarer Wein werden, und man kann schon heute sagen, daß die Judikatur durch diese neue Literatur des Urheberrechts stark befruchtet worden ist und eine glücklichere Anpassung an die Lebensbedürfnisse zeigt als hie und da, wenn auch keineswegs durchgehend, die ältere, etwas mehr formalistische Behandlung. Schließlich noch ein Wort über den Zivilprozeß. Uralte Normen, seit den Legisactionen der Römischen Pontífices und seit den altgermanischen Rechtsgangformeln fortentwickelt in immer neuer Anpassung an das wechselnde Kulturund Verfassungsleben, bilden die reichen Wurzeln, aus denen unser Prozeßrecht im 19. Jahrhundert hervorwuchs. Dabei hatte es schließlich seit der Reichs-

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justizgesetzgebung von 1877 einen merkwürdig scholastischen Zug angenommen, der in einer Überfülle von Entscheidungen zumAusdruck kommt, wie sie in dieser Art, namentlich was nebensächlichere Punkte anlangt, dem romanischen und angelsächsischen Rechte fremd ist. Das ist geschehen, trotz der für ihre Zeit vortrefflichen und später dann mehrfach fortgebildeten Gesetzgebung. Es ist geschehen, obwohl an diese Gesetze eine besonders hochstehende, historisch und dogmatisch arbeitende Wissenschaft anknüpfte. Es bedarf hierfür nur der Nennung von Namen, wie J. W. Planck, Adolf Wach, Josef Kohler, Friedrich Stein, Otto Fischer, Hellwig. Richard Schmidt, Mendelssohn-Bartholdy, Oetker, Ernst Jäger. Hätten wir das englische System der von den Gerichten selbst wiederkehrend geschaffenen Prozeßrechts-Rules, welche allen Kleinkram erledigen, so hätte diese tiefgehende Wissenschaft uns vor der Scholastik der Judikatur und einer daran anschließenden Literatur bewahrt. So aber war die Wirkung ihrer Arbeit eine unvollständige. Unsere etwas bürokratische Gesetzgebungstechnik hatte diese Gefahren heraufbeschworen. Trotzdem kann man nicht leugnen, daß wir in unserer Zivilprozeßlehre vor dem Kriege ein bis ins Kleinste ausgebautes Gedankensystem vor uns hatten, das einen unendlichen Scharfsinn zeigte und das in den Reformbestrebungen, die von der Verhandlungsmaxime zu der österreichischen gemilderten Untersuchungsmaxime Franz Kleins hinstrebten, auch ein lebendiges, vorwärtsdrängendes Element aufwies, wie es zum Beispiel noch kurz vor dem Kriege in dem Buche von Levin, Richterliche Prozeßleitung, hervortrat. Nach dem Kriege hat die Praxis an diesem gotischen Dome der Prozeßlehre ziemlich in alter Weise weiter fortgebaut. Die Entscheidungsmasse, wie etwa in Sydow-Buschs Handkommentar, wirkt auf diesem formalen Gebiete immer erdrückender. Auch die Wissenschaft hat sich dem nicht entzogen, wohl auch kaum entziehen können, und je nach Neigung der Bearbeiter macht sie diese scholastischen Gedankengänge mehr oder weniger mit. Vergleicht man aber etwa die vorkriegszeitlichen Arbeiten Hellwigs mit der großen Monographie von James Goldschmidt über den Prozeß als Rechtslage (1925), so zeigt sich trotz der bedeutenden vorkriegszeitlichen Leistung doch ein Aufstieg in der Durchdringimg des schwierigen Stoffes. Auch die Neuausgaben der bewährten Kommentare, wie Jäger oder Gaupp-Stein-Jonas oder Förster-Kann, oder des Kommentars von Schlegelberger zum Freiwilligen Gerichtsbarkeitsgesetz suchen dieser Durchdringung Rechnung zu tragen. Nicht anders die neueren Lehrbücher, wie dasjenige Rosenbergs und das in die feinsten Einzelheiten eindringende Lehrbuch von James Goldschmidt. Belebend sucht das große zusammenfassende Werk über den Zivilprozeß der Kulturstaaten zu wirken, in dem Franz KleinEngel über Österreich, Heusler über die Schweiz und v. Wrede über Schweden und Finnland gehandelt haben. Wertvolle Einzelschriften, wie etwa das praktisch gerichtete Buch A. v. Staffs über das Schiedsgerichtsverfahren und das mehr theoretisch gerichtete Buch Wolfgang Heins, über die Identität der Parteien, die Bücher über Beweislast von Franz Leonhard und von L. Rosenberg und gesetzgeberisch das Buch von Schiffer über die deutsche Justiz zeigen die eifrige und erfolgreiche Forschungsarbeit. Dasselbe zeigt die Fortführung der alten Zeitschrift für Zivilprozeß durch v. Staff und Kann und die Neuherausgabe der Zeitschrift Judicium (W. Kisch u. a.) durch die regsame Vereinigung der Zivilprozeßlehrer

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deutscher Hochschulen. Auf keinem Gebiete kämpft die Wissenschaft so schwer gegenüber der Masse des aus der Judikatur hervorquellenden Kleinkrams, und doch darf man hoffen, daß es der deutschen Zivilprozeßwissenschaft gelingen wird, dieses Stoffes Herr zu werden und die kulturellen Probleme immer mehr in den Vordergrund zu schieben, so daß sie in der juristischen Weltliteratur so mustergültig dasteht, wie sie es nach der Arbeit eines Klassikers, wie es Adolf Wach war, verdient. — Im vorstehenden wurde schon vielfach berührt, daß die deutsche Rechtswissenschaft auf geschichtlicher rechtsvergleichender und rechtsphilosophischer Forschung aufbaut. Die alten Traditionen der historischen Schule und der nur vorübergehend zurückgewichenen naturrechtlichen Betrachtung, die Lehren Savignys und Eichhorns, Kants, Hegels und Stahls wirken nach, haben sich immer neu entfaltet und durchdringen auch nach den Kodifikationen die Lehren des geltenden Rechtes. Man kann sagen, daß für die Rechtsgeschichte die Zeit nach der Gründling des Bismarckschen Reiches die große Erntezeit war, der erste Abschluß einer Jahrhundertarbeit wurde erreicht. Zunächst das antike Recht. Mommsens römisches Staatsrecht und Mommsens römisches Strafrecht, Pernices Labeo, M. Wlassaks verschiedene Arbeiten zum römischen Prozeß, Wachs Neuauflage von Kellers römischem Zivilprozeß, Kariowas römische Rechtsgeschichte u. a. brachten in verschiedenem Maße Abschließendes, wobei Mommsens Arbeiten hervorleuchteten. Die führenden Pandekten-Lehrbücher von Windscheid-Kipp, Dernburg, Brinz, Regelsberger, Bekker, ferner Sohms glänzend geschriebene Institutionen, der Abriß von G. Bruns in Holtzendorffs Enzyclopädie brachten den römischen Stoff der Praxis nahe. Die Ausgabe des Corpus juris von Mommsen, Krüger und Schöll (Kroll) erschienen seit 1872 in immer neuen Auflagen; ebenso Krüger-Mommsen-Studemunds Sammlung des vorjustianischen Rechts, daneben die Neubearbeitung der Huschkeschen Sammlung durch Seckel und Kübler, BrunsMommsen-Gradenwitz' Fontes, Mommsens und P. M. Meyers Codex Theodosianus. Das Vocabularium Jurisprudentiae Romanae begann zu erscheinen und seine Zettelsammlung diente seither der Forschung; Seckel bearbeitete Heumanns Handlexikon neu. Die großartige Palingenesie Lenels erschien, und besonders durch sie unterstützt, begann, eingeleitet namentlich durch O. Gradenwitz, die Interpolationenforschung, die besonders von den Italienern aufgenommen, einen vollkommenen Umsturz der bisherigen Anschauungen über das klassische Recht und damit zugleich eine neue Periode romanistischer Wissenschaft eröffnete. Ahnliches gilt von der Erforschung der in großem Ausmaße zugänglich gewordenen Papyri, die ein Forschungsgebiet bedeuteten, in dem besonders Ludwig Mitteis sich mit größtem Erfolg an die Spitze stellte, und für das wiederum Otto Gradenwitz eine Einführung schuf. So trat allmählich die alte harmonisierende Pandektenjurisprudenz zurück, in ihrer Art auch überflüssig geworden durch die deutsche Zivilrechtskodifikation. Und wenn man auch bedauern muß, daß auf geraume Zeit die romanistische Arbeit für die dogmatisch-konstruktive Durchdringung des Zivilrechtes stark zurückwich und in dieser Hinsicht nicht mehr die befruchtende Kraft entfaltete, wie sie es in der mehr statischen Lehre Windscheids und in den geistbeschwingten Darlegungen Jherings oder den feinstilisierten und fein-

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durchdachten Büchern Dernburgs vermochte, so eröffnete sich doch hier eine so reiche Aussicht auf die Zukunft, daß wir diese Periode romanistischer Forschung zu den schönsten Errungenschaften deutscher Wissenschaftsleistungen werden zählen dürfen. Auch diese Arbeit ist nach dem Kriege eifrig fortgesetzt worden. Es ist begreiflich, daß nicht in dem gleichen Maße wie in den ersten 30 Jahren der hier zu schildernden Periode zusammenfassende Abschlüsse zustande kamen; auch ohne das Dazwischentreten des Krieges wäre dies bei der starken Wandlung dieses Wissenschaftszweiges nicht möglich gewesen. Immerhin sehen wir Sibers tiefdurchdachtes Buch über römisches Recht, Küblers römische Rechtsgeschichte, Endemanns Grundriß des römischen Rechts, Jörs Geschichte und System des römischen Rechts und Wengers römischen Zivilprozeß erscheinen. Am Vocabular konnte fortgearbeitet werden, und es wird nächstens ein Teil herausgegeben werden können, der Index interpolationum erscheint unter Rabeis und E. Levys Leitung, R. von Mayr und San Nikolo veröffentlichten ein Vocabularium Codi eis Justiniani und Gradenwitz den Heidelberger Index zum Theodosianus (1917—25); die ausgezeichnete Darstellung der Quellen des römischen Rechtes von Kipp (1919), die vor dem Kriege schon neben Krügers Quellenlehre sich gestellt hatte, konnte 1919 erweitert neu erscheinen; die Publikation und Durchforschung der Papyri machte weitere Fortschritte, wobei sich insbesondere auch die Österreicher auszeichnen. Obwohl hochangesehene Forscher, wie Mitteis, Seckel und Partsch allzu früh heimgingen, haben eine Reihe Alterer, wie Wlassak, Lenel, Gradenwitz, Kübler unbeirrt weiter gearbeitet, und es ist neben Forschern mittleren Alters auch hier ein neuer junger Stamm von Forschern heraufgewachsen, der sich eifrig um die gemeinsame Sache bemüht. Es bedarf nur eines Blicks in die romanistische Abteilung der Zeitschrift für Rechtsgeschichte, die nach wie vor die Hauptsammeistätte der Forschung ist, sowie eines Blicks in die Realencyklopädie des klassischen Altertums, und weiterhin auf Werke wie Ernst Levys Aktionen-Konkurrenz, Sibers Naturalobligation, Brucks Totenteil, auf Wengers schöne Arbeiten, auf Manigks Forschungen, auf Binder, Franz Haymann, Schulz, Lewald, Pringsheim, Balogh, Woeß, Steinwenter, Kunkel und so manche andere wertvollen Kräfte, um zu sehen, daß die Tradition der Savignyschen Schule in Deutschland nicht erloschen ist, sondern in immer neuer Problemstellung blüht, besonders auch nach einer allgemeinen antiken Rechtsgeschichte hin, wie sie Wenger und besonders nach der orientalischen Seite hin Koschaker fordern und pflegen. Dabei leidet die Romanistik natürlich schwer unter der jetzt üblichen Zurückdrängung der Rechtsgeschichte seitens unwissender Kreise, durch die unvermeidliche Besetzung vieler romanistischer Professuren mit Vertretern des bürgerlichen Rechts, durch die geringe Bewertung des römischen Rechts für die Ausbildung der Juristen.Trotzdem finden sich, von der ewigen Schönheit des römischen Rechtes angezogen, immer wieder neue Mitarbeiter, und wenn vielleicht die Führerstellung auf dem Gebiete der Romanistik in der Welt heute nicht mehr in dem Maße bei den deutschen Forschern liegt, wie etwa zu Mommsens Zeit, so ist doch angesichts der großen Schwierigkeiten, welche seit Kriegsbeginn auf der rechtsgeschichtlichen Forschung lasten, kein Grund zu irgend welchem Verzagen. Nicht viel anders sieht die Sachlage auf dem Gebiete der germanischen Rechtsgeschichte aus. In den Siebzigern Jahren des neunzehnten Jahrhunderts begannen

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die großen Zeiten Heinrich Brunners und Otto vonGierkes, denen man beiden wie einstmals Jacob Grimm die »prunklose Genialität« nachrühmen kann. Daneben traten v. Amira, Richard Schröder und vor allem auch Andreas Heusler, der die germanistischen Grundideen des Privatrechtes mit intuitiver Sicherheit erfaßt hat, während Gierke vom genossenschaftlichen Gedanken ausgehend, sie in riesenhafter Arbeit ergründet und mit dem Leben in Verbindung gesetzt hat. Alle Zweige der Rechtsgeschichte umspannend, legte Brunner, auf den Bemühungen seit Eichhorn und Grimm fußend, durch die quellenmäßige zusammenfassende Darstellung der fränkischen Zeit die Grundlage zur neuen Forschung, soweit er nicht, wie auf so manchem Gebiet der Rechtsgeschichte die wesentlichen Punkte endgültig festgestellt hat. Im Anschluß an diese anerkannten Führer war die rechtsgeschichtliche Arbeit überaus rege. Auf dem Gebiete des Privatrechtes verknüpfte sie sich in glücklicher Weise mit dem geltenden Rechte. Nicht im gleichen Maße war dies auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes der Fall. Die Trennung der Rechtsgeschichte vom Staatsrecht, Prozeß- und Strafrecht in der durchgehenden akademischen Fächerverteilung führte zwar zu einer vom geltenden Recht unabhängigen wissenschaftlichen Behandlung der Materie in rechtsgeschichtlicher Hinsicht und lieferte so den Bearbeitern des geltenden Rechtes gesicherte Fundamente. Aber es fehlte hier zum Teil die Bearbeitung der neueren Rechtsentwicklung und damit der unmittelbare Anschluß an das lebende Recht trotz wertvoller Arbeiten, wie sie besonders Landsberg in seiner und Stintzings Geschichte der Rechtswissenschaft und Stölzel in seinen preußisch-rechtlichen Arbeiten boten. Zugleich bemerkt man, wie gelegentlich hervorragende Zivilprozessualisten, etwa Wach und Richard Schmidt, sich ihre Wege historisch selbst ebnen, nicht anders Strafrechtslehrer wie Binding und gar die Staatsrechtslehrer. Dies ist zwar an sich kein ungesunder Zustand, weil die Sicherheit der historischen Feststellung durch solches bloß ergänzendes Zusammenarbeiten zu wachsen vermag. Aber es hat doch auch die Schattenseite, daß dem in der älteren Zeit verharrenden Rechtshistoriker der Ausgangspunkt lebender Rechtsgedanken verloren gehen kann, wie etwa auch der mittelalterliche Philologe dauernd in Fühlung mit der lebenden Sprache bleiben muß. Natürlich haben viele Germanisten den Riß zu vermeiden gewußt; das gilt insbesondere zum guten Teil von den in der bereits skizzierten kirchenrechtsgeschichtlichen Richtung Arbeitenden. DieZahl der an der deutschen Rechtsgeschichte Wirkenden war sehr groß; ihre Namen können hier nicht aufgeführt werden, nur der des allzufrüh verschiedenen Siegfried Rietschel als eines jüngeren, aber führenden Vertreters dieser Gruppe sei dankbar genannt. Auch hier bedarf es übrigens nur eines Blickes etwa in die großen Sammlungen der Gierkeschen Untersuchungen, der Zeumerschen (jetzt von Härtung, Rauch, Alfred Schultze und E. Stengel herausgegebenen) Quellen und Studien, ferner der Beyerleschen Beiträge sowie vor allem in die von U. Stutz mit großer Hingabe redigierte germanistische Abteilung der Savigny-Zeitschrift. Nicht nur von juristischer Seite, sondern auch von den innig mit der Rechtsgeschichte verwachsenen allgemeinen Historikern und Philologen wurde, von letzterer Gruppe namentlich auf dem Gebiete der Verfassungsgeschichte eifrig gearbeitet; auf diese verwandten Kräfte ging ein Teil der Arbeit nicht nur infolge der immer stärkeren Betonung des Kulturellen in Geschichts-

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Schreibung und Sprachforschung, sondern notwendig schon deshalb über, weil auch für die deutsche Rechtsgeschichte allmählich bereits vor dem Kriege die Professuren zusammenschmolzen und die ganze Einstellung des Ausbildungswesens der rechtshistorischen Arbeit auch hier sehr ungünstig wurde. Parallel lief die Arbeit an den Quelleneditionen. Die Monumenta Germaniae haben seit alters und besonders auch seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts für die ganze Kulturwelt mit hohem Erfolge gearbeitet; es genügt hier zum Beispiel auf Karl Zeumers Westgotengesetze und auf seine Formulae hinzuweisen. Wenn auch, was bei der Schwierigkeit der Aufgaben natürlich war, die eine oder andere Edition bekämpft wurde, und wenn sich auch leider immer weniger juristische Rechtshistoriker infolge ihrer Überlastung mit anderen Aufgaben der Editionsarbeit zuwenden konnten, so ist gerade hier die Lücke durch glückliche Zusammenarbeit mit Historikern und Philologen ausgefüllt worden; das reiche rechtsgeschichtliche Material in den Diplomata-Bänden der Monumenta genügt dafür als Beleg. Nicht anders liegt es für die zahlreichen Publikationen der Rechtsquellen des späteren Mittelalters und der Urkundenbücher, welche vielfach die historischen Kommissionen und andere Publikationsanstalten in die Hand nahmen. Für die neuere Rechtsgeschichte schließen sich dann große Editionen wie die Acta Borussica, die vielfach publizierten Ständeakten einzelner Gebiete, die Publikationen aus den preußischen Staatsarchiven und anderes an, in der Hauptsache von Allgemeinhistorikern besorgt. Eine Aufzählung ist hier nicht möglich, der Vielgestaltigkeit der Quellen entspricht die Vielheit der Arbeiten. Aber man darf sagen, daß die Sorgfalt der Editionsarbeit durch die große Ausbreitimg ihrer Aufgaben nicht gelitten hat, daß vielmehr die deutsche Quellenpublikation auch auf rechtsgeschichtlichem Gebiete weithin und auch gegenüber dem Auslande als musterhaft sich erwies. Alle diese Arbeiten sind nach dem Kriege fortgesetzt worden, so gut es eben ging. Gewiß, die großen Führer der deutschen Rechtsgeschichte des letzten Viertels des neunzehnten Jahrhunderts sind fast alle heimgegangen, einsam steht v. Amira noch unter uns wie ein Hünenstein, und es war unter den viel ungünstigeren Verhältnissen des Kodifikationszeitalters und dann gar der Kriegs- und Nachkriegszeit für die abermalige Entwicklung einer solchen Reihe mächtiger Persönlichkeiten kein geeigneter Boden vorhanden. Es blieb die Aufgabe, ihre Arbeiten fortzuführen, wo es anging, und dabei nach neuen Zielen zu suchen. Diese Aufgabe wurde nach Überwindung der ersten großen Schwierigkeiten der Nachkriegszeit zu erfüllen versucht. Es wird sich vor allem in Zukunft um die Aufhellung der Rechtslage des späteren Mittelalters und des Patrimonialstaates handeln müssen, wobei naturgemäß die deutsche Rechtsgeschichte mit der romanistischen und kanonistischen Forschung der Mediaevisten, wie sie besonders Seckel anstrebte und wie sie heute namentlich in Kantorowicz einen hervorragenden Vertreter hat, zusammengehen muß. Dazu kommen dann die Probleme der neueren Rechtsentwicklung. Als Grundlage für die Weiterarbeit ist die erfreuliche Tatsache zu buchen, daß der zweite Band von Brunners Rechtsgeschichte nach seinem Tode von v. Schwerin neu herausgebracht werden konnte, daß Richard Schröders deutsche Rechtsgeschichte, das unentbehrliche Arsenal der Arbeiten, durch Frh. von Künnsberg abermals herausgegeben wurde, daß Brunners Grundzüge nach seinem Tode forterscheinen (zunächst von mir, jetzt von v. Schwerin heraus-

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gegeben), daß Rudolf Hübners wertvolles Deutsches Privatrecht wieder in neuer Auflage erschienen ist; Schreuers, v. Schwinds und v. Schwerins Bücher über Deutsches Privatrecht erschienen neu. Methodische Fragen behandelte fein die Einführung v. Schwerins in das Studium der germanischen Rechtsgeschichte, über eine Partikularrechtsentwicklung schrieb Peterka in seiner schönen böhmischen Rechtsgeschichte. Eine Reihe hervorragender Monographien traten nach dem Kriege hervor, wie etwa von Amiras germanische Todesstrafen, Konrad Beyerles reiche Arbeiten, Paul Rehmes Grundbuchforschungen, Zallingers Schrift über die Eheschließung, Franz Beyerles Entwicklungsproblem und seine Arbeiten zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte der Städte und Grundherrschaften, v. Schwerins Abhandlungen, Hecks Ständeforschungen, Heinrich Mitteis' Arbeiten zur französischen Rechtsgeschichte und über politische Prozesse, Frölichs Verfassung von Goslar, Schönfelds Arbeiten, Eberhard Schmidts Fiskalat und namentlich auch die strafrechtsgeschichtlichen Arbeiten von His sowie Alfred Schultzes Augustin. Viele wertvolle Aufsätze der Savigny-Zeitschrift und auch manche Aufsätze in den allgemeinen historischen Zeitschriften erweisen das gleiche. Auch die Editionstätigkeit schreitet fort. 1916 schloß Felix Liebermann seine großartigen Gesetze der Angelsachsen ab. Dann veröffentlichten G. Kisch seine Leipziger Schöffensprüche (1919), v. Schwerin seine Leges Saxonum et Thuringorum (1918), v. Schwind seine Lex Bajuvariorum in der Reihe der Monumenta, Eckhardt und Franz Beyerle, Heck und v. Schwerin tiefbohrende quellenkritische Arbeiten. Die Monumenta, im Anschluß an deren Bemühungen um die Volksrechte ein heftiger, aber fruchtbarer Streit um die Lex Salica und weiterhin um die Lex Bajuvariorum ausgetragen wurde, konnten es wagen, die Reihe der hochmittelalterlichen Rechtsbücher in Angriff zu nehmen, und wir dürfen dabei auf die Schaffenskraft von Männern, wie v. Schwerin, Franz Beyerle und namentlich auch Eckhardt vertrauen. Wenn alle diese forschende, darstellende und editorische Arbeit quantitativ nicht auf der Höhe der Zeiten vor dem Kriege stehen mag, so liegt das — wenn es wirklich zutreffen sollte — vor allem in den seinen Gründen nach bereits erwähnten, aber immer mehr fortschreitenden Mangel an juristischen Mitarbeitern. Wenn man aber hie und da Stimmen hört, wonach auch qualitativ nicht das alte Niveau gehalten sei, so liegt der Mangel nicht etwa in der Methode und Akribie der historischen Feststellung. Sie sind dieselben geblieben, eher gewachsen. Aber man kann nicht leugnen, daß bei immer zunehmender Erfassung der kulturellen Tatbestände und ihrer feinsten Einzelheiten die Gewinnung produktiver juristischer Grundgedanken aus dem nationalen Rechtsstoff, nicht mehr in gleichem Maße gelingt, wie ehemals zur Zeit der Gierkeschen Genossenschaftstheorie und der Brunnerschen Wertpapierforschung, oder wie etwa in einem Buche wie Alfred Schultzes langobardischer Treuhand. Hier scheint mir, wenn man nicht annehmen will, daß solche Gedanken ziemlich erschöpfend festgestellt sind, der historischen Forschung vielleicht bisweilen doch die nötige Verbindung mit dem lebenden Recht zu fehlen, und wenn es gewiß die höchste Aufgabe der Rechtsgeschichte ist, »an dem erhabenen Problem der Selbsterkenntnis der Menschheit zu arbeiten«, so hat sie doch daneben auch die wichtige Aufgabe, als eigentliche juristischeWissenschaft die Erkenntnis des geltenden Rechts zu fördern. Von hier aus aber wirkt naturgemäß das lebende Recht befruchtend auf

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die rechtsgeschichtliche Forschung zurück. Binsenwahrheiten, aber nicht immer gleichmäßig im Wandel der Zeiten beherzigt und besonders schwer zu beherzigen, wenn das geltende Recht in einer Überfülle von Stoff und von Scholastik nur schwer gleichzeitig mit rechtsgeschichtlicher Forschung bewältigt werden kann. Aber daß wir hier den Mut nicht sinken zu lassen brauchen, beweist, neben so mancher Arbeit aufsteigender jüngerer Kräfte, ein Gebiet, auf welchem die Fruchtbarkeit der Rechtsgeschichte für die Erkenntnis des geltenden Rechtes gerade in neuester Zeit immer stärker hervortritt und immer fruchtbarer sich erweisen muß, das ist das Gebiet der Rechtsvergleichung. Die Rechtsvergleichung ist neben der Rechtsgeschichte immer mehr als die zweite notwendige Grundlage der Wissenschaft vom geltenden Rechte erkannt worden. Ihre Ausgangspunkte sind alt. Schon Leibniz hat sie gefordert; aber erst die neueste Zeit, und zwar besonders die Zeit nach dem Kriege hat sie bei uns, man darf fast sagen, in Mode gebracht; zum Teil hat die Not der Zeit dazu gezwungen; heute wird sie eifrigst gepflegt, und wenn man auf ihre quantitative Verbreitung sieht, so könnte man geneigt sein zu sagen, daß sie heute das bedeutet, was im 19. Jahrhundert unter dem Einfluß der historischen Schule die Rechtsgeschichte war. Freilich methodisch hat sie diese Höhe noch längst nicht erreicht. Die Rechtsvergleichung hängt eng mit der Lehre des internationalen Rechts, also des internationalen Privat-Prozeß-Verwaltungs- und Strafrechts zusammen, für das wir in v. Bar, Zittelmann, Niemeyer, Neumeyer, Kahn u. a. schon lange Meister gehabt haben und zum Teil noch haben. Aber sie ist von diesem Wissenszweig ihren Aufgaben nach durchaus verschieden. Sie will ausländisches Recht verstehen, durch Vergleichung in Zusammenhang mit dem deutschen Rechte bringen und so das Verständnis des eignen Rechts fördern. Vielfach begnügt man sich freilich noch damit, lediglich statistisch das jetzige fremde mit dem jetzigen deutschen Recht zusammenzustellen, eine bloße Sammeltätigkeit. Im steigenden Maße zeigt sich aber das Bemühen, die verschiedenen Rechtsideen auf die dogmatischen und zugleich wirtschaftlich-kulturellen Werte wirklich zu vergleichen. Der letzte und höchste Gesichtspunkt aber, die Erfassung der verschiedenen Rechte im Sinne einer Universalrechtsgeschichte, also die wissenschaftlich allein mögliche Auffassung des gesamten Rechtes aller Völker als einer Einheit mit den aus der Umwelt und dem Volkscharakter sich ergebenden Modifikationen in genetischer Betrachtung, wird heute zwar vertreten, ist aber nur in sehr allmählichem Werden. Vorläufig ist sie mangels der nötigen Vorarbeiten auch nur für einzelne Gruppen von Völkern, insbesondere für die wichtigsten Völker europäischer Kultur durchführbar. Man braucht das nicht zu beklagen, vielmehr ist zu hoffen, daß es sich gerade als nützlich erweist, wenn diesmal die Arbeit notgedrungen bei den geltenden Rechten beginnt, im Gegensatz zu den Anfangen der historischen Rechtsschule, bei der die Gefahr eintrat, daß man sich auf die früheren Entwicklungsstadien zu lange beschränkte. Vor dem Kriege hatte das französische Recht bei uns längst Pflege gefunden, nicht nur weil es wenigstens teilweise ein deutsches Partikularrecht war, sondern weil man seit alters den engen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang mit unserem Recht erkannte. Auch für das englische Recht hatte man dies empfunden, aber verhältnismäßig wenig oder doch nur rein historisch betätigt. Dann aber arbeitete Gneist 9

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in großem Maßstabe mit dem englischen Rechtszustande namentlich für die legislatorische Förderung des öffentlichen Rechtes. Grundsätzlich forderte aber vor allem Josef Kohl er wieder eine Universalrechtsgeschichte; er betätigte sich selbst in überaus zahlreichen Schriften für die Erkenntnis der verschiedenartigsten Rechte von den Primitiven durch die Antike bis zu den modernsten Kulturrechten. Durch die Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft unterstützte er auch organisatorisch diese Bestrebungen, und er hat in die von ihm herausgegebene Holtzendorffsche Enzyklopädie Beiträge über die romanischen Privatrechte (von Crome) und über das englische Privatrecht (von mir) aufgenommen. Das Strafrecht war schon seit längerer Zeit rechtsvergleichend gepflegt worden, und die Reformarbeiten riefen dann die oben schon genannten großen Sammlungen hervor. Im Zivilprozeß lenkten gerade Kohlers Bemühungen den Blick auf das anglo-amerikanische Recht neben dem französischen, das als Mutterrecht unserer Zivilprozeßordnung schon längst eingehend beachtet wurde und nun in dem englischen, ebenfalls aus germanischer Wurzel entsprossenen Zivilprozeß ein eigentümlich ausgestaltetes und doch eng verwandtes Gegenstück gegenüber gestellt erhielt. Welche Bedeutung das Auslandsrecht für das Staatsrecht hatte, zeigen neben der älteren Literatur besonders die grundlegenden Arbeiten G. Jellineks und Triepels. Die deutsche Rechtsgeschichte hat ihr Augenmerk von jeher auf das Auslandsrecht gerichtet, man braucht nur Jacob Grimms Rechtsaltertümer zu durchblättern, und man braucht nur auf Heinrich Brunners methodisch feine Berücksichtigung der Schwester- und Tochterrechte sowie auf Maurers und v. Amiras Bemühungen um das nordische Recht zu verweisen. So waren die Anfange da, als man besonders nach dem Kriege die Rechtsvergleichung in überraschend weiten Kreisen aufgriff. Zunächst war ein äußerer Anlaß der Versailler Vertrag und seine Auswirkung, namentlich die Schuldenverrechnung mit dem Auslande, welche praktische Beschäftigung mit dem vielfach vernachlässigten Auslandsrecht erforderte und welche auch endlich die Bibliotheken veranlaßte, Anschaffungen für das Auslandsrecht zu machen — noch zu Ende des Krieges besaß die Berliner Staatsbibliothek nicht die offizielle englische Entscheidungssammlung! Für die praktische Verwertung des Auslandsrechtes auf dem Gebiet namentlich der Schuldenverrechnung muß hier auf die Wirksamkeit des allzu früh heimgegangenen Joseph Partsch hingewiesen werden, der diesen Fragen in den letzten Jahren seines Lebens mit Aufopferung sich fast völlig hingab. Daneben haben Männer, wie Erich Kaufmann und Ernst Rabel, in gleicherweise mit größtem Erfolge gearbeitet und auch sie haben es verstanden, zugleich mit der praktischen Arbeit, welche sie gemeinsam mit ausgezeichneten Mitgliedern der deutschen Ämter leisteten, auch wissenschaftliche Ergebnisse allgemeiner Art aus dieser Tätigkeit zu ziehen. Aber man ging bald zur Organisation rein wissenschaftlicher Institute für Rechtsvergleichung über. So entstand als reines Lehrinstitut das von mir geleitete Institut für Auslands- und Wirtschaftsrecht der Universität Berlin, so entstanden vor allem für die Forschungszwecke die beiden Kaiser-Wilhelm-Institute für ausländisches öffentliches und Völkerrecht, geleitet von Victor Bruns, und für ausländisches und internationales Recht, geleitet von Ernst Rabel; ähnlich war schon an der Universität München unter Leitung Rabeis, an der Universität Hamburg unter Leitung Mendelssohn Bartholdys, an der Universität Heidelberg unter

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Leitung Karl Neubeckers ein Universitätsinstitut für Rechtsvergleichung entstanden. Daneben arbeiteten schon lange Vereinsorganisationen, wie vor allem die, wie erwähnt, längst vor dem Kriege durch v. Liszt ins Leben gerufene Internationale Kriminalistische Vereinigung, und ferner die internationaleVereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft, die jetzt von Rabel neu belebt ist. Zu diesen Verbänden kommen andere internationale Organisationen wie das Institut de droit international, die International law Association, die Académie de Droit Comparé, denen Deutsche angehören. Diese Vereinigungen wirken durch Versammlungen, Vorträge, aber auch durch Jahrbücher und andere Druckschriften, es sei hier auf den ersten Band der in Deutschland erscheinenden Acta Universalis Academiae (der Académie de Droit Comparé), herausgegeben von Balogh 1929 hingewiesen. In Deutschland aber stehen an der Spitze der Zeitschriften die von den beiden Kaiser-Wilhelm-Instituten herausgegebenen Zeitschriften für ausländisches und internationales Privatrecht (Rabel) und für öffentliches und Völkerrecht (Bruns); daneben aber ist die alte, mehr der historischen Betrachtung und dem Recht der Primitiven gewidmete Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft (L. Adam mit Steuber, Heymann, P. M. Meyer und Schmidt) erhalten worden. Dazu kommen fast alle bereits genannten Zeitschriften der verschiedensten Materien, sie bringen gelegentlich Beiträge rechtsvergleichenden Inhalts. Schließlich sind eine Reihe großer Sammelwerke entstanden, schon vor dem Kriege die Handelsgesetze des Erdballs und die erwähnten Strafrechtlichen Sammelwerke, die Patentgesetze aller Länder (Kohler-Mintz) u. a., nach dem Kriege der Versuch Heinsheimers zur Sammlung der Zivilgesetze aller Länder, ferner die wertvollen Tabellen zur praktischen Rechtsvergleichung, welche Julius Magnus herausgibt, sowie das bereits genannte Sammelwerk zum Zivilprozeß der Kulturstaaten, und vor allem Schlegelbergers mit Heinrich Titze u.a. herausgegebenes Rechtsvergleichendes Handwörterbuch. Einzelne Schriften und die Sammlungen solcher hier aufzuführen, ist bei der Fülle des Vorhandenen unmöglich ; schon das gesagte zeigt den Reichtum dieser Bemühungen und ihre vorläufigen Erfolge; die streng wissenschaftlichen Unternehmungen und Organisationen bedürfen aber noch warmer Pflege, damit ein Ausarten in oberflächlichen Dilettantismus vermieden wird. Enger als man gewöhnlich annimmt, hängt schließlich die dritte selbständige Grundlage der Rechtswissenschaft mit den soeben besprochenen Bestrebungen zusammen, die Rechtsphilosophie. Denn sie muß sich, wenn sie nicht nur blasse Allgemeinheiten geben will, auf positives Recht und zwar grundsätzlich auf die Rechte aller Völker und aller Zeiten stützen. So ergibt sich bei ihr von selbst ein internationaler Zug, und in der Tat haben seit alters, seit Aristoteles und seit Thomas von Aquino, die großen Rechtsphilosophen nach den rechtlichen Grundlagen weit über die Grenze ihres eigenen Rechtsgebietes hinaus ausgeblickt. Man hat oft geklagt, daß die Rechtsphilosophie in neuerer Zeit ungebührlich zurückgetreten sei, und man kann nicht leugnen, daß zu Anfang der hier ins Auge gefaßten Periode unter dem Einfluß des juristischen Positivismus und auch des Historismus die Traditionen Hegels und Stahls zu verebben drohten. Immerhin war damals Rudolf von Jhering tätig, dessen utilitaristische Lehre aber viele nicht befriedigte, wie unter dem gleichen Gesichtspunkte auch Bedenken gegen die v. Lisztschen Grund9*

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anschauungen bestanden, während die alte idealistische Philosophie im Bindingschen Klassizismus fortlebte. Vor allem baute Otto v. Gierke seine großartigen Werke auf philosophischen Grundanschauungen auf, welche Hegel und die Romantik geschaffen hatten. Dann aber kam in ernster erkenntnistheoretischer Bemühung die Wiedererweckung der Kantischen Gedanken, vermittelt durch die Marburger philosophische Schule, in dem bedeutenden Gesamtwerk Rudolf Stammlers, der in seinen zahlreichen umfassenden Büchern das philosophische Verständnis des Rechtes aufs tiefste anregte und förderte. Überall wo seither rechtsphilosophisch gedacht wurde, sieht man seine Spuren. Aber daneben wirkten in der Rechtsphilosophie naturgemäß auch die von Stammler bekämpften Ideen von Karl Marx und andererseits der Versuch einer Wiedererweckung Hegelscher Gedanken durch Joseph Köhler und Lasson. Bei Kohler wiederholte sich, universalhistorisch gerichtet, aber erkenntniskritisch nicht gleich abgerundet, im Grunde doch die Gierkesche Anschauung. Die neuere Zeit mußte dann natürlich in der Rechtsphilosophie gegenüber Kant und Hegel die Errungenschaften der Südwestdeutschen Schule, insbesondere auch die phänomenologische Richtung verarbeiten. So sehen wir vor dem Kriege in verschiedener Haltung die Arbeiten von Radbruch und Binder, von Erich Kaufmann und die Anfange des Österreichers Kelsen, denen man so manche Namen hinzufügen könnte. Nach dem Kriege und den grundstürzenden Ereignissen, welche in ganz Europa ihm folgten, mußten die rechtsphilosophischen Betrachtungen natürlich in erhöhtem Maße Bedeutung gewinnen. Vielerlei ist geschrieben worden, darunter nicht wenig stark dilettantisches. Aber die alten Meister haben in ernster Weise fortgearbeitet, und wenn man neben ihnen unter den neueren Schriften Männer, wie Rudolf Smend, Baumgarten, M. E. Meyer und Emge, nennen kann, wenn man auf die Wirksamkeit der Zeitschrift für Rechtsphilosophie und auch auf die weit gesteckten Bemühungen im Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, das Sauer mit Wenger und anderen herausgibt, hinweisen darf, so ist zu hoffen, daß eine geschulte Rechtsphilosophie auf streng erkenntniskritischer Grundlage sich nicht nur fortentwickelt, sondern in Zukunft das riesige, aus der ganzen Welt zusammenströmende und in der Heimat aus den komplizierten Kulturverhältnissen heraus wachsende Material zu durchleuchten und verarbeiten vermag. Der dunkle Drang nach einer geläuterten Lehre zeigt sich in dem merkwürdigen Übermaße der Betonung von Treu und Glauben und guter Sitte in unserer Praxis. Ein unbewußter und erschütternder Ruf nach philosophischer tieferer Erkenntnis des Rechts und der Gerechtigkeit. In einem losen Zusammenhange mit den philosophischen Bestrebungen stehen die Bemühungen um enzyklopädische Darstellungen des Rechtes in seiner Gesamtheit. Wenn es sich dabei, wie in der berühmten allgemeinen Rechtslehre Merkels, um die Feststellung und den Ausbau der juristischen Grundbegriffe handelt, wie Merkel sie aus dem juristischen Positivismus heraus erarbeitet hatte, so laufen solche Bestrebungen unmittelbar in die Rechtsphilosophie ein. Auch Enzyklopädien, wie die von Gareis, von Radbruch und von Hedemann, stehen dem noch nahe. Anderen Charakter tragen die großen Sammelwerke von Holtzendorff und Birkmeyer, die vor dem Kriege durch einzelne Beiträge von Fachleuten den Stoff übersichtlich zu bewältigen suchten. Nach dem Kriege ist an Stelle der

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Birkmeyerschen Enzyklopädie das große Sammelwerk von Kohlrausch-Kaskel getreten, welches in seinen einzelnen Beiträgen kleinere oder z. T. sogar imponierend große Grundrisse und Lehrbücher bietet, so daß es einen Rahmen für ein Lehrwerk darstellt. Auf der andern Seite ist an Stelle von Holtzendorff-Kohlers Enzyklopädie das Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, herausgegeben von Stier-Sommlo und Alexander Elster, getreten, das nach englisch-amerikanischem Vorbilde die systematische Darstellung aufgegeben hat und das gesamte Recht in einzelne alphabetisch geordnete Artikel zerlegt. In ihrer Art sind beide Sammlungen ausgezeichnete Leistungen, wobei natürlich ein alphabetisch geordnetes Handwörterbuch unbeschadet des Wertes seiner Beiträge sich von dem ursprünglichen Grundgedanken einer Enzyklopädie am weitesten entfernt hat. Die Vorbilder für diese letzteren Arbeiten finden sich zum Teil in der Literatur der Volkswirtschaft. Aber es ist hier nicht möglich und auch nicht der Ort, auf diese Literatur einzugehen, obwohl sie nicht nur im Stofflichen mit der juristischen Wissenschaft eng zusammenhängt, weil die Wirtschaft als dynamischer Faktor große Teile des Rechtes beherrscht und dieses sich zum guten Teil als die Form der Wirtschaft darstellt. Je mehr diese Erkenntnis Boden gewinnt, desto dringlicher ist das enge Zusammenarbeiten der juristischen und der sozial-ökonomischen Wissenschaft, ein Zusammenarbeiten, das heute doch immerhin nur zum geringen Teile verwirklicht ist. Auch hier zeigen sich große Aufgaben für die Zukunft. — Wir stehen in einer Periode des Übergangs, in mancher Hinsicht, obwohl die Rechtswissenschaft ihre Objektivität bewahrt hat, doch in einer Periode des Sturms und Drangs. Wie die vorstehenden Betrachtungen zeigen, kann man das hier zur Schilderung stehende Halbjahrhundert nicht als ein geschlossenes Ganzes gegenüber der Vorzeit und der voraussichtlichen Zukunft betrachten. Vor etwa fünfzig Jahren eine Zeit abschließender Werke, die den stolzesten Erfolg hatten, dann die Kodifikationen und eine reiche Einzelgesetzgebung mit ihren Folgeerscheinungen und dann Krieg, Staatsumwälzung und überall hervorquellende neue rechtliche Gestaltung, ein buntes, fast erdrückendes Bild. Einheitlich bei alle dem nur die Wissenschaft selbst, welche ihre alten Methoden an den neuen Objekten übt und dabei in diesen Methoden einen Fortschritt vollzieht, der lange angebahnt war, aber vielleicht hie und da durch die neuen Objekte beschleunigt wird. Will man ein Werturteil abgeben, so kann man der Rechtswissenschaft am allerwenigsten vorwerfen, daß seit 19x4 weniger abschließende und zusammenfassende Werke von ernster Bedeutung als im ersten Teil der Periode entstanden sind. Es mag dahingestellt bleiben, ob man überhaupt den Wert einer praktischen Wissenschaft wie der Jurisprudenz unter diesem Gesichtspunkt beurteilen darf. Sicherlich war die Zeit dieses neuen Rechtszustandes ganz ungeeignet für die Schaffung solcher Arbeiten, und nur hier und da konnten und können sie zum Abschluß gelangen, sofern sie nicht bloße Wiederholungen älterer Gedanken oder bloße Registrierungen sind. Nicht weil eine Wissenschaft in Einzelheiten aufgehen dürfte, sondern weil es sich jetzt darum handelt, einen ungeheuren Stoff zu durchleuchten und die Verfeinerung der Methoden an ihm zu erproben, weil wir in einer Zeit wilden Geschehens und wirtschaftlicher Gärung leben, gilt es, die einzelne Frage zu erfassen, freilich in möglichst weitem Zusammenhange und aus der Tiefe heraus. Die große wissenschaftliche Linie, die systematische

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Eingliederung darf weder historisch, noch dogmatisch fehlen. Aber die Zusammenfassung muß heute schließlich, wie ja eigentlich überhaupt, weit mehr in der Persönlichkeit des Schaffenden als in der systematischen Aufhäufung von Resultaten liegen. Wenn das ewig Fließende gerade der Rechtswissenschaft jemals dem Beschauer sich unmittelbar und zwingend aufdrängte, so ist das in Zeiten wie den unseren der Fall. Der richtige Wertmaßstab aber liegt daher in der Frage, wie weit es der Rechtswissenschaft gelingt, die einzelnen Fragen des heutigen Lebens zu bewältigen, ohne dabei den Gesamtzusammenhang mit den Entwicklungsgrundlagen und mit den anderen Wissenschaften zu verlieren. Unter diesem Gesichtspunkte aber erscheint auch das im letzten Drittel unserer Periode in Deutschland Geleistete als durchaus erfreulich. Wenn eine Wissenschaft das Kriegsrecht, die Inflation und die Stabilisierung, wenn sie eine neue Verfassung und ein umgeschmiedetes Verwaltungsrecht bewältigt, wenn sie das neue Arbeits- und Wirtschaftsrecht, zahlreiche Neuerscheinungen im Handelsleben, ein neues Kirchenrecht und Völkerrecht und was noch alles sonst in unruhigen Zeitläufen und angesichts einer rastlosen Gesetzgebungsmaschine verarbeitet und dabei die Ruhe für Reformen, wie die des Strafgesetzbuches findet, wenn sie dabei sich von Parteipolitik fernhält, so hat sie nicht nur das Pflichtmäßige, sondern darüber hinaus Hervorragendes geleistet. Aber bei solchem Urteil darf man sich natürlich nicht beruhigen. Vielmehr zeigen sich auf allen Gebieten täglich neue Aufgaben, und gerade die deutsche Rechtswissenschaft darf jetzt am wenigsten den schönen Augenblick verweilen heißen. Es gilt durch rastlose Arbeit und kampffrohe Auseinandersetzung unter Vermeidung alles verfrühten Abschlusses in untrennbarer Fühlung mit der Praxis fortzuarbeiten, dabei aber überall, wo es irgendwie angeht, die historischen rechtsvergleichenden und philosophischen Mittel der Vertiefung bereit zu stellen. Dann wird auch die Arbeit selbst da, wo sie notgedrungen schnell vergehen muß, sich lohnen: sanctus patriae amor dat animum. Wer die vorstehenden Darlegungen auch nur flüchtig durchmustert, wird sich sofort überzeugen, daß während dieses ganzen Halbjahrhunderts und ganz besonders auch in dessen letztem Drittel der Kern der deutschen Rechtswissenschaft die deutschen juristischen Fakultäten gewesen sind. So ist trotz der veränderten Zustände und trotz der eifrigen und im höchsten Maße dankenswerten Mitarbeit der außerhalb der Universität stehenden Praktiker im Grunde genommen doch das Verhältnis der ersten drei Viertel des neunzehnten Jahrhunderts erhalten geblieben. Was die Rechtsgeschichte von Justinian über Eike von Repgow, über Bologna und Paris, über die englische Innungsschule und über die ganze Entwicklung der deutschen Universitäten hin seit der Gründung von Prag zeigt, das sehen wir noch heute: ohne organisierte Rechtsschule kann es keine wissenschaftliche Beherrschung des Rechtes geben, muß sich das Recht in eine unzusammenhängende Masse von Einzelheiten verlieren. Auch wenn einmal vorübergehend nur mittelmäßige Geister die Tradition der Schule halten, was heut gewiß nicht zutrifft, bietet ihre feste und dauernde Organisation doch immer die einzige Möglichkeit des Fortspinnens einer einheitlichen, die Lebensverhältnisse in ihren Wandlungen erfassenden Gedankenwelt. Gerade die Anpassung an neue Verhältnisse und ihre schnelle Bewältigung hängt für das Recht von der einheitlichen Schulung der Masse der Juristen wie ihrer leiten-

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den Köpfe ab. Muß die Methode immer erst wieder von einzelnen genialen Menschen neu aufgebaut werden oder wird sie gar der Raub wilder und oft zügelloser Einfalle, so kann die eigentliche Aufgabe nicht gelöst werden, und die Arbeit der Jahrhunderte ist verloren. Nichts wäre falscher, als in diesen Erwägungen einen unfruchtbaren Konservativismus sehen zu wollen, vielmehr dienen sie gerade der notwendigen Bemühung um stetiges Fortschreiten der Wissenschaft und damit des Rechts. Und sie haben sich in dem Leben unserer Rechtswissenschaft glänzend bewährt. Männer wie G. Planck und Staub, wie Ebermeyer und Strutz, wie Güthe und Schlegelberger, haben als Praktiker die Rechtswissenschaft im reichsten Maße gefördert. Sie stehen aber, wie sie mehrfach selbst hervorgehoben haben, in aller ihrer Arbeit auf dem Boden dessen, was die organisierten Rechtsschulen als Forschungsanstalten geschaffen haben. Noch mehr gilt das natürlich von den vielen, welche sich in kleinerem Stil um wissenschaftliche Feststellungen praktischer Einzelfragen bemühen. Es gibt keinen inneren Gegensatz zwischen der Arbeit solcher Männer und der Arbeit der Universität. Aber fiele der Charakter der Universität als wissenschaftlicher Forschungsorganisation dahin, könnte sie nicht mehr solche Männer erziehen oder mittelbar auf sie einwirken, so würde auch in diesen Kreisen das wissenschaftliche Leben erlöschen. Darum hängt das ganze Schicksal der deutschen Rechtswissenschaft von dem Charakter der deutschen Fakultäten als Forschungsanstalten und als Lehranstalten der Wissenschaft ab. Gelänge es, sie zu bloßen Drillanstalten herunter zu würdigen, so wäre das rechtswissenschaftliche Leben in Deutschland erstickt. Freilich müssen die deutschen Rechtsfakultäten als Träger der Rechtswissenschaft dabei auch dauernd der schweren Verantwortlichkeit sich bewußt sein, die auf ihnen mit allen diesen Aufgaben liegt. Sie dürfen vor allem nicht einen Augenblick vergessen, daß Forschung und Lehre innerlich untrennbar sind, daß ihre wissenschaftliche Haltung in der Unterweisung der gesamten juristischen Jugend durchgeführt werden muß und daß sie nur in der engen geistigen Fühlung mit der auf praktische Ziele gerichteten ganzen Juristenschaft das Fundament für ihre hohen Aufgabenfindenkönnen. Auch die letzten Jahrzehnte haben wieder gezeigt, daß trotz manchen bildungsfeindlichen Widerstandes die deutsche Rechtswissenschaft, und insbesondere die Universitäten als ihre Träger, in den Verwaltungen der Länder wie des Reichs immer wieder Männer finden, welche sie in ihrer Arbeit verständnisvoll unterstützen. Und es ist nicht zum Geringsten auch ein hohes Verdienst der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, daß sie da, wo die Jurisprudenz für ihre Arbeit der materiellen Hilfe nicht entbehren und sie anderweit nicht finden konnte, ihr in tiefem Verständnis eine freundliche Hand bot, um ihr über äußere Schwierigkeiten hinwegzuhelfen. So darf die deutsche Rechtswissenschaft, so wenig sich die Entwicklung der eigenen Zeit mit Sicherheit geschichtlich erfassen läßt, doch aus dem Geschehen dieses Halbjahrhunderts die Hoffnung auf glückliches, alle kommenden Erschütterungen überwindendes Fortarbeiten schöpfen, wenn sie sich selbst und ihrer vielhundertjährigen Vergangenheit treu bleibt.

HERMANN SCHUMACHER STAATSWISSENSCHAFTEN Die Aufgabe, die Entwicklung einer Wissenschaft während des letzten halben Jahrhunderts auf wenigen Seiten darzustellen, zwingt zum Mut, ein Bild in großen Strichen zu skizzieren und die Scheu vor einer Beurteilung der lebendigen Gegenwart zu unterdrücken. Darin bestehen Eigenart und Bedeutting dieser Aufgabe. Das ist im besonderen Maß der Fall bei den »Staatswissenschaften«. Denn die Volkswirtschaftslehre, die ihren Kern bildet, konnte zwar 1926 auf 150 Jahre zurückblicken, die seit dem Erscheinen jenes Werkes von Adam Smith, das als ihr wichtigster Grundstein betrachtet wird, verstrichen sind; aber ihre Weiterentwicklung hat dem enthusiastischen Anfang nicht ganz entsprochen und sich in unverhältnismäßiger Stärke im letzten halben Jahrhundert zusammengedrängt. Überall hat die neue Wissenschaft um ihre Anerkennung als Lehrfach auf den Universitäten schwer ringen müssen, nirgends sogar mehr als in dem Lande, in dem sie entstanden ist; in Deutschland hat jedoch das Streben, sich als Wissenschaft auf deutschem Boden Heimatrecht zu erringen, im Vordergrund gestanden und auch noch der Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren das Gepräge gegeben. Um das voll zu verstehen, ist es nötig, zu Anfang den Blick kurz noch etwas weiter in die Vergangenheit zurückschweifen zu lassen. I Der Widerhall, den die neue Lehre in ihrem englischen Entstehungslande fand, war so stark, daß er auch nach dem Kontinent hinüberschallte, so daß nicht nur Adam Smith, sondern auch noch John Stuart Mill in deutschen Landen zeitweise eine Beachtung gefunden hat, wie sie einem deutschen Wirtschafts theoretiker nie zuteil geworden ist. Anfangs überwog durchaus die Stimmung des dankbaren Empfangers. Was man vom Ausland erhalten hatte, wollte man durch Mitarbeit erwerben. Erst langsam und vereinzelt trat dann das Streben, die fremde Lehre unter nationalen Gesichtspunkten zu prüfen, in den Vordergrund. Die willfahrigen Ausbaubemühungen sind anfangs von bescheidenem Erfolg gewesen. Selbst kleine Veränderungen und Verbesserungen waren selten. Hermanns erweiternde Untersuchungen zur Preisfrage bildeten geradezu eine Ausnahme; und tiefgreifende Ausgestaltungen knüpfen sich eigentlich ausschließlich an den Namen v. Thünen. Auch er betrachtet noch Adam Smith, in dessen Bahn auch der deutsche Begründer der Landwirtschaftslehre, Albrecht Thaer, ganz gewandert ist, als seinen Lehrer, hat aber in seinem Buch in erster Linie aus dem reichen Schatz von Erfahrungen, die er sich als Landwirt erworben hatte, geschöpft. Ihm ist es gelungen, was international noch immer nicht gebührend gewürdigt wird, in zwei Richtungen die übernommene klassische Lehre zu bereichern. Erstens hat er die Grundrentenlehre Ricardos — und zwar anfangs ohne sie zu kennen — in bedeutsamster Weise ausgebaut und damit zugleich als erster das Standortsproblem in die Volkswirtschaftslehre hineingebracht. Noch bedeutsamer ist zweitens, daß ihm die von der klassischen Schule noch unbewußt gehandhabte

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isolierende Methode bewußt wurde. In ihrer Anwendung liegt ein Hauptverdienst, in ihrer unzureichenden Erkenntnis eine Hauptschwäche von Adam Smith und seinen Nachfolgern. Denn dadurch konnten sie sich über die Voraussetzungen nicht klar werden, unter denen ihre Schlüsse gelten; sie versäumten es, ihre Isolierungen nachträglich wieder aufzulösen. Thünen hat durch Wort und Vorbild gelehrt, daß der Abstrahierung von konkreten Einzelheiten des Lebens eine Annäherung an die Wirklichkeit entsprechen muß. Erst damit wurde bewußte Meisterschaft in der Handhabung der isolierenden Methode ermöglicht. Mit Recht ist Thünen von Conrad der bedeutendste deutsche Nationalökonom genannt worden. Charakteristisch ist aber zugleich, daß aus der einzigen schöpferischen Ausbauleistung großen Stils, die Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufzuweisen hat, die tiefgründigste Kritik der fremden Lehre hervorgewachsen ist. Keine ist für die Bestrebungen der Verdeutschung dieser Lehre von so nachhaltiger Bedeutung gewesen. In der Gruppe bewußter Nationalisierungsbestrebungen handelt es sich zunächst um eine Nationalisierung äußerlicher Art. Trotz aller anfanglichen Ehrfurcht vor der fremden Lehre haben es die deutschen Kameralisten, die in erster Linie die heranwachsenden Staatsbeamten zu schulen hatten, verstanden, sich ihr gegenüber zu behaupten. Die beiden nach Herkunft und Art so verschiedenen Wissensstoffe wurden dadurch miteinander vereinigt, daß die Dreiteilung in Theoretische Volkswirtschaftslehre, Volkswirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft als deutsche Eigentümlichkeit aufkam. Karl Heinrich Rau, der Verfasser des ersten deutschen Lehrbuchs der neuen Lehre, hat viel dazu beigetragen; und Adolf Wagner, der das Lehrbuch seines Lehrers in neuer Auflage herauszugeben übernahm, ist es gewesen, der diese Dreiteilung an der Berliner Universität, als er 1871 an sie berufen wurde, zuerst vollständig durchführte; sie hat sich bis heute erhalten, wenn auch die Grenzen zwischen den drei Teilen wichtige Bereinigungen erfahren haben. Die im Laufe der Zeit verfeinerte Verbindung des ausländischen und inländischen Lehrstoffs, die erst spät und noch immer nur vereinzelt auf das Ausland eingewirkt hat, hat aber von Anfang an eine tiefe Bedeutung besessen. Sie stellte sich in ihren Wirkungen dar als die Verknüpfung der individualistischen Wirtschaftslehre Englands, die aus bewußter Bekämpfung des Merkantilsystems hervorgewachsen war, mit der deutschen Staatsauffassung, die zwar bei den Kameralisten noch mancherlei merkantilistische Züge aufwies, sich dann aber mehr und mehr zur Höhe der organischen Staatslehre, wie sie zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland entwickelt worden war, erhob. Demgemäß war in Deutschland die Wirtschaft keineswegs nur eine Angelegenheit der Individuen, sondern ebenso auch eine Angelegenheit des Staates. Von beiden Seiten bedurfte sie der wissenschaftlichen Betrachtung. Die äußere Verknüpfung wurde also zur Eingliederung der englischen Volkswirtschaftslehre in die deutschen Staatswissenschaften; und das wurde als so bedeutsam empfunden, daß sich der Ausdruck »Staatswissenschaften« statt Volkswirtschaftslehre in Deutschland eingebürgert hat, obwohl er einerseits zu weit und andererseits zu eng ist. Tiefer griff von vornherein ein zweiter Versuch der Nationalisierung. Er wuchs aus der Entwicklung hervor, welche die Geisteswissenschaften zu Anfang

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des 19. Jahrhunderts auf deutschem Boden erlebten. Der Entwicklungsgedanke war in sie hineingetragen worden, und die historische Methode hatte einer Reihe von ihnen zu neuer Blüte verholfen. Vor allem die historische Rechtschule hatte einen glänzenden Aufschwung erlebt. Nach ihrem Vorbild steckte sich Wilhelm Roscher bewußt und kühn seine Ziele. Auch er stand keineswegs im Gegensatz zur englischen Lehre, wollte aber »für die Staats Wirtschaft etwas Ahnliches erreichen, was die Savigny-Eichhornsche Methode für die Jurisprudenz erreicht hatte.« Er schrieb schon 1842: »Die Geschichte kann von der Ökonomie gerade ebensoviel lernen wie umgekehrt; eine solche Verbindung hat sich der Unterzeichnete zur Lebensaufgabe gemacht«. Vierzig Jahre hat er demgemäß fast die ganze Weltliteratur unter dem Gesichtspunkt der englischen Wirtschaftstheorie durchmustert und sorgsam notiert, was mit ihr im Einklang und was mit ihr im Widerspruch stand. Das Ergebnis dieser unermüdlichen Sammeltätigkeit liegt in Roschers fünfbändigem »System der Volkswirtschaft« vor. Es ist ein rühmliches Denkmal persönlicher Gelehrsamkeit, kein Markstein in der Entwicklung der » Staatswissenschaften«. Auch von den anderen Forschern, die der älteren historischen Schule, diesem jüngsten Sproß der romantischen Bewegung, wie v. Below gesagt hat, zugerechnet zu werden pflegen, gilt dasselbe Urteil. Sie brachten der Theorie ein tieferes Verständnis als Roscher entgegen und beschäftigten sich mit methodologischen Fragen. Vielleicht sind sie gerade deshalb nicht über Programme für »die politische Ökonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode« hinausgekommen. Rudolf Hildebrands »Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft« ist ein Torso geblieben und Karl Knies wandte sich Spezialstudien zu. Beide haben in der Kritik der klassischen Lehre Wertvolles geleistet, aber nicht, wie Roscher, den Versuch eines umfassenden Neubaues gewagt; beide, insbesondere Knies, haben als Lehrer eine bisher in Deutschland noch nicht erlebte Wirkung von teilweise internationaler Bedeutung erlebt, sind aber, wie Roscher, für die Entwicklung im großen ohne nachhaltige Bedeutung geblieben. Blicken wir heute zurück, so müssen wir anerkennen, daß ein dritter Nationalisierungsversuch sich zwar nicht alsbald, aber doch im Laufe der Zeit als erfolgreich erwiesen hat.Er ist nicht auf dem Boden der Wissenschaft, sondern aus dem bewegten Leben eines wirtschaftlichen und politischen Praktikers erwachsen. Friedrich List hatte diesseits wie jenseits des Atlantischen Ozeans klar erkannt, daß die äußere Wirtschaftspolitik in den Ländern, die, wie Deutschland und die Vereinigten Staaten, hinter England zurückgeblieben waren, die Hauptaufgabe habe, sich der englischen Überlegenheit gegenüber zu behaupten. Dazu bot die Lehre der englischen Schule nicht eine ausreichende theoretische Grundlage. Denn sie war eine aus den englischen Verhältnissen natürlich erwachsene »Suprematielehre«, die für England, aber nicht für die »nachstrebenden« Länder richtig war. Aus diesem Tatbestand durfte nicht gefolgert werden, daß für verschiedene Länder verschiedene Wirtschaftslehren nebeneinander zu entwickeln wären; denn die Volkswirtschaftslehre dürfe ebensowenig, wie irgendeine andere Wissenschaft auf »Allgemeingültigkeit« verzichten; es müsse vielmehr in die Lehre der klassischen Schule der bisher fehlende Entwicklungsgedanke hineingebracht werden. Das sucht List durch

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seine Stufenlehre zu erreichen. Erst durch diese Lehre von der systematisch fortschreitenden Entwicklung der »Produktiven Kräfte« soll die bisher einseitige englische Lehre zu einer allgemeingültigen »Menschheitslehre« ausgebaut werden, als die sie sich bisher zu Unrecht ausgibt. Damit soll zugleich den »nachstrebenden« Völkern für ihre auf Schutz und Erziehung berechnete Wirtschaftspolitik die gleiche theoretische Fundierung geschaffen werden, wie sie in der unvollständigen bisherigen Lehre allein England für seine Wirtschaftspolitik zur Verfügung stand. List ist daher mit Unrecht der »Überwinder der Smithschen Schule« von Schmoller genannt worden. Er hat sich vielmehr bewußt auf ihren Boden gestellt und sich bemüht, sie zu vervollkommnen; erst in den praktischen Folgerungen, die er aus dieser erweiterten theoretischen Lehre zog, kommt er mit Adam Smith und seinen Anhängern in scharfen Gegensatz. W e n n dieser Zusammenhang so lange verkannt wurde, so erklärt sich das nicht nur daraus, daß List ein wissenschaftlicher Außenseiter war und selbst durch leidenschaftliche Kämpfe und traurige Lebensschicksale seine theoretischen Leistungen in den Schatten gedrängt hatte, sondern auch daraus, daß ein Hauptwerk von ihm, in dem er gerade seiner Stufenlehre besondere Aufmerksamkeit widmete, in französischer Sprache abgefaßt war und bis zum Jahre 1925 unbeachtet in der französischen National-Bibliothek schlummerte. So kam es, daß der mit Lists Namen verbundene Nationalisierungsversuch der fremden Wirtschaftslehre 75 Jahre lang in seiner grundlegenden Bedeutung verkannt wurde. Neben den erwähnten Bestrebungen einer Nationalisierung der englischen Lehre, denen ein gemeinsamer Zug, den man wirtschaftlich nicht anders als konservativ nennen kann, anhaftet, entwickelten sich endlich jene Bestrebungen, welche auf eine grundsätzliche Änderung der Struktur des Wirtschaftslebens gerichtet sind und unter dem Sammelnamen Sozialismus zusammengefaßt zu werden pflegen. Auch sie gehen von der Lehre der klassischen Schule aus; sie wollen sich aber nicht begnügen mit einer Feststellung dessen, was ist, sondern erstreben eine Lehre, die zugleich angibt, was wird; Kritik des Bestehenden und Wunschbilder für die Zukunft sind ihnen wichtiger, als bloße Erklärungen. Sind auch die Ausgangspunkte und Zielpunkte sehr verschieden, so kann man doch sagen, daß zwei Gedanken im Vordergrund stehen: der Gedanke der Ausbeutung und des aus ihr hervorgehenden, immer wachsenden Großbetriebes. Die Ausbeutungstheorie knüpft regelmäßig, insbesondere bei Karl Marx, an die unglückliche Produktionskostenlehre von Ricardo an; indem die Sozialisten hier die Klassiker zu Ende dachten, dachten sie — wie Wieser gesagt hat — ihre Fehler zu Ende. Anders steht es mit dem Gedanken der Großbetriebsentwicklung. Hier haben die Sozialisten viel klarer als die bürgerlichen Nationalökonomen die Entwicklungstendenzen der Zeit erkannt. Mit ungewöhnlichem Fleiß und Scharfsinn hat vor allem wieder Marx das große Tatsachenmaterial, das die englische Entwicklungsgeschichte so eindrucksvoll darbot, verarbeitet. Wie dem Wirtschaftsleben im ganzen, so kann man sich auch gegenüber diesen machtvollen Neubildungen auf einen doppelten Standpunkt stellen: auf den Standpunkt des Individuums, wie es der englischen Wirtschaftslehre entsprach, und auf den Standpunkt des Staates, wie es dem eilten deutsch-preußischen Geiste und

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kameraiistischer Auffassung geboten erschien. Das erste hat Marx, das zweite Rodbertus getan. Der »spezifisch preußische Sozialist«, wie Rodbertus von Marx genannt worden ist, zog aus der Entwicklung die Folgerung, daß in den emporstrebenden Wirtschaftsmächten eine Gefahr für die Machtorganisation des Staates heraufwachse, und Marx folgerte aus den gleichen Erscheinungen eine zunehmende Bedrückung und Verelendung der wachsenden Hauptgruppe der Individuen, der Arbeiterschaft. Rodbertus rief warnend auf zu einer rechtzeitigen tiefgreifenden Reform, Marx prophezeite das naturnotwendige Herankommen eines gewaltigen Umsturzes. Die Lehre von Rodbertus blieb in vornehmer Zurückgezogenheit, die Lehre von Marx ward zum Anlaß für die größte Massenbewegung der Gegenwart. So waren auf dem Gebiete der »Staatswissenschaften« in Deutschland vielerlei Ansätze und Bestrebungen vorhanden, als 1882 Gustav Schmoller zu ihrem zweiten Vertreter, neben Adolf Wagner, an die Berliner Universität berufen wurde. Der Zustand war wenig befriedigend. Man konnte nach wie vor in zwei Richtungen eine Besserung erstreben. Einerseits konnte man den Versuch wagen, alles Bisherige durch einen Neubau früher oder später zu ersetzen; man konnte andererseits weiter bemüht sein, in den überkommenen alten Bau der klassischen Schule, verbessernd und ergänzend, die verstreuten neueren Bausteine einzufügen. Den ersten Weg hat Gustav Schmoller, den zweiten Adolf Wagner eingeschlagen. II Gründe allgemeiner Art waren es, welche die auf einen Neubau gerichteten Pläne noch einseitiger als bisher in den Vordergrund drängten. Waren bei der älteren historischen Schule Gründe, die in der Wissenschaft selbst wurzelten, bestimmend gewesen, so sind es jetzt zwei Aufgaben, die aus den Zeitverhältnissen hervorwuchsen. Erstens handelt es sich um die Frage, wie ist die wirtschaftliche Not, die man mit dem Ausdruck »Arbeiterfrage« zusammenzufassen pflegt, entstanden? Ihre wirtschaftsgeschichtliche Beantwortung sollte die bisher fehlende wissenschaftliche Untermauerung für die Sozialpolitik liefern. Zu dieser Aufgabe, die gerade vor 50 Jahren eine besonders große Anziehungskraft entwickelte, hatte sich mit der Begründung des Deutschen Reiches eine zweite gesellt. Für die Wirtschaftspolitik des neuen großen staatlichen Gebildes, in dem bald die Handelspolitik neben der Sozialpolitik besonders hervortrat, mußte eine' möglichst umfassende Begründung geschaffen werden. Auch diese Aufgabe lag auf dem Boden der Tatsachenforschung. Auch sie war überwiegend, wie die erste, eine einmalige. Gerade die Dringlichkeit dieser beiden einmaligen Aufgaben war es in erster Linie, die das lose und in sich sehr ungleichartige Gebilde der »jüngeren historischen Schule« entstehen ließ. Ihr Name sagt schon, daß sie im allgemeinen das Ziel beibehielt, das die ältere historische Schule verfolgt hatte. Weil sie es nur übernahm und weires hinter konkreten Aufgaben zurückstand, verlor es etwas an Bestimmtheit und Klarheit; vor allem aber'wollte man zu ihm auf einem neuen und weiteren Weg gelangen. Man dachte nicht mehr an große Zusammenfassungen, sondern wollte, wie auch sonst in'der Geschichtswissenschaft, durch Aktenstudien bis zu den ersten Quellen vordringen und sich zunächst monographischen Arbeiten aus Vergangenheit und

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Gegenwart widmen. Erst nachträglich sollte dann ans der Fülle sorgsamer Einzelstudien eine Theorie langsam erwachsen. Im einzelnen aber zeigt diese Gruppe von Gelehrten große Verschiedenheiten. Gustav Schmoller, ein Schüler von Max Duncker, dem späteren Direktor der Preußischen Archive, und ein dankbarer Verehrer seines vielseitig gebildeten Schwagers Gustav Rümelin, nahm sich, als er nach Preußen kam, vor, Droysens preußische Studien »nach der Verwaltungsseite fortzusetzen«. Er sah in theoretischen Systemen »vorschnelle Verallgemeinerungen«, wollte zu ihnen nur »Bausteine« liefern und vor allem eine »sichere Kenntnis der Wirklichkeit« vermitteln. Seine Lebensarbeit setzt sich aus Einzelstudien zusammen, die er dann später mit der gewaltigen Fülle von Früchten seiner beispiellosen Lesetätigkeit in seinem »Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre« zusammenfaßte, einem Werke, das also mehr die reiche Ernte eines ungewöhnlichen Lebens, als die Erfüllung des Programms einer Schule darstellt. Auch der »Grundriß« ist ein bewundernswertes Denkmal von Gelehrsamkeit und Lebensweisheit; aber auch er ist nicht zu einem Markstein in der Entwicklung der »Staatswissenschaften« geworden. Das hat sein Verfasser auch wohl nicht von ihm erwartet; denn für die Erfüllung seines Programms ist ihm stets das Leben eines Einzelnen zu kurz erschienen. Zu Lebzeiten hat Schmoller nicht nur wegen der ungewöhnlichen Vielseitigkeit seiner Bildung, die er zu einem lebendigen Kunstwerk zu gestalten wußte, sondern auch wegen des bevorzugten Beobachtungspostens, den er in Berlin zur Zeit von Deutschlands wirtschaftlichem und politischem Aufstieg einnahm, eine Rolle gespielt, wie bisher kein Vertreter der »Staatswissenschaften«. Im öffentlichen Wirken kam nur Lujo Brentano ihm gleich. Während Schmoller in seinem langen Leben nie eine ausländische Studienreise unternommen und anscheinend auch nie eine Neigung zu ihr verspürt hat, machte Brentano in jungen Jahren mit seinem früheren Lehrer, dem Statistiker Ernst Engel, eine Reise nach England, auf der er die Entdeckung machte — wie Eberhard Gothein sich ausgedrückt hat —, daß »es noch ein anderes England gab, als das der Ricardo und Mill«; und während Schmoller seine grundlegenden Jugendstudien den genossenschaftlichen Organisationen des früheren Handwerks, den Zünften, widmete, befaßte sich Brentano als erster Deutscher mit den neuen genossenschaftlichen Organisationen der Arbeiter, den Gewerkvereinen, die in England emporgeblüht waren. Er wurde von dem, was er kennenlernte, so gepackt, daß er nicht nur zum Theoretiker und Historiker, sondern auch zum leidenschaftlichen Vorkämpfer der Gewerkschaften für die Zeit seines Lebens wurde. Sein Feuergeist ließ ihn noch viel weniger, als Schmollers kühle Besonnenheit, Befriedigung allein in der Gelehrsamkeit finden. Nicht nur wissenschaftliche Erkenntnis, sondern wissenschaftliche Beeinflussung der Politik ist das Ziel seines Strebens. Darum scheute Brentano auch vor bewußter Einseitigkeit nicht zurück. Immer wieder trat er dafür ein, daß auf dem Gebiete der Sozialpolitik der genossenschaftlichen Selbsthilfe der Vorrang vor der Staatshilfe gebühre. Ohne ihn wäre der Verein für Sozialpolitik, dessen Leitung seit 1890 in Schmollers Händen lag, der Gefahr ausgesetzt gewesen, einen offiziösen Charakter anzunehmen. Brentano trug den Gegensatz von Sozialliberal und Sozialkonservativ in ihn hinein und sorgte damit dafür, daß es an Kämpfen nicht fehlte. Mit fort-

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schreitendem Alter erweiterte er dann seinen Interessenkreis und sein Arbeitsfeld beständig. Aus dem Historiker der englischen Trade Unions wurde schließlich der Historiker der wirtschaftlichen Entwicklung Englands überhaupt. Auch sein umfangreiches Alterswerk gruppiert sich allerdings zur Hauptsache um die Arbeiterfrage. Es ist ein Werk der Geschichte, in dem Politisches und Wirtschaftliches noch eng ineinander verwoben sind. Sehen wir heute auf die jüngere historische Schule, deren Besonderheiten in Schmoller und Brentano zum deutlichsten Ausdruck kommen, zurück, so läßt sich nicht leugnen, daß sie verzögernd und isolierend auf die Volkswirtschaftslehre in Deutschland gewirkt hat; und zwar hat sie das in dreifacher Hinsicht getan. Erstens hat sie die Brücken zur klassischen Schule abgebrochen. Kritik an ihren Lehren war schon von List, von Roscher, Knies und Hildebrand und vielen anderen geübt worden. Sie hat jetzt noch eine Vertiefung und Verbreiterung erfahren. Das ist sicherlich ein Verdienst. Aus der Kritik war aber bisher nur die Folgerung gezogen worden, daß die alte Lehre ausgebaut und umgestaltet werden müsse. Jetzt hieß die Folgerung: Ablehnung. Auch wenn sie im Laufe der Zeit an Schroffheit verlor, so blieb doch die Wirkung, daß die deutsche Volkswirtschaftslehre sich überwiegend aus dem lebendigen Gedankenstrom ausschaltete, der im Anschluß an die klassische Schule das Ausland noch immer durchflutet. Aus der ablehnenden Stellungnahme gegenüber der klassischen Schule erwuchs in beträchtlichem Maße eine internationale Isolierung. Kaum minder bedeutsam wurde die Stellungnahme zur Gedankenwelt des Sozialismus. Man gab sich der auch sonst verbreiteten Hoffnung hin, eine kraftvolle Sozialpolitik werde zu einer Überwindung des Sozialismus führen, und erblickte in diesem einseitig eine politische Bewegung. Darum hat auch Schmoller in seinem »Grundriß« keinen größeren Abschnitt dem Sozialismus gewidmet; und auch der Verein für Sozialpolitik hat sich, so lange er unter seiner Leitung stand, niemals mit den Grundideen des Sozialismus beschäftigt. Man ging ihrer Erörterung vielmehr aus dem Wege. Das war auch natürlich; denn nur mit theoretischen Mitteln ließ sich die Lehre des Sozialismus bekämpfen. Ablehnung der Theorie mußte zu einer Ignorierung des Sozialismus führen. So kann man nicht leugnen, daß auch mit der Stellungnahme der jüngeren historischen Schule die Tatsache zusammenhängt, daß der Marxismus sich nirgends in solcher geschlossenen Macht entwickelt hat wie in Deutschland. Auch aus der Ignorierung des Sozialismus wuchs in beträchtlichem Maß eine internationale Isolierung hervor. Endlich entstand in der deutschen Volkswirtschaftslehre eine tiefe Spaltung. Schmoller lehnte diejenige Schule deutschen Geistes, welche mehr als eine andere die Aufmerksamkeit des Auslands auf sich gezogen hatte, grundsätzlich ab. Dadurch daß auch gegenüber der Grenznutzenlehre, auf die sogleich noch im anderen Zusammenhang zurückzukommen ist, die Stellungnahme auf ein Ja oder Nein zugespitzt wurde, überließ man die fruchtbare Erörterung der Einzelprobleme auch hier dem Ausland. Dem lähmenden »Methodenstreit«, der zwischen Schmoller und Menger so leidenschaftlich durchgeführt wurde, ist es zu danken, daß das Ausland auch auf diesem ausgesprochen deutschen Gebiet einen Vorsprung von fast

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einer Generation erhielt, so daß auch sogar aus dieser deutschen Lehre eine internationale Isolierung in nicht unbeträchtlichem Maße hervorwuchs. Natürlich hat die Schmoller-Schule neben Negativem auch Positives aufzuweisen. Das kann in seiner Eigenart erst richtig erfaßt werden, wenn im Kreise der jüngeren historischen Schule noch etwas weiter Umschau gehalten ist. An erster Stelle sind weiter Georg Friedrich Knapp und Karl Bücher zu nennen. Wie Hildebrand und Knies sich stark von Roscher unterschieden, so sie sowohl von Schmoller als auch von Brentano. So verschieden sie auch untereinander waren — der eine still-beschaulich, der andere von aufbrausender Heftigkeit —, sie waren doch beide viel einseitiger Männer der Studierstube und sehnten sich nicht nach einem Wirken in der Öffentlichkeit. Sie hatten beide die seltene Fähigkeit, jede Erscheinung zugleich in ihrer konkreten Einmaligkeit und in ihrer allgemeinen Bedeutung zu erfassen. Bei ihnen handelte es sich daher nicht um Theorie oder Geschichte. Knapp ließ vielmehr schon äußerlich an den drei Schichten seiner literarischen Tätigkeit erkennen, wie Statistik, Geschichte und Theorie in seinem Wesen sich verbanden, und bei Bücher überwog sogar das theoretische Interesse das historische, so daß Zweifel aufgetaucht sind, ob er überhaupt der historischen Schule zugezählt werden könne. Bei beiden war die Theorie nicht auf die Zukunft vertagt, sondern wuchs unmittelbar aus der Tatsachenermittlung hervor und drängte von selbst zu klarer und knapper Zusammenfassung des Wesentlichen. So ergaben sich als natürliche Früchte der geschichtlichen Arbeit die gedanklichen Gebilde, die man später als »Idealtypen« zu bezeichnen gewohnt wurde. Natürlich waren in ihrer Herausarbeitung Gradunterschiede vorhanden; sie erwuchsen zum Teil aus der Verschiedenheit des Tatsachenmaterials, zum Teil aber auch aus der Persönlichkeit und ihrer fortschreitenden Entwicklung. Bei Bücher ist zuerst und in zunehmendem Maß die Herausbildung typischer Gebilde bewußt geworden; bei Knapp sind sie mehr unter einem unbewußten Zwang seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit entstanden. Bei beiden ergab sich der Weg von der Geschichte zur Theorie von selbst; sie verschmolzen diese zu einer geistigen Einheit. Darauf beruht auch wohl die Schule bildende Kraft, die beide, vor allem aber Knapp, als Lehrer auszeichnete. Die Tätigkeit beider wurde sachlich für die Volkswirtschaftslehre von so nachhaltiger Wirkung, weil sie ihre Hauptarbeit vernachlässigten Gebieten der speziellen Volkswirtschaftslehre zuwandten. Bücher hatte zwar angefangen, die Stufenlehre im idealtypischen Sinn auszubauen und die Lehre von der Arbeitsteilung wie keiner seit Adam Smith gefördert, aber seine Hauptarbeit galt doch dem Gewerbe; und Knapp, ein Schüler Georg Hanssens, hat weite Gebiete der Agrargeschichte für die Volkswirtschaftslehre nutzbar gemacht, viel tiefgründiger als August Meitzen, dessen Hauptverdienste auf das Gebiet der Geschichte und Vorgeschichte beschränkt geblieben sind. Emil Sax suchte, von anderen Ausgangspunkten aus, ähnliches für das Verkehrswesen zu erreichen, während es auf dem vielgestalteten Gebiet des Handels bei Ansätzen blieb, um die sich der Verfasser und später Hellauer und Julius Hirsch bemühten. Die Arbeiten, die nicht eine gesunde Verbindung von Geschichte und Theorie erreichten, sind für die Volkswirtschaftslehre von geringer Bedeutung geblieben.

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Je mehr sich die Wirtschaftsgeschichte zu einer selbständigen Disziplin entwickelte, kamen die rein geschichtlichen Arbeiten fast nur noch für diese in Betracht. Aber auch die Arbeiten, die in starken Abstraktionen den Boden der Tatsachen unter den Füßen verloren, übten nur eine beschränkte Wirkung aus. Das gilt auch von Knapps letztem Werk »Die staatliche Theorie des Geldes«; es hat zwar auch zu wertvollen neuen Erkenntnissen geführt, aber noch mehr zu verhängnisvollen Mißverständnissen Anlaß gegeben. Im ganzen wiesen also die Arbeiten der »jüngeren historischen Schule« bei bunter Vielseitigkeit viel Unfertigkeit auf. Sie reizten einerseits zu methodischer Besinnung und andererseits zu abschließenden Versuchen. Mit den ersten Bestrebungen ist der Name Max Weber und mit den zweiten der Name Werner Sombart verbunden. Die eigenartige Rolle, die Max Weber in den »Staatswissenschaften« gespielt hat, kann kurz vielleicht dahin formuliert werden, daß in ihm das wissenschaftliche Streben der Zeit in ganz eigenartiger Weise bewußt geworden ist. Inmitten des emsigen Arbeitens an Einzelaufgaben stellte er sich die beschauliche Frage nach dem eigentlichen Sinn und Erkenntniswert des wissenschaftlichen Schaffens in Geschichte, Volkswirtschaftslehre und Soziologie. Dabei knüpfte er nicht an den Schmoller-Mengerschen Methodenstreit an, der sich um die Frage gedreht hatte: Geschichte oder Theorie. Als der Nachfolger von Knies in Heidelberg geht er vielmehr von methodologischen Studien der älteren historischen Schule aus und fragt sich: unter welchen Voraussetzungen kann man mit der geschichtlichen Methode der Volkswirtschaftslehre nützen? Wie kommt es, daß einzelne Untersuchungen für sie von hohem Wert gewesen, andere für sie bedeutungslos geblieben sind? Er gelangt zu dem Ergebnis, daß die »Strenge der Begriffsbildung* entscheidend sei; es sei daher nötig, mit Hilfe vereinfachender und klar abgegrenzter Allgemeinheiten an den geschichtlichen Stoff heranzutreten; nur mit ihrer Hilfe könne Art und Bedeutung des Individuellen voll erfaßt werden. Diese Allgemeinheiten, die nicht die empirische Wirklichkeit abbilden, sondern nur »in gültiger Weise denkend ordnen helfen« sollen, die »Grenzbegriffe« bilden, mit denen die Wirklichkeit »verglichen wird«, sind von Max Weber im Anschluß an den Juristen Jellinek »Idealtypen« genannt worden. Solche typisierende Methode ist an sich nichts Neues. Sie ist unbewußt von der klassischen Schule gehandhabt worden und muß auch zur Anwendung gelangen, wenn ihr veralteter und spärlicher Tatbestand durch einen neuen und reichen ersetzt werden soll, wie es auch bei Knapp und Bücher geschehen ist. Sollen das nicht vereinzelte Erscheinungen bleiben, so muß diese Methode hinfort bewußt gehandhabt werden. Auch daran hat es bisher nicht ganz gefehlt. Insbesondere ist Adolf Wagner diese Methode bereits klar zum Bewußtsein gekommen. Bei Max Weber ist sie aber bewußt auf den ganzen Bereich der sozialen Wissenschaften ausgedehnt worden. Mit großer Kraft, aber oft befremdender Kühnheit hat er insbesondere seine auf rationales Handeln beschränkte Lehre der »verstehenden Soziologie« auf alle Gebiete des menschlichen Gemeinschaftslebens erstreckt, selbst auf Religion und Musik. Leider haben Krankheit und früher Tod vieles unfertig und unausgereift gelassen; darum wirken Webers Schriften nicht so stark wie seine lebende Persönlichkeit; aber auch von ihnen ist

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eine Fülle von Anregungen, wie kaum von anderen, ausgegangen; zugleich allerdings legen sie mit einer Unerbittlichkeit, die oft entmutigend wirkt, die Grenzen dar, die menschlicher Erkenntnis gezogen sind. Mit dieser kritischen Selbstbesinnung sind die Gedanken der historischen Schule, unter Aufhebung des Gegensatzes zwischen Theorie und Geschichte, bis zu einem gewissen Abschluß gebracht worden. Gleiches ist zugleich auch von anderer Seite geschehen. Sombart ist ein Altersgenosse von Max Weber. Darum ist er zwar von diesem beeinflußt worden, aber seine Arbeit hat sich nicht auf den Errungenschaften Webers aufbauen können; sie ist zeitlich eine Parallelerscheinung. Auch bei Sombart spielt die Kritik an der historischen Schule eine große Rolle; aber nicht diese Kritik an sich ist das besondere, sondern ihr Ausgangspunkt. Für Sombart ist, wie für so manchen, Karl Marx zum großen Erlebnis geworden. Er nimmt für ihn »den ersten Rang unter der Sozialphilosophen des 19. Jahrhunderts« ein und die Lektüre seines »imposanten« Werkes »Das Kapital« ließ ihn die Lücke, die hier die historische Schule aufwies, erkennen und bald auch das Streben entstehen, sie auszufüllen, und zwar in doppelter Weise. Erstens wollte er, was für ihn eine Entdeckung war, auch anderen zuteil werden lassen. Darum hielt er zuerst als warmer Bewunderer von Marx in dem besonders geeignet erscheinenden Zürich vor einem großen Laienpublikum Vorträge über »Sozialismus und soziale Bewegung« und ließ sie alsbald erscheinen. Selten hat ein Werk äußerlich und innerlich eine solche Entwicklung erfahren. Aus dem dünnen Heftchen wurde ein Werk von zwei Bänden; und während anfangs Sozialismus in der Hauptsache mit Marxismus identifiziert wurde, ist dieser immer mehr der bunten internationalen Entwicklung des Sozialismus als Glied eingeordnet und zugleich einer kritischen Würdigung immer schärfer unterzogen worden. Nirgends offenbart sich die Wandlung, die sich in der Persönlichkeit Sombarts vollzogen hat, so deutlich, wie in diesem Werk, das einem merkwürdig vernachlässigten Bedürfnis in gefalliger Form entsprach. Trotz seines großen Erfolges ist es aber für den Verfasser nur eine Vorfrucht für sein Hauptbuch gewesen. Sombart war nämlich durch Marx noch zu einem zweiten Werk, seinem eigentlichen Lebenswerk, angeregt worden. Er wollte, als »Fortsetzer« von Marx, die »wirtschaftliche Gesamtentwicklung der europäischen Völker« darstellen, und zwar — ähnlich wie dieser — unter einem einheitlichen Gesichtspunkt, den er auch von ihm übernommen hat, dem Gesichtspunkt des »Kapitalismus«. So weist Sombarts Werk »Der moderne Kapitalismus« — wie er auch ausdrücklich zugibt — etwas »Konstruktives« auf, wie das Buch des großen Sozialisten. Er suchte nicht — wie Knapp oder Bücher —, aus eindringlichen Studien der Wirtschaftsentwicklung typische Gebilde zu gewinnen, sondern er preßt den ungebärdigen Stoff oft gewaltsam in ein Schema; er mißt die Vergangenheit am Maßstabe der Gegenwart, und je nachdem, wie sie diesem entspricht, unterscheidet er: Vorkapitalismus, Frühkapitalismus, Hochkapitalismus, Spätkapitalismus. Daß ein solches Vorgehen bei den Historikern nicht auf Zustimmung rechnen konnte, ist Sombart bald klar geworden. Aber auch systematisch ist es nicht ohne Bedenken. Statt scharf und klar umgrenzte »Idealtypen« der Wirtschaftsentwicklung vorsichtig auszureifen, will Sombart seine Leser lehren, »in Wirtschaftssystemen zu denken«. Diese IO

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»Wirtschaftssysteme« sind aber so verwickelt, daß sie einheitlich überhaupt nicht mehr überschaut werden können. Das ist um so mehr der Fall, als Sombart zugleich seine Stellung zum Marxismus von Grund auf verändert hat. Anfangs hatte der Begriff »Kapitalismus« noch dem von Marx im wesentlichen bei ihm entsprochen; das »Verwertungsstreben des Kapitals« war ihm die Hauptsache. Dann aber hat Sombart diesen Begriff immer mehr entsachlicht, mit wachsender Einseitigkeit ist die «Wirtschaftsgesinnung» für ihn zum Entscheidenden geworden. Damit kam er mit seinem von Marx übernommenen Ausgangspunkt immer mehr in Widerspruch. Seine Verschiebung aus dem Gebiet der Tatsachen in den Bereich der Anschauungen hatte etwas Unsicheres und Unbestimmtes zur Folge. Zugleich änderte sich der Begriff »Kapitalismus« im einzelnen beständig. Er sollte schließlich die »Ganzheit des wirtschaftlichen Lebens« wiedergeben, das heißt, alle Züge umfassen, die Sombart als charakteristisch für das moderne Wirtschaftsleben erschienen; er setzt sich damit aus ungefähr zehn Bestandteilen zusammen und ist außerdem noch an vierzehn Bedingungen gebunden. Es ist kaum möglich, in solchen komplizierten Gebilden »denken zu lernen«. Der menschliche Verstand verlangt einfachere Mittel, um die bunte Verwickeltheit des wirtschaftlichen Lebens denkend meistern zu können; er kann mit »Idealtypen«, nicht mit »Wirtschaftssystemen« arbeiten. Das ist der letzte Grund, weswegen Sombarts Hauptwerk auf die Wissenschaft vom Wirtschaftsleben nicht Einwirkungen ausgeübt hat, die dem Aufwand an Mühe und geistiger Kraft entsprachen. Gewiß ist es nicht ohne Wirkung geblieben. Sie ist sogar auf die Kreise, welche mit der Wissenschaft nicht in enger Verbindung stehen, so groß gewesen wie die keines anderen Buches der Volkswirtschaftslehre in den letzten fünfzig Jahren. Das hängt natürlich zum Teil damit zusammen, daß es die neuere und neueste Entwicklung des Wirtschaftslebens, die bisher am unvollständigsten bearbeitet worden war und auf größtes Interesse rechnen darf, mit Bezug auf die Gegenwart und unter ihrem zugkräftigsten Schlagwort behandelte. Unzweifelhaft weisen auch seine farbenreichen Analysen, neben Falschem und Anfechtbarem, viel Wertvolles und Neues auf. Entscheidend für den Erfolg war aber, daß Sombart stets »der künstlerischen Form der Darstellung das gleiche Gewicht als dem gedanklichen Inhalt« beilegte und sein Hauptwerk von vornherein als den ersten Schritt einer »ästhetischen Nationalökonomie« plante. Die Darstellung präsentiert sich — nicht ohne Koketterie — in einem losen Gewände, das den Ernst der Wissenschaft, der sich beispielsweise bei Max Weber in düsterer und bedrückender Schwere geltend macht, anmutig mildert. Trotz dieser Vorzüge leichter Skizzierung, die viele für wirtschaftliche Betrachtungen zuerst gewonnen haben, hat Sombart es als »Fortsetzer« nicht fertig gebracht, das Werk von Karl Marx, das meist in seinem Tatsachenbestand veraltet, in seiner Verarbeitung von pedantischer Gründlichkeit und in der Durchführung seiner Grundideen von ängstlicher Konsequenz ist, zu ersetzen. Ebenso wenig kann seine »historisch-systematische Darstellung« als Erfüllung des Programms der historischen Schule bezeichnet werden. Sie kann höchstens insofern als ein Abschluß gelten, als sie deutlich und zwingend auf andere Wege verweist.

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III Zur selben Zeit, als vor fünfzig Jahren Gustav Schmoller die historische Schule zu neuem Leben in neuen Formen erweckte, hat Adolf Wagner bewußt in andere Wege eingelenkt. Er war vom Geld- und Bankwesen, für das er in jungen Jahren zum ersten deutschen Sachverständigen geworden war, über das Anleihewesen zu den Finanzen und von ihnen zur allgemeinen Wirtschaftstheorie gelangt; denn er wollte die Finanzwissenschaft, die noch bei Rau überwiegend kameralistische Bestandteile aufwies, in die gesamte Wirtschaftslehre organisch eingliedern. Dabei hatte er, vom ersten Spezialisten in der deutschen Volkswirtschaftslehre zu ihrem vielleicht umfassendsten Vertreter emporsteigend, seine Ziele sehr hoch gesteckt. Zunächst wollte er die Tatsachenfundierung der klassischen Schule, die veraltet und auf England beschränkt war, durch eine neuzeitliche internationalen Gepräges ersetzen. Wie er als junger Professor in jahrelanger Wirksamkeit im Ausland gelernt hatte, wollte er Vergleiche zwischen gleichzeitig lebenden verschiedenen Völkern anstellen, so daß man sagen könnte, daß er zum ersten deutschen Vertreter der vergleichenden Methode wurde. Auch geschichtlichen Studien stellte er sich keineswegs feindlich gegenüber — er hat sie selbst z. B. auf dem Gebiete des Geldwesens in reichlichem Maße angestellt — , er ist nur einer Identifizierung von Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie scharf entgegengetreten; er wollte beide nebeneinander entwickelt sehen. Zweitens war es seine Absicht, die Lehre der klassischen Schule mit den Lehren, die außerhalb derselben entwickelt worden waren, zu einer Einheit zu verschmelzen. Angeregt insbesondere durch die Arbeiten, die Albert Schaeffle als erster über Sozialismus und Kapitalismus angestellt hatte, wollte er seine Aufmerksamkeit besonders den auf deutschem Boden so bedrohlich hervorgewachsenen sozialistischen Lehren widmen; er hielt es für eine für Wirtschaft und Politik dringliche Aufgabe, was in ihnen nicht haltbar war, ausführlich zu widerlegen und, was in ihnen einer Prüfung Stand hielt, in die Volkswirtschaftslehre aufzunehmen. Dabei brachte er Rodbertus ein besonders starkes Interesse entgegen; aber die sozialistische Bewegung suchte er im Ganzen zu erfassen. Im engen Zusammenhang damit widmete er sich drittens dem Problem der Arbeiterfrage, die von liberalen Wirtschaftspolitikern noch als »sogenannte« Arbeiterfrage bezeichnet worden war; Adolf Wagner war es, auf den die Bezeichnung »Kathedersozialist« zuerst angewendet wurde. Ein halbes Jahrhundert hat Adolf Wagner der Ausführung der ihm logisch erwachsenen Riesenaufgabe gewidmet. Sie überstieg auch seine Arbeitskraft. Wohl sind Werke von großem Umfang und ungewöhnlicher Gelehrsamkeit entstanden, wie seine zweibändige »Grundlegung«, die als sein Hauptwerk betrachtet zu werden pflegt, und die vier starken Bände der Finanzwissenschaft, die von v. Heckel mit Recht »ein Monumentalbau, wie die finanzwissenschaftliche Weltliteratur keinen zweiten aufzuweisen hat«, genannt worden sind. Aber das Ganze ist nicht nur äußerlich unvollendet geblieben, sondern zeigt auch im einzelnen die Schwierigkeiten seines Entstehens. Wagner war die herrschende Zeitströmung nicht günstig. Erst zum Schlüsse seines Lebens hatte er die Befriedigung, daß die Entwicklung der »Staatswissenschaften« mehr und mehr in die Bahnen einlenkte, die er mit Wort lo*

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und Vorbild zu lehren nicht müde geworden war. Aber auch jetzt kamen seine Werke wegen ihres Umfanges und ihrer pedantischen Umständlichkeit nicht zu der Wirkung, die sie auf Grund ihres wissenschaftlichen Gehaltes verdient hätten. Von großer Bedeutung war dabei allerdings auch, daß das, was Adolf Wagner erstrebt hatte, weit wirksamer von Alfred Marshall erreicht wurde. Für den Engländer war es eine Selbstverständlichkeit, stets den Versuch zu machen, alles Neue dem Alten irgendwie einzufügen; war das nicht möglich, so galt es als Verurteilung des Neuen. Dieser konservative Geist, welcher die englische Volkswirtschaftslehre beherrschte, steht im schroffen Gegensatz zu dem wissenschaftlichen Abenteurertum, das in Deutschland noch immer, in Uberschätzung der eigenen Kraft und Unterschätzung der Leistung der früheren Generationen, alles von Grund aus neu aufbauen will. So kann man fast sagen, daß Alfred Marshall vielfach erntete, was Adolf Wagner gesät hatte. Insbesondere auch in einem Punkte unterschied sich der Engländer vom Deutschen; das war seine Haltung zur Grenznutzenlehre. Marshall erkannte, daß sie an einer Stelle einsetzte, wo die individualistische Lehre der Klassiker sich selbst untreu geworden war. Denn diese war, statt vom privatwirtschaftlichen Wert des Individuums, vom volkswirtschaftlichen Wert, dem Tauschwert, ausgegangen, und hatte den Gebrauchswert ignoriert. Karl Menger, dem Begründer der österreichischen Schule, war es als erstem Deutschen gelungen, in der neuen Lehre den allgemeinen Tauschwert auf den individuellen Gebrauchswert zurückzuführen. So ließ sich die Grenznutzenlehre, deren merkwürdiger deutscher Vorläufer, Gossen, ebenso unverdienter, wie charakteristischer Vergessenheit anheimgefallen war, mit Leichtigkeit in die individualistische Lehre von Adam Smith und seinen Nachfolgern einbauen; sie diente zu ihrer Stärkung und Bereicherung. Darum war es auch nicht verwunderlich, daß sie im Ausland, vor allem in England bei Marshall und Edgeworth, und noch mehr in den Vereinigten Staaten ganz besonders bei J. B. Clark, aber auch z. B. bei Tugan—Baranovsky dankbare Aufnahme fand. Kaum eine andere Lehre hat so schnell und allgemein internationale Zustimmung gefunden. Nur Deutschland machte zeitweise eine Ausnahme; erst auf dem Umweg über das Ausland hat sich die stammverwandte Lehre in Deutschland die gebührende Beachtung erzwungen; Böhm-Bawerks großes Werk über den Kapitalzins hat dazu weit mehr beigetragen als Mengers »Grundsätze der Volkswirtschaftslehre«; es hat durch die Kraft und Klarheit seiner Gedankenführung und Ausdrucksweise stärker als ein anderes Werk zur Wiederbelebung des theoretischen Denkens in der jüngeren deutschen Generation verholfen; und es kann als kennzeichnend für den in Deutschland eingetretenen Umschwung angesehen werden, daß Max Weber als anfänglicher Leiter des »Grundrisses der Sozialökonomik« die Darstellung der Wirtschaftstheorie in die Hände des dritten großen Vertreters der österreichischen Schule, Wieser, gelegt hat. Leider hat sein Werk wegen mancher Unklarheiten nicht ganz gehalten, was man sich von ihm versprochen hat. Die späte Beachtung, die die Grenznutzenlehre in Deutschland gefunden hat, wirkt in ihrer Stellung auch heute noch nach. Während sie anderswo alsbald zu einem Glied in einem größeren System wurde, verblieb sie in Deutschland in ungesunder Selbständigkeit. Alle Kritik gilt daher nicht — wie im Ausland —

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Einzelproblemen, sondern immer noch der primitiven Frage, ob man die lange ignorierte Lehre im Ganzen annehmen oder ablehnen soll. Jeder Meinungsstreit im einzelnen wird einseitig zu diesem Zweck ausgenutzt. Es wird auch hier das Trennende in Deutschland und das Verbindende im Ausland betont, was natürlich zur Folge hat, daß der Streit bei uns viel ernster aussieht, als er wirklich ist. Was Kampf um die Tragweite einer Lehre ist, wird zum Kampf um ihre Existenzberechtigung und wandelt damit Anregung in Hemmung. Aus der Erkenntnis dieser trüben Lage ist neuerdings der etwas verzweifelte Entschluß erwachsen, der Wertlehre überhaupt aus dem Wege zu gehen. Sogar Cassel hat das getan. Das ist aber eine wissenschaftliche Vogelstraußpolitik, von der man vergeblich hofft, sie könne der deutschen Volkswirtschaftslehre von Nutzen werden; sie schwächt sie, statt sie zu stärken. Die Lage erfährt noch eine weitere Verwickelung. Die Grenznutzenlehre ist nämlich nicht auf österreichischem Boden allein erwachsen; sie ist gleichzeitig vor allem auch in Lausanne entstanden. Hier hatte sie Walras sogar in bemerkenswerter Weise weiter ausgebaut, als es durch Menger, Böhm-Bawerk und Wieser geschehen ist. Er hat nämlich mit der Wertlehre eingehend die Preislehre verknüpft und beide zu einer einheitlichen Gleichgewichtslehre wuchtig ausgebaut. Das Interesse, das die österreichische Schule im Ausland fand, ist auch der »Lausanner Schule« bald zu Gute gekommen. Walras hat nicht nur auf den Engländer Marshall, sondern stärker noch auf den Schweden Cassel und den Österreicher Schumpeter eingewirkt. Erst durch diese drei nichtreichsdeutschen Gelehrten hat er — zum Teil unbemerkt — die Volkswirtschaftslehre in Deutschland beeinflußt. Durch sie ist in bezug auf die Lehre vonWalras eine Eingliederungsarbeit geleistet worden, zu der die deutsche Volkswirtschaftslehre unter dem Einfluß der historischen Schule kaum in der Lage gewesen wäre. Insbesondere Schumpeter hat eine solche Vermittlertätigkeit in großem Stil ausgeübt. Aus der österreichischen Schule hervorgegangen, vom bedeutendsten zeitgenössischen Theoretiker der Vereinigten Staaten, J. B. Clark, früh tief beeinflußt und später nicht minder beeindruckt durch den auch von ihm erst spät entdeckten Walras, ist er es gewesen, in dem die internationale Volkswirtschaftslehre in einem bisher unbekannten Grade lebendig wurde. Er hat es wie keiner vor ihm verstanden, die verschiedenen, getrennt erwachsenen nationalen Bestandteile schöpferisch zusammenzuschweißen und durch seine ungewöhnliche Formulierungskraft weiten Kreisen im Inland und Ausland nahezubringen. Leider ist ihm die Vermittlerrolle, die er anfangs unbewußt auszuüben schien, nach seiner schicksalschweren Verpflanzung von Österreich nach Deutschland zum Bewußtsein gekommen und wird hier jetzt — oft etwas wahllos — als Selbstzweck ausgeübt. Nur in Verbindung mit strenger Selbstkritik kann sie weiter fruchtbar wirken. Vielleicht ist die Entwicklung aber auch in ihren wichtigsten Punkten inzwischen schon soweit vorgeschritten, daß Vermittlung nicht mehr nottut. Von selbst scheinen sich heute die beiden Richtungen zu vereinigen, die sich vor fünfzig Jahren in ihren beiden Vertretern an der Berliner Universität unnachgiebig bekämpft haben. Was zunächst die Theorie anlangt, so wird sie heute weder als etwas Uberflüssiges, noch als etwas Unabänderliches betrachtet. Man hat gelernt, daß es sich

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nicht darum handelt, sie von irgendeiner Schule anzunehmen oder sie abzulehnen; wie in jeder anderen Wissenschaft, muß sie vielmehr auch hier immer von Neuem geschaffen werden, und zwar nicht unter hochmütiger Ignorierung, sondern unter respektvoller Berücksichtigung alles dessen, das andere früher oder anderwärts geschaffen haben. Geschichtlicher und internationaler Überblick ist dazu nötig und stille, oft entsagungsvolle Arbeit, die zu Posaunenstößen keinen Anlaß gibt. Zugleich ist die Theorie — zum Teil durch die Arbeiten von Max Weber — über sich selbst klar geworden. Sie weiß, daß sie die Wirklichkeit nicht zu porträtieren und nicht Rezepte für praktisches Handeln zu liefern hat; sie ist vielmehr eine Wissenschaft von den wirtschaftlichen Möglichkeiten und zugleich eine Lehre von den Mitteln, konkrete Probleme wissenschaftlich zu lösen; sie ist eine Schulung zu wirtschaftlichem Denken und nützt damit mittelbar auch wirtschaftlichem Handeln. Daß das die Laien nicht leicht verstehen, ist selbstverständlich. Sie sind nicht zufrieden mit einem System von Fragen und Mitteln, verlangen vielmehr hier wie auch sonst ein System von Antworten und Ratschlägen. Was eine Hebung des wissenschaftlichen Charakters der Volkswirtschaftslehre und eine Steigerung ihres Wertes für die Praxis in Wahrheit bedeutet, erscheint ihnen als Selbstausschaltung und Verkümmerung. Sie suchen meist nach Lehren, die ihren Interessen entsprechen und im Einzelfall demgemäß gehandhabt werden können; ob das mit mehr oder minder wissenschaftlichen Methoden geschieht, ist nicht entscheidend. Solche naive Einstellung ist jedoch im Schwinden begriffen. Das ist am meisten der Fall in den Ländern, in denen die Volkswirtschaftslehre sich ununterbrochener Kontinuität in ihrer Entwicklung erfreuen durfte. Dort hat sich eine Tradition in der Wissenschaft gebildet, und sie wirkt weit über die Grenzen der Wissenschaft hinaus; sie stützt und trägt die Wissenschaft nicht nur im eigenen Kreis, sondern hat auch im Kreise der praktischen Wirtschaft ein Gefühl für wissenschaftliche Qualität entstehen lassen. Soweit sind wir in Deutschland noch nicht. Der Mangel an wissenschaftlicher Tradition erschwert bei uns die Überwindung des naiven Laienstandpunktes außerordentlich. Aber auch in Deutschland dürfte sie im Werden sein. Lebendige Theorie kann aber nur aus kraftvoller Erfassung des Lebens erwachsen. Das war bei Adam Smith so und ist bei allen, die Wertvolles für die Theorie geschaffen haben, so gewesen. Es ist etwas Krankhaftes, wenn diese Verbindung verloren geht, wie es bei den deutschen Manchesterleuten in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Fall war. Im Kampfe mit diesen dem Leben entfremdeten Doktrinären hat die historische Schule es verstanden, die Bedeutung der Tatsachenermittlung wieder zur Geltung zu bringen. Die Übertreibungen, die sie damit verband, erfuhren schon mit dem Fortfall jener Hauptgegner von selbst eine Milderung, und den vorbildlichen Leistungen von Männern, wie Bücher und Knapp, sowie den tiefgründigen methodologischen Studien, insbesondere Max Webers, ist es dann zu danken gewesen, daß es nicht mehr hieß: Geschichte o d e r Theorie, sondern Theorie u n d Geschichte. Das bedeutet also, daß die Schulung des Nationalökonomen verwickelter geworden ist. Er muß die Theorie nicht nur kennen, sondern zu handhaben wissen, und er muß gleichzeitig mit den Methoden der Tatsachenermittlung und Tatsachensammlung vertraut sein. Nur wer beides gründlich erlernt hat, kann als Volkswirt erfolgreich arbeiten. Auch das erkennt man

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in weiteren Kreisen nur langsam; der Pfuscher steht oft noch höher im Kurs als der erprobte Könner. Die Erkenntnis von der Bedeutung der Tatsachenermittlung, die der historischen Schule zu danken ist, hat die deutsche Volkswirtschaftslehre zur selben Zeit, als sie aus dem internationalen Zusammenhang der Theorie - Entwicklung gerissen wurde, einen internationalen Charakter von anderer Art gewinnen lassen. Sie weitete sie zur Weltwirtschaftslehre. Man beschränkte sich nicht mehr darauf, die Tatsachen des Wirtschaftslebens der Gegenwart und Vergangenheit im eigenen Lande zu ermitteln, sondern dehnte systematisch seine Aufmerksamkeit auch auf das Ausland aus. Das geschah nicht durch Organisation, sondern durch Leistungen. Wie in England Brentano die Gewerkvereine, Held, Schulze-Gaevernitz und v.Nostiz die industrielleArbeiterfrage, Hasbach die landwirtschaftliche Arbeiterfrage, Cohn die Eisenbahnen, Fuchs die Handelspolitik studierten, so hat sich Sering mit der landwirtschaftlichen Konkurrenz der Vereinigten Staaten, v. Halle u. a. mit den amerikanischen Trusts, v. d. Leyen mit den amerikanischen Eisenbahnen, der Verfasser mit den amerikanischen Börsen, Rathgen mit der Wirtschaftsentwicklung Japans und der Verfasser mit den Wirtschaftsproblemen Chinas beschäftigt. Diese Arbeiten, die alle nicht auf flüchtigen Reiseeindrücken, sondern auf gründlichen Studien beruhten, haben vielfach im Lande, das sie behandelten, noch größere Beachtung als im Lande ihres Entstehens gefunden. Es schien auch hier die Zeit zu nahen, wo die vielen Einzelarbeiten zu einer großen natürlichen Einheit sich zusammenschlössen. Die Behandlung weltwirtschaftlicher Probleme, für die in Kiel ein glänzend ausgestattetes Institut und im »Weltwirtschaftlichen Archiv« ein nützliches literarisches Sammelorgan geschaffen wurde, konnte vor dem Kriege als zukunftsreiche deutsche Besonderheit bezeichnet werden. Auf ihr beruhte in erster Linie die Hoffnung, daß es der deutschen Volkswirtschaftslehre trotz aller Wechselfälle gelingen werde, sich im internationalen Wettbewerb eine Stellung zu sichern, die hinter der keines anderen Landes zurückstand. IV Bisher ist die Entwicklung der Staatswissenschaften bis zur Gegenwart verfolgt worden, soweit das ohne Berücksichtigung des Krieges möglich war. Die Hauptströmungen waren so stark, daß sie auch die Kriegserschütterungen überwanden. Sie wurden nur im Tempo ihrer Entwicklung verlangsamt und in der Breite ihrer Wirkung eingeengt. Denn neben jene Entwicklungsreihen, die aus der Wissenschaft mit mehr oder minder Recht erwuchsen, stellten Kriegs- und Nachkriegszeiten andere Entwicklungsreihen, die, weil sie aus der Not des Tages geboren waren, die Geister viel stärker packten, wenn auch nur vorübergehend. Der Krieg war auch für die Wissenschaft ein Zerstörer und für keine mehr als für die Volkswirtschaftslehre. Wie er die Wirtschaft nachhaltig zerrüttete, so auch die Wissenschaft von der Wirtschaft. Es muß daher das bisher gezeichnete Bild von einem langsamen Aufstieg zu sieghafter Klarheit durch ein zweites Bild von schwerer Wirrnis ergänzt werden, wenn die Entwicklung in den letzten 50 Jahren vollständig und richtig geschildert werden soll. Dieses zweite Bild steht sogar für viele, schon weil es ganz der neuesten

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Zeit angehört, so sehr im Vordergrund, daß die bisher gezeichneten großen Linien, die an sich die wichtigeren sind, dem Blick fast entschwinden. Zunächst hat der Krieg wie überall auch hier als jähe Unterbrechung gewirkt, und zwar — von Rußland abgesehen — nirgends so nachhaltig wie in Deutschland. Das war einerseits die Folge ihrer langen Dauer. Denn sie reichte nicht etwa nur bis zum militärisch-politischen, sondern bis zum finanziell-wirtschaftlichen Zusammenbruch im November 1923. Sie dauerte also 9 Jahre. Diese lange Unterbrechung war zugleich auch tiefgreifender als anderswo. Denn fast alle Beziehungen zu den feindlichen Ländern waren im Kriege gelöst worden und lebten in den krankhaften Formen der Inflationszeit nur langsam wieder auf. Nicht minder anormal war das Wirtschaftsleben im Innern; es stand überwiegend unter außerwirtschaftlichen Einwirkungen. Schon deshalb konnte es nur in beschränktem Maße den Boden für gesunde Erkenntnisse abgeben, zumal da eine Anormalität als solche nur erkennen kann, wer vom Normalen eine gefestigte Anschauung besitzt. Damit soll nicht gesagt sein, daß der Krieg nicht Probleme geschaffen hätte, die auch wissenschaftlich von Interesse sind; aber er selbst war nicht die Zeit, sich ihnen zu widmen. Er zwang alles in seinen unmittelbaren Dienst, auch die wissenschaftliche Arbeit. Alles wirtschaftliche Denken vereinigte er darauf, eine Umorganisierung der Wirtschaft im einseitigen Dienste der außergewöhnlichen Aufgaben des Krieges möglichst wirksam durchzuführen. Nirgends ist diese »Kriegswirtschaft« so vielseitig ausgebaut und mit so kräftigem eigenen Leben erfüllt worden wie in Deutschland. Daraus erklärt es sich, daß man hier viel mehr als anderswo vergaß, daß es sich um eine Notorganisation handelte. Allerdings sprach auch die unzweifelhaft vorhandene Gefahr, daß der eigentliche Krieg, wenn er für Deutschland glücklich enden würde, eine leidenschaftliche Fortsetzung mit wirtschaftlichen Mitteln finden würde, dafür, sich durch wirksame Zusammenfassung der Kräfte für diesen Fall gerüstet zu halten. Diesen politischen Bestrebungen kam endlich auch ein durch denKrieg einseitig gefördertes, spezifisch technisches Denken entgegen, das ein Maximum mechanisierten Großbetriebes erstrebte, ohne sich über die hemmenden Gegenkräfte rein wirtschaftlicher Art, die in der Menschennatur wurzeln, klar zu werden. Zum Krieg kam der Zusammenbruch. Er schien wissenschaftliche Arbeiten anfangs überhaupt in Frage zu stellen. Wirkte er lähmend im ganzen Bereich der Wissenschaften, so war doch aus begreiflichen und größtenteils berechtigtenGründen das Empfinden, daß alles bisherige Arbeiten verloren sei, nirgends so groß wie in der Volkswirtschaftslehre. Da außerdem die Wirtschaft am Krieg und seinem Ausgang in einem Maße wie nie zuvor beteiligt gewesen war, so machte man die Wirtschaft und auch die Wirtschaftswissenschaft in weiten, von primitiven Reaktionen beherrschten Kreisen für ihn mitverantwortlich; wie das militärische und politische, so habe auch das wirtschaftliche System versagt; es müsse auch von Grund aus verändert werden. Diese verbreitete Empfindung trug viel dazu bei, einerseits die Gruppe der Kriegsorganisatoren, welche die Kriegswirtschaft ganz oder teilweise beibehalten wollten, zu stärken, andererseits auch dem Sozialismus weite Kreise außerhalb der Arbeiterschaft zu gewinnen. Dabei übersah man, daß der Sozialismus keineswegs aus eigener Kraft zur Macht gelangt war, sondern infolge des Zusammenbruchs des Bürgertums, der seinerseits unter übermächtigem Druck von

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außen erfolgt war; der Sozialismus aber, der in Deutschland herrschte, der Marxismus, war seiner ganzen geistigen Natur nach zu irgendeinem aufbauenden Tun unfähig. Zur Lähmung des Bürgertums gesellte sich daher eine Ratlosigkeit der Arbeiterschaft, und beide erzeugten eine allgemeine Wirrnis, die aus der Wirtschaft tief hineingriff in die Wissenschaft der Wirtschaft. Ein ängstliches Suchen nach Neuem hob an. So entstand eine ganze Literatur, halb kriegswirtschaftlich, halb sozialistisch: die merkwürdige, meist in ein halbwissenschaftliches Gewand gekleidete Literatur über die »Planwirtschaft«, deren hervorragendster Vertreter Walther Rathenau war. Sie wird immer ein interessantes »Document humain« des deutschen Volkes bleiben, in dem sich ein heroischer Lebenswille mit hochgebildeter Lebensfremdheit in oft ergreifender Weise paart. Vielleicht war sie eine unvermeidbare Episode im deutschen Denken und Erleben; sie kann heute als abgeschlossen gelten. Es ist erstaunlich, wie wenig von ihr heute noch von Interesse ist. Außer den neuartigen spezifischen Zusammenbruchsproblemen hat der Krieg eine ganze Reihe von Problemen, die an sich nicht neu sind, eine bisher unbekannte Steigerung ihrer praktischen Bedeutung gewinnen lassen. Das ist selten von Vorteil für die Wissenschaft. Ihr wird dann ein Interesse entgegengebracht, das nicht auf ihrem, sondern auf fremdem Boden erwachsen ist, woraus gar leicht die Gefahr entsteht, daß die Wissenschaft nicht das allgemeine Interesse beeinflußt, sondern sich durch dieses irreführen läßt. Gesundes und Ungesundes vermengen sich dann oft zu eigenartiger Mischung. In erster Linie sind es die internationalen Probleme des Geld- und Bankwesens gewesen, die durch den Krieg eine ganz ungewöhnliche Betonung in fast allen Ländern erfahren haben. Für kein Land waren sie infolge der »Reparationen« von so schicksalschwerer Bedeutung wie für Deutschland; aber zugleich hatte die Stimme des Besiegten keine Aussicht, Widerhall zu finden; auch die besten Argumente wären in seinem Munde kraftlos geblieben. Da war es ein Glück für Deutschland, daß sie von anderer Seite vorgebracht wurden. Angesehene Gelehrte, die Charakter und Mut mit Wissen und Können verbanden, wie der Schwede Cassel, der Engländer Keynes, der Amerikaner Moulton, nahmen sich mit Wucht und Zähigkeit der internationalen Probleme des Geld- und Bankwesens an und haben damit der Wissenschaft ebenso wie Deutschland einen wertvollen Dienst geleistet. Diesen Stimmen gegenüber wäre Schweigen von deutscher Seite das Beste gewesen. Aber der gewaltsame Reformeifer, der das zerrüttete Deutschland durchzog, bemächtigte sich auch dieses Gebietes; so entstand, zum Teil unter voller Unkenntnis der bisherigen Literatur, zum Teil unter vielfältigem Mißverstehen der Lehren von Knapp, eine ganze Reihe von Schriften, von denen man überwiegend nur wünschen kann, daß sie gründlichem Vergessen anheimfallen. Etwas besser liegt es bei einem anderen Problemkreis. Allgemein hatte der große Verschwender Krieg eine Reaktion zu Gunsten der Sparsamkeit hervorgerufen. Die natürlichsten und damit auch wirksamsten Früchte hat sie dort reifen lassen, wo die wirtschaftliche Entwicklung nicht unterbrochen wurde und der Krieg im Wesentlichen nur als Beschleuniger und Ansporner gewirkt hat: in den Vereinigten Staaten. Hatte vor 1914 Deutschland in der Durchrationalisierung seiner

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Großbetriebe im Ganzen vorangestanden, so hatten in und nach dem Kriege die Vereinigten Staaten — zunächst fast unbemerkt — nicht nur das Versäumte nachgeholt, sondern sich einen Vorsprung vor Europa vielfach errungen. Die Erkenntnis dieser Tatsache wirkte so sehr als Überraschung, daß die nordamerikanischen Großbetriebe zeitweise fast zu wirtschaftlichen Wallfahrtsorten wurden. Auch hier stand das technische Interesse weit vor dem wirtschaftlichen Verständnis; und die Eile war oft so groß, daß man sich kaum Zeit ließ, die amerikanischen Entdeckungen daraufhin zu prüfen, was sie für Deutschland unter seinen so ganz andersartigen Voraussetzungen bedeuteten. Der erschreckte Lebenswille des deutschen Volkes bemächtigte sich des Rationalisierungsgedankens und ließ mahnende Stimmen von Zweiflern verhallen. So mischte sich auch in diese Wiederaufbautätigkeit — trotz glänzendster Einzelleistungen — viel Wirrnis der Zeit. Das spiegelt auch hier die Literatur ergreifend wieder. Wie die Rationalisierung als neues Evangelium aus den Vereinigten Staaten eingeführt wurde, so auch eine andere Lehre. Zum Teil in Verbindung mit jener hatte der Krieg als größte Wirtschaftskrise der Weltgeschichte die Aufmerksamkeit auf die Krisen- und Konjunkturlehre gerichtet, die der talentvollste jüngere Nationalökonom in den Vereinigten Staaten, Mitchell, unter Heranziehung aller einschlägigen Arbeiten aus europäischen Ländern 1913 in einem starken Bande entwickelt hatte. Mit Hilfe seiner inzwischen noch ausgebauten Konjunkturlehre wollte man den Rationalisierungsgedanken über die einzelnen Betriebe hinaus auch auf das Ganze der Volkswirtschaft ausdehnen. Dazu sollte eine kunstvolle statistische Auswertung dieser Lehre dienen. Es bildete sich sogar eine ganze Schule (behaviorism), welche nicht in erster Linie Kausalzusammenhänge, sondern äußerliche Korrelationen verschiedener, ziffernmäßig erfaßbarer Entwicklungen zu ermitteln suchte. Sie fand sogar zeitweise in der Wirtschaft noch regeres Interesse als in der Wissenschaft. Gerade darum war man auch hier bestrebt, das, was Amerika seinen Verhältnissen entsprechend entwickelt hatte, auf Deutschland zu übertragen; man berücksichtigte dabei nicht, daß das Deutschland der Nachkriegszeit nicht wie die Vereinigten Staaten einen normalen Wechsel eigentlicher Konjunkturen aufzuweisen hatte, sondern einen anormalen Wechsel einmaliger Krankheits- und Genesungsphasen. Auch das kann natürlich in Kurven dargestellt werden, sie bedeuten aber etwas ganz anderes als die nordamerikanischen Kurven; sie sind nicht vergleichbar. Die Konjunkturlehre hat den Vorzug, Tatsachenermittlung mit Theorie notwendig zu verbinden, hat andererseits aber auch den Nachteil, daß sie den Blick für die Kausalzusammenhänge abstumpft. Das erste hat in den Vereinigten Staaten, das zweite in Deutschland vorangestanden. In allen diesen Entwicklungen, von denen nur einige Hauptbeispiele hier angeführt worden sind, spiegelt sich eine allgemeine Erscheinung: Deutschlands Stellung zum Ausland hat sich gewandelt. Was früher dem Baum unseres Wissens in Wirtschaft und Wissenschaft als neue Jahresringe langsam und organisch hinzuwuchs, wirkt jetzt in seiner zeitlichen Zusammendrängung als plötzliche Offenbarung. Der Mangel in der Kontinuität unseres Auslandswissens läßt, in Verbindung mit der Sucht nach Neuem, eine sensationsfrohe Entdeckerlust entstehen, die für die Schärfe des Blickes vielfach nicht vorteilhaft ist. Auch sind im Ausland die

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Verhältnisse verwickelter, die Informationsmaterialien fast unübersehbar und damit flüchtige Reiseeindrücke für wahre Erkenntnis fast wertlos geworden. So kommt es, daß die deutschen Auslandsstudien, die sich früher für das Ansehen der deutschen Volkswirtschaftslehre so förderlich erwiesen hatten, jetzt im Ausland vieler Kritik begegnen. Es betont z. B. der Bericht der »Hoover-Commission« (Recent economic changes S. 6) gegenüber den deutschen Darstellungen »the basic continuity of the American problem« und legt dar, daß alle wichtigeren Züge, die man als charakteristisch für die heutigen Zustände hervorgehoben habe, »also charasteristic of former major periods of prosperity in our history« (S. 10) seien; was wirklich die Gegenwart von der Vergangenheit in den Vereinigten Staaten unterscheide, sei der »increasing influence of research and professional education« (S. n ) und das »looking with respect upon university training« (S. 6). Hoffentlich gelingt es der deutschen Wissenschaft bald, das alte Ansehen sich zurückzugewinnen. Dazu tragen die Amerikaner selbst aufs Wirksamste bei. Die Rockefeller-MemorialFoundation gibt in großzügigster Weise durch ihre mehrjährigen Stipendien zum Studium einzelner ausländischer Wirtschaftsprobleme einen Ansporn zu wissenschaftlicher Vertiefung, für den wir nicht dankbar genug sein können. Erwägt man alle Schwierigkeiten und Wirrnisse, die Krieg und Zusammenbruch geschaffen haben, so sieht man, wie schwer die Wiederaufbauaufgabe ist, vor die die Volkswirtschaftslehre in Deutschland gestellt wurde. Reicht die Arbeit an ihr im einzelnen auch natürlich weiter zurück, so hat sie sich doch auch erst nach Beendigung der Inflation, d. h. seit etwas mehr als einem halben Jahrzehnt frei auswirken können. Man braucht sich das nur zu vergegenwärtigen, um es als selbstverständlich zu erkennen, daß auch diese Wiederaufbautätigkeit noch nicht beendigt sein kann. Das ist um so mehr der Fall, als sich zu den unmittelbaren Kriegsstörungen weittragende Veränderungen gesellten, die durch den Krieg nur äußerlich beeinflußt worden sind. Dazu ist auch der Sozialismus zu zählen. Der Zusammenbruch hatte hier eine große Hoffnung entstehen lassen. Denn in seinem Gefolge war sich der Marxismus seiner Aktionsunfähigkeit bewußt geworden. Zeitweise sah es so aus, als habe er ausgespielt. Das wäre für Politik und Wissenschaft von großer Bedeutung gewesen, weil erst Marx — wie Dietzel sich ausgedrückt hat — »das Tafeltuch zwischen Individualismus und Sozialismus zerschnitten« hat. Es wäre also mit Ausschaltung des Marxismus ein gemeinsames Streben wieder möglich geworden, in Praxis und Theorie denjenigen Ausgleich zwischen Sozialismus und Individualismus ausfindig zu machen, der dem Gesamtinteresse am besten entsprach. Die Sterilität eines absoluten Gegensatzes wäre zum Besten aller in einen fruchtbaren Meinungsstreit verwandelt worden; Lehre und Leben hätten sich auch wieder vereinigt. Als aber die Sozialisierungsbestrebungen im Sande verliefen und die wiedererstarkte Parteiorganisation von neuem, trotz aller Wandlungen, in die alte Opposition verfiel, da schwand die große Hoffnung. Man klammerte sich von neuem an den alten Marxismus und mühte sich vergeblich, von seinem verkünstelten Boden aus zu Lösungen von Einzelproblemen zu gelangen. Viel Scharfsinn und Fleiß werden nutzlos vertan. Auch vom marxistischen Standpunkt aus kann den Vorkriegsschriften von Hilferding und Rosa Luxemburg ähnlich Gewichtiges

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nicht zur Seite gestellt werden; wichtiger jedoch ist, daß der deutsche Marxismus außerhalb Rußlands einen Widerhall kaum noch findet. Er geht der Gefahr der Degeneration durch Inzucht entgegen. Bedeutet dieser Wandel nur den bedauerlichen Verlust eines erwünschten Bundesgenossen und Mitarbeiters, so haben andere ganz andersartige Wandlungen Schwierigkeiten und Gefahren auf dem alten Arbeitsfeld der Volkswirtschaftslehre entstehen lassen. Sie haben zum Ausgangspunkt die immer höher steigende Flut der statistischen Ermittlungen. In Wissenschaft wie Praxis kann ein einzelner mit ihr nicht mehr fertig werden. Sie erfordert zur Bewältigung überindividuelle Organisationen. Da infolge des verschiedenen Ausgangs des Krieges die Stellung der Wirtschaftswissenschaft jenseits des Atlantischen Ozeans gestärkt und bei uns geschwächt ist, sind in dieser Hinsicht auch verschiedene Wege eingeschlagen worden. Während man in den Vereinigten Staaten vor allem Organisationen der Wissenschaft mit unerhörten Mitteln gefördert hat und in der wirtschaftlichen Praxis vielfach geradezu von einem ehrgeizigen Wettbewerb in Wissenschaftlichkeit gesprochen werden kann, ist die Wissenschaft in Deutschland gleichsam in den »Kombinationsbetrieb« mit einbezogen worden; große Unternehmungen wie große Ämter richten sich eine »volkswirtschaftliche« Abteilung ein oder halten sich wenigstens einen »Nationalökonomen«; das anfallende Informationsmaterial wird im eigenen Betriebe verarbeitet, und zwar nach den Weisungen des Betriebsleiters. Im selben Maße, wie sich so das Betätigungsfeld für die freie Wissenschaft einengt, entwickelt sich eine offiziöse Nationalökonomie in den mannigfaltigsten Abschattierungen. Nirgends spielt sie eine solche Rolle wie im heutigen Deutschland. Sie täuscht sich vielfach über die Beweiskraft ihrer Argumente, zumal außerhalb der deutschen Grenzen. In der Wirkung ähnlich ist eine Entwicklung auf dem Boden der Politik. In den Ländern mit älterer politischer Erfahrung hat man es immer als ein notwendiges Gegengewicht für unvermeidliche Oberflächlichkeit angesehen, daß über wichtigere Gesetzesvorlagen gründliche schriftliche Kommissionsberichte im Parlament ausgearbeitet wurden; solche Schulung zur Sachlichkeit war in England und Frankreich und immer mehr auch in den Vereinigten Staaten zur wichtigen Vorbereitung für leitende Stellen geworden; Ansätze dazu waren vor dem Krieg auch in Deutschland vorhanden. Sie sind nach dem Kriege fast gänzlich verkümmert. Wie die amtliche Begründung von Gesetzesvorlagen schon aus taktischen Gründen nur noch vereinzelt den Vergleich mit früheren Zeiten aushalten kann, so begnügt man sich auch im Parlament sehr viel häufiger als früher mit bloßer mündlicher Berichterstattung, und von den Verhandlungen, die in wichtigeren Fällen von großen Zeitungen früher im Wortlaut veröffentlicht wurden, wird heute ein zugestutzter Bericht gebracht, der ein Urteil nicht ermöglicht. Noch nie ist die Gesetzgebung in solchem Maße unter Ausschluß der Öffentlichkeit erfolgt. Was eine Angelegenheit des ganzen Volkes — schon aus volkspädagogischen Gründen — sein sollte, wird zu einem Internum der Parteiverhandlungen, und eine Stellungnahme der Wissenschaft ante festum ist oft fast zur Unmöglichkeit geworden. Die Offiziösen der Parteien und Ämter beherrschen das Feld. Sie erheben einen Vorzugsanspruch auf die Verarbeitung »ihres« Materials und ziehen aus der Arena des

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politischen und wirtschaftlichen Interessenkampfes freudig ein in die Hallen der Wissenschaft, deren Tore ihnen weit geöffnet zu haben, sogar stolz als wissenschaftliches Verdienst empfunden wird. So verdrängen die »Exponenten der Masse« die wissenschaftliche Persönlichkeit. In der Tat kamen somit zu den schwierigen Wiederaufbauarbeiten, die der Krieg für die deutsche Volkswirtschaftslehre unmittelbar geschaffen hat, andere Zeitaufgaben hinzu, die in ihrer Bedeutung von der Wissenschaft zum Teil noch gar nicht erkannt worden sind. Erwägt man alle diese Schwierigkeiten, so muß man zugestehen, daß Bemerkenswertes erreicht worden ist. Äußerlich wenigstens, wurde die Lähmung durch Krieg und Inflation erstaunlich schnell überwunden. Der wissenschaftliche Arbeitswille lebte wieder auf. Dazu hat, wenn auch nicht in gleichem Maße wie in anderen Wissenschaften, auch die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft ermunternd und stützend beigetragen. Der Zeitschriftenbetrieb, der zum Teil zum Stillstand gelangt war, kam wieder in Gang. Es wurden sogar die großen Sammelwerke der deutschen Volkswirtschaftslehre — das Handwörterbuch der Staatswissenschaften in vierter Auflage und der Grundriß der Sozialökonomik — mit Energie weitergeführt. Ob eine Verlangsamung des Tempos und eine Zusammenlegung der Zeitschriften sich nicht empfohlen hätten, soll hier nicht erörtert werden. Bezeichnender für die eigentliche Lage ist die Entwicklung der Lehrbücher. Vor dem Kriege beherrschten den deutschen Markt deutsche Lehrbücher, vor allem die von Philippovich (seit 1893) und von Conrad (seit 1900). Zwar war auch schon vor dem Kriege eine gute Übersetzung des ersten Bandes des Lehrbuchs von Marshall erschienen, doch ohne tieferen Einfluß zu gewinnen. Nach dem Kriege wurde das anders. Wie Deutschland sich daran gewöhnen mußte, mit ausländischem Kapital zu arbeiten, so fingen jetzt auch ausländische Lehrbücher der Volkswirtschaftslehre sin, eine Rolle zu spielen. Neben Marshall erschienen die kleinen Lehrbücher der Cambridge School in guten Übersetzungen von Palyi; vor allem Cassel gelangte mit einem deutsch geschriebenen Lehrbuch zu großem Einfluß, obwohl es als zweiter Band nur eine merkwürdig oft verkannte Unvollständigkeit besaß; hinzu kamen die ebenfalls in deutscher Sprache verfaßten Lehrbücher des Holländers Verrijn Stuart, des russischen Sozialisten Gelesnoff, des schwedischen Theoretikers Wicksell und allerhand Übersetzungen, unter denen bezeichnenderweise die des italienischen Theoretikers Barone besondere Beachtung gefunden hat. Endlich die schwer übersehbare Zahl der Einzelveröffentlichungen. Für sie ist am charakteristischsten eine erstaunliche Ungleichmäßigkeit in der Qualität; im selben Verlag erscheint Gutes und Minderwertigstes nebeneinander. Ob das Qualitätsinteresse oder die Auslesefahigkeit abgenommen hat? Ich weiß es nicht. Jedenfalls die Tatsache steht fest und ist ja auch kaum überraschend. Aber es muß wieder anders werden. So ergibt sich, daß es wie noch nie zu einer Hauptaufgabe der Wissenschaft geworden ist, gründlich geschulte wissenschaftliche Kräfte heranzubilden. Wir dürfen in dieser Hinsicht hinter dem Ausland, das zum Teil in den Veröffentlichungen seiner Behörden und Unternehmungen eine bewundernswerte wissenschaftliche Höhe erreicht hat, nicht dauernd zurückbleiben. Insbesondere darf das

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»looking with respect upon university training« nicht zu einer amerikanischen Besonderheit werden. Wissenschaft und Wirtschaft müssen gleichmäßig dafür sorgen; das m u ß zum ernsten Ziel gemeinsamen Ehrgeizes werden. Unverkennbar war auch manches in erfreulichem W e r d e n ; aber die zarten K e i m e sind durch allerhand »Reformen« vernichtet worden. D u r c h sie ist einerseits ein bisher in der Volkswirtschaftslehre fehlendes Einpaukertum großgezüchtet worden, das von den Vorzügen der juristischen Einpauker nur den aufweist, daß es durch ein fragwürdiges Examen hindurchzuhelfen versteht; andererseits sind durch sie mit deutscher Gründlichkeit von deutschen Universitäten ausländische Studenten verscheucht worden, die vielfach zu leitenden Stellen in Politik und Wirtschaft ihrer Heimatländer berufen wären. E s ist unverständlich, wie man eine innerpolitisch und außenpolitisch gleich wichtige Entwicklung so verhängnisvoll hemmen kann. Ohne künstliche Hindernisse wäre ein schöner Erfolg heute sicher und schnell zu erzielen. Schwieriger ist es, auch außerhalb der Wissenschaft wissenschaftliches Verständnis heranzubilden. Solange die Selbstschmähung als hervorstechender Charakterzug der deutschen Volkswirtschaftslehre fortbesteht, ist natürlich ein »looking with respect upon university training« auf diesem Gebiet in Deutschland unmöglich. D e r billige Herostraten-Wahn, der seine zeitweise Entschuldigung längst eingebüßt hat, sollte aufgegeben werden zu Gunsten einer Gemeinschaftsarbeit a m Bau der Wissenschaft, die den mitschaffenden Jünger auch hier mit Ehrfurcht erfüllen kann.

EDUARD MEYER GESCHICHTE UND KULTUR DER MITTELMEERWELT UND DES VORDEREN ORIENTS BIS ZUM UNTERGANG DES ALTERTUMS Die ununterbrochen fortschreitende wissenschaftliche Arbeit, die der Kultur des neunzehnten Jahrhunderts ihren Charakter gegeben hat, hat, wie in so vielen anderen Zweigen aller Wissenschaften, so auch in der Geschichte das Gesamtbild von Grund aus umgestaltet und ins Ungemessene erweitert. Vor einem Jahrhundert, in der Zeit Heerens und Niebuhrs, begann das, was beide in seiner Totalität als Weltgeschichte zusammenzufassen strebten, mit der Zeit der homerischen Epen und mit den, in ihrem Alter weit überschätzten und geschichtlichem Verständnis kaum noch irgendwie erschlossenen Uberlieferungen, die das Alte Testament bewahrt; davor lag — und darüber ist auch Rankes Weltgeschichte nicht hinausgegangen — noch ein Phantasiebild von den in nebelhaften Umrissen geahnten Kulturen des alten Orients. Gegenwärtig hat sich, stetig fortschreitend, der Bereich der Geschichte sowohl räumlich wie zeitlich mehr als verdoppelt. Die geschichtliche Entwicklung der Kulturvölker am Nil und am Euphrat liegt anschaulich vor uns bis zu den Anfangen ihrer staatlichen Gestaltung in den letzten Jahrhunderten des vierten Jahrtausends; und neben ihnen heischen die großen Kulturen Ostasiens in China und in Indien volle Berücksichtigung, und wir dürfen hoffen, daß auch das noch auf ihrer Vorzeit liegende Dunkel sich allmählich lichten wird. Auch an den Gestaltungen auf amerikanischem Boden und an den Kulturen, von denen die großen Monumente Mexikos und Perus Zeugnis ablegen, darf die Universalgeschichte nicht mehr vorübergehn. Zugleich eröffnet sich von diesen Mittelpunkten aus ein Einblick in die sie rings umgebende Völkerwelt, sowohl die auf primitiver Stufe beharrenden, wie die zu einer großen weltgeschichtlichen Wirkung berufenen Stämme; und weit darüber hinaus ist durch die Ausbildung und Verfeinerung der Grabungstechnik und der Problemstellung ein Vorwärtsschreiten vom geschichtlich gesicherten Boden zu den davorliegenden Epochen ermöglicht worden, das auch die Zeiträume dieser Entwicklung wenigstens annähernd abzuschätzen gestattet; dadurch ist das früher einem dilettantischen Betriebe überlassene Gebiet der sog. Praehistorie dem Bereich der Geschichte erobert worden. So hat die Aufgabe der Geschichtswissenschaft sich erweitert zu einer Erforschung der gesamten Entwicklung des Menschengeschlechts von den ersten, noch durch erhaltene Uberreste bezeugten Anfängen an bis hinab auf unsere Gegenwart. Dies gesamte Gebiet zusammenhängend vorzuführen, ist nicht Aufgabe dieses Aufsatzes. Er beschränkt sich auf die Geschichte der Kulturvölker der Mittelmeerwelt einschließlich des Vorderen Orients von ihren Anfängen bis zum Untergang des Altertums hinab, während sowohl das Gesamtgebiet der menschlichen Vorgeschichte wie die Kulturen Ostasiens, Indiens und Amerikas anderen Darstellungen überlassen bleiben müssen.

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Die Erforschung Ägyptens beginnt mit dem Zuge Napoleons ins Nilland 1798. Sie hat das Material zugänglich gemacht, das im Jahre 1822 die geniale Entzifferung der Hieroglyphen durch François Champollion ermöglichte. Damit war der Zugang zu einer Kultur erschlossen, deren stetig fortschreitende Entwicklung einen Zeitraum von mehr als drei Jahrtausenden umspannt. Eine Geschichte der Ägyptologie zu geben, auch nur in den knappsten Umrissen, ist an dieser Stelle nicht möglich ; erwähnt sei nur, daß zu Anfang der siebziger Jahre allgemein die Ansicht herrschte, die damals Georg Ebers in seinen Vorlesungen aussprach, die ägyptischen Monumente und Inschriften seien, vor allem durch das gewaltige Denkmälerwerk der preußischen Expedition unter Leitung von Richard Lepsius und durch die Ausgrabungen Auguste Mariettes, im wesentlichen erschöpft und es sei nur noch auf neue Papyrusfunde zu hoffen. In Wirklichkeit stand man erst am Anfang : seit den achtziger Jahren haben die systematischen Ausgrabungen begonnen, in denen man lernte, immer methodischer vorzugehn und auf jede Einzelheit zu achten. Erst da sah man, welche unerschöpfliche Fülle ungeahnter Schätze der Boden Oberägyptens überall bietet, wo er außerhalb des Bereichs der Überschwemmung liegt und wo nicht, wie bei Memphis und seinen Tempeln, eine neue Großstadt fortdauernd alles Material für ihre Bauten ausgeraubt und bis auf die Fundamente hinab zerstört hat. So hat sich im Laufe des letzten halben Jahrhunderts das Material weit mehr als verdoppelt; große Epochen, die noch völlig im Dunkel lagen, sind erschlossen worden, so die ganze älteste Zeit von Menes und weit über ihn hinauf bis hinab auf die Pyramidenerbauer ; auch in die Zeiten der Zersetzung zwischen den Höhepunkten des Alten und des Mittleren und denen des Mittleren und des Neuen Reichs haben wir wenigsten einigen Einblick gewonnen. Noch immer ist der Boden Ägyptens ganz unerschöpflich, und kaum ein Jahr vergeht, das nicht neue und bisher ungeahnte Entdeckungen gebracht hat. Eine peinliche Lücke freilich bleibt und wird nie ausgefüllt werden können : im Delta, in dem doch in den meisten Epochen, mit Ausnahme der Glanzzeit der großen thebanischen Dynastien, der Schwerpunkt des Reiches lag, sind infolge der ununterbrochenen Besiedelung und der intensiven Bebauung des Fruchtlandes Überreste der großen Tempelbauten nur an wenigen Stellen, Gräber und Dokumente so gut wie garnicht erhalten, wenn wir auch hoffen dürfen, daß die methodische Erforschung, die in den letzten Jahren auch hier begonnen hat, noch manche Aufschlüsse sowohl für die griechischrömische Zeit wie an den Rändern der Wüste für die Vorgeschichte der ägyptischen Kultur ergeben wird. Neben den Bauten und Gräbern mit ihren Inschriften, den Skulpturen und den Erzeugnissen der Kleinkunst, des Handwerks und des Hausrats stehen die schriftlichen Uberreste auf Papyrus und Tonscherben (Ostraka), gelegentlich auch auf Leder oder Holz. Auch hier ist seit den siebziger Jahren anstelle der Zufallsfunde der früheren Zeit die systematische Grabung auf Papyri getreten und hat eine fast unübersehbare Ernte nicht nur von öffentlichen und privaten Dokumenten, Briefen, Steuerquittungen, amtlichen Erlassen, Eingaben an die Behörden usw., sondern auch nicht wenige, oft ganz unschätzbare Bruchstücke der Literatur sowohl Ägyptens wie Griechenlands gebracht. Alle Sprachen, die auf dem Boden Ägyptens benutzt worden sind, sind in diesen Schriftstücken vertreten, in erster

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Linie natürlich einerseits das in hieratischer Kursive geschriebene Altägyptische von den Zeiten der Pyramidenerbauer an, an das sich dann in der Spätzeit die demotischen Urkunden und Literaturwerke und dann in der christlichen Zeit die koptischen anschließen, andrerseits von der Ptolemäerzeit an das Griechische, das auch in der römischen Kaiserzeit die offizielle Sprache des Reichs und des Verkehrs geblieben ist, bis es durch das Arabische abgelöst wird. Dazu kommt aus der Zeit der Achaemeniden die damalige Reichssprache, das Aramäische, in der uns vor allem die jüdische Militärkolonie in Elephantine zahlreiche Dokumente bewahrt hat, und aus dem Jahrzehnt, in dem, kurz vor den Arabern, die Sassaniden Ägypten erobert hatten, Urkunden in Pehlewi; auch lateinische Schriftstücke fehlen nicht ganz, darunter sogar ein Auszug aus dem Geschichtswerk des Livius. Gerade diese Uberfülle läßt uns ahnen, wieviel uns dadurch verloren gegangen ist, daß die systematische Sammlung und Grabung erst so spät eingesetzt hat und daß die Schutthaufen der alten Städte früher ganz und auch jetzt noch in weitem Umfang der einheimischen Bevölkerung zur Verwendung als Düngererde ohne Kontrolle überlassen sind. Parallel der stetigen Vermehrung des Materials geht die Fortbildung der Ägyptologie zu einer philologisch und sprachlich durchgebildeten Wissenschaft; anstelle des nicht selten allerdings geradezu genialen Ratens und Ahnens, mit dem man sich früher schwereren Texten gegenüber behelfen mußte, trat die methodische Durcharbeitung von Grammatik und Lexikon, aus der sich zugleich die Scheidung der verschiedenen Epochen ergab, die die Entwicklung der Sprache durchgemacht hat. Sie ist neben und vor allen andern das jetzt durch das nahezu vollendete Riesenwerk des »Ägyptischen Wörterbuchs« gekrönte Lebenswerk Adolf Ermans, dessen unerbittliche Forderung strenger Disziplinierung sich gegen alle Anfechtungen von Seiten der Anhänger des älteren Betriebes in der gesamten wissenschaftlichen Welt siegreich durchgesetzt hat, so daß jetzt aller Streit verstummt ist. Dadurch ist das Verständnis der Texte ein ganz anderes geworden; die eifrig betriebene Durcharbeitung des Materials hat das Bild der Geschichte und der Kultur Ägyptens und das Verständnis seiner geistigen Entwicklung immer lebensvoller gestaltet; die gewaltigen Schöpfungen in der bildenden Kunst und der Architektur, für die jede der Hauptepochen neue und vertiefte Aufgaben stellt und zu lösen sucht, sprechen unmittelbar auch zu uns. Das innere Verständnis der Kunst und ihrer zunächst so fremdartig erscheinenden Formen haben die tiefdringenden Arbeiten Heinrich Schäfers erschlossen, die weithin befruchtend auf alle Zweige der Kunstwissenschaft einwirken. Auch das Verständnis der ägyptischen Religion und der Gedankenwelt, die in ihr nach einem Ausdruck ringt, beginnt sich zu erschließen. Daß die deutsche Wissenschaft auch auf diesem Gebiet Großes und mehrfach Führendes geschaffen hat und auch in den schweren Zeiten, die unser Volk jetzt durchleben muß, den übrigen Nationen ebenbürtig zur Seite steht, wird weiterer Darlegung nicht bedürfen. So können wir uns darauf beschränken, auf die epochemachenden Ausgrabungen zu verweisen, welche die Deutsche Orientgesellschaft dank der Opferwilligkeit deutscher Förderer auch in Ägypten hat ausführen können, zunächst an den Totentempeln der Pyramidenerbauer, dann bis zum Kriegsausbruch in Teil el Amarna, der von dem Ketzerkönig Amenophis IV. neu erbauten Hauptstadt, die 11 Fetttchrift Schmidt-Ott

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mit seinem Tode zusammengefallen ist. An beiden Stellen hat die Erschließung der Architektur und die Ausbeute an Kunstschöpfungen alle hochgespannten Erwartungen übertroffen, und die Durchführung der Aufgaben durch Ludwig Borchardt ist für alle derartigen Unternehmungen vorbildlich geworden. — Später als im Niltal hat sich in Babylonien, im Bereich des Euphrat und Tigris, eine höhere Kultur entwickelt; ihre Schöpfungen in der Kunst und auch im staatlichen Leben stehen hinter den gleichzeitigen Ägyptens innerlich durchweg um ein halbes Jahrtausend zurück, und in der Architektur ist sie, da sie, abgesehen von den assyrischen Palästen aus der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends, immer am Ziegelbau festhielt und den Stein nicht verwendete, niemals auf die Höhe Ägyptens gelangt. Tonziegel mit Keilschrift aus den von Schutthügeln bedeckten Ruinenstätten Babyloniens waren nicht selten gefunden worden, und Ansätze zu einer Entzifferung waren gemacht worden, seit es Grotefend 1802 gelungen war, in den durch Karsten Niebuhr in sorgfaltigen Abschriften bekannt gewordenen Inschriften von Persepolis durch eine scharfsinnige Kombination zunächst in der einfachsten der drei Gattungen der Keilschrift, in der sie geschrieben sind, die Namen der großen Perserkönige und die persische Sprache zu entdecken. Mit deren Hilfe konnte dann versucht werden, auch manche der weit zahlreicheren Schriftzeichen zu entziffern, mit denen in den beiden danebenstehenden Gattungen die Übersetzungen in die Sprachen von Susa und Babylon geschrieben sind. Aber brauchbares Material schaffte erst die 1842 beginnende Aufdeckung der großen Paläste der assyrischen Könige mit ihren Skulpturen und Inschriften, an die sich, seit es Henry Rawlinson 1849 in mühseliger Arbeit gelungen war, die große dreisprachige Inschrift des Darius am »Göttersitze« Bagistana (Bisutun) abzuschreiben und zu übersetzen, alsbald die stetig fortschreitende Entzifferung der assyrischen Keilschrift anschloß. Eine gewaltige Vermehrung des Materials brachte die Auffindung der großen Bibliothek Assurbanipals in seinem Palast in Ninive, in der außer Urkunden aller Art auch zahlreiche babylonische Literaturwerke mehr oder weniger vollständig erhalten sind. Dieser Entwicklung verdankt die hier neu entstandene Wissenschaft den Namen Assyriologie, der ihr dauernd geblieben ist, so wenig er im Grunde für die Erforschung einer Sprache und Kultur paßt, die in Wirklichkeit auf dem Boden Babyloniens erwachsen und von den Assyrern nur übernommen und modifiziert worden ist. Der Streit um die Zuverlässigkeit und Verwendbarkeit der Entzifferung, der in den siebziger Jahren vor allem in Deutschland tobte, ist längst erloschen; und ebenso hat sich nach heftigem Kampf die Erkenntnis allgemein durchgesetzt, daß Schrift und Kultur sowie Religion nicht von den Semiten Babyloniens, den Akkadiern, geschaffen sind, sondern von einem älteren Volke ganz andern physischen und sprachlichen Charakters, den Sumerern. In den Denkmälern des dritten Jahrtausends, die vor allem durch die französischen Ausgrabungen in Tello (seit 1877) und die amerikanischen in Nippur (seit 1893) erschlossen sind, treten uns diese Sumerer in ihren Skulpturen noch ganz anschaulich entgegen; in der Folgezeit sind sie dann durch die Semiten aufgesogen worden, die sich in verschiedenen Schichten über das Land legten (Akkadier, Amoriter, aramäische Chaldäer); aber ihre Sprache und Literatur wurde als heilige Überlieferung in den Priesterschulen weiter ge-

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pflegt wie das Lateinische im Mittelalter, und zahlreiche Werke sind uns sowohl in der Sprache der sumerischen Originale wie in semitischen Übersetzungen auch in der Bibliothek Assurbanipals erhalten. Zu den erwähnten Grabungen kamen dann durch die französischen Ausgrabungen in Susa noch zahlreiche Denkmäler und Inschriften aus der ersten Blütezeit Babyloniens.die bei kriegerischen Einfallen dorthin verschleppt worden waren, darunter die rasch berühmt gewordene Stele Chammurapis mit seinem Gesetzbuch. Trotzdem stand Babylonien an Zahl und Bedeutung der Monumente noch durchaus hinter Assyrien zurück. Da hat die Gründung der Deutschen Orientgesellschaft im Jahre 1898 Wandel geschaffen, die sich als erste Hauptaufgabe systematische Ausgrabungen in Babylonien gestellt hatte. Neben den ihr von hochherzigen Gönnern freigebig zufließenden Mitteln konnte sie sich fortdauernd einer kräftigen Unterstützung durch den deutschen Kaiser, durch das Reich und durch Preußen erfreuen. Als Hauptschauplatz ihrer Tätigkeit wurde Babel selbst erwählt, die sagenumwobene Riesenstadt Nebukadnezars, in der Robert Koldeway 18 Jahre lang (März 1899 bis März 1917) ununterbrochen die Grabung geleitet hat; dazu trat, neben mehreren kleineren Grabungen, die von Andrae streng methodisch durchgeführte Ausgrabung der Stadt Assur, der alten Hauptstadt des Assyrerreichs, die unsere Kenntnis seiner Geschichte und Kultur bis ins dritte Jahrtausend hinauf wesentlich erweitert hat. Sie konnte in elf Jahren (1903—1913) zum Abschluß geführt werden, während die Tätigkeit in Babylon mit dem Zusammenbruch der Front im März 1917 abgebrochen werden mußte. Die Lage, in die unser Volk durch den Ausgang des Weltkrieges und den Scheinfrieden von Versailles hinabgestürzt ist, hat der deutschen Orientgesellschaft eine Fortsetzung ihrer Tätigkeit unmöglich gemacht. Im Winter 1928/29 ist allerdings versucht worden, sie wieder aufzunehmen durch eine umsichtig begonnene orientierende Grabung in Ktesiphon, der Hauptstadt des großen Reichs der Arsakiden und Sassaniden, und seinem älteren Nachbar, der Griechenstadt Seleukia, durch die wir einen Einblick in das bisher ganz im Dunkel liegende Jahrtausend von Alexander bis auf den Islam erhoffen durften. Sie hat sehr wertvolle Ergebnisse gebracht; hoffentlich gelingt es, auch für die Fortführung die Mittel zu beschaffen. Gleichzeitig hat, auf Grund der von der Irakregierung an uns ergangenen Aufforderung zu erneuter Tätigkeit, die früher von der Orientgesellschaft begonnene Grabung in Uruk (Warka), einer der größten und wichtigsten Städte und Kultstätten Altbabyloniens, von der Notgemeinschaft wieder aufgenommen werden können. Sie hat, parallel gehend den durch ganz überraschende Funde belohnten Grabungen der Engländer vor allem in Ur, unter der umsichtigen Leitung Julius Jordans bereits die wertvollsten Ergebnisse nicht nur für die späteren Epochen, sondern vor allem auch für die älteste Zeit bis ins vierte Jahrtausend gebracht und zum ersten Mal einen Einblick in den langen Weg eröffnet, auf dem sich der Ziegelbau schrittweise aus ganz primitiven Anfängen zu voller Ausbildung entwickelt hat. Eine schwere Sorge ist geblieben, die Bearbeitung der Ergebnisse der zwanzigjährigen Grabungen der Orientgesellschaft, die andernfalls unrettbar verloren sein würden. Die Durchführung dieser großen Aufgabe ist bisher sowohl vom Reich und vom preußischen Staat wie von der Notgemeinschaft tatkräftig gefördert 11*

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worden, und wir halten an dem Vertrauen fest, daß es gelingen wird, trotz der schweren Lage der Gegenwart die dafür unentbehrlichen Mittel und Arbeitskräfte auch weiter zu gewinnen und so die Aufgabe zum Abschluß zu führen. Die Schrift und mit ihr auch die Sprache und die Kunst Babyloniens hat sich seit früher Zeit weithin in die Umwelt verbreitet, so im Osten nach Elam (Susiana), dessen eigenartige Entwicklung hier nicht weiter berührt werden kann, und später, wie schon erwähnt, zu den Persern, ferner über Mesopotamien, wo die Ausgrabungen des Freiherrn v. Oppenheim in Teil Chalaf eine Fülle von Denkmälern des 3. und 2. Jahrtausends entdeckt haben, und weiter in die westlichen Lande. Hier hat das Archiv Amenophis' III. und IV. in Teil el Amarna die in babylonischer Schrift und Sprache geführten Korrespondenzen der Pharaonen mit den Nachbarstaaten und mit den zahlreichen Vasallenfürsten in Syrien und Palästina erhalten, die uns die politischen und kulturellen Zustände Vorderasiens zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts ganz lebendig vor Augen führen. Dazu ist dann seit 1906 ein ganz neues Gebiet getreten durch die von Hugo Winkler begonnenen, von der Orientgesellschaft und dem Archäologischen Institut des Deutschen Reichs in enger Verbindung mit dem Ottomanischen Museum durchgeführten Grabungen in Boghazkiöi, der großen Hauptstadt des Chetitischen Reichs im östlichen Kleinasien. Ihren Archiven verdanken wir eine unabsehbare Fülle von Urkunden und Literaturwerken dieses Reichs; sie haben uns nicht nur im Chetitischen eine neue indogermanische Sprache erschlossen, die sich von allen anderen durch eine starke Beimischung fremden Sprachguts unterscheidet, sondern auch Reste mehrerer ganz andersartiger Sprachen Kleinasiens und seiner Nachbargebiete erhalten. So ist hier im letzten Jahrzehnt eine neue Wissenschaft entstanden, die Chetitologie, deren Betrieb vor allem in Deutschland in regem Vorschreiten begriffen ist. Nur kurz erwähnt sei, daß von Assyrien aus die Keilschrift auch in Armenien eingedrungen und zur Schreibung der einheimischen Sprache verwendet ist, als hier im 9. Jahrhundert in Rivalität mit Assyrien das Reich Ararat (Urartu) mit der Hauptstadt Wan entstand. Die zahlreichen Inschriften und Denkmäler, die es hinterlassen hat, sind durch eine deutsche Forschungsreise von Belck und Lehmann-Haupt wesentlich gemehrt und ihre Bearbeitung durch letzteren geht jetzt der Vollendung entgegen. Wenn schon die Denkmäler Babyloniens und Assyriens trotz mancher hervorragender Schöpfungen im allgemeinen an Zahl und Kunstwert hinter denen Ägyptens weit zurückstehen, so noch viel mehr die Ausbeute, welche Syrien und Palästina gewähren. Auch hier hat sich zunächst in Frankreich, England und Amerika eine rege Forschertätigkeit entwickelt; dann ist auch Deutschland hinzugetreten mit den Ausgrabungen des Palästinavereins in Taanach und Megiddo, der Orientgesellschaft in Jericho und in den Synagogenruinen Galiläas; dazu ist jetzt die von E. Sellin in Angriff genommene Ausgrabung Sichems getreten, des alten religiösen und politischen Mittelpunktes Israels. Im nördlichen Syrien haben die von dem deutschen Orientkomitee 1888—1902 unternommenen, von F. v. Luschan ausgeführten Grabungen in Sendjirli, der Hauptstadt des Fürstentums Sam'al, außer den Festungsmauern und Palastbauten zahlreiche Skulpturen der primitiven »chetitischen« Kunst und ihrer späteren Fortbildung unter assyrischem

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Einfluß, und daneben eine Anzahl großer aramäischer Königsinschriften beschert. Für die Kenntnis der semitischen Welt, ihrer Kultur und Religion sind überhaupt die Inschriften, überall geschrieben in dem von den Phönikern erfundenen Alphabet, das schließlich die Weltherrschaft gewonnen hat, von grundlegender Bedeutung. Doch wird davon besser an anderer Stelle berichtet werden. — Neben dem Orient steht die griechische Welt. Auch hier beginnt in den siebziger Jahren eine neue Epoche der Forschung und eine gewaltige Erweiterung ihres Gebiets. Manche Denkmäler der Vorzeit waren immer bekannt, große, aus mächtigen Steinblöcken aufgetürmte Mauern, die von den Alten als Schatzhäuser bezeichneten riesigen Kuppelgräber, das Löwentor von Mykene, und niemand konnte im Zweifel sein, daß sie in der Zeit geschaffen seien, von der die Sagen der Epen erzählten. Aber sie standen ganz außerhalb eines geschichtlichen Zusammenhanges; in welchem Verhältnis sie etwa zu dem geometrischen Stil stehn mochten, den inzwischen AI. Conze als die älteste, bis dahin ganz unbeachtet gebliebene Gestalt der Bemalung der griechischen Tongefäße erwiesen hatte, blieb noch völlig im Dunkeln. Das wurde anders, als seit 1872 Heinrich Schliemann, beseelt von dem Enthusiasmus eines Schatzgräbers für Homer und die homerische Welt, die er leibhaft wiederschauen wollte, an den Stätten des Epos den Spaten ansetzte. Der Reihe nach hat er Troja, Mykene, Tiryns, Orchomenos wieder aufgedeckt und damit eine ganz neue Welt erschlossen. Die Forschung, die zunächst seine Ergebnisse nur mit großer Zurückhaltung aufgenommen hatte, hat sich alsdann mit um so größerem Eifer auf das neue Gebiet geworfen. Die Entdeckungen führten immer weiter hinauf von der Blütezeit der mykenischen Kultur in die davor liegenden Epochen bis zur neolithischen Zeit, deren Erforschung und deren Zusammenhänge mit der nördlichen Welt über den Rumpf der Balkanhalbinsel und das Donaugebiet jetzt eifrig betrieben wird. Den Anteil, den neben den andern Nationen und vor edlem den Griechen selbst auch die deutsche Wissenschaft an dieser Entwicklung dauernd genommen hat, weiter zu schildern und die von ihr unternommenen Grabungen, vor allem in Tiryns und Orchomenos sowie auf Aegina, aber auch in Attika und sonst, eingehender aufzuzählen, würde weit über den dieser Skizze gestellten Rahmen hinausgehen. Eine neue Überraschung von größter Tragweite bot dann seit 1899 die Erschließung Kretas mit seinen großen Palästen und den unerschöpflichen Erzeugnissen seines Kunsthandwerks zunächst durch italienische und englische Forscher; sie lehrte, daß im zweiten Jahrtausend die große Insel der Sitz einer selbständigen, weithin auf die Nachbargebiete ausstrahlenden Kulturentwicklung gewesen ist. Bei der Übernahme dieser Kultur an den Fürstenhöfen des Festlandes tritt zugleich die Sonderart der griechischen Bevölkerung in der Anlage der Paläste und der starken Befestigung der Städte, im Gegensatz zu den durchweg mauerlosen Städten Kretas, in der Kriegführung mit Streitwagen und dem dafür gebauten Straßennetz, in der reichen Entwicklung des Totendienstes mit seinen Beigaben überall deutlich hervor. So ist uns die Kulturentwicklung der Welt des ägäischen Meeres im 3. und 2. Jahrtausend immer anschaulicher geworden. Aber sie steht nicht isoliert da, sondern in ständiger Verbindung und Wechselwirkung mit der großen Kultur Ägyptens und mit dem übrigen Orient, vor allem mit Kleinasien, und auch in der politischen Entwicklung und in den Völkerbewegungen läßt sich dieser Zusammen-

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hang oft noch deutlich erkennen. Dadurch ist das Geschichtsbild, das die älteren Darstellungen beherrschte, vollständig gewandelt: an Stelle der isolierten Behandlung der einzelnen Völker und Kulturen ist die Aufgabe getreten, diese Zusammenhänge in ihrer Wechselwirkung herauszuarbeiten, die Gesamtentwicklung als eine große geschichtliche Einheit zu erfassen. Auch der Westen beginnt aus dem über ihm liegenden Dunkel herauszutreten. Den Einblick in die Entwicklung auf dem Boden Italiens und Siciliens verdanken wir vor allem der unermüdlichen, streng geschulten Arbeit der italienischen Forscher; auch die alten Baudenkmäler auf Sardinien, Malta, den Balearen, die bis tief in die neolithischen Epochen hinaufreichenden ältesten Kulturen Spaniens und Nordafrikas erheischen und erhalten Berücksichtigung. Wie weit sich die gerade auf diesen Gebieten zahlreichen Hypothesen und Kombinationen als haltbar erweisen werden, kann erst die Zukunft lehren. Die Hoffnung dürfen wir nicht aufgeben, daß die scharfsinnigen Versuche mit Erfolg gekrönt werden, die kretischen Schriftdenkmäler zu entziffern — sowohl die zahlreichen Tontafeln mit einer aus der ältesten Bilderschrift entwickelten Kursive, wie die bisher ganz isoliert dastehende, mit eingedrückten Zeichen nach Art des Typendrucks geschriebene Bilderschrift des Diskus aus Phaestos —, und dadurch zugleich einen Einblick zu gewinnen in die Völkerwelt dieser Gebiete. Wir wissen, daß aus dieser ägäischen Welt sowohl die Philister nach Palästina, wie die Etrusker oder Tyrsener nach Italien gekommen sind; wir müssen streben, auch über die noch immer ungelösten Rätsel Aufschluß zu erhalten, die uns durch die völlig isoliert dastehende Sprache und Eigenart dieses Volkes gestellt sind, und so von der Gestaltung Italiens in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends, in der die Führung bei den Etruskern lag, ein weit lebensvolleres Bild zu gewinnen. Die Schaffung der für diese Aufgabe unentbehrlichen Grundlage, die Sammlung der etruskischen Inschriften, ist seit langem von der Berliner Akademie der Wissenschaften in Angriff genommen. — Zu Ende des dreizehnten und Beginn des zwölften Jahrhunderts ist die bisherige Gestaltung dieser Welt zusammengebrochen in einer großen Völkerbewegung, die in der griechischen Überlieferung als dorische Wanderung bezeichnet wird. Sie hat eine neue Schicht indogermanischer Stämme, die Sabeller (Osker), nach Italien, eine andere, die Phryger, nach Kleinasien, die Philister nach Palästina geführt. Das Großreich der Chetiter ist ihr erlegen; die Machtstellung des Pharaonenreichs versinkt in innerer Schwäche; auf die großen Reiche der vorhergehenden Zeit folgt jahrhundertelang eine Epoche der Kleinstaaten. Dadurch ist den einzelnen Volkstümern eine selbständige Entwicklung ihrer Eigenart ermöglicht; es ist die Zeit, in der im Orient die Israeliten und die Phöniker und ebenso die Lyder und andere Völker, in der ägäischen Welt die griechischen Gemeinden, in Italien die Etrusker ihre nationale Kultur ausgebildet haben. Dann beginnt im achten Jahrhundert die Ausbreitung der Griechen über die Küsten Unteritaliens und Siciliens, des Schwarzen Meeres, den Rand Libyens in Kyrene, schließlich ihr weiteres Vordringen ins Westmeer: die Phöniker weitaus überflügelnd und zurückdrängend werden sie das beherrschende Handelsvolk des Mittelmeers, ihre Kultur wirkt überall befruchtend auf die einheimischen Stämme, selbst der weit vorgeschobene Außenposten des Orients, den die Phöniker in Karthago und Gades behaupten, kann sich ihrer Einwirkung auf die Dauer nicht entziehen.

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Diese Entwicklung hat dann das griechische Volk aufs neue in immer engere Verbindung mit dem Orient gebracht. Hier hatte sich die gesamte Lage von Grund aus gewandelt durch den Untergang alles politischen Eigenlebens der Völkerwelt, den das in Strömen Bluts gegründete Reich der Assyrer über Vorderasien gebracht hat. Der Versuch, bei der Reaktion nach seinem Untergang ein System größerer Staaten zu schaffen, ist nach kurzem Bestände gescheitert; ohne schwere Kämpfe sind sie alle dem Angriff der Perser erlegen. Seitdem weiß es diese ganze Welt nicht anders, als daß sie den Geboten fremder Herrscher und dem Willen des Königs der Könige zu gehorchen hat. Auch Karthago hat sich ihm untergeordnet. Dagegen ist es den Griechen gelungen, sich und ihre Kultur selbständig zu behaupten. Damit rückt die Griechenwelt ins Zentrum der Weltgeschichte, und das Ringen zwischen den Griechen und dem Perserreich beherrscht die nächsten Jahrhunderte. Das Reich derAchaemeniden steht unter den Kulturstaaten, die die asiatische Welt geschaffen hat, in erster Linie. Im Gegensatz zu seiner Bedeutung ist das Material, das uns dafür zur Verfügung steht, noch immer sehr unzureichend; auf die wenig zahlreichen Inschriften des Darius und seiner Nachfolger und auf die Vermehrung des Materials, das vor allem Papyrusfunde aus Ägypten gebracht haben, ist oben schon kurz hingewiesen. Das Perserreich ist zugleich der Träger der ersten der großen Religionen, die hinauswachsend über die nationale Grundlage mit dem Anspruch auf universelle Geltung aufgetreten sind, der dualistischen Religion Zoroasters. Von den Originalquellen ist uns aus der unter den Sassaniden abschließend redigierten und kanonisch gewordenen Sammlung des Awesta nur ein Bruchteil erhalten; an ihrer vollen Erschließung arbeitet die Wissenschaft, ähnlich wie an der des Alten Testaments, nun bereits weit über ein Jahrhundert mit wachsendem Erfolg, ohne daß doch ein volles und ausreichend gesichertes Verständnis schon überall gewonnen wäre. — Wenn der alte Orient durch die im 19. Jahrhundert einsetzende Arbeit überhaupt erst erschlossen worden ist, so hat sich das Bild der griechischen Welt und ihrer Kultur nicht minder gewandelt und vertieft. Durch Winckelmann war der Geist, der die Werke der griechischen Kunst und Dichtung beseelte, wieder zum Leben erweckt; unsere klassische Kultur hatte aus ihm ein Idealbild des Griechentums geschaffen, das vorbildlich, wenn auch unerreichbar, das reine Menschentum in seiner höchsten Gestalt verkörperte; die Arbeit des neunzehnten Jahrhunderts hat gelehrt, es in seiner Entwicklung geschichtlich zu verstehn, und damit das Bild stetig reicher und mannigfaltiger gestaltet. Wir müssen darauf verzichten, im einzelnen zu schildern, wie alle Disziplinen der Philologie von neuem Leben erfüllt und erweitert wurden, wie ein vertieftes künstlerisches und geschichtliches Verständnis der großen Schöpfungen der Dichtung erschlossen wurde, des Epos so gut wie der Lyrik und des Dramas, wie die Entwicklung der Philosophie und die großen Probleme, um deren Lösung sie ringt, und damit weiter die Begründung und Geschichte aller Wissenschaften überhaupt dadurch so lebendig geworden sind, daß wir sie nacherleben können. Das gleiche gilt von der politischen Geschichte und von den Versuchen, die durch die Staatsgestaltung gestellten großen Probleme zu lösen; auch hier haben wir gelernt, statt idealistisch entworfenen Konstruktionen nachzugehn, vielmehr zu erkennen, wie es wirklich gewesen — oder, was genau dasselbe sagt, wie es geworden ist.

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Dazu kommt dann, ganz grundlegend, die lebendige Anschauung sowohl des Landes wie seiner Denkmäler, die jetzt längst Gemeingut geworden ist. Welch gewaltige Entwicklung die Archäologie genommen hat, wie die in regstem Wetteifer sowohl von den Griechen selbst wie von allen andern Kulturnationen fortdauernd unternommenen Ausgrabungen eine unabsehbare Fülle neuer Kunstwerke dem Erdboden entrissen haben, wie neben die Plastik die Vasenkunde getreten ist, der wir es verdanken, daß wir von der Entwicklung der griechischen Malerei ein lebensvolles Bild gewonnen haben, wie die Archäologie alle Erzeugnisse nicht nur des Kunsthandwerks sondern des Alltagslebens überhaupt in ihren Bereich gezogen und ihre Aufgabe dahin erweitert hat, ein allseitiges Gesamtbild des antiken Lebens zu gewinnen, das ist allbekannt und bedarf keiner weiteren Darlegung. Eng damit verbunden ist die methodische Erforschung und Rekonstruktion der Architektur der Tempel und Theater, der Stadtmauern und Festungswerke, der Privatbauten und der Staatsgebäude, Aufgaben, die untrennbar mit dem Namen Wilhelm Dörpfelds verbunden sind, dessen bahnbrechende Arbeiten grundlegend und mustergültig für alle Zukunft geworden sind. Diese Arbeiten gehen Hand in Hand mit der topographischen und archaeologischen Erforschung des Gesamtgebiets der Hellenen, sowohl des Mutterlandes nebst den Inseln und den Küsten Kleinasiens wie die Unteritaliens und Siciliens und ebenso der Außenposten vor allem auf der Krim und in Südrußland, wo die tiefe Einwirkung des Griechentums uns in den Gräbern (Kurganen) der skythischen Häuptlinge ganz anschaulich entgegentritt und wir auch in seine weitere Ausstrahlung bis nach Zentralasien hinein einen Einblick gewinnen. Dank den Italienern ist jetzt auch Kyrene hinzugetreten. In engster Verbindung damit steht das ununterbrochene Anwachsen des urkundlichen Materials durch die ständig zuströmenden Inschriften. Weite Gebiete der griechischen Geschichte, vor allem die Geschichte Athens, sind dadurch auf eine viel breitere, urkundlich gesicherte Grundlage gestellt worden. Die griechische Epigraphik ist zu einer eigenen Disziplin erwachsen, deren Pflege die Berliner Akademie der Wissenschaften schon seit A. Boeckh übernommen und in der langen Bändereihe der Inscriptiones Graecae ständig fortgeführt hat. Schon erwähnt ist der reiche Zuwachs an größeren und kleinen Bruchstücken der griechischen Literatur, den wir den Papyri Ägyptens — daneben mehrfach auch neuen Handschriftenfunden — verdanken. Ein Eingehen auf Einzelheiten verbietet sich auch hier; auch für den Anteil Deutschlands muß der Hinweis darauf genügen, daß bei der Neuorganisation des Archäologischen Instituts und seiner Umwandlung in ein Institut des Deutschen Reichs 1876 neben der Zweiganstalt in Rom eine zweite in Athen gegründet wurde, die fortan dauernd eine führende Stellung in der gesamten Forschung auf griechischem Boden bewahrt hat. Gleich im nächsten Jahre ist ihren »Mitteilungen« das Bulletin de Correspondance Hellénique der Ecole Française d'Athènes zur Seite getreten. Die Griechische Geschichte läuft eben in der Zeit, wo die geistige Kultur den Höhepunkt erreicht hat, aus in hoffnungsloser innerer Zersetzung in einem Kampf Aller gegen Alle und daher in völliger politischer Ohnmacht. Da hat das makedonische Königtum die Aufgabe übernommen und unter Alexander im Kampf gegen das Perserreich den Orient bis zum Indus und zur turanischen Steppe der griechischen Kultur unterworfen. Der Versuch seines gleichnamigen Schwagers

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Alexander von Epirus, dem Griechentum in Italien die gleiche Stellung zu erringen, ist dagegen nach kurzen Erfolgen gescheitert. Alexanders Weltreich fiel mit seinem Tode auseinander; aus den langwierigen Kämpfen seiner Generäle, der Diadochen, sind dann die makedonischen Großmächte der Ptolemäer, der Seleukiden und der Antigoniden hervorgegangen, neben denen sich in Asien eine Reihe teils orientalischer, teils griechischer Kleinstaaten gebildet hat, während im Mutterlande die Griechenweit in fortwährend erneuten Kämpfen um Erreichung einer selbständigen staatlichen Gestaltung ihre Kräfte erschöpfte. In Italien aber entbrannte gleichzeitig das gewaltige Ringen um die Herrschaft über die Halbinsel, aus dem schließlich Rom als Sieger hervorging; wie die Samniten, die Etrusker und die Umbrer und zuletzt auch die Kelten sind auch die letzten noch selbständigen Griechenstädte seiner Übermacht erlegen, und das Eingreifen in Sicilien hat dann zu dem Riesenkampf mit Karthago geführt, aus dem die römische Weltherrschaft erwachsen ist. Die Zeit von Alexander an ist lange Zeit lediglich als eine Epoche des Niedergangs und der vollen Auflösung des Griechentums beurteilt worden, die nur als Vorstufe für die Römerherrschaft Interesse habe. Ihre weltgeschichtliche Bedeutung und das reiche Kulturleben dieser Epoche hat erst J. G. Droysen erkannt und gewürdigt, weitaus der bedeutendste unter den deutschen Historikern, die sich der griechischen Geschichte zugewandt haben. Droysen hat für diese Kultur den Namen Hellenismus geschaffen, der sich seitdem allgemein durchgesetzt hat. Zunächst nur langsam hat sich dann das Interesse der Forschung und auch weiterer Kreise dieser Epoche zugewandt; gegenwärtig ist es vielfach geradezu dominierend geworden. Auch das Material hat sich seitdem, gegenüber der nur ganz lückenhaft erhaltenen geschichtlichen und literarischen Überlieferung, fortschreitend vermehrt, für das Lagidenreich durch die Papyri und Ostraka Ägyptens, für Asien und die griechische Welt durch die Inschriften; für das Seleukidenreich freilich, den Hauptträger der hellenistischen Kultur in Asien, ist unser Wissen immer noch dürftig und lückenhaft genug. Sehr oft sind wir fast allein auf die Münzen angewiesen, die sowohl für die Geschichte wie für Kultur und Religion überall reiche Aufschlüsse geben; so beruht unsere Kunde von der kurzen Blütezeit der hellenistischen Kultur in Ostiran, den zahlreichen hier entstandenen Staaten, dem Emporkommen der einheimischen Bevölkerung und ihrer Staaten und Religionen, von den Reichen der Parther, der Inder und der aus Zentralasien eingedrungenen Indoskythen (Tocharer), über die sich in der griechischen Überlieferung nur vereinzelte Notizen erhalten haben, fast ausschließlich auf den reichen Münzfunden; ergänzend treten die Angaben der chinesischen Annalen und Pilgerberichte hinzu, die jetzt durch die großen Funde in den Ruinenstätten Ostturkistans weiter erläutert werden. Reiche Ausbeute und ständige Erweiterung und Vertiefung unserer Anschauungen der hellenistischen Kultur und ihres Fortlebens in der römischen Kaiserzeit haben inzwischen die ununterbrochen mit größtem Erfolge unternommenen Ausgrabungen auf dem Boden Griechenlands und des westlichen Kleinasiens gebracht. Neben der von den Griechen stetig mit gewohnter Umsicht und Sorgfalt fortgeführten Erforschung ihres Heimatlandes sind hier vor allem die lange Jahre hindurch fortgeführten Ausgrabungen der Franzosen in Delos und dann in Delphi zu nennen, durch die das Bild dieser beiden großen Heiligtümer und

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ihrer Geschichte von der ältesten Zeit bis zum Untergang wieder ganz lebendig geworden ist. Daneben ist für die hellenistische Zeit der Hauptteil der Arbeit von den Deutschen geleistet worden. Grundlegend und bahnbrechend war die in den siebziger Jahren von K. Humann für das Berliner Museum begonnene Ausgrabung der glänzenden Königsstadt Pergamon, die durch die Gewinnung der Skulpturen des großen Zeusaltars geradezu eine neue Epoche der Archäologie eröffnet hat. Die hier gestellte Aufgabe ist seitdem nun schon ein halbes Jahrhundert lang fortgesetzt worden, zunächst im Auftrage des Museums von AI. Conze, jetzt, nach der Unterbrechung durch den Krieg und die Nöte der Inflationszeit, mit Hilfe der Notgemeinschaft durch Th. Wiegand. Auch die gesamte Umgebung Pergamons ist dabei untersucht worden. Weiter folgen die Ausgrabungen in den Städten Ioniens, Magnesia am Maeander, Priene, Samos und Kos und im größten Maße die Ausgrabung Milets und des großen Heiligtums des didymäischen Apollon in Branchidae, die die ganze Entwicklung von der Gründung bei der Besiedlung Ioniens am Ende der mykenischen Epoche bis auf den Ausgang des Römerreichs umfaßt. Daneben steht, frühere englische Arbeiten fortsetzend, die nicht minder bedeutende Ausgrabung von Ephesos, die vor dem Kriege von den Österreichern begonnen ist und jetzt auch von Deutschland und Amerika weiter unterstützt wird. Dazu tritt die vor allem von Sir William Ramsay Jahrzehnte hindurch eifrig und erfolgreich betriebene und auch von den andern Nationen geförderte Erforschung des inneren Kleinasiens, und in Syrien in erster Linie die vor allem vom Deutschen Kaiser geförderte Ausgrabung und Erforschung der gewaltigen Tempelbauten der Kaiserzeit in Baalbek. — Auf dem Gebiet der römischen Geschichte steht die Gestalt Theodor Mommsens so allbeherrschend im Mittelpunkt, daß es sich erübrigt, weiter auf die zahlreichen Einzelarbeiten einzugehn, die durchweg auch da, wo sie über ihn hinausgehn und von seiner Auffassung abweichen, aus der von ihm geschaffenen Belebung und Vertiefung des Stoffes erwachsen sind. Ganz sein Werk auch da, wo ihm Mitarbeiter zur Seite getreten sind, ist das Riesenwerk des Corpus Inscriptionum Latinarum, das die Berliner Akademie gleichfalls unter ihre Obhut genommen hat; es umfaßt gleichmäßig alle Provinzen des gewaltigen Weltreichs — für die Gebiete der griechischen Sprache muß das für diese vorliegende Material ergänzend hinzutreten — und hat für die Erforschung seiner Geschichte, seiner Organisation und Kultur überhaupt erst eine gesicherte Grundlage geschaffen. Daraus erwachsen ist das lebensvolle Bild, das Mommsen von den Zuständen und dem inneren Leben der Provinzen im fünften Bande seiner Römischen Geschichte geschaffen hat. Dazu traten seine großen Arbeiten auf dem Gebiet des römischen Rechts, die Rekonstruktionen sowohl des Staatsrechts wie des Strafrechts und die Neuausgaben des Corpus juris und des Theodosianus. Nur ein Gebiet hat Mommsen zwar auch vielfach berührt und durch eindringende Untersuchungen erhellt, aber aus seiner Darstellung grundsätzlich ausgeschlossen, die fortschreitende Ausbreitung und die innere Ausbildung und Umgestaltung des Christentums innerhalb des Reichs. Hier sind selbständig die Arbeiten der Kirchenhistoriker daneben getreten, vor allem die grundlegenden Werke Adolf Harnacks, dann die von Eduard Schwartz. Gegenwärtig ist es ganz unmöglich geworden, die so verhängnisvolle Trennung der beiden Gebiete weiter aufrecht zu erhalten, nur aus ihrer innigen

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Zusammenfassung und Durchdringung kann ein tieferes Verständnis der geschichtlichen Entwicklung erwachsen. Im Osten hat das Römerreich den von Crassus, von Antonius, und dann nochmals von Trajan unternommenen Versuch, das gesamte Reich Alexanders seiner Herrschaft zu unterwerfen, unter Augustus und dann aufs neue unter Hadrian grundsätzlich aufgegeben. So konnte hier eine selbständige Großmacht ihm zur Seite treten. Das Partherreich der Arsakiden freilich, dem zunächst diese Stellung zufiel, ist immer eine locker gefügte Zufallsbildung geblieben, rings umgeben von halbabhängigen Vasallenstaaten, ohne feste Grundlage eines Volkstums, äußerlich in den Formen der hellenistischen Monarchien, deren Kultur es beibehalten möchte — alle Arsakiden nennen sich Philhellenen —, militärisch erhalten durch die Reiterscharen aus dem Osten und ihre zu Großgrundbesitzern gewordenen Magnaten (Pehlewanen). Allmählich gewinnt dann das iranische Element und seine Religion und damit der Gegensatz gegen das Abendland immer größere Bedeutung. Ein völliger Wandel trat erst ein, als von Persis (Istachr) aus das Arsakidenreich weggefegt wurde und an seine Stelle aufs neue ein persisches Großreich trat, ganz aufgebaut auf der Basis der iranischen Nationalität und der Religion Zoroasters, die in ihrer streng orthodoxen Gestalt gegen alle Ketzer und alle Andersgläubigen voll durchzuführen es als seine Hauptaufgabe ansah. Dieses Reich der Sassaniden ist weltgeschichtlich von nicht minderer Bedeutung, als ehemals das der Achämeniden; es steht in dauernder Verbindung und Wechselwirkung mit den Kulturen des Ostens, mit Indien, und von Turkistan aus, wo die große iranische Ketzerreligion der Manichäer in Konkurrenz sowohl mit dem Buddhismus wie mit dem nestorianischen Christentum Boden gefaßt hat, bis nach China hin. Auf das römische Reich, in dem die Orientalisierung von unten her immer weiter vordrang, hat das rivalisierende Großreich und seine Organisation aufs stärkste eingewirkt; daß jetzt auch hier die Durchführung der Orthodoxie, zunächst unter Decius und seinen Nachfolgern bis auf Diocletian und Galerius in heidnischer, dann seit Constantin in christlicher Gestalt, von der Reichsregierung durchgeführt und erzwungen wurde, ist die unmittelbare Gegenwirkung der Religionspolitik der Sassaniden. Fortan wird statt der Nationalität vielmehr die Religion für alle Staaten das Element, das ihre Gestaltung und ihre Politik beherrscht. Das wenige, was uns an Denkmälern der Partherzeit erhalten ist, zeigt ebenso wie z. B. die Skulpturen und Grabdenkmäler von Palmyra die fortschreitende Orientalisierung der hellenistischen Kunst. In den großen, durch die Orientgesellschaft erforschten Bauten der Festung Hatra inmitten der mesopotamischen Wüste tritt die fortschreitende Entwicklung des Bogenbaus besonders hervor, der aus dem Orient in die abendländischen Kunst befruchtend eindringt und unter Hadrian in Rom das Pantheon geschaffen hat; damit ist in die Weltkunst ein Motiv aufgenommen, das dominierend die gesamte Architektur der Folgezeit beherrscht, in der Hagia Sophia Justinians sein großartigstes Denkmal geschaffen und das in der Folgezeit schrittweise auch die Moschee des Islams sich unterworfen und von Grund aus umgestaltet hat. Die Aufrichtung des Sassanidenreichs hat auch auf dem Gebiet der Kunst einen neuen Aufschwung herbeigeführt. Nicht wenige groß entworfene Reliefs seiner Könige sind uns an den Wänden ihrer Paläste und in Felsskulpturen er-

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halten. Dazu kommen vor allem die feinen Textilarbeiten und Metallgefäße. Von der Audienzhalle des Königspalastes in Ktesiphon steht das riesige Tonnengewölbe noch aufrecht. Daß die Orientgesellschaft hier eine Untersuchung der weit ausgedehnten Stadtruinen begonnen hat, ist schon erwähnt. Im allgemeinen ist unsere Kenntnis des geschichtlich und kulturell so bedeutsamen Reichs noch immer sehr lückenhaft; eine wesentliche Vermehrung verdanken wir vor allem den Arbeiten und Forschungsreisen Ernst Herzfelds, dem es auch in immer erneuten mühseligen und gefahrvollen Besuchen gelungen ist, die auf über hundert herabgestürzten und weithin zerstreuten Blöcken großenteils erhaltene Inschrift des Königs Narse (293—303), die auf einem mächtigen Siegesdenkmal bei Paikuli hoch in den Zagrosketten gestanden hatte, der Wissenschaft wiederzugewinnen. — Im Westen hat die römische Herrschaft die einheimische Bevölkerung Nordafrikas, Spaniens und Galliens fortschreitend romanisiert. Die Eigenart der älteren Volksstämme lebt auch unter der neuen Kultur weiter, so namentlich in der Religion, und hat auf deren Gestaltung in den einzelnen Gebieten stark eingewirkt; aber sprachlich und rechtlich sind sie zu Römern geworden und fühlen sich als solche. Der Versuch, auch Deutschland bis an die Elbe in das Reich hinein zu ziehen, ist allerdings nach der Niederlage des Varus aufgegeben worden; aber in Oberdeutschland sind bekanntlich die Landschaften jenseits des Rheins und der Donau vom Wieder Becken an, die Höhen des Taunus und des Rheingaus, die Frankfurter Ebene nebst der Wetterau, der Odenwald, das Gebiet des Neckar und der Rauhen Alb und großenteils auch das der Altmühl nicht nur besetzt, sondern auch weithin besiedelt und kultiviert. Die hier sowie in dem linksrheinischen Gebiet mit den großen Römerstädten Köln, Mainz, Straßburg, Trier der geschichtlichen Forschung gestellten Aufgaben haben seit dem Wiederaufleben der humanistischen Studien wie in den romanischen Ländern so auch in Deutschland eine lebhaft betriebene Lokalforschung erweckt und allezeit zahlreiche Gelehrte beschäftigt; zu einem planmäßig organisierten Betrieb ist sie gelangt, als dank dem energischen Eingreifen Theodor Mommsens das Reich im Jahre 1890 die Aufgabe übernahm, das größte auf deutschem Boden erhaltene Werk der Römerzeit, den Grenzwall (Limes) mit seinen Kastellen, in seiner gesamten Ausdehnung methodisch zu erforschen. Epochemachend wurde dann die Aufdeckung der Römerkastelle und des Stapelplatzes der augusteischen Zeit an der Lippe bei Haltern, die nicht nur dadurch, daß alle Funde einem Zeitraum von nicht mehr als 20 Jahren (11 v. Chr. — 9 n. Chr.) entstammen, eine genaue Datierung gewährten, sondern die gesamte Bodenforschung dadurch ganz wesentlich erweitert und vertieft haben, daß man hier und an den Palisaden des Limes im Erdboden in den Gruben der Bauten und den Löchern der Holzpfähle die alten, in ihrem Material völlig verschwundenen Gebäude zu erkennen vermochte. Die hier ausgebildete Methode und die damit verbundene sorgfältige Beobachtung der Schichten ist für den gesamten Grabungsbetrieb vorbildlich geworden; ihr verdanken wir es, daß wir jetzt von der Besiedlungsgeschichte des deutschen Leindes bis zu den Dorfschaften und dem Wegenetz der neolithischen Zeit hinauf ein sich stetig erweiterndes Bild gewinnen können. Diese Erfolge haben im Jahre 1902 zur Gründung der römisch-germanischen Kommission des archäologischen Instituts, mit dem Sitze in Frankfurt, geführt, die jetzt durch die tatkräftige Fürsorge der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes

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weiter ausgebaut und mit zureichenden Mitteln ausgestattet ist. Sie hat von Anfang an die ganze Vor- und Frühgeschichte des deutschen Bodens, zunächst bis zur Elbe, in ihren Bereich gezogen. Aber ebensowenig konnte sie mit dem Zusammenbruch des Römerreichs haltmachen; es galt, nicht nur seine letzte Gestaltung in der Monarchie Diocletians und Constantins und ihrerNachfolger lebendig zu erfassen, sondern ebenso von Lebensformen und Eigenart der germanischen Völker ein anschauliches Bild zu gewinnen, denen seit dem Jahre 260 die Römer das rechtsrheinische Land überlassen hatten und die bald genug weiter über den Rhein vordrangen und im fünften Jahrhundert das Westreich vollständig aufgelöst haben. Dazu kommt weiter die innere Umwandlung, welche sich in der innerlich absterbenden Kultur des Altertums durch die Ausbreitung und den Sieg des Christentums vollzogen hat. Eine Aufzählung der zahlreichen Einzelheiten und Grabungen würde auch hier viel zu weit führen; es muß genügen, drei der größten und ergebnisreichsten Unternehmungen der letzten Jahre kurz zu erwähnen: Die von H. Lehner aufs umsichtigste durchgeführte Ausgrabung des großen, im Jahre 70 im Bataveraufstand zerstörten Zweilegionenlagers von Vetera, dessen große Bauten und Legatenpaläste sich trotz der gänzlichen Ausraubung des Steinmaterials aus den im Erdboden erhaltenen Fundamentgruben völlig rekonstruieren lassen und von dem Luxus und der Pracht dieser militärischen Bauten der neronischen Zeit ein anschauliches Bild gewähren, das für die Geschichte der römischen Architektur weittragende Aufschlüsse gibt; die gleichfalls von Lehner ausgeführte Grabung in der Krypta des Münsters von Bonn, wo ein römischer Friedhof im vierten Jahrhundert in eine Kultstätte der christlichen Märtyrer umgewandelt wurde und die Mauern der darüber errichteten Kirche aus den Altären und Votivreliefs der heimischen Gottheiten, vor allem der Matronen, erbaut wurden und uns dadurch zahlreiche prachtvolle, überdies genau datierte Skulpturen aus der besten Zeit der germanischen Provinzialkunst erhalten sind; und die großen Ausgrabungen in Trier, der blühenden Kaiserstadt der konstantinischen Zeit, wo zu der Erforschung der mächtigen, zum Teil noch aufrecht stehenden Bauten die Aufdeckung eines großen Tempelbezirks hinzukam, in dem mehr als 20 Heiligtümer gallischer Götter dicht beieinander liegen. Diese Forschungsarbeit setzt sich über die Untersuchung der Kastelle der letzten Römerzeit weiter fort in die fränkische Zeit, wo an einem großen Reihenfriedhof bei Köln zum ersten Mal eine systematische Aufnahme der Gräber und ihres Inventars durchgeführt werden konnte. Sie erfaßt weiter sowohl die fränkischen Königshöfe (curtes) und ihr Gegenstück, die sächsischen Volksburgen, wie die ältesten Kirchenbauten bis hinab zu dem von Bonifacius gegründeten Bistum Buraburg bei Fritzlar. So führt uns der Weg bis in die Anfänge des Mittelalters hinein. Den Abschluß bildet hier die Aufrichtung des Reichs Karls des Großen in derselben Weise, wie im Osten die Aufrichtung des islamischen Weltreichs, die auch in der Geschichte und Kultur von Byzanz den entscheidenden Einschnitt herbeiführt, mit dem die Weltepoche des Altertums ihren Abschluß gefunden hat.

KARL BRANDI MITTLERE UND NEUE GESCHICHTE Der fünfzigjährige Zeitraum, den wir überblicken, deckt sich annähernd mit der Zeit des eigenen wissenschaftlichen Lebens, und ein günstiger Zufall hat es gefügt, daß gerade an seinem Anfang, also in den achtziger Jahren auch in unserer Wissenschaft eine merkwürdig tiefe Cäsur liegt. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie mir am 25. Mai 1886 einer meiner akademischen Lehrer sehr bewegt sagte: »Kaum habe ich die Nachricht von dem Ableben Rankes erhalten, da erfahre ich auch schon den Tod von Georg Waitz«, — Lehrer und Schüler und zugleich Schulhäupter, einer nach dem anderen. Georg Waitz war auch Direktor der M o n u menta G e r m a n i a e H i s t ó r i c a ; er hatte einen Monat vor seinem Tode ihre letzte Sitzung geleitet, ebenso wie den einundneunzigjährigen Ranke bis zuletzt die Arbeit an der Weltgeschichte begleitete. 1885 hatte er selbst noch den sechsten Band herausgegeben; er schloß ihn mit den denkwürdigen Worten: »Aus allem zusammen bildete sich der Völkerkomplex, den wir die abendländische Christenheit nennen, in dem die eigentümlichsten Kräfte und Tendenzen sich gestalteten und bedingten. Diese Welt ist die Grundlage des heutigen Völkerlebens geworden. Ich würde glücklich sein, wenn mir vergönnt wäre, den Fortgang der Weltgeschicke unter diesem Gesichtspunkt noch weiter nachzuweisen«. So endete auf der Höhe weltgeschichtlicher Betrachtung jene sechzigjährige Periode der Geschichtswissenschaft, die 1824 mit Rankes Erstlingswerk, den »Geschichten der romanischen und germanischen Völker 1494—1514« und seinem berühmten Anhang zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber im Zeichen Jacobis begonnen hatte: »Die Hauptsache ist immer, wovon wir handeln, — Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, das Leben des einzelnen, der Geschlechter, der Völker, zuweilen die Hand Gottes über ihnen«. Die Periode war von Anfang bis zu Ende in sich merkwürdig geschlossen. Denn in demselben Jahre 1824 hatte die Leitung der M o n u m e n t a G e r m a n i a e Georg Heinrich Pertz übernommen, dessen wichtigster Mitarbeiter und Nachfolger Georg Waitz werden sollte. Mit dem Erscheinen des ersten Bandes der S c r i p t o r e s (1826) war die lange Reihe der historischen Veröffentlichungen unserer Quellen eingeleitet, in der die Waitz-Schule mehr und mehr ihren berechtigten Ruhmestitel erblickte. Nur zwei Jahre vor Ranke und Waitz war auch Johann Gustav Droysen gestorben, der von Aischylos kam und 1831 in dem Einleitungskapitel seines Alexander schwelgte: »So drängt sich das gärende Chaos des Menschengeschlechts, Flut auf Flut, und über den Wassern schwebt der Geist Gottes, ein ewiges Werde, eine Schöpfung ohne Sabbat. Aber den ersten Tag, da geschaffen ward, schied Gott das Licht von der Finsternis; da ward aus Abend und Morgen der erste Tag. So der erste Tag der Geschichte, da sich Licht und Finsternis, da sich die Völker des Abends und Morgens zum ersten Male schieden zu ewiger Feindschaft und ewiger Sehnsucht.« Diese Generationen hatten aus innerstem Drang nach der geschichtlichen Erkenntnis und methodisch in lebendigster Wechselwirkung mit der klassischen Philologie die deutsche Geschichtswissenschaft völlig erneuert. Die Zeitgenossen

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selbst sprachen das an Wendepunkten ihres Lebens aus. Als Heinrich v. Sybel und Georg Waitz im Jahre 1876 gleichzeitig in die Berliner Akademie aufgenommen wurden, bekannten sie sich beide zu dem Geist ihres Altmeisters Ranke. »Die Kritik der Quellen*, sagte Waitz, »die Herstellung zuverlässiger Texte, die Prüfung der Echtheit, die Unterscheidung des Selbständigen und Abgeleiteten ist eine notwendige Grundlage aller weiteren historischen Forschung«. Und nicht minder ausdrücklich bekannte H. v. Sybel: »Für die kritische Erforschung und Feststellung des geschichtlichen Tatbestandes hat Rankes Lehrweise in Deutschland geradezu epochemachend gewirkt«. In diesem Sinne blieb die Losung für beide die Fürsorge für große kritische Quellenveröffentlichungen, Waitz in dem bald gewaltig erweiterten Bereich der M o n u m e n t a G e r m a n i a e , Sybel in der langen Reihe der »Publikationen aus den Preußischen Staatsarchiven« (seit 1878). Die gesamte Ausbildung junger Historiker wurde nach und nach unter demselben Gesichtspunkt möglichst enger Fühlung mit der kritisch gesichteten Uberlieferung entwickelt. Indessen die streng quellenkritische Ranke-Schule verlor und verleugnete darüber doch niemals die höhere Pflicht des Historikers gegenüber der Nation. Aus der großen Zeit des deutschen Idealismus und des Freiherrn vom Stein klang noch immer das Wort, das im Eichenkranz alle Bände der M o n u m e n t a G e r m a n i a e schmückt: S a n c t u s a m o r p a t r i a e dat a n i m u m . Bei der erneuten nationalen Bewegung von den vierziger Jahren ab standen die Historiker erst recht überall mit in der vordersten Linie, und die schwungvollsten und streitbarsten unter ihnen glaubten oft genug ungeduldig, die weltbürgerliche Ruhe Rankes hinter sich lassen zu müssen. Zum mindesten machte jeder für sich seine Entwicklung zum Nationalstaat durch, auf welchen Wegen auch immer. Georg Waitz' Name hängt eng zusammen mit der schleswig-holsteinischen Not, und stets wird die Nachwelt mit Bewegung die Zuversicht lesen, in die seine Widmung der L e x s a l i c a an Georg Heinrich Pertz vom 26. Juli 1848 ausklingt: »Wenn ich diese Blätter unter Schmerz und Unruhe über das, was in diesen Tagen geschehen ist und noch geschehen kann, beschlossen habe, so hege ich doch das feste Vertrauen, daß auch fürder ein Schleswiger mit vaterländischem Sinn wird deutsche Verfassungsgeschichte schreiben können«. In demselben Kiel wurde Johann Gustav Droysen zum Geschichtsschreiber der Freiheitskriege (1846), zum leidenschaftlichen Publizisten und bald zum Propheten der preußischen Politik. 1844 hatte er an Dahlmann über eine deutsche Geschichte geschrieben: »Es ist uns Deutschen nicht zu helfen, so lange wir nicht wissen, was wir haben und verloren haben; der altgewohnte Rechtsboden, auf dem wir stehen und fußen konnten, ist dahin; wir leben, als gäbe es keine Vergangenheit, keine Bedingung, kein Gesetz und Recht für die Gegenwart«. In demselben Jahre aber, da Droysen seine »Geschichte der preußischen Politik« begann (1855), erschien auch der erste Band von Giesebrechts »Geschichte der deutschen Kaiserzeit« in derselben Stimmung: »Vielleicht, daß man sich eher einigte, wenn man sich allgemeiner bemühte, das innere Wesen und die eigentümliche Gestalt jener fernen Zeit kennen zu lernen, in der einst das einige, große, mächtige Deutschland eine Wahrheit war«. Und Heinrich v. Sybel focht bald nachher so gut mit der Feder des Publizisten wie mit dem Worte des Politikers für die gemein-

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same preußisch-deutsche Sache, um nach Vollendung des neuen Reiches der Geschichtsschreiber seiner Gründung zu werden (1889—94). Die Generation der ersten großen Schüler Rankes endete in den achtziger Jahren; die letzten Ranke-Schüler haben uns erst im Jahre 1929 verlassen, vor allen Max Lehmann in Göttingen, immer einer der größten und würdigsten unter ihnen, wie Paul Bailleu (f 1922) selbst noch Assistent bei Ranke, aber in seinem leidenschaftlich ethischen Temperament der kontemplativen Art des alten Ranke früh völlig entwachsen. So steht die Zeit der fünfzig Jahre, die wir überblicken, noch im Schatten Rankes, wenn auch durchweg mit eigenem Gesicht. Das gilt zunächst für die gesamte Art .der O r g a n i s a t i o n w i s s e n s c h a f t l i c h e r S t u d i e n in Deutschland. 1858 hatte König Maximilian II. von Bayern auf Rat seines Freundes Ranke die »Historische Kommission bei der Akademie der Wissenschaften« in München geschaffen. Sie sollte der allgemeinen deutschen Geschichte dienen. Durch Herausgabe von Quellen und kritischen Darstellungen, durch die Jahrbücher der deutschen Geschichte, durch nationale Sammelwerke, wie die Geschichte der Wissenschaften in Deutschland und die Allgemeine deutsche Biographie, wollte sie zugleich die Pflegerin wie die Verkündigerin nationaler Größe sein. Und als in dem doppelt gegebenen Augenblicke aus Anlaß der fünfhundertsten Wiederkehr des Tages des Friedens von Stralsund, am 24. Mai 1870, der »Hansesche Geschichtsverein« ins Leben trat, wollte er mit seinen Publikationen der Hanserezesse und des Urkundenbuches die Münchener Kommission nur entlasten, mit seinem Geist nur weitere Gebiete erfassen. Diese Tradition der Ranke-Zeit, die korporative Bewältigung wissenschaftlicher Aufgaben ist wirksam geblieben bis auf unsere Tage. Nur daß, merkwürdigerweise wieder seit den achtziger Jahren, H i s t o r i s c h e K o m m i s s i o n e n in den einzelnen Landschaften der gesamtdeutschen Geschichte durch Lösung territorialgeschichtlicher Aufgaben erst den unentbehrlichen Unterbau geben. Heute ist fast das ganze deutsche Land mit einem Netz derartiger Vereinigungen überzogen, die in der Konferenz landesgeschichtlicher Publikationsinstitute etwas wie eine gemeindeutsche Geschäftsstelle besitzen. Denn von den älteren Geschichtsvereinen und ihrem Zusammenschluß zum Gesamtverein der deutschen Geschichtsund Altertumsvereine (1852) unterscheidet sie vor allem die Absicht auf planvolle und umfaßende Publikationen. Aber wie der Gesamtverein noch heute (unter Leitung von G. Wolfram) das stärkste persönliche Band zwischen den Landschaften bedeutet, so haben die Kommissionen fast überall auch ihren Ausgang genommen von den lebendigen lokalen Geschichtsvereinen. Zur Beschaffung größerer Mittel sind sie zeitig mit Landesbehörden und Kommunalverbänden in Beziehung getreten. So zuerst die Historische Kommission für die Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt. Dann in Formen wachsender Großartigkeit für die Gebiete des Westens, 1881 die »Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde« und 1883 die »Badische Historische Kommission«, beide noch heute führend durch die Fülle und den Wert ihrer Veröffentlichungen und die Trefflichkeit ihrer Organisation. 1891 folgte die württembergische, 1892 die steiermärkische, 1896 die königlich sächsische Kommission; 1897 gleich ein ganzes Bündel auf einmal, — für Nassau,

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für Westfalen, für Hessen und Waldeck, die in sich wieder zusammen im Anschluß an die rheinische Gesellschaft ein großes räumlich geschlossenes Gebiet decken. Im neuen Jahrhundert sind die Historische Kommission für das alte Großherzogtum »Hessen« und (1904) die »Gesellschaft für fränkische Geschichte« hinzugetreten, 1910 die zusammenfassende Historische Kommission für die Provinz Hannover, das Großherzogtum Oldenburg, das Herzogtum Braunschweig, das Fürstentum Schaumburg-Lippe und die Freie Hansestadt Bremen, selbst wieder ein Vorbild der Überwindung allzu harter Landesgrenzen durch freiwillige gemeinsame Arbeit. Für Schleswig-Holstein ist die rührige Baltische Kommission in die entsprechenden Aufgaben hineingewachsen. Noch bis in die letzten Jahre hinein reichen die Neugründungen; so für die Provinz Brandenburg (1925) unter dem Vorsitz von Ulrich Stutz. Die Unternehmungen aller dieser Kommissionen und Gesellschaften sind so mannigfaltig wie die Formen ihrer Organisation; einige sind provinzialständisch, andere freie Vereinigungen mit staatlicher oder kommunaler Unterstützung; wieder andere in ihren Organen zusammengesetzt aus Vertretern der Länder oder Provinzen und frei gewählten, meist gelehrten Mitgliedern. Alle sind rühmliche Zeugnisse der arbeitsfreudigen ehrenamtlichen Selbstverwaltung, auf die wir in Deutschland je länger je mehr den größten Wert legen müssen. Freilich, wie der Reichtum, so ist auch das historische Interesse in den Landschaften überaus ungleich und — wie immer im Leben — natürlich erst recht stark bedingt durch die jeweils tätigen Persönlichkeiten. So schwanken überall die für wissenschaftliche Arbeiten verfügbaren Mittel und dementsprechend Art, Umfang und Tempo der Veröffentlichungen. Darin sind nur alle Kommissionen und Gesellschaften wieder einig, daß sie im Sinne der aus dem letzten Menschenalter übernommenen kritischen Geschichtsforschung sich bemühen, die landschaftliche Uberlieferung zu sichten und in guten Editionen oder Verarbeitungen zugänglich zu machen. Unter den G e s c h i c h t s q u e l l e n stehen Chroniken und Urkundenbücher voran, doch hat man längst zur Bewältigung der Massen urkundlichen Materials weithin die Form der Regesten, d. h. der übersichtlichen, zeitlich geordneten, alles Wesentliche umfassenden Auszüge eingeführt. Die ältere Geschichte der meisten Dynastien, die Geschichte großer Bistümer, stellenweise (vorbildlich in Thüringen) die Geschichte eines ganzen Landes sind auf diese Weise in chronologisch aufgespeicherten Materialien überschaubar. Unter den Urkunden und Akten hat man fast überall den Landtagsakten und den Stadtrechten, dann auch wirtschaftlichen Aufzeichnungen, wie Urbaren, Handlungsbüchern und ähnlichen Quellen Interesse geschenkt. Ein besonderes Verdienst dürfen neben den Historischen Kommissionen die großen Geschichtsvereine für sich in Anspruch nehmen wegen der Pflege und Inventarisation der kleineren Archive, also der Städte, Pfarreien, Gesellschaften, vielfach auch der Familien und Familienverbände. Um einen Augenblick bei den D e n k m ä l e r n zu verweilen, die nicht nur der Herausgabe, sondern auch der dauernden Pflege bedürfen, so teilen sich die Kommissionen vielfach mit den Behörden in die Inventarisation der Kunstdenkmäler, die fast für ganz Deutschland in irgendwelchen Ubersichten großenteils bereits in wissenschaftlich vollendeten, liebevoll mit allen Mitteln der modernen Technik 12 Feiltchrift Schmidt-Ott

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ausgestatteten Prachtbänden bearbeitet vorliegen. Daß man in kunstreichen Gebieten, wie im Rheinland, kostbare Handschriften, alte Wandmalereien, auch Tafelbilder in großen Publikationen zugleich zu studieren, wie weiteren Kreisen zugänglich zu machen wünscht, versteht sich. In Hannover haben wir ähnlich die prachtvollen Renaissanceschlösser an der Weser in den Kreis der Veröffentlichungen unserer Kommission aufgenommen. Auf dem Gebiet der landschaftlichen Bildungsgeschichte findet man die Matrikeln der Universitäten, vor allem der später eingegangenen, deren sich heute sonst niemand mehr annimmt, wie Helmstedt und Altorf, sodann Studien zur Geschichte des Humanismus und mannigfache Materialien zur Schulgeschichte. Eine besondere Domäne der Historischen Kommissionen ist in zunehmendem Maße der landschaftlich begrenzte h i s t o r i s c h e Atlas. Das entspricht den unendlich verwickelten territorialen Verhältnissen des alten Deutschland, und es ist kein Zufall, daß gerade die Rheinlande mit ihren jahrhundertelang bis ins kleinste aufgelockerten Gebieten und den starken Veränderungen von Herrschaft und Verwaltung in der napoleonischen und preußischen Zeit auch hier die Führung haben. Doch steht gleich neben dem rheinischen Geschichtsatlas der von der Wiener Akademie durch ihren Präsidenten O. Redlich betreute Atlas der österreichischen Alpenländer und in offenbar umsichtiger Vorbereitung der sich anschließende bayrische. Inzwischen zeigen auch Nordwestdeutschland, Hessen und Westfalen vielversprechende Anfange, wie denn auch für die östlichen Provinzen des preußischen Staates seit geraumer Zeit umfassende Vorarbeiten geleistet worden sind. Eine Eigentümlichkeit der niedersächsischen Kommission ist der von P. J. Meier bearbeitete Städteatlas, von dem einstweilen der Band Braunschweig vorliegt; weitere folgen. Die Rheinländer dagegen sind neuerdings wieder darin vorangegangen, daß sie auf der Grundlage ihres großen Atlasses eine Handausgabe veranstaltet haben, womit zugleich der Versuch verbunden ist, das Kartenbild mehr als bisher zur Aufnahme statistischen Materials jeder Art zu verwerten. Das legt schon die moderne Reproduktionstechnik nahe. Aber auch die zunehmende visuelle Aufnahmebereitschaft unserer Generation. Die Illustration des Buches mit Bildern, Plänen und Karten ist gewiß vielfach ein von der Vertiefung in den Text ablenkendes und deshalb gefahrliches Werbemittel der Buchproduktion; es entspricht aber doch auch weithin dem modernen Anschauungs- und Übersichtsbedürfnis. Wie auf allen Lebensgebieten nutzt auch hier die Klage nichts, sondern nur das Bessermachen, d. h. die innere Anpassung der Illustrationen, der Karten und Tabellen an den Text und die wirklich methodische Ausnutzung aller dieser Möglichkeiten anschaulicher Darstellung. Hier wird sich auch der von der Notgemeinschaft in Angriff genommene Atlas für deutsche Volkskunde als eine moderne Form wissenschaftlicher Verarbeitung und Darstellung in den Zusammenhang unserer historischen Entwicklung einordnen, — ganz zu schweigen von seiner Hauptaufgabe, dahinschwindendes Volkstum wenigstens in Bild und Ausmaßen für die Nachwelt festzuhalten. Zu den landschaftlichen Historischen Kommissionen und Gesellschaften sind neuerdings noch einige gemeindeutsche Organisationen getreten. So hat die »KaiserWilhelm-Gesellschaft« neben ihren naturwissenschaftlichen Instituten auch ein

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historisches Institut begründet, das sich unter Leitung von Paul Kehr drei große Aufgaben gestellt hat, eine G e r m a n i a sacra nach dem Plane Brackmanns von 1908, eine Herausgabe der Korrespondenz Karls V. und die Briefe Wilhelms I. Der jüngsten Neuzeit, also dem 19. und 20. Jahrhundert, dienen die Historische Kommission für das Reichsarchiv (1920) und die am 13. Januar 1928 gegründete Historische Reichskommission, deren Arbeiten sich in der Richtung der schon 1917 von der Historischen Kommission bei der Münchener Akademie in Angriff genommenen Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts bewegen. Diesen vielgestaltigen landschaftlichen und nationalen Organisationen entsprechen die internationalen. Die universale Richtung der deutschen Geschichtswissenschaft ist ohne Forschungen in fremden Archiven und Bibliotheken nicht denkbar. Dazu aber bedarf es naturgemäß der internationalen Gegenseitigkeit ihrer Benutzung und auch sonst des internationalen wissenschaftlichen Austausches. Vor dem Kriege bestand sogar eine A s s o c i a t i o n der europäischen Akademien ; aber sie hatte sich nicht eigentlich historische Aufgaben gestellt. Dagegen haben einzelne deutsche Akademien seit langem Unternehmungen in Angriff genommen von durchaus internationaler Bedeutung. So begann die Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen 1896 auf Antrag von Paul Kehr das große Unternehmen einer Edition der älteren Papsturkunden (bis 1198). In methodisch vorbildlicher Weise und mit vielfach erstaunlichem Gewinn sind alle in Betracht kommenden europäischen Archive planvoll durchforscht und die Erträgnisse nach Empfangergruppen in den stattlichen Bänden der I t a l i a P o n t i f i c i a (Band 1—7), der G e r m a n i a P o n t i f i c i a und den Anfangen einer H i s p a n i a P o n t i f i c i a vorgelegt. Eine G a l l i a und eine A n g l i a P o n t i f i c i a sind in Vorbereitung. Der Münchener, der Wiener und der Berliner Akademie sind Historische Kommissionen angegliedert. Die Münchener hat uns schon beschäftigt; der Wiener verdanken wir die Monumenta der großen Konzilien, der Berliner die Herausgabe der A c t a B o r u s s i c a vorzüglich unter der Leitung von Schmoller, der Werke und der Korrespondenz Friedrichs des Großen, deren erste Bände seit 1879 von Reinhold Koser herausgegeben wurden, dem späteren Geschichtsschreiber des großen Königs (1893, 1903). Die Wiener Kommission für neuere Geschichte Österreichs hat die Staatsverträge und die Familienkorrespondenzen der Habsburger in Angriff genommen. Während der Kriegs- und Nachkriegsjahre haben sich die wissenschaftlichen Institute unserer Gegner zu den Mantelorganisationen der U n i o n des A c a d é m i e s für die Geisteswissenschaften und des C o n s e i l de r e c h e r c h e s für die Naturwissenschaften zusammengeschlossen. Entstehung und Verfassung dieser Organisationen verhindern noch eine Mitarbeit der Deutschen. Indessen auf einzelnen Gebieten und gerade auf demjenigen der Geschichte ist längst eine andere Form der internationalen Zusammenarbeit wieder gefunden worden. Vor dem Kriege gab es Internationale Historikerkongresse, fast zwanglos entstanden, zu Paris 1900 nur erst für vergleichende Geschichte, zu Rom 1903 schon viel umfassender und ebenso wie der dritte 1908 in Berlin und der vierte 1913 in London auch bereits zu bestimmten Resolutionen und Anregungen fortschreitend. Ein fünfter sollte 1918 12*

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in St. Petersburg stattfinden, wurde statt dessen etwas verspätet und unter Ausschluß der Mittelmächte in Brüssel abgehalten, — nicht ohne Protest aus Europa wie aus Amerika. So vereinigten sich Delegierte der vornehmsten Kulturländer am 14. und 15. Mai 1926 in Genf zu dem C o m i t é i n t e r n a t i o n a l des s c i e n c e s h i s t o r i q u e s , um eine wirklich internationale Organisation auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung zu schaffen. Deutschland war durch K. Brandi und H. Reincke-Bloch vertreten, von denen der eine im Vorstand, der andere (bis zu seinem allzu frühen Tode am 1. Januar 1929) als Leiter des internationalen bibliographischen Jahrbuchs tätig blieb. Neben der Erneuerung der Kongresse soll das Comité gemeinsame Unternehmungen fördern, wie die Bibliographie, die Sammlung der Diplomatenlisten unter Führung von L. Bittner-Wien, eine Ubersicht über die große Presse des 19. Jahrhunderts und ähnliches. Als sechster internationaler Historikerkongreß kam derjenige von Oslo unter Vorsitz von H. Koht im Herbst 1928 zustande, und der glänzende Verlauf zeigte die Möglichkeit einer Verständigung unter den Nationen der Welt, wenigstens auf wissenschaftlichem Gebiet. Im Jahre 1892 proponierte Hermann Baumgarten im Vorwort zum 3. Bande seiner Geschichte Karls V. »unseren großen Botschaften in London, Paris und Madrid historische Kräfte beizugeben, welche den Auftrag erhielten, die Anfragen deutscher Forscher zu beantworten, die von ihnen gewünschten Abschriften und Auszüge zu erleichtern«. Er meinte, diese wissenschaftlichen Kräfte könnten als Kenner der Geschichte auch den Botschaftern nützlich sein, und schloß, »also stelle man neben die militärischen und technischen auch historische Attachés«. Daraus ist nichts geworden, obwohl natürlich einzelne Historiker sich fortwährend der fürsorglichen Hilfe unserer Gesandtschaften erfreuen. Nur auf dem Boden Italiens, in Rom, wo einst Chr. K. J. v. Bunsen die Grundlage für das klassische archaeologische Institut legte, wo längst eine französische E c o l e de R o m e , seit einiger Zeit auch ein I s t i t u t o austriaco bestand, wurde 1890 wenigstens ein Preußisches Historisches Institut besonders für die Arbeiten im vatikanischen Archiv begründet, — eine Einrichtung, die Jahre lang über die römischen Archive hinaus im ersprießlichsten Zusammenwirken mit den italienischen Gelehrten viel für die Erforschung der allgemeinen wie der italienischen Geschichte geleistet hat. Die stattliche Reihe der »Nuntiaturberichte aus Deutschland«, die »Bibliothek des Preußischen historischen Instituts« und die »Quellen und Forschungen* aus italienischen Archiven und Bibliotheken sind die wertvollen Zeugnisse dieser historischen Legation. Dazu gesellten sich ähnliche Veröffentlichungen des Historischen Instituts der 1876 gegründeten Görres-Gesellschaft, die wesentlich durch diese Arbeitsstätte die gewaltige Leistung des C o n c i l i u m T r i d e n t i n u m in bisher acht starken Quartbänden vollbrachte. Seitdem ist der internationale historische Austausch auch sonst, wenigstens durch organisierte Besuche, gepflegt worden, wie durch die Woche der russischen Historiker in Berlin vom 7.—14. Juli 1928. Von den Großorganisationen der Wissenschaft mit ihren Werkstätten für Meister und Gesellen wenden wir uns zu den Lehrlingen. Der a k a d e m i s c h e U n t e r r i c h t hat gerade in unserer Periode den äußerlich wenigstens sehr bedeuten-

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den Fortschritt gemacht von den »Übungen« im Studierzimmer der Professoren zu den reich ausgestatteten Seminaren mit ihren beneidenswert schönen Arbeitsgelegenheiten. Das 1884 bezogene neue Universitätsgebäude in Straßburg zeigte zum ersten Male eine lange Flucht glänzend eingerichteter historisch-philologischer Seminare. Seitdem sind an allen Universitäten, bis heute wohl ausnahmslos, entsprechende Räume mit methodisch ausgewählten Handbibliotheken, Arbeitsplätzen und Sitzungszimmern geschaffen worden. Hier haben sich die Unterrichtsverwaltungen aller deutschen Länder die größten Verdienste erworben in der Bereitstellung von Mitteln für Räume, Bücher, Tafelwerke, Karten und neuerdings auch für vermehrte Lehrkräfte. Vor 25 Jahren habe ich in dem Bande »Das Unterrichtswesen im deutschen Reiche« — für die Weltausstellung in St. Louis 1904 — über den Geschichtsunterricht auf deutschen Universitäten berichtet. Im wesentlichen ist das damals gegebene Bild für die seitdem verstrichene Zeit noch zutreffend. Nur daß die schon damals vorwiegenden Entwicklungstendenzen in verstärktem Maße angehalten haben. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sind noch mehr gepflegt, vielfach im Sinne vergleichender Betrachtung und wahrer Gesellschaftslehre fortentwickelt. Daneben die entschlossene Hinwendung zur neuen und neusten Geschichte bis zur unmittelbarsten Gegenwart, — ein begreifliches und gesundes Streben, so lange darüber die Einführung in die vielleicht doch noch lehrreichere, weil abgeschlossene Geschichte der älteren Zeiten nicht leidet. Die Form der Vorlesungen hat sich, soweit man das allgemein sagen kann, nicht wesentlich verändert. Vielleicht ist der bibliographisch-polemische Stil etwas zurückgetreten, die freie Rede mehr entbunden. Immer muß auch heute noch gegenüber unüberlegten Forderungen betont werden, daß die einheitlich zusammenhängende Erörterung eines Stoffes durch die lebendige Persönlichkeit eines Vortragenden weder durch Bücher noch durch Übungen zu ersetzen ist. In den großen Vorlesungen lebt unsere ungeschriebene Wissenschaft ihr eigentliches Gegenwartsdasein. Allerdings sind die Übungen und Seminare mehr und mehr den Vorlesungen gleichberechtigt geworden. Statt des einen Seminars von früher gibt es abgestufte Übungen und Kolloquien, wohl organisiert als Proseminar, Mittelstufe, Oberstufe oder wie sonst die Bezeichnungen lauten. Das eigentliche Seminar soll über die Einführung in die Methode hinaus zu eigener wissenschaftlicher Betätigung erziehen. Seine Früchte sind die Dissertationen. Oft belächelt und doch im Kern noch richtig ist die Äußerung, die der Belgier Fredericq aus dem Munde Weizsäckers hörte und in seinem Bericht über das historische Studium in Deutschland festhielt: »Will bei uns jemand als Historiker eine Dissertation schaffen, so muß er sich auf ein Problem, so untergeordnet es auch sei, mit aller Energie verlegen und nicht eher ruhen, bis daß er die Überzeugung gewonnen hat, in dieser Sache der gelehrteste Mann der Welt zu sein«. Die Schule von Georg Waitz in Göttingen, dessen NachfolgerWeizsäcker(ti889) war, hatte seit den sechziger und siebziger Jahren fast alle Vertreter der mittelalterlichen Geschichte an deutschen Hochschulen gestellt; ihre Seminare galten als unerläßliche Schulung auch für diejenigen, die sich später der neueren Geschichte

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zuwenden wollten. Seit den achtziger Jahren ist die Führung mit denselben Folgen vorwiegend an die Schule von Paul Scheffer-Boichorst in Straßburg übergegangen. Von 1890 an entfaltete er eine noch umfassendere Tätigkeit in Berlin, wenn sie auch die Intimität der Straßburger Jahre nicht wieder erreichte. Neben SchefferBoichorst wirkten schulbildend insbesondere noch Harry Bresslau (erst in Berlin, dann in Straßburg) und Wilhelm Arndt in Leipzig. Eine besondere Stelle in dieser Organisation der Ausbildung junger Gelehrter zu Kritikern, Herausgebern und Dozenten nahm seit dem Lehrprogramm von 1874 unter Theodor Sickel (f 1908) das Wiener »Institut für österreichische Geschichtsforschung« ein. Angelehnt an die Idee und Organisation der Pariser E c o l e d e s C h a r t e s sollte das Institut in erster Linie junge Archiv-, Bibliotheks- und Museumsbeamte erziehen; es brachte darüber hinaus in der Tat Generationen kritisch und technisch hervorragend geschulter Historiker hervor. Sickel selbst gab die klassische Edition der D i p l o m a t a für die M o n u m e n t a G e r m a n i a e heraus und seit 1880 das charakteristische Werk der deutschen Schule, die »Kaiserurkunden in A b bildungen« (zusammen mit H. v. Sybel). W a s an reichsdeutschen Universitäten auf dem Gebiete der Palaeographie und Diplomatik wild gewachsen war, wurde durch das Vorbild der Wiener Schule zu systematischer Arbeit gezogen. Sickel und Mühlbacher in Wien, J. Ficker in Innsbruck blieben unsere Meister. Durch die Wiener Schule ging auch Paul Kehr, dem Heinrich v. Sybel als Chef der preußischen Archiwerwaltung 1894 die Archivschule in Marburg gründete mit ähnlichen Aufgaben wie das Wiener Institut. Ihm folgte der Kärntener Michael Tangl, ebenfalls aus Sickels Schule, dann K. Brandi als Schüler Scheffer-Boichorsts und des Österreichers Victor Bayer; später Haller, dann Brackmann aus Kehrs, Stengel aus Tangls Schule. Leider ist schon 1902 die Archivschule nach Berlin verlegt und damit erst recht auf den Nachwuchs für die preußischen Staatsarchive zugeschnitten, im letzten Jahre, wie man hoffen darf mit allgemeinerer Wirkung, reorganisiert. Etwas ähnliches ist im Rahmen der preußischen Bibliotheksverwaltung neuerdings geschaffen worden. Im übrigen behaupteten neben Wien und Berlin auf dem Gebiete der Palaeographie und des Mittellateins noch München und Göttingen ihre Besonderheit durch die Lehrtätigkeit von Ludwig Traube (f 1907) und Wilhelm Meyer (f 1917). Ludwig Traube erneuerte geradezu die wissenschaftliche Palaeographie und schuf die Grundlagen, auf denen heute die Amerikaner mittelalterliche Studien weiterbauen; Wilhelm Meyer trieb seine Handschriftenkunde an den Originalen und Reproduktionen des sehr alten Göttinger Diplomatischen Apparats, der jetzt noch die Heimstätte des 1908 begründeten »Archivs für Urkundenforschung« ist. Nimmt man alles zusammen, die zunehmend planvolle Ausbildung junger Historiker in der wissenschaftlichen Technik wie in der Beherrschung weiter Stoffgebiete, dazu die blühenden landschaftlichen und allgemein deutschen Organisationen der wissenschaftlichen Arbeit, die internationalen Beziehungen, den Reichtum der Hilfsmittel, die bequeme Zugänglichkeit der Archive und Bibliotheken, — so muß man die Vorstellung gewinnen von einer goldenen Zeit unserer Wissenschaft, von einer alle Vergangenheiten überragenden Möglichkeit der Höchstleistung.

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Indessen das alles betrifft doch nur die Werkstätten und das Material. Das Entscheidende bleiben die Persönlichkeiten, die aus den bereit gestellten Möglichkeiten erst Werte gewinnen. Mag immer der geschulte und innerlich aufgeschlossene Historiker im Verkehr mit den Quellen selbst die lebensvolle Verbindung mit vergangenen Wirklichkeiten finden, weiteren Kreisen kann sie jedenfalls nur die durchdachte und abgewogene historische Erzählung vermitteln. Die Erzählung bedarf ihrer Natur nach einer Herausarbeitung des Wesentlichen, einer inneren Verknüpfung der Erscheinungen, ja, sie glaubt in den Darstellungsmitteln, die sie dem Leben und der dichterischen Gestaltung des Lebens abgelauscht hat, Möglichkeiten der Wiedergabe menschlicher Dinge zu haben, die auch die streng wissenschaftliche Erzählung zum tiefsten Erlebnis zu machen vermögen und damit der letzten Aufgabe des Historikers gerecht werden, die Summe von Erfahrungen unseres Geschlechts zur reinsten Form zu verdichten. Der junge Ranke hat über das Wesen einer geschichtlichen Erzählung gesagt, er versuche »das Allgemeine unmittelbar und ohne langen Umschweif durch das Besondere darzustellen. Ich habe mich keinem Johannes Müller und keinem Alten, sondern der Erscheinung selbst anzunähern gesucht, — äußerlich nur Besonderheit, innerlich ein Allgemeines, Bedeutung, Geist. In und mit dem Ereignis habe ich den Gang und Geist desselben darzustellen gesucht und, jenem seine bezeichnenden Züge abzugewinnen, mich angestrengt.« Die deutsche Geschichtsschreibung der letzten fünfzig Jahre hat neuerdings in den Werken von M. Ritter (1919), G. v. Below, E. Fueter und A. Dopsch, (Bibliothèque der Revue historique 1927), eine gewisse Ubersicht gefunden. Ein neuer Versuch wird neben der Eigenart der Persönlichkeiten und der Tradition literarischer Formen vor allem die ungeheuren geistigen und politischen Umgestaltungen erfassen müssen, die sich gerade in Deutschland während der letzten fünfzig Jahre in gehäufter Steigerung abgespielt haben. Denn genau so, wie in jener früheren, unmittelbar von Ranke beherrschten Periode, ist auch in unserer Zeit neben der Tradition die Wechselwirkung von Geschichte und politischem Erlebnis zu spüren. Um das Jahr 1880 stand das deutsche Reich auf der Höhe seiner Macht. Die Weisheit und die Festigkeit des alten Kaisers gaben ihm Ruhe und Würde, die überlegene Einsicht und unvergleichliche Beherrschung der äußeren Politik durch Bismarck gegründetes Ansehen und politische Sicherheit. Die ersten inneren Schwierigkeiten des jungen Reiches waren überwunden. Neuen Sorgen schienen seit der kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 die Sozialgesetze wirksam zu begegnen. Auch rein wirtschaftlichen Nöten setzte man eine bewußte und entschlossene Politik entgegen. Handel und Wandel entfalteten sich. Seit 1883 gab es die Anfänge deutscher Kolonien. Großschiffahrt und Kriegsflotte folgten dem neuen Zug in die Weite. Das waren die Jahre, in denen sich unsere Geschichtswissenschaft in der alten Tradition der Reichsgeschichte, aber mit den Mitteln moderner Kritik aufs emsigste den Fragen der Verfassungsgeschichte und in steigendem Maße auch den Fragen der Wirtschaftsgeschichte zuwandte. Es tauchten die Probleme der Entstehung

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der deutschen Stadtverfassung auf, der Gilden und Zünfte, der Stadtwirtschaft und der Territorialwirtschaft. Sie wurden von den verschiedensten Seiten betrachtet und durch die gelegentlich entgegengesetzten, immer aber förderlichen Arbeiten von G. Schmoller (f 1917), R. Sohm (t 1917), Georg v. Below(f 1927), A. Schulte und Sigfried Rietschel (f 1912) in weitem Umfange auch gelöst. Unter den agrarischen Fragen trat die Bauernbefreiung in den Arbeiten Knapps und seiner Schule in den Vordergrund. Die Funktionen der Grundherrschaft und ihre Bedeutung für die Territorialbildung wurden erörtert und weithin geklärt; G. Seeliger wirkte da vielfach berichtigend; er führte auch die Quiddesche Zeitschrift (seit 1889) als Historische Vierteljahrsschrift weiter. Zur deutschen Verfassungsgeschichte trat die kirchliche; mit dem Begriff der Eigenkirche wurde von U. Stutz 1895 zuerst ein überaus aufschlußreiches Kapitel des geistlichen Benefizialwesens erschlossen. Von der spätmittelalterlichen Kirchenverfassung brachten die Arbeiten im Vatikanischen Archiv ganz neue Vorstellungen. Die Beziehung zur See entband nicht nur die alten hanseatischen Forschungen, sondern gab ihnen selbst mehr und mehr die allgemeinere Richtung auf die deutsche See- und Kolonialgeschichte. Vor allem aber konnte sich aus der glücklichen Stimmung des Erfolges und des berechtigten Stolzes auf die führenden Kräfte des preußischen Staates die zusammenfassende Geschichtsschreibung über das letzte Jahrhundert zu ihren höchsten Leistungen erheben. Wir wissen, daß Heinrich v. Treitschke, dessen fünf Bände deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert 1879 bis 1894 erschienen, von ausgeprägtester Einseitigkeit war. Er heißte so glühend, wie er liebte, und wer ihn noch in Vorlesungen gehört hat, weiß, zu welchen Schärfen er gerade auch gegenüber Unzulänglichkeiten des eigenen Staates fähig war. Aber aus der Wucht seines tapferen Herzens, aus dem starken Bewußtsein eines ehrlich durchkämpften Lebens gab er seiner Darstellung der wechselvollen ersten Hälfte des Jahrhunderts eine farbige Tönung und einen Glanz, wie sie die deutsche Geschichtsschreibung bis dahin noch nicht erlebt hatte. Als er kaum ein Jahr vor seinem Tode (28. April 1896) die Redaktion der »Historischen Zeitschrift« an Stelle ihres kurz vorher verstorbenen Gründers H. v. Sybel übernahm, leitete er den einzigen von ihm herausgegebenen Band ein mit dem großartigsten Bekenntnis zum Staat als dem vornehmsten Gegenstand aller Geschichte: »Die Historie will unserem Geschlecht ein denkendes Bewußtsein seines Werdens erwecken; dies Werden aber vollzieht sich in der Welt der sittlichen Freiheit, in der Welt des Wollens und des Handelns, und da die Völker nur in politischen Ordnungen zu wollenden Persönlichkeiten werden, so haben die res gestae der Völker, die Taten der Staaten und ihrer führenden Männer von jeher die breite Masse jeder historischen Darstellung eingenommen. Alle Zeiten haben vom rechten Historiker neben der Sicherheit kritischer Forschung zunächst Menschenkenntnis und politische Sachkunde verlangt. Nach dem übereinstimmenden Gefühl aller Völker, wogegen keine Doktrin aufkommt, sind die Männer der Tat die eigentlich historischen Helden«. Das Bekenntnis war nicht unnötig. Denn eben in diesen Jahren war ein lebhafter Streit über das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte, ja über das Wesen des geschichtlichen Prozesses selbst entbrannt, der aus den scheinbar für alle Zeiten festliegenden Geleisen der politischen Historie hinausdrängte. Dietrich

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Schäfer, der sich früh als die stärkste Kraft unter den hanseatischen Historikern erwies, hatte seine Tübinger Lehrtätigkeit 1881 mit einer Rede über das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte angetreten. Er bekannte sich darin so gut wie in seinem letzten tief besorgten und leidenschaftlich aufmahnenden Buche »Staat und Welt« (1922) zum Staat und zur Macht als den Voraussetzungen aller Freiheit, den Erweckern aller heroischen Tugenden. Indessen klang nicht minder tief aus dem Erfahrungsschatz alter Humanität die Warnung vor der Macht. So hatte Schlosser gelehrt: »Die Macht ist an sich böse«, und aus Jakob Burckhardts (t 1897) posthumem Werk, den »Weltgeschichtlichen Betrachtungen«, hallte es ebenso wider. Jetzt war es Eberhard Gothein, der sich schon 1886 in seiner »Kulturentwicklung Süditaliens« als feinsinniger Beobachter gerade auch volksmäßiger Lebensäußerungen erwiesen hatte und nun gegen Schäfer 1889 seine »Aufgaben der Kulturgeschichte« setzte. Man hatte das Gefühl einer Bereicherung der rein politischen Betrachtung. Aber wiederum war keine der von den verschiedensten Seiten herangebrachten Lösungen des heftig entbrannten Streites schlagender als diejenige Treitschkes, der betonte, wie die »Erkenntnis, daß der Staat nur in seiner Wechselwirkung mit dem gesamten Volksleben begriffen werden kann, nicht erst von gestern stammt«. Aber er gab zu, daß die »kulturhistorische Arbeit erst in unserem Jahrhundert zu klarem Selbstbewußtsein, zu voller Entfaltung ihrer Kräfte gelangt ist durch die Universalität der modernen Bildung, durch das wachsende Selbstgefühl der Mittelklassen und zu allermeist durch die gereifte Staatslehre. Seit der Staat als Gesamtpersönlichkeit, als das rechtlich geeinte Volk verstanden wird, fühlen die Politiker selbst die Pflicht, seine Formen aus der Mannigfaltigkeit des Kulturlebens heraus zu erklären.« Es ist bekannt, in welchem Maße gerade Treitschke vor allem in den literarhistorischen Einlagen seiner deutschen Geschichte dieser Forderung entsprochen hat. Im übrigen ist das Maß des Anteils volkstümlicher Kräfte an dem Gang des Geschehens in den einzelnen Zeiten überaus verschieden. M. Ritters große Geschichte der Gegenreformation (1889—1907) sah sich notgedrungen auf die kirchenpolitischen Probleme beschränkt. Erdmannsdörffer konnte das Zeitalter des Großen Kurfürsten (1892) unbefangener als einst Droysen und doch in vollendet politischem Stil darstellen, während um dieselbe Zeit das gleichfalls mit Recht gefeierte Buch Friedrichs v. Bezold, Geschichte der deutschen Reformation (1890), seine Eigenart und seinen Wert vorzüglich in den breiten kulturgeschichtlichen Einleitungen zeigte. Bezold hat diese Richtung in seinem reichen Lebenswerk über die mit Gothein und Koser verfaßte Darstellung von »Staat und Gesellschaft der neueren Zeit« (1908) bis zu seiner Geschichte der Universität Bonn (1922) aufs glücklichste inne gehalten. Im übrigen kamen, wie Treitschke schon angedeutet hatte, der gesamten Bildung immer neue Anregungen und Ausdeutungen von Seiten der Kirchengeschichte, der Literatur- und Kunstgeschichte. Es ist unmöglich, diesen weiten Arbeitsgebieten irgend nachzugehen, ohne sich völlig zu verlieren. Es mag nur zur Kennzeichnung des ersten Teils unserer Periode angemerkt werden, daß die deutsche Literaturgeschichte seit 1883 in Wilhelm Scherers oft aufgelegter Darstellung eine für lange Zeit klassische Gestaltung fand, daß seit 1888 die quellenmäßig wohl fundierte Kirchengeschichte

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Deutschlands von Albert Hauck (t 1918) wenigstens für das Mittelalter eine völlige Erneuerung bedeutete, daß die Geschichte der Kunst so gut aus formalkritischer Betrachtung und moderner Reproduktionstechnik, wie aus universalen Zusammenhängen gewaltige Bereicherung schöpfte und bei Zeiten die Grundlagen schuf für Georg Dehios prachtvolle deutsche Kunst. Auch das Sondergebiet der Kriegsgeschichte durfte in Hans Delbrücks originellem Wurf von 1887 über die Perserund Burgunderkriege den Auftakt erleben zu einer umfassenden Gesamtdarstellung (seit 1900). Dasselbe Bild auf dem Gebiet der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte. Im Jahre 1887 begann Heinrich Brunner (f 1916) den breiten Aufbau seiner deutschen Rechtsgeschichte, die für die germanische und fränkische ZeitWaitz' Deutsche Verfassungsgeschichte ersetzte, und schon 1889 konnte Richard Schröder es wagen, eine bis zur Gegenwart hin abgeführte deutsche Rechtsgeschichte anstelle des völlig veralteten Werkes von Eichhorn zu geben. Für die Wirtschaftsgeschichte bedeutete die dreibändige Zusammenfassung von K. Th. v. Inama-Sternegg (seit 1879) den ersten Versuch, dem es, wie so oft in solchen Fällen, zu verdanken blieb, daß Spezialdarstellungen bald darüber hinaus kamen. Als eine der wichtigsten erschien noch 1886 Karl Lamprechts »Deutsches Wirtschaftsleben auf Grund der Quellen, zunächst des Mosellandes«. Auf allen Gebieten also verheißungsvolle Ansätze. Sie hielten an, auch über den Veränderungen in der politischen und geistigen Struktur der Zeit. Das schon erwähnte Bekenntnis Treitschkes vom 10. Oktober 1895 gipfelte in der Bemerkung: »Was die Persönlichkeit der führenden Männer auch in freieren Staatsformen bedeutet, das können wir alle mit Händen greifen, wenn wir beobachten, wie tief sich das gesamte deutsche Leben, nicht bloß das politische, seit dem Tode unseres ersten Kaisers und dem Rücktritt seines Kanzlers verwandelt hat.« Feste Klammern fielen, alte Gegensätze spalteten sich tiefer auf, und die mehr gruppierten als geführten Parteien steigerten sich zu immer größeren Ansprüchen, ohne sich nach englischer Art auf die Staatsidee zu sammeln. Die schwersten Kämpfe um die Konstitution und gegen die Krone hatten nicht so auflösend gewirkt, wie die Kämpfe inkommensurabler Parteien gegeneinander. Und das alles unter merklicher Abnahme der Sicherheit des Reiches nach außen. Vielleicht war das wichtigste, »daß mit der rapiden Entwicklung und der ungeheuren Ausweitung der abendländischen Kultur die innere Mächtigkeit der Menschen nicht Schritt gehalten hatte.« Wir haben gewiß allen Grund, uns der Überkritik am »Wilhelminischen Zeitalter« entgegenzustemmen. Sie ist heute zu billig. Doch bleibt es wahr, daß die neue Zeit an innerer Kraft verlor, was ihr an äußerem Glänze zugefallen war. Sie entbehrte des gegründeten Glaubens; »ihren geistig führenden Schichten war die Relativität aller Werte und Formen zu tief ins Mark gedrungen. Sie umspannte alle Weiten der Kultur, aber sie vergaß darüber des einen, was nottut, des Mutterbodens aller schöpferischen Kraft. Wir kannten die sittlichen Werte aller Zeiten, aber wir handelten nicht darnach; unsere Augen umfingen die Schönheiten der alten und neuen Welt, aber sie gestalteten nicht; unsere eigene unendlich lehrreiche, schmerzliche und große Geschichte lag in ungezählten Einzelheiten vor uns ausgekramt, aber deshalb erlebten wir sie nicht«.

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Wohl waren wir universal und wurden es immer mehr. Im Jahre 1899 begann H. F. Helmolt eine Weltgeschichte in neun Bänden, die nicht mit Ranke von den Patriarchen des alten Bundes ausging, sondern von den ozeanischen Völkern als den Trägern eines sonst vergangenen Kulturstandes der Menschheit. Und als zwei Jahre nach Vollendung dieses Werkes J. v. Pflugk-Härtung 1909 eine neue Weltgeschichte ins Leben rief, da ließ er sie mit der »Vorzeit der Erde« und der »Entwicklungsgeschichte des Menschen« (aus der Feder von E. Haeckel) beginnen und in den Beiträgen von E. Brandenburg »Entstehung des Weltstaatensystems« und K. Lamprecht »Europäische Expansion in Vergangenheit und Gegenwart« ausmünden. Ein wirklicher Vorzug der deutschen Wissenschaft blieb ihre Aufgeschlossenheit für das Fremde. Zu ihren Verdiensten gehörte ein namhafter Anteil an der Erforschung der Geschichte fremder Staaten und Nationen. 1894 begann Alfred Stern seine Geschichte Europas von 1815—1871, die er in fast patriarchalischem Alter vollendet. Es waren Deutsche, die den Italienischen Stadtstaaten ihre Geschichte schenkten, Davidsohn Florenz (seit 1896), Kretschmayr Venedig (seit 1905), Hessel Bologna (1910). Selbst die Päpste erhielten ihr monumentales Geschichtswerk von einem Deutschen, Ludwig Pastor (seit 1886). E. Mayer faßte deutsche und französische Verfassungsgeschichte 1902 zusammen, R. Holtzmann führte die französische bis zur Revolution hinab (1910). Und in demselben Handbuch bot Schaube 1906 die umfassende »Handelsgeschichte der romanischen Völker des Mittelmeergebiets«, während A. Schulte schon 1900 fast jungfräulichen Boden erschloß mit seiner »Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien«. Die byzantinischen Studien wurden neu begründet durch K. Krumbacher (1890). Vollends ungehobene Schätze holte H. Finke seit 1902 aus dem Kronarchiv zu Barcelona zumal für Person und Politik Bonifaz'VIII; Baumgarten, der zwanzig Jahre früher eine spanische Geschichte geschrieben hatte, begann jetzt eine solche Karls V. (1886—92). Darüber versäumten wir doch nicht das Eigene. Mit dem Lutherjahr 1883 hatte die Reihe der »Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte« eingesetzt, und die Lutherliteratur entwickelte sich in Bereicherungen und Abwehr von der schönen Skizze Max Lenz' bis auf die fruchtbare Gelehrsamkeit von Otto Scheel, die tiefe Durchdringung von K. Holl und die glückliche Gestaltung von G. Ritter (1925). Neben dieses unvergängliche Vermächtnis deutscher Nation darf man sogleich das zweite setzen, das uns der große Kanzler mit seinen Gedanken und Erinnerungen (1898), seinen wundervollen Briefen und politischen Reden hinterlassen hat. Es war das erste Mal, daß uns so unmittelbar aus der Zeit heraus ein handelnder Staatsmann solchen Ausmaßes seine innersten Gedanken und seine weisheitsvolle, zuletzt sorgenvolle Weltbetrachtung enthüllte. Kein Wunder, daß sich so gut die verstehend eindringende Kritik, wie die dankbare Liebe alsbald dieser Schätze bemächtigte. Das Jahr 1902 brachte uns Max Lenz' Geschichte Bismarcks, 1909 den ersten Band von Erich Mareks. Die beiden Biographien bilden den Eingang einer bis heute unübersehbaren Bismarckliteratur, bis hinab auf A. O. Meyers »Bismarck am Bundestag« (1927) mit einer ganz neuen Erfassung der österreichischen Politik. Immer wieder holte man sich, erst Belehrung, später Trost aus der Zwiesprache mit dem Denken und Empfinden des Gewaltigen.

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Fragt man nach dem Gesamtbild deutscher Geschichte in dieser Zeit, so hatte 1880 G. Kaufmann eine deutsche Geschichte bis auf Karl den Großen begonnen; 1900 gab er eine politische Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert. Die Zwischenzeit blieb er uns schuldig. Sie war originell und doch nicht durchweg haltbar ausgefüllt von den 1882 zuerst veröffentlichten hinterlassenen Vorlesungen von Karl Wilhelm Nitzsch. Das Besondere an dieser Darstellung lag in der starken Berücksichtigung wirtschaftlicher und sozialer Kräfte schon für die Geschichte des Mittelalters. Das Verlangen nach solcher Art Geschichte wurde immer allgemeiner »durch die Universalität der modernen Bildung, durch das wachsende Selbstgefühl der Mittelklassen«. Man wollte sich nicht mehr genügen lassen an der heroischen Geschichte; man empfand wieCondorcet vor hundert Jahren : »Was wirklich das Menschengeschlecht ausmacht, die Masse der Familien, die fast nur von ihrer Arbeit leben, ist vergessen worden.« Diesen Massen konnte man natürlich nur durch Aufnahme von Massenerscheinungen gerecht werden und ihrem Anteil am geschichtlichen Leben nur durch die kollektivistische Betrachtung. Auf diese Art von Geschichtsauffassung war nach seinen bisherigen Studien Karl Lamprecht vorbereitet. Er schritt seit 1891 zu einer Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte, in der er nicht nur die wirtschaftlichen Triebkräfte zu ihrem Rechte zu bringen gedachte, sondern in bewußtem oder unbewußtem Anschluß an den Positivismus von Aug. Comte seine Theorie der Kulturzeitalter durchführte. Es handelte sich dabei einmal um die Betonung der kollektivistischen Faktoren der Geschichte und zum zweiten um die Annahme einer mehr oder minder strengen Gesetzmäßigkeit ihrer Auswirkung. Wie Comte durch seine »komparative historische Methode« allgemeingültige âges de c i v i l i s a t i o n gewinnen wollte, so strebte Lamprecht nach Darstellung einer zwingenden Abfolge von Kulturzeitaltern. Nur waltete insofern ein Mißgeschick über ihm, als er die tönernen Gefäße seiner Perioden mit einem vielfach gar zu leicht zusammengebrachten Inhalt füllte, so daß der Kampf gegen ihn zugleich von den Gegnern seiner Betrachtungsweise, wie von allen Vertretern einer sauberen Arbeitsmethode eröffnet wurde. Kein Zweifel, daß Lamprecht in diesem mehr als zwanzigjährigen Kampfe unterlegen ist und daß schließlich auch der vielfaltige Beifall rasch enthusiasmierter Dilettanten verstummen mußte. Der Kampf aber hinterließ doch allerlei wohltätige Klärung. Die deutsche Geschichtswissenschaft hatte sich mit diesen Problemen derartig praktisch noch kaum auseinandergesetzt ; die Namen von H. Oncken und O. Hintze wurden klingend neben denjenigen von Finke, Lenz und v. Below. Dazu trat in der Erörterung über die Kulturzeitalter der sehr viel ältere Begriff der historischen Perioden und ihrer Abgrenzung als eine Frage nicht nur der Darstellung hervor. Die Diskussion war hier eine ganz allgemeine, umfaßte alle Zeiten und Kulturgebiete. 1897 hielt U. v. Wilamowitz in Göttingen eine akademische Rede über »Weltperioden«, in der er aus dem Vergleich der griechischen mit der jüngeren europäischen Geschichte geradezu die rhythmische Wiederkehr von Altertum, Mittelalter, Renaissance, Barock, Rococco und Empire zu erweisen suchte. War in Deutschland einstens die Einteilung der Weltgeschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit entstanden, so wurde der Streit darüber nun ein Lieblingsthema dieser Jahre. Natürlich kam alles an auf die Abgrenzung des Mittelbegriffs. Seine Scheidung gegen das Altertum,

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wie gegen Renaissance und Reformation wurde strittig und führte auf höchst bedeutungsvolle Fragen, die wieder eng mit der Gegenwartskultur zusammenhingen. Wie weit war das Mittelalter mit seinen Institutionen vorwiegend germanisch bestimmt oder auf der antiken Welt aufgebaut ? Sind also die germanischen oder die romanischen Züge in der abendländischen Kultur die vorherrschenden? Diese Fragen gehörten zu den ältesten Streitpunkten der deutschen, insbesondere der französischen Verfassungsgeschichte. So lag in der erneuten Aufrollung dieser Probleme durch die beiden großen Arbeiten von Alfons Dopsch über die »Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit« (seit 1 9 1 1 ) und über die »Wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung bis auf Karl den Großen« (seit 1918) ein bedeutendes Verdienst. Nicht minder strittig erschien die Abgrenzung gegen die Neuzeit. An dem Renaissancebegriff rüttelte die Kritik nicht nur aus formalen Gründen. Hatte H. Thode 1885 in seinem Buch über »Franz von Assisi und die Anfange der Kunst der Renaissance« unter den Lebenskräften dieser Zeit, die man sich gewöhnt hatte als rational und heidnisch anzusprechen, die schwärmerischen und irrationalen wiederentdeckt, so führten K. Burdach seit 1893 seine Forschungen zur Geschichte der deutschen Bildung weiter auf die Zusammenhänge von Renaissance und Reformation. Noch entschlossener erklärte Karl Neumann dem hergebrachten Renaissancebegriff denKrieg. Was schön und trostvoll in Mittelalter und Renaissance sei, das stamme nicht aus der Antike, sondern »aus Barbarenkraft und Barbarenrealismus«. Dahinter stand die Sorge um eine echte, erlebte, nicht schulmäßig übernommene Kunst. Ich habe in jenen Jahren, Walter Goetz weiterführend, auch meinerseits versucht, das »Werden der Renaissance« aus der Entstehung des Begriffs zu verstehen (1908) und in dem Kampf um den Sinn der Zeiten die inneren Triebkräfte der Geschichte zu begreifen. »In der Gegensätzlichkeit der Auffassungen wirken weniger der böse Wille und der Unverstand der Historiker, als die unsterblichen Kräfte der Vergangenheit selbst; sie heischen ihr Leben noch von der Nachwelt«. In das Problem Renaissance und Reformation mischte sich mehrfach auch Ernst Troeltsch ein. Mit seinem Aufsatz über die »Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt« ist fast symbolisch die dritte Folge der Historischen Zeitschrift (seit 1906) eingeleitet. In den folgenden Jahren hat er regelmäßig seine nachdenklichen, wenn auch nicht leicht lesbaren geschichtsphilosophischen Aufsätze beigesteuert, die heute in seinen gesammelten Schriften einen so großen Raum einnehmen. Für unsere Wissenschaft bedeuteten sie ebensoviel Anlaß zur Selbstbesinnung wie Gefahr. Das früh vollendete Doppelgestirn Ernst Troeltsch und Max Weber stand in unserer Wissenschaft, wie in den benachbarten Gebieten der Theologie und der Staatswissenschaft über einer ideengeschichtlichen Hochspannung. Daß beide mehr und mehr an der Peripherie der eigentlichen Geschichte arbeiteten, brachte auch der von ihnen bevorzugte Begriff der Soziologie zum Ausdruck. Im Juni 1909 lud Max Weber ein zum Beitritt zu einer »Deutschen Gesellschaft für Soziologie«. Unter den soziologischen Problemen dieser Einladung fand man auch diejenigen der historischen und soziologischen Gesetze, die materialistische Geschichtsauffassung, die »heroistische und die kollektivistische Auffassung der Geschichte« und unendlich viel mehr. Das Schwer-

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gewicht dieser Probleme gehört offenbar der Philosophie und den Staatswissenschaften an, mag immer ihre Lösung in weitem Umfange nur mit historisch philologischen Methoden möglich sein. Die Verbindung der philosophischen Richtung mit der eigentlichen Geschichte stellte bei uns am deutlichsten Friedrich Meinecke dar, dessen schönes Buch über »Weltbürgertum und Nationalstaat« (1908) noch lange als das Muster ideengeschichtlicher Forschung gelten wird. Er gehört zu den Berliner Forschern, die ganz und gar in der Geschichte des deutschen Idealismus wurzeln und uns die große Zeit der Erneuerung des preußischen Staates in einer stattlichen Folge bedeutender Lebensbilder geschenkt haben. A n die Seite von Droysens York von Wartenburg waren Delbrücks Gneisenau (1882), Max Lehmanns Scharnhorst (1886), Meineckes Boyen (1895) getreten; Max Lehmanns große Biographie desFreiherrn vom Stein(i902—1905) vollendete die Reihe. Bei M. Lehmann glaubt man verfolgen zu können, wie sein reizbares Temperament sich bald hier bald dort zur Opposition gedrängt fühlte, schließlich aber doch aus der religiösen und ethischen Einheit seines Wesens mehr und mehr die Stimme des besorgten Warners annahm. Seine strenge Lebensgesinnung sträubte sich gegen die Maximen der Staatsräson, mochte sie ihm in alten oder neuen Zeiten begegnen; erst recht widerstrebte ihm geräuschvolle Anmaßung bei innerlicher Leere. Dagegen war ihm wohl ums Herz bei den Menschen um 1813. So ließ er noch einmal sein ganzes Pathos ausströmen in der Gedächtnisrede auf die große Zeit. Es war, als weihte er die Studenten von 1913 zum Kriege, als er ihnen am Schluß zurief: »Dienet dem Nächsten in Frieden und, wenn es sein muß, im Kriege. Seid bereit, Euer Leben dahinzugehen, sei es auf einmal im Kugelregen der Schlacht, sei es in aufreibender Friedensarbeit, im Heiligtum der Wissenschaft, in der Stille des Hauses, auf dem Markte des Lebens —«. Ein gutes Jahr darnach stand die gesamte wehrhafte Jugend wirklich im Feld. Die Hörsäle wurden leer, Professoren und Studenten zogen wie 1813 zusammen hinaus. Aber wie unendlich viel mehr blieben auf den Schlachtfeldern als ein Jahrhundert zuvor. Man gedenkt noch immer der Hoffnungsvollsten, wie Walter Sohm, Gerhard Schwartz, Bernh. Hagedorn, H. Thimme, L. Cardauns, Hans Niese, E. Vogt und H. Preuß, — junge Doktoren und Privatdozenten oder Professoren. Die Lücken, die in unseren wissenschaftlichen Nachwuchs gerissen wurden, waren auf lange hin kaum zu schließen. Und die Zurückkehrenden fanden ein äußerlich völlig verändertes Deutschland. Die Geschichtslehrer sahen sich vor die schwersten Probleme gestellt, da die Umwertung aller Werte und Autoritäten ihre eigenste Lebensarbeit ergriff. A n den Hochschulen selbst wankte es, und ihr größtes Verdienst wurde es, im ganzen Richtung gehalten und mit zusammengebissenen Zähnen weiter gearbeitet zu haben. Das alles wurde oft genug selbst von solchen, die es wissen mußten, nicht verstanden. Die ungeheure Aufgabe, die akademische Jugend treu und verantwortungsvoll in die neue Zeit hinüberzuführen, fiel in erster Linie den Historikern zu. Dazu teilten sie mit allen anderen Wissenschaften die unbeschreibliche Schwierigkeit, trotz innerer und äußerer Nöte die wissenschaftliche Arbeit, die großen Veröffentlichungen der Vorkriegszeit wieder in Gang zu bringen und weiter zu führen. Dabei schien unser Wirtschafts-

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leben in den Jahren der Inflation nur noch an Abgründen hinzugehen. Was unter solchen Umständen die H i l f e der N o t g e m e i n s c h a f t bedeutete, wird die Nachwelt so recht nur aus dem Bekenntnis der Mitlebenden entnehmen können. Die Notgemeinschaft hat nicht nur einzelne Unternehmungen, sondern den Glauben an die Möglichkeit der Wissenschaft in uns gerettet. Unter solchen Umständen wurde die Arbeit langsam in die alten Geleise zurückgeführt, aber vielleicht doch in neuer Gesinnung. Die starke philosophische Richtung der Vorkriegszeit blieb bestehen und nahm ihre besondere Richtung auf die Auseinandersetzung mit den tieferen Gründen der Kriegsschuldlüge. Die gesammelten Aufsätze von Ernst Troeltsch ( | 1923) über deutschen Geist und Westeuropa und Meineckes neues Werk über die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (1924) sind die Zeugnisse dieser inneren Auseinandersetzung. Dazu traten die langsam sich klärenden Erörterungen über die äußeren Vorgänge und tieferen Voraussetzungen, die zum Kriege geführt hatten. Eine unerhörte Flut von Anklagen und Enthüllungen, leidlich unbefangenen Memoiren und ostensiblen Rechtfertigungsschriften, von eigenen und fremden Akten bedrängte die Historiker, bis auch dieses ungeheure Material einigermaßen gesichtet und der Wahrheit nach und nach wieder eine Gasse gehauen wurde. Außer den unmittelbaren Kriegsproblemen meldeten sich zahlreiche Gegenwartsfragen, die nicht ohne Hülfe der Historiker zu lösen waren, wie das Recht des Grenzlandsdeutschtums, die Rheinlandfrage und die französische Besetzung. Auch hier wird der Name von A. Schulte wegen seines tapferen Buches über Frankreich und das linke Rheinufer (1918) immer mit Ehren genannt werden. Daneben die auch methodisch bewunderungswürdige Publikation von Hermann Oncken über die Rheinpolitik Kaiser Napoleons III. von 1863 bis 1870 (1926); für den Osten Walter Recke »Die polnische Frage als Problem der europäischen Politik (1927), und dann die fast unübersehbare Literatur zur großdeutschen Frage, aus der ich wiederum nur Oncken (1917), W. Schüssler, Österreich und das deutsche Schicksal (1925), und Willy Andreas, die Wandlungen des großdeutschen Gedankens (1929), heraushebe. In Österreich selbst regte es sich mächtig, und als ein stolzes Bekenntnis zum alten Staat schuf Heinrich Ritter v. Srbik, jetzt Bundesminister für Wissenschaft und Unterricht, sein großangelegtes Werk über Metternich. So bedeutete die Not überall Einkehr. Auch der Reichsdeutsche wandte sich mit neuer Leidenschaft alten Problemen zu. J. Haller ließ die »Epochen der deutschen Geschichte« an der Gegenwart vorüberziehen, herb und vielfach anklagend. Hampe führte aufs neue die Kaisergestalten herauf, und das Problem des alten deutschen Kaisertums wurde wie vor sechzig Jahren umstritten; die Streitrufe großdeutsch und kleindeutsch lebten wieder auf, bei aller Schärfe der Auseinandersetzung doch Ausdruck des allen gemeinsamen Problems. Und auch die Kleinarbeit, die Vertiefung in die deutsche Landschaft, eine neue Verwurzelung mit dem Mutterboden wirkte sich in dem lebensvollen Buche Albert v. Hofmanns über das deutsche Land und die deutsche Geschichte (1920) ungemein fruchtbar aus. In tapferer Arbeit im großen und im kleinen wurde das Gespenst verscheucht, das sich den heimkehrenden Kriegern als »Untergang des Abendlandes« entgegengestellt hatte. Noch tragen wir Wunden und Narben, aber auch in der Wissenschaft sind Lebensmut und Zuversicht wieder eingekehrt.

ADOLPH GOLDSCHMIDT KUNSTGESCHICHTE Zwar lassen die Probleme jeder wissenschaftlichen Disziplin sich von verschiedenen Seiten angreifen, aber es scheint, daß die Kunstgeschichte solcher Seiten besonders viele hat, und demzufolge stehen nicht nur nebeneinander Forscher mit sehr verschiedenartigen Fragestellungen, die sie dem Stoff entgegenbringen, sondern es lösen sich auch zeitlich die Perioden ab, in denen auf die eine oder die andere Betrachtungsweise der größere Nachdruck gelegt wird. Man kann die Kunst historisch behandeln als eine Folge von Erscheinungen, die in Parallele oder in Verknüpfung mit den übrigen historischen Tatsachen steht, und kann die Kreise beliebig weit ziehen, in denen nicht nur zu der politischen Geschichte, sondern auch zur Literatur und zur allgemeinen Kulturgeschichte Beziehungen aufgewiesen werden. Man bettet die Kunstgeschichte gewissermaßen ein in den allgemeinen Weltverlauf. Man kann ferner die Kunstgeschichte ansehen als eine Klarlegung der Formenentwicklung und ihr damit ein ganz anderes, den übrigen historischen Disziplinen selbständig gegenüberstehendes Ansehen geben. Je mehr derartige Betrachtungen das Gesetzmäßige suchen und die Begründung in der psychologischen oder biologischen Konstruktion des Menschen nachweisen wollen, um so mehr begibt sich die Forschung auf das ästhetische Gebiet und geht ein in eine allgemeine Kunstwissenschaft, die auch die übrigen Künste in ihren Schoß aufnimmt. Zu sublimieren scheint sich die Kunstgeschichte dann in der sogenannten geistesgeschichtlichen Darstellung. Man bringt alle Lebensäußerungen über einen Nenner und glaubt durch diesen zum innersten Kern zu dringen. Was dadurch für das allgemeine Menschentum gewonnen wird, geht für die eigentliche Kunstgeschichte als gesonderte Disziplin leicht verloren. Und endlich kann man von einer interpretierenden Kunstgeschichte sprechen, die es sich zur Aufgabe macht, das Kunstwerk nach seinem gegenständlichen und ästhetischen Inhalt dem Betrachter verständlich und genießbar zu machen. Es ist dies die einem größeren Publikum zugänglichste und von ihm am meisten geforderte Form. Sie appelliert zugleich an das Auge und an logische Einsicht, sie enthusiasmiert, indem sie die Genußmöglichkeit erhöht. Sie regt an zum Verständnis oder auch zum Nachsprechen. Von ihrem Vertreter verlangt man eine literarische Begabung, die ihn zum geschickten Interpreten oder auch zum Dichter werden läßt. Hinter all diesen verschiedenen und wechselnden Arten der Behandlung aber liegt eine Konstante, ohne die der eigentliche Fortschritt der Kunstgeschichte nicht zu denken ist, und die, vielleicht gerade weil sie die notwendigen Grundlagen bildet, am wenigstens an die Oberfläche tritt. Das ist die Präparierung des Materials, die kritische Sonderung der Objekte, die das Substrat der kunstgeschichtlichen Erörterung bildet. Es ist die Aufspürung der Dinge selbst, die Feststellung ihrer Personalien, das heißt der Umstände, unter denen sie entstanden, wo und wann sie geschaffen wurden. Erst auf diesen Voraussetzungen können die übrigen Schluß-

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folgerungen Glaubhaftigkeit gewinnen. Sie liefern die Steine zum historischen, formanalytischen und bewertenden Aufbau. Die Bedingungen zu einer solchen Festlegung der Objekte sind möglichst umfassende Kenntnisse des vorhandenen Materials und der darüber bekannten Tatsachen, ein scharfes, unterscheidendes Auge, das durch viele Übung zum Kennertum führt, und ein Qualitätsgefühl, das zum Urteil ermöglicht, ob ein Werk einheitlicher Konzeption entspringt oder ob es nachahmt oder zusammengewürfelt ist. Man kann sagen, daß diese unter allen Betrachtungsweisen fortlaufende Forschung etwa der Nachahmung der Natur in der Entwicklung der Kunst selbst analog erscheint. Denn so mannigfaltig auch die Stilformen der Kunst wechseln, sie gründen sich immer wieder auf der durch Beobachtung fortlaufenden Annäherung an die optische Realität. Die Kunstgeschichte hat es noch immer nicht ganz leicht, sich als wissenschaftliche Disziplin überall durchzusetzen. Sie hat allzuleicht einen dilettantischen Beigeschmack, der sie in Mißkredit bringt. Es wird viel über Kunst geredet und nachgesprochen, gesellschaftliche Konversation mischt sich mit sachverständiger Diskussion, und der Unterschied zwischen schöngeistigem Interesse an Kunstwerken und wissenschaftlicher Forschung liegt nicht immer klar zutage. Es kommt hinzu, daß die Adepten der Kunstgeschichte sich zu einem großen, ja man kann vielleicht sagen, zum größten Teil, nicht auf geradem Wege und unter eindeutigem wissenschaftlichen Drang zu dieser Disziplin begeben, sondern sich zunächst einem andern Beruf zuwenden oder ein anderes Studium ergreifen. Dies hat verschiedene Gründe: in der älteren Zeit war die Kunstgeschichte überhaupt kein offizielles Universitätsfach, und man wäre unter diesem Titel nicht als legitimer Gelehrter angesehen worden, so daß die Beschäftigung mit der Kunst mehr als ein privates Interesse galt. Eine ganze Reihe unserer bedeutendsten Kunsthistoriker sind diesen Weg gegangen und sicherlich nicht zum Schaden. Dem gegenüber allerdings tritt in unserer Zeit auch nicht selten der Fall ein, daß erst, wenn das Interesse an dem zuerst ergriffenen Studium erlischt oder die geeigneten Fähigkeiten dazu fehlen, zur Kunstgeschichte gegriffen wird als zu einem Fach, das auf der Basis der Kunstliebe, des Museumbesuches, der Reiseerlebnisse Erfolg verspricht, ohne daß dabei die Arbeitsaskese und die ausdauernde Energie, die hier wie in jeder ernsthaften Wissenschaft erforderlich ist, in Rechnung gebracht wird. In anderen Fällen, wo eine Begabung zu ausübender Kunst vorhanden ist und der Wunsch, die Künstlerlaufbahn zu ergreifen, zunächst zur Ausführung gelangt, dann aber doch die Unzulänglichkeit des Talents sich herausstellt, wird des öfteren die Kunstgeschichte als ein Ersatz von weniger offensichtlicher Betätigung ergriffen. Allerdings ist klar, daß ohne künstlerisches Empfindungsvermögen, ohne die Fähigkeit der Qualitätsunterscheidung die Beschäftigung mit Kunstwerken auch in rein historischer Form unfruchtbar und blutlos bleiben muß, aber es muß vorausgesetzt werden, daß daneben ein wirklicher Forschungstrieb vorhanden ist, der die Erscheinungen in logischen Zusammenhang zu bringen sucht, sonst bleibt es bei einer subjektiven Würdigung, die als literarisches Erzeugnis von großem Reiz und von anregender Bedeutung sein, aber nicht den Anspruch wissenschaftlicher Forschung machen kann. 13 Festschrift Schmidt-Ott

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So ist also der Zugang zu diesem Studium gefährdet, um so mehr als verlockende Aussichten auf viele Reisen und gesellschaftliche Verknüpfungen ihre Anziehung nicht verfehlen. Und diese Gefahr ist bei der jetzigen wirtschaftlichen Lage um so größer, als den meisten die Mittel fehlen, diesen allerdings mit dem Studium verbundenen Umständen Rechnung zu tragen. Während früher nur selten jemand sich dem Studium der Kunstgeschichte zuwandte, der nicht finanziell so gestellt war, daß er nicht nur während seiner Universitätsjahre die zur Abfassung seiner Doktordissertation in den weitaus meisten Fällen notwendigen Reisen unternehmen, sondern auch nach der vollendeten Universitätszeit seine Ausbildung durch Besuch der wichtigsten Museen in Deutschland, in London und Paris vervollständigen und für weitere Arbeiten Material einheimsen konnte, außerdem auch nicht darauf zu rechnen brauchte, so bald eine Anstellung zu finden, muß jetzt diese Ausbildung verkürzt werden, da das Bedürfnis, so schnell wie möglich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, schon während des Studiums selbst zu Nebenbeschäftigungen, nachher aber gleich in eine praktische Laufbahn treibt, für die die Bedingungen ebenfalls noch ungünstiger geworden sind. Gerade die Kunstgeschichte dankt der Notgemeinschaft in vielen Fällen, daß diesen beiden Übeln in der Ausbildung, dem Mangel an freier Arbeitszeit und der Unmöglichkeit zu reisen, abgeholfen wird. Mit den vorher geschilderten Umständen beim Ergreifen des kunstgeschichtlichen Studiums hängt auch die große Teilnahme des weiblichen Geschlechtes zusammen. Das Studium der Frauen hat ja seit 50 Jahren allmählich in alle Disziplinen Eingang gefunden, in der Kunstgeschichte nimmt es aber, vielleicht neben der neuen Philologie und Literaturgeschichte, einen besonders großen Raum in. Es liegt auf der Hand, daß dies mit dem Charakter, oder man sollte besser sagen, mit den Objekten des Faches zusammenhängt. Ihnen stehen bei dem Widerstand der Museen noch weniger Stellen zur Verfügung als den Männern, und es ist gut, daß eine beträchtliche Zahl durch die Ehe ihrer Fachlaufbahn entzogen wird. Dabei ist die Zahl der Studierenden der Kunstgeschichte beständig im Wachsen, und die Erleichterungen, die ihnen in den kunstgeschichtlichen Universitätsinstituten geboten werden, kommen der Bequemlichkeit immer mehr entgegen. Eine große Veränderung ist in den letzten 50 Jahren mit den Hilfsmitteln beim Studium und beim Unterricht vor sich gegangen. In den Universitätsvorlesungen der achtziger Jahre zirkulierten im besten Fall Abbildungen der besprochenen Werke. Nur selten waren diese so groß und die Zuhörerzahl so klein, daß es genügte, sie vorne aufzustellen. Die Photographien, die es gab, waren auch vielfach noch recht mangelhaft, und oft trat an ihre Stelle eine unzulängliche Abbildung in Holzschnitt oder Kupferstich. Sie gelangte zu dem größten Teil der Hörer, wenn schon längst von etwas anderem die Rede war, und so hatte man zu wählen, ob man zuhören oder sich das Gesagte ins Gedächtnis zurückrufen wollte. Hermann Grimm in Berlin gehörte zu den ersten, die mit der Projektion von Lichtbildern begannen. Diese waren von immenser Größe, und eine winzige Dürerzeichnung füllte die ganze Wand des Auditoriums. Das hat sich mit der Zeit etwas reguliert, aber noch

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immer bleibt die Größe der Lichtbilder außer Proportion zum Größenverhältnis der Originale, wodurch sich eine ganz unmaßgebliche Vorstellung der Ausdehnung des Objektes beim Beschauer bildet. Der nächste Fortschritt bestand darin, daß man zwei verschiedene Glasbilder zugleich auf die Wand projizieren konnte, eine Einrichtung, die häufig auf Schwierigkeiten stößt, aber für den Unterricht sehr wesentlich ist, da das Auge unmittelbar vergleichen kann und sich damit erst die Eigentümlichkeiten eines Werkes ganz klar machen kann. Trotz guten Formengedächtnisses versagt nach Verschwinden eines Bildes die Erinnerung an Einzelheiten, und mit dem neuen Bild treten Fragen auf, die man dann zu beantworten nicht imstande ist. Ganz besonders ist dies wichtig bei der Abhaltung von Übungen, und diese verdienen im Unterricht einen immer größeren Platz gegenüber den Vorlesungen einzunehmen, da die Mitarbeit hierbei viel intensiver ist. So sehr diese Gegenwart des Abbildes ein Vorteil bei Übungen gegenüber manchen andern Disziplinen sein mag, so ist die damit bisher meist noch verbundene Dunkelheit des Raumes ein Nachteil. Nur schwer erhebt sich aus dem Dunkel eine antwortende Stimme, denn es fehlt der Zwang des fragenden Blickes des Dozenten, und der zurückhaltenden Bescheidenheit des Studenten bietet sich bequeme Deckung. Ungeheuer gewachsen ist allmählich das Reproduktionsmaterial, die Photographie hat sich beständig verbessert, und der Umfang dessen, was in Photographien zu haben ist, ist ins Ungeheure gestiegen, abgesehen davon, daß die meisten Jüngeren Wichtiges für ihre eigenen Arbeiten selbst photographieren. Auch die farbige Wiedergabe ist in der Entwicklung, und besonders erscheinen die Handzeichnungen in täuschendem Faksimile. Dadurch füllen sich Universitätsinstitute, Museen und Bibliotheken immer mehr, und es kann viel stärker als früher ein großer Teil der Arbeit durch das Hantieren mit diesen Produktionen erledigt werden. Natürlich nicht alles, und zwar das Wesentliche nicht, das nur durch Studium der Originale erfaßt wird. Aber Vorbereitung und Hilfe ist dadurch in erheblich größerem Maße vorhanden. Vielleicht nicht immer zum Vorteil der Leistung. Denn in der Zeit spärlicher oder gar keiner Photographien mußte man sein Formengedächtnis stärker trainieren, man mußte aus der Erinnerung vergleichen und konnte nicht in jeder Hand ein genaues Abbild halten oder in dem Haufen einschlägigen reproduzierten Materials nach Ähnlichem suchen. Das Kunstwerk als Eindruck im Ganzen blieb stärker haften, während mit dem Photographiematerial das Eingehen auf Einzelheiten und das Auftauchen von Problemen gegenseitiger Beziehungen sich vermehrte. Ebenso läßt sich darüber streiten, wie weit mit dem Vorteil auch ein Nachteil dadurch verbunden ist, daß es dem Studierenden mit der Fülle des Abbildungsmaterials und der Bequemlichkeit der Institute so leicht gemacht wird. Es wird viele Mühe gespart im Suchen, aber mit der Bemühung war früher auch eine größere Auslese der Kräfte gewonnen. Wenn man die letzten 50 Jahre der kunstgeschichtlichen Forschung überschaut, so hat am Anfang dieser Zeitspanne die historische Form das Übergewicht. Männer, wie Anton Springer, Carl Justi, Hermann Grimm, Jacob Burckhardt, Henry Thode und andere, können als ihre Vertreter gelten, so sehr verschieden sie auch untereinander sind. Die allgemeine Geschichte gehört zum Rahmen ihrer Darstellung, 13*

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innerhalb dessen sie entweder der einzelnen großen Persönlichkeit oder einer ganzen Kunstgruppe ihre Darstellung widmen, entweder das Erklären oder das Genießen in den Vordergrund rücken, entweder sachlich nüchtern oder panegyrisch schildern. Man kann eben eine summarische Gruppierung der Vertreter des Faches nur ganz im Groben vornehmen, denn gerade die bedeutenden Persönlichkeiten dieser Epoche haben sich so eindringlich in ihren Stoff vertieft, daß man ihrer Art nicht mit einem Schlagwort Genüge tun kann. Immerhin ist deutlich wahrnehmbar, daß mit dem Ende der achtziger Jahre eine neue Anschauungsweise in den Vordergrund rückt, welche die Kunstgeschichte von der historischen Bemutterung zu befreien versucht, indem sie ihr ihre besondere Untersuchungsmethode zuweist, die ihr den andern historischen Wissenschaften gegenüber eine größere Selbständigkeit verleiht. Die Vertreter dieser Forschungsart sind vor allem August Schmarsow, Heinrich Wölfflin und Alois Riegl. Aber auch hier herrscht keineswegs Gleichartigkeit. Zwar gehen alle auf das Gesetzmäßige hinaus, gemäß dem sich die Formen einer Zeit als Überpersönliches wandeln. Aber während bei Schmarsow der Nachdruck auf dem Abstrakten liegt, spielt bei Wölfflin die Repräsentation des Gesetzes durch die Gesinnung der Künstlerpersönlichkeit, durch Werk und Wertigkeit die Hauptrolle, bei Riegl dagegen gerade das Absehen vom Wert gegenüber einer fortlaufenden Wandlung. Auch Wickhoff hat die verschiedenen Darstellungsprinzipien herausgearbeitet und Dvorak in seinen Studien über die Van Eyck die Wandlungsgesetze zur Kritik einzelner Künstler verwandt. Dvorak ist aber auch zugleich derjenige gewesen, der, nachdem die formale Analyse einen außerordentlich starken Einfluß auf die ganze Generation ausgeübt hatte, gegen Ende des Weltkrieges wieder umschlug zur geistesgeschichtlichen Betrachtung, nicht er allein, sondern eine Anzahl jüngerer Gelehrter mit ihm zugleich, und so mündete die Kunstgeschichte wieder ein in die Gesamtgeschichte, nur mit dem Unterschied, daß es sich jetzt weniger um die Tatsachen der Weltgeschichte handelte, als um die Geistesrichtungen, wie sie sich in der Literatur, in Religiosität und Sitte äußerten. Es ist eigentlich keine dritte Betrachtungsform, sondern eine Reaktion gegen die formale Kategorisierung, die gegenüber der ersten historischen Betrachtungsweise nur als eine Art Verfeinerung angesehen werden kann und von manchen unberechtigten Vertretern auch als solche unterstrichen wird. Will man prophezeien, so kann man über kurz oder lang wieder einen Pendelschlag zur Formenanalyse annehmen. Auffallend ist, daß in der Bücherproduktion gleichzeitig mit der geistesgeschichtlichen Richtung eine Flut von Bilderbüchern erschienen ist, bei denen das Lesen ganz in den Hintergrund tritt. Es erscheint wie ein Gegengewicht, daß das Auge statt des Intellektes beschäftigt werden will. Die Freude des Betrachtens ist gesuchter als die Aufnahme von Erkenntnissen, die Aufforderung zum selbständigen Urteil sympathischer als die Belehrung über Wesen und Zusammenhänge. Doch auch das ist schon wieder im Schwinden. Es darf nicht Wunder nehmen, wenn nur einige wenige Namen genannt sind und die Reihe so vieler bedeutender Kunstforscher fehlen, aber sie gehören eben zu den Vertretern der Konstante, denen es nicht an der Teilnahme an besagten Richtungen fehlt, die aber nicht damit erobernd vorgegangen sind, wie ja überhaupt

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diese verschiedenen Betrachtungsweisen nie ganz zu isolieren sind, und z. B. Dehio, der ganz als Historiker und Sachforscher begonnen hat, ebensowohl den Titel des Geistesgeschichtlichen beanspruchen kann. Schließlich mündet ja überhaupt jede Kunstgeschichte in die Geschichte des Geistes. Ein Werturteil über die einzelnen Phasen und Richtungen verbietet sich daher auch; sie alle haben ihre Bedeutung in der Kunstforschung, und sie alle haben in sich selber ihre Qualitätsunterschiede ebenso wie die Kunstwerke selbst. Wie ein Kunstwerk am höchsten steht, wenn es die größte Vielheit von Befriedigungen auslöst im Gegenständlichen, Formalen und Artistischen, so wird auch dasjenige Werk Kunstgeschichte in erster Reihe stehen, das neben seinem bestimmten Standpunkt doch Kenntnis der übrigen Anschauungsweisen bezeugt und ihre wertvollen Resultate sich zu eigen gemacht hat.

EDWARD SCHRÖDER DEUTSCHE PHILOLOGIE Die gewiß ehrenvolle Aufgabe, im Rahmen dieser Festschrift über die Entwicklung meiner Wissenschaft im Laufe der letzten fünfzig Jahre zu berichten, hab ich nicht ohne Zögern übernommen, und auch vor und noch während der Niederschrift mußte ich gegen den Zweifel ankämpfen, ob ich nicht lieber diesen Rückblick einem jüngern Kollegen hätte zuschieben sollen, der, sagen wir zu Anfang dieses Jahrhunderts in die gelehrte Arbeit eingetreten, heute noch getrost an die Verwirklichung großer eigener Pläne denken darf, sich noch ganz als Mitschaffender neben einer heranwachsenden jüngeren Generation fühlt. Nicht als ob ich oder meine Leser besorgen müßten, daß ich zum laudator temporis acti würde: ich freue mich von Herzen an jeder tüchtigen jungen Kraft, an jeder starken Leistung, vor allem auch auf neuen Bahnen, und ich weiß den frohen Optimismus auch da zu werten, wo er sich etwas selbstbewußt eines Programmes rühmt, für das die Leistungen vorläufig noch ausstehen. Aber die Tatsache daß ich unserem hochverehrten Jubilar um zwei volle Jahre voraus bin und schon seit einiger Zeit zu den alten Herren gehöre, ist nun einmal nicht wegzuschaffen. Anderseits darf ich auch meine Eignung für die vorliegende Aufgabe nicht ganz ableugnen: gerade vor 50 Jahren hab ich in Straßburg meine Doktorprüfung bestanden, dieses halbe Jahrhundert umspannt also genau meine eigene wissenschaftliche Tätigkeit, der zwar nicht starke Produktivität, aber doch gewiß Vielseitigkeit zuerkannt werden muß; als Schüler von Scherer, Müllenhoff and ten Brink hab ich mir den Kreis der wissenschaftlichen Interessen von vornherein weit gesteckt, und die bald vierzigjährige Redaktion der Zeitschrift und des Anzeigers für deutsches Altertum und deutsche Literatur läßt es als selbstverständlich erscheinen, daß ich mit wachen Augen den weiten Kreis, die neuen Aufgaben, den Zuwachs der jungen Mitarbeiter beobachtet habe. Ich nenne unser Gesamtfach »deutsche Philologie«: in dem weiten Sinne, den Jacob Grimm seiner »Deutschen Grammatik« gab. Im Rahmen der »germanischen Philologie« nehmen sich Storm und Keller, denen unsere Arbeit so gut wie Walther v. d. Vogelweide und Wolfram v. Eschenbach gilt, etwas fremdartig aus, und das unschöne Geschäftswort »Germanistik« sollte man auf die Antiquariatskataloge beschränken. In der »Philologie« aber finden nicht nur die neuerdings etikettierte »idealistische Philologie«, sondern jede Form ernster und strenger Geistesgeschichte so gut ihr Unterkommen, wie die Realien, soweit sie als Zeugen der Kulturentwicklung behandelt werden. Die junge »Deutschkunde« spannt ihren Rahmen weiter und wendet sich an weitere Kreise. Es ist für unsere Wissenschaft ein gar nicht hoch genug zu preisendes Glück gewesen, daß ein Mann von der universalen gelehrten Bildung und dem tiefgefesteten Volkstum Jacob Grimms am Eingang ihrer Geschichte steht — denn alles was ihm vorausliegt, ist nur Vorgeschichte. Er knüpfte von vornherein das enge Band mit der vergleichenden Sprachforschung, ohne das die Fortbildung der deutschen Grammatik nicht zu denken ist, er war Rechtshistoriker und Religions-

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erforscher, er wurzelte in der engsten Heimat und beherrschte die Sprachen und das Volkstum der germanischen Welt — und er und sein Bruder Wilhelm standen Goethe nahe und waren durch engste Freundschaft mit den Führern der jungen Romantik verbunden. Für sie konnte es noch keinen Unterschied zwischen »Altgermanistik« und »Neugermanistik« geben, wie man ihn neuerdings hat festlegen wollen. Das Gesamtwerk der Brüder Grimm zeigt eine großartige Einheit, wobei Wilhelm zu dem Bilde des überragenden älteren Bruders bescheidene eigene Züge hinzufügt. Es ist nur wenigen der Spätem möglich gewesen, die Wissenschaft von deutscher Sprache, deutscher Literatur und deutschem Wesen in ähnlichem Umfang zu umfassen, keinem einzigen, ihr auf allen Gebieten durch tätige Leistung zu dienen. Aber dieses Bild des Altmeisters hat unsere Wissenschaft vor Zersplitterung bewahrt und muß sie auch weiter davor schützen. Damit ist nicht gesagt, daß wir in der Lage gewesen seien, den Gesamtumfang der Disziplin auf die Dauer an unsere Lehrstühle zu binden oder in Personalunion festzuhalten. Die Rechtsaltertümer haben wir selbstverständlich den R e c h t s h i s t o r i k e r n überlassen, die in Jacob Grimm ihren Meister nicht minder verehren als wir, und in denen sein Geist auch über die ehrwürdigen Gestalten von Karl von Amira und Ferdinand FrensdorfF hinaus lebendig bleiben wird: sehen wir doch, daß ihre jüngste Generation auch die Fortschritte der vergleichenden Volkskunde und Religionsgeschichte aufmerksam verfolgt und fruchtbringend verwertet. Aus den angelsächsischen Studien heraus hat sich ein eigenes Fach der engl i s c h e n P h i l o l o g i e entwickelt, an deren Wiege neben den Engländern deutsche Forscher gestanden haben und das heute besonders in Amerika, aber auch in Skandinavien und den Niederlanden eifrige und ergebnisreiche Pflege findet. Die niederländische P h i l o l o g i e , die einst neben dem Patrioten Willems vor allem unser Hoffmann von Fallersleben geschaffen hat und zu der auch späterhin Ernst Martin und besonders Johannes Franck die wertvollsten Gaben beigesteuert haben, ist heute fast ganz auf die Pflege der Holländer und Flamen angewiesen, obwohl insbesondere die Sprachwissenschaft von Bonn und Hamburg aus die Fühlung dauernd aufrecht erhält. Die nordischen Studien waren von vornherein nicht auf die deutsche Führung angewiesen: sie haben in Rasmus Christian Rask ihren eigenen Vater und Führer gehabt und auch weiterhin stets Forscher und Lehrmeister von hohem Range aufzuweisen. Ihre glänzende Entwicklung im 19. Jahrhundert, die auf mehr als einem Gebiete der deutschen Philologie den Weg gewiesen hat und weiter weisen wird, hat allerdings die Mitarbeit unserer Landsleute nicht erlahmen lassen, wovon nachher noch zu reden sein wird — denn das Band ist hier enger geblieben und die Befruchtung tritt deutlicher hervor, als bei Niederländern und Angelsachsen. Anderseits sind die deutschen Studien im engeren Sinne auch bei den Skandinaviern, Niederländern, Engländern und Amerikanern mehr und mehr in Aufnahme gekommen. Und auch die z. T. ausgezeichneten Leistungen der Franzosen auf dem Gebiete der deutschen Literaturgeschichte dürfen nicht verschwiegen werden: ihren Mittelpunkt bildet seit mehr als einem Vierteljahrhundert die von Professor F. Piquet in Lille mit hervorragendem Geschick geleitete »Revue Germanique«.

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Diesem raschen Überblick über die Grenzen unseres Gebietes, seine Einschränkung und die Sonderentwicklung der abgetrennten Zweige, möge zunächst die Frage nach neuen quellenmäßigen Grundlagen unserer germanistischen Forschung angeschlossen werden. Und hier muß ein wehmütiges Bekenntnis seinen Platz finden. Mit einemNeid, den zu verschweigen töricht wäre, blickt diedeutsche, ja diegesamte neuere Philologie auf den wachsenden Reichtum des sprachlichen und literarischen Quellenstoffes, der nun schon seit mehr als einem Menschenalter ihren älteren Schwestern, der klassischen und der orientalischen Philologie zuströmt und ihr auf den Gebieten der Sprachwissenschaft wie der Literaturgeschichte immer neue Aufgaben stellt, ihren Horizont beständig erweitert. Den Schätzen, welche der Boden Italiens und Griechenlands, der schützende Sand Ägyptens und die Ruinenfelder des vorderen und inneren Asiens Jahr um Jahr hergeben, hat der Germanist nichts, oder doch nur blutwenig gegenüberzustellen. Wohl hat man im Norden (und vereinzelt auch in denNiederlanden und in Deutschland) ein paar Dutzend wenig umfangreiche, aber dafür um so altertümlichere Runeninschriften gefunden, die neue Rätsel aufgeben und den Scharfsinn der Gelehrtenherausfordern; wohl hat man da, wo man es kaum erwarten konnte, im Norden Englands und in Rom selbst ein paar römische Votivsteine mit aufschlußreichen Götternamen entdeckt — aber das ist auch alles! Es mag im Laufe der Zeit noch einzelnes hinzutreten, die Ergebnisse werden immer mager bleiben. So war denn die Hoffnung auf Literaturdenkmäler gerichtet, die sich noch in den Bibliotheken finden könnten. Aber auch diese Hoffnung müssen wir nach den mageren Resultaten emsigster Nachforschung aufgeben: geradezu kläglich ist der Zuwachs, den die letzten 50 Jahre gebracht haben. Der Boden Ägyptens hat uns aus seinem Überreichtum mitleidig das Blattfragment einer bilinguen Bibelhandschrift mit ein paar Versen aus dem Lucasevangelium des Ulfila beschert (19x0) und in einer Veroneser Handschrift sind ganz neuerdings (1928) ein Dutzend gotische Bibelglossen aufgetaucht. Das Wertvollste was der altgermanischen Literatur zugewachsen ist, brachte ein Fund Zangemeisters in der Vaticana (1894): neben Bruchstücken einer vierten Heliandhandschrift solche aus der altsächsischen Genesis, wodurch eine glänzende Entdeckung von Sievers die Bestätigung fand deren sie freilich kaum noch bedurfte. Dem Altsächsischen wird man wohl auch die Trierer Zaubersprüche aus der späten Karolingerzeit zuweisen müssen, die in rheinfränkischer Umschrift auf uns gekommen sind (1910). Fragmente einer friesischen Psalmenübertragung, die man gewiß zu hoch datiert hat, mögen immerhin die ältesten Zeugen der Literatursprache Frieslands vorstellen. Für das Althochdeutsche hat sich fast nur der Glossenbestand vermehrt: und auch nachdem das große Glossenwerk von Steinmeyer und Sievers mit einem fünften Band (1922) abgeschlossen ist, tauchen noch einzelne Gruppen und Grüppchen von Glossen auf. Was sonst noch von kleinen Gelegenheitsfunden ans Licht trat, war herzlich unbedeutend: die Dürftigkeit dieser Periode der Karolinger und Ottonen an literarischen Denkmälern ist freilich nicht der Ungunst der Überlieferung allein zuzuschieben. — Auch die Angelsachsen und Nordländer wußten in diesen 50 Jahren nur selten von neuen Funden zu berichten.

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Aber auch für die mittelhochdeutsche Periode, wenigstens für die beiden Jahrhunderte von iioo bis 1300 ist die Zeit der Beutezüge und Entdeckungen längst abgeschlossen: sie war es sogar schon 30 Jahre früher! Die Grimms, v. d. Hagen, Graff, Maßmann, Hoffmann von Fallersleben haben auf ihren z. T . weit ausgedehnten Reisen schon vor 1840 wohl neun Zehntel des handschriftlichen Bestandes gefunden, registriert und vorläufig bekannt gegeben; Karajan und Diemer haben dann noch in den vierziger Jahren eine reiche Nachernte aus Kärnten und Steiermark heimgebracht, die besonders der Kenntnis des 12. Jhs. zugute kam. Seitdem aber ist das Literaturmaterial für diese Frühzeit, das Wilhelm Scherer 1874 zu einer Gesamtdarstellung zu gestalten versuchte, fast nur noch durch Fragmente vermehrt worden: unter solchen aus Colmar fanden sich Teile eines Lehrgedichts der Zeit vor 1150, unter solchen vom Niederrhein Bruchstücke eines »Tobias« von dem Pfaffen Lamprecht. Aus schwieriger Überlieferung heraus erkannte Schönbach eine »Hl. Juliane*. Die freilich nur langsam fortschreitende Inventarisierung aller altdeutschen Handschriften bis ins 16. Jh. hinein, welche die Deutsche Kommission der Berliner Akademie auf Anregung Roethes vor 25 Jahren anbahnte, hat für uns keine einzige neue Dichtung von höherem literarischen Werte zutage gefördert, der Literaturgeschichte keinen neuen Namen von Klang gewonnen, keine der Lücken ausgefüllt die wir seit langem kennen oder mutmaßen. So viel ich sehe, ist der wertvollste Gewinn der altniederländischen Literatur zugefallen; eine von Degering aufgefundene Handschrift des »Reinaert« hat dem altbekannten Willem einen zweiten Autor, Aernout, zugesellt. Von all den lockenden Namen aber, die wir aus den literarischen Revuen Gottfrieds v. Straßburg und Rudolfs v. Ems kannten und sonst gelegentlich erfuhren, hat nur ein einziger, und vielleicht der unbedeutendste Gestalt gewonnen: Wetzel von Bernau, dessen Margaretenlegende Zwierzina in einer Schaffhäuser Handschrift entdeckte. Dafür haben wir freilich zwei neue Dichter, beide aus hochadlichem Stamm, aber beide keine Meister von Rang, durch die Herausgeber kennen gelernt: den Bischof Otto II. von Freising als Verfasser des »Laubacher Barlaam« (durch Perdisch) und den Hochmeister Luder von Braunschweig als den des gereimten »Makkabäerbuches« (durch Helm). Neue Handschriften und Teilstücke von solchen für bekannte, zumeist schon reichlich und gut überlieferte Texte sind in nicht geringer Zahl hervorgezogen worden, aber selten nur hatten sie einen solchen kritischen Wert wie die Prager und Frauenfelder Bruchstücke von Konrad Flecks »Floire und Blanscheflur«. Ein einziges altes Pergamentblatt der spät und schlecht überlieferten »Kudrun« hätte uns mehr gegolten als das Halbdutzend neuer Nibelungenfragmente. Den lange schmerzlich vermißten Eingang von Hartmanns »Gregorius« haben wir wiedergewonnen, aber die Überlieferung seines »Armen Heinrich« und seines »Erec« bereiten den Herausgebern die alten Sorgen. Die vorwaltherische Lyrik, die 1857 in Lachmanns und Haupts noch heute lebenskräftigem »Minnesangs Frühling« zusammengefaßt wurde, ist kaum um eine Strophe vermehrt worden. Für Walther von der Vogelweide hingegen haben fünf handschriftliche Funde verschiedenen, aber durchweg bescheidenen Umfangs immerhin einen nicht wertlosen Zuwachs gebracht — und ein neues Rätsel für Kritiker und Exegeten. Außerdem bezeugen sie abermals das überragende

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Ansehen, das dieser größte Lyriker des Mittelalters genossen hat; denn im übrigen ließe sich der Zuwachs jenes gewaltigen Korpus der Minnesinger, welches v. d. Hagen vor nun bald 100 Jahren zusammenbrachte, heute auf den Raum von wenigen Bogen zusammendrängen. Hat also der erhaltene Gesamtbestand mittelhochdeutscher Dichtung, wie man ihn um 1880 kannte, seither nur eine geringe Vermehrung erfahren, (bedeutsam ist dagegen die Erweiterung unserer Kenntnis von der Prosa dieser Zeit), so ist um so mehr geschehen, uns diese umfassende literarische Welt zugänglich zu machen und sie der wissenschaftlichen Forschung zu erschließen. Für das Althochdeutsche und Altsächsische war seit den Tagen von Graff und Schmeller bestens gesorgt; in unserer Periode treten Sievers und Braunes Schüler der Amerikaner Hench hervor, vor allem aber Elias Steinmeyer: er nahm die Arbeit von Möllenhoff und Scherer für die kleinem Denkmäler auf (1892. 1916) und schenkte uns, anfangs von Sievers unterstützt, zuletzt wieder von ihm abgelöst, die monumentale Ausgabe der »Althochdeutschen Glossen« (1879—1922, 5 Bände), eines der größten Ehrenmäler unserer Wissenschaft; zunächst als Quelle der Sprachgeschichte, die aber neuerdings auch literargeschichtlich (durch Baesecke) gewürdigt wird. Für das Altsächsische war nicht nur bei den Deutschen (Heyne, Sievers, Behaghel, Holthausen) sondern auch bei Holländern (Gall£e), Schweden (Wadstein, E. A. Kock) und Amerikanern (Sehrt) fürsorgliches Interesse rege. Zu dem Korpus der Altfriesischen Rechtsquellen von Richthofen lieferten Deutsche und Holländer Nachträge, ohne daß es zu einem Neubau gekommen ist. Nun aber das Mittelhochdeutsche (und nebenher das Mittelniederdeutsche)! Und weiterhin die zwar gedruckte, aber schwer zugängliche Literatur des 16. und 17. Jhs. Wer vor und nach 1880 über diese Gebiete Vorlesungen hielt und es ernst nahm, der war gezwungen, vielfach auf die Handschriften zurückzugehen und sich, wenn er an einer kleinen Universität lehrte, die Drucke paketweise Woche für Woche von außen kommen zu lassen. Das ist heute ganz anders geworden! In den im Augenblick auf 281 angewachsenen Nummern der von W . Braune 1876 begründeten »Hallischen Neudrucke« stehn uns, wenn wir die von Max Herrmann geleiteten »Lateinischen Literaturdenkmäler des XV. und XVI. Jahrhunderts« (1891—1912, gegenwärtig leider ruhend) hinzunehmen, die großen Repräsentanten und sehr viele charakteristische Nebenerscheinungen dieser Zeit bequem und billig zu Gebote. Auch der Kürschnerschen Bibliothek der »Deutschen Nationalliteratur« sei hier gedacht — obwohl ihre Darbietungen von sehr verschiedenem Werte waren. Das Mittelniederdeutsche schloß uns die gelehrte Katalogisierungsarbeit C. Borchlings auf. Auch für die mittelhochdeutsche Zeit beschränk ich mich im allgemeinen auf die großen Serien und Sammelwerke; anderes wird unter dem Gesichtspunkt der Textkritik nachzutragen sein. Da sind die Publikationen des Stuttgarter Literarischen Vereins, die auch in diesem Zeitraum eine ganze Reihe von mhd. Literaturdenkmälern in Erstausgaben, teilweise von kritischem Werte, gebracht haben und neuerdings wieder bringen. Da ist die 1877 begonnene Monumentenserie der »Deutschen Chroniken und anderer Geschichtsbücher des Mittelalters«, an deren bisher 6 Quartanten Weiland, Schröder, Strauch, Wyss, Naumann, vor allem aber mit dem stärksten Verdienst Joseph Seemüller Anteil haben — neben

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ihnen haben die nicht allzeit gut geleiteten »Chroniken der Deutschen Städte« in diesem Zeitraum vor allem für Lübeck (Koppmann) und Westfalen auch literarisch wertvollen Quellenstoff gebracht, während Lüneburg hier in naher, Bremen in etwas fernerer Sicht steht. Die »Altdeutsche Textbibliothek«, von Herrn. Paul begründet, hat erst neuerdings einzelne ungedruckte Werke veröffentlicht. Die »Mittelhochdeutschen Literaturdenkmäler aus Böhmen« und die »Elsässischen Literaturdenkmäler«, beide Schöpfungen Ernst Martins, ferner die vom Verein für niederdeutsche Sprachforschung veranstaltete Text-Reihe brachten Gedrucktes und Ungedrucktes aus der mittleren Zeit, zumeist in kritischer Bearbeitung. Ein neues rheinisches Unternehmen hat sich bisher mit Vorliebe der sorgsamen Wiedergabe der handschriftlichen Uberlieferung gewidmet. Alles in allem schritt aber doch die Publikation der längst handschriftlich bekannten Texte aus der mittleren Zeit (1200—1500) viel zu langsam vorwärts: es fehlte an geschulten Kräften zur kritischen Edition und es fehlte denen, die wohl das Zeug dazu gehabt hätten, die Entsagung, sich vielleicht für fünf oder zehn Jahre einer solchen Aufgabe zu widmen. In dieser Erkenntnis entschloß sich Gustav Roethe, der Deutschen Kommission bei der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften die Publikation einer Serie von »Deutschen Texten des Mittelalters« zu empfehlen, die unter Verzicht auf die abschließende kritische Leistung mit dem genauen Abdruck sei es der einzigen, sei es der besten erreichbaren Handschrift doch zugleich einen Einblick in die anderweitige Überlieferung verbinden sollten. Es war kein festes Programm aufgestellt, aber doch eine Anzahl der wichtigsten Werke von vornherein bestimmt in's Auge gefaßt, und dafür wurden sofort oder im Laufe der Jahre Herausgeber geworben. Daneben nahm Roethe auch Angebote entgegen, und hier ist er nicht immer glücklich gewesen: nachdem die »Pilgerfahrt des träumenden Mönchs«, nach der Berleburger Handschrift, eine umfangreiche Reimerei des 15. Jahrhunderts, die unter jedem literarischen Niveau steht, kaum ausgedruckt war, tauchte eine Bearbeitung des gleichen Stoffes von ganz anderem Wert und Interesse auf. Im Ganzen aber ist es doch nicht nur eine stattliche, sondern auch eine höchst wertvolle Reihe, von 1904 bis heute 33 Bände, von denen 30 Roethe selbst Bogen für Bogen kritisch durchgesehen hat. Endlich haben wir jetzt (nachdem vor kurzem die kritische Ausgabe des »Alexander« von Junk erschienen ist) alle Werke Rudolfs von Ems bequem zugänglich. Die Deutschordensdichtung, die späten pseudohistorischen Romane, die Gedichte Heinrichs v. Neustadt, umfangreiche Legendenwerke, Predigten und Traktate der reifen und späten Mystik, die vorhumanistische Ubersetzungsprosa, der Nürnberger Meistergesang des 15. und das Volkslied des 16. Jahrhunderts sind darin enthalten. Auf viele Jahre hinaus ist hier für literarische und sprachgeschichtliche Forschung ein reicher Stoff geboten, das kommende mittelhochdeutsche Wörterbuch wird aus den angegeschlossenen Glossaren den reichsten Gewinn ziehen. Die Zeit um 1880, mit der unsere Betrachtung einsetzen soll, zählte nicht entfernt soviele Arbeiter auf dem Felde der deutschen Philologie wie heute, aber sie besaß doch eine Reihe hervorragender Kräfte und mehrere höchst wirksame Lehrer, sie stellte sich neue Aufgaben, diskutierte Prinzipien und Methoden und

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erhielt aus den Nachbargebieten der Philosophie, der Rechtswissenschaft, der Kunstgeschichte zunehmend neue Anregungen, nachdem das Band, das sie oft in Personalunion mit der klassischen Philologie (Lachmann, Haupt) verknüpft hatte und mit der romanischen Philologie (K. Bartsch, Conrad Hofmann, E. Martin) noch immer verknüpfte, mehr und mehr gelockert war. Die Jahreszahl 1880 trägt das zweite Heft von Wilhelm Scherers »Geschichte der deutschen Litteratur« (1879—93), tragen weiter Hermann Pauls »Principien der Sprachwissenschaft«, Konrad Burdachs »Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide« und der erste Band von Rudolf Hayms »Herder«; in den von Paul und Braune seit 1874 herausgegebenen »Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur«, welche fortgesetzt wertvolle Untersuchungen der Herausgeber und ihrer Leipziger Studiengenossen zur germanischen Lautlehre brachten, erschienen 1880 Sievers »Beiträge zur Skaldenmetrik«, denen bald die »Untersuchungen zur Rhythmik des germanischen Alliterationsverses« folgen sollten. Wilhelm Scherer, damals 39 Jahre alt, stand auf der Höhe seiner vielseitigen Schaffenskraft. Er hatte, als Mitarbeiter Müllenhoffs an den »Denkmälern« seit 1863 erprobt, 1868 sein Buch »Zur Geschichte der deutschen Sprache« als einstrahlendes Phänomen in die Sprachwissenschaft hineingestellt und über einer Fülle von neuen Beobachtungen, Problemen und Anregungen der deutschen Sprachgeschichte ein hohes, wohl zu hoch gespanntes Ziel gestellt: »Die Entstehung unserer Nation von einer besonderen Seite angesehen, macht den Hauptvorwurf des gegenwärtigen Buches aus«; »ein System der nationalen Ethik aufzustellen« sieht er als die große Aufgabe der deutschen Philologie an, die er in einzigartiger Weise zu umfassen strebte. Aber Scherer hatte sich besonders in der Straßburger Zeit mehr und mehr literargeschichtlichen Forschungen gewidmet, und als er kurz nach seiner Übersiedlung nach Berlin gedrängt wurde, jenes Buch noch einmal herauszubringen, da entnahm man dieser Neuauflage das stillschweigende Eingeständnis, daß er zum Betrieb der Grammatik kaum noch zurückkehren werde. Da von seinen Straßburger Schülern Rudolf Henning und Heinrich Zimmer sich bald anderen Aufgaben und Arbeitsgebieten zuwandten und nur Joh. Franck der deutschen Sprachwissenschaft treu blieb, so hat Scherer eine eigentliche »grammatische Schule« nicht erlebt und nicht hinterlassen — wenn man von seinem ältesten Schüler, dem zwei Jahre älteren Richard Heinzel in Wien absieht, der seinerseits wirklich schulebildend gewirkt hat. Wohl aber ist Scherer wie Müllenhoff nicht müde geworden, von allen seinen Schülern eine gründliche sprachliche und sprachwissenschaftliche Bildung zu verlangen, und sie haben die Früchte dieser Lehrzucht selten verleugnet. Die Pflege der Grammatik fiel in erster Linie den von Leipzig ausgegangenen und stets in enger Fühlung mit der Indogermanistik gebliebenen sogenannten Junggrammatikern zu, von denen uns zunächst Sievers für das Angelsächsische (1882), Braune für das Althochdeutsche (1886) die grundlegenden Lehrbücher schenkten. Ihnen schlössen sich F. Kluge, O. Behaghel, R. Kögel und dann ihre eigentlichen Schüler an: O. Bremer, Fr. Kauffmann, A. Heusler, Th. Siebs, F. Holthausen, Agathe Lasch. Aus der Schule Heinzeis in Wien kamen Jos. Seemüller und weiterhin Jos. Schatz, Max Herrn. Jellinek, Primus Lessiak und andere, deren Namen

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uns noch begegnen werden. Daß an dem neuen Ausbau der altgermanischen Grammatik und ihrer Sonderdialekte auch die Skandinavier starken und stets noch wachsenden Anteil gehabt haben, ist selbstverständlich. Unter den deutschen Indogermanisten blieben Johannes Schmidt, Hermann Osthoff und Berthold Delbrück, weiterhin W . Streitberg, H. Hirt, P. Kretschmer, W. Schulze den deutschen Studien besonders eng verbunden. — Zu umfassenden Darstellungen der historischen Grammatik sind Wilmanns und Paul gelangt, die Geschichte der deutschen Sprache haben Behaghel und Kluge geschrieben, der erstere auch eine umfangreiche «Deutsche Syntax; auf dem letzten Gebiete traten sonst nur B. Delbrück und John Ries hervor. Schon Scherer, der das Prinzip der gegenseitigen Erhellung für Grammatik und Literaturgeschichte stark betonte, hatte auch den Wert der Dialektstudien erkannt, aber ihm selbst lagen diese Dinge fern. Um so näher trat ihnen Sievers, der bereits 1877 zu Wintelers berühmter »Kerenzer Mundart« Pate gestanden hatte, und aus dessen Schule noch eine Reihe ähnlicher Arbeiten hervorgegangen sind; später schufen Otto Bremer in Halle, Seemüllerin Innsbruck und Wien, Siebs in Breslau, besonders aber Adolf Bachmann in Zürich Zentren für die beschreibende und stets zugleich historisch fundierte Darstellung von Dialekten, und zuletzt hat der von Georg Wenker in Marburg begründete und mit opferbereiter Hingabe geleitete Sprachatlas, den als sein Erbe Ferdinand Wrede übernahm, in der von diesem geschaffenen Serie der »Dialektgeographie« den Stützpunkt für eine Reihe von Arbeiten abgegeben, in denen vor allem auch das territorialgeschichtliche Moment zu seinem Rechte kommt; eine weitere Schule der gleichen Richtung begründete von da ausgehend Theodor Frings in Bonn und Leipzig. Nachdem das Riesenwerk des »Sprachatlas des Deutschen Reiches«, von dem nur je ein Exemplar in Marburg und Berlin liegt, zum Abschluß gelangt ist, hat Wrede, unterstützt von seinen Mitarbeitern Bernhard Martin und Kurt Wagner, im Jahre 1926 mit der Publikation eines »Deutschen Sprachatlas« in vereinfachter Form begonnen. Es handelt sich bei allem dem immer in erster Linie um »Lautgeographie«. Die »Wortgeographie«, welche der französische Sprachatlas von vornherein mit hineinbezog, war für Wenker keine unbekannte Größe, aber sie war bei der ersten Anlage bei Seite gelassen und ließ sich nicht nachholen. Hier erwächst uns noch eine große Aufgabe: für die deutsche Philologie und für die Notgemeinschaft, und wir wissen, daß ihr Präsident, der dem Sprachatlas viel Interesse bezeugt hat, sich auch diesem weiteren Arbeitsprogramm nicht versagen wird. Einstweilen haben wir P. Kretschmers wertvolle «Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache« (1918). Neben dem Ausbau der Dialektgrammatik geht eine überaus regsame Arbeit für die Wörterbücher der deutschen Mundarten einher. Ungefähr um dieselbe Zeit, als Frommann das durch 50 Jahre einzig dastehende »Bayerische Wörterbuch« J. A. Schmellers in der Neubearbeitung abschloß (1877), begann das auf noch breiterer Grundlage angelegte »Schweizerische Idiotikon« zu erscheinen, das sich jetzt seinem Abschluß nähert. Es wurde nicht übertroffen, aber zeitlich überholt durch das »Schwäbische Wörterbuch« Herrn. Fischers, dessen Nachträge soeben Wilhelm Pfleiderer dem Ende zuführt. Zu raschem Abschluß ist s. Zt. das nur zweibändige »Wörterbuch der elsässischen Mundarten« von Martin und Lienhard gelangt; ein

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»Oberhessisches Wörterbuch* (das bald ersetzt sein wird) erschien unter dem Namen des letzten Bearbeiters Wilh. Crecelius. Für Obersachsen hat Müller Fraureuth, für Thüringen nur vorläufig Hertel gesorgt; auch das Westfälische Wörterbuch von Woeste ist eben nur ein Notbehelf. Augenblicklich sind noch sechs derartige Unternehmungen im Erscheinen begriffen: am längsten, auf breitester — allzubreiter? — Basis aufgebaut, das »Siebenbürgisch- Sächsische Wörterbuch« von Schullerus, seinen Genossen und Nachfolgern, dann das »Schleswig-HolsteinischeWörterbuch« von Mensing, das »RheinischeWörterbuch« von Jos. Müller, das »Hessen-Nassauische Volkswörterbuch« von Luise Berthold, das »Badische Wörterbuch« von Ernst Ochs, das »Wörterbuch der nordfriesischen Sprache der Wiedingharde« von Jensen. Dicht vor dem Abschluß steht das Manuskript eines zweibändigen »Lüneburger Wörterbuches« von Eduard Kück. Seit Jahren in Arbeit ist das Ost- und Westpreußische Unternehmen Walther Ziesemers; um ein neues Baltisches Wörterbuch streiten sich Riga und Dorpat. In besonderen »Kanzleien« zu Wien und München sind nicht weniger als vier große Idiotika in Vorbereitung: ein österreichisches, ein Bayerisches, ein Fränkisches und ein Rheinpfalzisches. In Gießen schafft man rüstig für Südhessen, in Münster für Westfalen, in Kiel für Nordfriesland, in Rostock für Mecklenburg, in Greifswald für Pommern, in Prag wirkt die starke Kraft E. Gierachs für die Sudetenländer. Rückständig sind Thüringen, Schlesien, Brandenburg. Überall wo es nottat, hat die Notgemeinschaft eingegriffen, und überall hofft man auf ihre weitere Hilfe. Hier hat sie ein reiches Feld der Betätigung gefunden, denn bei der beängstigenden Nivellierung unseres Volkstums schwinden die Mundarten mehr und mehr. Der Arbeit an den Mundarten und besonders an ihrem Wortschatz widmen sich eine Reihe unserer tüchtigsten jüngeren Kräfte. Demgegenüber tritt die Lexikographie der älteren Zeit und der neuhochdeutschen Schriftsprache in einer Weise zurück, die Besorgnis erregen muß. Das 1877 abgeschlossene »Mittelhochdeutsche Handwörterbuch« von Lexer hat bisher keine Erneuerung gefunden, ebensowenig das »Altdeutsche Wörterbuch« von Oscar Schade (2. Auflage 1882) — Elias Steinmeyers »Althochdeutsches Wörterbuch« soll uns aus seinem Nachlaß erstehn. Der berechtigte Beifall, den Fr. Kluges »EtymologischesWörterbuch« gefunden hat, verführte den Neubearbeiter des trefflichen Werkes von Karl Weigand dazu, dieses vor allem unter dem Gesichtspunkt der Etymologie umzugestalten. Eine wertvolle Ergänzung bringt das von H. Schulz (1913) begonnene, von O. Basler weitergeführte »Deutsche Fremdwörterbuch«. Eigene Wörterbücher brachten M. Heyne und H. Paul heraus — aber daneben schleppte sich das große Deutsche Wörterbuch« derBrüderGrimm mühsam weiter und hat erst jetzt Aussicht, mit Unterstützung der Notgemeinschaft, in verheißungsvollem Tempo dem Abschluß zuzuschreiten. Rege Tätigkeit herrschte auf dem Gebiete der Metrik, dem Sievers neue Grundlagen gab und fortdauernd methodisch wechselnde Beobachtungen zuführte. Während er aber seiner »Altgermanischen Metrik« (1893) in keiner Neuauflage die eigenen auf Grund der — weit über die Metrik hinausgreifenden — »Schallanalyse« gewonnenen Ergebnisse gönnte, brachte Franz Saran, ein Schüler von Sievers, eine selbständige und eigenartige »Verslehre« heraus (1907), schenkte uns Andreas Heusler nach jahrelangen Vorstudien zuletzt seine dreibändige »Deutsche Versgeschichte« (1925—1929), ein Werk von großem Reichtum und oft künstlerischer Feinfühligkeit,

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das in seinem ersten Teile auch die angelsächsische und altnordische Metrik einbegreift. Die »Neuhochdeutsche Metrik« hat Jacob Minor in einem umfangreichen Handbuch dargestellt (2. Aufl. 1902). Für Ahd. und Mhd. lieferten Wilmanns und Kraus wichtige Spezialstudien. Die Geschichte des Reims in seinen Anfangen wie in der mhd. Frühzeit ist mehrfach bearbeitet worden: die letztere besonders fördernd durch C. Wesle und U. Pretzel. Der Grammatik, der Literaturgeschichte, der Textkritik brachten mannigfache Förderung die Reimstudien von Kraus und besonders von Zwierzina, die viele, nicht immer glückliche Nachfolge fanden. Sie galten in erster Linie der mittelhochdeutschen Blütezeit und den Epigonen, soweit sie an ihren Errungenschaften festgehalten haben. Ihre Auswertung aber erfordert eine sichere und wägende Hand, über die nur wenige verfügen. Während für die Reimtechnik der Ubergangszeit bisher nur Ansätze vorliegen, hat die »Geschichte des neuhochdeutschen Reimes von Opitz bis Wieland« durch F. Neumann eine ausgezeichnete Darstellung erfahren (1920). Diese Reimstudien hängen sowohl auf mittelhochdeutschem wie auf neuhochdeutschem Gebiete eng zusammen mit der Geschichte der Schriftsprache, mit dem Problem der mittelhochdeutschen Literatursprache einerseits, mit der Frage nach dem Umfang und den Ursachen landschaftlicher Sprachfarbung im 17. und 18. Jahrhundert anderseits. Das erstere Problem übernahm unsere Periode als völlig umstritten, und sie hat es in den Arbeiten von Kraus und Zwierzina, Behaghel, Roethe, Singer, zu leidlicher Klärung gebracht. Die Einigung der neuhochdeutschen Schriftsprache zu erforschen, stellte sich Konrad Burdach früh als Ziel, und wenn er in seinen grundgelehrten Forschungen »Vom Mittelalter zur Reformation« sehr weit davon abgekommen ist, so wird doch sein Einfluß stärker und nachhaltiger wirken, als der des mit diesen Problemen allzu rasch fertigen Kluge. Ein besonderes Verdienst hat neben ihm K. v. Bahder. Das allerwertvollste Rüstzeug aber hat uns Jellinek geschenkt: mit seiner zweibändigen »Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik von den Anfangen bis auf Adelung« (1913. 14). Was Textkritik, Editionskunst und Exegese für die mittelhochdeutschen Dichter in diesen 50 Jahren geleistet haben, reicht an das Lebenswerk der Lachmann und Haupt, zu dem wir aber gerechterweise auch K.Bartschs Arbeit für Nibelungenlied und Kudrun rechnen wollen, nicht heran; noch heute ist der Wolfram von Eschenbach Lachmanns und der Iwein von Lachmann und Benecke in keiner Weise überholt, obwohl es sich auch hier regt. Lachmanns Walther hat durch Kraus, Haupts Neidhart durch Wießner die beste Fürsorge erfahren, »Minnesangs Frühling«, durch drei Jahrzehnte von Fr. Vogt betreut, ist nicht immer glücklich verändert worden und harrt jetzt einer gründlichen Erneuerung, für die in den textkritisch und exegetisch gleich ausgezeichneten Arbeiten von Kraus (Morungen, Reimar) die beste Vorarbeit geleistet ist. Für die Spruchdichtung ist die eine große Leistung Roethes zu nennen: sein »Reinmar von Zweter« (1887). Eine neue Ausgabe des »Wigalois« hat der Holländer Kapteyn herausgebracht, den »Hl. Georg« hat Kraus, den »Renner« Ehrismann, den »Ackermann aus Böhmen« A. Bernt kritisch ediert usw. Mit Zuversicht dürfen wir dem »Tristan« von Ranke und dem erneuten »Gesamtabenteuer« von Niewöhner entgegensehen, die Stricker-

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Ausgabe Zwierzinas wird, wenn wir sie erhalten, ein Musterbeispiel von Akribie werden, wie die Proben zeigen, die er kürzlich geliefert hat. Bei der Novellendichtung haben eine ganze Reihe von Schülern Roethes ihre Arbeit, zum Teil, wie Pfannmüller und Rosenfeld, mit schönem Erfolg eingesetzt. Für alle Dichtungen Konrads von Würzburg mit Ausnahme der beiden umfangreichen Werke ist durch Joseph, Gereke, Schröder ausreichend gesorgt. Dagegen hat mit alleiniger Ausnahme der »Kaiserchronik« (wo die Arbeit zeitraubend, aber nicht eben schwer war) kein Werk der mittelhochdeutschen Frühzeit eine vollbefriedigende Ausgabe erfahren. Noch heute ist Beneckes Kommentar zum Iwein die beste derartige Leistung für einen Epiker — nach mehr als 100 Jahren! Für Walther von der Vogelweide, der sich seit Burdachs auch später erfolgreich fortgesetzten Studien stets besonderer Aufmerksamkeit, und mit Recht, erfreut hat, ist die von V. Michels gründlich erneuerte Ausgabe von Wilmanns (1924) ein vorläufiger Abschluß. Was die erschöpfende Gelehrsamkeit Roethes für die Erklärung Reinmars von Zweter, was das nachfühlende Kunstverständnis von Carl v. Kraus für Morungen und Reimar d. A. geleistet hat, ist vielfach auch der Textkritik zu Gute gekommen. Was die literargeschichtliche Erforschung des Mittelhochdeutschen im einzelnen angeht, so ist zunächst zu bemerken, daß die von v. d. Hagen, Lachmann und Haupt gesammelten urkundlichen Daten für die Minnesänger wie für die Epiker nur einen verschwindenden Zuwachs erhalten haben. Der erste und einzige urkundliche Nachweis für Waither von der Vogelweide fallt bereits vor unsere Zeit — für Heinrich v. Veldeke, Eilard v. Oberg, Hartmann v. Aue, Gottfried v. Straßburg, Wolfram v. Eschenbach, Wirnt v. Gravenberg, Rudolf v. Ems haben wir auch heute noch kein biographisches Zeugnis, das wir ihnen nicht selbst verdanken. Viel geschehen ist dagegen für die Frage der Geistesstruktur, der Bildung und der zeitlichen Einstellung der bedeutendsten Dichter des 13. Jahrhunderts: hier ist nach Anton Schönbach und Burdach vor allem Ehrismann zu nennen, und als neueste Leistung der erste Band des interessanten Werkes von Gottfried Weber über Wolfram (1928) anzuführen. Für die Stoffgeschichte zeigte sich ein um so lebhafteres Interesse, als hier auch von Frankreich und England, von Norwegen, Dänemark, Finnland und Holland Anregungen kamen und die zur Wissenschaft aufblühende Volkskunde ihren Anteil spendete und forderte. Die umfangreiche Literatur über die Gralsage und den Tristanstoff ist durchaus international. Der Streit zwischen Tiersage und Tierfabel wurde von Kaarle Krohn in Helsingfors entschieden: zu Gunsten des »Tiermärchens«! Die Heldensage, die bei Wilh. Grimm und Müllenhoff, aber auch noch bei Symons, Jiriczek, Boer als eine Welt für sich erschien, sollte sich in den Werken von Panzer über Hilde und Gudrun, Sigfrid und Beowulf der Märchenwelt verwandt und verpflichtet zeigen, in den gestaltenden Arbeiten von Andreas Heusler (Nibelungensage und Nibelungenlied, zuerst 1920) und Herrn. Schneider (Germanische Heldensage 11928), die ihrerseits wieder auf den großen, viel zu früh verstorbenen dänischen Gelehrten Axel Olrik zurückgehn, ist sie geradezu Dichtungsgeschichte geworden: nicht das sagenwebende Volk, sondern schaffende und gestaltende Dichter stehen dahinter, namenlose Größen, die nunmehr einen direkten Gewinn der Literaturgeschichte darstellen. Ich halte es als Schüler Müllenhoffs für meine Pflicht, hier

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zu betonen: der Altmeister war auf dem Wege zu ähnlichen Erkenntnissen, als er die gesamte Heldensage seinem Kolleg über Literaturgeschichte des Mittelalters einverleibte, aber der Schmerz über die Armut unserer Mythenüberlieferung drängte ihn immer wieder dazu, in den Gedichten aus dem Kreise der Heldensage verschüttete Quellen der deutschen Mythologie aufzugraben: denn während Jacob Grimm trotz dem Titel seines Buches in Wahrheit eine Darstellung der altdeutschen Religion geboten hatte, strebte Müllenhoff wirklich nach dem Aufbau einer »Mythologie« der Germanen. Darstellungen der altdeutschen Literatur sind in unserem Zeitabschnitt wiederholt versucht worden. Eine »Geschichte der deutschen Literatur« zunächst bis 1050, dann weiterhin bis 1200, welche Johannes Kelle (1892, 1896) erscheinen ließ, und die als Einteilungsprinzip die deutschen Kaiser wählte, hat von vornherein nur in ihrem ersten Teil einen gewissen quellenmäßigen Wert gehabt. Einen starken Anstoß gab solchen Unternehmungen der (1885) von dem Straßburger Buchhändler Karl J. Trübner in's Leben gerufene, seit 1889 erscheinende »Grundriß der germanischen Philologie«, den Hermann Paul leitete. Aus ihm sind u. a. Sonderdarstellungen der althochdeutschen und altniederdeutschen (v. Unwerth- Siebs), der mittelhochdeutschen (Vogt) und der mittelniederdeutschen Literatur (Jellinghaus) herausgewachsen, von denen die beste, die Arbeit Vogts in der Neubearbeitung stecken blieb; vor allem aber hat die Mitarbeit am Grundriß den Anlaß zu dem selbständigen Werke von Rudolf Kögel, »Geschichte der deutschen Literatur« gebildet, das der frühe Tod des Verfassers nur bis 1050 gelangen ließ, und das auch in diesen beiden Teilen bei vielseitigem Reichtum überlastet war und formlos bleiben mußte. — Seitdem hat die »Altgermanische Literatur« (1923) in dem großen, von Walzel herausgegebenen »Handbuch der Literaturwissenschaft« durch Heusler eine Darstellung von wundervoller Geschlossenheit gefunden. Als ersten Band einer von Köster geplanten und von Petersen weitergeführten Serie hat uns H. Schneider in »Heldendichtung, Geistlichendichtung, Ritterdichtung« eine Geschichte der altdeutschen Poesie in eigener Prägung und zum Teil auf Grund eigener Forschung geboten. Den Versuch, die schwierige Übergangszeit ohne ausreichende Grundlagen (was nur z. T. seine Schuld ist) zu bewältigen, machte Wolfgang Stammler: »Von der Mystik zum Barock« (1927). Die Verfasser der besten einschlägigen Monographien aus diesem Zeitraum, M. Herrmann (»Albrecht von Eyb« 1893) und W. Brecht (»Die Verfasser der Epistolae obscurorum virorum« 1904) haben sich zu einer Zusammenfassung ihrer Studien nicht entschließen können. Das früher nur von M. v. Waldberg ausdauernd angebaute 17. Jahrhundert ist zur Zeit das Lieblingsfeld junger, nur gelegentlich allzu temperamentvoller Forscher (Vietor, G. Müller, Strich, Gundolf, Cysarz), eine abgeklärte Darstellung versprechen wir uns von Richard Alewyn. Der Zeit der Aufklärung gilt eine treffliche Behandlung aus dem Nachlaß Albert Kösters und ein gehaltvolles Buch des durch tüchtige Spezialstudien vorbereiteten Ferdinand Joseph Schneider. Dem Sturm und Drang war die Liebe besonders jüngerer Philologen schon in den 70er Jahren zugewandt und das hat angehalten. Eine Zusammenfassung der klassischen Periode fehlt noch, während der Gegensatz »Klassik und Romantik« (1922) mit der allzu bestimmten Formulierung Fritz Strichs »Vollendung oder Unendlichkeit« 14 FeiUchrift Schmidt-Ott

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eine höchst lebendige Diskussion ausgelöst hat. Für die »Romantische Schule« mußte R. Hayms grundlegendes Werk (1870) immer wieder neu aufgelegt werden, durch Oskar F. Walzel, der aber eine eigene knappe Darstellung daneben stellte. Zwei Bände der Dichterin Ricarda Huch behandeln mit eigenem Reiz »Blütezeit« und »Ausbreitung und Verfall der Romantik« (1899. 1902). Wesen und Begriff" der Romantik wurden klar und eindrucksvoll auch behandelt von R. Unger, Jul. Petersen und Georg Stefansky; mehr populär in Vorträgen von P. Kluckhohn. Die Zahl der Monographien ist hier Legion, und es ist unleugbar viel Gutes darunter. — »Die Deutsche Litteratur des 19. Jahrhunderts« hat an der Schwelle des 20ten Richard M. Meyer (1900) in einem noch mehrfach aufgelegten und zuletzt von H. Bieber erweiterten Werke geschildert, das durch den Reichtum der Belesenheit und die Feinheit vieler Charakteristiken für die etwas eigenartige Einteilung nach Geburtsjahrzehnten reichlich entschädigt. Später ist noch mehrfach Tüchtiges in Gesamtdarstellungen der neuesten Zeit geleistet worden: ausführlich von Riemann und Sörgel, knapp und besonders glücklich von v. d. Leyen. Der »Geschichte der deutschen Litteratur« von Wilhelm Scherer, die 1883 abgeschlossen wurde und nach dem Wunsche ihres 1886 gestorbenen Verfassers auch weiterhin unverändert geblieben ist, trat ein volles Menschenalter hindurch kein Werk gegenüber, das in ähnlicher Einheit der Grundlegung und der Darstellung den Vergleich auch nur herausgefordert hätte. Das aus dem Nachlaß seines Schülers Richard M. Meyer herausgegebene Buch »Die deutsche Litteratur bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts« (1920) sollte nur eben den Vorhof für das oben genannte Werk abgeben. Als etwas wirklich Neues und Bedeutsames dagegen gab sich von vorn herein in Programm und Ausführung die »Litteraturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften« von Josef Nadler (4 Bände 1912—1928, die Zeit von 800 bis 1914 umfassend!), und es ist in der Tat ein imponierendes Werk: durch den ungeheueren Umfang der Belesenheit wie durch die Energie, mit welcher das Versprechen des Titels eingelöst wird. So originell wie es der Verfasser hinstellt (der selbst freilich das Verdienst wieder seinem Lehrer Aug. Sauer zuschiebt) ist die ganze Idee aber doch nicht, denn bei Sauer stammt sie aus den Anregungen Scherers, der seit dem ersten Versuch, die Literatur eines größeren Zeitraumes zusammenzufassen (1875), als Einteilung, vor allem auch in den Vorlesungen, die »Landschaft« (und das sind die eine Landschaft bewohnenden Menschen!) wählte. Mit dem Begriff»Stamm« war er allerdings vorsichtig, und solche Experimente, wie wenn der nürnbergische Patrizier Harsdörffer und der niederrheinische Jesuit Spee als „Franken" auf einen Nenner gebracht und nun auf die Verwandtschaft ihrer geistigen Struktur untersucht werden, hätte er bestimmt verurteilt. Scherer hätte auch wohl ein scharfes Urteil gefällt über die allzu eilige Verdrängung der »Literaturgeschichte« durch die »Literaturwissenschaft« und über den durchaus verkehrten Gegensatz, den man neuerdings zwischen »Philologie« und »Geistesgeschichte« aufrichten will. Gewiß, er war von der Philologie ausgegangen, und seine Philosophie war beengt durch den Positivismus der Wiener Jugendzeit, aus dem ihn auch die Freundschaft mit W. Dilthey nicht völlig befreit hat. Aber er hat allezeit der Philologie als höchstes Ziel die Erfassung der sittlichen Ideale der Nation und die geistige Gestaltung der Epochen hingestellt und das was auf dem Wege dahin geleistet werden mußte, die strenge philologisch-historische

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Arbeit nicht überschätzt. Die Werke von K. Justi, und R. Haym begrüßte er mit enthusiastischer Anerkennung, und wenn er die große Wirkung Diltheys und etwa die Hamann-Monographie Rudolf Ungers (1911) erlebt hätte, sie hätte keinen freudigeren Beurteiler als ihn gefunden. Richtig ist wohl, daß er den Wert und die Zielsicherheit der von ihm angewandten »Methode« gelegentlich überschätzt hat, und daß trotz Pniower und Roethe von seinen Arbeiten über den Faust nicht vielmehr als die starken Anregungen übrig geblieben ist. Und mit Recht sehen anderseits auch die in ihm ihren Antipoden, die mit geistvollen Sprüngen in voreiligen Formulierungen gleich das Höchste zu erreichen wähnen — ganz zu geschweigen derer, die ohne Philologie gelernt und ohne Philosophie erworben zu haben, mit beiden kokettieren. Ich habe hier nicht den Raum und auch wohl nicht die Aufgabe, all die hoffnungsvollen Kräfte aufzuführen, über die die deutsche »Litteraturwissenschaft« heute verfügt. Daß man die »Literaturgeschichte« nicht überwunden hat und auch die älteste Schwester, die »Literärgeschichte« nicht entbehren kann, zeigt die Weiterführung des Goedekeschen Grundrisses, dem auch unsere Notgemeinschaft beträchtliche Mittel zuwendet. Und daß die Literaturgeschichte zur Philosophie wie zur Geschichte der bildenden Künste in engere Verbindung getreten ist, erscheint unbedingt erfreulich, ebenso wie die klärende Erörterung der Prinzipienfragen, besonders durch Unger. Nur sollte man sich doch hüten, von außenher voreilig Begriffe zu entlehnen und auszuwerten. Vorläufig habe ich den Eindruck, daß Burdachs Forschungen über die Böhmische Renaissance der Kunstgeschichte mehr Nutzen gebracht haben, als umgekehrt unserer Erforschung der Barockliteratur von dorther zugeflossen ist. Die sogenannte Scherersche Schule, d. h. die philologisch-historische Behandlung der Literaturgeschichte, war am Eingang unserer Periode durchaus nicht auf Berlin beschränkt: auch von München (Mich. Bernays), Wien (K. Tomaschek) und Leipzig (Rud. Hildebrand und Fr. Zarncke) sind tüchtige Vertreter dieser Richtung ausgegangen. Und wenn man versucht, die Literarhistoriker der letzten beiden Generationen in einem Stammbaum vorzuführen, so stellt sich gar bald heraus, daß die Mehrzahl, so verschiedenartig auch ihre Entwickelung sich gestaltet haben mag, bequem darin unterzubringen ist: Scherer — Erich Schmidt, Minor, Sauer, Roethe, v. Waldberg und wieder deren Schüler: Köster, Maync, Petersen, Petsch, Schultz, H. Schneider; Walzel, Körner, Arnold; Nadler, F. J. Schneider; Brecht; weiter von München: Muncker, Unger, Strich und Borcherdt, von Leipzig Elster, Saran usw. Ich sehe hier nirgends einen eigentlichen Bruch, aber vielfach wie bei Walzel, Unger, Strich selbständige Fortentwickelung, die teilweise zur Lösung und zum Gegensatz fuhren muß, aber doch wahrhaftig nicht zu dem törichten Kampfgeschrei: »Geistesgeschichte gegen Philologie« berechtigt. Außerhalb dieses Stammbaums, wenn auch gewiß nicht ganz ohne Fühlung mit ihm in Person und Lehre steht nur allenfalls die Gruppe um Stefan George, die ganz geleitet von künstlerischer Empfindung und künstlerischem Nachgestaltungsdrang auch an die Literatur der nahen und fernen Vergangenheit herantritt und den Mythus der Geschichte vorzieht: vor allem Friedrich Gundolf und Ernst Bertram. Was die zurückliegenden Jahrzehnte an wissenschaftlicher Arbeit geleistet haben, ist allerdings zu einem nicht geringen Teil in den großen historisch-kritischen 14*

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Ausgaben enthalten, die fast allen Autoren ersten und zweiten Ranges zu Teil geworden sind: wirklich vermißt werden solche heute in erster Linie für Hamann, Moser, Klopstock. Nicht alle sind so glücklich und einheitlich durchgeführt und abgeschlossen wie die Herder-Ausgabe Suphans, die Lessing-Ausgabe Munckers, die Heine-Ausgabe von Elster, die Storm-Ausgabe von Köster, die Hebbel-Ausgabe von R. M. Werner. Auf ihre Kant-Ausgabe und die Werke Wilhelms von Humboldt (gr. Teils das Verdienst von Alb. Leitzmann) darf die Berliner Akademie mit Befriedigung zurückblicken; möchte ihr bei dem von Ed. Berend betreuten Jean Paul ein gleiches beschieden sein, und möchten dem von Bernh. Seuffert ausgezeichnet vorbereiteten Wieland bald neue Mitarbeiter erstehn. Die zu gewaltigen Dimensionen angewachsene Luther-Ausgabe (heute schon über 60 Bände) trat (um des Jubiläumsjahres willen) 1883 zu früh hervor und litt stets unter wechselnder Leitung und niemals straff formuliertem Programm — so viel brave Arbeit dann auch Pietsch, Drescher u. A A . geleistet haben. Die große Weimarer Gesamtausgabe der Werke, Tagebücher und Briefe Goethes (begonnen 1887) war, als sie mit 133 Bänden 1918 abgeschlossen wurde, in vielen Teilen bereits veraltet. Immerhin stellt sie eine hochachtbare Leistung des Goethe- und Schillerarchivs und seines großen Stabes von Mitarbeitern dar. Den direkten Anstoß dazu hat die Erschließung des Goetheschen Nachlasses im Jahre 1885 gegeben — aber das Schönste was ihr in die Wiege gelegt ward, stammte von außerhalb: der »Urfaust« und der »Urmeister«. Ihre wertvollste Ergänzung fand sie in der von Ed. v. d. Hellen geleiteten »Jubiläumsausgabe«, der auch eine dringend notwendige »Säcularausgabe« der Werke Schillers im gleichen Cottaschen Verlag zur Seite schritt. Daneben boten und bieten die »Schriften der Goethe-Gesellschaft« fortdauernd wertvolle Ergänzungen, und die Ausgaben und selbständigen Arbeiten Jul. Wahles, Hans Wahls, Gerhard Graefs, Max Heckers. Auch die Erneuerung des »Jungen Goethe« von Max Morris muß hier genannt werden. Aus der Fülle der übrigen Ausgaben hier auch nur eine Auswahl zu treffen, ist unmöglich. Manche Autoren wie Hölderlin, Novalis, Kleist, die man vor 50 Jahren im Antiquariat suchen mußte, wurden von Herausgebern und Verlegern geradezu umworben. Die Österreicher waren eifrig bemüht um ihre Landsleute: Grillparzer, Raimund, Stifter, Anzengruber, die Niederdeutschen um Fritz Reuter und John Brinckman, die Schweizer um Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller, Conrad Ferd. Meyer. Mehrfach hat die allzu kostspielige Anlage wie auch die Verteilung auf zu viele Mitarbeiter den Fortschritt gehemmt und zum Stillstand gebracht. Die Literaturgeschichte größerer Sondergebiete wurde mehrfach dargestellt: für die Schweiz hat Jacob Baechtold schon 1892 gesorgt und neuerdings ergänzend Singer noch einmal das Mittelalter behandelt; für Österreich schufen Nagl und Zeidler ein etwas breitspuriges Werk, Schlesien erhielt soeben eine eigene Darstellung durch Heckel. Ebenso fehlt es nicht an Monographien für einzelne Gattungen: Karl Holl hat die Geschichte des Lustspiels, H. H. Borcherdt die von Roman und Novelle, Victor die der Ode, Günther Müller die des Liedes geschrieben. — Die Problemgeschichte wird am eindrucksvollsten durch Unger und seine Schüler gepflegt. Monographien über Dichter zweiten und dritten Ranges waren ein Lieblingsgegenständ der Schererschen Schule und dann wieder der Schule Erich Schmidts;

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sie wurden gelegentlich verengt auf den jungen Dichter. Eine Biographie vornehmen Stils schuf der auch von der Altgermanistik ausgegangene Max Rieger seinem Großohm Klinger (2 Teile und ein Briefbuch 1880. 1896); Erich Schmidts umfangreichstes Werk galt Lessing (1884—1892); Klopstock erhielt eine gute Lebensbeschreibung durch Muncker (1888), während Wieland noch immer seines Biographen harrt. Neben Hayms monumentales Werk über Herder (1880—1885) stellte Eugen Kühnemann zwei Versuche eigener Auffassung der Geistesbiologie und des Lebensganges. Von dem Dutzend Goethe-Biographien, die zwischen die beiden persönlichsten Werke von Hermán Grimm (1877) und Gundolf (1917) fallen, gehören die zwei meistverbreiteten der Schererschen Schule zu: die von R. M. Meyer und Alb. Bielschowsky. Schiller hat das sonderbare Missgeschick gehabt, daß alle größer angelegten biographischen Werke (Minor, Weltrich, Brahm) Torso geblieben sind; die Schillerbiographie muß noch geschrieben werden. Von den Romantikern haben Friedrich Schlegel und H. v. Kleist die Darsteller am meisten angezogen; soeben erhält Hölderlin einen Biographen durch Wilhelm Böhm. Grillparzer, dessen erster Biograph ein Franzose war, ist seitdem wiederholt bedacht worden, aber er bleibt dafür ein wenig lockender Gegenstand. Während es für Heine und die Jungdeutschen noch fast ganz an befriedigenden Monographieen fehlt, ist für Uhland vortrefflich durch H. Schneider (1920), für Mörike durch Maync, für Gottfried Keller durch Baechtold und Ermatinger, für C. F. Meyer durch Frey und Maync gut gesorgt. — Dieser flüchtige Überblick möge genügen. Und nun zum Schluß die Altertumskunde, die Volkskunde, die Realien! Nach Müllenhoffs Tode (1884) sind, aus seinem Nachlaß von Max Roediger herausgegeben, noch vierthalb Bände seiner Altertumskunde (2., 3., 4., 5 II) erschienen (1887—1900), zum Teil nur weit zurückliegende Vorarbeiten, die der Verfasser selbst so nicht zum Druck gebracht haben würde. Aber die Schüler, welche sich verantwortlich fühlten, haben richtig gehandelt, diesen Schatz von gelehrtem Wissen, scharfsinniger Auslegung und kühner Kombination der Wissenschaft nicht vorzuenthalten. Und so vielfach auch die Kritik einsetzen durfte und sollte: diese Bände haben ihre Frucht getragen und tragen sie noch immerfort. Die »Deutsche Altertumskunde« Müllenhoffs ist freilich nicht nur ein Torso, sondern ein Konglomerat aus mehr als drei Jahrzehnten seiner wissenschaftlicher Arbeit. Und wie die Aufgaben von vorn herein von M. gefaßt waren: tiefgründig und mit weitem Hintergrunde, konnten sie den Nachfolgern nahezu den Mut benehmen zu einer geschlossenen Gesamtdarstellung. Daß Fr. Kauffmann diesen Mut gehabt hat, eine »Deutsche Altertumskunde« (von der Urzeit bis zur Reichsgründung) zu schreiben (in 2 Teilen 1913. 1923), hätte man ihm mehr danken sollen, als es geschehen ist, und wird man ihm danken, wenn man gelernt hat, über die Fehler hinwegzusehen und das Ganze als eine höchst achtungswerte Leistung zu würdigen. Eine verdienstliche Darstellung der »Ethnographie der germanischen Stämme« hatte schon 1900 Otto Bremer zu Pauls Grundriß beigesteuert (2. A. 1904). Die fruchtbarste Arbeit auf diesem Spezialgebiet Müllenhoffs hat aber seit 1892 Rudolf Much geleistet und leistet sie noch fortwährend; von ihm rühren auch die einschlägigen Artikel in dem von Joh. Hoops geleiteten »Reallexikon der Deutschen Altertumskunde« (4 Bände 1911—1919) her. Much ist leider einer der ganz

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wenigen deutschen Germanisten, die fortdauernd mit der von Möllenhoff früh vernachlässigten Bodenarchäologie Fühlung gehalten haben, als deren großer Lehrmeister Oscar Montelius von Schweden stark zu uns herüberwirkte. Denn Gustav Kossinna, der als Möllenhoffs Schüler begonnen hatte und dann als Schüler von Montelius eine literarisch höchst regsame Tätigkeit entfaltet, auch tüchtige Schüler herangebildet hat, ist der deutschen Philologie frühzeitig fremd geworden. Urgeschichte und Frühgeschichte haben ihm gleichwohl viel zu verdanken. Zu einem Ausbau der deutschen Mythologie ist Müllenhoff nie gelangt: er hat sich zuletzt in dem heroischen Kampfe für die Echtheit der eddischen Überlieferung gegen die von den Norwegern Bang und Bugge ausgehenden Angriffe erschöpft. Die Sichtung der altbekannten und die Einfügving der neugewonnenen Quellen und Einsichten über die Religion unserer Vorfahren machte sich ein volles Halbdutzend von neuen Darstellungen zur Aufgabe, die gern auch das von der klassischen Altertumswissenschaft übernommene und von Jacob Grimm beibehaltene Stichwort »Mythologie« zurücktreten lassen und dafür »Altgermanische Religionsgeschichte« setzen: so Richard M. Meyer (1910) und Karl Helm (I. Bd. 1913), auf dessen zweiten Band wir schon lange sehnsüchtig warten. Das Band zwischen Mythologie und Volkskunde enger geknüpft und die allen Gefahren des Dilettantismus ausgesetzte Volkskunde mehr und mehr zu einer wissenschaftlichen Disziplin erhoben zu haben, ist das letzte große Verdienst Karl Weinholds, der in seiner Berliner Periode den »Verein für Volkskunde« gegründet und bis zu seinem Lebensende (1901) dessen wertvolle Zeitschrift geleitet hat. Die Zahl der Germanisten, die die wissenschaftliche Volkskunde literarisch und auf dem Katheder pflegen, ist seitdem beständig gewachsen: neben dem verstorbenen Fr. Vogt nenne ich hier seinen Breslauer Nachfolger Th. Siebs, Fr. v. d. Leyen, Fr. Panzer, R. Petsch, Fr. Ranke, H. Naumann, John Meier, Arthur Hübner, L. Wolff. Die meisten stehen zugleich in enger Fühlung mit der nordischen Philologie und werten die von Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland kommenden reichen Anregungen. Und hier sei auch der Platz gefunden, eines großen Unternehmens zu gedenken, das soeben zum Abschluß gelangt ist und das in gleicher Weise dem Verleger Eugen Diederichs in Jena wie dem Leiter Felix Niedner zum Ruhme gereicht: die 24 Bände der Sammlung »Thüle«, in deren Rahmen die Edda-Übersetzung Felix Genzmers und die fast noch schwierigere Verdeutschung zahlreicher Skaldenstrophen durch Niedner zugleich künstlerische Leistungen von hohem Werte sind. In diesem Unternehmen wirkt sich noch einmal die fruchtbare Berliner Lehrtätigkeit des Deutschdänen Julius Hoffory aus, zu dessen Freunden und Schülern vor allem A. Heusler, F. Niedner, W. Ranisch, P. Herrmann gehörten; Andere haben später den Weg zu diesem reizvollen Arbeitsgebiet gefunden: F. Detter, G. Neckel, R. Meißner, H. de Boor, W. H. Vogt. Für Sage und Märchen, für Volkslied und Volksbrauch ist durch weitere Sammlung, Ordnung und Wertung in diesen 50 Jahren viel geschehen. Die größte, eine wahrhaft Ehrfurcht weckende Leistung stellen gewiß Johannes Boltes »Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm« dar (4 starke Bände, 1913—1930). Den Sagen haben sich außer Fr. Panzer besonders v. d. Leyen und Ranke mit schönem Erfolg zugewandt.

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Das Volkslied, zu allen Zeiten ein Lieblingskind auch der Forschung, hat eine reiche Literatur aufzuweisen: die köstlichste Gabe ist uns noch kürzlich aus Lothringen in Louis Pincks »Verklingende Weisen« (bisher 2 Bände 1928/1929) zugekommen: stofflich und wissenschaftlich gleich wertvoll. Jetzt leitet seit Jahren der bestberufene Mann, John Meier in Freiburg i. Br., ein Archiv für Volksliedforschung und gibt seit kurzem auch eine eigene Zeitschrift heraus, — beides wird von unserer Notgemeinschaft freudig unterstützt. »Sitte und Brauch« hat vorläufig Paul Sartori (1910—1914) gut registriert, dem »Aberglauben« im weitesten Sinne gilt ein vortrefflich geleitetes »Handwörterbuch«, das eben erscheint. Eine Reihe von meist inhaltreichen Zeitschriften dient den Interessen der Volkskunde in allen Ländern des Sprachgebiets. Die mecklenburgischen Überlieferungen hat Paul Wossidlo mustergültig gesammelt, für das Lüneburgische Ed. Kück Vortreffliches geleistet. Aber das sind nur wenige Namen. Unter den Realien hat sich kein Gebiet regerer Pflege erfreut als der deutsche, insbesondere der ländliche Hausbau, seit hier im Anfang unseres Zeitraumes Aug. Meitzen und Rudolf Henning die entscheidenden Anregungen gegeben haben. Die unermüdliche TätigkeitWilli Peßlers in Hannover und neben ihm Otto Lauffers in Hamburg sei hier besonders hervorgehoben. Ein Buch wie Eduard Schonewegs »Leinengewerbe in der Grafschaft Ravensberg« (1923), das den Gegenstand nach allen Seiten erschöpft, weckt den Wunsch nach ähnlich gerundeten Monographien. Aber wir wollen auch dankbar sein für Teilgaben wie »Die Sprache des niederdeutschen Zimmermannes«, die Johannes Sass in Blankenese aufgenommen hat(i927). Für die ältere Zeit haben kulturgeschichtliche Bilderwerke vielfach gesorgt und versuchen es neuerdings auch wohl kartographische Darstellungen. Die beiden Werke von Alwin Schultz, »Das höfische Leben z. Zt. der Minnesänger« (2. Aufl. 1889) und »Deutsches Leben im 14. und 15. Jahrhundert« (1892) bleiben trotz allen Mängeln noch auf lange Zeit wertvolle Stoffsammlungen, Moriz Heyne hingegen hat in seinen leider unvollendeten »Fünf Büchern deutscher Hausaltertümer« (3 Bände 1899—1903), dazu »Das altdeutsche Handwerk« (1908 aus dem Nachlaß), gerade in der sichern Ausbeutung der literarischen und sprachlichen Quellen Vortreffliches geleistet. — Höher hinauf greifen vielfach die Aufsätze in der Zeitschrift »Wörter und Sachen« (seit 1904), besonders da wo die Herausgeber Meringer und Much aus sorgfaltig erwogenen Etymologien heraus frühzeitliche und vorzeitliche Erscheinungen und Gegenstände erschließen und verständlich machen. Die Literatur der alten wie der neuen Zeit ist in Handschriften und Drucken festgelegt und uns heute obendrein großen Teils bequem zugänglich gemacht. Die germanischen Dialekte und die Schriftsprache der mittleren und neueren Zeit liegen der Forschung offen. Aber die heutigen Mundarten, Volksart und Volksbrauch, die landschaftlichen Verschiedenheiten in Tracht und Nahrung, im Werkzeug des Bauern und des Handwerkers, und so viel anderes altes Volksgut schwinden täglich mehr. Und für vieles, unendlich vieles hat sich bisher kein Sammler und Aufzeichner gefunden. Darum beglückwünschen wir die Forschungsgemeinschaft und ihren altersfrischen Präsidenten heute zu nichts aufrichtiger als zu dem A t l a s der deutschen Volkskunde.

FRIEDRICH BRIE ENGLISCHE PHILOLOGIE Unter den philologischen Disziplinen gehört die Anglistik zu den jüngsten. Die Geschichte ihrer letzten fünfzig Jahre ist im Grunde ihre Geschichte überhaupt. Innerhalb dieser Zeitspanne hat die deutsche Forschung eine bedeutsame, in manchen Teilen führende Rolle gespielt. Ein Rückblick scheint um so angebrachter, als wohl die einzelne wissenschaftliche Leistung der deutschen Anglistik, worunter wir anglistische Forschung in deutscher Sprache überhaupt verstehen, in England und dem übrigen Auslande zumeist gerechter Schätzung, dagegen die Gesamtleistung der deutschen Anglistik unseres Wissens noch nie einer zusammenfassenden Würdigung begegnet ist. Daß es sich immerhin um ein beachtenswertes Stück deutscher wissenschaftlicher Arbeit handelt, wird selbst aus einer kurzen Skizze ersichtlich sein, in der wegen der Knappheit des Raumes nicht viel mehr als die allgemeinen Tendenzen und die Meilensteine der Forschung zu Worte kommen können. Die Erfolge der deutschen Anglistik sind um so höher anzuschlagen, als ihre äußere Lage zu Beginn unserer Epoche, um 1880 herum, alles andere als glänzend war. Nicht nur wurden an einer Reihe von deutschen Universitäten selbständige Professuren für Englisch erst in den achtziger Jahren begründet, sondern auch das Ansehen der anglistischen Wissenschaft war ein geringes. Die Vertreter der anderen philologischen Disziplinen sahen in der englischen Sprache vielfach nichts als einen degenerierten germanischen Sprachzweig und in der englischen Literatur eine Erscheinung, die abgesehen von einigen Höhepunkten, wie Shakespeare und Byron, uns wenig zu geben hätte. Angesichts des natürlichen Interesses, das jedes Land seiner eigenen Literatur entgegenbringt, ist es der Anglistik selbst bis zum heutigen Tage nicht möglich gewesen, alle Vorurteile gegenüber einer Beschäftigung mit der englischen Literatur aus dem Wege zu räumen. Unter solchen Umständen darf es als ein Zeichen großen Unternehmungsgeistes angesehen werden, wenn bereits Ende der siebziger Jahre die deutsche Anglistik zur Gründung zweier noch heute existierender, rein anglistischen Zwecken dienender Zeitschriften schritt, der »Englischen Studien (1877)« und der »Anglia« (1878). Die Gründung dieser Zeitschriften war gleichzeitig ein äußeres Symbol für die Loslösung der Anglistik von Germanistik und Romanistik, wie sie ein intensiver wissenschaftlicher Betrieb des Englischen verlangte; auch in der Folge ist nur eine weitere Zeitschrift gleicher Art hinzugekommen, die 1890 gegründeten »Mitteilungen über englische Sprache und Literatur und über englischen Unterricht« (Beiblatt zur Anglia). Das Wagnis war um so größer, als damals weder in England noch in Amerika eine wissenschaftliche, lediglich dem Studium des Englischen gewidmete Zeitschrift bestand. Klassische Philologie, Germanistik, vergleichende Sprachwissenschaft und Romanistik haben an der Wiege der deutschen Anglistik Pate gestanden. Der scheinbar am nächsten liegende Weg, bei der englischen Anglistik in die Lehre zu gehen, kam zunächst kaum in Betracht, da sich in England selbst ein wissenschaftlicher

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Betrieb des Englischen erst zur selben Zeit wie in Deutschland, zum Teil im engen und fruchtbaren Austausch mit deutscher Forschung, entwickelte. Es sei an den genialen Sprachforscher H. Sweet erinnert, der den damaligen jungen Anglisten vielfach zum Führer wurde. Irgendwelche Arbeitsteilung zwischen englischer und deutscher Anglistik hat es von Anfang an nicht gegeben. Beide haben in der gleichen Richtung gearbeitet, die Engländer naturgemäß mit stärkerer Betonung der neuenglischen Sprache und Literatur. Daß die großen organisatorischen Unternehmungen, wie das New English Dictionary, das Dialect Dictionary und die Cambridge History of English Literature, von Anfang an der Initiative englischer Forscher vorbehalten bleiben mußten, liegt in der Natur der Sache. An all dem änderte auch der Krieg nichts. So sehr das Eintreten Englands in die Reihen unserer Feinde die deutschen Forscher persönlich berührt hat, so trat trotz der Jahre politischer Leidenschaft innerhalb der deutschen Anglistik eine Änderung der Ziele oder des Betriebes nicht ein, außer daß mit einer verstärkten Forderung nach einer »englischen Kulturkunde« ein neues, speziell deutsches Interessenfeld geschaffen wurde, über das wir noch zu berichten haben werden. Die vorübergehende Abschneidung von den englischen Bibliotheken und die nachfolgenden Schwierigkeiten, die notwendigen Mittel für Publikationen, ausländische Literatur und Auslandsreisen aufzubringen, wurden, zum guten Teil durch die Hilfe der »Notgemeinschaft«, bald überwunden und brachten der anglistischen Forschung kaum einen ernsthaften Schaden. Das Gnadengeschenk einer hervorragenden Persönlichkeit von den Ausmaßen eines Jacob Grimm oder Friedrich Diez, die den Werdegang der Anglistik gleich in ihren Anfangen entscheidend beeinflußt hätte, wurde dieser Wissenschaft nicht zuteil. Die ältere Generation von Anglisten, die um 1880 an deutschen Hochschulen lehrte, folgte in erster Linie der von Lachmann, Haupt und Heinzel geschaffenen Tradition und veranstaltete kritische Ausgaben alt- und mittelenglischer, ja selbst neuenglischer Texte nach dem Muster der klassischen Philologie. Daß die Freude am Variantenapparat bis in die neueste Zeit hinein manche überflüssige Arbeit geleistet hat, kann nicht bestritten werden. Angesichts mancher Erscheinungen der heutigen Zeit verdient hervorgehoben zu werden, daß ein reiner, uninteressierter Dienst an der Sache herrschte, dem alles Geldverdienen fern lag. Charakteristisch hierfür ist die große uneigennützige Herausgebertätigkeit, die deutsche Forscher wie Zupitza, Kolbing, Holthausen, Horstmann, Einenkel, Bülbring, Kellner,Wülfing, Schick u.a.m., im Dienste der 1864 gegründeten Early English Text Society geleistet haben. Daß die deutsche Anglistik ihre ersten und vielleicht auch ihre größten Erfolge auf dem Gebiete der älteren englischen Sprache und Literatur davongetragen hat, erklärt sich einmal daraus, daß eine ganze Reihe von bedeutenden Germanisten, wie Paul, Sievers, Kluge, Siebs, Heusler u. a. m., sich im weiten Umfang mit Problemen der altenglischen Sprache und Literatur befaßten, — immer wieder hat die fortgeschrittenere deutsche Sprachwissenschaft der englischen Anstöße gegeben — zum anderen daher, daß eine ganze Reihe von Anglisten von der Germanistik herkamen und somit ganz naturgemäß ihr Hauptinteresse den älteren Perioden des Englischen zuwandten. Nachdem in den siebziger Jahren das Studium des Altenglischen vornehmlich durch die Arbeiten von H. Sweet einen neuen Aufschwung

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genommen hatte, erschien 1882 die klassische altenglische Grammatik von E. Sievers, die bis zum heutigen Tage die Grundlage für Erforschung und Erlernung der altenglischen Sprache geblieben ist. Mit voller Beherrschung des germanischen Hintergrundes wurde hier der westsächsische Dialekt, aus dem die altenglische Schriftsprache herausgewachsen ist, mit Scheidung von jüngeren und älteren Formen zu Grunde gelegt; daneben wurden auch die anderen Dialekte berücksichtigt. Da Sievers an der Erforschung des Altenglischen ständig weiter arbeitete, konnte schon die 2. Auflage (1886) eine Fülle von neuen Tatsachen bringen, die er teils selbst gewonnen hatte, teils von anderen übernahm. Der Anstoß, der von diesem Werke ausging, zeigte sich sofort in einer Fülle von Arbeiten. Die Lautlehre der griechischen, lateinischen und romanischen Lehnworte im Altenglischen wurde untersucht durch A. Pogatscher (1888). Die naturgemäße Ergänzung zu der Grammatik von Sievers bildete das Studium der nicht-westsächsischen Dialekte, an der sich außer Sievers selbst vor allem K. Bülbring beteiligte, der im Jahre 1902 den ersten und einzigen Band seines »Altenglischen Elementarbuches« veröffentlichte. Auf knappstem Räume wurde hier zum ersten Male eine wissenschaftliche Darstellung der altenglischen Lautlehre gegeben, in der alle Dialekte gleichmäßige Behandlung erfuhren. Seitdem hat die deutsche Forschung nicht aufgehört, sich mit der für altenglische Sprache, Kultur und Literatur gleich wichtigen grundlegenden Frage nach den Dialekt- und Stammesgrenzen in altenglischer Zeit zu befassen. Angeregt durch die neuere französische und deutsche dialektgeographische Forschung, gab A. Brandl in seiner Abhandlung »Zur Geographie der altenglischen Dialekte« (1915) auf Grund der Übereinstimmung von Stammes- und Kirchengeographie eine neue Umgrenzung der Dialekte; zugleich suchte er auf Grund der mittelenglischen Ortsnamen dialektische Lautkriterien für das Altenglische zu gewinnen, insbesondere für die sogenannte a/e-Grenze. Zu der von deutschen Anglisten (Pogatscher, Luick) gern behandelten Frage nach den Lehnwörtern im Altenglischen lieferte O. Funke einen ergänzenden Beitrag in seiner Studie über »Die gelehrten lateinischen Lehn- und Fremdwörter in der altenglischen Literatur von der Mitte des 10. Jahrhunderts bis um das Jahr 1066« (1914). Die Unterschiede zwischen angelsächsischer Dichtersprache und dem prosaischen Wortgebrauch der Zeit bemühte sich L. Schücking an einer Reihe von Beispielen darzulegen (1915). Auch die Verbindung von Wort- und Sachforschung erwies sich als fruchtbar. In seinem großangelegten Werke über »Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum« (1905) suchte J. Hoops von Botanik und Archäologie her den altgermanischen und damit auch den altenglischen Wortschatz zu interpretieren. In Anlehnung an die deutsche Philologie bestrebte man sich, das Studium älterer und neuerer Ortsnamen fruchtbar zu gestalten (M. Förster und O. Ritter). Seite an Seite mit all diesen Untersuchungen liefen die ganze Zeit hindurch eine Fülle von Arbeiten, insbesondere aus der Feder von Anfängern, die zum Teil schematisch und mit ungenügendem Rüstzeug die sprachlichen Eigentümlichkeiten der einzelnen Denkmäler herauszuarbeiten suchten. Auf dem Gebiete des Mittelenglischen hatte die deutsche Anglistik bereits in den sechziger und siebziger Jahren mit F. H. Stratmann und E. Mätzner wertvolle Arbeiten auf dem Gebiete der Lexikologie und der Grammatik hervorgebracht.

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Angesichts der reichen Entfaltung der Dialekte in mittelenglischer Zeit richtete sich die Forschung schon früh auf die Bestimmung der Mundarten der Denkmäler und auf die Frage nach der örtlichen Abgrenzung der Dialektgebiete. Schon mit den gröberen Methoden der Reimuntersuchung ließen sich hier allerhand brauchbare Ergebnisse erzielen. So bemühte man sich in den achtziger Jahren zunächst entsprechend den Untersuchungen auf altenglischem Gebiete besonders um die Aufklärung der Sprache der frühmittelenglischen Denkmäler, die den altenglischen sprachlich nahe standen. Ein neues Zentrum der Forschung entstand mit ten Brinks Darstellung von »Chaucers Sprache und Verskunst« (1889), eine für damalige Zeit mustergültige Untersuchung, die germanischen und romanischen Sprachelementen die gleiche Aufmerksamkeit schenkte. Chaucer wurde von ten Brink aufgefaßt als einer der Begründer der englischen Schriftsprache im 14. Jahrhundert, und so blieb von da an die Aufhellung des Ursprungs der neuenglischen Schriftsprache eines der Hauptziele der deutschen Forschung. Das Problem wurde in seiner Bedeutung richtig erkannt und auf Grund eines umfangreichen Materials von Urkunden abgehandelt von L. Morsbach in seiner Schrift »Über den Ursprung der neuenglischen Schriftsprache« (1888). Mit dieser Untersuchung war im Grunde bereits ten Brinks Anschauung, daß die Schriftsprache vom Schriftsteller gemacht werde, überwunden und die Herkunft der heutigen englischen Schriftsprache aus der Londoner Gemeinsprache festgestellt. Diese Ergebnisse wurden auf's neue bestätigt durch die sorgfaltige Untersuchung von F. Wild über »Die sprachlichen Eigentümlichkeiten der wichtigeren Chaucer-Handschriften und die Sprache Chaucers« (1915). Morsbachs Untersuchungen der Londoner Urkunden wurden nach rückwärts ergänzt durch E. Dölles Schrift »Zur Sprache Londons vor Chaucer« (1913) und durch W. Heusers Studie »Altlondon, mit besonderer Berücksichtigung des Dialektes« (1914), wo zum ersten Male das große Material der Personen-, Orts- und Straßennamen in den lateinischen und französischen Urkunden zur Ergründung der alten Londoner Mundart herangezogen wurde. Seine weitere notwendige Ergänzung erfuhr das ganze Problem neuerdings durch die Untersuchungen von H. Flasdieck über die Ausbreitung der englischen Gemeinsprache im 15. Jahrhundert in seinen »Forschungen zur Frühzeit der neuenglischen Schriftsprache« (1922). Ähnlich wie auf dem Gebiete des Altenglischen wandte man sich auch auf dem Gebiete des Mittelenglischen schon früh der Erforschung der Lehnworte zu. Bereits 1886 stellte D. Behrens den normannischen Lautstand als den Ausgangspunkt für die Form der französischen Lehnworte fest. Dem keltischen Lehngut im Englischen wurde bis in die Gegenwart nachgegangen in einer Studie von M. Förster (1921). Die großen zusammenfassenden Arbeiten über die mittelenglische Sprache blieben deutscher Forschung vorbehalten. 1896 erschien die erste und einzige Lieferung von Morsbachs Mittelenglischer Grammatik. Das denkbar gründlich angelegte Werk, das einen Überblick über die Quellen und die zeitliche und örtliche Einteilung des Mittelenglischen brachte und die Lautlehre bis tief in den Vokalismus hinein verfolgte, blieb zwei Dezennien hindurch die grundlegende Veröffentlichung auf einem Gebiete, auf dem unablässig gearbeitet wurde. In Anlehnung an die Methoden und Ergebnisse der deutschen Lautgeschichte be-

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handelte Luick von den heutigen englischen Mundarten aus die verwickeltsten Lautprobleme des Mittelenglischen und Neuenglischen in seinen »Untersuchungen zur englischen Lautgeschichte« (1896) und in seinen »Studien zur englischen Lautgeschichte« (1903). Erst durch die streng philologische Methode von Luick wurde das Hilfsmittel der mittelenglischen Orthographie, das über der Reimkritik lange vernachlässigt worden war, wieder als ein brauchbares Werkzeug erwiesen. Als Ergebnis langer Studien und sorgfältiger Durcharbeitung aller mittelenglischen Texte gab 1925 R. Jordan sein »Handbuch der mittelenglischen Grammatik« heraus, dessen erster und einziger Teil eine knappe Gesamtdarstellung der Lautlehre vom Ausgang des Altenglischen bis ins 15. Jahrhundert enthält und eine Auseinandersetzung unternimmt mit all den schwierigen Problemen mittelenglischer Schreibung, Lautentwicklung, Kontamination und Dialektgeographie. Die Arbeit auf alt- und mittelenglischem Gebiete ging Hand in Hand mit Darstellungen der gesamten englischen Sprachgeschichte, die zumeist den Lautstand der älteren Sprachperioden untersuchten. Diese hatte zwar schon vor 1880 eifrige Pflege gefunden durch Gelehrte, wie E. Fiedler, C. Sachs, E. Mätzner und F. Koch, wurde aber jetzt in neue Bahnen gelenkt durch die Arbeiten von Ellis und Sweet und durch das Erscheinen des New English Dictionary. Im Anschluß an die englische Forschung unternahm F. Kluge 1891 einen auf selbständiger Forschung beruhenden Versuch in seiner Darstellung der Entwicklung der Laute und Formen des Englischen bis zum Zeitalter Shakespeares in Pauls Grundriß der germanischen Philologie, die er in der zweiten Auflage (1899) bedeutend erweiterte. Die entscheidende, lang erwartete Zusammenfassung brachte aber erst K. Luick in seiner »Historischen Grammatik der englischen Sprache«. Sie gibt bereits in ihrem ersten Bande (erste Abteilung 1914—21) auf Grund umfassendster Einzelkenntnisse und selbständiger Forschung vom Indogermanischen ausgehend über das Urgermanische, Gemeinwestgermanische und Anglofriesische hin die ganze Entwicklung der äußeren englischen Lautgeschichte bis zum Ausgang des Mittelenglischen in sorgfältigstem chronologischem Aufbau mit steter Betonung der sprachgeschichtlichen Veränderungen. Der ganze heute fertig gestellte Teil, bis zur Entwicklung der Laute seit dem 15. Jahrhundert, bedeutet einen Triumph über eine Fülle von komplizierten, mit einander verzahnten Problemen, eine Art Abschluß der ganzen bisherigen, rein positivistisch eingestellten Richtung innerhalb der Erforschung der englischen Sprache. Durch ihre Herkunft von der Germanistik in ihrer Blickrichtung bestimmt, begann die deutsche Anglistik sich erst verhältnismäßig spät der wissenschaftlichen Erforschung des Neuenglischen zuzuwenden. Aber auch hier, wo sie in einem schärferen Wettbewerb nicht nur mit der englischen, sondern auch mit der skandinavischen Forschung einzutreten hatte, hat sie der Wissenschaft bedeutsame Anstöße gegeben. Dazu half die frühe und starke Betonung der Phonetik von Seiten der deutschen Gelehrten, die ihren äußeren Ausdruck fand einmal in E. Sievers »Grundzügen der Lautphysiologie« (1876) und in W . Vietors »Elementen der Phonetik des Deutschen, Englischen und Französischen« (1884), zum anderen in der Anwendung der Ergebnisse moderner Phonetik auf die Interpretation älterer Sprachperioden. Erst durch die mit phonetischer Methode vorgenommenen

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systematischen und einander ergänzenden Untersuchungen der Reime und Schreibungen setzte eine wirklich geschichtliche Betrachtungsweise ein. Den Anregungen folgend, die Ellis im 5. Teil seines Werkes On Early English Pronounciation (1889) gegeben hatte, ging die deutsche Forschung bald nach 1900 dazu über, die einzelnen Sprachbücher der Phonetiker und Grammatiker des 16.—19. Jahrhunderts zu untersuchen. Eine große Reihe von ihnen sind kritisch herausgegeben worden in der von R. Brotanek eröffneten Sammlung »Neudrucke frühenglischer Grammatiker« (1905 ff.). Untersuchungen dänischer und schwedischer Zeugnisse vor 1750 (F. Holthausen) und französischer Sprachbücher (Th. Spira) schlössen sich an. Hand in Hand damit liefen Untersuchungen der Schreibungen in Briefen und Tagebüchern. Den Einfluß des Schriftbildes auf die Aussprache im Englischen untersuchte E. Koppel (1901). In einer großen Reihe von Anfängerarbeiten wurde die Sprache von neuenglischen Autoren, zunächst im Anschluß an die Erforschung des Mittelenglischen mit Vorliebe von Renaissance-Schriftstellern, erforscht. Einen Höhepunkt in der Lexikographie sowohl in Auswahl des Materials wie in Etymologie und phonetischer Wiedergabe, bedeutete die Bearbeitung des alten Wörterbuches von Grieb durch A. Schröer (1894). Eine immer stärkere Orientierung nach der lebenden Sprache hin ist im neuen Jahrhundert unverkennbar. A u f Grund der Grammatikerzeugnisse und der neuenglischen Mundarten gab W . Horn im ersten und einzigen Teile seiner »Historischen neuenglischen Grammatik« (1908) eine selbständige und übersichtliche Darstellung der Lautlehre, die allen bisher gewonnenen Ergebnissen Rechnung trug. Eine wichtige Erscheinung der Formenlehre, die Ausbreitung des s-Plurals im Englischen, wurde von E.Roedler (1911/16) in ihrem langen und komplizierten Laufe verfolgt. Für die Geschichte des grammatischen Geschlechts wurde richtunggebend die kleine, aber gehaltvolle Abhandlung von L. Morsbach über »Grammatisches und psychologisches Geschlecht im Englischen« (1913). Neben der Betonung der Worte im Englischen wurde der Prosarhythmus untersucht von W . Franz (1911) und seinen Schülern und die Sprachmelodie durch H. Klinghardt (1921). Zwei Jahre lang (1905—06) vermochte sich sogar eine Zeitschrift für neuenglische Wortforschung zu halten. Der Änderung des neuenglischen Wortschatzes durch Aufnahme von Ausdrücken der Standes- und Zunftsprache und der Untersuchung des neuesten Wortschatzes der Kriegszeit galten eine Reihe von kulturhistorisch und soziologisch gefärbten Arbeiten von H. Spieß und seinen Schülern. In seiner reichhaltigen Schrift »Kultur und Sprache im Neuen England« (1925) versuchte Spieß kulturelle Wandlungen und sprachliche Entwicklung innerhalb der neueren und neuesten Zeit nebeneinander darzustellen sowie Sprachgebrauch und Wortschatz aus den Wandlungen der Kultur zu erklären. Selbst das Gebiet der lebenden englischen Mundarten, das aus natürlichen Gründen im wesentlichen Domäne der englischen Forschung bleiben muß, wurde von der deutschen Forschung immer wieder einmal betreten, obwohl bei dem Mangel eines englischen Sprachatlasses befriedigende Ergebnisse hier nur gezeitigt werden konnten auf Grund eines langen Aufenthaltes in dem betreffenden Dialektgebiete. Viele feinere Beobachtungen konnten erst gemacht werden, als man sich der Grammophonplatte zuzuwenden begann und während des Krieges Dialektauf-

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nahmen in den englischen Gefangenenlagern machte. Aus der Erwägung heraus, daß Aufnahmen durch das Ohr niemals die Exaktheit erreichen, die bei sichtbaren Sprachkurven durch deren Ausmessung zu gewinnen ist, entstanden die experimentalphonetischen Untersuchungen an modernen Dialektschriftstellern durch A. Brandl und eine Reihe seiner Schüler sowie die Aufnahme und Umschrift gesprochener englischer Dialekttexte in der »Lautbibliothek« (i926ff.). Daß hier neue Möglichkeiten zur Erforschung der lebendigen Sprache und zu Rückschlüssen auf die vergangene sich auftun, liegt auf der Hand, aber ebensosehr, daß es sehr verfeinerter Methoden und Apparate bedarf, um die Fehlerquellen auszuschließen, vor allem eines sehr geschulten Stabes von Interpreten und eines sehr reichhaltigen und nach kritischen Gesichtspunkten zusammengestellten Materials von Sprechern. Erst als die Erforschung der historischen Laut- und Formenlehre schon ziemlich weit geklärt war, machte sich die deutsche Anglistik an das Gebiet der historischen Syntax heran. Bahnbrechend für die mittelenglische Syntax wurden die verschiedenen Abhandlungen von E. Einenkel, die ihren Höhepunkt erreichten in seinen Darstellungen der historischen englischen Syntax in den verschiedenen Auflagen von Pauls Grundriß. Von den neunziger Jahren ab entstanden zahlreiche Arbeiten, teils historischer, teils beschreibender Art, über einzelne syntaktische Erscheinungen sowie über die Syntax einzelner Sprachdenkmäler: Die Syntax des englischen Verbums wurde behandelt von L. Kellner (1885), das Verhältnis von englischem Perfectum und Praeteritum von G. Caro (1899), das englische Indefinitum durch E. Einenkel (1903). J. E. Wülfing untersuchte die Syntax Alfreds des Großen (1894—97), John Ries in vorbildlicher Weise die Wortstellung im Beowulf (1907), L. Schücking die Satzverknüpfung im Beowulf (1904), G. Hübener die Wortstellungsentwicklung im Angelsächsischen (1915), W . Horn die Bedeutung der Wort- und Konstruktionsmischung im Englischen (1921). Die Syntax Shakespeares wurde eingehend untersucht von W . Franz in seiner Shakespeare-Grammatik (1900), die sich in der zweiten Auflage (1909) zu einer weitausgreifenden Einführung in die historische Betrachtung der englischen Syntax überhaupt auswuchs. Unabhängig von historischen Gesichtspunkten stellte G. Krüger die Syntax der lebenden englischen Sprache an einer überwältigenden Fülle von Material in seinen »Schwierigkeiten des Englischen« (1897—1904) dar, insbesondere in den stark erweiterten späteren Auflagen. Die offenkundigen Erfolge der deutschen Anglistik auf dem Gebiete der Sprachforschung flößten ihr die ganze Zeit hindurch ein starkes Vertrauen in die Richtigkeit ihrer bisherigen Wege und Ziele ein. Davon legen ein beredtes Zeugnis ab zwei neuere orientierende Übersichten, die »Englische Sprachkunde« (1923) von J. Hoops und »Die englische Sprachwissenschaft« von W . Horn (1924). Die erste gibt einen ausführlichen kritischen Bericht über die Erscheinungen der Jahre 1914—20, die zweite über die Veröffentlichungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Von jener Krisenstimmung, wie sie sich heute in der vergleichenden Sprachwissenschaft, zum Teil auch in der romanischen und germanischen findet, hat sich die englische so gut wie frei gehalten. Das Gefühl, daß mit den bisherigen Methoden viel erreicht worden ist und daß nur auf diese Weise gesicherte Unterlagen für jede weitere Erforschung der englischen Sprache gelegt werden können, hat die Vertreter

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der deutschen Anglistik an ihren bisherigen positivistischen Anschauungen festhalten und den Gedanken nicht aufkommen lassen, daß eine Wissenschaft der englischen Sprache, die ihre Ziele nur in sich selbst sucht, sich langsam totläuft. Und doch ist nicht zu verkennen, daß die bisherige Art des sprachlichen Betriebes zu einer Isolierung der englischen Sprachwissenschaft geführt hat; zu wenig Brücken führen hinüber zur Erkenntnis des allgemeinen geistigen Lebens der Nation. Die Zusammenhänge mit der Kulturgeschichte, wie man sie bei wortgeschichtlichen Untersuchungen und bei der Dialektforschung gesucht hat, haben keine tieferen Konsequenzen gehabt; man hat eine wirkliche psychologische, kulturgeschichtliche und soziologische Deutung der sprachlichen Formen und Vorgänge auch weiterhin vermieden. Die Versuche, die M. Deutschbein fast als einziger gemacht hat, vor allem in seinem »System der neuenglischen Syntax« (1917), um bei der Erforschung des Englischen eine moderne, psychologisch-logische Betrachtungsweise zur Geltung zu bringen und die Unterschiede zwischen der sprachlichen Denkform des Englischen und des Deutschen aufzudecken, wurden wegen der konstruktiven, die historischen Grundlagen beiseite lassenden Neigungen des Verfassers abgelehnt. Und doch kann man angesichts seines zusammenfassenden Aufsatzes über englisches Volkstum und englische Sprache (in »Englandkunde« 1928) bei mancher Einschränkung im einzelnen nicht mehr verkennen, daß diese Methode, Parallelen, in erster Linie naturgemäß in der Syntax, zwischen bestimmten Eigentümlichkeiten der englischen Sprache und spezifischen Zügen des englischen Volkscharakters zu ziehen, Zukunft hat. Auch in der Anglistik wird langsam eine Umstellung in der Richtung erfolgen, daß man sprachliche Erscheinungen stärker nach dem Gesichtspunkte werten wird, ob wir in ihnen eine Widerspieglung der Anschauungen und Vorstellungen ihrer Zeit feststellen können oder ob wir umgekehrt durch sie zu allgemeinen Erkenntnissen ihrer Zeit und der Wandlungen im englischen Geiste gelangen können. Daß die deutsche Anglistik solche Wege nicht eher beschritten hat, ist einer der Gründe dafür gewesen, daß die jüngere Generation sich in so auffalliger Weise von der Wissenschaft der englischen Sprache abgewendet und literaturund kulturgeschichtlichen Problemen zugewendet hat. Die literaturgeschichtliche Forschung zeigt in ihrer Entwicklung starke Parallelen zu der sprachgeschichtlichen. In ihren Anfangen war sie vielfach behindert durch das einseitige Interesse ihrer Vertreter am Sprachlichen und Textkritischen. Vertreter der Anglistik gaben gelegentlich zu, daß auch die bedeutendsten englischen Dichter von ihnen lediglich gewertet würden als Gegenstand für sprachliche Studien. Diesen Zustand spiegelten auch die Vorlesungsverzeichnisse und die Dissertationsthemen der Zeit wider. Die positivistische Einstellung der damaligen Forschung mit ihrer Beschränkung auf kausal leicht faßliche Zusammenhänge, insbesondere auf die äußeren Abhängigkeitsverhältnisse der Schriftsteller von ihren Vorbildern, und mit ihrer Überschätzung der Kleinarbeit, die vielfach sich gegen größere synthetische Ziele sperrte, mußte hier, wo es sich um Erfassung und Interpretationen von Kunstwerken handelte, in unvergleichlich höherem Maße zu einem hemmenden Faktor werden als in der Sprachwissenschaft. Die englische Forschung, die von Haus aus ein engeres persönliches Verhältnis zu den Literaturwerken besaß, hat sich hier vielfach einen freieren Blick gewahrt als die deutsche.

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Der Einstellung auf die älteren Sprachperioden ging parallel die Einstellung auf die alt- und mittelenglische Literatur; auch hier haben Vertreter der Germanistik, wie Müllenhoff, Sievers, Heinzel, Kluge, Heusler, Panzer u. a. m., wiederum wertvolle Hilfe geleistet. Unter dem Eindruck von Scherers Geschichte der deutschen Literatur unternahm zu Beginn unserer Epoche B. ten Brink den einzigen bedeutsamen Versuch einer Gesamtdarstellung der englischen Literatur, den die deutsche Anglistik bis zum heutigen Tage hervorgebracht hat (i. Bd. 1877, 2. Bd. 1. Hälfte 1889, 2. Hälfte aus dem Nachlaß herausgegeben von Brandl 1893). Obwohl das Werk bereits mit den ersten Dezennien des 16. Jahrhunderts abbricht, stellte es vom Standpunkt der Stoffdurchdringung, des proportionierten Aufbaus und vor allem der ebenmäßigen und gefalligen Darstellung alles Vorhandene in Schatten. Eine Gesamtdarstellung der englischen Metrik versuchte J. Schipper (1888), beschränkte sich aber dabei lediglich auf Beobachtungen quantitativer Art. Von Anfang an leistete die deutsche Anglistik gute Arbeit bei der Herstellung von kritischen Texten. In Grein-Wülckers Bibliothek der angelsächsischen Prosa (1872 ff.) wurden eine Reihe der wichtigsten Denkmäler, vor allem Werke Alfreds des Großen, mit vortrefflichem Apparat von Schröer, Wildhagen, Hecht, Fehr u. a. m. herausgegeben. Ähnlich wurde auch Greins Bibliothek der altenglischen Poesie, die nur mangelhafte Texte bot, für wissenschaftliche Zwecke brauchbar gemacht durch die kritische Neuausgabe von Wülcker (i88iff.). Hand in Hand damit ging die Interpretation. Wenige Denkmäler der altenglischen Literatur dürften vorhanden sein, an deren Aufhellung die deutsche Forschung sich nicht beteiligt hätte. Da die Fragen nach Entstehung, Datum, Herkunft, Sprache, Autorschaft und Komposition der Denkmäler zumeist nur durch sprachliche Kriterien zu gewinnen waren, finden wir hier vielfach dieselben Gelehrten tätig, welche die Probleme der Sprachwissenschaft zu klären versucht hatten, wie Sievers, Heinzel, Möllenhoff, Kögel, ten Brink, Sarrazin u. a. m. Nicht selten wurden allerdings Fragen, wie die nach der eventuellen Abfassung eines Denkmals durch Caedmon oder Cynewulf aufgeworfen, diskutiert und beantwortet, ohne daß die damalige Kenntnis von der Entwicklung des Altenglischen oder seiner Dialekte eine Antwort erlaubte. Immerhin klärten sich durch den ständigen, oft scharfen Kampf der Ansichten in den achtziger und neunziger Jahren die Probleme. Von Anfang an stand der Beowulf für die deutsche Forschung im Vordergrunde. Bis zum Erscheinen der Ausgabe von F. Klaeber waren es zwei deutsche Ausgaben des Beowulf, welche die Ergebnisse der textkritischen Forschung jeweils am besten zum Ausdruck brachten, einmal die von M. Heyne in der Bearbeitung von Socin (i888ff.) und von L. Schücking (1908fr.), zum anderen die von Holthausen (1905 ff.). Auch im neuen Jahrhundert ist ununterbrochen an der Datierung des Beowulf (Morsbach, Schücking, Liebermann), an der Handschrift (M. Förster, Hoops), der Entstehung (Hübener), den urgeschichtlichen und historischen Grundlagen (Panzer, Deutschbein, Binz, Brandl, Hoops, Neckel) gearbeitet worden. In die vielumstrittenen und verwickelten Probleme der altenglischen Literaturgeschichte brachte A. Brandl vor allem in chronologischer Hinsicht eine vorläufige Ordnung durch seine Darstellung in der 2. Auflage von Pauls Grundriß (1908), die alle Fragen berücksichtigte und neben einer sorgfaltig durchdachten Anordnung des

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Stoffes auch eine Fülle von einzelnen neuen Anregungen brachte. Nicht nur die Literatur im engeren Sinne, sondern auch weitere Gebiete der altenglischen Kultur wurden von der deutschen Forschung gefördert, so die Kenntnis der Rechtsdenkmäler durch F. Liebermann oder der Palaeographie durch W. Keller. Für eine Fülle von Fragen, die mit altenglischer Kultur und Literatur zusammenhingen, brachte das von Hoops herausgegebene »Reallexikon der germanischen Altertumskunde« (1911—19) teils zusammenfassende, teils die Forschung fördernde Artikel. Um die Erklärung der altenglischen Poesie bemühte sich R. Imelmann (1920). Neues Licht fiel auf die altenglische Dichtung als Glied der germanischen überhaupt durch A. Heuslers souveräne Darstellung der »Altgermanischen Dichtung« (1923). Eine kenntnisreiche, auch den ästhetischen Gesichtspunkten Rechnung tragende Darstellung der alt- und mittelenglischen Literatur bis zum 14. Jahrhundert gab auf knappem Räume L. Schücking (Handbuch der Literaturwissenschaft 1927). Auch für das Mittelenglische stand traditionsgemäß die Herausgabe der Denkmäler und die Untersuchung von Handschrift, Mundart, Heimat, Entstehungszeit, Quelle, Verfasserschaft, Metrik und Stil im Vordergrunde. Da zunächst das sprachliche Interesse im Vordergrund stand, wendete man sich mit Vorliebe der mittelenglischen Literatur vor Chaucer zu. Nur wenige mittelenglische Denkmäler dieser Epoche dürften nicht von deutscher Forschung nach irgendeiner Richtung hin untersucht worden sein. Obwohl angesichts unserer rasch fortgeschrittenen Kenntnis der mittelenglischen Sprache vieles an den damaligen Ergebnissen heute überholt ist, haben Ausgaben, wie die der mittelenglischen Legenden und der Werke Rolles of Hampole durch Horstmann ihren Wert behalten, ebenso Quellenuntersuchungen wie die über Lagamon durch Imelmann (1906). Die Erforschung der großen Gestalten des 14. Jahrhunderts, Chaucer, Langland, Wyclif, Gower und Barbour, blieb mehr der englischen Forschung vorbehalten. Immerhin wurde in der Erkenntnis Chaucers durch Abhandlungen von E. Flügel, E. Koeppel, John Koch und anderen mehr mancher Fortschritt, besonders in der Aufdeckung von Quellen, erzielt. Reich an Ergebnissen war die deutsche Lydgate-Forschung, die in J. Schicks Ausgabe des Temple of Glass (1891) ihren Höhepunkt fand. Das mittelalterliche englische Drama profitierte von dem Interesse der deutschen Anglisten an Shakespeare. W. Creizenach stellte in seiner »Geschichte des neueren Dramas« (Bd. 1, 1893) das englische Drama zum ersten Male in den richtigen gemeineuropäischen Zusammenhang hinein. Eine Reihe weniger bekannter Dramen des Mittelalters und der Renaissance gab A. Brandl mit umfassender kritischer Einleitung heraus in den »Quellen des Weltlichen Dramas in England vor Shakespeare« (1898). Den gesamten Bereich der mittelenglischen Literatur versuchte bald nach ten Brink in selbständiger Weise A. Brandl nach dem neuen Gesichtspunkt der Heimat der Denkmäler zusammenzufassen in dem Abschnitt »Mittelenglische Literatur« in Pauls Grundriß (1892), zu früh insofern als die englische Sprachwissenschaft noch keine genügend sicheren Grundlagen für einen derartigen Ausgangspunkt geliefert hatte. Der ästhetischen Interpretation der mittelalterlichen Denkmäler wurde wenig Gewicht beigelegt; es ist charakteristisch, daß bis zum heutigen Tage kein altenglisches oder mittelenglisches Lesebuch erschienen ist, das nach ästhetischen Gesichtspunkten zusammengestellt wäre. 15 FeiUchrift Schmidt-Ott

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Bei der Beschäftigung mit der neuenglischen Literatur mußte naturgemäß alle Herausgebertätigkeit größeren Stils der englischen Forschung überlassen bleiben. In der Einzelforschung mußte bei dem anders gearteten Material die Frage nach Sprache, Heimat und Verfasserschaft zurücktreten hinter der nach der Quelle und der Biographie der Verfasser. Die positivistische Einstellung verhinderte, daß man bei der biographischen Darstellung den inneren Erlebnisvorgängen genügend Rechnung trug oder daß man in den geschaffenen Kunstwerken überindividuelle Werte sah, die man mit nachschaffendem Verstehen zu erklären versucht hätte. Die zusammenfassenden Darstellungen der einzelnen Perioden und Gattungen der Literatur wurden der englischen Forschung überlassen. Erst als im 20. Jahrhundert das Bedürfnis nach Synthese wieder stärker erwachte, kamen eine Reihe von Versuchen in dieser Richtung zustande. L. Kellners Werk über die englische Literatur im Zeitalter der Königin Viktoria (1909) stellte ähnlich wie Helene Richters Geschichte der englischen Romantik (1911 und 1916) nicht viel mehr dar als eine Reihe lebendig geschriebener Essays. Erst die Gesamtdarstellung der englischen Literatur, die im Rahmen des »Handbuchs für Literaturwissenschaft« erschien, war getragen von dem Gedanken einer Durchdringung der einzelnen Perioden gleichzeitig nach der wissenschaftlichen wie nach der ästhetisch-philosophischen Seite. Das noch nicht in allen Teilen abgeschlossene Werk, das in der Verteilung des Raums auf die einzelnen Perioden leider von unsachlichen Interessen des Verlags behindert wurde, gipfelt in der umfangreichen Darstellung der englischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts durch B. Fehr. Trotz äußerer Beibehaltung einer historisch-biographischen Anordnung erweist sich hier durch die Schilderung der Persönlichkeiten von innen nach außen und durch die Erfassung des Kunstwerks und seines Stils aus der Seele des Dichters heraus die Literaturgeschichte auf dem Wege zur Stilgeschichte. Die ideengeschichtliche Forschung kam in der deutschen Anglistik zu Worte in F. Blies Untersuchungen über »Imperialistische Strömungen in der englischen Literatur« (1916) und über »Deismus und Atheismus in der englischen Renaissance« (1924). M. Deutschbein suchte einmal die Wölfflinschen Begriffe von Renaissance und Barock auf die Kunst von Shakespeare zu übertragen (1916), zum anderen mit Hilfe der phaenomenologischen Methode »Das Wesen des Romantischen« (1921) darzulegen. Die Eigentümlichkeiten des Rokoko suchte F. Brie in der englischen Literatur zu Beginn des 18. Jahrhunderts nachzuweisen (Englische Rokoko-Epik 1927). Von soziologischen Gesichtspunkten aus bestrebten sich Schücking, Schöffler, Hübener und Aronstein, bestimmte Erscheinungen der englischen Literaturgeschichte, von denen noch die Rede sein wird, zu interpretieren. Schücking ist gelegentlich theoretisch so weit gegangen, Literaturgeschichte als Geschmacksgeschichte aufzufassen. All das war bewußte oder unbewußte Abkehr von der bisherigen, allzu äußerlichen, Chronologie und Kausalnexus allzu stark betonenden Literaturbetrachtung. Bis zum heutigen Tage hat sich dagegen die Biographie innerhalb der deutschen Anglistik modernen Strömungen unzugänglich erwiesen. Das gegebene Einfallstor, von dem aus die deutsche Anglistik an die englische Renaissance heranging, war Shakespeare. Die ganze rastlose Arbeit, um in Shakespeare und seine Zeit einzudringen, zeigen am besten die Jahrbücher der 1864

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gegründeten deutschen Shakespeare-Gesellschaft. Legion ist die Zahl der Schriften, der Aufsätze wie der Dissertationen, die unsere Kenntnis der Shakespearischen Dramen in bezug auf Überlieferung, Quellen, Typen, Komposition, Stil und Motive um ein Geringes gefördert haben. In den letzten Jahrzehnten steuerte die deutsche Forschung mehrere große, zusammenfassende Darstellungen des gesamten Dramas der englischen Renaissance bei, einmal im 4. und 5. Bande von W. Creizenachs großer »Geschichte des neueren Dramas« (1909 und 1916), der in streng chronologischer Abfolge mit souveräner Beherrschung des Stoffes und sicherem Sinn für das Wesentliche das Wachsen und Schwinden der einzelnen Dramengattungen schildert, zum anderen in den als Fortsetzung zu der mittelenglischen Literatur in Pauls Grundriß entworfenen und mehr als Nachschlagewerk gedachten zwei Bänden von E. Eckhardt über das englische Drama im Zeitalter der Reformation und der Hochrenaissance (1928) und der Spätrenaissance (1929). Einen Versuch, bei der Erörterung der einzelnen Dramengattungen vom Publikum als mitschaffendem Faktor auszugehen, machte Ph. Aronstein (Das englische Renaissancedrama 1929). Eine große Sammlung wissenschaftlicher Textausgaben, an der bis zum Ausbruch des Krieges Vertreter aller Nationen mitarbeiteten, gab W. Bang heraus unter dem Titel »Materialien zur Kunde des älteren Englischen Dramas« (1902—14)). Die Kunstentwicklung der englischen Tragödie wurde untersucht von R. Fischer (1893), das lateinische Universitätsdrama von W. Keller (1898), die Maskenspiele von R. Brotanek (1902). Im Wettstreit mit der englischen und amerikanischen Forschung wandten sich Brandl, Brodmeier, Creizenach und Neuendorff der Erschließung der elisabethanischen Theaterverhältnisse zu. Konnte die deutsche Forschung, schon wegen des schwierigen Zugangs zu den englischen Archiven, auch keine neuen Tatsachen aus dem Leben Shakespeares zu Tage fördern, so erfuhr die Frage nach Umwelt, Entwicklung und Kunst mancherlei Klärung in den Biographien von Brandl (1894, 2. Aufl. 1922) undM. J. Wolff (1907—08). In das eigentliche Zentrum von Shakespeares künstlerischem Schaffen versuchten drei in ihrer Eigenart bedeutsame Werke vorzudringen. W. Wetz bemühte sich in »Shakespeare vom Standpunkte der vergleichenden Literaturgeschichte« (1890) von dem Inneren der Gestalten des Dichters her, das er durch Vergleich mit den Gestalten anderer Künstler zu gewinnen suchte, das Wesen des Shakespeareschen Dramas verständlich zu machen. Die historische, aus den Absichten des Dichters heraus zu übende Kritik an Stelle der ästhetischen forderte Schücking an der Hand einer Reihe von Beispielen in seiner Schrift »Die Charakterprobleme bei Shakespeare« (1919). Mit Hilfe seiner Gabe künstlerischer Einfühlung versuchte endlich der größte lebende Interpret Shakespeares, F. Gundolf, inseinem»Shakespeare«(i928)allein aus den Werken heraus die Kunst und das Wesen des Dichters nachzuschaffen. Mit den Quellen der Dramatiker neben Shakespeare befaßte sich bei verschiedenen Gelegenheiten E. Koppel, mit den Quellen zu Francis Bacon E. Wolff (1910 und 1913), mit dem Roman der Renaissance, besonders Sidneys Arcadia (1918), F. Brie. Mit der Bedeutung von Kyd beschäftigten sich bereits frühzeitig G. Sarrazin (1892) und J. Schick (1898). Ben Jonson wurde in einer Monographie behandelt durch Ph. Aronstein (1906), James Shirley durch J. Schipper (1911). Die Anfange der Renaissance in Schottland erfuhren Klärung durch die Arbeiten von J. Schipper i5*

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über Dunbar und Kennedy. Die Bedeutung der Probleme des 17. Jahrhunderts wurde von der deutschen Anglistik erst spät erkannt. Die Milton-Forschung, die seit Stern und Treitschke nie ganz geruht hatte, brachte einen wirklichen Fortschritt erst, als S. B. Liljegren von 1918 ab teils in englischer, teils in deutscher Sprache von den Gesichtspunkten moderner Psychologie aus seine Anschauungen über den skrupellosen Renaissancemenschen Milton entwickelte. Neue Gesichtspunkte für die Beurteilung des englischen Puritanismus ergaben sich aus den religionssoziologischen Studien von M.Weber und E. Troeltsch. Aus dem Charakter der englischen Renaissance und des englischen Puritanismus heraus entwickelte W. Schirmer in »Antike, Renaissance und Puritanismus« (1924) die Stellung, die beide Strömungen gegenüber den vielen mit der Antike zusammenhängenden Problemen einnahmen. Die eigentümlichen Anschauungen der Puritaner, sowohl der Theoretiker wie der Erzähler, über Ehe, Stellung der Frau, Eltern, Kinder und Dienstboten untersuchte W. Schücking in seiner stark soziologisch orientierten Studie »Die Familie im Puritanismus« (1929). In diesen Zusammenhang hinein gehört auch die literarsoziologische, im Grunde milieutheoretische Studie von H. Schöffler »Protestantismus und Literatur« (1922). Hier werden die Wandlungen innerhalb des englischen Protestantismus, der zur Zeit der Puritanerherrschaft das Schöngeistige ablehnt, in der Aufklärung aber in den Geistlichen anglikanischer wie puritanischer Richtung die Hauptvertreter der englischen Literatur stellt, an der Hand eines quantitativ überwältigenden Materials als die eigentlichen Ursachen des Verlaufes der englischen Literatur hingestellt. Die vielen deutschen Einzelstudien über die Technik der großen Romanschriftsteller des 18. Jahrhunderts fanden eine Art Abschluß in der »Englischen Romankunst« (1910) von W. Dibelius, die mit ihrer Betonung des Typischen zwar nur die fortlaufende Tradition innerhalb des englischen Romans von Defoe bis Scott darlegen wollte, aber mit ihrer eingehenden Beobachtung aller Faktoren, wie Grundplan, Konstruktionsmotive, Rollen, Charakterkunst, Handlungsführung usw., auch in die Tiefen der Romanentwicklung eindrang. Thomsons Seasons wurden kritisch herausgegeben von O. Zippel (1908), der Briefwechsel zwischen Percy und Shenstone zum ersten Male von H. Hecht (1909). Zu den bevorzugten Gebieten der deutschen Forschung gehörte von Anfang an die englische Romantik und zwar namentlich deshalb, weil hier englische und deutsche Literatur die meisten Berührungspunkte zeigten. Coleridges Interesse für deutsche Philosophie war der Ausgangspunkt für Brandls Monographie über den Dichter (1886). Fast durchweg nahmen die größeren Untersuchungen die Form der Biographie an. Marie Gothein behandelte Wordsworth (1899) und Keats (1897), Helene Richter und Ackermann Shelley (1898; 1906), H. Hecht Robert Burns (1919). Das Interesse, das man in Deutschland von jeher an Byron genommen hatte, äußerte sich gleichfalls in zahlreichen biographischen Darstellungen, die dem Beispiel von K. Elze (1876) folgten, u. a. von Ackermann (1901), W. Wetz (1901), Köppel (1903), Brie (1912), Helene Richter (1929). Der Heldentypus bei Byron wurde untersucht von Kröger (1898), die Kosmologie von M . Eimer (1912), Byrons Vorläufer Frere durch Eichler (1905). Das Nachleben Spensers in der Romantik untersuchte T . Boehme (1911), die Metrik Shelleys A. Kroder (1903).

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Bis 1900 etwa hatte die deutsche Anglistik bei ihrem einseitigen Interesse für Sprache und ältere Literatur es im großen und ganzen vermieden, sich in Forschung oder Lehre mit der neueren englischen Literatur seit 1830 zu befassen. Die »Reformer«, voranW.Vietor, forderten zwar auf das Nachdrücklichste Berücksichtigung der neueren und neuesten Literatur, aber es handelte sich dabei doch mehr um praktische als um wissenschaftliche Gesichtspunkte. Auch die jüngere Generation von Anglisten, die um 1900 herum mitzuarbeiten begann, stand noch so stark unter dem Einfluß der älteren, daß auch sie sich erst langsam der neuesten Literatur zuwandte. Wieder stand am Anfang die biographische Darstellung im Vordergrunde. Am frühesten erwachte das Interesse an Carlyle, mit dem sich von sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus E. Flügel (1887), G. v. Schulze-Gävernitz (1897) und P. Hensel (1900) befaßten. Koppel behandelte Tennyson (1899) und Browning (1912), Helene Richter veröffentlichte eine Studie über George Eliot (1907), Schücking über Rossetti (1919). Von den sozialen Verhältnissen ausgehend untersuchte Dibelius alle mit Dickens zusammenhängenden Probleme in einer ausführlichen Monographie (19x6). Eine Zergliederung von Tennysons Sprache und Stil gab Dyboski (1907), eine weitausgreifende Analyse von O.Wilde Gedichten B. Fehr (1918), eine Betrachtung von Mittelalter und Antike bei William Morris Elisabeth Küster (1928). Auch die Dichter und Schriftsteller der neuesten Zeit, wie Shaw, Galsworthy, Rupert Brooke u. a. m., wurden gern zum Gegenstande historisch-ästhetischer Analyse genommen. Literarästhetische Analysen bestimmter Aspekte bei Swinburne, Meredith, James Joyce u. a. m. gab B. Fehr in einer großen Reihe von Aufsätzen. Versuche zur Synthese liegen außer in den bereits erwähnten Werken für die neueste Zeit vor in W. Schirmers kurzer Darstellung des englischen Romans der neuesten Zeit (1923) und in F. Wilds Darstellung der englischen Literatur der Gegenwart seit 1870 (1928). Schon zu Anfang der achtziger Jahre betonten die Reformer, voran Vietor, die Notwendigkeit der Kulturkunde, worunter sie im wesentlichen Vermittlung von Tatsachenkenntnis über die Einrichtungen des Auslandes mit historischem Unterbau verstanden. Werke, wie »England« von G. Wendt oder »Das moderne England« (1911) von H. Spies, trugen Bestrebungen dieser Art Rechnung. Die modernen sozialen und geistigen Strömungen im heutigen England suchte E. Sieper zu erfassen in dem von ihm herausgegebenen Sammelwerk »Die Kultur des modernen England« (igiaff.). während W. Franz in seinen Schriften denWert der englischen Kultur für Deutschland darzustellen suchte. Die Kulturkunde erhielt neue Impulse, als der Krieg in überraschenderweise vor Augen führte, wie wenig Einblick das bisherige Studium der Anglistik einschließlich der Kulturkunde in die Mentalität des Engländers gegeben hatte. Jetzt trat die Stoff-Frage zurück hinter dem Wunsche nach einer wissenschaftlichen Erfassung des spezifisch Englischen innerhalb des gesamten Gebietes der materiellen und geistigen Kultur des britischen Weltreiches. Nachdem man in Einzelstudien den englischen Nationalcharakter historischgenetisch zu erfassen gesucht hatte (Schücking, Hoops, Brie), gab W. Dibelius eine große historisch-kritische Zusammenfassung der ganzen gegenwärtigen englischen Kultur in seinem »England« (1923). Eine noch eingehendere Untersuchung der einzelnen Zweige des angelsächsischen Kulturkreises machen sich zur Aufgabe

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Sammelwerke, wie das von Dibelius herausgegebene »Handbuch der englischamerikanischen Kultur« (1922fr.) und die von H. Schöffler herausgegebenen »Hefte zur Englandkunde« (1929fr.). Mit Untersuchungen dieser Art schritt die deutsche Anglistik bereits hinaus über ihr eigentliches Arbeitsgebiet, die Erfassung der englischen Geistesgeschichte nach Inhalt und Form. Eine organische Bereicherung des eigentlichen Aufgabenkreises der Anglistik bedeutete die Erkenntnis, daß es entsprechend dem Begriff der »Romania« auch eine »Anglia« gibt, mit anderen Worten, daß auch Sprache, Literatur und Kultur der Vereinigten Staaten von Amerika und der britischen Dominien zum Bereiche der Anglistik gehören. Hier waren und sind der deutschen Forschung allerdings schwer zu überwindende Schranken gezogen durch die räumliche Entfernung von den betreffenden Ländern. Gerade bei der Erforschung der geistigen Kultur relativ junger Nationen ist aber persönliche Anschauung der Hintergründe kaum zu entbehren. Bezeichnenderweise haben denn auch gerade solche Forscher, die längere Zeit in den Vereinigten Staaten als Dozenten oder Austauschprofessoren tätig waren, sich zuerst der Pflege des Amerikanischen zugewendet. Ein intensiverer Betrieb des Amerikanischen hat indessen erst unter dem Einfluß des neu erwachenden allgemeinen kulturkundlichen Interesses eingesetzt. Nach dem Kriege haben vor allem F. Schönemann, F. Fischer, G. Hübener, H. Spies und H. Mutschmann die Bedeutung der »Amerikakunde« betont und die neue Wissenschaft durch eigene Forschung gefördert. Hier eröffnet sich für die deutsche Anglistik in der Tat ein reiches, bisher vernachlässigtes Betätigungsfeld. Überblickt man die Gesamtleistung dieser fünfzig Jahre, so wird man zugeben müssen, daß die deutsche Forschung einmal zum Fortschritt der Anglistik überhaupt wesentliche Beihilfe geleistet hat, zum anderen, daß sie in ihren Methoden und ihrer Zielsetzung trotz ständiger Rücksichtnahme auf die selbstverständlich viel umfangreichere englische Forschung ihren Weg unabhängig gegangen ist. Die Bedeutung der deutschen Anglistik wird vielleicht am besten klar, wenn man sie daran mißt, was die englische Germanistik an Werten der deutschen Philologie zugeführt hat. Auf der anderen Seite besteht angesichts der dauernden Fortschritte in Quantität und Qualität, welche die wissenschaftliche Erforschung der englischen Sprache und Literatur nicht nur in den angelsächsischen Ländern, sondern auch in den skandinavischen, in Frankreich und in Holland macht, die große Gefahr, daß die deutsche Anglistik in eine immer beiläufigere Stellung gedrängt wird. Wir brauchen nur an eine Erscheinung, wie das Aufkommen zahlreicher neuer anglistischer Zeitschriften in England und Amerika, zu denken. Fragen wir uns, ob die deutsche Anglistik von sich aus etwas tun kann, um ihre frühere Stellung zu behaupten oder sogar zu stärken, so möchte ich zum Schluß auf zwei Punkte verweisen, wo meines Erachtens verhältnismäßig leicht bessere Ergebnisse als bisher erzielt werden könnten, bei der Auswahl des Nachwuchses und bei der wissenschaftlichen Organisation. Eine offene Kritik wird an der Feststellung nicht vorbei kommen können, daß in den letzten dreißig Jahren bei der andauernden großen Zahl von Studierenden der Anglistik ein qualitativ höher stehender wissenschaftlicher Nachwuchs hätte erzielt werden können. Die klassische Philologie und manche andere philologische Disziplin haben bei einem zahlenmäßig weit geringeren Material eine

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bessere Auswahl zu treffen verstanden. Bei einer Literatur wie der englichen, die keiner anderen in Europa an Bedeutung nachsteht, müßte es möglich sein, die Jugend zur nötigen Begeisterung für das Fach der Anglistik zu erziehen. Trotzdem die äußeren Bedingungen für einen hochqualifizierten Nachwuchs durch die Sicherstellung eines Existenzminimums und die Möglichkeit, Mittel zu Reisen und Veröffentlichungen zu erhalten, gegenwärtig recht gute sind, scheinen wir von einer Auswahl der Besten noch weit entfernt zu sein. Nun zu dem zweiten Punkt: Wollen unsere anglistischen Zeitschriften ihren bisherigen Einfluß neben den englischen und amerikanischen behaupten, die mit ganz anderen, natürlichen Vorteilen arbeiten, so können sie das, vom allgemeinen Niveau abgesehen, nur bei organisatorischer Höchstleistung, insbesondere auch wenn in dem kritischen Teile nicht mehr in solchem Umfange der Zufall über die Auswahl der besprochenen Werke entscheidet, sondern wenn das wirklich Wertvolle innerhalb der Erscheinung der Anglistik jeweils erfaßt und möglichst schnell von kompetenter Seite beurteilt wird. Bei einer Zahl von 40—50 Vertretern der Anglistik an deutschen Hochschulen müßte sich das durch den nötigen Appell erreichen lassen. Es könnte weiter die Stoßkraft der deutschen anglistischen Produktion gehoben werden, wenn die Universitätslehrer der alten Tradition entsagten, Sammlungen von anglistischen Abhandlungen buntesten Inhalts herauszugeben oder ins Leben zu rufen, statt dessen sich untereinander verständigten und ihre Serien nach sachlichen Gesichtspunkten als Abhandlungen zur englischen Sprachgeschichte, zur alt- und mittelenglischen Literatur, zur Romantik usw. herausgäben. Durch eine derartige sachliche Zusammenfassung würden die Sammlungen leichter am richtigen Orte zur Geltung kommen, nicht nur im Ausland, sondern auch in Deutschland selbst. Auch ohne eine auffallende Zahl von überragenden Köpfen ist es in den vergangenen fünfzig Jahren der deutschen Anglistik möglich gewesen, eine bedeutsame Rolle innerhalb der gesamten anglistischen Wissenschaft zu spielen. Heute steht es so, daß das Interesse an wissenschaftlicher Beschäftigung mit englischer Literatur und Sprache überall steigt, die deutsche Anglistik aber eine Gefahrenzone durchläuft. Nur sorgfältigste Auswahl der Kräfte und organisatorische Anspannung wird es ermöglichen, die alte Stellung in den nächsten fünfzig Jahren zu behaupten.

WILHELM MEYER-LÜBKE ROMANISCHE PHILOLOGIE Die Stellung des deutschen Romanisten zu seinem Forschungsgebiet ist eine wesentlich andere als die der romanischen. Für letztere nämlich handelt es sich vorwiegend um eine nationale Angelegenheit, daher der Franzose sich fast nur für Französisch, der Italiener für Italienisch, der Spanier für Spanisch, der Portugiese oder der Rumäne für sein Idiom interessiert. Ganz anders der Deutsche. Er steht zunächst allen romanischen Sprachen gleichmäßig gegenüber, kann sie objektiver betrachten, kann leichter sein Augenmerk darauf richten, ihre Besonderheiten und ihre Übereinstimmungen zu erfassen. Es ist daher gewiß kein Zufall, daß der Franzose Raynouard in seiner »Grammaire comparée des langues de l'Europe« 1821 die romanischen Sprachen nicht unmittelbar aus dem Lateinischen, sondern aus dem Provenzalischen oder, wie er es nannte, aus der »langue romane« hervorgehen ließ, wogegen der Deutsche Friedrich Diez in seiner »Grammatik der romanischen Sprachen« 1836 den richtigen Standpunkt eingenommen und damit die romanische Sprachwissenschaft ganz eigentlich begründet hat. Derselbe Unterschied zeigt sich nun auch weiterhin. P. Meyer und G. Paris schufen 1872 als erstes und bis heute in Frankreich führendes wissenschaftliches Organ für diese Studien die »Romania« mit dem Motto : »pur remembrer des ancessurs les diz et les faiz et les murs«, wobei die »ancessurs« natürlich die französischen Vorfahren, das Forschungsgebiet die Sprache und Literatur des mittelalterlichen Frankreich waren. Dann folgte unter Gröbers Leitung die »Zeitschrift für romanische Philologie« seit 1877, in deren weitgespanntem Programm immer nur von »romanischen Sprachen« die Rede ist. Die 1875 in Paris gegründete »Société des anciens textes français« veröffentlicht Jahr um Jahr wiederum altfranzösische und provenzalische Texte, die »Gesellschaft für romanische Literatur«, Dresden 1903 ff., dehnt dasselbe Ziel auf Italienisch, Sardisch, Spanisch, Rätoromanisch aus; die von W. Förster 1879 ins Leben gerufene »Altfranzösische Bibliothek« erweiterte sich 1889 zur »Romanischen Bibliothek«, und ihr schlössen sich in den letzten Jahren in Berlin »Romanische Texte zum Gebrauch für Vorlesungen und Übungen« und in Halle die »Sammlung romanischer Übungstexte« an. Dem entspricht mit gleichen Zielen in Paris die Sammlung »Classiques français du moyen-âge«. Endlich mag noch die von Gröber in Straßburg angeregte »Bibliotheca romanica« genannt werden, die der Veröffentlichung wichtiger romanischer Literaturdenkmäler ohne zeitliche und örtliche Begrenzung dient. Der große Aufschwung der romanistischen Studien begann kurz nach dem siebziger Kriege. Dabei richteten sich die Blicke zunächst auf das Mittelalter, vorab auf das französische. Galt es doch, eine Literatur kennen zu lernen, deren Schätze zu nicht geringem Teile noch in den Bibliotheken Frankreichs, Englands, Italiens ruhten oder, wenn überhaupt, fast durchweg in schlechten Ausgaben veröffentlicht waren. Junge deutsche Gelehrte bereisten die Bibliotheken, schrieben Handschriften ab und unternahmen ihre Veröffentlichung. Nun ergab sich sehr bald, daß das sprachliche Gewand, in dem sich diese Texte darstellten, ein sehr buntes, bald mehr,

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bald weniger zusammengeflicktes war. Die Sprachformen des Reimes standen des öfteren im Widerspruch mit denen des Versinnern, verschiedene Abschriften desselben Textes zeigten deutlich, daß die Schreiber keineswegs ihre Vorlage genau wiedergaben, vielmehr ihrer heimischen Mundart bewußt oder unbewußt in geringerem oder in oft sehr weitgehendem Umfange anpaßten, da es ja keine allgemein anerkannte Schriftsprache gab. Wie nun die Latinisten der Renaissance aus den verschiedenen Schreibungen der lateinischen Handschriften eine Rechtschreibung herstellten, die mit wenigen Ausnahmen bis heute geblieben ist und damit diesen klassischen Texten auch für das Auge eine gefallige Form gibt, so suchte man für die Neuerweckung der mittelalterlichen Literatur einen ähnlichen Kanon aufzustellen. Um das zu können, war nun allerdings eine bis ins einzelne gehende Kenntnis der Lautentwicklung nötig, und diese zu gewinnen, war denn auch eine Zeitlang die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen französischen Grammatik. Das Ziel dieser Untersuchungen war also nicht, die Entwicklung des Lateinischen bis zum Neufranzösischen zu erkennen, wie es das der Grammatik von Diez war, sondern die Tatsachen zu verzeichnen, die es ermöglichten, Ursprungsort und Ursprungszeit eines gegebenen Textes zu bestimmen und ihm damit denn auch das Originalgewand zu geben. Daß neben diesem philologischen Gesichtspunkte der sprachwissenschaftliche nicht außer Acht gelassen wurde, ist selbstverständlich, aber er war doch eben nebensächlich, mehr zufällig sich ergebend. Ungemein bezeichnend dafür ist eine Untersuchung von H. Suchier über »die Mundart des Leodegarliedes« 1878. In dem sprachlich sehr merkwürdigen Texte, dessen Heimat Suchier feststellen wollte, spielen gewisse Perfektformen eine große Rolle; sie sind daher von dem Verfasser mit größter Umsicht studiert worden, und dadurch wurde der Artikel zu einem der besten Beiträge zur Geschichte des Perfektums im Französischen. — Ein nicht geringeres Bedürfnis für das feinere Verständnis der alten Texte war der Aufbau der alten Syntax, denn auch hier bestehen wesentliche Unterschiede gegenüber der späteren Zeit, deren Kenntnis auch für die richtige Gestaltung der Texte ein unbedingtes Erfordernis ist. Da ist es nun A. Tobler, der, begabt mit einer nicht gewöhnlichen Feinheit der Beobachtung und gestützt auf eine umfassende Belesenheit, ganz eigentlich die altfranzösische Syntax begründet hat. Dabei begnügte er sich aber nicht mit Aufdeckung von Tatsachen, über die ein weniger scharfes Auge leicht hinweggleitet, er unternahm vielmehr auch die sprachliche Analyse dieser Tatsachen. Seine seit 1876 in der Zeitschrift für romanische Philologie, später in Buchform unter dem anspruchslosen Titel »Vermischte Beiträge zur französischen Grammatik« erschienenen diesbezüglichen Untersuchungen stellen eine vollständig neue, vertiefte Betrachtung dar und bilden noch heute das unentbehrliche Rüstzeug aller derer, denen an einem wirklichen Verständnis syntaktischer Gebilde gelegen ist. Sie haben denn auch für manche Arbeiten anderer das Vorbild abgegeben. Gestützt auf diese Kenntnisse und zugleich sie ermöglichend und erweiternd, setzt nun eine ungemein rege Herausgebertätigkeit ein. Den ersten Versuch eines in der angegebenen Weise normalisierten Textes macht 1871 A. Tobler mit der Ausgabe der Erzählung vom echten Ring (dem Motiv, das Lessing im Nathan verwendet hat). Ein dünnes Heftchen, aber versehen mit einer Einleitung, die ein

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Muster von knapper, klarer, nur auf das Nötige hinzielender, alles nicht zur Sache gehörende Beiwerk und jeden Prunk verschmähender Darstellung ist. Erst ein Jahr später folgte dann G. Paris mit der »Vie de Saint Alexis«. Hüben und drüben des Rheines kommen nun Ausgaben um Ausgaben. Der große Eifer in Deutschland erhellt am besten daraus, daß der größte Dichter des mittelalterlichen Frankreichs, der Schöpfer des höfischen Romans, Crestien von Troyes, seinen Herausgeber in dem Bonner Professor W . Förster fand, daß das niedliche Singspiel Aucassin und Nicolete eine würdige Ausgabe durch H. Suchier erhielt, daß erst Karl Warnke die Verserzählungen und die Fabeln von Marie de France in kritischem Texte vorlegte. Ebenso sehr wie die nordfranzösische lockte auch die provenzalische Literatur. Die Probleme lagen hier freilich etwas anders. Obschon die Abschriften der Lieder der südlichen Sänger nicht weniger den Einfluß der verschiedenen Schreiberhände zeigen als die Heldenlieder und Abenteuerromane des Nordens, empfanden doch die Herausgeber weniger das Bedürfnis nach Ebenmaß der Form. Dazu kam, daß man das Provenzalische als eine Art Vorstufe, eine dem Lateinischen näherstehende Entwicklung des Französischen betrachtete, seine Syntax wenig oder keine Besonderheiten aufwies, ganz abgesehen davon, daß die Sprachdenkmäler, zum überwiegenden Teil lyrische Gedichte, keine geeignete Grundlage für syntaktische Untersuchungen zu bieten schienen. Vor allem aber waren die philologischen Schwierigkeiten, die Interpretation der Lieder mit ihren vielfachen Anspielungen auf Zeitverhältnisse, mit ihrem stark persönlichen Inhalt, ohne dessen Verständnis das Gedicht nicht genießbar war, so groß, die sich aufdrängenden Fragen so mannigfaltig, daß in einem vorwiegend philologisch gerichteten Zeitalter die andern Gesichtspunkte in den Hintergrund traten. Auch hier ist der Anteil der Deutschen an der Erneuerung des Mittelalters ebenso groß, wenn nicht größer als der der Franzosen und der hier auch interessierten Italiener. Bertran von Born, der große Rufer im Streit, ist in einer auf der ganzen handschriftlichen Überlieferung beruhenden Ausgabe mit einem bis in alle Einzelheiten gehenden historischen Kommentar von Stimming wieder ins Leben gerufen worden, und keinem Minnesänger ist in Frankreich soviel Sorgfalt gewidmet worden, wie sie Bernart von Ventadorn durch K. Appel erfahren hat, keiner auch in so schöner Ausstattung auf den Büchermarkt gekommen, wie sie der Verleger M. Niemeyer in Halle noch zu Anfang des Krieges aufgebracht hat. Allmählich aber erlahmte die Herausgebertätigkeit. Die großen Männer auf diesem Gebiete, W . Förster und H. Suchier, hatten keine ebenbürtigen Nachfolger, man begnügte sich mit kleineren Texten oder blieb, wenn man sich schon an große wagte, auf halbem Wege stehen, trat nicht mehr in Wettbewerb mit den Franzosen und den neuerdings gerade hier einrückenden Nordländern und Nordamerikanern. Dazu kam, daß die Lehrtätigkeit an der Universität mehr und mehr vom Mittelalter abrückte. Wurden doch die Anforderungen an die Kenntnisse der lebenden Sprachen für die zukünftigen Lehrer dieser Sprachen so große, daß zurBeschäftigung mit einer Literatur und einer Sprache, die für die spätere Lehrtätigkeit kaum einen mittelbaren Gewinn brachte, wenig Platz blieb. Bewußt oder unbewußt verlangte man etwas, was bei aller Wahrung strenger wissenschaftlicher Betrachtung, bei aller Einführung in exakte wissenschaftliche Arbeit doch über die Staatsprüfung

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hinaus von Wert war. Es gibt vielleicht nichts Charakteristischeres für diesen Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit als die Worte, die A. Tobler dem zweiten Hefte seiner »Vermischten Beiträge« 1894 vorausschickt: »VomAltfranzösischen ist in dieser zweiten Reihe für die, die garnichts davon wissen, noch wissen möchten, ohne Zweifel noch viel zu oft die Rede, doch wohl weniger als in der ersten vom Jahre 1886. Das hat sich aber nur zufallig so gemacht und ist keinesfalls die Folge eines Strebens, irgend einer zur Zeit sich breit machenden Rohheit und Oberflächlichkeit huldigend entgegenzutreten«. Dieser Satz ist natürlich durchaus ehrlich, aber es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß die dritte Reihe 1899 und die vierte 1908 nur noch Fragen der neufranzösischen Grammatik besprechen. In dem Maße, in dem für die ältere Zeit die Probleme in der Art, wie Tobler sie behandelte, erschöpft waren, wandte er sich, stets neue suchend, der Neuzeit zu und bemerkte bald, daß dieses Feld nicht weniger ertragreich ist. Sodann aber trat mehr und mehr die literarische Forschung in ihr Recht. Solange man beim mittelalterlichen Texte blieb, war auch die literarische Betrachtung vorwiegend eine philologische: Untersuchungen über Quellen und Vorbilder, Feststellung des Verfassers, wo er nicht genannt war, der Lebensumstände, der Zeit, der Heimat dieses Verfassers: interessante Kleinarbeit, deren Wichtigkeit und Wert man nicht hoch genug einschätzen kann, die aber doch eben noch nicht selbständige Literaturgeschichte ist. In der Tat, wenn man die Vorlesungsverzeichnisse aus jener ersten Glanzzeit durchgeht, die wissenschaftlichen Arbeiten der führenden Romanisten überblickt, so spielt die Literaturgeschichte keine große Rolle. Manche wie Tobler lasen grundsätzlich keine entsprechenden Kollegien, andere nur gewissermaßen nebenamtlich. Nur Leipzig machte mit Ebert eine in der Persönlichkeit glänzende Ausnahme, und es hat diese Tradition nach dem Tode des ersten Vertreters in seinen Nachfolgern Birch-Hirschfeld und Ph. A. Becker festgehalten. Sonst aber galt wie in der Germanistik namentlich die Beschäftigung mit der neueren Literatur lange Zeit nicht als universitätsfähig, blieb vielmehr dem Lektor überlassen. Mit dem Nachlassen des Interesses am Mittelalter wuchs nun aber bei jungen Leuten mit wissenschaftlichem Ehrgeiz das an der Neuzeit und hier begreiflicherweise namentlich am Schrifttum. Dementsprechend mußte dann auch an den Universitäten eine Neuorientierung kommen. Das kam scharf und deutlich zuerst in Wien zum Ausdruck, wo 1905 an Stelle des mittelalterlichen Philologen A. Mussafia der Literarhistoriker Ph. A. Becker trat. Damit war die vollständige Gleichwertigkeit dieser jüngsten, auch die Gegenwart in ihren Bereich ziehenden Zweige mit den älteren ausgesprochen. Sechs Jahre später folgte Berlin mit der Berufung von H. Morf als Nachfolger Toblers. Auch Tobler war seiner ganzen Veranlagung nach und nach seinem Hauptarbeitsgebiet vorwiegend Philologe und vorwiegend, namentlich in seinen Vorlesungen, auf das Mittelalter gerichtet, Morf ausgesprochener Literarhistoriker und mindestens für die Modernen ebenso interessiert wie für das Mittelalter. Auch das ist bezeichnend, daß, wie in Wien neben Becker ein Linguist, nicht ein Philologe stand, auch in Berlin, als sich dieNotwendigkeit einer Zweiteilung ergab, dem Literarhistoriker nicht ein Philologe, sondern ein Linguist zur Seite gestellt wurde. Die neue Richtung entfaltete sich bald in allen ihren verschiedenen Richtungen in einer Weise, daß Deutschland neben den hier

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besser gerüsteten Romanen voll bestehen kann und Walzel für sein groß angelegtes Handbuch der Literaturwissenschaft ganz mit deutschen Kräften auskommt, während in dem 1888—1901 erschienenen Grundriß der romanischen Philologie von G. Gröber die italienische Literatur von einem Italiener, die katalanische von einem Franzosen, die neuere portugiesische von einem Portugiesen, die neuere französische und die neuere spanische überhaupt nicht dargestellt wurden. Neben der Literaturgeschichte hat aber auch die Sprachgeschichte sich mächtig entfaltet. Zum Teil unter Einfluß der vergleichenden Sprachforschung, namentlich auch der germanistischen, wie sie von H. Paul und E. Sievers betrieben wurde, trat die Erforschung des Altfranzösischen aus dem Dienstverhältnis zur Philologie heraus und wurde das, wozu sie Diez bestimmt hatte; sie bekam ihre eigenen Ziele. Damit ergab sich zweierlei: daß man nicht beim Mittelalter stehen blieb und daß man neben der Schriftsprache die gesprochene und infolge dessen auch die lebenden Mundarten in den Bereich der Forschung zog. Man erkannte dabei bald, daß für den Sprachforscher die heutigen Dialekte von ebenso großer, ja vielfach von größerer Wichtigkeit sind als die mittelalterlichen Texte, weil da das Material, das sie bieten, ein sehr viel reicheres und zuverlässigeres ist und weil das Leben der Sprache sich am lebenden Körper besser beobachten läßt als an der erstarrten papiernen Überlieferung, ja, sich in einer Mannigfaltigkeit zeigt, von der man früher kaum eine Ahnung hatte. Merkwürdigerweise hat sich Deutschland, wo doch durch Diez die romanische Sprachwissenschaft ins Leben gerufen wurde, dieser neuen Entwicklung gegenüber fast ganz ablehnend verhalten. Wohl rief B. Schädel in Hamburg 1909 die »Revue de dialectologie romane« ins Leben, aber die Sprache des Titels und der anfangliche Erscheinungsort Brüssel zeigten schon, daß es sich nicht um ein vorwiegend auf deutsche Gelehrte rechnendes Unternehmen handelt, und in der Tat ist auch unter den dreizehn Mitherausgebern kein Deutscher. Ebenso sind die Mitarbeiter nur ganz vereinzelt junge Deutsche, die überwiegende Mehrzahl Schweizer, dann Italiener, Franzosen, Spanier, Spanischamerikaner, Portugiesen, Rumänen. Es ist nur selbstverständlich, daß ein derartig auf das Ausland gestütztes Unternehmen, auch als es später nach Hamburg verlegt wurde, mit dem Weltkrieg zusammenbrechen mußte, während alle andern romanistischen Zeitschriften in Deutschland durchhielten. Erst lange nach Kriegsschluß und Inflation erstand es wieder, aber als »Revue de linguistique romane«, Paris 1925, unter der Leitung des Franzosen Terracher. Im Gegensatz zu Deutschland fand die neue Richtung in Frankreich, Italien, der deutschen und französischen Schweiz und in Österreich eine ungemein rege Pflege, daher es nicht überraschen kann, daß keines der großen, grundlegenden, auf Jahre hinaus maßgebenden Werke in Deutschland entstanden ist. Die neue romanische Grammatik nämlich ist zum größten Teil, das neue etymologische Wörterbuch der romanischen Sprachen ganz in Österreich geschrieben worden, der »Atlas linguistique de la France« hat den französischen Schweizer Gilliiron zum Verfasser, die Herausgabe des »Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz« wird in Bern und Zürich ausgearbeitet. Das monumentale etymologische französische Wörterbuch hat inAarau begonnen, doch spricht für ein, wenn auch nicht aktives Interesse auch in Deutschland, daß die Drucklegung des zuletzt genannten Werkes durch das Entgegenkommen eines deutschen Verlegers und der

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Notgemeinschaft möglich geworden ist. Auch an der sich auf diesen Grundlagen aufbauenden wissenschaftlichen Literatur ist das Ausland stärker beteiligt, wie denn, von wenig Ausnahmen abgesehen, der Lehrbetrieb der Universitäten dem neuen Zweig wenig Beachtung schenkt. Man muß das bedauern nicht nur, weil Deutschland eine Stellung, in der es einst führend war, aufgegeben hat, sondern vor allem, weil der schablonenhafte Betrieb des Altfranzösischen, der als das Zeichen wissenschaftlicher Ausbildung in der Grammatik gilt, den Studierenden für ihr späteres Wirken an der Schule weder Stoff noch Anregung bietet, wogegen das Studium der lebenden Mundarten mitten in das heutige Leben und seine Kultur hineinführt und dank der Mannigfaltigkeit und Feinheit seiner Probleme erzieherisch eine starke Wirkung auszuüben imstande ist. Nach zwei Seiten hin hat sich dann die Sprachwissenschaft weiter entwickelt. Wir können beobachten, daß von Zeit zu Zeit das Bestreben sich geltend macht, die Kulturverhältnisse, die sich aus sprachlichen Tatsachen erschließen lassen oder aber sie bedingen, zur Darstellung zu bringen. Dieses Bestreben tritt als Folge der intensiven linguistischen Studien neuerdings wiederum hervor, und zwar nach zwei, scheinbar entgegengesetzten Richtungen. Gleichzeitig, aber völlig unabhängig voneinander haben R. Meringer in Wien und H. Schuchardt in Graz mit der Forschung nach dem Ursprung und der Bedeutungsverschiebung von Sachbezeichnungen auch die Geschichte der bezeichneten Gegenstände untersucht und dabei nach beiden Seiten hin Licht gebracht, der eine auf dem Gebiet der germanischen, slavischen und der älteren indogermanischen Sprachen, der andere auf dem der romanischen. Anfangs von den Nur-Grammatikern scheel angesehen, hat diese Richtung doch bald starken Anklang gefunden, hat in der in Österreich gegründeten, aber von dem deutschen Verleger Winter in Heidelberg herausgegebene Zeitschrift »Wörter und Sachen« eine Sammelstelle für Arbeiten der verschiedensten Art gefunden. Wiederum aber waren bis in die letzten Jahre die romanistischen Mitarbeiter Schweizer, Österreicher, Italiener. — Handelt es sich bei »Wörter und Sachen«, wie schon der Titel besagt, zunächst um materielle Kultur, so ist doch die geistige nicht ausgeschlossen, nur steht sie mehr im Hintergrund, z. T. weil die gegenseitigen Beziehungen sehr viel schwerer zu erfassen sind. Im Gegensatz dazu steht nun die »idealistische Neuphilologie«, die Richtung von Voßler und seinen Schülern. Von der richtigen Erwägung ausgehend, daß zwischen Sprachform und Geistesform ein enger Zusammenhang bestehe, daß Sprachveränderung auf Ideenveränderung, auf neuer Weltanschauung beruhe, sucht sie diesen Zusammenhang zwischen Kultur und Sprache im einzelnen zu erkennen. Wenn trotz glänzender Darstellung die bisherigen Ergebnisse enttäuschen, so liegt der Grund nicht nur in der Verächtlichmachung früherer Arbeitsweise, ohne die doch auch ein Fortschritt nicht möglich wäre, sondern vor allem darin, daß die Vertreter dieser Richtung wie alle Neuerer, das Kind mit dem Bade ausschüttend und über das Ziel hinausschießend, nicht voraussetzungslos an die sprachlichen Tatsachen herangetreten sind und dann die Frage aufgeworfen haben, wie weit diese Tatsachen ideengeschichtlich sich erklären lassen, sondern, von den Ideen ausgehend und an die Tatsachen herangehend, ohne sie wirklich zu kennen, bei der Beurteilung nur das gesehen haben, was sie sehen wollten und das Widersprechende unter den Tisch fallen ließen. So mag, wer

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gründlich mit den Sprachwandlungen vertraut ist, mancherlei Anregungen schöpfen, im großen und ganzen aber ist der Ertrag der »neoromantischen oder neoidealistischen« Sprachforschung, wie man sie auch nennt, bisher gering geblieben. Nur auf dem Gebiete der Begriffsgeschichte literarischer Wörter hat sie Gutes geleistet, aber diese Arbeiten unterscheiden sich kaum von denen der anderen Richtungen. Wenn die Beschäftigung mit der Gesamtromanistik für Deutschland charakteristisch ist, so zeigt doch die Erfahrung, daß zu allen Zeiten das Französische an erster Stelle stand und steht. Das hat verschiedene Gründe. Die notwendigsten Sprachkenntnisse bringt man schon von der Schule mit, Frankreich hegt uns geographisch am nächsten, ist am leichtesten zu erreichen, die geistigen Bande, die uns mit der französischen Kultur verbinden, sind besonders starke. Dazu kommt aber noch anderes. Die enge Verbindung von Französisch und Englisch, die in Österreich schon seit Jahren aufgegeben ist, spielt in Deutschland, trotz all den wohlbegründeten Einwänden, die gerade aus Schulkreisen immer und immer wieder dagegen geltend gemacht werden, eine so große Rolle, daß die Mehrzahl der Lehramtskandidaten an ihr festhält. Nun sind aber die Anforderungen an die Beherrschung der Fremdsprache in Wort und Schrift, die genaue Kenntnis ihrer Lautgewöhnungen und ihrer stilistischen Eigenart mit Recht sehr viel größer als ehedem, sie sind so groß, daß der Durchschnitt der Studierenden nicht Zeit und Kraft findet, sich neben diesen beiden noch mit einer dritten Sprache zu beschäftigen, namentlich in einer Periode, wo die äußeren Verhältnisse die meisten zu raschem Abschluß zwingen und wo die Muße, die man früher vielleicht geistigen Beschäftigungen widmete, die außerhalb des künftigen Berufes liegen, vielfach für den Sport verwendet wird. Endlich spielt eben für den Beruf das Italienische gar keine, das Spanische erst seit kurzem eine bescheidene Rolle. Trotzdem fehlt auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Italienischen nicht. Die beste Darstellung der Geschichte der italienischen Literatur in den achtziger Jahren hat A. Gaspari gegeben (1885—1888). Leider hat ein frühzeitiger Tod den Verfasser verhindert, das Werk über das 16. Jahrhundert hinauszuführen, und einen Fortsetzer hat es nicht gefunden. Für seine Wertschätzung auch in Italien spricht, daß es ins Italienische übersetzt wurde. Ebenso stammt die einzige historische Grammatik des Italienischen und seiner Mundarten aus deutscher Feder, und auch von ihr verlangten und erhielten die Italiener eine Bearbeitung in ihrer eigenen Sprache. Mit Dante hat man sich in Deutschland seit den Tagen von Witte und Philalethes immer eifrig beschäftigt und zwar nicht nur oder gerade nicht die offiziellen Vertreter der romanischen Philologie. Th. Ostermann bringt in seiner wohl lückenlosen Bibliographie »Dante in Deutschland« für den Zeitraum von 1875 bis 1927 für Gesamt- und Teilausgaben 72, für Übersetzungen 269 Nummern, die Zahl der selbständigen oder in Zeitschriften usw. erschienenen Abhandlungen steigt sogar auf 2159. Natürlich ist sehr viel Mittelgut dabei, manche Eintagsfliege, aber auch manches überragende Werk wie die Arbeiten von Bassermann, von Pochhammer, wie Voßlers Dantebuch. Deutscher Akribie und Gründlichkeit, wie sie bei der Herausgabe der französischen Schriftsteller des Mittelalters üblich war, ist zuerst in Deutschland Brunetto Latini und den Trionfi Petrarkas zuteil geworden.

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Das Interesse an Spanien blieb zunächst zurück. Weder das Calderon- Jubiläum 1881 noch das des Don Quijote 1905 erweckten nachhaltigen Widerhall, nur die musterhafte Ausgabe von vier Stücken des großen Dramendichters Calderon, »Das Leben ist Traum«, »Der standhafte Prinz«, »Der wundertätige Zauberer« und »Der Richter von Zalamea« durch Max Krenkel (1881 bis 1887) hat auch in Spanien nicht ihresgleichen. Erst die Errichtung der Hochschulinstitute in Hamburg 1910 und die Übertragung der Professur für romanische Philologie an B. Schädel rückte den romanischen Westen mehr in den Vordergrund und führte zur Gründung des »Ibero-romanischen Institutes«. Dessen Ziele sind nun allerdings entsprechend dem Entstehungsort sehr viel weitere als die der romanischen Philologie, wenn man deren Grenzen auch noch so weit steckt, ja das eigentlich Sprachliche und Literarische trat zunächst vor dem Verkehrspolitischen und Handelspolitischen zurück; es sollte ein Sammelpunkt für alle deutsch-spanischen Interessen werden. Dank den großen Mitteln, über die Hamburg verfügt, gelang es bald, eine Bibliothek für hispanologische Studien anzulegen, wie man sie bisher auch außerhalb Deutschlands kaum hat. Die wissenschaftliche Ausbeutung dieser Schätze ließ allerdings zunächst auf sich warten, setzte erst in den letzten Jahren in weiterem Umfange ein, und zwar, wie sich das in Hamburg gehört, mit ausgesprochener Richtung auf die Neuzeit, d. h. mit Untersuchungen über die lebenden Mundarten und über das heutige Volkstum, damit nun auch in Deutschland jene Richtung mit Erfolg pflegend, deren Wurzeln, wie oben gesagt, in Österreich liegen. Noch ferner, nicht nur auch räumlich, liegt Portugal. Wohl hat auch hier Diez in einem noch heute lesenswerten Büchlein 1863 »Uber die portugiesische Kunst und Hofpoesie« die Grundlagen einer wissenschaftlichen Betrachtung gelegt, hatte schon vorher Eduard von Kausler den »Cancioneiro von Resende« herausgegeben, dann hat H. Storck durch die »Übersetzung sämtlicher Gedichte Camoens« 1880 bis 1883 nicht nur den portugiesischen Nationaldichter dem Deutschen näher gebracht, er hat auch sehr viel zum Verständnis der oft recht dunklen Dichtung beigetragen, und sein Buch »Camoens Leben« 1891 ist noch durch nichts Besseres ersetzt worden. Sonst aber ist von einer intensiveren oder extensiveren Beschäftigung nichts zu merken. Denn Carolina Michaelis, der zweifellos das Meiste und das Beste zu verdanken ist, was wir über die Entwicklung der älteren portugiesischen Literatur wissen, ist zwar in Berlin geboren und aufgewachsen; aber mit 25 Jahren mit dem Portugiesen Vasconcellos verheiratet, hat sie ihr weiteres Leben und damit ihre wissenschaftliche Schaffenszeit in Portugal verbracht. Endlich das Rumänische. Im Jahre 1887 unternahm G . Weigand seine erste Forschungsreise nach Rumänien, und er wiederholte das durch mehrere Jahre z. T . unter großen körperlichen Anstrengungen mit dem Ziele, eine umfassende Kenntnis der noch fast gar nicht erforschten Mundarten zu gewinnen. Er vermochte maßgebende Kreise in Rumänien so dafür zu interessieren, daß die rumänische Regierung 1893 ihm die Leitung eines »Instituts für rumänische Sprache« in Leipzig übertrug, das junge Deutsche und junge Rumänen für das wissenschaftliche Studium dieser östlichen romanischen Sprache befähigen sollte. Regelmäßig erscheinende Jahresberichte brachten die Arbeiten der Mitglieder des Seminars Mitteilungen des Leiters über die Ergebnisse seiner Reisen und als Krönung der Dialektaufnahmen

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1909 den »Linguistischen Atlas des rumänischen Sprachgebietes«. Mit der Zeit erweiterte Weigand den Rahmen, schloß auch das Bulgarische und das Albanesische ein und änderte, dieser Erweiterung Rechnung tragend, 1925 den Titel seiner Veröffentlichungen in »Balkanarchiv«. Auch hier schien mit dem Eintritt Rumäniens in den Krieg das Schicksal dieser wissenschaftlichen Gründung besiegelt. Glücklicherweise nahm sich aber die sächsische Regierung in richtigem Verständnis der Wichtigkeit einer in Deutschland einzig dastehenden Forschungsanstalt der Sache an, machte das Institut zu dem ihrigen, und so ist es nun nicht mehr ein rumänisches, sondern ein sächsisches: dem einen Kriegsverlust stellt sich ein Kriegsgewinn gegenüber.

MAX VASMER SLAVISCHE PHILOLOGIE Die deutsche Slavistik ist ursprünglich als ein Zweig der Indogermanistik wissenschaftlich betrieben worden und hat sich aus der indogermanischen Sprachwissenschaft entwickelt. Als ein hervorragender Vertreter dieser Richtung ist der früh verstorbene August Schleicher (1821—1868) anzusehen, der das Altbulgarische gründlich erforschte und dessen Polabische Grammatik (Petersburg 1871) heute noch ein unentbehrliches Hilfsmittel für die Erforschung der Sprache der Elbslaven darstellt. Aus Schleichers Schule ist August Leskien (1840—1916) hervorgegangen, der größte Slavist, den die deutsche Wissenschaft aufzuweisen hat. Ursprünglich Indogermanist, hat sich Leskien früh mit besonderem Eifer dem Studium der baltischen und slavischen Sprachen hingegeben. Seine Arbeiten zeichnen sich in gleicher Weise durch die Fülle des Materials wie durch die solide und vorsichtig abwägende Art der Schlußfolgerungen aus. Grundlegend für die litauische Lautgeschichte ist sein Aufsatz über den litauischen Auslaut (Archiv V). Für die Indogermanistik vorbildlich sind die großen Monographien über den »Ablaut der Wurzelsilben« (1884) und die »Bildung der Nomina« im Litauischen (1891). Von den slavischen Sprachen befaßte er sich besonders viel mit dem Altbulgarischen. Sein Handbuch der altbulgarischen Sprache (1. Aufl. 1871) wurde in der 2. Auflage (1886) mit Berücksichtigung neu edierter Texte vollständig umgearbeitet und gehört seitdem, ebenso wie seine Altbulgarische Grammatik (1912) zu den unentbehrlichen Hilfsmitteln im deutschen Lehrbetrieb. Die verschiedenen Aufsätze über die sogenannten »Halbvokale« im Altbulgarischen (Archiv 27 u. a.) sind nicht nur für die Feststellung des Lautwertes gewisser altbulgarischer Zeichen in verschiedenen Perioden der Sprachgeschichte von Wert, sondern sind methodisch von großer Bedeutung für die Beurteilung der Frage nach dem Verhältnis von Laut und Schrift. Ausgezeichnet sind auch Leskiens Untersuchungen über Quantität und Betonung in den slavischen Sprachen I (1885) II (1893), dann als Fortsetzung die Aufsätze Archiv 21 und 24. Daneben besitzen wir von ihm mehrere gründliche Arbeiten über niedersorbische Sprachdenkmäler (Archiv I und II). Mit besonderer Liebe gepflegt wurde von Leskien die Erforschung des Serbokroatischen. Seine Serbokroatische Grammatik (1914) ist bis heute die beste Darstellung der serbischen Laut- und Formenlehre, wichtig auch durch ihre ausführliche Behandlung der serbischen Dialekte. Auf diesem Gebiet hat Leskien auch dem Studium der Volkspoesie seine Aufmerksamkeit geschenkt, und wir besitzen von ihm eine methodisch sehr aufschlußreiche Untersuchung über Dialektmischung in der serbischen Volks poesie (Sächs. Sitzungsberichte 1910) und das kurz vor seinem Tode geschriebene Buch »Balkanmärchen« (Jena 1916). Schließlich muß auch der gründlichen Untersuchungen gedacht werden, die dieser große Gelehrte der Übersetzungstätigkeit eines der führenden Schriftsteller des Symeonischen Bulgariens, Johannes des Exarchen (Archiv 25 und 26), gewidmet hat. Auch in seiner Lehrtätigkeit war Leskien hervorragend, nicht nur als Slavist, sondern auch als Vertreter der Indogermanistik. Die neuere Literaturwissenschaft lehrte er nicht, aber auf dem Gebiete der alt1 6 Fetfachrift Schmidt-Ott

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bulgarischen Philologie, der serbischen und urslavischen Sprachwissenschaft hat die deutsche Slavistik auch heute keine rühmlichere Aufgabe, als seine Traditionen weiterzupfiegen. Seine oft unterschätzten etymologischen Fähigkeiten zeigen sich besonders in der Erklärung polabischer Ausdrücke (Archiv 22). Neben dieser von Schleicher begründeten und von der vergleichenden Sprachforschung ausgegangenen Richtung ist eine hochbedeutsame zweite Richtung hier zu verzeichnen,die ihre Anregung zuerst von der deutschen Romantik empfangen hat und ursprünglich von Fachleuten slavischer Nationalität an österreichischen Universitäten gepflegt wurde. Ihr Hauptvertreter ist der Slovene Franz von Miklosich (1813—1891). Angeregt durch die Arbeiten von Bopp und Grimm, ging dieser Gelehrte an die sprachwissenschaftliche Bearbeitung der slavischen Sprachen. Wohl hat er die Zusammenhänge des Slavischen mit den anderen indogermanischen Sprachen nicht unberücksichtigt gelassen, aber seine Hauptverdienste liegen trotzdem in der einzelsprachlichen Forschung. Seine wichtigsten Arbeiten, die heute besonders viel benutzt werden, sind in den 80 er Jahren entstanden. Seine »Vergleichende Grammatik der slavischen Sprachen« (1852—74, 4 Bde.) ist mehr eine Sammlung von Einzelgrammatiken. Die Wortbildungslehre und Syntax sind ihre wertvollsten Teile. Die letztere erschien 1883 in stark erweiterter Gestalt in 2. Auflage. Von der Wortbildungslehre (1875) ist noch 1926 ein neuer Abdruck hergestellt worden. Auf etymologischem Gebiet sind namentlich Miklosichs Lehnwörterforschungen von bleibendem Wert. Seine Schrift über die »Türkischen Elemente in den südost- und osteuropäischen Sprachen« (1884ff.) ist bis heute durch kein modernes Werk ersetzt. Die Betrachtungen über die Lehnwörter bilden auch den besten Teil seines »Etymologischen Wörterbuches der slavischen Sprachen« (1884, Neudruck 1923). Für den Wortschatz des Altkirchenslavischen ist Miklosichs Lexicon palaeoslovenicograeco-latinum (1862—65, Neudruck 1923) heute noch das wichtigste Hilfsmittel. Miklosich hat nicht nur das Verdienst, die slavische Philologie im Grimmschen Sinne ausgebaut zu haben. Er war auch ein Bahnbrecher auf verschiedenen Nachbargebieten, deren Erforschung für die Slavistik von größter Bedeutung werden sollte. Es mögen hier nur seine wertvollen Arbeiten über die Zigeuner Europas, seine rumänischen und albanischen Forschungen erwähnt werden. Seine Produktivität ist ebenso bewundernswert wie seine Vielseitigkeit. Für die Erforschung der geographischen Namen Ostdeutschlands hat er ein grundlegendes Hilfsmittel geliefert in seinen reichhaltigen Schriften über slavische Personen- und Ortsnamen (1860—1874, Neudruck 1927). Bis heute unveraltet ist auch sein Aufsatz über die nordgermanischen Kylfingar in Rußland (Archiv X). Als Etymologe sowie als Erforscher der slavischen Wortbildungslehre und Syntax ist Miklosich ein Bahnbrecher der Slavistik geworden. Der deutschen Slavistik hat er dadurch unschätzbare Dienste erwiesen, daß er fast nur in deutscher Sprache publizierte und auch Schüler, wie Jagiö, Brückner, Murko u. a., heranbildete, die den Ausbau der Slavistik als N e u p h i l o l o g i e fortsetzten und dazu beitrugen, daß sie sich allmählich von der Bevormundung durch die Indogermanistik befreite. Dieses Verdienst entschädigt reichlich für die Mängel, die seinen lautgeschichtlichen Arbeiten anhaften und nach den glänzenden grammatischen Forschungen Leskiens ganz offenkundig sind.

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Die Verdienste des Miklosich- Schülers Vatroslav Jagiö (1838—1923) liegen vor allem in der Anwendung der an der klassischen Philologie erprobten Methoden auf die Editionstätigkeit auf slavischem Gebiet. Jagiö hat eine Unmenge von Texten altbulgarischer, altserbischer, altrussischer, mittelbulgarischer Provenienz in vorbildlichen Ausgaben der slavistischen Forschung zugänglich gemacht und hat durch philologische und sprachwissenschaftliche Untersuchungen derselben unsere Kenntnis besonders des Altbulgarischen in einem Maße gefördert, wie es nur sehr wenigen beschieden sein wird. Er ist der Begründer der modernen slavischen paläographischen Forschung, und seine Untersuchungen über die ältesten Alphabete der orthodoxen Slaven sind bis heute unübertroffen. Ihm verdankt die Forschung auch die Klärung der Frage von der Entstehung der altkirchenslavischen Sprache, deren mazedonischbulgarischen Ursprung er zuerst unwiderleglich nachwies (Entstehungsgeschichte der altkirchenslavischen Sprache 1900, 2. Auflage 1913), und wertvolle Aufschlüsse über die ältesten Übersetzungen kirchlicher Bücher bei den orthodoxen Slaven. Grundlegend ist auch seine Geschichte der serbischen Literatur, seine große Sammlung aller älteren grammatischen Texte der kirchenslavischen Literatur (1886) sowie eine Untersuchung der Geheimsprachen bei den Slaven (1895). Einzelsprachliche Studien lagen auch ihm mehr als sprachvergleichende. Immerhin hat er auch auf dem Gebiete der urslavischen Grammatik wertvolle Entdeckungen gemacht, wie z. B. die Spur eines slavischen si-Futurums im Altbulgarischen (Archiv 28). Durch Sprachkenntnisse und philologische Methode, durch Temperament und wissenschaftliche Objektivität, die sich nicht von Streitigkeiten einzelner slavischer Völker untereinander beeinflussen ließ, war er der geeignetste Vertreter der Slavistik in Wien, wo er den größten Teil seines Lebens gelehrt hat. Sein größtes Verdienst um die deutsche Wissenschaft ist die Begründung eines slavistischen Zentralorgans in dem 1876 von ihm geschaffenen »Archiv für slavische Philologie«, das er bis 1920 mit großem Geschick geleitet hat. Durch dieses Organ wurden der deutschen Forschung wertvolle Anregungen slavischer Forscher zugeführt. Zu den hervorragendsten unter ihnen gehören Bohemisten, wie J. Gebauer und T. Masaryk, die sich um die Aufdeckung von Fälschungen alttschechischer Literaturdenkmäler, wie die Königinhofer und Grüneberger Handschrift, besondere Verdienste erwarben, Literarhistoriker, wie A.Veselovskij, M.Murko u.a., Sprachforscher, wie J.Zubaty, M. ReSetar, V. Oblak, Historiker, wie M. Drinov und C. Jireiek, Märchenforscher, wie J. Polivka usw. Ein anderer bedeutender Schüler Miklosichs ist der Pole Alexander Brückner (geb. 1856, Professor in Berlin 1884—1924). Die größten Verdienste erwarb er sich um die Erforschung des altpolnischen Schrifttums. Er hat hier unsere Kenntnisse auch durch wertvolle Funde von wichtigen Sprachdenkmälern bereichert, die er glänzend interpretierte, indem er stets den Zusammenhang mit dem alttschechischen Schrifttum im Auge behielt. Eine Reihe von Arbeiten Brückners ist den sprachlichen Beziehungen zwischen Slaven und Litauern gewidmet. Auch unsere Kenntnis des Altpreußischen hat er in wesentlichen Punkten gefördert (Archiv 20 und Ztschr. f. sl. Phil. VI). Wiederholt hat Brückner auch zu Fragen der slavischen Mythologie Stellung genommen (Archiv 6, 9, 14, 40 und sonst) und die Geschichte der Slavenapostel Kyrill und Method kritisch behandelt (zuletzt Archiv 42). Die 16*

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Geschichte der russischen Literatur (1905 und später polnisch und deutsch in längeren und kürzeren Fassungen) sowie die Geschichte der polnischen Literatur (1901 und kürzer 1920) zeugten von einer souveränen Beherrschung der beiden Hauptliteraturen der Slaven, die er durch geschickte Darstellung bis in die neueste Zeit dem deutschen Leser erschloß. Neben diesen Arbeiten entstand das polnische etymologische Wörterbuch (Krakau 1927 polnisch) und die Geschichte der polnischen Schriftsprache (1922). Außer seiner unermüdlichen Forschertätigkeit auf literarhistorischem Gebiet hat sich Brückner seit Jahrzehnten für die Slavenreste im Hannoverschen Wendland und für slavische Ortsnamenforschung auf ostdeutschem Boden interessiert. Seine Untersuchung der slavischen Ansiedlungen in der Altmark (1879) ist bis heute eine der besten Arbeiten über slavische Ortsnamen in Deutschland. Mehrere spätere Aufsätze von ihm über derartige Fragen (vgl. darüber Ztschr. f. sl. Phil. V I i88ff.) wird die Forschung stets berücksichtigen müssen, wenn sie auf diesem schwierigen Gebiet nicht auf Abwege geraten will. Brückner ist heute einer von den ganz wenigen Slavisten, deren Tätigkeit sich über das Gesamtgebiet der slavischen Philologie erstreckt. Um die Einführung der neueren slavischen Literaturgeschichte im Lehrbetrieb deutscher Universitäten hat sich kein anderer Gelehrter so große Verdienste erworben wie er. Als Grammatiker hat er die Meisterschaft eines Leskien nicht erreicht. Ein hochverdienter Forscher auf dem Gebiete des altpolnischen Schrifttums ist neben Brückner Wladyslaw Nehring (1838—1909, von 1868—1909 Professor in Breslau). Hervorragend sind seine Aufsätze über den Einfluß der alttschechischen Literatur auf die altpolnische (Archiv I, II, V, VI, ). Seine Altpolnischen Sprachdenkmäler (1887) sind Jahrzehnte hindurch die beste philologische Ubersicht des altpolnischen Schrifttums gewesen und sind erst vor kurzem durch die neuere Arbeit des unermüdlichen J. Los überholt worden. Wir besitzen von ihm auch noch eine Anzahl ausgezeichneter Textausgaben mit gründlichen philologischen Untersuchungen wichtigster Sprachdenkmäler, z. B. des Florianer Psalters (1883). Nehrings Forschungen berücksichtigen auch die neuere polnische Literatur; die darauf bezüglichen Untersuchungen veröffentlichte er meist in polnischer Sprache. Durch seine Tätigkeit in Graz (1902—1917) und Leipzig (1917—1920) und durch seine Veröffentlichungen in deutscher Sprache hat auch Matthias Murko (geb. 1861) die deutsche Slavistik beeinflußt (seit 1920 Professor an der tschechischen Universität in Prag). Besonders anregend gewirkt haben seine Geschichte der älteren südslavischen Literaturen (1908) und seine »Deutschen Einflüsse auf die Anfange der tschechischen Romantik« (1897). Wertvoll sind auch noch seine Arbeiten über die Volksepik bei den Südslaven (1913—1915). Ein besonderes Verdienst erwarb sich Murko durch seine Forschungen auf dem Gebiete der slavischen Volkskunde. Durch seine Geschichte des volkstümlichen Hauses bei den Südslaven (1906) und die Untersuchung »Das Grab als Tisch« (1910) erschloß er der deutschen Forschung ein reichhaltiges Material, Die Autorität auf dem Gebiete der sorbischen (wendischen) Sprachforschung ist der emer. Gymnasialprofessor Ernst Mucke in Bautzen (geb. 1854). Seine Historische Laut- und Formenlehre der niedersorbischen Sprache (1891) ist auch für die obersorbische Sprachgeschichte grundlegend. Wertvoll sind auch Muckes

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Feststellungen über die Grenzen des sorbischen Sprachgebietes vor der deutschen Kolonisation (Archiv 26). Diesem Gelehrten verdankt die Wissenschaft auch ein ausführliches Niederwendisches Wörterbuch (3 Bde. 1914—1929). Die ostdeutsche Namenforschung förderte Mucke durch eine große Anzahl von Arbeiten. Trotz nicht weniger guter Deutungen zeigt sich in diesen Untersuchungen sehr oft eine Überschätzung des slavischen Einflusses und Unterschätzung des deutschen Einschlages. Außer ihm haben sich auf dem Gebiete der sorbischen Philologie Pfarrer G. Schwelaund J. Jatzwauk betätigt; ersterer durch praktische Lehrbücher, letzterer durch eine ausführliche Bibliographie (1928). Eine ausgezeichnete Untersuchung besitzen wir in Hugo Schuchardts Buch »Slavo-deutsches und Slavo-italienisches« (1885). Es ist bahnbrechend für die Beurteilung des Problems der Sprachmischung, und es ist sehr zu bedauern, daß die vielen darin enthaltenen Anregungen von der Slavistik später nicht mehr berücksichtigt worden sind. — Es ist oben bereits von den Verdiensten die Rede gewesen, die sich deutsche Indogermanisten um die urslavische Grammatik erworben haben. Außer Leskien ist auf diesem Gebiet der Schleicher-Schüler Johannes Schmidt mit besonderem Erfolg tätig gewesen, außerdem noch W. Schulze und K. Brugmann. Der frühverstorbene F. N. Finck hat die Erforschung des baltisch-slavischen Nominalakzents (1895) wesentlich gefördert. Von Eduard Sievers (geb. 1850) sind wertvolle Anregungen für die phonetische Forschung auch auf slavischem Gebiet ausgegangen; Otto Schräders (1855—1919) Tätigkeit war auch für die slavische Altertumswissenschaft förderlich. Für die syntaktische Forschung ist die Tätigkeit B. Delbrücks mehr indirekt von Bedeutung; auf dem Gebiete der etymologischen Forschung verdienen erwähnt zu werden vor allem R. Meringer (geb. 1859) und F. Solmsen (1865—1911), ersterer namentlich wegen seiner Forderung, die Wortforschung im Zusammenhange mit der Sachforschung zu betreiben. Von Slavisten der älteren Generation ist außer den früher genannten noch R. Abicht (1850—1919) zu erwähnen wegen seines Buches »Hauptschwierigkeiten der russischen Sprache« (1897) und seiner wertvollen Quellennachweise zu einer der wichtigsten altbulgarischen Handschriften, dem sogenannten Cod. Suprasliensis (Archiv 16, 18, 20, 21). Auch R. Scholvin (1850—1929) hat wertvolle Beiträge zur Kenntnis des Alt- und Mittelbulgarischen geliefert (Archiv II und VII). Ose. Wiedemann veröffentlichte gleichzeitig mit ihm förderliche Beiträge zur Geschichte der altbulgarischen Konjugation (1886), undAsmus Soerensen(i854—1912) untersuchte die Entwicklung der serbischen Heldendichtung (Archiv 14, 15, 16, 17, 19, 20) und schrieb eine ausführliche deskriptive Polnische Grammatik (1900). Zu wenig beachtet wurde unter den deutschen Slavisten Wilhelm Wollner (1851—1902). Seine Untersuchungen über die Volksepik der Großrussen (1879), die Aufsätze über den Lenorenstoff in der slavischen Volkspoesie (Archiv VI) und über den Versbau des südslavischen Volksliedes (Archiv IX) lassen bedauern, daß er nicht mehr veröffentlicht hat. Unter Leskiens Schülern hat der Deutschbalte Leonhard Masing (geb. 1845, heute Prof. in Dorpat) die großen Hoffnungen nicht erfüllt, die sich an sein vor-

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zügliches Buch über die Hauptformen des serbokroatischen Akzents (1876) knüpften. Er hat später nur noch Beiträge zur Kenntnis mazedonischer Mundarten (Pburg. 1891) geliefert und eine philologische Untersuchung über den russischhslav. Sbornik des Svjatoslav von 1073 (Archiv V I I I und IX). Erich Berneker (geb. 1874) ist ebenfalls ein Schüler Leskiens. Ihm verdankt die Slavistik vor allem sein ausgezeichnetes Slavisches etymologisches Wörterbuch (1908—1914), das besonders die indogermanischen Erbwörter im Slavischen in einer viel besseren Weise als Miklosich behandelt, aber leider über den Buchstaben M nicht hinausgekommen ist. Sehr praktisch angelegt ist auch seine Russische Grammatik (1897, 2. Auflage 1917). Sein eigenstes Gebiet ist die Etymologie, weniger die Grammatik und Literaturgeschichte, immerhin hat er auch diese beiden Gebiete gepflegt. Vgl. seine Wortfolge in den slavischen Sprachen (1900) und Leo Tolstoj (1900). Der Leskien-Schüler Friedrich Lorentz (geb. 1870) ist leider nie dazu gekommen, an einer Universität zu lehren. Das ist außerordentlich zu bedauern, denn er hat eine große Anzahl ausgezeichneter sprachwissenschaftlicher Untersuchungen veröffentlicht und ist einer der besten Kenner des Kaschubischen. Wir besitzen von ihm mehrere grammatische Darstellungen des Kaschubischen, ausgezeichnete Textaufzeichnungen, ein ausführliches Wörterbuch der slowinzischen Mundart und eine Geschichte der Kaschuben. Um die polnische Sprachgeschichte hat er sich durch einen wertvollen Aufsatz über die polnischen Nasalvokale verdient gemacht (Archiv 19). Seinen weiten sprachwissenschaftlichen Horizont beweist auch seine Abhandlung über die Verwandtschaftsverhältnisse der westslavischen Sprachen (Archiv 24). Außer Lorentz hat sich mit dem Kaschubischen von deutschen Forschern nur noch Gotthelf Bronisch befaßt, von dem wir wertvolle kaschubische Dialektstudien (Archiv 18) besitzen. Ein unentbehrliches Werk für das Studium des Polabischen schrieb der Königsberger Slavist Paul Rost: Die Sprachreste der Drawäno-Polaben im Hannoverschen (1907). Als der beste deutsche Fachmann auf dem Gebiete der tschechischen Philologie hat sich Franz Spina (geb. 1869, Prof. in Prag) ausgewiesen. Seine Arbeiten zeigen stets gute grammatische Schulung und umfassende literarhistorische und kunstgeschichtliche Kenntnisse. Unter seinen Schülern arbeitet neuerdings Eugen Rippl philologisch über alttschechische Sprachdenkmäler. Durch seine Neuausgabe eines von Brückner entdeckten wichtigen altpolnischen Textes hat sich Paul Diels (geb. 1883, Prof. in Breslau) verdient gemacht (Heiligenkreuzer Predigten 1921). Um einen andern wichtigen altpolnischen Text, die sogenannte Sophienbibel, hat sich Erdmann Hanisch (Prof. in Breslau) bemüht (Archiv 34, 35). Eine ausgezeichnete Arbeit über die Übersetzungstechnik der altslavischen Evangelienübersetzungen (Archiv 31, 32) besitzen wir von Otto Grünenthal (Prof. in Breslau). Mit sprachwissenschaftlichen Studien, namentlich auf altbulgarischem Gebiet, hat sich der früh verstorbene A. Margulies befaßt. Einen wertvollen Aufsatz über die Verba reflexiva (Zeitschr. IV 226 ff.) veröffentlichte Eberhard Tangl (geb. 1897). Die Frage der Aktionsarten des slavischen Verbums wird in letzter Zeit mit besonderem Eifer bearbeitet von Erwin Koschmieder. Ein kenntnisreicher Slavist ist auch

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Erich Böhme (geb. 1879), der schon vor ihm dieActiones der Verba Simplicia im Altbulgarischen (1904) gründlich untersucht hat. Ein besonders produktiver Gelehrter mit ausgezeichneter sprachwissenschaftlicher Schulung ist Reinhold Trautmann (geb. 1883, Prof. in Leipzig). Sein Hauptwerk ist sein »Baltisch-slavisches Wörterbuch« (1923), eine solide Leistung, die als Ersatz für die fehlende zweite Hälfte von Bernekers Wörterbuch besonders willkommen ist, trotzdem der Verfasser aus dem slavischen Erbwortschatz nur diejenigen Bestandteile bringt, die sich auch im baltischen Wortschatz finden. Wertvoll sind von Trautmann auch seine Textausgaben und philologischen Untersuchungen über die alttschechische Alexandreis (1915) und den niedersorbischen Wolfenbütteler Psalter (1927), verdienstvoll auch die mehr referierende Leipziger Antrittsvorlesung über das russische Heldenlied (Euphorion Bd. 27, 1926). Durch die philologische Untersuchung und Herausgabe eines sehr wichtigen serbischen Sprachdenkmals, der sogenannten Erlanger Liederhandschrift (1925), hat sich Gerhard Gesemann (geb. 1888 Prof. in Prag) ein großes Verdienst erworben. Dazu kamen von ihm noch andere Untersuchungen serbischer epischer Lieder (Archiv 38 und 42). Dieser Gelehrte ist auch bestrebt, moderne Methoden der Literaturwissenschaft auf die Erforschung der neueren russischen Literatur anzuwenden. Mit der Frage der ältesten Wohnsitze der Slaven befaßt sich seit längerer Zeit Max Vasmer (geb. 1886, Prof. in Berlin). Im Zusammenhange damit hat er außer einem Buch über die Iranier in Südrußland (1923) auch mehrere Aufsätze über die Nordillyrier in Ostdeutschland (Ztschr. V und VI) und die Wikinger in den westslavischen Ländern (Ztschr. VI und VII) veröffentlicht. Von ihm sind außerdem verschiedene Arbeiten über vulgärgriechische Lehnwörter im Altbulgarischen und Russischen (1906—1908) erschienen, eine Untersuchung über eine byzantinische Quelle zur älteren russischen Lexikographie (1922), mehrere Aufsätze über russische Heldensage (Ztschr. 1 und 6) und ein Vortrag über die bulgarische Literatur zur Zeit des Zaren Symeon (1929). Ein Gelehrter, der sich in letzter Zeit mit Erfolg dem Studium der russischen Volksdichtung hingibt, ist August von Löwis of Menar. Wir besitzen von ihm ein Buch über das russische Märchen und eine gründliche Untersuchung der Brünhildsage in der russischen Volksdichtung (1923). Bedauerlich ist die große Zersplitterung in der wissenschaftlichen Produktion von K. H. Meyer (geb. 1890, Prof. in Münster). Darunter leiden sowohl seine Russische historische Grammatik (1922) als seine Arbeiten über serbokroatische Dialekte (1929) und über urslavischen Akzent (1921). Eine nützliche Arbeit von ihm ist die Ausgabe des obersorbischen Katechismus des Warichius (1923). Auf dem Gebiete der slavischen Volkskunde haben sich Verdienste erworben K. Rhamm durch seine Arbeit über die altslavische Wohnung (1910), V. von Geramb durch Arbeiten über slovenische Volkskunde und Edm. Schneeweis als Fachmann für serbokroatische und wendische Bräuche. Eine Stellung für sich nimmt durch seine kirchenrechtliche Schulung ein Heinrich Felix Schmid (Prof. in Graz). Eine gründliche philologische Leistung von ihm ist seine Untersuchung über den Nomokanon des Methodius (1922). In letzter

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Zeit befaßt er sich mit großer Sachkenntnis mit slavischer Rechtsgeschichte. Von den Theologen hat Nathanael Bonwetsch (1848—1928) durch seine Arbeit über das slavische Henochbuch (1896) die Slavisten zu Dank verpflichtet. Sehr wertvoll für die Slavistik ist die Mitarbeit mehrerer sprachwissenschaftlich interessierter Germanisten bei der Untersuchung von germanischen Lehnwörtern und Ortsnamen in slavischen Ländern. Anregend wirkte auf diesem Gebiet nach W. Schulze vor allem Primus Lessiak (geb. 1878). Als Schüler des letzteren entfaltet eine rege Tätigkeit Ernst Schwarz, der mit germanistischem Material slavische Lauterscheinungen chronologisch zu bestimmen sucht. Außer ihm haben die slavische Namenforschung in ostdeutschen Gebieten in letzter Zeit mehrere Slavisten gefördert, darunter besonders F. Liewehr, E. Sandbach und S. Pirchegger. Die slavischen Ortsnamenforschungen solcher Gelehrter, wie G. Hey, O. Weise, P. Kühnel, erscheinen danach als durchaus ungenügend. Die sprachlichen Berührungen der Slaven mit nichtslavischen Balkanvölkern hat seit Miklosich besonders Gustav Meyer (1850—1900, Prof. in Graz) gefördert. Nach ihm hat sich dieser Beziehungen Gustav Weigand (geb. 186o, Prof. in Leipzig) eingenommen, der sich viel mit dem Neubulgarischen befaßt hat. Auch die Ortsnamenforschung der Balkanländer hat ihn beschäftigt, jedoch nicht immer mit Berücksichtigung urkundlichen Materials. Die vorstehende Betrachtung zeigt, daß die deutsche Slavistik in den letzten Jahrzehnten vorwiegend sprachwissenschaftlich und philologisch orientiert gewesen ist. Die Literaturwissenschaft wird immer noch stiefmütterlich behandelt. Aus diesem Grunde ist die vorwiegend popularisierende Tätigkeit von Arthur Luther anzuerkennen, auch wenn seine ausführliche Geschichte der russischen Literatur (1924) oft Kenntnis neuerer Forschungen russischer Gelehrter vermissen läßt. Im Vergleich mit den Arbeiten Eugen Zabels bedeutet seine Tätigkeit einen großen Fortschritt. Es muß andererseits zugegeben werden, daß die slavistische Fachwissenschaft mehr als bisher bestrebt sein muß, die Führung auch auf dem Gebiete der neueren Literatur in die Hand zu bekommen, wo sich namentlich in der Dostojevskij- und Tolstoj-Forschung vielfach der Dilettantismus breit macht und ernste Leistungen wie diejenigen von P. Natorp und Ed. Thurneysen über Dostojevskij noch zu den Ausnahmen gehören. Solange die deutsche Slavistik nur wenige Vertreter an Universitäten aufzuweisen hat, die noch dazu in ihrer Lehrtätigkeit Sprachwissenschaft und Literaturgeschichte vereinigen müssen, müssen die Fachzeitschriften auf die Mitarbeit slavischer Literarhistoriker besonders großen Wert legen. Diese haben auch in der seit 1924 erscheinenden »Zeitschrift für slavische Philologie« (bisher 7 Bände) und der populären »Slavischen Rundschau« (seit 1929) der deutschen Slavistik viele wertvolle Anregungen geboten. Es ist zu bedauern, daß das »Archiv für slavische Philologie« seit dem Weltkriege auf solche Mitarbeiter so gut wie ganz verzichtet. Weitere Anregungen sind für die deutsche Slavistik von dem »Grundriß der slavischen Philologie und Kulturgeschichte« zu erwarten, den R. Trautmann und M. Vasmer herausgeben (bisher 7 Bände). Sehr gefördert würde die Entwicklung der deutschen Slavistik, wenn die amtlichen Stellen mehr Interesse für dieses Fach zeigen würden. Die Heranbildung eines Nachwuchses ist nicht möglich, solange die meisten russischen Lektorate

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trotz des Vorhandenseins geschulter Kräfte ohne Befragung von Fachleuten durch philologisch ungeschulte Leute besetzt werden, ein Zustand, der in der Anglistik und Romanistik ganz undenkbar wäre. Es ist auch sehr bedenklich, daß an großen Universitäten wie Hamburg, Köln, Göttingen, Heidelberg, Freiburg, Frankfurt a. M. usw. kein Vertreter der slavischen Philologie vorhanden ist. Rostock, umgeben von Spuren slavischer Vergangenheit, hat nicht einmal ein Lektorat für eine slavische Sprache. Es stimmt nicht zu dem Streben der deutschen Wissenschaft nach Universalität, daß die hervorragenden Forschungen über das Kaschubische von Fr. Lorentz und über das Sorbische von E. Mucke bei wissenschaftlichen Gesellschaften in Petersburg, Krakau, Prag und Posen gedruckt werden mußten und für sie keine Druckmöglichkeit bei einer deutschen Akademie der Wissenschaften bestanden hat. Verschiedene bereits begonnene größere Arbeiten über sorbische Sprachgeographie und Volkskunde, Vorarbeiten zu einem obersorbischen Wörterbuch und vieles andere mußte wegen Mangels an Geldmitteln unterbrochen werden. Es ist dringend notwendig, daß diese Fragen einmal die Behörden beschäftigen. Dann wird die deutsche Slavistik mit mehr Zuversicht und Erfolg ihre Arbeit fortsetzen können.

ENNO LITTMANN SEMITISCHE PHILOLOGIE Philologie ist Kulturwissenschaft; sie umfaßt daher nicht nur reine Linguistik einer bestimmten Sprache oder Gruppe von Sprachen sowie allgemeinere sprachwissenschaftliche Probleme, die damit zusammenhängen, sondern auch alle Gebiete der sogenannten Realien, ohne die eine wirkliche Erklärung der schriftlichen Denkmäler eines Volkes oder einer Völkerfamilie nicht möglich ist. Die Wissenschaft vom Morgenlande befindet sich hier in einer besonders schwierigen Lage. Wenn vor hundert Jahren ein Rückert noch Koptisch, Arabisch, Persisch und Indisch in gleicher Weise umspannen konnte, so war das in den letzten fünfzig Jahren undenkbar. Die Philologie hat sich hier wie die Naturwissenschaften bei der fortschreitenden Erkenntnis und dem immer mehr anschwellenden Forschungsmaterial in viele Einzelzweige differenzieren müssen. Und die »orientalische Philologie« hat sich zugleich von ihrer früheren Stellung als a n c i l l a theologiae endgültig freigemacht. Die Semitistik ist auch schon längst nicht mehr die Orientalistik schlechthin. Von ihr zweigte sich im 19. Jahrhundert die Keilschriftforschung als selbständiges Wissenschaftsgebiet ab, obwohl es sich bei dieser zunächst hauptsächlich um eine semitische Sprache handelte. So umfaßt denn die semitische Philologie im engeren Sinne die Sprachen und die Kulturen der Kanaanäer, d. i. der Phönizier, Hebräer und der ihnen verwandten Völker, der Aramäer, Araber und Abessinier; aber die semitische Sprachwissenschaft kann natürlich des BabylonischAssyrischen nicht entbehren. Dazu kommt noch ein anderes. Wer die semitische Philologie als Kulturwissenschaft betreibt, kann sich nicht auf die genannten Sprachen und Völker beschränken. Für die altsemitische Kultur muß er mit den Resultaten der Ägyptologie und der gesamten Keilschriftforschung vertraut sein. Im »christlichen Orient« bilden Syrisch, Christlich-Arabisch, Aethiopisch, Armenisch, Koptisch sowie der Hellenismus eine organische Einheit. Der »islamische Orient«, in dem zwar das Arabische die wichtigste Rolle spielt, kann nicht ohne Persisch und Türkisch verstanden werden. Und wer die semitischabessinischen Sprachen gründlich erforschen will, darf die hamitischen Sprachen nicht beiseite lassen. Es ist selbstverständlich, daß es über die Kräfte eines Einzelnen geht, alle diese Gebiete wirklich zu beherrschen. Vor allem erfordern die historischen, kulturellen und religionshistorischen Probleme, die mit dem Islam verbunden sind, eine volle Arbeitskraft und können nicht mehr im Nebenamte von einem Semitisten behandelt werden. Darum ist denn auch in den letzten Dezennien die Islamkunde eine eigene Wissenschaft geworden. Deutsche Forschung hat sich von jeher in hervorragendem Maße an der Wissenschaft vom Morgenlande beteiligt und hat darin erfolgreich mit der Forschung anderer Völker gewetteifert, die durch ihre politischen Beziehungen zum Orient weit günstiger gestellt waren. Wenn nun hier über deutsche Forschung allein berichtet werden soll, so ist das zwar nur ein Ausschnitt aus dem Gesamt-

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bilde, aber ein beträchtlicher; in diesen Ausschnitt sind alle deutsch geschriebenen Werke einbezogen, auch wenn sie von Gelehrten verfaßt sind, die nicht im Deutschen Reiche leben oder lebten, sowie auch diejenigen Arbeiten deutscher Forscher, die in anderen Sprachen veröffentlicht wurden.

I Unser Abschnitt gliedert sich in drei Perioden: die Zeit des deutschen Kaiserreiches, die Zeit des Weltkrieges und die Nachkriegszeit. Schon vor 1870 waren im 19. Jahrhundert von Deutschen grundlegende und umfassende Werke auf dem Gebiete der semitischen Philologie geschaffen, vor allem Grammatiken, Wörterbücher, Textausgaben. Auf ihnen wurde in der Kaiserzeit weiter aufgebaut. Dazu kamen bei der erstarkenden wirtschaftlichen Kraft unseres Vaterlandes neue Entwicklungsmöglichkeiten durch Gründungen von Instituten und von neuen Zeitschriften und durch Reisen deutscher Forscher im vorderen Orient. Die Reisen und Expeditionen, die teilweise mit Ausgrabungen verbunden waren, wurden durch Kaiser Wilhelm II. mächtig gefördert; so war er es, der die Expeditionen nach Ba'albek in Syrien und nach Aksum in Abessinien entsandte und aus seinem Dispositionsfonds bestritt. Die Reise von Prof. Euting nach Innerarabien wurde durch König Karl von Württemberg und durch den Statthalter in Elsaß-Lothringen v. Manteuffel ermöglicht. Von der Berliner Akademie wurden Expeditionen nach Zentral-Asien gesandt, durch die auch manches neue Material für die Kenntnis des semitischen Orients entdeckt wurde; die Wiener Akademie rüstete eine Expedition aus zur Erforschung der südarabischen Altertümer und der neueren südarabischen Volkssprachen. Im Auftrage des Deutschen OrientKomit£s wurden Grabungen in Nordsyrien unternommen; und an zwei amerikanischen Expeditionen nach Syrien nahm ein deutscher Gelehrter teil, um die semitischen Inschriften zu bearbeiten. Ganz besonders erfolgreich waren die Grabungen des Berliner Museums auf der Nilinsel Elephantine, die äußerst wertvolle aramäische Papyri zu Tage förderten. In Berlin wurde das »Seminar für orientalische Sprachen« begründet, in dem aber von Anfang an nicht nur die Sprachen, sondern auch die Realien gepflegt wurden. Für die Entwicklung der Wissenschaft charakteristisch ist es, daß später im Hamburger Kolonial-Institut ein »Seminar für Geschichte und Kultur des Orients« geschaffen wurde. In Jerusalem wurde das Deutsche evangelische Institut für Altertumswissenschaft des heiligen Landes begründet; doch auch in den katholischen gelehrten Anstalten Jerusalems waren Deutsche, die sich der Erforschung Palästinas, seiner Geschichte, seiner Sprachen und Literaturen widmeten. Die Direktoren der früheren Vizeköniglichen (jetzt National-) Bibliothek in Cairo waren Deutsche; und sie konnten durch Forschungen an Ort und Stelle die Wissenschaft vom arabisch-islamischen Ägypten fördern, ebenso wie ein deutscher Gelehrter, der mehrfach an die neugegründete ägyptische Universität berufen wurde. Im Kaiser-Friedrich-Museum fand die islamische Kunst und Archäologie eine besondere Pflegestätte. Neben die altehrwürdige »Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft«, die ein

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glänzender Sammelpunkt deutscher Orientalistik war, trat bereits in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts die »Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins«. Dazu kam in den achtziger Jahren ein eigenes Organ der österreichischen Orientalisten, die »Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes«. Für die Keilschriftforschung erstanden neue Zeitschriften, die »Beiträge zur Assyriologie und vergleichenden semitischen Sprachwissenschaft« und die »Zeitschrift für Assyriologie und verwandte Gebiete«, die, wie ihre Titel besagen, auch der semitisthen Philologie zu gute kamen. Ebenso fanden in den »Mitteilungen der Vorderasiatischen Gesellschaft«, die vornehmlich dem babylonisch-assyrischen Kulturkreise gewidmet waren, manche Arbeiten aus den benachbarten Wissenschaftsgebieten Aufnahme. Ein unentbehrliches Hilfsmittel für die gesamte Orientalistik wurde die »Orientalische Bibliographie«, und aus kleinen Anfangen heraus entwickelte sich die »Orientalistische Literaturzeitung« zu der angesehenen Zeitschrift, die sie jetzt ist. Mit der Gründung des Hamburger Seminars für Geschichte und Kultur des Orients trat auch die Zeitschrift »Der Islam« ins Leben, die einen großen Aufschwung der islamischen Studien in Deutschland bedeutete. Ihr zur Seite trat in bescheidenerem Ausmaße »Die Welt des Islams«. Als im Weltkriege die Türkei auf die Seite der Mittelmächte trat, blühten die turkologischen Studien in Deutschland auf. Früher war das Türkische bei uns etwas stiefmütterlich behandelt worden. Nur wenige hatten die Bedeutung des Türkentums für unsere Kenntnis des Islams und der Geschichte des vorderen Orients richtig erkannt; aber schon vor dem Kriege hatte ein Deutscher eine »Türkische Bibliothek« begründet, die im Jahre 1914 bereits 18 Bände zählte. In ihr befinden sich auch mehrere wichtige und umfangreiche Abhandlungen zur Islamkunde, die sich auf arabische Quellen stützen; ihr Hauptteil aber ist der Erforschung der türkischen Volksliteratur, Volksreligion und Volkskunde gewidmet. Die Türkenbegeisterung während des Krieges rief allerdings zunächst nur eine ganze Anzahl von Büchern hervor, die mehr praktischen Zwecken dienten; doch auch wissenschaftliche Abhandlungen über ältere und neuere türkische Literatur wurden veröffentlicht. Wichtiger war schon, daß deutsche Gelehrte an die Universität Stambul berufen wurden oder als Soldaten in alle Teile des türkischen Reiches kamen und dort ihren eigentlichen Beruf nicht zu verleugnen brauchten, sondern, trotz allem Pflichteifer in der Avisübung ihres militärischen Dienstes, immer noch Gelegenheit zu wissenschaftlicher Betätigung fanden. Da entstand ein wichtiges Werk zur Geschichte der Stadt Damaskus. Viele Fliegeraufnahmen des Geländes, der bewohnten Orte und der Ruinenstätten wurden gemacht; bisher unbekannte oder wenig erforschte Ruinen, besonders im Süden Palästinas, wurden untersucht. Bis Baghdad hin erstreckte sich die Tätigkeit der deutschen Soldaten-Gelehrten; dort wurde ein Plan der Stadt hergestellt, das Volksleben und der mesopotamisch-arabische Dialekt studiert. Nach dem Kriege schien es zunächst, als ob der deutschen Wissenschaft wie dem deutschen Volke durch die Feinde die Existenzmöglichkeiten entzogen werden sollten. Aber deutscher wissenschaftlicher Idealismus siegte über alle Hindernisse. Die deutschen Gelehrten arbeiteten in der Orientalistik wie auf allen anderen Gebieten still und unbeirrt weiter. Wenn ihnen auch noch mehrere Jahre hindurch

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die Türen des Orients durch den Machtwillen Englands und Frankreichs verschlossen blieben, so förderten sie die Wissenschaft durch Erforschung des reichen Materials, das ihnen innerhalb Deutschlands zur Verfügung steht. Einer der ersten Deutschen, die wieder zu den Ländern englischen und französischen Einflusses Zutritt erlangten, war ein deutscher Augenarzt in Kairo, der sich schon früher um das Studium der arabischen Medizin sehr verdient gemacht hatte und nun mit neuem Eifer und neuem Erfolg dies Studium wieder aufnahm. Es folgten dann immer mehr deutsche Gelehrte, die den Orient wieder bereisten, zum größten Teile mit der Unterstützung der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, die jetzt an die Stelle des Kaisers und der durch Inflation verarmten deutschen Akademien getreten war als Förderin der Wissenschaft. Auch das deutsche Institut in Jerusalem konnte seine Arbeiten fortsetzen. Ausgrabungen und Expeditionen größeren Stils konnten freilich auf unserem Gebiet noch nicht wieder unternommen werden. So wurden denn von den deutschen Gelehrten die Schätze der Bibliotheken im vorderen Orient untersucht, die moderne Entwicklung des Islams und der arabischen und türkischen Literatur und die modernen Volkssprachen studiert. Besonders in Stambul, das ja uns Deutschen rascher wieder zugängig wurde, sind bei systematischer Untersuchung der vielen Bibliotheken durch einen deutschen Gelehrten manche seltenen oder unbekannten Handschriften entdeckt und zum Teil bereits bearbeitet worden. Die Probleme, die der Islam in der Türkei, in Syrien, Arabien und Ägypten als Religions- und Kulturgemeinschaft sowie als politische Macht bietet, stehen hier naturgemäß imVordergrund. Nach dem Kriege wurden sogar noch neue Zeitschriften begründet, so das »Archiv für Orientforschung« und die »Islamica«, die unter Mitarbeit ausländischer Orientalisten von deutschen Gelehrten geleitet werden. Die »Islamica« dienen der Islamkunde, aber auch der semitischen Philologie im allgemeinen; das ist zugleich ein Abbild des heutigen Standes unserer Wissenschaft von der »semitischen Kultur«, die Altes mit Neuem verbindet, die das Alte mit neuen Mitteln der Forschung weiter pflegt, aber auch dem Neuen die ihm gebührende Beachtung schenkt. Die »Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft« wurde der weiteren Differenzierung entsprechend, in drei Zeitschriften zerlegt, in die allgemeine Zeitschrift der Gesellschaft, die »Zeitschrift für Semitistik und verwandte Gebiete« und die »Zeitschrift für Indologie und Iranistik«. Wenn auch die Spezialisierung unaufhörlich und unvermeidlich fortschreitet, so macht sich doch auch ein erfreuliches Streben nach Zusammenfassung geltend, sei es, daß auf Grenzgebieten mehrere Spezialisten zusammenarbeiten, oder sei es, daß der Spezialist nicht den Blick auf das Allgemeine verliert oder der Zusammenfasser die Verbindung mit den Einzelwissenschaften aufrecht erhält. II. Die allgemeine s e m i t i s c h e S p r a c h w i s s e n s c h a f t ist erst in den letzten Jahrzehnten zum eigentlichen Forschungsgebiet geworden. Da die semitischen Sprachen — mit Ausnahme des Babylonisch-Assyrischen, Südarabischen und der neueren Dialekte — schon seit mehreren Jahrhunderten bekannt waren, hätte

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man erwarten sollen, daß die semitische Sprachvergleichung sich vor der indogermanischen oder doch gleichzeitig mit ihr hätte entwickeln müssen. Das ist aber nicht der Fall. Die Indogermanisten sind den Semitisten vorausgeeilt, obwohl auch in den Grammatiken und Wörterbüchern der semitischen Sprachen genug Ansätze zur vergleichenden Sprachbetrachtung gemacht wurden. Die modernen phonetischen und sprachpsychologischen Methoden sind bei den Indogermanisten eher heimisch geworden als bei den Semitisten. Der Gründe hierfür sind mancherlei, und sie können hier nicht im Einzelnen untersucht werden. Jedenfalls war es gut, daß zunächst die bahnbrechenden grammatischen Arbeiten von Th. Nöldeke erschienen, in denen mit meisterhafter Kritik und umfassendster Kenntnis die einzelnen sprachlichen Tatsachen untersucht wurden. Seine Mandäische Grammatik, die 1875 veröffentlicht wurde, wird immer eine der festesten Säulen bleiben, auf denen das auch jetzt noch etwas schwanke Gebäude der semitischen Sprachvergleichung ruht. Seine »Beiträge« und »Neue Beiträge zur semitischen Sprachwissenschaft« (1904 und 1910) sind weitere Bausteine von größtem Wert. Seine Skizze »Die semitischen Sprachen«, die in zwei Auflagen (1887 und 1899) erschien, ist die erste, von hoher Warte aus geschaute Gesamtdarstellung. Von einem Schüler Nöldekes wurden die aramäischen Fremdwörter im Arabischen untersucht, eine sprach- und kulturgeschichtlich gleich wichtige Arbeit; ein anderer verfolgte die »Paronomasie« durch alle semitischen Sprachen; ein dritter schrieb die erste deutsche »Vergleichende Grammatik der semitischen Sprachen«; ein vierter gab in zwei Bänden einen umfassenden »Grundriß der vergleichenden Grammatik der semitischen Sprachen« heraus. Ferner wurden die morgenländischen Wörter im Deutschen, unter denen die semitischen einen großen Raum einnehmen, genauer untersucht. Einen großen Fortschritt in der Erkenntnis historischer Zusammenhänge bedeutete es, als durch Erman die Verwandtschaft der semitischen Sprachen mit dem Altägyptischen — und also zugleich mit der großen hamitischen Sprachgruppe — nachgewiesen wurde. Freilich ist auf diesem Gebiet noch manches unsicher, ebenso wie in den neueren Untersuchungen über das Wesen des Ursemitischen und über die ursprüngliche Bedeutung der semitischen Tempora, die teilweise noch in nebelhafte Fernen führt. Mit dem Fortschreiten der Wissenschaft mögen auch diese Nebel verschwinden. Von den k a n a a n ä i s c h e n S p r a c h e n ist natürlich das Hebräische bei weitem die wichtigste. Die hebräische und neuhebräische, die israelitische und jüdische Literatur stehen hier nicht zur Erörterung; sie sind an anderer Stelle näher behandelt. Uber die kanaanäischen Inschriften wird weiter unten im Abschnitt über Epigraphik berichtet. So kommt für uns hier die hebräische Sprache als solche in Betracht. Eine Anzahl von hebräischen Grammatiken und Wörterbüchern wurden verfaßt, die, soweit sie Anspruch auf eigenen wissenschaftlichen Wert machten, in ihrer Art jedesmal einen Fortschritt bedeuteten. Die Grammatik und das Wörterbuch des großen Hallenser Hebraisten Gesenius, der schon 1842 starb, wurden immer wieder neu bearbeitet und dem Stande der Wissenschaft angepaßt. Dabei erkannte man freilich immer mehr, wie unsicher die Überlieferung des alten Testaments in sehr vielen Einzelheiten ist. Auch die Erkenntnisse moderner Metrik wurden für die Erforschung des hebräischen Textes mit wechselndem

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Erfolge nutzbar gemacht. Von weittragender Bedeutung war es, als man in den berühmten Tontafeln von Teil el-Amarna Briefe palästinischer Kleinfürsten an den Oberkönig von Ägypten fand, die aus der Zeit vor der Einwanderung der Hebräer in Kanaan stammen; in ihnen wurden von einem deutschen Gelehrten einzelne kanaanäische Glossen entdeckt, die beweisen, daß die vorhebräische Sprache in Kanaan der hebräischen sehr ähnlich war. An der Bearbeitung hebräischer Handschriften, die für die Geschichte des Bibeltextes wichtig sind, beteiligten sich auch Deutsche mit großem Eifer; so bei der Herausgabe und Erklärung des hebräischen Urtextes von Jesus Sirach und vor allem bei der mühsamen Deutung der textkritischen und sprachlichen Bemerkungen der hebräischen Masoreten. Besonders hervorgehoben sei noch das deutsch geschriebene mehrbändige Werk eines ungarischen Gelehrten über »Die Flora der Juden«, das auch für die Sprachgeschichte von großer Bedeutung ist. Das a r a m ä i s c h e S p r a c h g e b i e t umfaßt eine große Anzahl von älteren und jüngeren Dialekten, die zu Schriftsprachen geworden sind; einige sind freilich nur in Inschriften erhalten und in ihnen sind bisher keine literarischen Denkmäler auf Pergament, Leder oder Papyrus bekannt geworden. Die aramäische Völkerwanderung begann etwa um das Jahr iooo v. Chr.; auch sie wird von der großen Völkerkammer des semitischen Orients, von der arabischen Halbinsel, ihren Ausgang genommen haben. Sie überflutete Syrien und Mesopotamien, und als später die Perserkönige im westlichen Teile ihres Reiches das Aramäische zur Landessprache erhoben, mußten die kanaanäischen Sprachen vor ihm weichen. Phönizisch, Hebräisch und die ihnen verwandten Dialekte wurden durch das Aramäische verdrängt. Bei der Ausbildung der aramäischen Schriftdialekte waren politische und vor allem religiöse Momente von entscheidender Bedeutung. Und wo die Religionen oder Sekten sich durch ihre Sprache kaum von ihrer Umgebung unterschieden, trennten sie sich wenigstens durch die Ausbildung einer besonderen Schrift von ihr ab. Letzteres hat sich in der Geschichte mehrfach wiederholt, wie z. B. bei Polen und Russen, Serben und Kroaten, sowie bei den Juden in verschiedenen Ländern Europas, Asiens und Afrikas. Auf allen Gebieten des Aramäischen hat die deutsche Wissenschaft in den letzten fünfzig Jahren bedeutsame Leistungen hervorgebracht. Von den Inschriften abgesehen, finden sich im Westen das BiblischAramäische und die mit ihm nahe verwandte Sprache der aramäischen Papyri, das Jüdisch-Aramäische aus Palästina, das Samaritanische und das ChristlichPalästinische. Mehrere biblisch-aramäische Grammatiken wurden von Deutschen veröffentlicht; die neueste unter ihnen, die ganz nach modernen sprachgeschichtlichen Gesichtspunkten orientiert ist, wurde von einem Deutschen in Verbindung mit einem Schweden verfaßt. Die aramäischen Papyri aus Ägypten, die ein ungeahntes Licht über das Judentum der Perserzeit verbreiteten, wurden von Deutschen entdeckt und bearbeitet. Ein deutscher Gelehrter verfaßte eine »Grammatik des jüdisch-palästinischen Aramäisch« und ein »Aramäisch-neuhebräisches Wörterbuch« sowie ein Buch über die eng damit zusammenhängende Sprache Jesu, die schon früher von einem deutschen Theologen untersucht war. Ein Wörterbuch des Christlich-Palästinischen wurde von einem Deutsch-Schweizer geschaffen; seine nachgelassene »Grammatik des christlich-palästinischen Aramäisch« gab ein

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Deutscher heraus. Auch an der wissenschaftlichen Erschließung der spärlichen samaritanischen Literatur beteiligten sich deutsche Gelehrte. Die ostaramäischen Dialekte sind: die schlechthin als syrisch bezeichnete Sprache von Edessa, die zur Schriftsprache der christlichen Syrer wurde; die Sprache der babylonischen Juden; die Sprache der Mandäer, einer gnostischen Sekte. Ob die Manichäer einen eigenen aramäischen Schriftdialekt hatten, ist noch umstritten, jedenfalls hatten sie eine eigene Schrift, deren Geschichte und Bedeutung von M. Lidzbarski, dem kürzlich verstorbenen Göttinger Professor, erkannt wurde. Die Erforschung der manichäischen Literatur und Religion führte deutsche Orientalisten zum Persischen, Türkischen und Chinesischen. Schon lange vor Mandäern, Manichäern und Christen hatte das Aramäische sich in Mesopotamien verbreitet. In neuerer Zeit wurden in Deutschland ein aramäischer Brief aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. und ein aramäischer Beschwörungstext in spätbabylonischer Keilschrift herausgegeben Die Erforschung des Mandäischen ist recht eigentlich eine deutsche Wissenschaft geworden. Dafür sind Nöldekes Grammatik und Lidzbarskis monumentale Textausgaben und Übersetzungen die Marksteine. Auch die religionsgeschichtliche Erforschung des Mandäertums wird besonders von deutschen Gelehrten gepflegt. Ebenso ist in unserem Vaterlande die Kenntnis des Syrischen sehr gefördert worden durch Nöldekes Syrische Grammatik, durch die Herausgabe von Texten, wie des wichtigen Julianos-Romans, der syrischen »Schatzhöhle«, der syrischen Kanones der Synoden von Nicaea bis Chalcedon, der syrischen Übersetzung des indischen Fabelbuches Kaiila und Dimna samt den dazu gehörigen literarkritischen Untersuchungen, durch den Katalog der Berliner syrischen Handschriften, durch ein syrisch-lateinisches Lexikon und durch eine umfassende Geschichte der syrischen Literatur. Die syrische Ubersetzung des im vorderen Orient weit verbreiteten Alexander-Romans wurde von einem Engländer herausgegeben, aber von Nöldeke erst in das rechte Licht gestellt. Auch die neuaramäischen Dialekte in Mesopotamien und im Antilibanus sind von Deutschen grammatisch und lexikalisch bearbeitet und durch Textausgaben bekannt gemacht worden. Die I n s c h r i f t e n der semitischen Völker geben uns einerseits erwünschte Aufschlüsse über Sprache, Geschichte, Kultur und Religion, wo literarische Zeugnisse fehlen, andererseits sind sie von größter Bedeutung für die Geschichte der Schriftentwicklung. Semiten waren die Erfinder des Alphabets, das die ganze Welt erobert hat. Man hatte schon lange angenommen, daß bei der Entstehung dieser Alphabetschrift die ägyptische Hieroglyphenschrift irgendwie beteiligt war. Nun sind in den letzten Jahrzehnten auf der Sinai-Halbinsel merkwürdige Inschriften gefunden, die in einer Buchstabenschrift wahrscheinlich von Semiten in der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends verfaßt wurden. Die Buchstabenwerte sind durch Engländer und Deutsche mit ziemlicher Sicherheit festgestellt; aber die Erklärung dieser flüchtig geschriebenen und teilweise schlecht erhaltenen, kurzen Dokumente ist noch nicht gesichert. Diese altsinaitischen Inschriften haben die Wissenschaft vor ganz neue Probleme gestellt. Von ihnen durch mehrere Jahrhunderte getrennt sind die ältesten phönizischen Inschriften, denen sich bald altaramäische und eine moabitische anschließen; in all diesen Inschriften ist das Alphabet im wesentlichen dasselbe. Großes Aufsehen erregte die Auffindung der moabitischen Inschrift

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des Königs Mescha, die von einem deutschen Missionar im Jahre 1868 entdeckt wurde, aber durch einen französischen Kanzler-Dragoman in das Louvre-Museum kam. Diese Inschrift ist inhaltlich, sprachlich und paläographisch von gleich hoher Bedeutung; sie enthält zeitgenössische Nachrichten über Ereignisse, die im alten Testament erzählt werden, und lehrt uns, daß die Sprache der Nachbarvölker Israels sich nur durch kleine dialektische Abweichungen von dem Althebräischen unterschied. Zu ihrer Erklärung haben deutsche Gelehrte viel beigetragen. Durch die Ausgrabungen des deutschen Orient-Komit^s wurden eine altphönizische und mehrere altaramäische Inschriften in Nordsyrien gefunden. Aus ihnen ersehen wir, daß zunächst phönizische Schrift und Sprache von den Aramäern angenommen wurden, dann aber die Aramäer ihre eigene Sprache in der übernommenen Buchstabenschrift schrieben; sie geben zugleich wichtige Aufschlüsse über die Geschichte der nordsyrischen Kleinstaaten und über ihr Verhältnis zur assyrischen Großmacht im 9. und 8. Jahrhundert v. Chr. Auch die Hebräer wandten die phönizische Schrift an; eine althebräische Inschrift aus dem Wassertunnel von Siloah bei Jerusalem (um 700) wurde von einem Deutschen zuerst kopiert und in Deutschland zuerst entziffert. Wahrscheinlich aus dem 5. Jahrhundert stammt eine aramäische Inschrift aus Nordarabien, die von dem deutschen Professor Euting erworben, aber durch einen französischen Konsul nach Paris geschafft wurde; sie berichtet über die Einführung eines Gottes und über die Pfründe, die seinem Tempel zukommen sollten. In ihr vereinigen sich ägyptische, babylonische und aramäische Einflüsse. Gleichfalls aus dem 5. Jahrhundert stammt aller Wahrscheinlichkeit nach eine zweisprachige, aramäisch-lydische Inschrift, die von den Amerikanern in Sardes gefunden und einem Deutschen zur Bearbeitung übergeben wurde; sie bot den ersten Anhalt zur Entzifferung des Lydischen. Von späteren aramäischen Inschriften kommen zunächst die der Nabatäer und Palmyrener, dann die der heidnischen Könige von Edessa und weiterhin christlich-syrische in Betracht. Die phönizischen Inschriften haben in den punischen und neupunischen Schriftdenkmälern von Karthago und Umgegend ihre letzten Ausläufer. Die Sammelstelle für die semitische Epigraphik ist das Corpus Inscriptionum Semiticarum in Paris; aber an der Auffindung und Erklärung dieser Denkmäler hatten Deutsche hervorragenden Anteil. Eine erstmalige Zusammenfassung der ganzen nordsemitischen Epigraphik gab Lidzbarski 1898 in seinem Handbuch. Die Nabatäer waren Araber, die sich einer aramäischen Schrift und Sprache bedienten. Ihr Reich in Nordwestarabien und Syrien wurde 106 n. Chr. durch die Römer zerstört; aber sie behielten ihre Schriftsprache noch einige Jahrhunderte, was sich vor allem aus den von Euting aufgenommenen neusinaitischen Inschriften ergibt. Die nabatäische Schrift wurde dann von den alten Nordwestarabern für ihre eigene Sprache verwandt; aus ihr entstand die Schrift der christlichen Araber vor dem Islam, wie drei Inschriften an christlichen Kirchen Syriens beweisen, die von deutschen Gelehrten entdeckt und hauptsächlich von Deutschen entziffert wurden. Sie stellen eine Vorstufe der islamisch-arabischen Schrift dar, die später ihren Siegeslauf über große Teile Asiens und Afrikas antrat und auch Jahrhunderte lang in Spanien gebraucht wurde. Um das Studium der islamischarabischen Epigraphik hat sich ganz besonders der verstorbene Genfer Professor 17 Kcatichrift Schmidt-Ott

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van Berchem verdient gemacht, der in Deutschland erzogen war und studiert hatte. Neben ihm haben auch deutsche Orientalisten diese Wissenschaft erfolgreich gefördert. Den nordsemitischen Inschriften stehen als eigene Gruppe die südsemitischen gegenüber, und unter ihnen nehmen die südarabischen aus Jemen und Hadramaut den wichtigsten Platz ein. Von ihrem Vorhandensein erfuhr man zuerst durch den größten aller deutschen Orientreisenden, Carsten Niebuhr, der 1761—1767 im Auftrage des Königs von Dänemark Arabien, Mesopotamien und Syrien erforschte. Die ersten südarabischen Inschriften wurden 1810 von U. J. Seetzen kopiert, der wie Niebuhr ein Niederdeutscher war. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde von Engländern, Franzosen, Deutschen und Österreichern eine große Anzahl dieser Dokumente entdeckt, und zwar nicht nur in Südarabien, sondern auch im gegenüberliegenden Abessinien, in Nordwestarabien, in Ägypten, sogar auch in Mesopotamien und auf Delos. Ihre Entzifferung wurde in Deutschland begründet und dann in den europäischen Kulturländern fortgeführt. Durch sie hat sich der Wissenschaft eine ganz neue Welt aufgetan. Die Geschichte und Kultur des sogenannten »glücklichen Arabiens«, das bei Luther »Reicharabien« heißt, erstehen vor unseren Blicken; wir lernen die politischen Ereignisse, die wirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen, die Religion und die Sprachen jener Länder kennen, können sie in das Gesamtbild vom alten Morgenland einordnen und diese Erkenntnis für die Erforschung des übrigen vorderen Orients fruchtbar machen. Ein »Handbuch der altarabischen Altertumskunde«, von einem Dänen zusammen mit Deutschen und Österreichern verfaßt, von dem der 1. Band 1927 erschien, soll alle diese Ergebnisse darstellen. Die Forschungen über den Ursprung des südarabischen Alphabets und seines Zusammenhanges mit der phönizischen und der altsinaitischen Schrift sind noch im Fluß; aber es ist sicher, daß dies Alphabet auch nach Nordarabien gewandert ist und sich dort in mehrere Schriftarten differenziert hat. Diese altnordarabischen Inschriften, zu deren Entdeckung und Entzifferung wiederum Deutsche sehr viel beigetragen haben, geben uns manche Aufschlüsse über eine sonst wenig bekannte Periode der Geschichte des alten Nordarabiens. Die Inschriften Abessiniens wurden durch die von Kaiser Wilhelm II. entsandte Deutsche Aksum-Expedition genau aufgenommen; durch sie wurde festgestellt, daß bereits kurz nach Constantin dem Großen der König von Aksum das Christentum angenommen hat. Zugleich wurden alle Baudenkmäler Nordabessiniens von Fachleuten sachgemäß untersucht und beschrieben, so daß wir über die Kunst und die Architektur der Abessinier nun viel besser unterrichtet sind als über die der alten Südaraber. Im Zusammenhange hiermit sei nur kurz darauf hingewiesen, daß die archaeologische und kunstgeschichtliche Forschung über alles, was mit dem semitischen und islamischen Kulturkreis zusammenhängt, auch in Deutschland sehr große Fortschritte gemacht hat; sie umfaßte die Baudenkmäler der Phönizier, Israeliten, Nabatäer, Palmyrener, Araber, Abessinier, ferner die altorientalische und vor allem die islamische Kunst, mag sie sich in Gebäuden oder Malereien, Zierschrift oder Kunstgewerbe, so vor allem im Knüpfteppich, offenbaren.

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Das A r a b i s c h e steht von jeher mit Recht im Mittelpunkte der semitischen Philologie. Das Feld ist so groß, der Arbeiter und der Werke sind so viele, daß es schwer ist, in einem kurzen Überblick ein einigermaßen erschöpfendes Bild zu geben. Alle Zweige der arabischen Literatur, Poesie, Geschichtsliteratur, geographische, religiöse, philosophische, juristische und grammatische Schriften, Romane, Schattenspiele und Volksliteratur wurden bearbeitet in Textausgaben, Übersetzungen, Kommentaren und Zusammenfassungen der Ergebnisse. Die großen Bestände arabischer Handschriften in der Berliner Bibliothek wurden in einem zehnbändigen Katalog beschrieben. Eine arabische Literaturgeschichte wurde verfaßt, in der die gewaltige Masse gedruckten und ungedruckten Materials zusammengetragen ist. Die große »Märchensammlung« von Tausendundeiner Nacht wurde zum ersten Male vollständig ins Deutsche übersetzt. Das Leben der arabischen Beduinen wurde auf Grund alter Quellen und moderner Reiseberichte beschrieben. Nöldekes Abhandlung »Zur Grammat'k des Classischen Arabisch« bedeutet einen großen Fortschritt für die arabische Sprachwissenschaft. Die Entstehung der arabischen Nationalgrammatik und ihr Verhältnis zur griechischen Grammatik wurde neu untersucht. Die arabische Syntax wurde mit sorgfaltiger Beobachtung des Sprachmaterials zweimal dargestellt. Ein neues umfassendes arabisches Wörterbuch ist seit Jahren in Vorbereitung. Das Verhältnis von Volkssprache und Schriftsprache im alten Arabien wurde erörtert. Vor allem aber wurde durch die Erforschung der neuarabischen Dialekte viel Material für die arabische Sprachgeschichte herbeigetragen; dabei wurde auch die arabische Sprache im Munde der syrischen Zigeuner untersucht, ebenso wie die Sprache in der Literatur der arabischen Christen. Die arabischen Pflanzennamen wurden von dem großen Afrikaforscher G. Schweinfurth zusammengestellt. Es ist eine hohe Aufgabe der Wissenschaft, die des Schweißes der Edlen wert ist, alles herbeizuschaffen, was zur Aufhellung der klassischen Sprache der Araber dienen kann, was vor ihr, nach ihr und neben ihr an verwandten Sprachen vorhanden ist; das sind die altarabischen Inschriften, die neuere Literärsprache und die neueren Dialekte, sowie die abessinischen Sprachen. Die abessinische P h i l o l o g i e ist in Deutschland begründet worden. Im 17. Jahrhundert war es der große Gelehrte Hiob Ludolf, der in vielem seiner Zeit vorauf war; im 19. Jahrhundert war es der schwäbische Theologe August Dillmann, der Ludolfs Arbeit wieder aufnahm, eine neue Grammatik, ein neues Wörterbuch der äthiopischen Sprache schrieb, Texte herausgab und teilweise übersetzte, die äthiopischen Handschriften mehrerer in- und ausländischer Bibliotheken katalogisierte. So waren schon vor 1880 die Grundlagen für das Äthiopische, die klassische Literatursprache Abessiniens und die Sprache der alten Inschriften, geschaffen. Ebenso waren bereits in den siebziger Jahren von dem 1927 verstorbenen Professor Praetorius zwei der neueren semitischen Sprachen Abessiniens grammatisch dargestellt, das Amharische und das Tigrina. In der Folgezeit wurde das Gesamtgebiet der abessinischen Sprachwissenschaft, Literaturgeschichte, Kultur- und Volkskunde ein Arbeitsfeld für viele europäische Gelehrte, unter denen vor allem Deutsche und Italiener einen ehrenvollen Platz einnehmen. So wurde u. a. eine 17*

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deutsche Geschichte der äthiopischen Literatur geschrieben, und fast der ganze Liederschatz der Tigre- Stämme im nördlichen Abessinien, die zum größten Teile jetzt unter italienischer Herrschaft stehen, wurde von einem Deutschen herausgegeben und übersetzt. Die Sprache der Tigre- Stämme ist altertümlich und für die Geschichte der semitischen Sprachen von Wichtigkeit; die Lieder selbst sind als Parallele zur altarabischen Poesie von Bedeutung. Auch die hamitischen und nilotischen Sprachen Abessiniens wurden von Deutschen, Österreichern, Italienern und Engländern erforscht. Die I s l a m k u n d e ist, wie bereits oben ausgeführt wurde, eine Tochter der semitischen Philologie; sie mußte aber ihrem Wesen nach sich mit Iranistik, Turkologie, Afrikanistik, allgemeiner Geschichte und Religionswissenschaft verbinden. In ihr leuchten vor allem die Namen Nöldeke, Wellhausen (+ 1918), Snouck Hurgronje und Goldziher (f 1921). Snouck Hurgronje, der Holländer, hat manche seiner Veröffentlichungen in deutscher Sprache geschrieben, vor allem sein epochemachendes Werk über Mekka; Goldziher, der Ungar, hat fast alle seine Werke in deutscher Sprache verfaßt. Nöldeke hatte schon in seiner Jugend durch seine Geschichte des Korans der wissenschaftlichen Koranforschung die Wege gewiesen; später behandelte er neben seinen sprachlichen und literaturgeschichtlichen Arbeiten vielfach Probleme der islamischen Geschichte. Wellhausen erforschte zunächst die Religion der heidnischen Araber, aus deren Umgebung die Religion Mohammeds herauswuchs. Als genialer Historiker schilderte er die älteste Zeit der islamischen Geschichte. In seinem Werke »Das arabische Reich und sein Sturz« legte er als erster ernsthaft den Maßstab historischer Kritik an die Überlieferungen der arabischen Chronistik. Mit gleich schöpferischer Kritik schilderte Snouck Hurgronje die religiösen Gebräuche bei der Pilgerfahrt der Muslime nach Mekka und sonderte Goldziher im islamischen Hadith, der kanonischen Überlieferung, Weizen von der Spreu. Snouck Hurgronje lernte durch seinen Aufenthalt in Mekka und in Hinterindien aus eigener Erfahrung wie kein anderer das Leben der Muslime kennen und erfaßte dessen Geist und die in ihm waltenden Gesetze. Beide lehrten den Unterschied zwischen Theorie und Praxis im kanonischen Recht des Islams, die örtlich verschiedene Vielgestaltigkeit in der großen Einheit; gerade diese Vielgestaltigkeit kennt Snouck Hurgronje am besten aus eigener Anschauung. A u f den Werken dieser Männer, die hier nur ganz kurz angedeutet werden konnten, fußen alle Islamforscher unserer Zeit. Islam als Gesamtproblem, die Übernahme der hellenistischen Zivilisation durch die Araber, die Wirtschaftsgeschichte des islamischen Ägyptens, der Einfluß Indiens und Persiens auf das islamische Geistesleben, die Entstehung der islamischen Derwischorden und ihre Anschauungen, das islamische Vereinswesen, die Entstehung des islamischen Rechts und sein Verhältnis zum römisch-griechischen Recht sowie zu althergebrachten einheimischen Gebräuchen, die »Rechtskniffe« und manche Einzelgebiete der muslimischen Jurisprudenz, die christlichen und jüdischen Elemente in Theologie und Kultus der Mohammedaner, die arabischen Naturwissenschaften, medizinischen Disziplinen und Geheimwissenschaften — das alles und noch vieles andere ist Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit bei den deutschen Islamforschern der letzten Jahrzehnte

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gewesen. Eine kleinere enzyklopädische Zusammenfassung der islamischen Kultur im 10. Jahrhundert n. Chr. war das Werk des Baseler Professors A. Mez über »die Renaissance des Islams«, das nach seinem Tode herausgegeben wurde. An der großen »Enzyklopädie des Islams«, die in Leiden erscheint und das Lebenswerk Snouck Hurgronjes krönt, arbeiten viele deutsche Gelehrte zusammen mit anderen Nationen. Semitische Philologie und Islamkunde führen uns vom alten und mittelalterlichen Orient bis in die neueste Zeit. Möge der obige Überblick trotz seiner vielen Einzelheiten das einigende Band und die leitenden Gedanken nicht vermissen lassen; möge er aber auch ein hinreichendes Bild geben von der erfolgreichen Tätigkeit deutscher Forscher auf diesen Gebieten während des letzten Halbjahrhunderts !

ERICH HAENISCH SINOLOGIE Die Sinologie ist der Teil der Chinakunde, der seine Erkenntnisse aus dem chinesischen Schrifttum herleitet. Ihre Anfange liegen in den Arbeiten der Jesuitenmission des 18. Jahrhunderts. Auf die Zeit der Bahnbrecher folgt in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Periode der wissenschaftlichen Wegbereiter, Julien, Legge, Schott u. a., welche uns die Übersetzung der Klassiker und grundlegende Arbeiten für die weitere Forschung lieferten, von deutscher Seite die Faberschen (und später die Wilhelmschen) Klassikerübersetzungen, Viktor v. Strauß' Übersetzungen des Schiking und des Taoteking, G. v. d. Gabelentz' chinesische Grammatik, Grubes Literaturgeschichte und Forkes Geschichte der chinesischen Philosophie. Diese Zeit der zusammenfassenden Arbeiten scheint zunächst abgeschlossen. Jedenfalls befinden wir uns schon seit langem in der dritten Periode, der Spezialarbeit. Der deutsche Anteil an der sinologischen Arbeit sei im folgenden kurz dargestellt: In der ostasiatischen S p r a c h w i s s e n s c h a f t standen die deutschen Vertreter zeitweilig in vorderster Linie. Ja, Wilhelm Schott, Georg v. d. Gabelentz und auch August Conrady sind im Grunde als Linguisten zu bewerten. Auch bei Wilhelm Grube und F. W. K. Müller, zwei hervorragenden Sprachwissenschaftlern, wirkt die Gabelentzsche Schulung noch durch. Doch hat hier die starke Beschäftigung mit Realien und Literatur über das rein Sprachliche hinausgeführt. Heute ist durch eine glückliche Vertretung der ostasiatischen Sprachvergleichung an der Berliner Universität dafür gesorgt, daß wir Deutsche auf diesem Gebiet nicht ausfallen. Für die neuere Sprache haben wir in Karl Arendts Handbuch der Nordchinesischen Umgangssprache und seiner Einführung zwei Kompendien aufzuweisen, die, wenn sie auch Methodik vermissen lassen, doch eine Fundgrube reichsten Stoffes und feinster Beobachtung darstellen und darin nicht ihresgleichen haben. Auch Friedrich Hirths notes on the Chinese documentary style sowie P. G. v. Möllendorffs Arbeiten verdienen hier Erwähnung. In neuerer Zeit hat sich das Lessing-Othmer'sche Einführungsbuch weiteste Anerkennung erworben. In der L e x i k o g r a p h i e stehen wir, das muß zugegeben werden, weit zurück. Im Jahre 1924 wurde uns das erste Chinesisch-deutsche Wörterbuch von W. Rüdenberg beschert, das sich als eine sehr geschickte und für die Praxis brauchbare Zusammenstellung erwies, jedoch den Bedürfnissen der Wissenschaft nicht entgegenkam und nicht geeignet ist, in unseren Studien die englischen und französischen Wörterbücher abzulösen. Nur wenn wir das Chinesisch-englische Wörterbuch von Eitel, neu herausgegeben von dem deutschen Missionar Genähr, mit Rücksicht auf Verfasser und Herausgeber als deutsche Arbeit ansprächen , ständen wir nicht so schlecht. Denn gerade dieses Wörterbuch hat den Ruf der Gediegenheit. Wir dürfen hier auch die wichtigen lexikographischen Beiträge von E. v. Zach nicht

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unerwähnt lassen, welche H. Giles in der Neuauflage seines großen Wörterbuchs verwertet hat, auch nicht den in seinen zahlreichen Kritiken enthaltenen lexikalischen, sprachlichen und literarischen Stoff. Allerdings sind diese leider oft in eine derartig ungewöhnliche Form gekleidet, daß ihr sachlicher Wert schon stark beeinträchtigt wird. In der eigentlichen L i t e r a t u r nach Art von Zottolis cursus litteraturae sinicae und Margoulies' kou-wen chinois haben wir, hier geben wir Zach recht, noch viel zu wenig geleistet. Wir bedürfen einer Durcharbeitung der großen Anthologien in sprachlicher und lexikalischer Richtung. Mit der l e i c h t e n L i t e r a t u r , dem Roman, der Novelle und auch mit der Dichtung steht es anders. Hiervon ist uns schon sehr viel in deutscher Sprache geboten worden, meist aber aus zweiter oder dritter Hand. Auch was an Übersetzungen aus dem Text da ist, kann nur in wenigen Fällen der Sinologie zugerechnet werden. Es entbehrt der wissenschaftlichen Rechtfertigung und wünscht auch gar nicht sinologisch bewertet zu sein. Für die L i t e r a t u r g e s c h i c h t e besitzen wir in W. Grubes Darstellung ein Musterwerk, das noch für lange Zeit den ersten Platz behaupten wird. Von R. Wilhelm erschien kürzlich ein volkstümlicheres Buch. Auf dem Gebiete der G e s c h i c h t e halten die Franzosen den ersten Platz, der ihnen allein durch Chavannes' Shiki-Übersetzung gesichert ist, sowie durch die neuerlich erschienene Geschichte des alten China von Masp^ro. Fr. Hirths entsprechendes Werk steht dahinter zurück. Von großer Bedeutung sind dagegen seine Untersuchungen über die Beziehungen Chinas zum römischen Orient. Weiter wären auf deutscher Seite zu nennen: A. v. Rosthorns Studie über die Ausbreitung der chinesischen Macht in s.w. Richtung, sodann de Groots große Quellenübersetzung, »Chinesische Urkunden zur Geschichte Asiens« und E. Hauers K'ai kuoh-fang-lüeh die Gründung des mandschurischen Kaiserreiches, eine der seltenen Vollübersetzungen eines chinesischen Werkes. An Übersichtsdarstellungen in deutscher Sprache nennen wir die Arbeiten von K. F. Neumann und Joh. H. Plath, den Fries'schen Abriß, den Conradyschen Beitrag zur Pflugk-Hartungschen Weltgeschichte, eigentlich Gedanken zur Geschichte Altchinas. Dazu treten dann die Rosthornsche Ubersicht und F. E. A. Krauses Zusammenfassung »Geschichte Ostasiens«. M. v. Brandts Beitrag in der Helmoltschen Weltgeschichte ist verständnislos und nichtssagend: die Quellen waren ihm verschlossen. Aus allen Arbeiten, so ungleich sie an Wert sein mögen, zeigt sich das eine, daß unsere Kenntnisse von der chinesischen Geschichte für eine zusammenfassende Darstellung, die vor der Wissenschaft bestehen will, noch nicht ausreichen. Wir können solche Versuche ruhig noch den Außenseitern überlassen. Nur für drei Perioden haben wir schon beträchtliche Vorarbeiten: das Altertum, die Zeit der Mongolenherrschaft und schließlich die Zeit seit der Öffnung Chinas. Als wichtigste Aufgaben möchten wir bezeichnen die Fortführung von Chavannes' Shiki-Übersetzung, welche gerade dort abbricht, wo der Stoff Leben bekommt, und danach eine systematische Bearbeitung der Han-Annalen. Wenn Otto Franke, der als erster den Versuch macht, den Sinn der chinesischen Geschichtschreibung zu erkennen, sich gerade die Han-Zeit gewählt hat, so hat er schon an der richtigen Stelle an-

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gesetzt. Denn mögen die Wurzeln des Chinesentums auch in der Tschou-Zeit liegen, sein Wachstum beginnt erst mit der Aufnahme und Durchdringung der fremden Volksbestandteile im Staatskörper des Han-Reiches. Eine eigentliche K u l t u r g e s c h i c h t e von China besitzen wir noch nicht. Auch Wilhelms Werk, wenn es schon die chinesische Geschichte in ihren Kulturphasen darzustellen bestrebt ist, kann als eine solche nicht bezeichnet werden. Es fehlt eben noch zu sehr an Vorarbeiten. Übersetzungen von Einzelabteilungen aus dem Wen-hien t'ung-k'ao oder monographische Arbeit nach der großen Enzyklopädie sind hier die Erfordernisse. Zur chinesischen S t a a t s l e h r e haben wir zwei Werke zu nennen: De Groots bekanntes Buch »Universismus« sucht in neuer Art, in ungewöhnlicher Vertrautheit mit dem Gegenstand, das chinesische Staatssystem auf eine Formel zu bringen. Es ist vielleicht in Einzelheiten gezwungen, aber im Ganzen von eindringlicher Klarheit. Franke geht in seinen »Studien zur Geschichte des Dogmas und der chinesischen Staatsreligion« daran, uns mit dem chinesischen Staatsgedanken bekannt zu machen, wie er sich in den Schriften chinesischer Staatsmänner widerspiegelt. In der G e o g r a p h i e ist noch sehr wenig Arbeit geleistet. Zwar haben wir in Richthofens großem Chinawerk das bedeutendste Buch, das überhaupt über die chinesische Landeskunde geschrieben wurde. Aber es steht außerhalb der Sinologie, und wo es diese Grenze überschritt, da hat es verderblich gewirkt, weil die Kenntnisse des Verfassers nicht soweit reichten. Und das Schwergewicht seines Namens hat seinen Fehlern zu einer ungebührlichen Lebensdauer verholfen. Die wertvollen Bücher von Georg Wegener und Thiessen gehören auch nicht zur Sinologie in unserem Sinne, auch nicht Albert Herrmanns karthographische Arbeiten, welche Bedeutung sie auch für unser Fach haben. Zwei Musterarbeiten können wir bisher aufweisen, O. Frankes Beschreibung des Jeholgebiets und K. Himlys Übersetzungen des Abschnitts vom Lobnor-Gebiet aus dem Shui-tao ki. Noch fehlt der Sinologe, der sich entschlossen der reichen geographischen Literatur zuwendet, oder der Geograph, der da versteht, daß diese Literatur schon die Mühe einer gründlichen sinologischen Ausbildung bis zur selbständigen Lektüre lohnte. Albert Tafel, dessen Tibetbuch in diesem Zusammenhange erwähnt sei, wäre der rechte Mann für eine solche Aufgabe gewesen. Wieviel größeren Wert hätten doch die mancherlei Forschungs- und Reiseberichte, wenn sie auf die chinesischen Vorarbeiten eingingen! Die V o l k s k u n d e sollte die Domäne der Museumsgelehrten sein. Die einseitige Betonung von Religion und Kultus sowie von Kunst und Gewerbe an unseren Museen, dazu die schlechten Aussichten im Museumsdienst, die den Nachwuchs unterbanden, haben es mit sich gebracht, daß hier wichtige Arbeiten ungetan blieben. Dabei hat Wilhelm Grube in seiner Pekinger Volkskunde ein erstklassiges, auch in der außerdeutschen Sinologie nicht erreichtes Musterwerk geschaffen. Auch Pater Stenz' Volkskunde der Provinz Schantung sollte Nachahmung finden. Wie man auf volkskundlichem Felde monographisch arbeiten kann, hat Himly in seiner vorbildlichen Studie über die chinesischen Spiele gezeigt, an der Hand des sachlich geordneten Mandschuwörterbuches. Die zahlreichen wert-

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vollen musealen Arbeiten Berthold Laufers, an amerikanischen Sammlungen geschaffen und in englischer Sprache verfaßt, können wir der deutschen Forschung nicht zurechnen. Die chinesische volkskundliche Literatur ist überreich an Einzeldarstellungen sowohl wie an zusammenfassenden Werken und durch die Lokalhandbücher wie durch die Enzyklopädien örtlich und sachlich zugänglich gemacht. Zur Behandlung des Stoffes gehört Kenntnis des Landes und Vertrautheit mit den Gegenständen. Die Zahl der Museumsbeamten, welche die Fähigkeit zur sinologischen Arbeit haben, ist spärlich. Da verlangt es die Wirtschaftlichkeit des Faches, daß dort, wo diese Fähigkeit vorhanden ist und die Realien zu Gebote stehen, auch wirklich die chinesische volkskundliche Literatur planmäßig bearbeitet werde. Es sei im Zusammenhang hiermit auch der chinesischen Epigraphik gedacht, die noch ganz in den Anfangen steckt. Sie ist ein unglückliches Glied in der Gemeinschaft der Fächer, das nicht weiß, wo es eigentlich seine Pflegestätte hat, ob an der Bibliothek, am Museum oder am Universitätsseminar. Die Bibliothek erkennt die Inschriften als Schriftwerke nur an, so weit sie reproduziert in Buchform herausgegeben sind. Das ist ein ganz geringer Teil. Das Museum erwirbt wohl hin und wieder Abreibungen, die von Reisenden hereingebracht werden, in Gelegenheitskäufen, Einzelstücke wohl nur, wenn sie ethnologisch oder künstlerisch von Belang sind. Ein sinologisches Seminar hat wohl Interesse an ihrem Besitz, aber keine Mittel zu ihrer Sammlung. Die Folge ist, daß sich zwar in den verschiedenen Museen viele Doubletten von bekannten Stücken finden, daß aber bisher noch keine planmäßige Sammlung von Inschriftenabreibungen durchgeführt oder auch nur eingeleitet worden ist. Dabei ist die chinesische Inschriftenliteratur nicht nur ungemein reich, sondern auch in vielen Fällen von hohem Wert für die geschichtliche und kulturgeschichtliche, geographische, volkskundliche, religionswissenschaftliche und literarische Forschung. Und die chinesische Abreibungstechnik ist äußerst geschickt, da die Inschrift in China selbst ein Sammlungsgegenstand ist. Es wäre demnach geraten, eine Zentrale, am besten an der Preußischen Staatsbibliothek einzurichten, welche allmählich und planmäßig an der Hand der Verzeichnisse und durch Vermittlung von Kennern im Lande an die Beschaffung einer großen Sammlung von Abreibungen ginge. Bei der K u n s t sind wir besser daran. Ostasiatische Kunst ist seit Jahren Trumpf und spielt heute tatsächlich in Europa eine größere Rolle als in China. Es ist den deutschen Museen gelungen, wertvolle Sammlungen aufzubauen. Auch gediegene und schöne Arbeiten sind auf dem Gebiete der Kunst erschienen, an denen die Sinologie ihre Freude haben kann. Wir nennen nur die Namen Grosse, Kümmel und Boerschmann. Dort wo die Arbeit nicht ästhetisch, stilkritisch oder technisch, sondern kunstgeschichtlich sein will, müßte sie natürlich sinologisch sein. Und da fehlt es dann begreiflicherweise. Andrerseits ist es denkbar und des öfteren vorgekommen, daß ein Sinologe in langem Chinaaufenthalt und langer Sammeltätigkeit sich gute Kunstkenntnisse erwirbt und wertvolle kunstgeschichtliche Beiträge liefert. Ein Muster dafür ist Fr. Hirths Aufsatz »Chinese pictorial art«. Die chinesische Religion ist begreiflicherweise seit jeher ein besonderer Studiengegenstand der Missionare gewesen. Und da sie von ihnen, was wieder verständlich ist, nicht immer mit dem nötigen Abstand betrachtet wurde, so fanden

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sich auch Nichtmissionare, die ihr besser gerecht zu werden vermeinten. Ernst Fabers Bücher sind hier zu nennen und Grubes Arbeiten, die ihrerseits auf de Groots Monumentalwerk the religions system of China aufgebaut sind. Für die Nichtvollendung dieses Werkes, das nicht zur deutschen Sinologie gehört, ist vielleicht der Berliner Berufung des Verfassers schuld zu geben, da er danach nur noch deutsch geschrieben, sich auch anderen Gegenständen zugewandt hat. F.E.A. Krause hat in seinem Buche Ju-Tao-Fo eine Zusammenfassung der drei chinesischen Religionssysteme geboten. Eine größere Anziehung als die konfuzianische Lehre hat im Auslande der T a o i s m u s ausgeübt. Laotze und das Taoteking spielen bereits eine Rolle in der europäischen Literatur. Die Beschäftigung mit dieser mystisch-dunklen Schrift, oft auf Grund von Übersetzungen aus zweiter, dritter Hand oder vollständig willkürlichen Auslegungen, hat schon die Form einer Krankheit angenommen. Die zahlreichen Übersetzungen haben größtenteils mit Sinologie nichts zu tun. Die einzige anerkennenswerte in deutscher Sprache ist die von V. v. Strauß. Eine ganz besondere Stelle nimmt in der Sinologie der B u d d h i s mus ein. Das hat verschiedene Gründe. Einmal hob er sich als einzige Religion mit festen äußeren Formen heraus. Weiter regte die bedeutende buddhistische Literatur, vor allem in den großen japanischen Neuausgaben des chinesischen Kanons zum Studium an. Dieses wurde auch durch die aufsehenerregenden archäologischen und Handschriften-Funde in Turkistan gefördert. Denn bei den ans Licht gebrachten mittelasiatischen Kulturbeziehungen spielte größtenteils der Buddhismus den Mittler. Schließlich trieb der an den deutschen Universitäten für die Promotion geltende Zwang der Ergänzungsfächer manche jungen Sinologen zum Sanskritstudium, vielleicht mehr als unbedingt erwünscht. Wenn einerseits auch eine strenge grammatische Ausbildung gerade dem Sinologiestudierenden einen wertvollen Schutz gegen die Gefahr derWillkür in der chinesischen Textlektüre gewährt, so führt doch die Verbindung Chinesisch-Sanskrit eben notwendigerweise oft zum Buddhismus und damit leicht von der eigentlichen Sinologie ab. Denn die übermäßige Beschäftigung mit der in verderbtem Chinesisch geschriebenen Übersetzungsliteratur ist dem sinologischen Schüler in seiner Ausbildung durchaus abträglich. Das Handbuch zum chinesischen Buddhismus, englisch geschrieben, aber von einem deutschen Verfasser, Eitel, ist seit seinem Erscheinen 1870 bis heute noch nicht abgelöst. An deutschen Autoren auf diesem Gebiete wären H. Hackmann und M. Walleser zu nennen. Neuerdings gibt es eine Anzahl von Textarbeiten aus dem Kanon. Die T u r f a n f o r s c h u n g ist in weitem Maße auf die Sinologie angewiesen, vor allem eben auf buddhistischem Gebiet, wo mit dem chinesischen Kanon gearbeitet werden muß und oft nur mit seiner Hilfe die Lösungen gefunden wurden. Hier steht der Name F. W. K. Müller in vorderster Linie. Eine Anzahl von jüngeren Kräften sind herangezogen worden, welche auf den verschiedenen Gebieten der Turfanforschung mit Hilfe des Chinesischen arbeiten. Als mustergültig ist A. Conradys Behandlung von Sven Hedins Funden in Loulan zu bezeichnen. Es seien im Zusammenhange hiermit auch O. Frankes Beiträge zur Kenntnis der Türkvölker und Skythen erwähnt, und es sei bemerkt, daß auch die Gfebiete der chinesischen Nebenländer, der Mandschurei, der Mongolei und Tibets in sprach-

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licher, geschichtlicher und geographischer Hinsicht in mancher deutschen Arbeit behandelt worden sind. Schließen wir mit der P h i l o s o p h i e , die wie oben gesagt, schon eine große Anzahl von Vorarbeiten aufzuweisen hat. E. Faber sei hier genannt. R. Wilhelm hat uns eine große Reihe von Übersetzungen beschert und A. Forke die erwähnte Geschichte der chinesischen Philosophie, gegründet auf Jahrzehnte eingehender Fachlektüre und Vorarbeiten wie seine Übersetzung von Wang Ch'ung's Lun-heng, der im Jahre 1911 der Stan. Julien-Preis zuerkannt wurde, und sein Buch über den Philosophen Moh-tih. Über die A r b e i t s m e t h o d e n wäre manches zu sagen. Wir haben zunächst die reine Grammatik oder Phonetik, die in der Sprache nicht das Mittel, sondern den Studiengegenstand sieht. Neuerdings begegnen wir häufig Versuchen der T e x t k r i t i k , welche Literaturwerke von zweifelhafter Textgeschichte nach philologischer Methode zu emendieren sucht. Ein Beispiel dazu haben wir in Halouns Forschung in der Tocharerfrage. Die E r s t ü b e r s e t z u n g ganzer Texte in extenso ist wenig geübt, da sie die höchsten Anforderungen stellt. Sie wird auch wohl als rein »technische« Arbeit gering geschätzt, die neben Wichtigem viel Unwesentliches fördere. Und es wird dabei dann der Name des großen Nurübersetzers Pfizmaier genannt, über den aber die Akten noch nicht geschlossen sind. Zu der Klasse der Vollübersetzungen gehören Forkes Lun-heng und Moh-tih, Hauers K'ai-kuoh fang-lüeh und Wilhelms Lü-shi ch'un-ts'iu. Wir haben weiter die A u s z u g s übersetzungen aus den Quellen, wie de Groots »Chinesische Urkunden zur Geschichte Asiens«, sodann die gerade von de Groot empfohlene m o n o g r a p h i s c h e B e h a n d l u n g der Literatur nach der Enzyklopädie mit Ubersetzungen des dort ausgezogenen Quellenstoffes. Die f r e i e F o r s c h u n g s a r b e i t auf Grund der Quellenliteratur mit Anführung nur der beweiswichtigen Stellen in Text und Übersetzung bleibt das höchste Ziel. Die Reihe der z u s a m m e n f a s s e n d e n A r b e i t e n endlich ist wie gesagt wohl vorderhand abgeschlossen. Es ist nicht gut denkbar, daß weitere derartige Werke von Solidität geliefert werden können, bevor noch tüchtige Einzelarbeit geleistet ist. Zur freien Forschungsarbeit möchten, außer etwa dem der Geschichte, erst wenige Gebiete reif sein. Zur Textkritik, wie wichtig sie auch sei, gehören wieder gereifte Arbeiter. Man kann nicht an dem ersten Text, den man richtig durcharbeitet, schon textkritische Versuche unternehmen. Über die A r b e i t s a r t sei kurz bemerkt: In Ostasien wohl allgemein, aber auch in Europa viel geübt ist die Zusammenarbeit mit dem chinesischen Helfer, welcher Zitate erklärt, Belegstellen beibringt und wohl auch textliche, sprachliche Schwierigkeiten löst. Sofern diese Unterstützung rein technisch ist und nur der Zeitersparnis dient — natürlich ist die Nachprüfung des Autors unerläßlich — oder nur da eintritt, wo die literarischen Hilfsmittel wirklich versagen — hier muß natürlich der Gewährsmann in jedem Einzelfall genannt werden —, läßt sich nichts dagegen einwenden. Das Wesentliche ist, daß keine unbekannten Größen in der Rechnung stehen, vielmehr der Leser klar nachprüfen kann, auf welchem Wege die Lösungen zustande gekommen sind. Der Vorteil der Hilfsarbeit liegt auf der Hand: schnellere

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und größere Leistung, Schutz vor Übersetzungsfehlern. Der Nachteil liegt in der Hemmung der Selbständigkeit, der Unterbindung sprachlicher Erkenntnisse und lexikalischer Früchte — der Rückstand unserer Lexikographie ist nicht zum mindesten dieser Arbeitsart zuzuschreiben — und schließlich auch in einer Täuschung über den wahren Stand der sinologischen Wissenschaft. Von höherer Warte gesehen, ist daher diese Arbeitsart zu verwerfen. Die Forderung muß heißen: Erziehung zur größtmöglichen Selbständigkeit durch umfassende genaue Textlektüre unter ständigem Gebrauch der literarischen Hilfsmittel: durch eigenes Nachforschen zu lexikographischen Neuergebnissen, durch Fehler über die Kritik zum Fortschritt. Zu den durchaus zulässigen, weil nachprüfbaren Hilfsmitteln gehören die M a n d s c h u ü b e r s e t z u n g e n , welche die genauesten sprachlichen Kommentare darstellen. Daß die Arbeit auf Grund des chinesischen Textes zu leisten und der Mandschutext eben nur als Kommentar heranzuziehen ist, braucht nicht betont zu werden. Das Mandschu sollte als zur Sinologie gehörig betrachtet und wenigstens an e i n e r deutschen Universität gepflegt werden. In zwei Fragen hat sich die deutsche Sinologie noch nicht zu einer Einigung durchgerungen: in der Einführungsmethode und in der Lautumschreibung. Je schwieriger und langwieriger ein Studium ist, um so erheblicher ist die Frage nach einer methodischen E i n f ü h r u n g . Sie muß bei uns bezwecken, den Schüler für die selbständige Arbeit am chinesischen Text vorzubereiten. Alles was nicht geradeswegs auf dieses Ziel hinführt, wie interessante Einzelfragen grammatischer, phonetischer oder paläographischer Art, hat sie als nebensächlich zurückzustellen. Über den richtigen Weg hat man sich bisher wenig Sorge gemacht. Das für das akademische Studium geeignete Lehrbuch fehlt noch. Es sollte auf der Hand liegen, daß bei der Eigenart der chinesischen Schriftsprache weder die Vorausnahme einer »Grammatik«, noch das Auswendiglernen von Zeichenstoff der gangbare Weg ist, noch viel weniger allerdings der Versuch, dem Anfänger an der Hand eines Literaturstückes, meist eines klassischen Textes, die Elementarbegriffe der Schriftsprache klar zu machen. Die Feinde der Grammatik, die das Kind mit dem Bade ausschütten wollten, predigten die Ausmerzung alles Grammatischen: nur durch die Routine ständiger Lektüre gelange man zum Ziel. Wie mein sich aber in die Lektüre selbst hineinfinden solle, sagten sie nicht. Ein anderes Dogma heißt, allein die moderne gesprochene Sprache bilde den Zugang. Das mag für den Ausländer in China in gewissem Grade richtig sein, sofern er auch einen europäischen Lehrer dabei zur Seite hat. Für unseren Universitätsunterricht kann uns diese Methode nicht als geeignet erscheinen. Sie ist nicht nur unhistorisch, also unwissenschaftlich, sondern auch unpraktisch. So wertvoll die Beherrschung der Umgangssprache auch sein mag zur Erzielung chinesischen Sprachgefühls und klarer Aussprache, so ist sie doch für den Sinologiestudierenden im Anfange nebensächlich und raubt ihm die Zeit für Wichtigeres. Gangbar scheint uns allein der Weg über kurze Verbindungen und Sätze zu einfachen Stücken aus der erzählenden und beschreibenden Literatur — weder die Klassiker noch die Romane sind dazu geeignet — und nach einiger Zeit erst Zusammenfassung des vorgekommenen grammatischen Stoffes. Doch hat sich eine solche Methode noch keineswegs durchgesetzt. Ideal wäre es, wenn dem Studenten

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•ach einer zweijährigen Vorbereitung, an einer Studienanstalt in China unter Leitung europäischer und Beistand chinesischer Lehrer, ein Jahr der Anschauung und Praxis geboten würde. Wir haben früher auf ein solches deutsch-sinologisches Institut in China gehofft. In der L a u t u m s c h r e i b u n g des Chinesischen ist in Deutschland noch keine Einigung erzielt worden. Alle dahingehenden Versuche sind bisher fehlgeschlagen. Engländer und Franzosen haben ihre festen Transkriptionssysteme, erstere ein internationales, die anderen ein nationalfranzösisches, welches aber zugleich die chinesischen historischen Laute wahrt. Wir Deutsche folgen entweder der englisch-internationalen Schreibung oder jeder seinem eigenen System. Zwar gibt es eine Schreibung, die die deutschen Lautwerte zugrunde legt, daher für das deutsche Leserpublikum wohl geeignet ist. Da aber die Wissenschaft, schon in Anbetracht der großen Lautarmut des Chinesischen, auf die Bezeichnung der alten Anlaute nicht verzichten kann, so kommt weder die englische noch die deutsche Umschreibung für sie in Betracht, da sie beide auf zwar weitverbreiteten, aber verschliffenen Mundarten beruhen. Sobald das englische oder deutsche System die wenigen alten Anlaute anerkennt, ist es uns genehm. Die jüngste Zeit muß als eine besonders wichtige Epoche in der Geschichte der Sinologie gelten. In China selbst hat sich die W i s s e n s c h a f t auf eine westliche Grundlage zu stellen gesucht: Sinologische Forschungsinstitute und wissenschaftliche Zeitschriften sind entstanden, Bibliotheken und Museen. Archäologische und ethnologische Arbeiten nach europäischer Methode werden unternommen. Die Sinologie darf diese neue Wissenschaftsbewegung und ihre Leistungen nicht unberücksichtigt lassen. Im einzelnen wäre noch zu bemerken: die Eisenbahnbauten in China haben manche wichtigen Funde ans Licht gebracht. Durch die im Anfange des Jahrhunderts in Honan gefundenen beschrifteten Knochen, die bis in dieShangdynastie zurückdatieren, ist die paläographische Forschung belebt worden. Spätere amtliche systematische A u s g r a b u n g e n , bei denen das neue China die altherkömmlichen Bedenken gegen dieVerletzung der Erdschicht dem modernen Forschungsdrang hintansetzt, haben Aufsehen erregende Ergebnisse gehabt. Diese Grabungen, die in erster Linie dem schwedischen Archäologen J. G. Andersson zu danken und deren Fundstücke zum Teil auch in einem Stockholmer Museum den europäischen Fachgelehrten zugänglich gemacht sind, hatten zwar vorgeschichtliche Ziele. Jedoch steht zu hoffen, daß in Bälde auch in frühgeschichtlichen Schichten gegraben werden wird. Literarische Forschungen in der ältesten chinesischen Geschichte können füglich bis dahin zurückgestellt werden. Die T u r f a n g r a b u n g e n haben aus dem turkistanischen Sande prächtig erhaltene archäologische Denkmäler, aber auch Handschriften und andere Kleinfunde gefördert. Damit wurde die großartige Turfanforschung eingeleitet, welche uns die westöstlichen Kulturbeziehungen des ersten Jahrtausends erschließt und, da sie in vielen Fällen nur im Zusammenhange mit der chinesischen Literatur behandelt werden konnte, der Sinologie die Verbindung mit der Orientalistik und damit in Deutschland erst ihre eigentliche Anerkennung als Wissenschaft gebracht hat. Daß bei der Turfanforschung deutsche Arbeit mit in der ersten Linie stand, ist bekannt. Die Handschriftenfunde — inLou-lanbis in die

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Han-Zeit(?) zurückreichend —, unter denen auch chinesische nichtbuddhistische waren, haben die Forschung der Textgeschichte angeregt. Die Ausbreitung des Typendrucks, einer ursprünglich ostasiatischen Erfindung, die aber in China nicht heimisch geworden war und sich dort erst unter europäischem Einflüsse, besonders der Tagespresse, durchgesetzt hat, schuf eine neue billigere Literatur, zum Nutzen auch der europäischen Bibliotheken und Studenten. Auch förderte sie an den modernen chinesischen Verlagsanstalten eine Anzahl vortrefflicher sinologischer Hilfsbücher. Das Lichtdruckverfahren leitete die Schaffung von umfangreichen Sammlungen ältester Druckausgaben ein, wie des sz'g-pu tsHing-k'an und sz'g-pu pei-yao. Die Ausgabe des Kiotoer T r i p i taka i. J. 1902, d. i. des buddhistischen Kanons in chinesischer Sprache, einer Riesensammlung, die nun durch den japanischen Buchhandel der europäischen Wissenschaft leicht zugänglich wurde, bedeutete einen Wendepunkt in den buddhistischen Studien. Seitdem datiert eine sachgemäße buddhologische Textforschung. Karlgrens Untersuchungen zur Feststellung der alten chinesischen Lautwerte sind grundlegend für die phonetischen Studien. Das Abtreten der Dynastie i.J. 1912, mit der auch die alte historiographische Ordnung in Fortfall kam, machte eine Anzahl von privaten Geschichtsaufzeichnungen frei. Nachdem wir i. J. 1928 die aus den Akten herausgearbeitete amtliche chinesische Geschichte der letzten 300 Jahre erhalten haben, sind wir in den Stand gesetzt, die amtliche chinesische Geschichtschreibung mit der privaten und auch mit der europäischen zu vergleichen. Zuletzt, als wichtigstes Ereignis für die sinologische Wissenschaft sei das Erscheinen des großen Schanghaier Stellenwörterbuches Tz'g-yüan genannt. Mit seinem reichen Schatz an Wortverbindungen mit den Quellenangaben stellt es unsere Übersetzungsarbeit auf eine neue, sicherere Grundlage. Etwas beschämend ist es, daß die europäische Sinologie an diesem Werke nicht Teil hat. Aber es läßt ihr noch Aufgaben. Denn was wir letzten Endes brauchen, ist das Wörterbuch in einer europäischen Sprache und — mit noch genauerer Bezeichnung der Belegstellen, als das Tz'g-yüan sie bietet. Und ein solches Wörterbuch möchten wir unbeschadet der Wichtigkeit der anderen angedeuteten Aufgaben als die dringendste Forderung für unser Fach bezeichnen. In der gegenwärtigen Spezialisierung liegt bei der Weite des Arbeitsgebietes und der geringen Zahl der Arbeiter doch die Gefahr des Zerflatterns. Eine Zusammenarbeit läßt sich in der Wissenschaft nicht erzwingen. Aber wenn die Einzelglieder der sinologischen Arbeitsgemeinschaft der besagten Forderung so weit entgegenkämen, daß sie jede Textarbeit mit genauem sprachlichen Kommentar versähen, zur Ergänzung und Verbesserung der vorhandenen Wörterbücher, leisteten sie dem Fach den allerwichtigsten Dienst. Das Leipziger Ostasiatische Seminar hat mit der lexikalischen Arbeit begonnen. Nim zur äußeren Geschichte des Faches: Es ist der Sinologie nicht leicht gemacht worden, sich in der Wissenschaft als selbständiges vollwertiges Fach durchzusetzen. In Berlin ist das erst im Jahre 1912 gelungen. Zwar hatte dort Georg v. d. Gabelentz als Nachfolger Schotts in den Jahren 1889—1893 eine Professur für ostasiatische Sprachen bekleidet. Aber daraus wurde reine Sprachwissenschaft, keine eigentliche Sinologie. Die bekannte Kritik Schlegels zeigte die

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Unzulänglichkeit der rein sprachlichen Methode für die Textarbeit. Von 1893, seit dem Tode Gabelentz' bis 1912 war das Fach an der Berliner Fakultät unvertreten. Diese fast zwanzigjährige Lücke hat die schwerwiegendsten Folgen für den Nachwuchs gehabt: es fehlt eine Generation. Dafür blühte die Dilettantenliteratur, die wohl auf keinem Gebiet so gewuchert hat wie auf dem unseren: die Eigenart der chinesischen Schriftsprache leistet dem Dilettantentum Vorschub. Schwer verständlich ist es nur, wie ein Gelehrter vom Range Richthofens, dem die Ostasienwissenschaft sonst so viel verdankt, derart des Augenmaßes ermangelte, daß er in der Sinologie dilettierte. Der Schaden für das Fach war groß: Friedrich Hirth, der ein freies Wort, wenn auch in ungewohnter Form, wagte, machte sich in der Heimat unmöglich und ging der deutschen Wissenschaft verloren. Er folgte einem Rufe an die Columbia Universität in Neuyork. Noch ein anderer hatte die Ungunst zu entgelten, die dem Fache gezeigt wurde: Wilhelm Grube, ein feinsinniger Gelehrter ersten Ranges, von gediegener Kenntnis der Sprache, Literatur und der Realien, der die Zierde eines sinologischen Lehrstuhles gewesen wäre, vermochte dem Unterricht und der Forschung nur seine Freizeit neben dem Museumsdienst zu widmen. Von seinem Tode 1908 bis zum Jahre 1912 fiel das Fach überhaupt an der Berliner Universität aus. Mit dem Holländer J. J. M. de Groot, der noch am Vorabend des Krieges das Sinologische Seminar mit kostbaren Bücherbeständen unter Dach brachte, erhielt es endlich seine feste Vertretung, und kam zugleich in die deutsche Sinologie ein ihr bis dahin wesensfremder Zug. De Groot war aus der praktischen Schule hervorgegangen, ein Feind der grammatischen Auffassung, dabei ein unbedingter Verfechter der Textlektüre. Seine Methode hat sich infolge der Störungen der Kriegs- und Nachkriegszeit — er starb 1921 — nicht mehr voll auswirken können, aber doch in der deutschen Sinologie einen höchst wertvollen Einschlag hinterlassen. Unter seinem Nachfolger, O. Franke, ist historische Arbeitsweise zu ihrem Recht gekommen. Leipzig ist die einzige deutsche Universität mit längerer ununterbrochener sinologischer Überlieferung. G. v. d. Gabelentz hatte dort von 1878—1889 die Professur für ostasiatische Sprachen bekleidet und war von August Conrady abgelöst worden, der dieses im Jahre 1922 zu einem Ordinariat erhobene Lehramt bis zu seinem Tode 1925 innehatte, in seinen letzten Jahren auch der Sächsischen Akademie der Wissenschaften angehörte — G. v. d. Gabelentz und de Groot waren Mitglieder der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Heute sind in dieser gelehrten Gesellschaft die ostasiatischen Belange durch O. Franke und F. W. K. Müller vertreten. — Conradys Lehrstuhl ging an den Berichterstatter über, der seinerseits ein seither eingegangenes persönliches Extraordinariat in Berlin und Göttingen bekleidet hatte. Das Leipziger Ostasiatische Seminar, dem Institut für Kultur- und Universalgeschichte erwachsen und seit 1913 selbständig, ist inzwischen ständig ausgebaut worden. Hamburg kann das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, an seinen wissenschaftlichen Anstalten, der späteren Universität, zuerst durch Gründung einer ordentlichen Professur der Sinologie eine vollwertige Stellung in der Orientalistik gegeben zu haben. O. Franke hat diesen Posten von 1909—1922 innegehabt. Ihm ist auch die Errichtung eines Seminars mit einer reichen Büchersammlung zu danken. Auf seinen Lehrstuhl

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folgte ihm 1923 A. Forke vom Berliner Seminar für Orientalische Sprachen. Die in F r a n k f u r t im Jahre 1927 errichtete ordentliche Professur wurde von R. Wilhelm eingenommen. Das von ihm begründete China-Institut, das sich die Pflege der Kulturbeziehungen Deutschlands und Chinas zur Aufgabe gesetzt hat, vermochte durch die unermüdliche Werbetätigkeit seines kürzlich verstorbenen Leiters in Vorträgen, Ausstellungen und Veröffentlichungen eine weitgehende Wirkung auch auf die Öffentlichkeit auszuüben. Es ist dringend zu wünschen, daß die Arbeit, die mit so großer Hingabe eingeleitet wurde, weitergeführt werde. Die Verbindung mit dem lebenden, d. h. dem neuen China, muß gehalten werden. Hierbei sei bemerkt, daß neben dem China-Institut die Seminare in Leipzig, Hamburg und Bonn chinesische Hilfskräfte beschäftigen. Dazu besitzen die Seminare in Leipzig und Hamburg planmäßige Assistentenstellen. Neben diesen festen Lehrstellen ist an den Universitäten Göttingen, Bonn und Halle, früher auch in Heidelberg, die Sinologie durch Lehraufträge vertreten. In Göttingen gab es vorübergehend ein Extraordinat für A. C. v. d. Schulenburg, später im Jahre 1925 ein persönliches Extraordinariat. Dort besteht ein Sinologisches Seminar, in Halle und Bonn je eine chinesische Abteilung an den Orientalischen Seminaren. In Wien wirkt A. v. Rosthorn als Honorarprofessor. Der praktischen Vorbildung für die Auslandstätigkeit dient seit 1887 das Berliner Seminar f ü r Orientalische Sprachen, mit Lehrern von praktischer Auslandserfahrung. Von der chinesischen Abteilung seien die Namen K. Arendt, A. Forke, W. Schüler und F. Lessing genannt. Das Seminar vermittelt nicht nur unter Eingeborenenhilfe eine Kenntnis der gesprochenen Sprache nordchinesischer Mundart, sondern bietet auch reiche Unterweisung in den Realiengegenständen und damit eine äußerst wertvolle Ergänzung des Universitätsunterrichts. Doch ist die Methode des Unterrichts bestimmungsgemäß auf rein praktische Zwecke zugeschnitten. Der Gedanke, diesen sprachlichen Unterricht als Vorstufe für das Sinologiestudium anzunehmen, ist ebenso irrig wie die seinerzeitige Auffassung, mit der Ausbildung an diesem Seminar den sinologischen Bedürfnissen überhaupt Genüge getan zu haben. Übrigens werden wir nach Neuordnung des Auswärtigen Dienstes, der keine Dolmetscherlaufbahn mehr kennt, von seiner Seite keinen Nachwuchs an Sinologen oder Sprachkennern mehr zu erwarten haben. Ein höchst wichtiges Anschauungsmittel für das sinologische Studium bilden die völkerkundlichen Museen. Auch ist ein Teil unserer Sinologen aus dem Museumsdienst hervorgegangen, so W. Grube, der unter Bastian die ostasiatische Abteilung des Berliner Museums für Völkerkunde aufgebaut und verwaltet hat, und F. W. K. Müller, der sie zu einer einzigartigen religionsgeschichtlichen Sammlung ausgestaltete und seine umfassenden Kenntnisse auch in den Dienst des akademischen Unterrichts auf buddhistischem Gebiete stellte. Nach der Neuordnung im Museum liegt die Leitung der asiatischen Abteilung in den Händen O. Kümmels, die der ostasiatischen Volkskunde bei F. Lessing. Die Aufgabe der Heranbildung sinologischen Nachwuchses hat das Berliner Museum leider nicht in vollem Maße erfüllt, indem es gerade der ostasiatischen Abteilung den planmäßigen Assistentenposten versagte. Wertvolle ostasiatische Sammlungen befinden sich auch am Leip-

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ziger, Münchener und Hamburger Völkerkundemuseum. Die Kustodenstelle des ersteren ist durch einen Sinologen besetzt. Das Vorhandensein von chinesischen Büchersammlungen an den Sinologischen Seminaren wurde erwähnt. Daß die älteren Sinologen, die ja z. T. lange Jahre in China seßhaft waren, wohl alle ihre Privatbibliotheken heimgebracht haben, sei nebenbei bemerkt. Hierzu kommen nun die chinesischen Sammlungen an den Bibliotheken in Berlin, Leipzig, München, Göttingen, Bonn und bei der deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Halle. Weitaus an erster Stelle steht hier die Preußische Staatsbibliothek in Berlin, deren chinesische Abteilung nächst den Pariser Sammlungen in Europa wohl nicht ihresgleichen hat. Daß damals, vor mehr als zwanzig Jahren, als der Sinologie an den Universitäten noch die Anerkennung versagt blieb, die Kgl. Bibliothek in Berlin ihre chinesische Abteilung planmäßig ausbaute und auf dem laufenden hielt, so daß sie jetzt wohl nur wenige Lücken zeigt, und daß sie die Bücher seit damals in weitherzigster Weise dem Studium zugänglich machte, ist ein Verdienst, das wir der Bibliothek und dem Leiter der Abteilung, H.Hülle, nicht genug danken können. Wir Älteren entsinnen uns noch sehr wohl der früheren Verhältnisse. Die Berliner Universitätsbibliothek, das Seminar für Orientalische Sprachen und das Museum für Völkerkunde besitzen bescheidene bzw. Spezial-Sammlungen. In Leipzig hat die Universitätsbibliothek dank dem Vermächtnis der Grube- Sammlung einen guten Grundstock, auf dem weiter gebaut wurde, vor allem durch beträchtliche, kürzlich vom Berichterstatter in China ausgeführte Neuerwerbungen. Auch die Göttinger Universitätsbibliothek hat schon einen ansehnlichen Bestand. Die bayerische Staatsbibliothek in München, welche sich der alten Sammlungen Neumann 1830 und Quatrem^re 1858 rühmen kann und auch größere Neuerwerbungen gemacht hat, muß jetzt eine sehr beträchtliche Abteilung ihr eigen nennen, die, wenn sie erst einmal dem Studium sich öffnete und einem Lehrstuhle an der Universität den Platz bereitete, München mit einem Schlage zu einem neuen sinologischen Zentrum machen würde. Leider liegt dort ein Schatz bislang unbenutzt. Seit Plaths Tode 1874 hat sich, abgesehen von Hirths kurzem Aufenthalt, unseres Wissens in München niemand mehr sinologischen Studien hingegeben. Die Zeitschriftenfrage ist für die Sinologie von entscheidender Bedeutung deswegen, weil man bei der chinesischen Begriffsschrift sich nicht mit lautlicher Wiedergabe begnügen kann, vielmehr die Zeichen bringen muß: Der Mangel an chinesischen Typen ist ein großes Hemmnis für die deutsche Sinologie gewesen und hat die rein sprachwissenschaftlichen Arbeiten begünstigt. In den Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen, für welche die Reichsdruckerei chinesische Typen herstellte, war dann auch in Deutschland ein sinologisches Organ geschaffen. Viele wichtige Aufsätze sind in den Jahrgängen der Mitteilungen erschienen, wenn auch, den Belangen des Seminars gemäß, die praktische Richtung immer bevorzugt werden mußte. Etwa gleichzeitig mit den Mitteilungen war in Leiden eine internationale Fachzeitschrift T'oung-pao mit Schriftleitung in Paris gegründet worden, welche führend wurde. Fr. Hirth hatte den ersten Beitrag geliefert. Nach dem Kriege ergab sich die Notwendigkeit eines eigenen Organs für deutsche Arbeiten. Die Jahresbände der Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen 18 Featichrift Schmidt-Ott

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Erich Hiernach

genügten nicht. Zunächst trat die Ostasiatische Zeitschrift, bis dahin hauptsächlich der Kunst gewidmet, in die Bresche. Doch hat sie die Verbindung mit der reinen Sinologie nicht aufrecht erhalten können und sich wieder auf ihr altes Feld beschränkt. Die eigentliche Zeitschrift für sinologische Arbeiten wurde die i. J. 1923 von Br. Schindler, einem Schüler Conradys, begründete Vierteljahrsschrift Asia Major. Wir müssen den allergrößten Dank dafür wissen, daß diese Zeitschrift, auf die unser Fach jetzt ganz und gar angewiesen ist, uns in diesen schweren Jahren offen gestanden hat. Und wir sind auf das Dringendste an ihrer weiteren und regelmäßigen Ausgabe interessiert. Einzelarbeiten von besonderer Bedeutung erschienen in den Berichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Auch die Hamburger Universität hat in ihren Abhandlungen einigen größeren Werken ihres Lehrkörpers den Druck ermöglicht. Der vorstehende Bericht soll darauf hinweisen, daß die deutsche Sinologie im Laufe ihrer Entwickelung sich gegenwärtig in der Periode des Spezialistentums befindet, einer nach außen nicht stark in Erscheinung tretenden Kleinarbeit. Er soll weiter dartun, wie schwer dem Fache seine Jugend gemacht, wie es aber danach über die Gefahren des letzten Jahrzehnts hinweggerettet wurde. Heute steht es auf einer Grundlage, die etwa Schlegels Forderungen in seinem Nachruf für Gabelentz (geschrieben 1894!) entspricht. — Für Österreich gilt diese Feststellung leider nicht. — Daß die Zahl der ernsten Arbeiter immer beschränkt sein wird, liegt in der Sache begründet. Die heutige Zeit ist einem schweren langwierigen Studium, das erst spät Früchte trägt, nicht gewogen. Jedoch ist die Anteilnahme deutscherseits, besonders gemessen an der wirtschaftlichen Notlage und an einem Vergleiche mit anderen Ländern, nicht ungünstig. Worauf es allein ankommt, ist, daß an den wenigen Stellen die rechten Vertreter stehen. In diesem Jahrzehnt wird bei uns eine neue Generation in die Front rücken. Möge sie sich der großen Vorbilder wert zeigen, welche auch die deutsche Sinologie der letzten fünfzig Jahre aufzuweisen hatl

CONSTANTIN CARATHÉODORY, WALTHER VON DYCK MATHEMATIK Überblickt man die Entwicklung der Mathematik in Deutschland in den letzten fünfzig Jahren, so findet man im Gegensatz zu dem vorangegangenen Jahrhundert, in dem die einzelne Persönlichkeit entscheidend hervortritt, daß gegenwärtig die Fortentwicklung in höherem Maße erfolgt durch die gemeinsame, ineinandergreifende Arbeit weiter und sich immer mehr erweiternder Gruppen von Gelehrten. Die Gründe für diese Erscheinung sind mannigfach. Einmal sind durch die vorangegangene Pionierarbeit einzelner Gelehrter innerhalb der Mathematik selbst neue Gebiete erschlossen worden, die nun einer systematischen Bearbeitung bedürfen. Andererseits fordern naturwissenschaftliche Probleme und praktische Aufgaben der Technik in weit höherem Maße als früher den Ausbau mathematischer Methoden und ihre Anpassung an die besonderen Fragestellungen, wie denn auch umgekehrt schon vorhandene, bisher rein abstrakt entwickelte Disziplinen dazu geeignet erscheinen, parallele Beziehungen zu dem Ablauf gewisser Naturvorgänge hervortreten zu lassen. Indem es sich dann darum handelt, Methoden und Resultate jenes abstrakten Gebietes zur Erweiterung des damit in Vergleich gestellten zu verwenden, tritt die Bedeutung und Tragweite der Grundannahmen der mathematischen Wissenschaften ganz besonders hervor. Durch die kritische Arbeit, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte, sind nun gerade diese Grundlagen neu durchforscht und nach den Hypothesen, auf welchen sie errichtet sind, gegliedert worden. Die hierdurch herbeigeführte Klärung hat den Zugang zu den Fragen des Aufbaues der einzelnen Disziplinen der reinen und der angewandten Mathematik wesentlich erleichtert und gesichert. Das Zusammenwirken der genannten Umstände hatte eine Neubelebung der mathematischen Forschung zur Folge, die sich — und nicht nur in Deutschland allein — vor allem auch in einer Vermehrung der produktiven Tätigkeit ausdrückt. Dabei sind viele Gebiete der Mathematik gleichzeitig, wechselseitig ineinander greifend, in breiter Front in Angriff genommen und vorwärts getrieben worden; andererseits aber können einige der bemerkenswertesten Fortschritte, die in speziellen Fragen erreicht wurden, nicht mehr, wie es früher die Regel war, mit einem einzigen Namen verknüpft werden, sondern sie sind das Werk von mehreren Forschern, die sich in rascher Folge den Ball zuwarfen. Unter diesen Umständen ist es unmöglich, im Rahmen dieser Schrift auch nur die hauptsächlichsten Fortschritte, die die Mathematik in Deutschland seit dem Jahre 1880 etwa gemacht hat, in angemessener Weise zu würdigen; wir müssen uns vielmehr begnügen, die großen Linien aufzuweisen, welche die Forschung während dieser Zeit bevorzugt hat. Schon rein äußerlich genommen ist das Gewand, in welches heute mathematische Arbeiten sich kleiden, von dem, das sie noch vor zwei Generationen hatten, grundverschieden, und dieseAnderung ist nicht von einer modischen Wandlung des Geschmackes bedingt worden, sondern sie hat viel tiefere Ursachen. Das Aufkom18*

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Constantin Carathéodory und Walther von Dyck

men einiger grundlegender Theorien und Formulierungen hat sie hervorgerufen, die vor fünfzig Jahren entweder noch gar nicht existierten oder die sich noch nicht ausgewirkt hatten: Wir stellen hier die Gedankengänge der Mengenlehre und die Entwicklung der axiomatischen Methode voran. Die Mengenlehre ist die Schöpfung Georg Cantors und ist schon von ihm selbst zu einer hohen Vollendung gebracht worden. Obgleich auf Gedankenkombinationen beruhend, die nur die elementarsten Zahlbegriffe und die Aristotelische Logik voraussetzen, stellt diese Disziplin eine der originellsten Ideenbildungen dar, die der menschliche Geist jemals in der Mathematik hervorgebracht hat. Wenn man von gewissen Gedankengängen der mittelalterlichen Scholastik (Thomas Aquinus) absieht, ist der einzige Vorläufer Cantors B. Bolzano, der in seinen Paradoxien des Unendlichen unendliche Mengen nach ihrer Mächtigkeit vergleicht und die Vorstellung der Gleichmächtigkeit zweier Mengen gibt, die den Ausgangspunkt der Cantorschen Begriffsbestimmungen bildet. Die Form, die Cantor der neuen Disziplin gegeben hat, ist dabei so allgemein, biegsam und bequem, daß dieses Instrument der Benützung auch bei den schwierigsten Fragen der Analysis zugänglich ist und kaum je wieder in der Wissenschaft wird entbehrt werden können. Die Cantorsche Theorie, die in der Hauptsache in den siebziger Jahren entstanden war, wurde allerdings zuerst mehr in Frankreich beachtet, wo sie sehr bald auch in Lehrbüchern (Camille Jordan 1893, E. Borel 1898) Aufnahme fand; erst mit Beginn dieses Jahrhunderts wurde sie in Deutschland Allgemeingut der Mathematiker. Das Interesse, das um die Jahrhundertwende für die Mengenlehre bestand, findet seinen Ausdruck in der Tatsache, daß die deutsche Mathematiker-Vereinigung A. Schönflies veranlaßte, über diesen Gegenstand einen Bericht zu verfassen, dessen erster Teil im Jahre 1900 erschienen ist. Auf Einzelnes kommen wir in anderem Zusammenhang noch zurück. Die axiomatische Methode, die an der Wiege der griechischen Geometrie gestanden hatte, war im XVIII. Jahrhundert, als die Infinitesimal-Rechnung ihre ersten Triumphe feierte, in Vergessenheit, ja sogar ein wenig in Verruf gekommen. Im XIX. Jahrhundert tritt sie wieder hervor. Zunächst im Anschluß an die Frage nach der Stellung des Parallelenaxioms beim Aufbau der Geometrie an die Namen von Gauß, Bolyai und Lobatschefsky geknüpft, dann unter Betonung des Unterschiedes zwischen Unendlichkeit und Unbegrenztheit des Raumes in Riemanns berühmtem Habilitationsvortrag, endlich ausgehend von der projektiven Geometrie in der analytisch verallgemeinerten Darlegung der nicht-euklidischen Geometrie durch Cayley, Klein, Beltrami. Die Weiterentwicklung geht nun von dem durch Pasch und ganz unabhängig davon durch Hilbert verfolgten Gedanken aus, außer dem Parallelenaxiom auch die anderen geometrischen Axiome auf ihre gegenseitige Abhängigkeit oder Unabhängigkeit zu untersuchen und »Pseudogeometrien« unter Fallenlassen einzelner Axiome aufzubauen. Dadurch gewinnt auch die antike Geometrie in ungeahntem Maße an Präzision, und es lassen sich die wenigen Lücken, die bei Euklid noch zu finden sind, vollständig ausfüllen. In dem berühmten Buch »Die Grundlagen der Geometrie« (1. Aufl. 1900) hat Hilbert das Wesen der Axiomatik völlig klar und unabhängig von speziell geometrischen Vorstellungen formuliert. Die Axiome sind Forderungen, durch welche der Mathematiker

Mathematik

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die Dinge, mit denen er sich beschäftigen will, scharf definiert. Daß die verschiedenen Axiome, die man benützt, einander nicht widersprechen dürfen, war von jeher beachtet worden. Daneben hat Hilbert aber die Eigenschaft der Unabhängigkeit der Axiome voneinander stark in den Vordergrund gestellt und gezeigt, wie man in konkreten Fällen verifizieren kann, daß dieses Postulat erfüllt ist. Endlich — und das ist wohl eine seiner interessantesten Leistungen — hat Hilbert dargelegt, wie man durch ein Vollständigkeitsaxiom den Kreis der betrachteten Dinge so abgrenzen kann, daß er nicht mehr erweiterungsfähig ist. Die Axiomatik ist nicht nur unentbehrlich für die Anwendung der Mathematik auf physikalische Probleme, sondern sie spielt auch innerhalb der eigentlichen Mathematik eine entscheidende Rolle, wenn man, wie jetzt als notwendig erkannt, mathematische Begriffe durch gewisse ihrer Eigenschaften zu definieren sucht. Die weittragende Entwicklung der Mengenlehre, der Axiomatik, wie der gesamten neueren Mathematik ist in der Tat erst ermöglicht worden durch eine erneute kritische Bearbeitung der Grundlagen, die sich während des XIX. Jahrhunderts vollzog und von da ab zu immer weiteren Revisionen führte. Schon Gauß hatte erkannt, daß das Verständnis für die mathematischen Wissenschaften durch Präzisierung der Grundbegriffe sehr erleichtert wird, und viele seiner Schriften können noch heute als Muster mathematischer Strenge gelten. Cauchy ist in dieser Richtung noch beträchtlich weiter vorgedrungen; dann aber war es vor allem Weierstraß, der mit eiserner Konsequenz die logische Strenge allenthalben in der Analyse eingeführt und in seinen eigenen Untersuchungen wie in seinem Unterricht schon durch die Art ihres Aufbaues in allen Einzelheiten beachtet hat. Obgleich Weierstraß seit etwa Mitte der fünfziger Jahre in diesem Sinne gewirkt hatte, wurden seine Formulierungen um 1880 zwar allgemein bewundert, aber noch keineswegs allgemein befolgt. Es gab angesichts der lebendigen Ideengänge und Entwicklungen, die im besonderen auf dem Gebiete der Geometrie und Algebra gerade um diese Zeit eine Anzahl der besten deutschen Mathematiker — wir nennen Plücker, Clebsch, C. Neumann, Klein — in Spannung gesetzt und zu vielseitiger Produktivität geführt hatten, nicht wenige und nicht unbedeutende Stimmen, welche die Weierstraßschen Methoden als übertrieben, wenn nicht als steril ansahen. Dieser Gegensatz zur »Berliner Schule«, der im Jahre 1871 sogar eine neue Zeitschrift, die »Mathematischen Annalen«, dem »Journal für die reine und angewandte Mathematik« gegenüberstellen ließ, erscheint heute zwar historisch bedeutsam, aber für die Folge ausgeglichen. Die heutige Entwicklung aller mathematischen Disziplinen, sowohl der abstrakten wie der angewandten, erfordert in gleichem Maße strengste Prüfung der Grundlagen, auf denen sie sich aufbauen, und stete Sicherung der Stufen, auf denen sie fortschreiten, wie sie der Phantasie bedarf, um neue Wege aufzuspüren, neue Gebiete zu entdecken und ihre gegenseitigen Beziehungen herzustellen. Das von Weierstraß selbst geschaffene kritische Instrument aber, das er so meisterhaft handhabte, bedurfte trotz seiner wundervollen Abrundung noch der intensivsten Arbeit einer ganzen Generation von Gelehrten, bis es vereinfacht, abgeschliffen und von unnötigem Beiwerk befreit Allgemeingut der Mathematik werden konnte. Hierzu haben neben Männern, die, wie H. A. Schwarz oder O. Stolz, zu den näheren Schülern von Weierstraß gezählt werden können, auch

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Constantin Carathéodory und Walther von Dyck

andere, wie P. Dubois-Reymond, L. Scheffers, A. Harnack und A. Pringsheim, die ihm viel ferner gestanden sind, beigetragen. Das Ergebnis ist, daß die Verfeinerung und Präzisierung der Analysis, die im Jahre 1880 nur erst einem ganz engen Kreise von Personen geläufig war, seit über zwanzig Jahren in allen deutschen Universitäten zu den Grundlagen des Unterrichts gehört. Der Bereicherung und Festigung, welche die Funktionentheorie durch Weierstraß und seine Schule in Deutschland erfahren hatte, stellt sich nun eine weitere Disziplin, welche der heutigen Mathematik ihr spezifisches Gepräge verleiht, an die Seite, die in ihrer weittragenden Entwicklung auf Riemann zurückgeht: die T o p o logie. Die Behandlung einiger typischer Probleme dieser Theorie, die zunächst in geometrischem Gewände als eine Geometrie der Lage erscheint, findet sich schon bei L. Euler. Auch Gauß hat sich, wie im besonderen aus seinem Nachlaß ersichtlich, vielfach mit derartigen Problemen beschäftigt. Listing und Möbius haben sie nach mancher Richtung, ersterer mit Bezug auf mehrdimensionale Räume, letzterer, der Entdecker der einseitigen Flächen, nach Seiten der Gruppentheorie erweitert. Es war aber vor allem Riemann, der die grundlegende Bedeutung der Topologie (oder Analysis situs, wie er sie nannte) für die verschiedensten Gebiete, insbesondere für die Funktionentheorie erkannte. In den siebziger Jahren hat dann Felix Klein den Riemannschen Ausgangspunkt der Funktionentheorie dadurch ausschlaggebend zur Geltung gebracht, daß er die topologischen Ideen Riemanns in ihrer ganzen Allgemeinheit klar erfaßt und dargelegt hat. An dieser Stelle greift nun eine andere umfassende Disziplin entscheidend ein, die Gruppentheorie. Ursprünglich war sie aus den Problemen der Algebra erwachsen, in denen die Permutationen der Wurzeln einer Gleichung eine Gruppe bilden, deren Struktur die Frage nach der Möglichkeit einer stufenweisen Lösung entscheidet (Galois, später Jordan). Anfang der siebziger Jahre hat dann Klein in seinem Erlanger Programm »Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen« auch die Gruppen räumlicher Transformationen betrachtet, ihre Invarianten gekennzeichnet und sie verwendet, um von hier aus die verschiedenen Arten von Geometrien einzuteilen. Bei der Betrachtung dieser Gruppen tritt dann weiterhin der Unterschied von diskontinuierlichen und kontinuierlichen Gruppen von Bewegungen auf, der dann zunächst in den algebraischen Arbeiten von Klein einerseits, in den Untersuchungen zur Theorie der Differentialgleichungen von Lie andererseits ein weites Feld der Anwendungen der Gruppentheorie auf Probleme der Analysis eröffnet. Wir greifen hier zunächst die Forschungen heraus, die über die Betrachtung endlicher diskreter Gruppen hinaus zu unendlichen diskreten Gruppen, im besonderen zu den Gruppen linearer Transformationen komplexer Variablen übergehen und zu dem Studium der Funktionen, welche diese Transformationen zulassen. Die Einteilung der Ebene in kongruente Parallelogramme, wie sie die Eigenschaften der doppelt periodischen Funktionen zum Ausdruck bringt, erfahrt ihre Verallgemeinerung in einer Einteilung der Ebene in Kreispolygone und der Frage nach den zugehörigen Funktionen. Schon bei Gauß finden sich, wie der Nachlaß gezeigt hat, solche Ansätze, dann ist ihnen H. A. Schwarz nachgegangen, ebenso L. Fuchs. Dann (1883) haben F. Klein und H. Poincaré die Probleme auf-

Mathematik

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gegriffen und sind in einem sehr lebhaften Briefwechsel zu einer Reihe von Sätzen über automorphe Funktionen gelangt, die damals nicht vollständig bewiesen werden konnten und erst viel später bestätigt worden sind. Damals entstand das Problem der Uniformisierung, d. h. die Behauptung, daß jede beliebige mehrdeutige analytische Funktion nicht nur in der Umgebung einer Stelle, sondern als Ganzes durch ein Paar von eindeutigen Funktionen dargestellt werden kann. Dieses Problem wurde erst 1907 auf ganz unabhängigem Wege einerseits von Poincaré selbst, andererseits von P. Koebe gelöst und gab Anlaß zu einer großartigen Theorie, durch welche auch die allgemeine Topologie befruchtet wurde. Man lernte — das Buch von H. Weyl »Die Idee der Riemannschen Fläche« (1913) ist in diesem Zusammenhang zu nennen — die topologischen Begriffe, die bisher mehr gefühlsmäßig benutzt worden waren, in eine strenge logische Form zu gießen. Die Topologie ist heute zu einem Grundpfeiler der modernen Mathematik geworden. Das große Interesse, das sie besitzt, ist nicht nur damit zu erklären, daß fast ausnahmslos in allen Gebieten der Mathematik und sogar in einigen Teilen der mathematischen Physik Fragen entstanden sind, die auf topologische Probleme führen. Es handelt sich vielmehr auch um Fragen elementarster Art, von denen selbst der Laie zugeben muß, daß sie zu den Grundlagen der Mathematik gehören, die aber zumeist nur mit den verfeinerten Methoden der Topologie erledigt werden können. So die elementare Aussage, daß jede in einem einfach zusammenhängenden Flächenstück (im besonderen in der Ebene) gelegene, einfache geschlossene Kurve (ohne Doppelpunkte) dieses Flächenstück in zwei Stücke zerlegt (Jordan), oder der Satz, daß im Räume das eindeutige stetige Bild einer Kugeloberfläche dasselbe leistet. Wie schwer derartige Sätze exakt zu beweisen sind, erkennt man, wenn man sich an Beispielen klar macht, daß die Figuren, die man betrachtet, trotz der Einfachheit der Fragestellung ganz außerordentlich kompliziert sein können. Beim Satz im Räume, den zuerst Brouwer (1910) bewiesen hat, kann es u. a. vorkommen, daß das Innere und Äußere der betrachteten Fläche, die doch ein stetiges Bild einer Kugeloberfläche ist, durchaus nicht durch stetige Deformation in das Innere und Außere einer Kugel transformiert werden kann. Auch die ungemein wichtige Frage, was bedeutet es mathematisch, wenn wir sagen, daß ein Gebilde zwei- oder dreioder mehr-dimensional ist, konnte erst in den letzten Jahren auf Grund von älteren Arbeiten von Brouwer (und Lebesgue) völlig befriedigend beantwortet werden. Die Beschäftigung mit mehrdimensionalen Räumen, heute ein charakteristischer Zug der modernen Mathematik, läßt sich bis in das XVIII. Jahrhundert (Lagrange) zurückverfolgen; die erste zusammenhängende Darstellung liegt in der »Ausdehnungslehre« Graßmanns (1894) vor, deren Gedanken sich freilich nur langsam durchgesetzt haben und erst durch die Herausgabe der Werke (1894 bis 1 9 1 1 ) einem größeren Pubükum zugänglich geworden sind. Weiterhin ist die Betrachtung mehrdimensionaler Räume nicht nur in der reinen Mathematik nützlich gewesen. Sie ist auch für viele Theorien der mathematischen Physik, wie der Mechanik, der Relativitätstheorie, der Thermodynamik, der statistischen Theorie der Gase, ein geradezu unentbehrliches Instrument geworden. Gehen wir nach diesen allgemeineren Darlegungen noch in Kürze, und ohne irgend vollständig sein zu können, zu einigen Einzeldisziplinen über:

28O

ConsUntin Carathéodory und Walther vcn Dyck

Am Anfang unserer Periode war die Z a h l e n t h e o r i e wesentlich durch die Arbeiten von Kummer, Kronecker und Dedekind über die »Disquisitiones arithmeticae« von Gauß weiter entwickelt worden. Dedekind hatte die Vorlesungen von Lejeune-Dirichlet mit vielen Zusätzen herausgegeben und eines der vorzüglichsten deutschen mathematischen Lehrbücher geschaffen, das durch Jahrzehnte hindurch seine Wirkimg ausgeübt hat. Die Grundlage für die weitere Entwicklung bildet dann die T h e o r i e der Ideale, die auf Kummer zurückgeht (1847) und diejenige der Z a h l k ö r p e r , die Dedekind systematisch eingeführt hat. Dann folgt, bedeutungsvoll für die gesamte spätere Entwicklung, die »Theorie der algebraischen Zahlkörper«, die Hilbert im Auftrag der Deutschen Mathematiker Vereinigung (1897) geschrieben hat. Dieses Werk war nur seiner äußeren Veranlassung nach ein Bericht über die vorhandene Literatur. In Wirklichkeit stellte es einen der größten Fortschritte dar, auf welche die ganze spätere Entwicklung (Furtwängler, Hecke u. a.) sich stützt. Eine zweite große Entwicklungsrichtung der Zahlentheorie hängt mit dem P r o b l e m der V e r t e i l u n g der Primzahlen zusammen, für welche Riemann in einer berühmten Arbeit die ersten modernen Ideengänge aufgezeigt hat. Riemann hatte dieses Problem mit dem Studium einer speziellen Funktion verknüpft. Hieran schließen sich eindringendste Bemühungen von E. Landau und seiner Schule, gewisse Vermutungen Riemanns zu beweisen, die zwar noch nicht zu dem gewünschten Ziele geführt haben, aber der Anlaß waren, daß große Teile der Zahlentheorie und zugleich der Funktionentheorie durch neue Gedankengänge befruchtet worden sind. Einem weiteren Ideenkreis gehören Betrachtungen an, welche zahlentheoretische Probleme mit rein geometrischen Methoden angreifen. Schon Gauß hatte sich mit solchen beschäftigt, Klein und sein Schüler Gierster haben die sogenannten Kroneckerschen Klassenanzahlrelationen auf geometrischem Wege neu bewiesen und erweitert. Brunn und in größter Allgemeinheit Minkowski haben den Begriff der konvexen Körper im n-dimensionalen Raum als fundamentalen Begriff eingeführt, Minkowski von ihm aus seine »Geometrie der Zahlen« entwickelt, deren Nutzen für die verschiedensten Gebiete der Analysis und der Geometrie immer mehr hervortritt. Wieder nach anderer Richtung von hoher Bedeutimg sind die Untersuchungen, welche sich mit dem Problem befassen, daß gewisse Zahlen transzendent sind, d. h. daß man sie nicht als Wurzeln algebraischer Gleichungen mit ganzzahligen Koeffizienten darstellen kann. Im Jahre 1882 gelang es F. Lindemann zu zeigen, daß die Zahl 7t transzendent ist, nachdem Hermite einige Jahre vorher das gleiche für die Basis e der natürlichen Logarithmen festgestellt hatte. Damit war zugleich eine aus dem Altertum berühmte Frage endgültig beantwortet; es war zum ersten Male streng bewiesen, daß es unmöglich ist, den Kreis mit Hilfe von Zirkel und Lineal zu quadrieren. Aus den Bedürfnissen der mathematischen Physik heraus ist vor hundert Jahren die T h e o r i e der t r i g o n o m e t r i s c h e n Reihen entstanden und hat sich durch die Arbeiten von Fourier, Dirichlet, Riemann, Weierstraß, Cantor u. a. zu einer rein mathematischen Disziplin entwickelt. Ahnlich sind es physikalische

Mathematik

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Probleme gewesen, die den Anstoß zur T h e o r i e der Integralgleichungen gegeben haben. Die älteste Gleichung dieser Art stammt von Abel her, der sie zur ersten befriedigenden Lösung des alten Huyghens'schen Problems der Tautochronen benutzte. Diese Abelsche Integralgleichung, die in geschlossener Form auflösbar ist, hat verschiedene Anwendungen in Geometrie und Mechanik gefunden. So konnte z. B. (1906) G. Herglotz mit ihrer Hilfe ein sehr interessantes Problem über die Fortpflanzung der Erdbebenwellen lösen. Wichtiger noch sind die von Fredholm (1902) eingeführten Integralgleichungen. Sie bilden den Endpunkt einer langen Entwicklung in der Potentialtheorie und gehen auf gewisse von C. Neumann und H. Poincaré ausgebildete Methoden zurück. Es folgt eine Reihe wichtiger Arbeiten von Hilbert, in denen die Bedeutung des hier vorliegenden Komplexes von Fragen hervortritt. In einer älteren Arbeit von H. A. Schwarz hat dann E. Schmidt die Anregung zu seinen eleganten Methoden zur Behandlung dieser Probleme gefunden. Er hat weiterhin die Theorie der nichtlinearen Integralgleichungen entworfen, die für die Behandlung von gewissen Verzweigungsproblemen, wie sie Poincaré begegnet waren, als er die Gleichgewichtsfiguren an rotierenden Himmelskörpern studierte, grundlegend sind. Diese wenigen Beispiele mögen zugleich mit den oben aus dem Gebiet der komplexen Funktionen angeführten genügen, um zu zeigen, in wie mannigfaltiger Weise sich die Gebiete der Funktionentheorie entwickelt haben. Freilich haben wir weitere große und wichtige Gebiete, die T h e o r i e der gewöhnlichen und partiellen Differentialgleichungen und der daran anschließenden geometrischen und physikalischen Probleme, die Randwertprobleme, Fragen der Potentialtheorie und andere, übersprungen. Zwei weitere Disziplinen aber seien noch gestreift. Die Variationsrechnung hatte im XVIII. und XIX. Jahrhundert die besten Köpfe beschäftigt, galt aber immer als der schwierigste Teil der Analysis. In Wirklichkeit waren die Schlußweisen, die man damals verwendete, noch mit sehr vielen Lücken behaftet; es blieb Weierstraß vorbehalten, die Variationsrechnung streng abzuleiten und dadurch verständlich zu machen. Die entscheidende Vorlesung, in deren Verlauf Weierstraß die letzten Schwierigkeiten überwunden hat, fand im Jahre 1879 statt. Obgleich eine authentische Publikation ihrerResultate erst 1928 erfolgte, verbreiteten sich doch allmählich die Weierstraßschen Ideen durch mündliche Überlieferung und wurden im L e h r b u c h der Variationsrechnung von A. Kneser (1900) aufgenommen. Dieses Lehrbuch kann man als den Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung für die Variationsrechnung bezeichnen, deren Bedeutung für Mechanik und Physik ständig größer geworden ist. Denn gerade die theoretische Mechanik ist in ihren Formulierungen außerordentlich eng mit den Problemen der Variationsrechnung und mit gewissen Kapiteln der Differentialgeometrie verknüpft. Die angewandte Mathematik dagegen reicht mit theoretischen Untersuchungen allein nicht aus. Sie muß sich vielmehr, wie etwa die Dynamik der Flüssigkeiten und der Gase, in ihren neuesten Forschungen auf praktische Experimente stützen, wie sie nur in großen Laboratorien durchgeführt werden können.

Constantin Carathéodory und Walther von Dyck

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W i r hatten schon mehrfach Gelegenheit, g e o m e t r i s c h e

Fragestellungen

zu erwähnen, so bei Erörterung der Probleme der Axiomatik, der Topologie, der Gruppentheorie. W i r müssen das Bild wenigstens in einigen Punkten noch vervollständigen. Z u Anfang der hier betrachteten Periode spielte das Studium algebraischer Kurven und Flächen eine besondere Rolle. Plücker, Clebsch, Hesse hatten dazu mannigfachste Anregung gegeben. D i e gestaltlichen Verhältnisse einzelner Kurven und Flächen, ihre typischen Formen, ihre Singularitäten, die algebraischen Korrespondenzen waren Gegenstand sowohl geometrischer wie — in eleganter Formulierung dargebotener — analytischer Untersuchungen. D i e Arbeiten von V o ß und Nöther, von Brill, Klein und deren Schülern sind hier zu nennen, insbesondere auch die von Lindemann zusammengefaßten und weitergeführten Clebschschen Vorlesungen über Geometrie. Unter dem Impuls von Brill und Klein entstanden im Mathematischen

Institut

der Münchener

Technischen

Hochschule

zahlreiche

Modelle und graphische Darstellungen in dieser Richtung. Die Sammlung wurde weiterhin ausgedehnt auch auf anschauliche Darstellungen im Gebiete der Funktionentheorie, der konformen Abbildung, der Krümmungstheorie (Finsterwalder) wie endlich der mathematischen Physik. Seit einigen Jahrzehnten hat sich die geometrische

Forschung dann mit

Problemen beschäftigt, die man etwa als eine Differentialgeometrie im

großen

bezeichnen könnte. Hier sind vor allem Liebmann und die Schule von Blaschke zu nennen. Es handelt sich darum, aus bekannten Differentialeigenschaften einer Fläche auf Eigenschaften, die der Fläche als Ganzes zukommen, zu schließen. Einer der originellsten Geometer unserer Epoche war E. Study, der in seinen » V o r l e s u n g e n ü b e r a u s g e w ä h l t e G e g e n s t ä n d e d e r G e o m e t r i e « im besonderen eine Geometrie im komplexen Gebiet —

eine Verallgemeinerung und Weiter-

führung der v. Staudtschen Darstellung imaginärer Elemente durch reelle — ausgebildet hat. W i r schließen diese aphoristischen Bemerkungen mit dem Hinweis auf die interessante Rolle, welche die reine Mathematik bei der Entwicklung der R e l a t i v i t ä t s t h e o r i e gespielt hat. Schon bei Gelegenheit seines Habilitationsvortrages (1854) hatte Riemann eine allgemeine Theorie des Raumes entworfen, die eine geniale Weiterführung der Ideen von G a u ß in der Flächentheorie darstellte. Später hat er dann in Beantwortung einer Preisfrage der Pariser Akademie (1861) das Formelsystem für eine Krümmungstheorie ganz allgemeiner

n-dimensionaler Räume

entworfen. Diese

Gedanken

waren zuerst so knapp dargestellt, daß sie zunächst gar nicht verstanden wurden. Erst nach dem Tode Riemanns konnten verschiedene Mathematiker, u. a.Christoffel, den Sinn der Riemannschen Theorie aufdecken; im besondern haben die Italiener Ricci und Levi-Civita sie zur Grundlage einer ausgedehnten Wissenschaft gemacht, die man heute absoluten Differentialkalkül oder auch T e n s o r r e c h n u n g

nennt.

Das Werk von A . Einstein zerfällt in zwei Teile. Im ersten wird gezeigt, daß die Galileische und Newtonsche Mechanik in jedem Falle nur annäherungsweise die Erscheinung der Natur darstellen kann, weil in dieser Mechanik der Begriff eines absolut ruhenden oder bestenfalls eines sich gleichförmig bewegenden Raumes postuliert wird und dieser Begriff mit dem Experiment von Michelson über die

Mathematik

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Geschwindigkeit der Lichtverbreitung in verschiedenen Richtungen in Widerspruch steht. Nachdem H. A. Lorentz eine mathematisch einwandfreie, aber physikalisch nicht sehr plausible Erklärung dieses Experimentes gegeben hatte, gab Einstein diesen Dingen eine ganz neue Wendung, indem er in genialer Weise den hoffnungslos verwirrten Knoten durchschlug. Die ersten Arbeiten Einsteins waren mehr qualitativ, und es war das Verdienst H. Minkowskis, sie zu einer klaren und widerspruchsfreien mathematischen Theorie zu gestalten. Einstein sah nun sehr bald ein, daß diese neue Mechanik, deren Hauptzug darin bestand, den dreidimensionalen Raum mit derZeit zu einem vierdimensionalen Kontinuum mit eigenartiger Metrik zusammenzufassen, auch zu einer befriedigenden Lösung des Gravitationsproblems fuhren müßte. Das Wunder der Fernwirkung, das schon Newton so großes Kopfzerbrechen verursacht hatte und das man seit mehr als 200 Jahren nur deshalb als etwas Selbstverständliches hingenommen hatte, weil man nichts Besseres an die Stelle setzen konnte, sollte nunmehr aufgeklärt werden. Einstein hatte die Intuition, daß die Gravitation mit der Krümmung des Zeitraumkontinuums in Zusammenhang gebracht werden müßte, und da fand er, daß Riemann ihm vorgearbeitet und genau die Theorie geschaffen hatte, die er brauchte. So entstand die A l l g e m e i n e R e l a t i v i t ä t s t h e o r i e , ein Lehrgebäude, das zwar noch nicht alles gibt, was man zum Aufbau eines geschlossenen Bildes des Universums braucht, dessen Leitlinien aber so fest gezeichnet sind, daß sie nie mehr aus der Wissenschaft verschwinden werden. Das Bild, das wir von der Entwicklung der Mathematik in den letzten fünfzig Jahren skizziert haben, ist notgedrungen lückenhaft. Große und wesentliche Gebiete, wie etwa die W a h r s c h e i n l i c h k e i t s r e c h n u n g , die für die Mathematische Physik von Tag zu Tag wichtiger wird, sind nicht erwähnt worden. Wir haben ebenfalls von der Diskussion über die Grundlagen, die von Poincaré eingeleitet hauptsächlich in den letzten Jahren von Brouwer getragen wird und die gerade die ernsthaftesten Gemüter bewegt, abgesehen; hier ist alles noch im Fluß. Auch im einzelnen ist die getroffene Auswahl durchaus zufallig und subjektiv. Gleichwohl wird, wie wir hoffen, die Darstellung genügen, um den Reichtum der Gebiete und Probleme zu kennzeichnen, welche die mathematische Forschung ihrem Wesen nach in den Kreis ihrer Betrachtungen ziehen mußte und gezogen hat; sie wird die Notwendigkeit verständlich machen, zur Sicherung der Schlußweisen ihre Methoden immer schärfer zu gestalten, ihre Grundlagen immer erneut zu prüfen und zu festigen. Damit aber erweitern sich ihre Aufgaben und gewinnen sub specie aeternitatis eine erhöhte Allgemeinheit. In diesem Sinne zeigt Hilbert in seinem Aufsatz »Über das Unendliche«, »wie die endgültige Aufklärung über das W e s e n des U n e n d l i c h e n weit über den Bereich spezieller fachwissenschaftlicher Interessen vielmehr z u r E h r e des menschlichenVerstandes selbst notwendig geworden ist«. »Das Unendliche«, fahrt er fort, »hat wie keine andere Frage von jeher so tief das Gemüt des Menschen bewegt; das Unendliche hat wie kaum eine andere Idee auf den Verstand so anregend und fruchtbar gewirkt, das Unendliche ist aber auch wie kein anderer B e g r i f f so der Aufklärung bedürftig«.

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Constantin Carathéodory und Walther von Dyck

Damit wird nun verständlich, wie im Gegensatz zu den mathematischen Bestrebungen früherer Perioden uns nun allerwärts — von der umfassenden Gedankenwelt von Gauß beginnend — gerade das Ineinandergreifen der verschiedenen Gebiete, ihre gegenseitige Befruchtung, die Zurückführung ihrer Grundlagen auf die einfachsten gemeinsamen Voraussetzungen fesselt. Die Spezialisierung auf ein einziges Kapitel der Mathematik hat trotz der großen Vermehrimg der Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigt, nahezu aufgehört. Erscheinungen, wie die von Steiner, der ausschließlich geometrisch dachte und auch die kleinste Rechnung verpönte, oder die von Gordan, dessen ausschließliches Interesse der algebraischen Invariantentheorie galt, sind seit Jahrzehnten kaum mehr vorhanden. Ganz wesentlich hat zu solcher Entwicklung der Einfluß von F. Klein beigetragen, der von seinem Erlanger Programm beginnend mit genialer Intuition die gemeinsamen Eigenschaften verschiedenster Gedankenkreise herauszuschälen und so wesentliche von unwesentlichen Merkmalen zu trennen wußte. Solche Absicht liegt der Reihe von Vorlesungen zugrunde, welche Klein über die verschiedensten Gebiete der Mathematik in Leipzig und Göttingen gehalten hat. Sie kommt zum Ausdruck zumal in den Einleitungen, die Hilbert jeweils seinen fundamentalen Werken vorangestellt hat. Eine Reihe wertvoller Lehrbücher — wie etwa das von Osgood über Funktionentheorie — tragen diesen allgemeinen, die Einzelgebiete zusammenfassenden Charakter. Nach der Seite der Methodik und der Erkenntnistheorie sind hier einzureihen die eindringlichen Ausführungen von Voß »Über das Wesen der Mathematik« und »Über die mathematische Erkenntnis«. In der gleichen Absicht hat H. Weyl »Die Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft« in dem von A. Baeumler und M. Schröder herausgegebenen Handbuch der Philosophie entwickelt. Die D e u t s c h e M a t h e m a t i k e r - V e r e i n i g u n g hat seit ihrer Gründung (1891) eine ihrer bedeutungsvollsten Aufgaben darin gesehen, eingehende Berichte über weite Gebiete der Mathematik zu veranlassen, in welchen auch der historischen Entwicklung Rechnung getragen wird. Wir führen, um ein Bild dieser Bestrebungen zu geben, hier außer den schon früher erwähnten Referaten von Hilbert und Schönflies noch an: Franz Meyers Bericht über den gegenwärtigen Stand der Invariantentheorie (1892), A. Brills und M. Nöthers eingehende Darstellung der »Entwickelung der Theorie der algebraischen Funktionen in älterer und neuerer Zeit* (1897), E. Kötters »Entwicklung der synthetischen Geometrie von Monge bis Staudt« (1897), sodann aus den Gebieten der angewandten Mathematik S. Finsterwalders »Geometrische Grundlagen der Photogrammetrie« und dessen »Mechanische Beziehungen bei der Flächendeformation« (1898) sowie K. Heuns »Kinetische Probleme der wissenschaftlichen Technik«. Endlich neben Zindlers Referat über den gegenwärtigen Stand der Liniengeometrie den ungemein sorgfaltigen Bericht von H. Burkhardt über die »Entwicklungen nach oszillierenden Funktionen und die Integration der Differentialgleichungen der mathematischen Physik« (1908). In der »Enzyklopädie der M a t h e m a t i s c h e n W i s s e n s c h a f t e n und ihrer A n w e n d u n g e n « endlich ist ein riesiges Nachschlagewerk erwachsen, das unter den Auspizien des Kartells der Deutschen Akademien erscheint. Dieses

Mathematik

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Werk, dessen erste Lieferung 1898 herausgegeben worden ist, steht erst jetzt vor seinem Abschluß und wäre wohl für immer nur ein Bruchstück geblieben, wenn nicht Klein nahezu drei Jahrzehnte lang einen großen Teil seiner Kraft in dessen Dienst eingesetzt hätte. Es gliedert sich nominell in sechs Bände, die alle Schattierungen der reinen und angewandten Mathematik (im großen geteilt in Arithmetik und Algebra, Analysis, Geometrie, Mechanik, mathematische Physik, Geodäsie und Geophysik und Astronomie) umfassen. In Wirklichkeit sind es 24 Bände geworden, von denen einige über 1200 Seiten enthalten. Die erste Idee eines mathematischen »Lexikons«, aus dem dann die Enzyklopädie entstand, ist 1894 von Franz Meyer aufgeworfen worden und hängt mit dem Wunsche zusammen, am Ende des XIX. Jahrhunderts die Ergebnisse der mathematischen Forschung der letzten 100 Jahre übersichtlich zusammenzufassen. Man kann vielleicht der Enzyklopädie, an welcher sich die meisten unter den namhaften Mathematikern Deutschlands und eine Anzahl Ausländer beteiligt haben, vorwerfen, daß sie während zu langer Zeit die Kräfte von zu vielen talentierten Menschen gebunden und sie gezwungen hat, historische Studien zu treiben, anstatt vorwärts zu schauen. Aber es steht auf der anderen Seite fest, daß die Enzyklopädie unschätzbare Dienste bei der Forschung leistet, weil sie die Kenntnisse eines Jeden zu vervielfältigen vermag. Dazu kommt, daß sie, besonders in den letzten Teilen, die ausführlicher und mehr in genetischer Darstellung gefaßt sind, vielfach Neues und Neuestes in gegenseitigem Zusammenhang bietet. So eröffnen sich auch von liier aus und aus der Fülle des Gebotenen heraus neue Wege für den Fortschritt der Wissenschaft, wenn wir nur das Endziel aller wissenschaftlichen Forschung über dem gewaltigen Stoff und seinen Einzelheiten im Auge behalten. Hermann Diels hat diesem Gedanken bei Gelegenheit der Jubelfeier der Preußischen Akademie der Wissenschaften den schönen Ausdruck gegeben: »Wir sind es müde, bloß Stoffe zu sammeln, wir wollen geistig des Materials Herr werden; wir wollen durchdringen durch die Einzelheiten zu dem, was doch der Zweck der Wissenschaft ist: zu einer allgemeinen, großen Weltanschauung.«

RUDOLF SCHENCK ARBEITSGEMEINSCHAFT UND GEMEINSCHAFTSARBEIT IN NATURWISSENSCHAFT UND TECHNIK Das Nachdenken über die Wege, welche zu dem heutigen Stande der wissenschaftlichen Erkenntnis und zu deren Nutzbarmachung für die Menschheit in Landwirtschaft, Medizin und Technik führten, wird unter allen Umständen ergeben, daß die Entwicklung der reinen und angewandten Naturwissenschaften, wie sie uns deren Geschichte zeigt, nur durch das Zusammenwirken Vieler ermöglicht worden ist; der Kontakt der Geister und ihre Resonanz gehören zu den wesentlichen Vorbedingungen einer reichen und kraftvollen Entfaltung jedes Gebietes der menschlichen Kultur. Wo diese Bedingungen fehlten, wie in der Frühzeit der Physik und der Chemie, blieben selbst bedeutsame Beobachtungen und Erkenntnisse von Zusammenhängen ohne Wirkung, so daß die gleiche Entdeckung nicht selten an verschiedenen Orten in beträchtlichem Zeitabstande in völliger Unabhängigkeit der Beobachter voneinander gemacht werden konnte. Die Beschäftigung mit solchen Dingen galt ja als persönliche Liebhaberei oder als das Zeichen einer Sonderlingsnatur, manchmal gar als das eines Bündnisses mit dem Teufel; auffallende Erscheinungen erregten wohl flüchtiges Interesse und wurden als Kuriositäten gezeigt; nur, wo man Gold erhoffte, fanden sich Gönner und Förderer ein. Aber gerade diese waren ernstlich darum bemüht, die Kunde von Erfolgen ihrer Günstlinge nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Der Zusammenschluß der wissenschaftlich Interessierten in den Societäten und Akademien, der Austausch von Erfahrungen und Gedanken durch wissenschaftliche Korrespondenz und schließlich die Entstehung wissenschaftlicher Zeitschriften, welche die Verbreitung neuer Erkenntnisse wesentlich beschleunigten und erleichterten, brachten ein lebhafteres Tempo in den Gang der Ereignisse. Die öffentliche Mitteilung aller neuen Erfahrungen begünstigte zusammenfassende Darstellungen der einzelnen Wissensgebiete und die Abfassung systematischer Lehrbücher, welche neue Kreise und vor allem die junge Generation in die Wissenschaft einführten und ihr neue Jünger gewannen. Von mindestens gleichem Werte wie alle Literatur erwies sich für das Voranschreiten der Wissenschaft das lebendige Vorbild des in der Forschung aufgehenden akademischen Lehrers. Gedanken über die hohe Bedeutung unserer wissenschaftlichen Lehranstalten nach dieser Richtung und über die für sie zu schaffende Organisationsform hat uns Wilhelm von Humboldt in einer unvollendeten, aber klassischen Denkschrift aus dem Jahre 1809/10 hinterlassen. Auch die heutige Zeit muß ihren Sätzen zustimmen. »Da aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloß, damit Einer ersetze, was dem Andern mangelt, sondern damit die gelingende Tätigkeit des Einen den Andern begeistere und Allen die allgemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muß die innere Organisation dieser Anstalten

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ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten. Es ist ferner eine Eigentümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten, daß sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben . . . Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler wird daher durchaus ein anderes als vorher. Der erstere ist nicht für die letzteren, beide sind für die Wissenschaft da«. Als integrierende Glieder der höheren wissenschaftlichen Anstalten betrachtet Humboldt neben der Akademie und der Universität die »Hülfsinstitute«, die »leblosen«, wie er sie noch nennt. Das Verdienst, ihnen regstes Leben eingehaucht und sie zu einem der bedeutendsten Faktoren für die Naturwissenschaften gemacht zu haben, müssen wir Justus Liebig zuerkennen. Das von ihm im Jahre 1825 in Gießen eröffnete unscheinbare Laboratorium ist der Ausgangspunkt für eine mächtige Entwicklung geworden. Er hat den Weg gewiesen für die Ausbildung und Erziehung von Forschern, vorbildlich nicht nur für die Chemie, sondern auch für alle anderen Zweige der Naturwissenschaften. Die Vereinigung von Lehr- und Forschungsstätte, wie er sie schuf, entspricht ganz dem von Humboldt — in erster Linie wohl für die Geisteswissenschaften — aufgestellten Ideale. Jahrzehnte hindurch verblieb, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die experimentelle Forschung in Deutschland den Instituten der Hochschulen; grundlegend sind die in ihnen gemachten Entdeckungen und groß die Bereicherung, welche die Wissenschaft durch ihre fruchtbare Tätigkeit erfahren hat. Aber nicht nur die reine Erkenntnis wurde durch sie gefördert; die Enthüllung der Gesetze, denen die Naturkräfte folgen, weckte auch das Streben, sie zu beherrschen und der Menschheit dienstbar zu machen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten naturwissenschaftlich gebildete, erfinderische und tatkräftige Männer neue Industrien, deren Erzeugnisse dem Verkehr und der Landesverteidigung zugute kamen oder gestatteten, die Nachfrage der Gewerbe nach neuen Werkstoffen zu befriedigen, Krankheiten zu heilen und die Ertragsfähigkeit des Bodens um ein Beträchtliches zu steigern. In diesen Kreisen rang sich die Einsicht durch, daß »die Begünstigung der naturwissenschaftlichen Forschung in eminentem Grade eine Förderung der materiellen Interessen des Landes« bedeutet (Werner v. Siemens). Es war daher folgerichtig, wenn man zunächst die Aufmerksamkeit der staatlichen Instanzen auf die Möglichkeiten lenkte, welche sich hier für die Hebung der Volkswohlfahrt boten, und sie zu bewegen suchte, für eine solche Begünstigung die zweckdienlichen Einrichtungen zu schaffen. Bald nach der Beendigung des deutschfranzösischen Krieges — am 30. Juli 1872 — machte Schellbach, unterstützt von Helmholtz, Du Bois Reymond, Paalzow, Bertram und Foerster, den ersten Vorstoß durch Einreichung von Vorschlägen für die Errichtung eines der Förderung der exakten Wissenschaft und der Präzisionstechnik dienenden Staatsinstitutes. Die Anregungen fanden das Interesse des Kronprinzen Friedrich und des großen Generalstabes, dem das Zentraldirektorium für die Vermessungen im preußischen Staate angegliedert war, und es kam in der Folge zur Ausarbeitung mehrerer Denkschriften durch den Astronomen Foerster, in denen die Notwendigkeit, gleichermaßen die Präzisionsmechanik wie die wissenschaftliche Forschungsarbeit zu

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unterstützen, betont wurde. Die in ihnen niedergelegten Gedanken sind im preußischen Handels- und im Finanzministerium wohlwollend erwogen worden und haben im Zusammenhang mit Plänen, das Institut mit der Gewerbeakademie in enge Fühlung zu bringen und die verschiedenen technischen Anstalten zu einer technischen Hochschule zu vereinigen, den Landtag beschäftigt. Ein Erfolg aber blieb den Bemühungen durch ein volles Jahrzehnt hindurch versagt. Fast hat es den Anschein, als sei die Zeit für die wissenschaftlichen Großunternehmungen damals noch nicht gekommen gewesen. Der Ausbau der Wissenschaftsorganisationen ist charakteristisch für das letzte hinter uns liegende Halbjahrhundert. Erst als dessen Grenze überschritten war, als gedankenreiche Gutachten von Helmholtz und von Werner v. Siemens zu erneuten Eingaben klar dargelegt hatten, was vor allem not sei, und als die Wirtschaft das Anerbieten machte, einen großen Teil der Lasten selbst zu übernehmen, war die Ausführung der alten Pläne, wenn auch in wesentlich veränderter Gestalt, gesichert. Durch Hergabe reicher Mittel brachte Werner v. Siemens die Gründung einer Physikalisch-Technischen Reichsanstalt zustande. Unter Würdigung der großen nationalen Bedeutung des Planes verzichtete das preußische Kultusministerium auf seine alten Ideen, das Institut mit der Technischen Hochschule in Charlottenburg zu vereinigen. Man teilte mit Siemens die Meinung, eine Anstalt des Reiches werde dazu helfen, »die wissenschaftlichen Leistungen unserer Nation in die Höhe zu bringen und zu erhalten, und derselben dadurch unter den Kulturvölkern eine Ehrenstellung sichern«. Wissenschaft, Wirtschaft und Reich sollten in ihr zusammenwirken, um die Lösung grundlegender Probleme zu ermöglichen, deren Bewältigung wegen der Kostbarkeit der Hilfsmittel, der Unzulänglichkeit der Räume oder des Mangels an freier Arbeitszeit über die Kraft der Hochschullaboratorien oder einzelner auf ihre Privatmittel angewiesenen Beobachter weit hinausging. »Einer Nation*, sagt Helmholtz, »die durch ihre Macht und Intelligenz eine der hervorragendsten Stellen unter den zivilisierten Völkern einnimmt und zu bewahren hat, ist es offenbar nicht würdig, die Sorge für die Beschaffung solcher grundlegenden Kenntnisse anderen Nationen oder der zufalligen Liebhaberei einzelner günstig situierter Privatmänner zu überlassen«. Die Hauptsache ist ihm die Errichtung einer wissenschaftlichen Abteilung in dem zu begründenden Institute, für welche er eine Reihe fundamentaler, hohe Anforderungen an die Präzision ihrer Durchführung stellender Forschungsaufgaben angibt. In der Mitarbeit an diesen Messungen sieht er auch ein vortreffliches Mittel zur Schulung eines Nachwuchses, dem die Gelegenheit geboten würde, die Anwendung möglichst vollkommener Methoden und Hilfsmittel kennen zu lernen. Von den auf den verschiedensten physikalischen Gebieten anzustellenden Präzisionsarbeiten verspricht er sich zwangsläufig eine Leistungssteigerung der Präzisionsmechanik; er begründet seine Ansicht durch den Hinweis auf die praktische Optik, die höhere Uhrmacherei und die Verfeinerung der Längen- und Winkelmessung, welche sich an den von der Astronomie gestellten Aufgaben entwickelt hätten. Die Wechselwirkung zwischen den Fortschritten in Physik und Chemie und denen in Präzisionsmechanik und Instrumentenbau wird heute allgemein aner-

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kannt. »Ex ingenio instrumentum, ex instrumento ingenium« lautet eine knappe Münchener Formulierung für diese Erkenntnis. Das Zurverfügungstehen zuverlässiger Instrumente mit bekannter Genauigkeitsgrenze enthebt den experimentierenden Forscher viel unfruchtbarer Nebenarbeit und ermöglicht ihm die volle Konzentration auf sein Problem. Deshalb bedeutet die Einrichtung der technischen Abteilung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt mit ihren Eichstellen für physikalische Meßinstrumente der verschiedensten Art eine ganz außerordentliche Wohltat und wertvolle Förderung für die exakte Forschung im gesamten Reiche. Andererseits hat die Abteilung der Instrumente bauenden Industrie auf Grund ihrer eigenen technisch-wissenschaftlichen Untersuchungen viel wichtige Anregungen zur Erhöhung der Präzision und der Brauchbarkeit zu geben vermocht. Vollkommen kann man E. Warburg beipflichten, wenn er anerkennt, daß die Entwicklung der Anstalt der von Siemens ihr gestellten Aufgabe, die Wissenschaft in die Technik hineinzutragen, entsprochen habe. Aber auch manch wertvolle, rein wissenschaftliche Arbeit ist in der im Jahre 1890/91 eröffneten Anstalt entstanden; es genügt, aus der großen Zahl allein die grundlegenden Untersuchungen über die Strahlungsgesetze herauszugreifen. Das Siemenssche Vorgehen zur Steigerung der Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Technik hat auch an anderen Orten Gedankengänge ausgelöst über die möglichen Wege, dieses Ziel zu erreichen. Das bedeutsame Problem hat zweifellos mehr als eine Seite. Das Wesentliche der Helmholtz- Siemensschen Idee liegt darin, daß die großen, in einem Hochschullaboratorium nicht durchführbaren Forschungsaufgaben einem besonderen, mit allen Hilfsmitteln ausgestatteten, mit Unterrichtsaufgaben nicht belasteten Institute zuzuweisen seien. Es schließt das natürlich nicht aus, daß in allen Fällen, wo die wissenschaftlichen Probleme mit bescheideneren experimentellen Hilfsmitteln und guter theoretischer Vorbildung gelöst werden können, auch die Institute der Hochschulen und Universitäten der Verwirklichung eines engeren Hand in Hand Arbeitens mit der Technik wertvolle Dienste leisten. Die Entwicklung der sehr nahen Beziehungen zwischen der Chemischen Großindustrie und der chemischen Wissenschaft an den deutschen Universitäten spricht ja für die Richtigkeit dieses Gedankens. Hier liegt der Ausgangspunkt für die Bestrebungen des Göttinger Mathematikers Felix Klein. In einem Briefe an Dr. Schrödter, den Geschäftsführer des Vereins deutscher Eisenhüttenleute, vom 10. März 1894, in dem er um Einführung bei der Firma Krupp bittet, kennzeichnet er seine Absicht: »Ich will den Kontakt mit der Technik, den die Universitäten auf dem Gebiete der Chemie besitzen, gleicherweise auf dem Gebiet der Physik und der Mathematik herstellen und wünsche, daß mir die Technik selbst in Anbetracht der Vorteile, die sie davon erwarten kann, durch Gewährung von Mitteln zur Durchführung des Planes behilflich sei.« Sein Plan sah die Errichtung eines Physikalisch-Technischen Instituts an der Universität Göttingen vor, dessen Aufgabe die tiefgehende Einführung gut veranlagter Techniker in die mathematischen und physikalischen Naturwissenschaften und die Erforschung der allgemeinen wissenschaftlichen Grundlagen der Technik sein sollte. Von der Ausbildung von Studierenden der technischen Fächer in größerem 1 9 Fotachrift Schmidt-Ott

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Umfange, — welche Sache der Technischen Hochschulen sei —, sollte abgesehen werden und ebenso von der Durchfuhrung praktisch wissenschaftlicher Versuche. Von dem Vorhandensein einer Zahl von Ingenieuren mit vertiefter naturwissenschaftlicher Schulung versprach er sich eine Leistungssteigerung der Industrie hinsichtlich der Qualität ihrer Erzeugnisse. Er hatte Grund, auf eine günstige Aufnahme und Förderung seiner Pläne durch die preußische Unterrichtsverwaltung zu rechnen — »aber, es reizt mich«, so schreibt er, »die Sache einmal anders zu versuchen. Es muß doch nicht alles in unserm Vaterlande von oben regiert werden, und eine freie Unterstützung der Wissenschaft aus den unabhängigen Kreisen derjenigen, die es zunächst angeht, will mir auch unter allgemeinen Gesichtspunkten ein Fortschritt scheinen«. In der »Göttinger Vereinigung f ü r angewandte Physik und Mathematik«, welche nach mancherlei Umbildungen der ursprünglichen Pläne Kleins am 26. Februar 1898 in das Leben trat, erstand zum ersten Male in Deutschland eine Organisation, in welcher Männer aus den verschiedensten Zweigen der Wirtschaft mit den führenden wissenschaftlichen Kräften einer Universität zusammenwirkten, um für die Lösung technisch-wissenschaftlicher Aufgaben die Vorbedingungen zu schaffen. Sie hat das auch für die spätere Entwicklung der deutschen Wissenschaftsorganisationen bedeutsame Verdienst, die beiden Lebenskreise in menschlich-freundschaftliche Fühlung gebracht und das Zusammenarbeiten im wesentlich erweiterten Rahmen vorbereitet zu haben. Auch hat sie zweifellos bei den Universitätsprofessoren durch den Besuch mustergültiger technischer Werke das Verständnis für die Technik, ihre Aufgaben und ihre Arbeitsweise geweckt. In uneigennütziger Weise und in rastlosem Bemühen, sie zu fördern, hat sich der erste Vorsitzende der Vereinigung, der Großindustrielle Henry Th. v. Böttinger, der Kleinschen Schöpfung angenommen; er hat es verstanden, ihr immer von Neuem Mitglieder zuzuführen und die Mittel herbeizuschaffen, welche die sich ständig erweiternden physikalisch-technischen Einrichtungen in Göttingen benötigten. Am 20. Gedenktage der Gründung gehörten der Vereinigung aus den Kreisen der Wirtschaft 45 Mitglieder an, und der Vorsitzende ließ zur Erinnerung an diese Feier eine Medaille schlagen, deren Vorderseite als Symbol des einträchtigen Zusammenarbeitens eine bildliche Darstellung des Bundes zwischen Merkur und Minerva trägt. Das Zusammenwirken der privaten Vereinigung mit der preußischen Unterrichtsverwaltung erfolgte in der Weise, daß die Gebäude und ihre Einrichtungen von der Gesellschaft unter der Voraussetzung gestellt wurden, daß der Staat durch Schaffung von ordentlichen Professuren für die neuen Fächer die Besoldung der Institutsleiter gewährleistete. Es entstanden die Institute für angewandte Mathematik, für angewandte Mechanik, welches später auch die Hydro- und Arodynamik mit umfaßte, für angewandte Elektrizitätslehre und für Geophysik mit ausgezeichneten Wissenschaftlern als Leitern. Die Männer der preußischen Unterrichtsverwaltung, denen in jenen Jahren die Sorge für alle wissenschaftlichen Bestrebungen oblag, Fr. Althoff, Otto Naumann und Fr. Schmidt (Ott) haben sich stets als treue Freunde und tatkräftige Förderer der Vereinigung bewährt und sich als verständnisvolle und würdige Nachfahren Wilhelm v. Humboldts erwiesen.

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Des letzteren hohe Auffassung von der Stellung, welche der Staat gegenüber Wissenschaft und Forschung zu beobachten habe, kann man in der bereits oben angeführten Denkschrift kennen lernen. Es lohnt, seine Sätze darüber auch hier wiederzugeben. »Er (der Staat) muß sich eben immer bewußt bleiben, daß er nicht eigentlich dies (d. h. das geistige Leben des Menschen und das Streben nach Wissen und Forschen) bewirkt noch bewirken kann, ja, daß er vielmehr immer hinderlich ist, sobald er sich hineinmischt, daß die Sache an sich ohne ihn unendlich besser gehen würde und daß es sich eigentlich nur so damit verhält, daß, da es nun einmal in der positiven Gesellschaft äußere Formen und Mittel für jedes ausgebildete Wirken geben muß, er die Pflicht hat, diese auch für die Bearbeitung der Wissenschaft herbeizuschaffen.« Hieraus folgt weise Zurückhaltung des Staates, wenn Formen und Mittel sich von selbst darbieten, wenn Selbstverwaltung und freies Spiel der Kräfte in Wissenschaft und Forschung deren gesunde, ihren inneren Gesetzen gemäße Entwicklung gewährleisten. All dem ist gegenüber der Göttinger Vereinigung Rechnung getragen worden. Felix Klein rühmt Fr. Althoffs schöpferischen Geist, »wie er die Anforderungen, welche die Neuzeit an die Hochschulen stellt, in großem Uberblick umfaßt, wie er es versteht, aus dem Einzelnen, dem er Vertrauen geschenkt, die höchste Leistungsfähigkeit herauszuholen und dann wieder die finanziellen und verwaltungstechnischen Schwierigkeiten, die sich der Durchführung der anzustrebenden Einrichtungen entgegenstellen, mit immer neuen Methoden doch siegreich zu überwinden.« Sehr bald nach der Gründung der Göttinger Vereinigung gab die Hundertjahrfeier der Technischen Hochschule in Chatlottenburg (am 20. Oktober 1899) den Männern der Wirtschaft erneute Gelegenheit, sich auf Anregung E. Borsigs zur Förderung der technischen Wissenschaften zu vereinigen, wie es in der Adresse lautet, »in der Erkenntnis, daß, je mehr die Technik in bisher unbekannte Gebiete vordringt, je mehr der Wettkampf auf dem Weltmarkte rasche und entscheidende Fortschritte von ihr verlangt, um so mehr auch in Zukunft die Industrie auf Rat und Hilfe der wissenschaftlichen Forschung angewiesen sein werde und beseelt von dem Wunsche, daß künftighin bei uns jederzeit Wissenschaft und ausübende Tatkraft Hand in Hand miteinander voranschreiten mögen.« Die von ihnen begründete »Jubiläumsstiftung der deutschen Industrie« belief sich auf anderthalb Millionen Mark, aufgebracht von mehreren hundert Stiftern. Ein Kuratorium, zu gleichen Teilen aus Professoren aller deutschen technischen Hochschulen und Bergakademien sowie aus Vertretern der Industrie aus dem ganzen Reiche zusammengesetzt, hatte über die Geldmittel der Stiftung zu verfügen und sah sich in der glücklichen Lage, für hervorragend wichtige, insbesondere auch nationale Aufgaben, welche innerhalb Deutschlands nach der Lösung verlangten, freigebig reich bemessene Beträge zur Verfügung zu stellen. Ein Denkmal opferwilligen Gemeinsinns ist das »Deutsche Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik« in München, geplant und angeregt von Oskar von Miller und dazu bestimmt, »den Einfluß der wissenschaftlichen Forschung auf die Technik darzustellen und die historische Entwicklung der 19*

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verschiedenen Industrien, insbesondere durch hervorragende und typische Meisterwerke zu veranschaulichen«. Nicht die direkte Förderung der Forschung ist sein Ziel, sondern die Erziehung und Bildung von Menschen. Mit ungewöhnlicher Energie hat der Schöpfer des Werkes seine Ideen verwirklicht. Am i. Mai 1903 hat er sie einem engeren Kreise von maßgebenden Vertretern der staatlichen und städtischen Behörden und von hervorragenden Männern der Wissenschaft und der Technik durch ein Rundschreiben bekanntgegeben. Ihre Zustimmung ließ ihn sofort an die Vorbereitungen herangehen mit dem Erfolge, daß ihm bald die ersten beträchtlichen Summen zur Bildung eines Vermögensgrundstockes zuflössen und von der Stadt München Grund und Boden zur Verfügung gestellt wurden. Am 28. Juni bereits, d. h. nach kurzen acht Wochen, konnte unter dem Vorsitz des Prinzen Ludwig, des späteren Königs Ludwig III. von Bayern, die Gründung des Museums endgültig beschlossen und das Verwaltungsstatut angenommen werden. Dank dem großen Interesse, welchem der Gedanke O. v. Millers überall in Deutschland begegnete, sammelten sich bald wertvolle Original-Apparate und Maschinen in München an; belehrende und das Verständnis weckende Modelle, Zeichnungen, Tabellen und Erläuterungen kamen hinzu. Diese Objekte wurden in provisorischen Räumen übersichtlich aufgestellt, und bereits am 13. November 1906 konnten die Sammlungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Ihre ersten Besucher waren das deutsche Kaiserpaar und das bayerische Fürstenhaus, welche auch der Grundsteinlegung zu dem endgültigen Heim auf der Museumsinsel in der Isar beiwohnten. Der fertige Bau öffnete seine Pforten erst im Mai 1925; schwerste Stürme waren über Deutschland und mit ihm über Bayern und München dahingegangen, und oft genug haben sich die Hindernisse getürmt, daß ihre Überwindung unmöglich und die Einstellung der Arbeit unvermeidlich schien. Aber — sie wurde zum guten Ende geführt, dank dem festen und unerschütterlichen Willen ihres geistigen Vaters und dank dem hohen Idealismus und der Opferfreudigkeit aller derer, welche helfen konnten in Reich, Staat, Wirtschaft und Wissenschaft. O. v. Miller wurde von denen, auf die er vertraut, nicht im Stiche gelassen. Das monumentale Werk, dessen Schlußstein ein in den Mauern heute schon fertiger Studienbau mit einer Zentralbibliothek für Technik, Mathematik und Naturwissenschaften, einer Plansammlung und einem Archiv bilden soll, wird nach seiner Vollendung alles enthalten, was weiten Kreisen des Volkes Belehrung und Anregung bietet oder dem einzelnen historische Forschungen und das Studium spezieller Fachfragen ermöglicht, wie kein anderer Ort sonst. Zu einem Mittelpunkte hoher Kultur ist das Deutsche Museum nicht zuletzt durch seine Jahresversammlungen und seine die Marksteine der Entwicklung betonenden, unvergleichlichen Feste geworden, bei denen die Münchener Kunst bald in zarter, bald in vollsaftiger Weise Wissenschaft und Technik umrankte. Gemeinsame Freude aber führt die Menschen zusammen und stärkt die Bereitschaft zu gemeinsamem Wirken. Wenn die Gedanken der Öffentlichkeit auf die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik und auf ihre Bedeutung für das Leben der Völker gerichtet werden, können auch Überlegungen darüber nicht ausbleiben, wie in groß-

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zügiger Weise dem Fortschritt der beiden Gebiete zu dienen sei. Daher hat es in dem zweiten Jahrfünft unseres Jahrhunderts nicht an Vorschlägen gefehlt, den Ausbau der naturwissenschaftlichen und technischen Forschung herbeizuführen, und auch nicht an Versuchen, das Interesse der höchsten Stelle des Reiches dafür zu gewinnen. Die vorgeschlagenen Wege erwiesen sich bei der Nachprüfung durch die preußische Unterrichtsverwaltung nicht als ohne weiteres gangbar, aber die bei der Göttinger Vereinigung, wenn auch an einem verhältnismäßig einfachen Beispiele gemachten Erfahrungen lieferten Gesichtspunkte, unter denen auch das große Ziel erreichbar erschien. Die Errichtung selbständiger Forschungsinstitute für die verschiedenen Zweige der reinen und angewandten Naturwissenschaften und die Heranziehung der Wirtschaft für ihre Errichtung und Unterhaltung versprach die Lösung des großen Problems zu werden. Als zwei Jahre nach Fr. Althoffs Tode das Unternehmen gesichert war, konnte der Chef des Kaiserlichen Zivilkabinetts, v. Valentini, der Witwe schreiben: »Der Kaiser hat jetzt seine Initiative eingesetzt, um einen der fruchtbringendsten Gedanken Althoffs, die freien Forschungsinstitute, in die Wirklichkeit zu überführen«. Den Erwägungen Althoffs und seiner Mitarbeiter begegneten ähnliche des Geschichtsschreibers der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Berlin, Adolf Harnacks. Ihm hatte 20 Jahre zuvor bei der Aufnahme in die Akademie Theodor Mommsen die Begrüßungsansprache gehalten und in ihr rühmend hingewiesen auf Harnacks Gabe, »jüngere Genossen zu fruchtbarer Arbeitsgemeinschaft zu gewinnen und bei derjenigen Organisation, welcher die heutige Wissenschaft vor allem bedarf, als Führer aufzutreten«. Mommsen hat bei dieser Gelegenheit seine Gedanken entwickelt über die Großwissenschaft, als einem notwendigen Element unserer Kulturentwicklung, und über das Betriebskapital, das sie gleichermaßen benötigt wie die Großindustrie. In Adolf Harnacks Hände wurden Vorbereitung und Durchführung der neuen Aufgabe der Großwissenschaft, der planmäßigen Schaffung unabhängiger Forschungsstätten, gelegt. Es war Kaiser Wilhelms II. Gedanke und Wunsch, den Festakt bei der Säcularfeier der Berliner Universität, dadurch daß er persönlich zur Bildung einer neuen Gesellschaft zur Errichtung und Erhaltung von Forschungsinstituten aufrief, zu einem Markstein deutschen Geisteslebens werden zu lassen. Er selbst wollte ihr Protektor sein, und sie sollte seinen Namen tragen. Die historische Glückwunschrede folgt bei der Begründung der Aufforderung weitgehend den Gedankengängen, welche Harnack einige Monate vorher nach eingehenden Beratungen in engem Kreise, von dessen Mitgliedern der Chemiker Emil Fischer und der Mediziner Aug. v. Wassermann genannt werden, in einer kurzen Denkschrift niedergelegt hatte. Der Historiker setzte den neuen Plan in Beziehung zu den Gedanken Wilhelm v. Humboldts über die Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten und damit zu der Gründungszeit der Universität Berlin. Er wies darauf hin, daß mit der großen Entwicklung der Naturwissenschaften an den Universitäten die Errichtung von reinen Forschungsstätten, welche von Unterrichtszwecken nicht beeinträchtigt werden, nicht Schritt gehalten habe und daß die Lösung der neuen großen Aufgaben, vor denen Physik, Chemie und Biologie stehen, die Schließung der gebliebenen

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Lücke notwendig mache. In diesen Ausführungen wird man vielfache Anklänge finden an die Schlüsse, zu denen W. v. Siemens und Helmholtz durch ihre Überlegungen in der Zeit vor der Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt gekommen waren. Wenn dem kaiserlichen Rufe schnell ein großer Erfolg beschieden war, wenn weite Kreise der Wirtschaft willig anerkannten, daß sie dem Staat die Sorge für die fruchtbare Weiterentwicklung der Wissenschaft nicht allein zumuten dürften, sondern zu ihrer Pflege beizutragen selbst verpflichtet seien, so hat ohne Zweifel die Erziehung zum Zusammenwirken im Interesse wissenschaftlicher Bestrebungen, wie sie die Göttinger Vereinigung, die Jubiläumsstiftung der Deutschen Industrie und nicht zuletzt das Deutsche Museum ihren Mitgliedern hatten zu teil werden lassen, nicht wenig dazu beigetragen. Finden wir doch bei all diesen Zusammenschlüssen fast die gleichen Persönlichkeiten, die uns auch in der K a i s e r - W i l h e l m G e s e l l s c h a f t wieder an maßgebender Stelle begegnen. Im Jahre 1911 hat sie mit etwa zweihundert Mitgliedern und in enger Gemeinschaftsarbeit mit dem Preußischen Staate und dem Reiche, insbesondere mit dem Preußischen Kultusministerium ihre Arbeit aufnehmen können. Im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens war es ihr möglich, nicht nur in Dahlem, ihrem Hauptsitz, und anderen Teilen Berlins, sondern auch in mehreren Städten des Reiches etwa zwanzig Kaiser-Wilhelm-Institute zu errichten, deren Zahl mittlerweile auf 32 angestiegen ist. Alle Zweige der reinen und angewandten Naturwissenschaften, der Medizin und Technik, deren Pflege dringend erforderlich ist, sind mit solchen bedacht worden. Sie einzeln aufzuzählen und ihre Aufgaben zu behandeln, ist hier nicht der Ort. Bei den der Erforschung der Werkstoffe dienenden Instituten ist die Beziehung zu den Stiftern, den an den Forschungsarbeiten interessierten Industrieverbänden, welche die Unterhaltung fast vollständig bestreiten, eine unmittelbare. Sie wirkt sich in wissenschaftlichen Referaten und Kolloquien aus und ermöglicht einen direkten Austausch der Gedanken zwischen der Forschung und den Männern der Technik. Die zur Pflege der Ärodynamik in Göttingen errichtete Ärodynamische Versuchsanstalt, deren Forschungsergebnisse dem Flugzeugbau zugute kommen sollten, war ein gemeinschaftliches Unternehmen der Gesellschaft und der Göttinger Vereinigung, zu denen später noch ein besonderer Verein der Arodynamischen Versuchsanstalt als Gönner hinzutrat. Die Einrichtungen zur Förderung der Physik und der angewandten Mathematik weichen, vollkommen von denen für die anderen Fächer ab. Für sie existiert kein eignes Haus und kein eignes Laboratorium. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik ist der Nutznießer einer großen Stiftung; ein Kuratorium hervorragender Physiker bestimmt die in Angriff zu nehmenden Arbeiten und verteilt die Mittel auf Forschungsarbeiten und Forscher, wie sie im Interesse der Wissenschaft ihm am besten verwendet zu werden scheinen. Auf diese Weise ist die Förderung der Physik nicht an bestimmte Stellen gebunden; bald hier, bald dort, wie die Arbeiten es erfordern, können die Mittel nutzbringend eingesetzt werden. Es besteht also innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für die einzelnen Institute ein ziemlicher Reichtum an Organisations- und Kooperationsformen. Bei

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dem Suchen nach den besten Wegen fiir neue Unternehmungen haben dem Präsidium die Unterstützung und der Rat der besten Sachverständigen des Landes stets zur Verfügung gestanden und in gleicherweise der staatliche Schutz und die staatliche Hilfe. Sie hat die Beziehungen herzustellen gestattet zwischen den Instituten der Gesellschaft und den Universitäten bzw. den Technischen Hochschulen, und damit schienen alle Bedingungen gegeben zu sein für den Ausbau des Systemes, welches das stetige Fortschreiten der wissenschaftlichen Erkenntnis und die Ernte ihrer Früchte sicherzustellen geeignet war. Wäre nicht der Weltkrieg gekommen und sein fiir Deutschland unglücklicher Ausgang, so hätten die wissenschaftlichen Einrichtungen unserer Akademien und Hochschulen im Verein mit denen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft nach sachgemäßem Ausbau voraussichtlich ausgereicht, um für die nächsten Jahrzehnte allen Anforderungen im wissenschaftlichen Wettbewerbe Deutschlands mit dem Ausland zu genügen. Die politischen Ereignisse und die ihnen folgendeVernichtung unserer Währung haben schnell die günstige Entwicklung unterbrochen, in einem Maße, daß, wie es in einer Denkschrift der Preußischen Akademie der Wissenschaften an den Reichstag heißt, »in der furchtbaren Zeit der Inflation alle schöpferische Tätigkeit unseres Volkes mit dem Erstickungstode bedroht erschien«. Die Größe der Gefahr, welche den deutschen Hochschulen, der gesamten Pflege der Wissenschaften, vor allem der Forschung durch die wirtschaftliche Notlage Deutschlands drohte, wurde den Beteiligten bereits im Jahre 1919 klar. Schon im Januar 1920 schlössen sie die Universitäten und Technischen Hochschulen des deutschen Reiches zur Wahrung ihrer gemeinsamen Interessen in dem Verbände der Deutschen Hochschulen zusammen, in den später auch die kleineren Fachhochschulen, die Bergakademien, forstlichen, landwirtschaftlichen und tierärztlichen Hochschulen aufgenommen wurden. In den Frühjahrsmonaten beginnen an allen Stellen, welche in der Förderung der Forschung zusammengewirkt hatten, die Vorbereitungen für die Gegenmaßnahmen, um das drohende Unheil aufzuhalten. Die Jubiläumsstiftung der deutschen Industrie konnte infolge der Entwertung ihrer Kapitalien ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen, die Kaiser-Wilhelm-Institute den Betrieb ihrer Institute kaum noch aufrecht erhalten, und die Göttinger Vereinigung machte bei den ihren die gleiche Erfahrung. Die Lage der naturwissenschaftlichen und technischen Institute der Hochschulen war verzweifelt, da die staatliche Hilfe trotz des besten Willens, zu helfen, unzureichend blieb. Zuerst waren es die chemischen Laboratorien, denen Hilfe gebracht werden konnte. Bereits im Jahre 1917, noch vor Kriegsschluß, hatte Professor A. Stock in Denkschriften darauf hingewiesen, daß man angesichts der hohen politischen Bedeutung, zu welcher die Chemie gelangt war, auch in Zukunft für ihre Pflege an den Hochschulen und für die Ausgestaltung ihrer Lehr- und Forschungsstätten besondere Maßnahmen werde treffen müssen. Die Anregungen waren auf fruchtbaren Boden gefallen, und schon im April 1918 hatte sich eine Deutsche Gesellschaft zur Förderung des Chemischen Unterrichts gebildet. Durch Vereinigung mit dem LiebigStipendien-Verein entwickelte sich aus ihr unter dem Vorsitz des Industrieführers C. Duisberg die Justus-Liebig-Gesellschaft zur Förderung des Chemischen Unterrichtes, welche am 27. September 1920 ihre Arbeiten aufnahm, »um der chemischen

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Wissenschaft in Deutschland ungehemmte und erfolgreiche Weiterentwicklung zu sichern«. Sie suchte, auf das großzügigste von der deutschen Chemischen Industrie unterstützt, das Ziel zu erreichen durch Bewilligung von Geldmitteln für die chemischen Hochschullaboratorien zu besonderen Lehrzwecken aller Art, für welche in den staatlichen ordentlichen Etats Mittel nicht bereit gestellt werden können, und weiter durch Erziehung eines wissenschaftlichen Nachwuchses durch Gewährung von Stipendien an junge Chemiker mit abgeschlossenem Hochschulstudium, um ihnen die Möglichkeit zu bieten, als Assistenten von Hochschullehrern ihre Kenntnisse zu erweitern. Durch diese Maßnahmen und die Abgabe der wichtigsten Chemikalien zu Erzeugerpreisen an die Laboratorien wurde diesen die Durchführung ihrer Unterrichtsaufgaben und das wissenschaftliche Weiterarbeiten ermöglicht. Für die künftige Erhaltung der Kaiser-Wilhelm-Institute für Chemie sorgte die Emil-Fischer-Gesellschaft zur Förderung chemischer Forschung, deren Gründung ebenfalls von Professor A. Stock vorbereitet wurde und deren Leitung der Großindustrielle Geheimrat A. v. Weinberg übernahm. Auch der dritte der großen Faktoren im wissenschaftlichen Betriebe der Chemie fand tatkräftige Hilfe durch die Adolf-Bayer-Gesellschaft zur Förderung der Chemischen Literatur unter Prof. Dr. C. Bosch-Ludwigshafen als Vorsitzendem. Sie sicherte in enger Zusammenarbeit mit der Deutschen Chemischen Gesellschaft und dem Verlag »Chemie« das Weitererscheinen der vorbildlichen und für die ganze chemische Welt unentbehrlichen literarischen Unternehmungen der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Dem Beispiele der Chemischen Industrie, der Wissenschaft, welcher sie ihre Entwicklung verdankt, die wirtschaftlichen Vorbedingungen für ihre Weiterarbeit und ihr Fortschreiten wieder zu verschaffen, folgten alsbald die physikalischtechnische und die Metallindustrie. Es gelang ihnen, in verhältnismäßig kurzer Zeit die Mittel zusammen zu bringen, welche für eine wirksame Förderung der ihnen nahestehenden Wissenschaftszweige notwendig waren. Unter der Führung von Dr. A. Vogler schlössen sich die Stifter zur Helmholtz-Gesellschaft zur Förderung der physikalisch-technischen Forschung am 28. Oktober 1920 zusammen. Ihre fürsorgende Tätigkeit erstreckte sich auf alle deutschen Hochschulen; sie übernahm die Aufgaben der Jubiläumsstiftung der deutschen Industrie und trat das Erbe der Göttinger Vereinigung an, welche am 17. September 1921 mit der HelmholtzGesellschaft verschmolzen wurde. In den sieben ersten Jahren ihres Wirkens hat die Gesellschaft 474 Forschungsaufgaben unterstützt und dafür rund 430000 Reichsmark aufgewendet. Doch wir dürfen nicht vergessen, daß alle übrigen Wissenschaften, unter ihnen viele Zweige der Naturwissenschaften, nicht so glücklich waren, die Hilfe einer mit ihnen in ständiger Wechselwirkung stehenden Wirtschaft anrufen zu können. Ihre Lage war trostlos und verzweifelt, die Grundlage der deutschen Kultur auf das höchste gefährdet. In dieser Not wandte sich die Preußische Akademie der Wissenschaften an die preußische Unterrichtsverwaltung und an das Reich um Hilfe und rief gleichzeitig alle Stellen, denen die Pflege von Wissenschaft und Forschung bisher obgelegen hatte, die übrigen Akademien Deutschlands, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die

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Gesamtheit der deutschen Hochschulen, den Verband wissenschaftlich-technischer Vereine und die Gesellschaft deutscher Naturforscher und Arzte zur gemeinsamen Abwehr des Unheils zusammen. Es entstand eine große Organisation zur Bekämpfung der wissenschaftlichen Notlage Deutschlands, an deren Spitze der frühere preußische Kultusminister, Staatsminister Dr. F. Schmidt-Ott, berufen wurde, der als Mitarbeiter Fr. Althoffs und später als Chef der preußischen Unterrichtsverwaltung, als Berater und als Freund der Göttinger Vereinigung und der KaiserWilhelm-Gesellschaft, reiche Erfahrungen auf dem Gebiete der Wissenschaftsorganisation hatte sammeln und nutzbar machen können. Am 30. Oktober 1920 trat der neue Selbstverwaltungskörper unter dem Namen Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft und als eingetragener Verein an die Öffentlichkeit. Die Spitzenverbände des deutschen Wirtschaftslebens erließen einen gemeinsamen Aufruf: »Das deutsche Wirtschaftsleben muß der deutschen Wissenschaft durch diese schweren Jahre helfen. Sämtliche Erwerbsstände Deutschlands: Landwirtschaft, Handel, Bank, Industrie, Handwerk, Gewerbe sind sich darin einig. Die Spitzenverbände dieser Erwerbsstände sind sich bewußt, welche schweren Opfer sie angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftslage, der Steuerbelastung und des Reichsnotopfers erbitten, sie sind aber überzeugt, daß jeder deutsche Landwirt und Kaufmann, Gewerbetreibende und Industrielle, die Notwendigkeit dieses Opfers für die deutsche Wissenschaft anerkennt.« Der Erfolg war in Anbetracht der Lage ein starker, und auch das Reich versagte sich nicht; Reichstag, Reichsrat und Reichsministerium des Innern brachten die für eine Hilfsaktion großen Stiles notwendigen Summen jährlich auf, welche das Reich zum Hauptgeldgeber der Gemeinschaft werden ließen und sie zur Durchführung ihrer lebenswichtigen, großen und vielseitigen Aufgabe befähigten. Reich, Länder und Reichstag haben stets Gelegenheit gehabt, durch ihre Vertreter sich von der guten und zweckmäßigen Verwendung der Geldmittel zu überzeugen. Die privaten Geldgeber sind zu einem besonderen Stifterverband zusammengeschlossen mit selbständiger Geschäftsführung. Ihre Interessen bei der Verwendung der Mittel wahrt ein Verteilungsausschuß, in dem der Verband und die Notgemeinschaft zu gleichen Teilen vertreten sind. Zu den inländischen Mitteln kamen namentlich in den ersten Jahren ausländische, über deren Verwendung besondere Vereinbarungen mit den Gebern getroffen worden sind. Die Erfolge der Notgemeinschaft sind bekannt. Heute nach zehn Jahren ihres Bestehens läßt sich das sichere Urteil fallen, daß ihr allein die Rettung der deutschen Wissenschaft zu danken ist und daß ihre Tätigkeit verdient, mit goldenen Lettern in das Buch der Kulturgeschichte eingetragen zu werden. Als das Maß einer Leistung wird stets das Verhältnis des Erreichten zu dem Aufwand an Mitteln zu gelten haben. Dieser ökonomische Koeffizient bei der Wiederbelebung und Wiederflottmachung der deutschen Wissenschaft ist nach dem Urteil aller ein außergewöhnlich großer, dank nicht nur der an Erfolgen reichen Tätigkeit der Forscher, dem Zeichen für die Ungebrochenheit des deutschen wissenschaftlichen Geistes, sondern auch dank der uneigennützigen fachmännischen Hilfe und Beratung, deren sich die Leitung der Notgemeinschaft allezeit zu erfreuen hatte. Ohne die große Arbeitsgemeinschaft der führenden Männer der deutschen Wissenschaft bei der Sichtung der riesenhaften Zahl von Unterstützungsanträgen nach

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Bedeutung, Dringlichkeit und Erfolgsaussicht, wie sie durch die Fachausschüsse gebildet wird, und ohne die freiwillige Arbeitsbereitschaft der sachverständigen Männer in dem Verlags-, Apparaten- und Bibliotheksausschuß wie in den verschiedenen Sonderausschüssen hätte das große Werk nicht gelingen können. Mit Recht hat die Notgemeinschaft Anerkennung dafür geerntet, daß sie nicht Halt gemacht hat, als ihr erstes Ziel, die Rettung der deutschen Wissenschaft erreicht war, sondern auch ihrer höheren Aufgabe im Gefühle innerer Verantwortung alle Kräfte gewidmet hat, Deutschland wieder Weltgeltung zu verschaffen, indem sie ihm auf wichtigen Wissenschaftsgebieten einen anerkannten Vorsprung vor anderen Nationen zu geben versuchte. Solange sie auf die Förderung von Einzeluntersuchungen beschränkt blieb, wie sie ihr zuflössen, durch den Gang der Wissenschaftsentwicklung oder durch die Neigung der Forscher bedingt, blieb ihr kein anderer Einfluß auf die Größe des ökonomischen Koeffizienten, als die Ausschaltung des Unzulänglichen. Die Entwicklung positiv zu beeinflussen, gelingt nur durch bewußte und systematische Inangriffnahme von Großproblemen. Diese Erkenntnis hat den Präsidenten der Notgemeinschaft bereits im Januar 1925 dazu geführt, große Gemeinschaftsarbeiten, welche der nationalen Wirtschaft, der Volksgesundheit oder dem Volkswohl dienen sollen, anzubahnen. Sie stellen uns vor die Probleme des wissenschaftlichen Großbetriebes. Die Frage des Betriebskapitals ist durch eigene Bewilligungen des Reichstages für diese Unternehmungen gelöst. Es bleibt das Problem der zweckmäßigen und schnellen Erzielung zuverlässiger Ergebnisse. Allgemein bekannt sind die charakteristischen Merkmale des Großbetriebes: der Einsatz starker Kräfte, Arbeitsteilung, Vermeidung jeder Kräfte- und Zeitverschwendung und eine straffe einheitliche Leitung. Diese Bedingungen müssen auch bei den wissenschaftlichen Großunternehmungen beachtet werden. Die Zahl der Großprobleme ist Legion, daher mußte eine beschränkte Anzahl, welche in der gegenwärtigen Zeit besondere Bedeutung besitzt, herausgegriffen werden. Besondere Erfolge versprachen zunächst die Anwendungen der Geophysik, Forschungen über die Strömungsvorgänge und über den Arbeitsvorgang in der Wärmekraftmaschine, und die Erforschung der Metalle. Auch auf den Gebieten der Biologie, der Landwirtschaft und Medizin "wurde die Lösung der brennendsten Fragen in Angriff genommen. Die Probleme sind gewöhnlich so umfangreich, daß sie nicht in einem Institut und an einem Ort bearbeitet werden können. Sie erfordern die Heranziehung vieler Kräfte; wo diese tätig sind, ob an einer Universität, einer Technischen Hochschule oder ob sie Privatgelehrte sind, ist gleichgültig; Forscher aus den Kaiser-WilhelmInstituten oder anderen Forschungsstätten sind gleichermaßen willkommen, wenn sie auf Grund ihrer bisherigen Leistungen nützliche Mitarbeiter zu werden versprechen. Sind sie zur Mitarbeit bereit, wird ihnen ein Teilproblem zugewiesen, möglichst unter Berücksichtigung der Eigenart und der besonderen Interessen des Forschers und unter Bereitstellung der sachlichen Hilfsmittel und etwa notwendiger Hilfskräfte. Nicht selten haben an der Lösung der Fragen mehrere naturwissenschaftliche Fächer mitzuwirken. Einige der Gemeinschaftsunternehmungen be-

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schäftigen nicht weniger als 40 selbständige Forscher und mit ihren Helfern etwa 100 wissenschaftlich gebildete Kräfte. Diese Art der Arbeitsorganisation liefert gewöhnlich reichen Ertrag; eines der Gebiete hat in den letzten beiden Jahren eine Produktion von je 125 gedruckten Veröffentlichungen aufzuweisen. Die Dezentralisation der Arbeit setzt einen guten und übersichtlichen Arbeitsplan voraus. Kleinere Ausschüsse, in denen Männer der Wissenschaft mit solchen des praktischen Lebens Probleme und Lösungsmöglichkeiten durchsprechen, liefern die Grundlagen für seineAufstellung, und es wird, wo es nötig ist, ein Leiter bestimmt, welcher die geeigneten Mitarbeiter zu wählen und zu werben, aufzumuntern und anzuregen, ihnen zu helfen, oder auch Hemmungen und Reibungen zu beseitigen hat. Das große Orchester, in dem jeder das Instrument spielt, dessen Handhabung er gelernt hat, bedarf eines Kapellmeisters, nach dem die Musiker schauen, damit die Harmonie des Ganzen gewahrt bleibt und ein stetiges Fortschreiten der Arbeit gewährleistet wird. Solche Gemeinschaftsunternehmungen größten Stiles stellen wohl den Gipfel der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation dar. Aber es wäre falsch, die bei einigen Gebieten gemachten guten Erfahrungen zum Ausgangspunkt einer Bewegung zur schematischen Behandlung aller Wissenschaftsentwicklung machen zu wollen. Wie der Staat hat auch die Selbstverwaltung Wilhelm v. Humboldts Warnungen vor einem störenden Eingreifen in das Streben und Forschen des menschlichen Geistes zu beachten. Die große Mannigfaltigkeit von Formen der Zusammenarbeit und der wissenschaftlichen Organisation zur Förderung der Forschung, welche sich namentlich auf dem Gebiete der Naturwissenschaften und der Technik in den letzten fünfzig Jahren entwickelt hat, ist der Verschiedenheit der zu fördernden Objekte ausgezeichnet angepaßt. Sie hat sich als fruchtbar erwiesen, und wir haben keinen Anlaß, eine Änderung zu wünschen. Wir wollen uns dieses Reichtums freuen wie des reichen Spieles der Formen in der Natur.

MAX PLANCK THEORETISCHE PHYSIK Die Darstellung des Entwicklungsganges einer Wissenschaft von einem Gesichtspunkt aus, der nicht dem Inhalt der Wissenschaft selber entnommen ist, hat grundsätzlich genommen etwas Mißliches. Dennoch läßt sich wohl der Versuch rechtfertigen, die Entwicklung der theoretischen Physik in Deutschland während des letzten Jahrhunderts in ihren großen Zügen zu schildern. Denn wenn auch die physikalische Wissenschaft international ist, so ist doch jeder einzelne Vertreter dieser Wissenschaft nach seinem Bildungsgang, seinem Ideenkreis und seiner Gesinnung mehr oder weniger eng an sein Heimatland gebunden, und seine Leistungen werden zu einem beträchtlichen Teil mitbedingt durch die äußeren Umstände, unter denen seine Arbeit vor sich geht. Da mag es schließlich nicht nur dem nationalen Interesse, sondern auch der Wissenschaft selber dienen, wenn einmal eine Umschau darüber gehalten wird, wieviel deutsche Forscher zu den gewaltigen Fortschritten beigetragen haben, welche die theoretische Physik in der letzten Zeit erfahren konnte, zumal in der gegenwärtigen Epoche der politischen Erniedrigung unseres Vaterlandes eine gewisse tröstliche Hoffnung auf eine bessere Zukunft aus dem Gedanken geschöpft werden mag, daß wenigstens auf diesem Gebiete die Leistungsfähigkeit der Deutschen sich bisher noch auf der alten Höhe halten konnte. Im Interesse der Übersichtlichkeit dürfte es sich empfehlen, bei der Darstellung nicht immer streng chronologisch zu verfahren, sondern die Entwicklung der einzelnen leitenden Ideen, insofern sie sich unabhängig von einander fortgebildet haben, in der unserem heutigen Wissen entsprechenden Beleuchtung gesondert zu schildern, ebenso auch gelegentlich auf die Wechselwirkung mit den Arbeiten auswärtiger Fachgenossen einzugehen. Auf der andern Seite wird es im Rahmen dieser kurzen Skizze selbstverständlich nicht möglich sein, jeden der Physiker, welcher an dem großen Werke erfolgreich mitgearbeitet hat oder noch arbeitet, namentlich anzuführen, wie denn überhaupt die Abgabe persönlicher Werturteile dem Zwecke dieses Aufsatzes fern liegt. — Die theoretische Physik in Deutschland um das Jahr 1880 stand im großen ganzen gesehen unter dem Zeichen des Viergestirnes Hermann von Helmholtz, Gustav Kirchhoff, Rudolf Clausius und Ludwig Boltzmann, von denen sich die beiden erstgenannten vornehmlich der Mechanik und der Elektrodynamik, die beiden letzten vorwiegend der Thermodynamik und der Atomistik zugewandt hatten. Keinerlei tiefere sachliche Gegensätze trennten diese Forscher, sie vertraten gemeinsam eine Naturauffassung von großartiger harmonischer Geschlossenheit, deren Inhalt sich in erster Linie gründete auf das universelle Hamiltonsche Prinzip der kleinsten Wirkung, einschließlich des Prinzips der Erhaltung der Energie, in zweiter Linie auf den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Zu jener Zeit war wohl jeder Physiker der Meinung, daß die zukünftige Entwicklung der theoretischen Physik im wesentlichen die Durchführung der genannten Prinzipien zum Ziele haben würde, und niemand ahnte, daß zu diesen Grundpfeilern der Wissenschaft sich binnen kurzem noch ganz andere, von ihnen unabhängige und

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ihnen ebenbürtige gesellen würden. Eine dementsprechende Einstellung der Zukunftsgedanken zeigt sich nicht nur in den letzten Arbeiten der anerkannten älteren Führer, sondern auch bei den Vertretern der damals heranwachsenden Generation. Der bedeutendste unter ihnen, der seiner Wissenschaft zu früh entrissene Heinrich Hertz, betrachtete sich trotz seiner aufsehenerregenden Leistung, der Entdeckung der Fortpflanzung elektromagnetischer Wellen durch den leeren Raum, nicht als ein Neuerer, sondern als einen Vollender der Theorie, indem er den seit langem schwankenden Wettstreit der verschiedenen elektrodynamischen Theorien endgültig zugunsten der Maxwellschen Theorie entschied und damit zugleich auch einen weiteren bedeutenden Schritt zur Vereinheitlichung der physikalischen Theorien vollzog, nämlich die restlose Verschmelzung der Optik mit der Elektrodynamik. Und seine letzte Arbeit galt dem Ausbau der Newtonschen Mechanik bis zu einem idealen Grade der Vereinfachung, wobei ihm als leitende Idee die Aufgabe vorschwebte, den Zwiespalt in dem Begriff der Energie, der sich in der Unterscheidimg der kinetischen von der ihr wesensfremden potentiellen Energie ausdrückt, aus der Welt zu schaffen. Er erreichte dieses Ziel durch die grundsätzliche Eliminierung des Kraftbegriffs und Zurückfuhrung desselben auf die Auswirkung feiner verborgener Bewegungen, wodurch dann jede Art von potentieller Energie durch kinetische Energie ersetzt sein würde. Freilich hat Hertz niemals den Versuch unternommen, in irgend einem speziellen naheliegenden Falle, z. B. dem der Gravitation, die Art der einzuführenden verborgenen Bewegungen auch nur andeutungsweise aufzuzeigen. Ihm genügte die prinzipielle Möglichkeit einer derartigen Hypothese. Wenn so, von der Durchführung im einzelnen abgesehen, die theoretische Physik gegen Ende des vorigen Jahrhunderts den Anblick eines imposanten, in sich geschlossenen und gefestigten Baues gewährte, so zeigten sich einem aufmerksamen Beobachter, wie es Heinrich Hertz war, doch schon damals an einigen Stellen des Fundamentes gewisse verdächtige Lücken, deren Ausfüllung ihm zumindest schwierig erschien und auf die besonders hinzuweisen er nicht versäumt hat. Diese Stellen sind es nun in der Tat gewesen, welche zuerst die Angriffspunkte der Kritik und dann in weiterer Folge den Anfang der großartigsten Erweiterung bilden sollten, welche die theoretische Physik seit Newtons Zeiten erfahren hat. Es versteht sich, daß eine physikalische Theorie ihren Inhalt nicht von sich selber aus umbilden kann, ja daß sie sich einer jeden Erweiterung um so stärker widersetzt, je vollständiger und umfassender sie ist. Denn in einem nach allen Seiten hin konsequent ausgebauten Gedankensystem macht sich jede Abänderung an irgend einer Stelle zugleich auch an vielen anderen Stellen unbequem fühlbar. Darum bedurfte es des Eingreifens starker Kräfte von außen, unanfechtbarer Ergebnisse der experimentellen Forschung, die zu einer Preisgabe gewisser, bis dahin allgemein als richtig angenommener theoretischen Sätze und damit zu einer gründlichen Revision des ganzen theoretischen Lehrgebäudes zwangen. Aus einer solchen Umbildung der Theorie erwuchsen dann auch wieder dem Experiment eine Reihe von neuen Fragestellungen, deren Beantwortung weitere Fingerzeige für die Richtung der einzuschlagenden Gedankengänge lieferte. Diese für die neuere Physik charakteristische innige Wechselwirkung von experimenteller und theo-

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retischer Forschung ist für die Fortschritte der Wissenschaft von ungemeiner Bedeutung geworden, sie enthält zugleich die sichere und die einzige Gewähr für die Dauerhaftigkeit der gewonnenen Resultate. Unter den von Hertz noch als dunkel empfundenen Problemen der theoretischen Physik, mit denen er sich daher in seinen letzten Jahren vornehmlich zu beschäftigen gedrungen fühlte, waren besonders zwei, die er trotz aller Bemühungen nicht mehr zu bemeistern vermochte und die sich in der Folge als Keimzellen der neueren Physik erwiesen haben: die Frage nach der Natur der Kathodenstrahlen und die Elektrodynamik bewegter Körper. Jedes der beiden Probleme hat seine eigene Geschichte und jedes bildete den Ausgangspunkt einer großartigen Entwicklung. Das erste führte zur Elektronentheorie, das zweite zur Relativitätstheorie. Wir wollen sie beide nacheinander betrachten. I. D i e E l e k t r o n e n t h e o r i e . Bei den von Plücker im Jahre 1859 entdeckten Kathodenstrahlen handelte es sich in erster Linie um die Frage, ob diese Strahlen elektrische Ladungen mit sich führen, worauf ihre magnetische Ablenkbarkeit hindeutete, oder ob sie wie das Licht eine wellenartige Natur besitzen. Hertz entschied sich für die letztere Ansicht, da es ihm trotz angestrengter Bemühungen nicht gelingen wollte, durch die Einwirkung von Kathodenstrahlen auf eine Magnetnatel diese aus ihrer Gleichgewichtslage abzulenken, und zwar neigte er dazu, die Kathodenstrahlen mit den lange vergeblich gesuchten Longitudinalwellen des Lichtäthers zu identifizieren, wodurch dann zugleich auch eine unliebsam empfundene Lücke der Theorie ausgefüllt worden wäre. Allein diese Vermutung bestätigte sich nicht, im Gegenteil häuften sich die Anzeichen dafür, daß die Kathodenstrahlen korpuskularer Natur und Träger negativer Elektrizität sind, besonders nachdem W . Wien ihre Ladung und E. Wiechert ihre Geschwindigkeit hatten feststellen können. Damit war die Grundlage der Elektronentheorie gelegt. Es gewährt einen eigentümlichen Reiz, zu verfolgen, wie nun im weiteren Vorschreiten experimentelle und theoretische Forschung Hand in Hand arbeiten und abwechselnd die Führung übernehmen. Zuerst stand das Experiment durchaus im Vordergrund, seine Erfolge zeigten sich vor allem in den Händen Ph. Lenards, welchem die Herstellung von Kathodenstrahlen außerhalb des Entladungsraumes gelang, und sie gipfelten schließlich in W . C. Röntgens großer Entdeckung vom Jahre 1895, welche mit einem Schlage der physikalischen Wissenschaft ein neues Reich erschloß und zugleich die Theorie vor völlig neue Aufgaben stellte. Zu ihren indirekten Auswirkungen gehört auch die Entdeckung der Uranstrahlen durch H. Becquerel, deren weitere Verfolgung zur Auffindung der radioaktiven Elemente und zur Theorie der Radioaktivität von Rutherford und Soddy führte. Wenn so das Studium der neuen Phänomene hinsichtlich der Bedingungen ihrer Entstehung und der Eigentümlichkeit ihrer Wirkungen nach allen Seiten hin experimentell gefördert wurde, so leisteten doch die Röntgenstrahlen gegenüber den Versuchen, sie quantitativ zu analysieren, eine Zeitlang noch hartnäckigen Widerstand. Obschon es sehr bald klar wurde, daß sie elektromagnetische Wellen sind, welche durch den Anprall der Elektronen auf die Antikathode erzeugt werden, so

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wollte es doch nicht gelingen, ihre Wellenlänge einwandfrei zu messen. Denn die Beugungsversuche, die man mit einem keilförmig zugespitzten Spalt anstellte, führten bestenfalls nur zu einer Schätzung der Größenordnung der Wellenlänge. Hier war es ein Theoretiker, M. v. Laue, der im Jahr 1912 den nächsten entscheidenden Schritt vollzog, indem er, unterstützt durch seine experimentellen Mitarbeiter W. Friedrich und P. Knipping, Röntgenstrahlen durch Beugung an den Atomen eines Kristalles zur Interferenz brachte und dadurch ihre periodische Natur bewies. Wenn man nämlich einen Kristall als ein räumliches Punktgitter betrachtet, so ergeben sich beim Durchgang von ebenen periodischen Wellen durch den Kristall infolge der Beugung an den einzelnen Gitterpunkten regelmäßige Gangunterschiede der abgebeugten Strahlen und damit Interferenzen, deren Messung eine Beziehung liefert zwischen der Wellenlänge der Strahlen und der Gitterkonstanten des Kristalles. Das gilt natürlich nur für homogene Röntgenstrahlen; denn sonst verwischen sich die verschiedenartigen Interferenzstellen durch Übereinanderlagerung. Durch die Lauesche Entdeckung, welche der Atomistik in gleicher Weise zugute kam wie der Optik, wurden die Röntgenstrahlen und mit ihnen die Gammastrahlen der radioaktiven Elemente endgültig der Elektrodynamik eingeordnet, während dagegen die Träger der Kathodenstrahlen, die freien Elektronen, mit ihrer verhältnismäßig äußerst geringen Masse im Rahmen der bisherigen Physik ein Novum blieben. Dafür brachte ihre Einführung ein Verständnis für verschiedene bis dahin noch rätselhaft erscheinende Vorgänge. Schon Helmholtz hatte 1881 in seiner Faraday-Lecture daraufhingewiesen, daß vom Standpunkt der chemischen Atomistik aus die empirischen Gesetze der Elektrolyse sich nur dann verstehen lassen, wenn man nicht nur der Materie, sondern auch der Elektrizität eine atomistische Struktur zuschreibt. Diese von Helmholtz postulierten Elektrizitätsatome zeigten sich zum ersten Male frei, abgelöst von aller Materie, in den Kathodenstrahlen, und sie wurden wiedererkannt in den Betastrahlen der radioaktiven Elemente. Im Gegensatz zu den chemischen Atomen sind alle Elektrizitätsatome gleichartig und unterscheiden sich nur durch ihre Geschwindigkeiten. Die Einführung der Elektronen vermittelte sogleich auch einen Einblick in das Wesen der metallischen Leitung. Denn da die elektrische Strömung in einem Metall keine chemische Änderung erzeugt, so lag es nahe, als Träger des Stromes in Metallen die freien Elektronen zu betrachten — eine Anschauung, die schon auf Wilhelm Weber zurückgeht und die nun von E. Riecke und P. Drude weiter ausgebildet wurde. Und nachdem die freien Elektronen sich einmal das Bürgerrecht erworben hatten, suchte man, die nämlichen Elektronen auch in gebundenem Zustand nachzuweisen, und stieß dabei auf die Erklärung einer ganzen Reihe von weiteren physikalischen und chemischen Eigenschaften der Materie. Schon P. Drude führte sowohl die optische Dispersion als auch die chemische Valenz einer Substanz auf die Elektronen im Atom zurück und unterschied zu diesem Zweck fest gebundene und lose gebundene Elektronen. Die ersteren bedingen die Dispersion, die letzteren die chemische Valenz. In systematischer Vollständigkeit hat dann H. A. Lorentz die ganze Elektronentheorie dargestellt und insbesondere untersucht, ob und inwieweit sich alle Materialkonstanten einer Substanz zurückführen lassen

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auf die Anordnung und auf die Wechselwirkungen der in ihr enthaltenen Atome und Elektronen. Nimmt man zu diesen Ergebnissen diejenigen der Arbeiten auf dem Gebiet der Radioaktivität hinzu, so kann als Endresultat der auf das Wesen der Materie gerichteten Forschung der letzten 50 Jahre die Erkenntnis bezeichnet werden, daß es nur zwei Urstoffe gibt: die positive Elektrizität und die negative Elektrizität. Beide bestehen aus lauter gleichartigen winzigen Partikeln mit entgegengesetzt gleicher Ladung, aber sehr ungleichartigen Massen, das positive, schwerere, heißt Proton, das negative, leichtere, Elektron, ihre Vereinigung Neutron. Ein jedes elektrisch neutrale chemische Atom besteht aus einer gewissen, durch das Atomgewicht bezeichneten Anzahl von Protonen, die fest miteinander zusammenhängen, und eben so vielen Elektronen, von denen aber ein Teil an die Protonen fest gebunden ist und mit ihnen zusammen den Kern des Atoms bildet, während die übrigen sich um den Kern herumbewegen. Ihre Anzahl wird die Ordnungszahl des Atoms genannt. Von ihr hängen alle chemischen Eigenschaften des Atoms ab. II. D i e R e l a t i v i t ä t s t h e o r i e . Das zweite Problem, welches Heinrich Hertz in seiner reifsten Periode lebhaft beschäftigte, war die Frage nach den elektrodynamischen Vorgängen in bewegten Körpern. Von der allgemeinen Tatsache ausgehend, daß alle Bewegung relativ ist, stellte er in Anlehnung an Maxwell für die genannten Vorgänge ein System von Gleichungen auf, in welchen die Körpergeschwindigkeit nur relativ genommen einen Sinn hat, was dadurch zum Ausdruck kommt, daß die Gleichungen, ebenso wie die Newtonschen Bewegungsgleichungen, unverändert bleiben, wenn man die Geschwindigkeiten der Körper auf ein bewegtes Koordinatensystem bezieht. Von einem besonderen substantiellen Träger der elektrodynamischen Wellen braucht man in der Hertzschen Theorie gar nicht zu reden. Will man einen solchen, den Aether, einführen, so muß man annehmen, daß er gegenüber der Materie keine selbständige Bewegung besitzt, sondern von ihr vollständig mit fortgeführt wird. So befriedigend diese Theorie durch ihre innere Geschlossenheit wirkt, so hat sich Hertz doch von Anfang an nicht verhehlt, daß sie an einem bedenklichen Mangel leidet. Eine durch bewegte Luft gehende Lichtwelle müßte nämlich ebenso wie eine Schallwelle vollständig von der Luft mitgenommen werden, auch wenn die Luft noch so dünn ist. Dem widerspricht aber entschieden ein Versuch von Fizeau, aus dem hervorgeht, daß sich Licht in bewegter Luft wesentlich ebenso fortpflanzt wie in ruhender Luft. Die hierdurch geschaffene Schwierigkeit hat H. A. Lorentz überwunden durch die Einführung eines ruhenden stetig ausgedehnten Aethers, welcher der Träger und Übermittler aller elektrodynamischen Wirkungen ist und in welchem die Atome und Elektronen als diskrete Partikel herumfliegen. Damit war unter Beibehaltung aller Vorzüge der Hertzschen Theorie auch dem Versuch von Fizeau Rechnung getragen, aber allerdings andrerseits das Relativitätsprinzip durchbrochen, weil nun ein bestimmtes Bezugssystem, nämlich das im Aether ruhende, vor allen andern ausgezeichnet wurde. Jedoch das Prinzip der Relativität hat sich für diese Zurücksetzung gerächt durch das Auftreten einer neuen Schwierigkeit, die für die Hertzsche Theorie nicht bestanden hatte, nämlich durch das Scheitern aller Versuche, die darauf

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abzielten, die absolute Erdgeschwindigkeit, d. h. die Geschwindigkeit der Erde relativ zum Aether, zu messen. Selbst bei dem feinsten derartigen Versuch, dem von Michelson und Morley, ließ sich keine Spur eines Einflusses der Erdbewegung feststellen, obwohl derselbe nach der Lorentzschen Theorie sehr wohl hätte merklich sein müssen. Unter diesen Umständen schien die theoretische Physik am Ende des vorigen Jahrhunderts vor der Alternative zu stehen, entweder die so ungemein fruchtbare Lorentzsche Theorie oder das Prinzip der Relativität fallen zu lassen. Die Schwierigkeit der Situation trat besonders eindringlich in die Erscheinung auf der Tagung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte in Düsseldorf im Herbst 1898, wo W. Wien über diese Frage ein ausfuhrliches Referat und H. A. Lorentz das Korreferat erstattete. Noch sieben volle Jahre dauerte dieser unbefriedigende Zustand, bis im Jahre 1905 die radikale Lösung kam durch die von A. Einstein aufgestellte Theorie der Relativität, welche den Inhalt der Lorentzschen Theorie in vollem Umfange bestehen läßt, allerdings nur um einen teuren Preis, nämlich durch die Einführung der auf den ersten Anblick sehr fremdartig erscheinenden Hypothese, daß Raumgrößen und Zeitgrößen nicht unabhängig von einander, sondern durch die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum verknüpft sind. Daß diese Hypothese logisch unanfechtbar ist, folgt einfach daraus, daß ihre mathematische Formulierung keinerlei Widerspruch aufweist; um so auffallender steht sie im Widerspruch mit hergebrachten Anschauungen. Doch gelang es bald H. Minkowski, eine gewisse Anschaulichkeit zu erzielen durch den Nachweis, daß, falls man die Zeit imaginär nimmt und als Zeiteinheit die vom Licht zum Zurücklegen der Längeneinheit benötigte Zeit benützt, alle Gleichungen der Elektrodynamik in bezug auf Raum und Zeit symmetrisch werden, indem die Zeitkoordinate zu den drei Raumkoordinaten als völlig gleichberechtigt hinzutritt. Dann erweitert sich der dreidimensionale »Raum« zu der vierdimensionalen »Welt«, und die Gleichungen der Elektrodynamik sind gegenüber einer Geschwindigkeitsänderung des Bezugssystems ganz ebenso invariant wie gegenüber einer räumlichen Drehung des Bezugssystems von einer Richtung in eine andere. Wenn aber das Prinzip der Relativität in seiner neuen Fassung einen physikalischen Sinn haben soll, so muß es auch für die Mechanik gelten, und dieser Schluß erfordert eine Abänderung der Newtonschen Bewegungsgleichungen, da dieselben gegenüber einer Änderung des vierdimensionalen Bezugssystems nicht invariant sind. So entstand die relativistische Mechanik, eine Verallgemeinerung und Verfeinerung der Newtonschen Mechanik, deren experimentelle Bestätigung für schnell bewegte Elektronen, namentlich bezüglich der Abhängigkeit der Masse von der Geschwindigkeit, einen weiteren Stützpunkt für die neue Theorie lieferte. Die Relativitätstheorie hat aber außer der Verschmelzung von Raum und Zeit noch eine andere nicht minder wichtige Verschmelzung mit sich gebracht: die von Impuls und Energie, welche in allen physikalischen Gleichungen die nämliche Symmetrie aufweisen wie die vier Koordinaten des Raumzeitkontinuums, und zwar entspricht der Impulsvektor dem Ortsvektor und der Energieskalar dem Zeitskalar. Eine andere wichtige Konsequenz der Relativitätstheorie ist, daß die Energie eines ruhenden Körpers einen ganz bestimmten positiven Wert besitzt, der ausgedrückt wird durch das Produkt seiner Masse mit dem Quadrat der Licht20

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geschwindigkeit, daß also die Masse ganz allgemein auf die Energie zurückgeführt erscheint. Aber bei diesen Erfolgen seiner Theorie blieb Einstein nicht stehen. Die Erkenntnis der völligen Gleichberechtigung aller Bezugssysteme, die durch lineare orthogonale Transformationen auseinander hervorgehen, führte ihn zu der Frage, ob und inwieweit eine solche Gleichberechtigung sich für ganz beliebige Bezugssysteme aussprechen lasse. Nun erzeugt die Transformation der einfachen Bewegungsgleichungen der Mechanik auf irgend ein anderes Bezugssystem im allgemeinen gewisse zusätzliche Glieder, wie z. B. bei einem rotierenden Bezugssystem die Zentrifugalkraft, und diese Zusatzglieder lassen sich als eine Wirkung der Gravitation deuten, sofern man die ponderable Masse mit der trägen Masse identifiziert. Die Hypothese nun, daß kein geometrisches Bezugssystem in physikalischer Hinsicht von vorneherein einen Vorzug vor irgend einem andern hat und daß die Eigenschaft der Invarianz einzig und allein dem Riemannschen Fundamentaltensor zukommt, der seinerseits von der Verteilung der Materie im Räume abhängt, führte zur Aufstellung der allgemeinen Relativitätstheorie, welche die frühere als speziellen Fall in sich schließt und sich zu dieser verhält wie die Riemannsche Geometrie zur Euklidischen Geometrie. Ihre praktische Bedeutung beschränkt sich naturgemäß auf sehr starke Gravitationsfelder, wie dasjenige der Sonne, durch welche die Richtung und die Farbe des Lichtes beeinflußt wird, oder auf Bewegungsvorgänge mit säkularen Perioden, wie die Perihel-Verschiebung der Merkurbahn. Die allgemeine Relativitätstheorie bedeutet den ersten großen Schritt zu dem idealen Ziele der Geometrisierung der gesamten Physik. Einen zweiten Schritt, der auf die Verschmelzung von Mechanik und Elektrodynamik gerichtet ist, hat Einstein neuerdings mit der Formulierung seiner einheitlichen Feldtheorie unternommen, die auf einer von der Riemannschen abweichenden Geometrie aufgebaut ist und deren endgültiger Erfolg noch abgewartet werden muß. III. Die Quantentheorie. Neben und unabhängig von der Relativitätstheorie hat seit 30 Jahren die Quantentheorie der theoretischen Physik ein neues Gepräge gegeben. Ihren Ursprung und ihre Begründung fand sie, ganz ähnlich wie die Relativitätstheorie, in dem Versagen der klassischen Theorie gegenüber den Ergebnissen des Experimentes, aber diesmal nicht auf optischem, sondern auf thermodynamischem Gebiet, nämlich bei den Messungen der Energiestrahlung im Emissionsspektrum schwarzer Körper, welche nach dem Kirchhoffschen Gesetz unabhängig ist von der Natur der strahlenden Substanz und daher eine universelle Bedeutung besitzt. Zwar hatte auch auf diesem Gebiet die klassische Theorie bereits zu ansehnlichen Erfolgen geführt. Zuerst war die Abhängigkeit der Gesamtstrahlung von der Temperatur durch L. Boltzmann aus dem Maxwellschen Strahlungsdruck und den Hauptsätzen der Thermodynamik abgeleitet worden. Sodann hatte W. Wien, auf der nämlichen Grundlage weiter arbeitend, gezeigt, wie sich die Kurve der spektralen Energieverteilung, insbesondere auch die Lage und die Größe ihres Maximums, bei Veränderung der Temperatur verschiebt, in vollkommener Über-

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einstimmung mit den feinsten Messungen. Aber bezüglich der Form dieser Kurve ergab sich eine starke Diskrepanz zwischen den Ergebnissen der Theorie und den Messungen von Lummer und Pringsheim, Rubens und Kurlbaum. Da griff M. Planck in dem Bestreben, eine Deutung der experimentellen Tatsachen auf Grund der beiden Hauptsätze der Thermodynamik durchzusetzen, zu der radikalen Hypothese, daß die Mannigfaltigkeit der Zustände, die ein schwingendes und strahlendes Gebilde besitzen kann, eine diskrete, abzählbare ist und daß die Unterschiede je zweier Zustände des Gebildes durch eine endliche universelle Konstante, das elementare Wirkungsquantum, charakterisiert werden. Damit war freilich ein grundsätzlicher Bruch mit den bisherigen physikalischen Anschauungen vollzogen ; denn bisher galt in jeder Theorie der Zustand eines physikalischen Gebildes als stetig veränderlich. Indessen zeigte sich die Fruchtbarkeit der neuen Annahme sogleich darin, daß sie nicht nur zu einem mit den Messungen gut übereinstimmenden Gesetz für die spektrale Energieverteilung führte, sondern auch ein Mittel lieferte zur Bestimmung des absoluten Gewichtes der Moleküle und Atome, während man bis dahin, sofern man überhaupt den Atomen Realität beimessen wollte, nur auf mehr oder weniger rohe Schätzungen angewiesen war. Weitere Folgerungen ließen sich, wie Einstein sehr bald zeigte, für die Energie und die spezifische Wärme materieller Körper ableiten. Namentlich die damals noch kühn erscheinende Folgerung, daß die spezifische Wärme mit abnehmender Temperatur unbegrenzt abnimmt, erwies sich bei näherer experimenteller Prüfung als durchaus zutreffend. Der Frage nach der Abhängigkeit der spezifischen Wärme von der Temperatur widmeten M. Born und Th. v. Kärmdn, später P. Debye vom Standpunkt der Quantentheorie aus ein sorgfaltiges Studium, und letzterem gelang die Aufstellung eines Gesetzes, welches den Gang der spezifischen Wärme mit der Temperatur aus den elastischen Konstanten der betreffenden Substanz zu berechnen gestattet. Der auffallendste Beweis für die Universalität des Wirkungsquantums ist aber wohl in dem Umstand zu erblicken, daß nicht nur der gesamte Inhalt des von W. Nernst im Jahr 1906 unabhängig von der Quantentheorie aufgestellten Wärmetheorems, sondern auch der absolute Wert der von Nernst eingeführten chemischen Konstanten sich, wie O. Sackur und H. Tetrode zeigten, eindeutig aus der Größe des Wirkungsquantums ergibt. Und heute ist das Vertrauen auf die Zuverlässigkeit der Theorie bereits so stark geworden, daß eine Abweichung eines gemessenen Wertes der chemischen Konstanten von dem theoretisch berechneten nicht mehr der Theorie als solcher, sondern den Voraussetzungen, auf die sie angewendet wird, nämlich den Annahmen über den atomistischen Zustand der betreffenden Substanz, zur Last gelegt wird. Aber die Gesetze der Thermodynamik sind alle nur zusammenfassender, statistischer Art, sie können über die Elektronenvorgänge in den Atomen nur in einem summarischen Sinn Aufschluß geben. Wenn nun das Wirkungsquantum die Bedeutung besitzt, welche ihm in der Thermodynamik zugeschrieben wird, so muß es auch in jedem einzelnen Atomvorgang, bei jedem Emissions- und Absorptionsprozeß, ja sogar in der frei sich ausbreitenden Lichtstrahlung selber sich bemerklich machen. Hier war es wieder A. Einstein, der mit der Hypothese voranging, daß die Lichtquanten eine selbständige Existenz besitzen und selb20*

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ständige Wirkungen ausüben. Das führte zu einer großen Reihe neuer Problemstellungen und neuer Versuche in Physik und Chemie, welche einerseits die Emission der Lichtquanten, andrerseits ihre Einwirkung auf Elektronen, Atome und Moleküle betreffen. Die erste ganz direkte Messung des Wirkungsquantums lieferten die Versuche von J. Franck und G. Hertz über die Lichterzeugung durch Elektronenstoß. Eine anschauliche und für weite Gebiete bedeutungsvolle Zusammenfassung der in den feinsten atomaren Vorgängen herrschenden Gesetzlichkeiten gelang N. Bohr durch die Aufstellung seines Atommodells, durch welches die im Wesen der Quantentheorie liegende Auflösung der Zustandsmannigfaltigkeit eines physikalischen Gebildes in eine abzählbare Reihe diskreter Zustände zum ersten Mal in einer auch für andere als thermodynamische Zwecke brauchbaren Weise verwirklicht wurde. Die Art dieser Auflösung, die Quantisierung, wurde besonders von A. Sommerfeld im engen Anschluß an Sätze der klassischen Theorie systematisch durchgeführt, wobei die Anwendung der relativistischen Mechanik zu einer Erklärung der Feinstruktur von Spektrallinien führte. Außer bei den spektralen Erscheinungen erwies sich das Bohrsche Modell auch wertvoll für das Verständnis chemischer Gesetzlichkeiten, einschließlich derjenigen, welche den Aufbau des periodischen Systems der chemischen Elemente bedingen. Daß das Bohrsche Atom gleichwohl nicht die endgültige Lösung des Quantenproblems bedeutet, hat Bohr selber nicht nur stets hervorgehoben, sondern er hat auch durch das von ihm eingeführte ungemein fruchtbare Korrespondenzprinzip, welches zugleich den Zusammenhang mit der klassischen Theorie aufzeigt, der weiteren Entwicklung der Quantentheorie die Richtung gewiesen. In der Tat ergaben sich mit der Zeit gewisse Unstimmigkeiten, die damit zusammenhingen, daß die diskreten Zustände des Bohrschen Atoms, die sogenannten stationären Elektronenbahnen, sich in ihren einzelnen Eigenschaften durchaus nicht den Gesetzen der klassischen Mechanik fügen wollten. Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit fand W. Heisenberg dadurch, daß er, auf eine detaillierte Beschreibung der Elektronenbewegungen im Sinn der klassischen Theorie Verzicht leistend, grundsätzlich nur direkt meßbare Größen zur theoretischen Betrachtung heranzog und so zur Aufstellung gewisser algebraischer Beziehungen gelangte, durch welche das Problem der Quantisierung in großer Allgemeinheit und Vollständigkeit gelöst wird. Der enge Zusammenhang der eingeführten eigentümlichen Rechnungsmethode mit der Matrizenrechnung wurde in gemeinschaftlicher Arbeit mit M. Born und P. Jordan aufgedeckt und weitere bedeutsame Schritte in der eingeschlagenen Richtung von W. Pauli und P. Dirac vollzogen. Merkwürdigerweise hat nun ein ganz verschiedenartiger, ja scheinbar gerade entgegengesetzt gerichteter Weg zu dem nämlichen Ziel geführt und dadurch der Quantenhypothese eine noch breitere Grundlage verliehen. Während die Heisenbergsche Theorie von vorne herein, den Forderungen der Quantisierung entsprechend, nur diskrete Unterschiede der behandelten Größen anerkannte, hatte sich unabhängig davon, anknüpfend an Ideen von L. de Broglie, eine gänzlich anders gerichtete Vorstellung entwickelt. Die Einsteinschen Lichtquanten verraten nämlich eine doppelte Natur, sie verhalten sich energetisch genommen wie diskrete Partikel, aber elektromagnetisch genommen zeigen sie, wie die Versuche

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immer wieder gelehrt haben, alle Eigenschaften eines stetig und periodisch veränderlichen Feldes, in vollkommener Übereinstimmung mit den Gesetzen der Maxwellschen Wellentheorie des Lichtes. Da nun der Zusammenhang zwischen Energie und Schwingungsperiode einzig und allein durch das Wirkungsquantum bedingt wird, so lag es nahe, diesen Zusammenhang als einen fundamentalen anzusehen und somit jeder Art von Energie, auch der Energie bewegter Elektronen und sogar derjenigen bewegter Atome eine gewisse periodische Welle, die sogenannte Materiewelle, zuzuordnen. Für Elektronenstrahlen fand C. Davisson, für Atomstrahlen O. Stern mit seinen Mitarbeitern auffallende experimentelle Bestätigungen einer solchen Auffassung. Ihre exakte analytische Formulierung erhielt die Wellenmechanik aber erst durch die von E. Schroedinger aufgestellte partielle Differentialgleichung, die einerseits für die diskreten Eigenwerte der Energie gerade zu den Heisenbergschen Quantisierungsregeln führt, andrerseits aber die Möglichkeit einer bedeutenden Erweiterung des Anwendungsgebietes der Quantentheorie auf Stör ungsvorgänge und auf verwickeitere Probleme geschaffen hat. Es ist heute noch nicht abzusehen, zu welchen Konsequenzen im einzelnen die weitere Bearbeitung der Schroedingerschen Differentialgleichung noch führen wird. Aber soviel läßt sich schon gegenwärtig mit Bestimmtheit sagen, daß die Wellenmechanik sich gegenüber der klassischen, der Korpuskularmechanik, als eine Verallgemeinerung und Erweiterung derselben endgültig durchgesetzt hat. Was sie von jener charakteristisch unterscheidet, ist vor allem der Umstand, daß die Gesetze für die Bewegung eines physikalischen Gebildes nicht in der Weise formuliert werden können, daß man, wie in der klassischen Mechanik, das Gebilde in seine unendlich kleinen Bestandteile zerlegt denkt und die Bewegung eines jeden Bestandteils unabhängig von den übrigen betrachtet, sondern daß man das Gebilde stets als ein Ganzes ins Auge faßt und seine Bewegung zusammengesetzt ansieht aus einzelnen diskret von einander verschiedenen Eigenbewegungen des Gebildes. Damit hängt eng zusammen, daß nicht die lokale Kraft, wie in der Newtonschen Mechanik, sondern das Integral der Kraft, das Potential, in die Grundgleichung eingeht, ferner daß es gar keinen Sinn hat, von dem Zustand eines materiellen Punktes als von dem Inbegriff seiner Lage und seiner Geschwindigkeit zu sprechen; vielmehr bleibt im Zustandsbereich günstigstenfalls ein gewisser Spielraum von der Größenordnung des Wirkungsquantums vollständig unbestimmt. Deshalb haftet auch jeder Messungsmethode prinzipiell eine Unsicherheit von dem entsprechenden Betrage an. So gewiß die Naturgesetze unabhängig sind von den Eigenschaften der Instrumente, mit denen sie geprüft werden, ebenso sicher spielt bei jeder Beobachtung eines Naturvorganges die jeweilige zufällige Beschaffenheit des Meßinstrumentes eine Rolle von prinzipieller Bedeutung. Aus diesem Grunde neigen manche Forscher dazu, in der Quantenphysik die kausale Betrachtung der Naturvorgänge aufzugeben und durch eine statistische zu ersetzen. Stattdessen kann man es aber mit gleichem Recht vorziehen, die bisher übliche aus der klassischen Physik überkommene Formulierung des Kausalgesetzes so abzuändern, daß dasselbe wieder strenge Gültigkeit annimmt. Welche der beiden Anschauungen letzten Endes die leistungsfähigere ist, muß ihre weitere Ausbildung lehren.

JAMES FRANCK EXPERIMENTALPHYSIK Die Wissenschaft der Physik hat in den letzten 50 Jahren so grundlegende Änderungen und Erweiterungen erfahren, wie nie in ihrer Geschichte zuvor. Im Zusammenhang hiermit steht die Tatsache, daß in dieser Festschrift über den Fortschritt der eigentlichen Physik in drei Unterabteilungen: theoretische Physik, Experimentalphysik und angewandte Physik berichtet wird. Diese Kapitel und, wenn man die Physik in etwas weiterem Sinne faßt, auch Astrophysik, Geophysik und physikalische Chemie haben sich in den letzten Jahren aus rein praktischen Gründen zu eigenen Disziplinen entwickelt, da der Umkreis der Physik zu groß wurde, um von Einzelpersonen völlig übersehen zu werden. Sachlich entsteht die Wissenschaft der Physik erst durch Zusammenwirken ihrer theoretischen und experimentellen Ergebnisse. Die Feststellung von Tatsachen ist Sache des Experiments, ihre systematische Einordnung Aufgabe der Theorie, während die angewandte Physik den beiden Schwesterdisziplinen die Übernahme ihrer Resultate für ihre Zwecke durch Darbietung von immer feineren Apparaturen und Versuchsmethoden vergilt, die neue Fortschritte ermöglichen. Die innige Verflechtung der experimentellen und theoretischen Ergebnisse bringt es mit sich, daß bei der Zusammenstellung der hauptsächlichsten Resultate des Experiments dauernd vom Ordnungsprinzip der Theorie Gebrauch gemacht werden muß und daß ebenfalls Resultate zu erwähnen sein werden, die dem Fachgebiet der angewandten Physik angehören. Zu Beginn der achtziger Jahre stand die Physik auf dem Standpunkt der mechanischen Weltanschauung, d. h. Zurückführung der Erscheinungen auf Kräfte und Bewegungen. Manche Experimentatoren hatten den Glauben daran, daß prinzipiell Neues in der Physik zu finden sein würde, aufgegeben. Es galt nach ihrer Meinung nur, durch immer feinere Messungen die schon bekannten Naturkonstanten genauer festzulegen. Dieser Standpunkt scheint unproduktiv, jedoch sind viele der großen Fortschritte der Präzisionsphysik zu danken, da erst genaue Messungen Abweichungen von der theoretischen Erwartung aufdeckten, die fundamentale Änderungen der Theorie zur Folge hatten. Ebenso bedeutsam, vielleicht noch wichtiger, ist die experimentelle Durchforschung der Gebiete, die noch nicht theoretisch faßbar sind, bzw. solcher, in denen verschiedene theoretische Auffassungen miteinander ringen. Ein Beispiel für den letztgenannten Fall ist der Kampf um die Maxwellsche Theorie, für die vor allem die experimentellen Untersuchungen von Heinrich Hertz die Beweise erbracht haben. E x p e r i m e n t e l l e r B e w e i s der M a x w e l l s c h e n T h e o r i e . Aufbauend auf Ideen von Faraday hatte Maxwell die Theorie des elektromagnetischen Feldes entwickelt. Störungen des elektromagnetischen Gleichgewichts sollten sich wellenartig im Raum mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Da die damals noch hypothetischen elektromagnetischen Wellen Transversalwellen sein sollten, die mit Lichtgeschwindigkeit sich bewegen, so schloß Maxwell,

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daß auch das sichtbare Licht aus elektromagnetischen Schwingungen bestehen müsse. Heinrich Hertz zeigte 1887, daß von einem Drahtsystem, in dem eine elektrische Ladung hin und herschwingt, »Strahlen elektrischer Kraft« ausgehen,- die in all ihren Eigenschaften mit Ausnahme der Wellenlänge sich wie Licht verhalten. Sie zeigen die Eigenschaften der Bewegung, Reflexion und Brechung, sie sind Transversalwellen, und ihre Fortpflanzungsgeschwindigkeit stimmt vollkommen mit der des Lichtes überein. Hertz konnte die Wellen etwa 10 Meter weit durch den Raum verfolgen. Es sei gestattet, mit ein paar Worten vom eigentlichen Thema abschweifend, darauf hinzuweisen, daß neben ihrer Bedeutung als Beweis der Maxwellschen Theorie diese Versuche die Grundlage für die drahtlose Telegraphie und das Radio geschaffen haben. Heute ist es gelungen, statt der damaligen Entfernung von 10 Metern Entfernungen von etwa 10 Millionen Kilometern mit den Hertzschen Strahlen zu überbrücken. Die von Störmer gefundenen sogenannten Weltechos sind Reflexionen Hertzscher Wellen an Bündeln von Kathodenstrahlen, die weit entfernt von der Erde im Weltenraum verlaufen. Naturgemäß sind solche Fortschritte nur möglich gewesen durch Entwicklung der Apparatur. Wir wollen hier nur auf das sogenannte Verstärkerrohr hinweisen, das aufbauend auf rein physikalischen Untersuchungen (Gasentladung—Liebenrohr, Glühkathodenemission—Wehnelt u. a.) von der angewandten Physik entwickelt und jetzt wiederum eine wesentliche Hilfsapparatur für reine physikalische Messungen geworden ist. Erwähnt sei die Verwendung zu Messungen äußerst schwacher Lichtstärken (Spektroskopie und Sternphotometrie, E. Meyer, Rosenberg). Zum Thema »Prüfung der Maxwellschen Theorie« zurück führen Betrachtungen über die Länge der Hertzschen Wellen. Hertz selbst erhielt damals Wellenlängen von etwa 10 Metern. Heute wird mit Wellenlängen von vielen Kilometern bis herab zu einigen Millimetern gearbeitet. Die kurzen Wellen sind es, die die Kluft zwischen Hertzschen Wellen und Lichtwellen zum Teil überbrücken, denn das sichtbare Licht hat Wellenlängen von etwa 5.10- 5 cm. Durch Untersuchung der Emission von Lichtquellen ist es gelungen, ins ultrarote Gebiet bis zu x/a mm Wellenlänge vorzudringen. Die hauptsächlichsten Untersuchungen auf diesem Gebiete stammen von Rubens und Mitarbeitern, die mit möglichst langwelligem Licht weitere Prüfungen und Bestätigungen der Maxwellschen Theorie vornahmen. Erinnert sei an die Bestätigung der Maxwellschen Beziehung, Brechungsindex = Y Dielektrizitätskonstante und Berechnung des optischen Reflexionskoeffizienten von Metallen aus ihrer elektrischen Leitfähigkeit (Rubens u. Hagen). Auch hier wiederum bedurfte es der Entwicklung vieler experimenteller Hilfsmittel, z. B. der Thermosäule, des Bolometers und Mikroradiometers, und wiederum ergab die genaue Durchforschung des Gebietes Resultate, die auch für andere Teilgebiete der Physik sich von großer Bedeutung erwiesen. Wir nennen als Beispiel die Reststrahlmethode von Rubens, die die Lage der Eigenschwingungen der Bausteine der Kristalle zu ermitteln gestattete. In einem etwas weniger engen Zusammenhange mit der Prüfung der Maxwellschen Theorie steht der experimentelle Beweis für das Vorhandensein eines Lichtdruckes und seine quantitativen Messungen. Ein Körper, auf den Licht auffällt, erfährt, wie aus den Maxwellschen Gleichungen zu berechnen ist, einen

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Druck, der lichtemittierende Körper selbst einen Rückstoß. Nachdem Lebedew 1892 zuerst das Vorhandensein dieses Effektes durch Drehung eines leichten Radiometerflügels, der an einem dünnen Draht aufgehängt war, bei Belichtung nachgewiesen hat, bedurfte es der ganzen Entwicklung der Vakuumtechnik, bis Gerlach und Mitarbeiter neuerdings wirklich quantitative Resultate erhalten konnten. Wir kommen auf den Strahlungsdruck später in anderem Zusammenhange zurück. E x p e r i m e n t e l l e G r u n d l a g e n der k i n e t i s c h e n T h e o r i e der M a t e r i e . Die kinetische Theorie der Materie und insbesondere der Gase war um 1880 voll entwickelt.Von deutschen Forschern sind hier besonders Krönig und Clausius sowie später Boltzmann, Kundt und Warburg, O. E. Meyer u. a. zu nennen. Aus Beobachtungen über Druck, innere Reibung, Diffusion und Wärmeleitung von Gasen sowie aus der Zustandsgieichung waren Werte für das Gewicht der Moleküle, ihre Zahl pro Volumeneinheit bei gegebenem Druck, für freie Weglänge und Durchmesser der Moleküle bekannt. Trotzdem gab es bis in die neunziger Jahre hinein ernsthafte Forscher, die die Atom- und Molekülhypothese ablehnen zu dürfen glaubten. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat aus der Atomhypothese eine sichergestellte Tatsache gemacht. Die damals bekannten Moleküle und Atomkonstanten und einige weitere sind durch ganz direkte Methoden experimentell ermittelt. Von der großen Zahl verschiedener Möglichkeiten zur genauen Bestimmung der Anzahl der Moleküle pro ccm nennen wir als direkteste die Zählmethode, die unter Benutzung der Radioaktivität ausgeführt ist. Wie bei Besprechung der Radioaktivität näher zu erwähnen ist, senden radioaktive Stoffe positiv geladene Heliumatome mit so großer Energie aus, daß jeder dieser einzelnen Atomstrahlen sichtbare Wirkungen zu erzeugen imstande ist. So ergibt ihr Auftreffen auf Kristalle Lichtfünkchen, sogenannte Szintillationen, die man mit der Lupe wahrnehmen kann. Durch Zählung derselben läßt sich die Zahl der pro Sekunde emittierten Strahlen feststellen. Durch Messung des Heliumdruckes, der sich in einer längeren Zeit entwickelt, wenn eine entsprechende radioaktive Substanz in ein Vakuum eingeschlossen wird, ergibt sich die Zahl der Heliumatome pro Volumeneinheit, die den betreffenden Gasdruck erzeugen. Die hauptsächlichsten dieser Messungen sind in England durch Rutherford ausgeführt, jedoch sind auch deutsche Forscher, so vor allen Dingen Regener, an solchen Messungen wesentlich beteiligt. Eine weitere Methode benutzt die sogenannte Brownsche Molekularbewegung kleiner Partikelchen, z. B. Rauchteilchen, die in einem Gas suspendiert sind. Teilchen bis 10-6 cm Durchmesser können im Ultramikroskop, das von Siedentopf und Zsigmondy konstruiert worden ist, durch abgebeugtes Licht sichtbar gemacht werden. Nach Theorien von Einstein und von Smoluchoswki verhalten sich solche Partikelchen wie entsprechend große Moleküle. Ihre Verteilung, Beweglichkeit etc., die besonders von Perrin und Mitarbeitern untersucht wurde, gestatten sichere Schlüsse auf das Verhalten eines Gases, das aus unsichtbar kleinen Molekülen besteht. Die Geschwindigkeit von Molekülen, ihre freie Weglänge und damit ihr Durchmesser werden heutzutage mit der Methode der Atomstrahlen festgestellt.

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Man kann aus einem gaserfüllten Räume durch eine Reihe von Blenden Atome oder Moleküle in ein vollkommenes Vakuum eintreten lassen, wo sie sich, da nunmehr Zusammenstöße fehlen, gradlinig weiter bewegen mit der Geschwindigkeit, die der Temperatur des gaserfullten Raumes, aus dem sie austreten, entspricht. Die erste Beobachtung stammt von dem Franzosen Dunoyer, ihre Ausnutzung zur Messung von Atomkonstanten hauptsächlich von Stern. Die Zerstreuung von Atomstrahlen in einem verdünnten Gase (Born) ermöglicht die Messung der freien Weglänge, die Ablenkung der Strahlen durch Coriolis Kräfte in einem rotierenden System eine Messung ihrer Geschwindigkeit (Stern). Später werden wir auf weitere Anwendungen dieser Methode zurückkommen. L e i t u n g der E l e k t r i z i t ä t . Wir gehen nunmehr zu einem Gebiete der Physik über, dem viele umwälzende Entdeckungen der letzten 50 Jahre angehören, nämlich der Elektrizitätsleitung. Das Tatsachenmaterial über elektrische Leitung von Metallen lag im Jahre 1880 schon zum größten Teile vor, während die theoretischen Vorstellungen (s. Artikel über theoretische Physik) sich äußerst stark gewandelt haben. Die Leitung wird durch Wanderung negativer Elektronen im elektrischen Felde hervorgerufen. Die wirkliche Existenz von Elektronen und ihre Eigenschaften ergab erst das Studium der Gasentladungen. Das wesentlichste neue experimentelle Ergebnis auf dem Gebiete der metallischen Leitung ist wohl das Auftreten der Supraleitung, d. h. das Verschwinden des Widerstandes bei äußerst tiefen Temperaturen (Kamer linghOnnes). Theoretisch ist diese Erscheinung noch nicht völlig geklärt. Zu ihrer Auffindung gehörte die Entwicklung der Verfahren zur Herstellung tiefer Temperaturen, d. h. Verflüssigung der schwer kondensierbaren Gase. Von deutschen Forschern hat auf letzterem Gebiete Linde die größten Fortschritte erzielt. Elektrolyse. Auch die wesentlichsten Gesetzmäßigkeiten der elektrolytischen Leitung lagen zu Beginn der betrachteten Epoche vor. Nach Arrhenius (1884) erfolgt die elektrische Leitung durch positive und negative elektrisch geladene Ionen, in die die gelöste Substanz zerfallt. Helmholtz hat zuerst darauf hingewiesen, daß die Faradayschen Gesetze der Elektrolyse sich am zwanglosesten erklären lassen, wenn man annimmt, daß jedes einwertige Ion die gleiche Elektrizitätsmenge, »die elektrische Einheitsladung«, trägt. Aus einer Messung der Elektrizitätsmenge, die durch den Elektrolyten fließen muß, um eine bestimmte Menge Gas an den Elektroden abzuscheiden (elektrochemisches Äquivalent), und der nach dem oben erwähnten Verfahren bestimmten Zahl der Moleküle in der abgeschiedenen Gasmenge läßt sich die Größe dieser Einheitsladung (4,77.10- 10 e. s.) berechnen. Der Dissoziationsgrad in Ionen sollte von der Konzentration der gelösten Substanz abhängig sein. Bis in die neueste Zeit hinein schienen alle Beobachtungen mit dieser Hypothese im Einklang zu sein. Neuerdings hat jedoch Max Wien Abweichungen vom Ohmschen Gesetz bei hohen elektrischen Spannungsgefällen

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gefunden, die eine Theorie von Debye bestätigen. Danach hängt bei starken Elektrolyten nicht der Dissoziationsgrad von der Konzentration ab, sondern nur die Beweglichkeit der Ionen, da um ein Ion eines Vorzeichens sich eine Atmosphäre der Ionen umgekehrten Vorzeichens herumlagert, deren Dichte von der Konzentration abhängt. E l e k t r i z i t ä t s l e i t u n g der G a s e . Die Elektrizitätsleitung durch Gase hat sich fast völlig in den letzten Jahrzehnten entwickelt und den größten Fortschritt der physikalischen Erkenntnisse erbracht. Gase sind Isolatoren, wenn sie nicht durch äußere Einwirkung (von sogenannten Ionisatoren), z. B. Einstrahlung sehr ultravioletten Lichtes, zum Teil aus neutralen Molekülen in Ionen zerlegt werden. Die Ionen wandern unter dem Einfluß der elektrischen Kräfte ähnlich wie bei der Elektrolyse. Die Kinetik dieser Ionen im elektrischen Felde ist genau untersucht worden. Neben J. J. Thomson sind Ph. Lenard und J. Stark die wichtigsten Ergebnisse zu danken. Bei Zusammenstößen mit Teilchen, die im Gase suspendiert sind, lagern sich die Ionen an dieselben an. Da, wie oben erwähnt, sehr kleine Partikelchen im Ultramikroskop sichtbar sind, so läßt sich die Kinetik dieser Makroionen ganz in Analogie zu den Makromolekülen (siehe oben) direkt beobachten. Eine Messung ihrer Geschwindigkeit im elektrischen Felde ergibt die Möglichkeit, die elektrische Ladung, die sie tragen, d. h. die Elementar-Ladung der Mikroionen, zu berechnen. Diese Methode ist von Ehrenhaft und fast gleichzeitig von Millikan angegeben worden. Präzisionsmessungen, die Millikan durchführte, ergaben den gleichen Wert wie die Elektrolyse. Der Millikansche Wert wird als der genaueste angesehen. Da das Leitvermögen der Gase selbst unter dem Einfluß der Ionisatoren klein ist, gelingt es, hohe Potentialgradienten im Gase aufrecht zu erhalten. Dadurch werden die Ionen so stark beschleunigt, daß sie beim Zusammenstoß neue Ionen erzeugen können. So entstehen relativ starke Ströme durch das Gas, wobei das Gas zum Leuchten erregt wird. Je nach dem Druck entstehen verschiedene Entladungsformen: Funken, Spitzenentladung, Glimmentladung, Lichtbogen usf. Die uns hier am meisten interessierende Erscheinung der Glimmentladung, die besonders bei relativ niederen Gasdrucken sich einstellt, wurde schon vor 1880 insbesondere von Plücker und Hittorf studiert. Kathodenstrahlen. Wir müssen uns versagen, auf Einzelheiten einzugehen. Es mag genügen zu erwähnen, daß bei der Glimmentladung das stärkste Potentialgefalle (Kathodenfall, Warburg) sich in der Nähe der Kathode befindet, so daß dort die negativ und positiv geladenen Partikel die größte Beschleunigung erfahren. Dadurch erhalten die Ladungsträger so große Geschwindigkeit, daß sie als geradlinig sich ausbreitende Strahlen durch das verdünnte Gas hindurchfahren. Die negativ geladenen Strahlen nennt man nach einem Vorschlag von Goldstein Kathodenstrahlen. Schon Hittorf hat 1869 diese von der Kathode gradlinig ausgehenden Strahlen beobachtet und

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gefunden, daß sie beim Auftreffen auf die Glaswand dieselbe zum Leuchten bringen. Ferner konnte er zeigen, daß die Strahlen im Magnetfeld abgelenkt werden. Längere Zeit blieben diese Entdeckungen beinahe unbeachtet, bis Goldstein im Jahre 1876 die Ablenkung der Kathodenstrahlen in einem elektrischen Felde bewies. Auf den Meinungsstreit über die Natur dieser Strahlen ist im Artikel über theoretische Physik hingewiesen. Es ergab sich, daß hier, wie schon oben vorweggenommen, eine Strahlung negativer Korpuskeln vorlag. Aus Messungen über Ablenkung der Partikeln im elektrischen Felde und im magnetischen Felde erhält man zwei Gleichungen, die das Verhältnis von Ladung zur Masse (5) und die Geschwindigkeit der Teilchen zu berechnen gestatten. Legt man für die Ladung den Wert der Elementarladung zugrunde, so ergibt sich für die Masse ein 1800 mal kleinerer Betrag als für die Wasserstoffatome. Für die Geschwindigkeit erhält man Werte, die bei hohen Entladungsspannungen an die Größenordnung der Lichtgeschwindigkeit heranreichen. Die Geschwindigkeit selbst ist später auf unabhängige Weise nach einem Vorschlag von des Coudres, von Wiechert und in neuester Zeit von Kirchner bestimmt worden durch einen Vergleich mit der Geschwindigkeit elektrischer Wellen längs Drähten. Die gemessenen und aus denAblenkungsversuchen berechneten Werte stimmen völlig überein. Somit ergab sich, daß man es hier nicht mehr mit gewöhnlicher Materie, sondern mit einem Baustein der Atome zu tun hat. Es gibt nur e i n e Art von Elektronen, denn sie zeigen immer das gleiche Verhalten, unabhängig davon, aus welchem Gas sie stammen. Sie treten spontan aus hocherhitzten festen Körpern aus (Glühelektronenemission) und können auch durch Bestrahlung fester Körper mit kurzwelligem Licht erzeugt werden (Lichtelektrischer Effekt, Hallwachs, Lenard). Heinrich Hertz fand, daß die Kathodenstrahlen Folien durchdringen können. Lenard ließ sie 1892 durch Folien in ein vollkommenes Vakuum eintreten, in dem ihre Eigenschaften besonders rein untersucht werden konnten. Wurden sie dagegen in gaserfüllte Räume gesandt, so konnten ihre Zusammenstöße mit den Gasmolekülen — freie Weglänge, Ionisation und Lichterregung — studiert werden. Die freie Weglänge langsamer Elektronen stimmt nach Lenard bei kleinen Geschwindigkeiten angenähert mit derjenigen überein, die für einen Massenpunkt sich nach der kinetischen Gastheorie ergibt; jedoch hat Ramsauer neuerdings eine sehr bemerkenswerte Abhängigkeit der freien Weglänge langsamer Elektronen in Edelgasen von ihrer Geschwindigkeit gefunden. Bei großen Geschwindigkeiten fand Lenard schon 1903, daß die Elektronen Atome durchdringen können (siehe Abschnitt Radioaktivität). Auf Ionisation und Lichterregung durch den Stoß von Elektronen gehen wir später ein. Untersuchungen von Kaufmann u. a. haben gezeigt, daß bei Anwendung hoher elektrischer Spannungen das Verhältnis von e/m nicht konstant bleibt, vielmehr wächst die Masse mit der Geschwindigkeit der Strahlen an nach einer Gesetzmäßigkeit, die sich aus der Einsteinschen Relativitätstheorie ergibt. Diese Untersuchungen sind eine wichtige experimentelle Stütze dieser Theorie.

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Kanalstrahlen. Die positiv geladenen Strahlen, die bei der Glimmentladung auf die negativ geladene Kathode zulaufen, können durch ein in die Kathode gebohrtes Loch hindurchtreten und hinter derselben beobachtet werden. Goldstein hat diese Strahlen im Jahre 1886 gefunden und ihnen den Namen Kanalstrahlen gegeben. Ihre Deutung als Strahlen positiver Ionen stammt größtenteils von W. Wien, der neben J. J. Thomson in England die wichtigsten Kanalstrahluntersuchungen durchgeführt hat. Die Bestimmungen von e/m, die nach dem gleichen Verfahren wie bei den Kathodenstrahlen durchgeführt wurden, ergaben, daß die positiven Strahlen eine Masse besitzen, die identisch ist mit der der Atome des Gases, in dem die Entladung vor sich geht. Die positive Elektrizität tritt also nicht frei auf. Positive Elektronen gibt es nicht. Die Geschwindigkeit der Kanalstrahlen konnte J. Stark aus dem Dopplereffekt entnehmen. Die Kanalstrahlen werden beim Zusammenstoß mit Atomen zum Leuchten angeregt und stellen somit eine schnell bewegte Lichtquelle dar, die gegenüber der ruhenden eine Dopplerverschiebung ihrer spektralen Emission zeigt. Läßt man leuchtende Kanalstrahlen in ein hohes Vakuum eintreten, so kann man, wie W. Wien zeigte, längs des Strahles das Abklingen des Leuchtens (die Strahlungsdämpfung der Lichtschwingung) messend verfolgen. Prinzipiell bedeutsam ist ferner, daß eine genaue Untersuchung des e/m von Kanalstrahlen quantitative Ergebnisse über die sogenannte Isotopie der Elemente erbracht hat. Ein chemisches Element besteht in vielen Fällen nicht aus Atomen gleichen Atomgewichtes, sondern trotz chemisch einheitlichen Verhaltens aus einer Mischung von Atomen ungleichen Gewichts. So besteht Chlor, dessen mittleres Atomgewicht 35,5 beträgt, aus einem Gemisch von C1 35 und C1 37. Das wichtigste Ergebnis ist, daß alle wirklichen Atomgewichte ganzzahlige Vielfache des Atomgewichtes des Wasserstoffes sind, so daß offenbar das Wasserstoffatom oder besser der Atomkern, das Proton, einen Baustein der schwereren Atome darstellt. Die sehr kleinen Abweichungen von der Ganzzahligkeit gestatten nach der Relativitätstheorie die Berechnung der Energie, die beim Aufbau der Atomkerne aus Elektronen und Protonen frei wird. Aston in England hat die hauptsächlichsten Messungen durchgeführt. Von deutschen Forschern, die sich mit der Frage der Isotopie beschäftigt haben, sind vor allem Fajans und v. Hevesy zu nennen. Diese beiden Autoren studierten die Isotopie an radioaktiven Elementen. Sie sind neben Soddy diejenigen gewesen, die den Begriff der Isotopie geprägt haben. Schließlich mag erwähnt werden, daß auch aus der spektralen Emission von Molekülen sich das Vorhandensein von Isotopen und ihre quantitative Bestimmung entnehmen läßt (Kratzer u. a.). Auf weitere im Entladungsrohr auftretende Korpuskularstrahlen, wie z. B. die von Gehrke und Reichenheim gefundenen Anodenstrahlen, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Röntgenstrahlen. Im engsten Zusammenhange mit dem Studium der Kathodenstrahlen steht die allgemein bekannte Entdeckung der Röntgenstrahlen im Jahre 1895. Röntgen studierte das Verhalten der Lenardschen Kathodenstrahlen und fand dabei, daß

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gewisse Kristalle auch dann aufleuchten, wenn sie von den Kathodenstrahlen nicht getroffen werden konnten. Es erwies sich, daß die Auftreffstellen der Kathodenstrahlen auf feste Körper (Antikathode) die Quelle einer durchdringenden Strahlung wurden. Diese neue Strahlung rief das Aufleuchten der Kristalle hervor. Röntgen hat in einigen Monaten alle Eigenschaften dieser Strahlung so genau studiert und auf wenigen Seiten beschrieben, daß bis zum Jahre 1912 keine weiteren prinzipiell wichtigen Ergebnisse über die Röntgenstrahlung gefunden wurden. Ein näheres Eingehen auf die wohlbekannten Eigenschaften der Röntgenstrahlen erübrigt sich. Man hatte viele Gründe, sie für eine äußerst kurzwellige Lichtstrahlung zu halten, die durch die Bremsung der Elektronen beim Auftreffen auf feste Körper entsteht. Nach dem für gewöhnliches Licht benutzten Verfahren ließen sich jedoch die Wellenlängen der Röntgenstrahlen eben wegen ihrer Kürze nicht messen, v. Laue kam 1912 auf den fundamentalen Gedanken, einen Kristall als optisches Beugungsgitter für diese kurzen Wellen zu benutzen, v. Laue, Friedrich und Knipping erhielten so die ersten Wellenlängenmessungen von Röntgenstrahlen. Auf dieser Arbeit baut sich jetzt das große Gebiet der Röntgenspektroskopie auf sowie die moderne Strukturforschung der Kristalle. Die R a d i o a k t i v i t ä t . Die Entdeckung der Radioaktivität schließt unmittelbar an die Entdeckung der Röntgenstrahlen an. Röntgen hatte gezeigt, daß seine Strahlen bei einem Auftreffen auf gewisse Kristalle ein Leuchten derselben hervorrufen. Ein ähnliches Leuchten vieler Substanzen tritt auf bei Bestrahlung mit gewöhnlichem Licht, wobei oft eine Aufspeicherung des Lichtes erfolgt, so daß es noch lange Zeit nach Aufhören der Bestrahlung reemittiert wird (Phosphoreszenz, in Deutschland vor allem von Lenard untersucht). Becquerel, der mit Untersuchung solcher Phosphore beschäftigt war, stellte sich 1896 die Frage, ob er Körper finden könnte, die ohne Bestrahlung mit Röntgenstrahlen und ohne vorher dem Licht exponiert zu sein, Strahlungen aussenden, und er fand in der Tat im Uran eine solche Substanz. Die Strahlen wurden lange Zeit hindurch in unverminderter Stärke ausgesandt. Sie waren wie Röntgenstrahlen fähig, schwarzes Papier und andere lichtundurchlässige Substanzen zu durchdringen, und sie ionisierten die Luft gerade wie Röntgenstrahlen. Die Stärke der Strahlung hängt in erster Näherung ab vom Urangehalt der Salze, jedoch fand Frau Curie bei einigen Uranmineralien Abweichungen und kam zu dem Schluß, daß eine stärker aktive Verunreinigung dem Uran beigemischt sein müßte. Das führte zur Entdeckung des Radiums. Im Laufe der Zeit wurden eine große Zahl anderer radioaktiver Elemente gefunden. Neben französischen und englischen Physikern sind in Deutschland als Entdecker radioaktiver Substanzen G. C. Schmidt, Giesel, Marckwaldt, O. Hahn und Lise Meitner zu nennen. Es erwies sich, daß die radioaktiven Elemente drei Strahlensorten aussenden. Die y- Strahlen, die eine kurzwellige Röntgenstrahlung darstellen, die ß- Strahlen, die schnelle Kathodenstrahlen sind, und die a-Strahlen, die den Kanalstrahlen entsprechen. Letztere sind, wie schon oben erwähnt wurde, Strahlen von Heliumatomen mit zwei positivenElementarladungen, die mit großer Energie emittiert werden. Gerade die a- Strahlen waren es, die Rutherford und Soddy einerseits und Elster und

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Geitel andererseits zu der jetzt sichergestellten Hypothese führten, daß die Erscheinung der Radioaktivität einen spontanen Zerfall von Atomen darstellt. Messungen über die Absorption von «-Strahlen, insbesondere der Sichtbarmachung der Bahn derselben in der Wilsonschen Nebelkamera, zeigten, daß die doppelt positiv geladenen Heliumatome einen Durchmesser haben, der äußerst klein ist gegenüber dem Durchmesser eines normalen Atoms. Ferner zeigten die bedeutenden Untersuchungen Rutherfords, daß die a- Strahlen durch Atome hindurchgehen können und daß nur ein im Verhältnis zum Gesamtvolumen des Atoms kleiner Teil für sie undurchlässig ist. Ähnliche Beobachtungen hatte früher 1903 Lenard für Kathodenstrahlen durchgeführt und daraus geschlossen, daß die Masse der Atome in einem sehr kleinen Teil ihres Volumens konzentriert sei. Rutherford konnte auf Grund seiner Messungen zu der vertieften Vorstellung gelangen, daß Atome aus positiv geladenen Kernen aufgebaut seien, die praktisch die ganze Masse des Atomkernes enthalten, während die negativen Elektronen in einer Art Planetenbahnen die positiv geladenen Kerne umkreisen. Zu einer Theorie des Atombaues führte diese Hypothese in den Händen von Bohr unter Benutzung der Planckschen Quantentheorie (s. w. u.). Heute beschäftigen sich zahlreiche experimentelle und theoretische Arbeiten mit den Eigenschaften des Atomkernes, seinem Bau und seinem physikalischen Verhalten, so daß man direkt von einer Kernphysik spricht. Zu den letzten Errungenschaften der Kernphysik gehört die Atomzertrümmerung, die zuerst Rutherford und seinen Mitarbeitern gelungen ist, indem sie mit a-Strahlen andere Atomkerne bombardierten. Die Identifizierung der Atomtrümmer, unter denen auch H-Kerne sich befinden, geschieht durch magnetische Ablenkungsversuche. Zur Zeit wird außer in Cambridge noch im Wiener Radiuminstitut (Kirsch undPetterson) und in der Reichsanstalt in Charlottenburg (Bothe) darüber gearbeitet. Sehr reizvolle und wichtige Fragestellungen zum Kapitel der Kernstruktur ergaben sich aus dem Studium der y und ß Strahlspektra, z. B. die Frage, ob die y-Strahlen vor oder nach dem Zerfall des Atoms emittiert werden. Diese Dinge geklärt zu haben, ist das Verdienst von Lise Meitner und C. D. Ellis. Spektroskopie. Im engen Zusammenhang mit dem Studium der Gasentladungen steht die Entwicklung der Spektroskopie. Sie hat seit der großen Entdeckung der Spektralanalyse von Bunsen und Kirchhoff im Jahre 1860 die Aufmerksamkeit der experimentellen Physiker immer wieder erweckt,besonders nachdem durchUntersuchungen von Plücker und Hittorf die bequeme Methode zur Anregung des Leuchtens durch Gasentladungen bekannt wurde und die spektroskopischen Hilfsmittel, Glas- und Quarzspektralapparate sowie das Rowlandsche Konkavgitter immer präzisere Feststellungen der emittierten Wellenlängen ermöglichten. Eine Erweiterung, deren Bedeutung gerade in den letzten Jahren sich immer mehr zeigt, erfuhren die spektroskopischen Hilfsmittel durch Konstruktion von Vakuumspektrographen (Schumann). Auf die rein spektralanalytische Seite der Untersuchungen — Wiedererkennen der Elemente durch Auftreten bestimmter Wellenlängen im Spektrum sowie Auffinden neuer Elemente durch Auffindung neuer Spektral-

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linien — sei hier nur hingewiesen. Für den Physiker sind noch bedeutsamer die Resultate über Zusammenfassung von Spektrallinien eines Spektrums zu gewissen Serien, die eine einfache Gesetzmäßigkeit zeigen. Es war von vornherein klar, daß eine Deutung solcher Serienspektren der Atome eine tiefe Kenntnis über den Bau der Atome vermitteln mußte. Die erste glückliche Entdeckung einer Serienformel hat man J. Balmer 1885 zu verdanken, der eine besonders einfach gebaute Serie, die nach ihm benannte Balmerserie, im Wasserstoff fand. Bei einer größeren Zahl von weiteren Elementen deckten Rydberg, Runge und Paschen ähnliche Serienbeziehungen auf. Ist das lichtemittierende und lichtabsorbierende Gas nicht einatomig, sondern besteht es aus mehratomigen Molekülen, so sind die Spektren komplizierter. Man spricht dann nicht mehr von den Serienspektren der Elemente, sondern von Bandenspektren, da eine periodische Wiederholung gleichartig strukturierter Bänder für diese Spektren typisch ist. Die Deutung der Bandenspektren ist für den Molekülbau von gleicher Wichtigkeit, wie die der Atomspektren für den Bau der Atome. Hier Namen zu nennen, würde zu weit führen, da viele Physiker in allen Ländern mit der Durchführung solcher Untersuchungen beschäftigt sind. Die theoretische Deutung der Spektren wird weiter unten erwähnt. Einige Worte sind hinzuzufügen über die Struktur der Spektrallinien. Bei einfachen Linien ist ihre Intensitätsverteilung über ein enges Wellenlängengebiet praktisch nur gegeben durch den Dopplereffekt, so zwar daß sich aus der Messung der Breite von Spektrallinien die Geschwindigkeit der Atome entnehmen läßt. Oft sind die Linien nicht einfach, sondern bestehen aus einer Mehrzahl engbenachbarter Linien. Man spricht dann von Spektrallinien mit Feinstruktur; insbesondere die Feinstruktur der Spektral linien der Wasserstoffatome und der einfach ionisierten Heliumatome (Paschen) sind für die Theorie des Atombaues (Sommerfeld) von großer Bedeutung geworden. Die Untersuchung der Feinstruktur geschieht entweder mit dem Gitter oder mit Interferenzapparaten, von denen die Lummer-Gehrckesche Interferenzplatte besonders genannt werden soll. In letzter Zeit hat sich ergeben, daß auch in vielen Fällen die sogenannten einfachen Linien eine Hyperfeinstruktur zeigen, deren genaue Erforschung für die neueste Entwicklung der Theorien des Atombaues bedeutsam ist (vergl. Schüler). Eine Aufspaltung von Spektrallinien durch äußere Einflüsse läßt sich sowohl durch Anwendung eines Magnetfeldes wie auch durch starke elektrische Felder hervorrufen. Zeeman fand die magnetische Aufspaltung von Spektrallinien an der D-Linie der Natriumflamme im Jahre 1896. Kurz darauf konnte H. A. Lorentz den Effekt nach der Elektronentheorie berechnen. Der sogenannte anomale ZeemannEffekt, eine kompliziertere Aufspaltung der Spektrallinien im Magnetfelde, wurde in letzter Zeit dadurch gedeutet, daß dem Elektron nicht nur eine elektrische Ladung, sondern auch ein magnetisches Moment zugeschrieben wird (Magnetelektron, Goudsmit und Uhlenbeck). Die elektrische Aufspaltung der Spektrallinien wurde von Stark 1913 gefunden. Sie ist von gleicher Bedeutung für die Theorie des Atombaus wie der Zeemaneffekt. Es mag erwähnt werden, daß die Auffindung dieses Effektes unter Benutzung der Kanalstrahlen als Lichtquelle durchgeführt wurde.

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In der Röntgenspektroskopie ist es nicht nur in weiterer Ausbildung der v. Laueschen Entdeckung (Bragg, Debye und Scherrer) gelungen, Wellenlängen zu messen, sondern es ergaben sich besonders einfache Serienbeziehungen im sogenannten charakteristischen Spektrum, dem Serienspektrum der Elemente. Als wichtig erwies sich dabei die Tatsache, daß jede Periodizität, die z. B. bei den chemischen Eigenschaften der Atome zur Aufstellung des periodischen Systems der Elemente geführt hat, beim Vergleich der Röntgenserienspektra der Elemente untereinander fehlt (Moseleysches Gesetz). Daraus ergibt sich, daß die fester gebundenen Elektronen, deren Schwingungen die Emission der Röntgenserien veranlassen, in allen Atomen in einer Weise angeordnet sind, die sich monoton mit dem Atomgewicht ändert. Röntgenspektroskopie und optische Vakuumspektroskopie sind von kleinen, bzw. größeren Wellenlängen ausgehend nunmehr in das gleiche Spektralgebiet vorgedrungen. Somit ist ein Wellenlängengebiet, das von kurzen y-Strahlen (Wellenlänge etwa i o - 6 A°) bis zu langen Hertzschen Wellen (Wellenlänge viele Kilometer) sich erstreckt, zur Zeit der Erforschung zugänglich. Daß die Eigenschaften des Raumgitters der Kristalle, das zur Röntgenspektroskopie benutzt wird, sich aus den Spektrogrammen deuten lassen, ist bereits oben erwähnt. Neuerdings hat Debye zeigen können, daß auch die Struktur komplizierterer Moleküle durch Röntgenanalyse sich ermitteln läßt. E x p e r i m e n t e l l e G r u n d l a g e n der Q u a n t e n t h e o r i e . Im Referat über den Stand der theoretischen Physik hat M . Planck, der im Jahre 1900 die Quantentheorie begründet hat, einen kurzen Überblick über ihren Ideengehalt und ihre Geschichte gegeben. Es bedarf daher hier nur noch kurzer Ergänzungen, um zu zeigen, daß die Quantentheorie mit Experimenten praktisch aller oben besprochenen Gebiete der Experimentalphysik zu tun hat. Sie entstand im Anschluß an Messungen über die spektrale Energieverteilung der Temperaturstrahlung eines schwarzen Körpers. Namen, wie W . Wien, Rubens, Lummer, Pringsheim, Paschen, sind mit diesen grundlegenden Untersuchungen verknüpft. Einstein zeigte, daß die Gesetze des oben erwähnten lichtelektrischen Effekts aus der Quantentheorie sich ergeben. Die maximale Energie der aus einem Metall austretenden Elektronen ist gleich der Energie der auffallenden Lichtquanten, vermindert um die Abtrennungsarbeit der Elektronen vom Metall. Die erste experimentelle Arbeit, die für diese Beziehung sprach, ist von E. Ladenburg ausgeführt. Die gleiche Beziehung gilt für die Energie der durch Röntgenstrahlen aus Atomen ausgelösten Elektronen. In letzter Zeit hat z. B. L . Meitner in Anwendung dieses Prinzips die Frequenz von y-Strahlen berechnen können aus der Messung der Geschwindigkeit der Elektronenstrahlen, die von den y-Strahlen ausgelöst werden. Daß die Zahl der lichtelektrisch ausgelösten Elektronen der Zahl der auffallenden Lichtquanten entspricht, ist vor einigen Jahren von Pohl und seinen Mitarbeitern gezeigt. Gemessen wurde ein elektrischer Strom, der im Innern von Kristallen bei Bestrahlung auftritt (sog. innerer lichtelektrischer Effekt). Auch das photochemische Fundamentalgesetz, das Einsteinsche photochemische Äquivalentgesetz, ist eine Anwendung der Quantentheorie Der photo-

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chemische Elementarprozeß besteht in einer Aufnahme von Lichtquanten durch absorbierende Moleküle. Die Zahl der auf diese Weise chemisch aktivierten Moleküle muß daher der Zahl der absorbierten Lichtquanten entsprechen. E. Warburg hat die ersten experimentellen Bestätigungen dieses Gesetzes erbracht. Einen schönen Beweis für den quantenhaften Charakter des Lichts stellt eine Beobachtung von A. H. Compton über den Lichtdruck von Röntgenstrahlen dar. Hier wird gezeigt, daß nicht nur die Energie, sondern auch der Impuls des Lichts quantenhaft auf die das Licht zerstreuenden Partikel übertragen wird. Die Theorie des Compton-Effektes ist gleichzeitig von Compton und Debye entwickelt. Die Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme fester Körper und Gase läßt sich ebenfalls nach der Quantentheorie berechnen (Born u. v. Kármán und Debye). Auf diesem Gebiet waren die Experimentalarbeiten Euckens im Nernstschen Laboratorium die wichtigsten. Ganz neuerdings haben Bonhoeffer und Harteck sowie Eucken durch derartige Messungen bewiesen, daß das gewöhnliche Wasserstoffgas aus zwei verschiedenen Modifikationen besteht, die sich durch ihren Energiegehalt unterscheiden (Para- und Orthowasserstoff). Ein weiterer Ausbau der Quantentheorie ergab sich aus der fundamentalen Theorie des Atombaus von Niels Bohr (s. Artikel theoretische Physik). Danach können Atome und Moleküle nur diskrete Energiemengen enthalten. Beim Übergang von einem diskreten Energiezustand zu einem andern wird eine Spektrallinie (monochromatische Strahlung) ausgesandt, deren Frequenz sich aus der Energiedifferenz der beiden diskreten Zustände nach der Quantentheorie ergibt. Die Abtrennung eines Elektrons, d. h. die Ionisation, erfordert eine Mindestenergie, die man aus der sogenannten Konvergenzfrequenz von Absorptionsspektren in gleicher Weise berechnet. Beide Folgerungen sind durch vielfache Experimente gestützt worden. Die ersten Bestätigungen stammen von J. Franck und G. Hertz. Die Energie wurde bei diesen Versuchen durch den Stoß von freien Elektronen, deren kinetische Energie genau dosierbar ist, den Atomen zugeführt. Einen weiteren prinzipiell höchst bedeutsamen Beweis für das Vorkommen diskreter Energiewerte lieferte ein Versuch von Stern und Gerlach: Ablenkung von Atomstrahlen in einem inhomogenen Magnetfeld. Bohr konnte durch seine Theorie sämtliche spektralen Emissionen von Atomen und Molekülen incl. der Röntgenspektra deuten. So hat sich die alte Hoffnung der Spektroskopiker erfüllt. Zur Zeit geht die Entwicklung der Bandenspektroskopie auch in der Richtung, Fühlung mit der Chemie zu gewinnen. Eine Reihe wichtiger chemischer Konstanten sind bereits aus Bandenspektren ermittelt, und der Zusammenhang zwischen Physik und Chemie verspricht ein engerer zu werden. Zum Schluß sei auf die fundamentalen Versuche eingegangen, durch die die Grundannahme der Wellenmechanik (Fortführung der Bohrschen Atomtheorie durch de Broglie, Schrödinger, s. Artikel Planck) sichergestellt wurde. Nach der Wellenmechanik ist die gewöhnliche Mechanik von Korpuskeln eine ähnliche Annäherung an die Wirklichkeit, wie sie die Benutzung der geometrischen Strahlenoptik an Stelle der Wellenoptik für das Licht liefert. Auch für korpuskulare Strahlen muß daher bei geeignet feinen Versuchsanordnungen eine Interferenz nachweisbar sein, die der des Lichtes entspricht. In der Tat treten bei Reflexion von Elektronen 2 1 Festschrift Schmidt-Ott

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an Kristalloberflächen Interferenzen derselben auf. Die ersten derartigen Beobachtungen haben Davisson und Germer gemacht. Ihre Deutung als Elektroneninterferenz stammt von Elsasser. Mit einer andersartigen Versuchsanordnung hat in England G. P. Thomson, in Deutschland Rupp und in Japan Kikuchi Elektroneninterferenzen nachgewiesen. Auch bei Atomen (Wasserstoff und Helium) treten Interferenzen auf. Dieser wichtige Nachweis ist O. Stern und seinen Mitarbeitern zu danken. Die Durchführung der Versuche geschah mit der Sternschen Atomstrahlenanordnung. Theorie und Experiment haben, wie am Anfang erwähnt, das physikalische Weltbild in den letzten 50 Jahren aufs allerstärkste verändert. Geradeso wie am Anfang der betrachteten Epoche die Hauptprinzipien der Physik festzustehen schienen, so scheint auch jetzt wiederum eine Beruhigung in der stürmischen Entwicklung der Physik einzutreten, die dem dringend notwendigen Ausbau und der weiteren experimentellen Sicherstellung unseres Weltbildes dienen wird. Aber auch jetzt gibt es schon wieder Beobachtungen, die nicht ohne weiteres mit den bestehenden Auffassungen in Einklang zu bringen sind, insbesondere auf dem Gebiete der Kernphysik. Ob es sich um augenblickliche Schwierigkeiten handelt, deren Überwindung ohne Änderung der Grundannahmen der Physik gelingen wird, oder ob von hier aus eine neue Entwicklungsstufe der Physik erreicht werden wird, kann nur die Zukunft lehren.

JONATHAN ZENNECK TECHNISCHE PHYSIK I Voranstellen möchte ich einige Zahlen, die vielleicht eindrucksvoller sind als lange Ausführungen. 1. Im Jahre 1908 war in den Chemischen Werken, die heute in der I. G. Farbenindustrie A.-G. zusammengefaßt sind, überhaupt kein Physiker beschäftigt. Im Jahre 1909 gründete die Badische Anilinund Sodafabrik in Ludwigshafen ein physikalisches Laboratorium mit zwei Physikern, einem physikalischen Chemiker und einem Elektrotechniker. Ende 1929 waren bei der I. G. Farbenindustrie ungefähr 70 akademische Physiker angestellt. In der Osram G. m. b. H. arbeiten heute ungefähr 60 Physiker, von denen drei Vorstandsmitglieder sind. 2. An der Technischen Hochschule München waren im Wintersemester 1913/14 40 Studenten, die als Lehramtskandidaten neben Mathematik auch Physik studierten, und 2 Studierende der technischen Physik; im Wintersemester 1929/30 waren an derselben Hochschule 127 technische Physiker eingeschrieben. 3. Im Jahre 1919 wurde die Gesellschaft für technische Physik gegründet; sie besteht heute aus 1370 persönlichen Mitgliedern. Die entsprechende Mitgliederzahl der im Jahre 1845 gegründeten Deutschen Physikalischen Gesellschaft ist heute ungefähr 1320. Was diese Beispiele zeigen sollen, ist die Tatsache, daß in den letzten Jahrzehnten das Interesse der Technik an der Physik und den Physikern ungewöhnlich rasch gewachsen ist. Wohl gab es schon vor 25 Jahren gewisse Gebiete der Technik, in denen die Physiker, wenn auch nicht der Zahl, so doch der Bedeutung nach vorherrschten. Die bekanntesten Beispiele sind die Werke zur Herstellung elektrischer Meßinstrumente und die optische Industrie. Ich brauche nur daran zu erinnern, daß der frühere Direktor von Siemens & Halske, Professor Dr. Raps, Physiker war und daß der jetzige Generaldirektor des Siemens-Konzerns, Professor Dr. A. Franke, aus der Physik hervorgegangen ist; und Abbe, der Gründer des Zeißwerkes und des Glaswerkes Schott & Genossen, ist bekanntlich ebenfalls Physiker gewesen. Aber die Zahl der technischen Gebiete, in denen man sich von der Verwendung von Physikern einen Vorteil versprach, war doch sehr gering. Es waren die Gebiete, die man wohl als physikalische Technik bezeichnen kann. Das hat sich vollkommen geändert. Heute liegen die Verhältnisse geradezu so, daß es kaum irgendein Gebiet der produzierenden Technik gibt, in dem keine Physiker verwendet werden. Ich habe oben absichtlich Zahlen angegeben aus Industrien, die man gewiß nicht zur physikalischen Technik rechnen kann. 21*

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Eine unmittelbare Folge davon ist, daß heute ein Physiker bei weitem mehr Aussicht hat, eine Stelle in der Technik zu finden, als früher. Früher konnte er bei der beschränkten Verwendung von Physikern auf eine Stelle in der Technik von vornherein nicht rechnen. So kam es, daß bei weitem der größte Teil derjenigen, die an der Universität Physik studierten — an den Technischen Hochschulen war ein Studium der Physik fast nirgends möglich —, Lehramtskandidaten waren, bei denen die Physik nur eines von vielen, meist mathematischen Fächern bedeutete. Es ist unter diesen Umständen nicht zu verwundern, daß viele von den späteren Professoren der Physik an Universitäten und Technischen Hochschulen, zum Beispiel F. Braun, aus dem Gymnasiallehrerberuf hervorgegangen sind. Heute hat unter den Aussichten, die sich dem Physiker in der Technik bieten, die Zahl derjenigen, die Physik oder technische Physik als Spezialstudium betreiben, außerordentlich zugenommen. An den Technischen Hochschulen ist überall das Studium der technischen Physik eingeführt und an manchen Universitäten sind Lehrstühle für technische Physik gegründet worden. Es kann kein Zweifel sein, daß durch die starke Zunahme des Studiums der Physik die physikalische Forschung an den Hochschulen (ich meine damit hier und im folgenden Universitäten und technische Hochschulen), und zwar nicht nur diejenige auf dem Gebiet der t e c h n i s c h e n Physik, erheblich belebt wurde. Man braucht nur den Umfang der physikalischen Literatur der letzten Jahre mit demjenigen vor dem Krieg zu vergleichen, um sich von diesem zahlenmäßigen Anstieg der physikalischen Produktion zu überzeugen. Ob die Qualität damit Schritt gehalten hat, lasse ich dahingestellt. Immerhin liegt, glaube ich, kein Grund zu der Annahme vor, daß die Qualität erheblich gesunken wäre. Ein Übelstand ist sicher mit diesem Anwachsen des physikalischen Studiums verknüpft. Da vom Staate die Zahl der Assistenten ebenso wie der Sachhaushalt der Institute nicht im mindesten der Vermehrung der Studierenden angepaßt wurde, so haben es die Dozenten an großen Instituten immer schwerer, die Zeit zu eigener wissenschaftlicher Arbeit zu finden. Auf der anderen Seite haben sie aber an der großen Zahl von Doktoranden in höherem Maße als früher Hilfsarbeiter erhalten, die ihre Probleme bearbeiten können. Und wo erfahrene Mitarbeiter unumgänglich sind, da ist ja die Notgemeinschaft vielfach in dankenswerter Weise durch Bewilligung von Forschungsstipendien eingesprungen, ebenso wie sie eine Menge von Forschungsarbeiten, die bei den gegenwärtigen Instituthaushalten ausgeschlossen wären, durch Zuwendungen von Apparaten und Mitteln erst möglich gemacht hat. Zu einer weiteren Folge hat der Übergang von vielen Physikern in die Technik und die Gründung von physikalischen Laboratorien in der Industrie geführt. Das ist die Abwanderung eines Teils der physikalischen Forschung von den Hochschullaboratorien in die Laboratorien der Technik. Zwar ist dieser Prozeß bei uns noch nicht so weit fortgeschritten wie in Amerika, wo wohl der größte Teil der wertvollen Arbeiten den Laboratorien der großen Konzerne und nicht denjenigen der Hochschulen entstammt. Aber es gehen doch schon heute auch in unserem Lande aus den physikalischen Laboratorien unserer großen Firmen, die viel günstigere Arbeitsbedingungen haben als die Hochschullaboratorien, eine große Zahl von ausgezeichneten Arbeiten hervor, und zwar keineswegs nur auf dem Gebiete der

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technischen Physik. Infolge davon geht heute mancher gute Physiker in die Technik, weil er hofft, dort besser wissenschaftlich arbeiten zu können als an einem Hochschullaboratorium, während man früher beim Übergang in die Technik einen gewissen Verzicht auf wissenschaftliche Arbeit befürchtete. II Nachdem im vorhergehenden genügend von technischer Physik die Rede war, liegt die Frage nahe, was man eigentlich unter technischer Physik versteht. Ich denke nicht daran, eine Definition zu geben: selbstverständlich läßt sich die technische Physik weder gegen die reine Physik noch gegen die Technik abgrenzen. Wohl aber möchte ich im folgenden die neuere Entwicklung einiger Gebiete skizzieren, die man wohl allgemein zur technischen Physik rechnet. Es ist dabei nicht nötig, zu unterscheiden zwischen der Entwicklung in den Hochschullaboratorien und derjenigen in der Technik: selbst wenn etwas praktisch Brauchbares an den Hochschullaboratorien herausgekommen war, so ging es von selbst rasch in die Technik über, und wenn die Technik sich für eine Aufgabe interessierte, so wurde sie meist schnell auch an den Hochschullaboratorien aufgenommen. Ein Gebiet, dessen Entwicklung in der Geschichte der Technik und Naturwissenschaften wohl unerreicht dasteht, ist die drahtlose T e l e g r a p h i e . Vor nicht viel mehr als 30 Jahren hat Marconi seine ersten Versuche angestellt. Heute bestehen kommerzielle drahtlos-telefonische Verbindungen, und es ist eine drahtlose Bildübertragung möglich zwischen Stationen, deren Entfernung nicht viel unter dem halben Erdumfang bleibt. Und welche Verbreitung die drahtlose Telefonie in ihrer populären Abart, dem Rundfunk, erreicht hat, geht schon aus der Tatsache hervor, daß wir allein in Deutschland mit seinen ungefähr 63 Millionen Einwohnern ungefähr 3 Millionen zahlende Rundfunkteilnehmer, also auf 20 Einwohner einen, haben. Aber mit diesen geradezu unwahrscheinlichen Leistungen und mit der ungeheueren Verbreitung ist die Bedeutung der drahtlosen Telegraphie und Telephonie nicht erschöpft. Die Hilfsmittel, die auf diesem Gebiet entwickelt wurden, — ich verweise auf die Elektronenröhren als Gleichrichter, Verstärker und Schwingungsgeneratoren — haben Eingang gefunden in alle möglichen Gebiete der Physik und Technik und haben dort zum Teil eine ebenso stürmische Entwicklung hervorgerufen wie in der drahtlosen Telegraphie selbst. Man kann sich heute die Telegraphie und Telephonie längs Leitungen in allen ihren Spielarten, ebenso alle möglichen Zweige der Akustik kaum mehr ohne die Verstärkerröhren vorstellen. Die elektrische Bildübertragung wurde erst dann ein praktischer Erfolg, als man anfing, sich der in der drahtlosen Telegraphie entwickelten Mittel zu bedienen. Noch in anderer Beziehung ist die drahtlose Telegraphie ein besonders repräsentatives Glied der technischen Physik. Ihre Grundlage bilden die Laboratoriumsversuche von Hertz, und bei ihrer Entwicklung sind die mannigfaltigsten physikalischen Erscheinungen herbeigezogen worden: die Eigenschaften von Lockerkontakten, die unsymmetrische Charakteristik der Kristalldedektoren und die fallende des Lichtbogens, die Löschwirkung vonQuecksilberdampf-Lampen und kurzen Metallfunkenstrecken, die Elektronenemission von glühenden Metallen, Metall-

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kombinationen und -Verbindungen, die magnetischen Eigenschaften des Eisens und die piezoelektrischen Eigenschaften des Quarzes. Diese Mannigfaltigkeit sticht scharf ab gegen die Gleichförmigkeit der rein technischen Entwicklung, z. B. im Elektro-Maschinenbau (elektrische Generatoren, Motoren, Transformatoren) während der letzten 30 Jahre, bei dem wohl durch fortgesetzte Verbesserung immer größere Einheiten geschaffen und immer größerer Wirkungsgrade und größere Zuverlässigkeit erzielt, aber die grundlegenden Anordnungen nicht geändert wurden, — erst in neuester Zeit hat man aus dem Gebiet der Gasentladungen die Quecksilberdampf-Gleichrichter eingeführt. Man sieht, warum man heute in der Technik besonders dann Physiker heranholt, wenn es sich um neue Aufgaben handelt, zu deren Lösung die bisher üblichen Hilfsmittel und Verfahren nicht ausreichen. Am nächsten bezüglich des Wirkungskreises und des Einflusses auf andere Gebiete kommt der drahtlosen Telegraphie die R ö n t g e n t e c h n i k . Daß die Entdeckung der Röntgenstrahlen für die physikalische Wissenschaft direkt und indirekt den Anbruch eines neuen Zeitalters bedeutete, soll in diesem Zusammenhang nicht ausgeführt werden, ebensowenig die Bedeutung der Röntgenstrahlen als Forschungsmittel in der Atomphysik und in der Kristallographie. Was jetzt interessiert, ist einmal die mächtige Entwicklung der Röntgenröhren und Apparate von den kleinen, kaum mehr als faustgroßen Röhren, mit denen Röntgen seine Entdeckung machte, zu den mächtigen Glühkathodenröhren und vom kleinen Funkeninduktor mit Hammerunterbrecher zu den 10 KVA.-Wechselstromanlagen mit Glühventilen, die den Therapieröhren bis ungefähr 200 000 Volt Spannung zuführen. Was uns hier weiter interessiert, ist die große Ausdehnung der Anwendungsgebiete der Röntgenstrahlen. Von der Anwendung in der Medizin darf man kaum reden; sie ist beinahe zur Selbstverständlichkeit geworden. Aber man sollte bei dieser Selbstverständlichkeit nicht vergessen, was es heißt, daß heute jedes Krankenhaus und selbst jeder einigermaßen gut eingerichtete Landarzt eine Röntgenanlage besitzt. Und immer weiter dringt der Gebrauch der Röntgenstrahlen in das Gebiet der Materialuntersuchung ein. Nicht nur für die Prüfung des Materials auf Ungleichmäßigkeiten z. B. Gußfehler ist die Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen das bequemste Mittel. In neuerer Zeit haben die Interferenzmethoden mit Röntgenstrahlen neue Einblicke in die Struktur des Materials z. B. der Metalle und in die Änderung derselben durch die Bearbeitung oder Wärmebehandlung gegeben. Die Röntgenröhre ist heute schon ein wichtiges Hilfsmittel für die mechanische Technologie geworden. Ein eigentümliches Beispiel dafür, wie ein Gebiet, das jahrzehntelang abgeschlossen zu sein schien, plötzlich wieder durch neue Bedürfnisse und neue Hilfsmittel zum Leben erweckt werden kann, ist die A k u s t i k . Sie hatte durch die Entwicklung der drahtlosen Telegraphie und Telephonie eine Menge neue Hilfsmittel und Untersuchungsmethoden zur Verfügung gestellt bekommen, Verstärker, Röhren-Generatoren als Tonquellen, hochwertige Mikrophone und Lautsprecher. Infolge davon ist es nicht nur möglich geworden, eine Reihe von Fragen der physikalischen und physiologischen Akustik wieder neu anzugreifen, man konnte es auch wagen, an ein altes Problem, das man aber lange Zeit als hoffnungslos auf-

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gegeben hatte, die Raumakustik, heranzutreten. In wenigen Jahren ist hier in allen möglichen Ländern eine Menge erreicht worden. Es ist heute möglich, in einem Raum mit schlechter Hörsamkeit die Gründe dafür mit Sicherheit zu finden und sie in vielen Fällen durch verhältnismäßig einfache Hilfsmittel zu verbessern; ebenso ist es möglich, schon an der Hand der Pläne eines projektierten Raumes mit ziemlicher Zuverlässikeit vorauszusagen, ob er eine befriedigende Akustik bekommen wird bzw. welche Abänderungen getroffen werden müssen, um eine gute Akustik sicherzustellen. Auch die Materialfrage ist vom akustischen Standpunkt aus untersucht worden. Man besitzt heute schon gute Kenntnisse über die Schallreflexion und -Absorption der verschiedensten Materialien, und die Industrie stellt besondere Materialien her, die bestimmten akustischen Bedingungen genügen. Ein neues Anwendungsgebiet hat sich der Akustik im Anschluß an das bekannte Schallmeßverfahren im Kriege durch die Echolotung erschlossen, bei der man die Tiefe des Meeres von einem Schiff aus bestimmen kann, indem man die Zeit mißt, die ein vom Schiff ausgesandter Schall braucht, um nach Reflexion am Meeresboden an die Meeresoberfläche zurückzukommen. Sehr bekannt ist dieses Verfahren durch die Vermessungen des Meteor im südlichen Teil des atlantischen Ozeans geworden. Endlich hat sich, wenn man so sagen darf, eine protektive Akustik herausgebildet, die nicht wie die Raumakustik den Zweck hat, eine möglichst gute Schallübertragung zu erreichen, sondern den, eine Schallübertragung überhaupt zu verhindern. Sie beschäftigt sich zum Beispiel damit, die Räume eines Hauses gegen störende Geräusche (Sprechen, Klavierspiel, Wasserleitung, Maschinen) in anderen Räumen zu schützen. Daß ein Bedürfnis hierfür vorliegt, wird niemand bezweifeln, der gezwungen ist, in einem Etagenhaus einer größeren Stadt zu wohnen oder der schon in einem größeren Hotel eine Nacht zugebracht hat. Dem Zwang zur Wirtschaftlichkeit verdankt ein Teil der technischen Physik seineEntstehung, der sichmit demWärmeübergang in positivem (Wärmeübertragung) und negativem Sinn (Schutz gegen Wärmeverluste) beschäftigt. Es ist ein wichtiger Teil dessen, was man in der chemischen Industrie als Betriebskontrolle bezeichnet. Dadurch daß in den Kreis dieser Untersuchungen auch Wärmeschutz von Häusern hereingezogen wurde, hat die technische Physik ebenso wie durch ihre Beschäftigung mit der Raumakustik mit einem Gebiet der Technik Fühlung bekommen, dem sonst die Physik ziemlich fernsteht, dem Hochbau. Zum Schluß soll noch ein Gebiet erwähnt werden, das besonders anschaulich eine der wichtigsten Aufgaben der technischen Physik zeigt, nämlich die, die Ergebnisse der Physik der Technik zu vermitteln, — das Gebiet der Elektronenund I o n e n - S t r ö m e . Das wichtigste Beispiel dafür, die Elektronenröhren, ist schon oben genannt worden. Man kannte in der Physik längst die ElektronenEmission von glühenden Metallen im Hochvakuum. Aber die Technik hat sich erst dann dafür interessiert, als in der drahtlosen Telegraphie die vielseitige Brauchbarkeit dieser Röhren gezeigt wurde. Heute beträgt die mittlere Tagesproduktion an Elektronenröhren ungefähr 170000. Die Quecksilberdampflampe war als Spektrallampe in der Physik seit längerer Zeit in Gebrauch; sie ist heute als »GroßGleichrichter« zur Gleichrichtung von Drehstrom in Gleichstrom ein Bestandteil vieler städtischer Zentralen geworden; und als »Quarz-Quecksilberlampe« wird sie

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wegen ihres Reichtums an ultravioletten Strahlen in der Hand des Arztes als Höhensonne zur Therapie und in der Hand des Chemikers als Analysenlampe viel verwendet. Auch für Glimmstromröhren war noch vor wenigen Jahren nur in der Physik ein Bedürfnis vorhanden. Heute sind die Ionenströme in Gasen in der Form der Glimmlampen oder des sogenannten Moore-Lichts eines der wichtigsten Hilfsmittel der Lichtreklame und des Lichtsignalwesens geworden. Und zur Füllung der Röhren werden meist die Edelgase Argon, Helium und Neon verwendet, die heute in großem Maßstab aus Luft hergestellt werden, so daß man sie ebenso wie früher Kohlensäure in Bomben beziehen kann, — ein besonderes Kapitel der technischen Physik, das den Begründer des ersten Instituts für technische Physik, Karl von Linde, zum Verfasser hat. Als Anhang zu diesem Gebiet darf wohl auch auf die zunehmende Verwendung des Kathodenstrahl-Oszillographen und dessen Ausbildung, sei es nun in der Form der Braunschen Röhre oder der Hess'schen Anordnung, hingewiesen werden. Der Physik, insbesondere im Hochfrequenzgebiet, ist dieser masselose Oszillograph schon seit langer Zeit ein wertvolles Handwerkszeug gewesen, während er in die Elektrotechnik erst in neuerer Zeit Eingang gefunden hat. Die angegebenen Beispiele genügen wohl, um einige Richtungen zu zeigen, in denen sich die technische Physik entwickelt hat, und um einen Begriff davon zu geben, welche Bedeutung ihr heute zukommt. Wenn bei uns in Deutschland zwischen »reiner Physik«, die sich mehr für die Erweiterung unserer physikalischen Erkenntnis, und »technischer Physik«, die sich mehr für die Erweiterung ihrer praktischen Anwendung einsetzt, unterschieden wird, so darf doch nie vergessen werden, daß beide nur zwei Seiten einer einzigen großen Aufgabe darstellen. Die technische Physik gilt zwar bei manchen auch heute noch für nicht ganz so vornehm wie die reine Physik. Immerhin werden auch die Vertreter der reinen Physik, wenn sie nicht ganz weltfremd sind, zugeben müssen, daß auch die Physik als Wissenschaft der technischen Physik nicht nur eine Menge von Problemen, sondern auch ausgezeichnete neue Hilfsmittel für die physikalische Forschung verdankt, daß also nicht nur die technische Physik auf die reine, sondern auch die reine auf die technische angewiesen ist.

HUGO HERGESELL DIE PHYSIK DES ERDKÖRPERS UND SEINER ATMOSPHÄRE Der Wissenszweig, dessen Entwicklung in den letzten 50 Jahren ich schildern will, hat gerade in diesem Zeitraum eine besondere Pflege erfahren, da die hier in Betracht kommenden Studien von Männern ersten Ranges mit vollkommener physikalischer und mathematischer Ausbildung betrieben worden sind. Die Erkenntnisse, die zu gewinnen erstrebt wurden, gliedern sich von selbst in zwei scharf unterschiedene Teile. Was wissen wir von unserem festen Erdkörper, auf dem wir leben und streben, und welches sind die physikalischen Vorgänge in der Gashülle, die unsere Erde umgibt, sind die beiden Hauptfragen welche den menschlichen Geist von jeher beschäftigt haben. Nur die Oberfläche des erstarrten Kernes unseres Planeten untersuchen zwei große Wissenschaften, die Geographie und die Geologie, die sich zu selbständigen Forschungsgebieten entwickelt haben. Über ihre Ergebnisse wird in dem vorliegenden Bande von anderer Seite berichtet. I. D i e P h y s i k d e s E r d k ö r p e r s . Das Gebiet der eigentlichen Geophysik umfaßt im gebräuchlichen Sinne die Physik der Erde als Ganzes; ein besonderes Kapitel ist die mathematische Gestalt des Erdkörpers. Für die Betrachtung des Erdkörpers als Ganzes kommen die Anziehungskräfte seiner einzelnen Teile und weiter die Kräfte, welche durch die Rotation um seine Achse hervorgerufen werden, in Betracht. Im Innern wie auch an der Oberfläche, wirkt resultierend die Schwerkraft. Ihr Studium führt zur Lehre von der Erdgestalt, die gerade Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ihre wissenschaftliche Formulierung durch das Auftreten des Mannes erhielt, den ich hier an erster Stelle nenne. Es ist F. R. Helmert, der zunächst an der Technischen Hochschule Aachen, dann aber in Potsdam als Direktor des Geodätischen Instituts wirkte, wohin er durch das Kultusministerium, das die Bedeutung dieses Mannes sehr früh erkannte, Mitte der achtziger Jahre berufen wurde. Die Verdienste seiner Vorgänger, wie von Baeyer, Bruhns, Zöpperitz und anderer, um das gleiche Problem hat Helmert selbst in seinem Standardwerk »Die mathematischen und physikalischen Theorien der höheren Geodäsie« (1880) entsprechend gewürdigt. G e s t a l t der Erde. Unter der Gestalt der Erde verstehen wir eine der vielen Niveauflächen des Feldes der Schwerkraft in der Nähe der festen Erdoberfläche. Die Hauptaufgabe der Lehre von der Erdgestalt besteht darin, die geometrische Form dieser Fläche zu bestimmen. Diese, die sogenannte Geoidfläche, ist durchaus kein regelmäßiges geometrisches Gebilde, kann aber in sehr großer Annäherung durch ein solches ersetzt werden. Schon von den Vorgängern Helmerts (Bruhns) wurde der Beweis geführt, daß man durch Kombination von Schweremessungen, geodätischen und astronomischen Bestimmungen instandgesetzt ist, die genaue Form des Geoids

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festzulegen, ohne Annahme einer mathematischen Fläche. Da sich das Geoid von einem Referenzellipsoid nur wenig unterscheidet, wurden zunächst die Konstanten eines sich möglichst eng an die Messungen anschließenden Rotationsellipsoides bestimmt. Helmert, Clarke und andere haben diese mühsamen Rechnungen durchgeführt. Man kann dieses Rotationsellipsoid nach dem Vorgang von Legendre auch durch einen anderen geometrischen Körper ersetzen, dessen mathematische Form man durch Entwicklung des Potentials der Schwerkraft nach Kugelfunktionen erhält. Die Annäherung an das Geoid ist durch dieses Gebilde natürlich erheblich besser als durch das oben erwähnte Rotationsellipsoid. Man nennt diesen neuen idealen Erdkörper das Niveausphäroid. Allem Anschein nach sind aber die Abweichungen dieser oder ähnlicher Annäherungen an das Geoid vom Rotationsellipsoid nach Rechnungen von E. Wiechert sehr kleine. Wahrscheinlich betragen sie nur wenige Meter. Hat man nun eine mathematische Form für das Niveausphäroid gefunden, so läßt sich durch relativ einfache Rechnung die Verteilung der Schwerkraft auf demselben festlegen und nach Formeln, die schon Clairaut im Jahre 1743 entwickelt hat, auch seine Abplattung berechnen. Bezüglich der neuesten Werte und Formeln über das Geoid, das Niveausphäroid und das Rotationsellipsoid verweise ich auf die Arbeit von K. Jankowski (Warschau 1927) »Sur les déformations du géoide«. Isostasie. Dieser von B. G. Airy zuerst in die Lehre von der Erdgestalt eingeführte Begriff ist identisch mit dem hydrostatischen Gleichgewicht schwimmender Körper. Auf die Massen des Erdkörpers angewandt, ist die Lagerung in demselben als isostatisch anzusprechen, wenn sie bei Flüssigwerden der Massen ohne Störung und Verlagerung bestehen bleibt. Diese vorsichtige Formulierung ist deshalb notwendig, weil wir nicht von vornherein wissen, ob die Massen im Erdinnern sich in flüssigem Zustand befinden, die Definition der Isostasie sich aber auf das ganze Erdinnere erstrecken soll. Aus dieser Definition folgt, daß bei der Isostasie alle Niveauflächen des Kraftfeldes der Schwere zugleich Flächen gleichen Druckes und konstanter Dichte sind. Weiter ist einzusehen, daß in diesem Falle jede Sprungfläche der Dichte im Erdinnern gleichzeitig eine Niveaufläche sein muß. Schweremessungen. Die Definition des Geoids als Niveaufläche der Schwere bedingt von selbst die Anstellung von umfangreichen Schweremessungen auf der ganzen Erdoberfläche. Die hierfür in Betracht kommenden Methoden beschäftigten die Geophysik der vergangenen Jahrzehnte und sind auch heute noch nicht abgeschlossen. Die benötigten vergleichenden Schweremessungen auf dem Festlande und der Meeresoberfläche sind, soweit sie bekannt wurden, verschiedentlich zusammengestellt und von Berrot 1915, Helmert 1915 und Heiskanen 1924 durch Reihen dargestellt worden. Für die Messungen auf dem Festlande sind im wesentlichen nach dem Vorgange von Kater (1818) Reversionspendelmessungen und von Defforges (1888) Pendelapparatmessungen und solche mit verwandten Geräten benutzt worden. Die ersten Messungen der Schwerkraft über die Meere rühren von O. Hecker

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nach einer von ihm sehr verbesserten Methode her, die nach dem Vorschlage von Mohn (1899) auf Luftdruckmessungen vermittels Quecksilberbarometer einerseits und Siedepunktthermometer andererseits beruhen. Zur Bestimmung des Gradienten der Schwerkraft wurde später die von Eötvös konstruierte und von Hecker und Schweydar verbesserte Drehwaage benutzt. Für Untersuchungen des Verhaltens und der Änderung der Schwerkraft über und unter der Meeresoberfläche hat man in neuerer Zeit Messungen im Unterseeboot angestellt. Als Instrumente für Relativmessungen können hier Invarpendel benutzt werden. Es ist außerordentlich wünschenswert, wenn diese Messungen von den Gelehrten der Nationen, die noch über Unterseeboote verfügen — wir gehören leider nicht dazu —, möglichst ausgiebig angestellt und verbessert werden, da hierdurch die zunächst hauptsächlich auf Kontinentalbeobachtungen beruhenden Werte der Schwerkraft und Formeln der Schwereverteilung und damit der Erdgestalt in wertvollster Weise ergänzt werden können. Es sind verschiedentlich neue Untersuchungen angestellt worden, ob im Erdinneren auch in größeren Tiefen noch Isostasie herrscht. Die Ergebnisse deuten daraufhin, daß in ganz großen Zügen die Erde nicht sehr weit vom hydrostatischen Gleichgewicht entfernt ist. Wo sich große Unregelmäßigkeiten der theoretischen und gemessenen Schwerkraftswerte zeigen, stellen sich anscheinend Bewegungen ein, welche die Wiederherstellung dieses Gleichgewichtes anstreben, Bewegungen welche vielfach zu Kontinentalbildungen und Kontinentalveränderungen geführt haben und noch führen. Ohne hierauf näher einzugehen, mache ich auf die diesbezüglichen interessanten Untersuchungen von A. Wegener (Kontinentalverschiebung), W. Koppen (Polarfluchtkraft), Ampferer (Fließbewegungen) aufmerksam. Die D i c h t e der Erde. Die Dichte der festen Materialien, welche die äußere Erdkruste bilden, können wir leicht durch Messungen bestimmen. Als Mittelwert ergibt sich 2,8. Ein weit größerer Wert ergibt sich für die mittlere Dichte des ganzen Erdkörpers. Diese Zahl ist nach verschiedenen Methoden bestimmt worden. Nennt man die Erdmasse M, ihr Volumen V, so ist die mittlere Dichte 8m gleich M/V. V ist aus den Ergebnissen der Messung der Erdgestalt mit hinreichender Genauigkeit bekannt. M kann man nach dem Newtonschen Gravitationsgesetz berechnen, das die Anziehung zweier Massen nach der Formel ergibt G = k*. wo noch m eine bekannte Masse und r die bekannte Entfernung der beiden Massen darstellt. Die Kraft G wird durch Messung mit geeigneten Instrumenten gefunden, die Gravitationskonstante k2 ist bekannt. Folglich läßt sich M, die Erdmasse, berechnen. Heute wird meist mit einem Wert für Sm von 5,22 für die mittlere Dichte gerechnet. Vergleicht man diese Zahl mit dem Dichtewert der festen Erdkruste, so folgt, daß im Erdinnern sich noch Massen vorfinden müssen, deren mittlere Dichte den Zahlenwert 5,52 erheblich überschreitet. Die Dichte ist also eine Funktion des Erdradius. Die ersten Versuche, den Verlauf dieser Funktion zu bestimmen, gehen darauf hinaus, daß man mehr oder weniger willkürlich eine mathematische Formel für die Abhängigkeit der Dichte vom Erdradius aufstellt, welche noch zu bestimmende Konstanten enthält. Diese kann man aus den bereits erwähnten Gesetz-

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mäßigkeiten der Erdgestalt und der Drehung des Erdkörpers ermitteln. Diese Versuche, die schon von Legendre ausgingen, erwähne ich nur, da sie einen stetigen Verlauf der Dichtefunktion voraussetzen, während wir heute meinen, daß der Erdkörper aus verschiedenen Schichten besteht, an deren Grenzen sich der Dichtewert sprunghaft ändern kann. Das Schlußglied bildet ein schwerer, verhältnismäßig großer Kern mit konstanter Dichte. Wiechert war wohl der erste, der diese Vorstellung zu begründen und rechnerisch festzulegen suchte. Er ging hierbei von den Trägheitsmomenten des Erdkörpers und von seiner Achsenbewegung im Räume aus. Weiteres Licht auf den Sachverhalt warf das Studium der Wellenbewegungen im Erdkörper. Auch die Geophysik ist hier der allgemeinen Richtung der modernen Physik gefolgt, die uns lehrt, das gerade das Studium der Wellenphänomene uns wertvolle Kenntnisse für die Natur der physikalischen Eigenschaften der Erde vermittelt. Jede Erschütterung im Erdinnern löst in dem elastischen Material Wellenbewegungen aus, die je nach der Natur des schwingenden Mediums als transversale oder longitudinale Schwingungen auftreten. Diese Wellen zu messen und zu bestimmen, ist die Aufgabe der Seismik. Geniale Apparate mit größter Empfindlichkeit sind von verschiedenen Forschern für diese Zwecke gebaut worden. Ich führe hier nur die Namen E. Wiechert, August Schmidt, Rebeur, Paschwitz, Angenheister, Galitzin an. Diese Forscher und andere mit ihnen studierten zunächst die natürlichen Wellenerscheinungen der Erdbeben. Man fand Wellen, die nur an der festen Erdoberfläche hingleiten, andere, die in das Erdinnere hinabsteigen, um an bestimmten Stellen reflektiert oder gebrochen wieder zur Erdoberfläche zurückzukehren, und endlich solche, die ganz durch den Erdkörper hindurchgehen und an der entgegengesetzten Seite des Erschütterungszentrums an der Oberfläche der Erde in Erscheinung treten. Die zahlreichen Beobachtungen und die daraus abgeleiteten verschiedensten Eigenarten der Wellen führen wohl einwandfrei zu der Erkenntnis, daß unser Erdkörper, wenn man von der obersten Erdrinde absieht, aus drei Abteilungen besteht. Im Inneren befindet sich ein schwerer metallischer Kern mit einem Radius von 3 470 Kilometern. An ihn schließt sich die sogenannte Zwischenschicht mit einer Mächtigkeit von ungefähr 1700 km an, auf die sich der Mantel mit der festen Erdrinde aufsetzt, welcher eine Dicke von 1200 km besitzt. Die feste Erdrinde selbst müssen wir nach den neuen Ergebnissen der Wellenbeobachtungen zu etwa 50 km Dicke annehmen. Der Dichteübergang vom Mantel zur Zwischenschicht erfolgt stetig, die Dichte macht hier also keinen Sprung, während an der Grenze der Zwischenschicht und des Kernes eine plötzliche Dichtezunahme von etwa 5 auf 10 erfolgen muß. Die obigen Schlüsse der Erdbebenwellen wurden hauptsächlich aus den Wellengeschwindigkeiten gezogen, die keinen Sprung zwischen Mantel- und Zwischenschicht zeigen, während diese Größen beim Übergang von Zwischenschicht zum Kern sich sprungweise ändern. Über die Zusammensetzung des Kerns ist wohl die größte Sicherheit vorhanden. Er besteht im wesentlichen aus Nickeleisen (90% Eisen, 10% Nickel). Man darf den Aggregatzustand dieses Kernes nicht mit dem unserer festen Körper unter gewöhnlichem äußeren Druck vergleichen, sondern muß sich klar machen, daß der Kern unter einem ungeheuren Druck steht, den man unter Voraussetzung

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des hydrostatischen Gleichgewichts mit den oben angegebenen Dichte-Zahlen berechnen kann. Die Massen im Mittelpunkt der Erde stehen danach unter einer Pressung von etwa 3 100 000 Atmosphären. Das elastische Verhalten eines Körpers wird bekanntlich durch drei Konstanten bestimmt, durch den Inkompressibilitätsfaktor k, durch den Koeffizienten der Starrheit oder wie man heute sagt der Righeit [x und durch den Faktor der Zähigkeit oder Viskosität X. Diese drei Faktoren sind vom Druck und der Temperatur abhängig. Ihre Bestimmung ist für die zugänglichen Erdschichten ohne weiteres möglich, während die direkte Messung für die im Erdinnern befindlichen Materialien nicht mehr durchführbar ist. Wohl aber lassen die Erschütterungswellen Schlüsse auf die Größenordnung der Werte zu. Betrachten wir zunächst die Righeit. Ist diese sehr klein oder = 0, so können Transversalwellen in den betreffenden, dann flüssigen Medien nicht entstehen. Beim Studium der Fernbeben sind bisher nun niemals Transversalwellen konstatiert worden, die den Erdkern passiert haben, wohl aber Longitudinalwellen. Wir können daraus schließen, daß der schwere Erdkern sich wie ein Körper mit einer sehr kleinen Righeit, also nahezu wie eine Flüssigkeit verhält. Zu dieser Folgerung sind schon Wiechert und Linck unabhängig voneinander gelangt. Wir kommen also zu der Erkenntnis, daß der Erdkern aus Molekülen oder besser aus Atomen besteht, die eng aneinander gelagert sind, ohne selbst eine innere Verbindung zu besitzen. Kompressibel ist ein solcher Körper nicht mehr. Es ist also k = 0, während eine gewisse Fähigkeit zum Fließen vorhanden ist, was zu einem endlichen Wert des Zähigkeitskoeffizienten im Erdkern führt. Da nun der Erdkörper als Ganzes nach verschiedenen Beobachtungen über freie Schwingungen des Erdkörpers und seine Gezeiten einen ziemlich großen Rigkoeffizienten besitzt, so ist dies nur auf die Eigenschaften der Zwischenschicht bzw. des Mantels zurückzuführen. Im Gegensatz zum Kern scheint diese Zwischenschicht ebenso wie der Mantel aus Sulfiden und Oxyden zu bestehen. Beide scheinen weiter mit der Tiefe zunehmende Werte der Righeit zu besitzen, wie folgende beiläufige Bestimmungen des Rigkoeffizienten aus Erdbebenwellen in verschiedenen Tiefen nachweisen (Gutenberg): Tiefe Werte der Righeit

60 6,5

1200 22

1700 27

2450 30

2900 km 32.10- 1 1 C.G.S.

Danach setzt das Material des inneren Mantels und der Zwischenschicht Formänderungen gegenüber einen erheblich größeren Widerstand entgegen als irgendein Stoff, der sich in der festen Erdkruste an der Oberfläche vorfindet. Besonders ist das für die Zwischenschicht der Fall. Auch die Zähigkeit der Zwischenschicht ist nach analogen Messungen erheblich größer als die der Erdkruste. Gutenberg kommt zu dem Resultat: »Die elastischen Konstanten der Zwischenschicht und der tieferen Teile des Mantels tragen den Hauptanteil an der großen Starrheit und Zähigkeit der Erde als Ganzes.« Wir behandeln zum Schluß die eigentliche Erdkruste, die aus den festen Schollen der Kontinente und Meeresböden besteht. Während wir im Mantel und in der Zwischenschicht in der gleichen Niveaufläche gleichartige Verhältnisse annehmen müssen, ist dies in der festen Erdoberfläche nicht mehr der Fall. Hier finden wir bis zu einer unbekannten Tiefe überall seitliche Verschiedenheiten z. B.

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der Temperatur. In den Niveauflächen, die die Erdkruste durchziehen, haben wir am Boden der Ozeane in 8 bis 10 km Tiefe nahezu Temperaturen um den Gefrierpunkt herum, während unter den Kontinenten in der gleichen Tiefe Temperaturen von etwa 300° Celsius anzunehmen sind. Derartige Temperaturdifferenzen im gleichen Niveau müssen mit zunehmender Tiefe verschwinden. In welcher ist zur Zeit noch nicht ermittelt. Aber auch in den anderen Konstituenten der Erdkruste sind große Unterschiede vorhanden. In neuester Zeit steht die Geophysik auf dem Standpunkt, daß sich die großen Schollen der Erdrinde in zwei große Hauptklassen einteilen lassen, die sich sowohl durch das spezifische Gewicht ihrer Bestandteile als auch durch ihre elastischen Konstanten voneinander unterscheiden. Das Sial, vorwiegend aus Silizium und Aluminium bestehend, ist in chemischem Sinne sauer, besitzt ein kleineres spezifisches Gewicht, eine kleinere Righeit und Zähigkeit und eine größere Kompressibilität als das Sima, in dem Silizium und Magnesium mit basischer Reagenz vorherrschen. Infolge der verschiedenen spezifischen Gewichte muß sich das Sial über dem Sima anlagern. Die Kontinente besteht im allgemeinen aus einer 50 km dicken Sialschicht. Ich kann infolge des begrenzten Raumes auf diese sehr interessanten Fragen der modernen Geophysik, die in die Entstehung der Kontinente usw. hineingreifen, nicht eingehen und muß mich darauf beschränken, auf die ausgezeichnete Darstellung dieses Problems in der neuen Auflage des Müller-Pouilletschen Lehrbuches der Physik, Bd. V, 1 in der Bearbeitung von Gutenberg hinzuweisen. Nachdem die Auswertung der Seismik uns die Grundstruktur des Erdaufbaues gelehrt hat und das Studium der Erdbebenwellen die Entwicklung ausgezeichneter und hochempfindlicher Apparate gebracht hat, lag der Gedanke nahe, diese gelegentlichen Messungen durch systematische Forschungen mit ganz ähnlichen Apparaten bei künstlichen Erderschütterungen zu ergänzen. Die Ausführung dieser Idee hatte für die Erforschung der Oberflächenschichten der Erdkruste sehr gute Erfolge. In erster Linie sind diese Methoden durch deutsche Forscher entwickelt. Ich nenne hier die Namen Mintrop, Schweydar, Reich, Mainka und andere, die sich um das Problem große Verdienste erworben haben. Diese seismischen Methoden werden in neuerer Zeit in wertvoller Weise durch elektrische, magnetische und gravimetrische Messungen ergänzt. Auf die vielfachen erfolgreichen (auch in finanzieller Hinsicht) Anwendungen der experimentellen Seismik kann ich hier nicht eingehen. Ich will aber ein Beispiel herausgreifen, welches die Ausnutzungsmöglichkeiten künstlicher Erschütterungen auch für die Wissenschaft dartut. Die Versuche von Mothes auf Alpen-Gletschern, bei Sprengungen auf der Gletscheroberfläche die Wellen und ihre Reflektionen an dem darunter befindlichen Gletscher zu beobachten, waren mit so gutem Erfolg begleitet, daß ihre Ausdehnung auf die größeren Eismassen der Arktis beschlossen wurde. Die in diesem Jahre ausfahrende Grönlandexpedition unter Leitung von A. Wegener hat als eines der wichtigsten Arbeitsgebiete die Messung der Eisdicke des grönländischen Inlandeises nach dieser Methode in ihr Programm aufgenommen. Wir können nach den bisherigen Vorversuchen schon heute sagen, daß wir hieraus sehr wichtige Ergebnisse für die Glazialgeologie erwarten können.

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II. D i e P h y s i k d e r A t m o s p h ä r e . Auch in der Erkenntnis über die physikalischen Vorgänge in der Gashülle unserer Erde haben die letzten 50 Jahre einen ganz erheblichen Fortschritt gebracht. Zu Beginn der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts begann sich den Forschern die Erkenntnis aufzudrängen, daß die bisherigen Beobachtungen der Meteorologie, die alle in der Nähe der Erdoberfläche, sei es in den Niederungen, sei es auf den Gebirgen, veranstaltet wurden, allein nicht genügen können, um uns einen klaren Überblick über die verwickelte Natur der physikalischen Erscheinungen unserer Erdhülle zu geben. Man wollte und mußte auch die Vorgänge in der freien Atmosphäre studieren. Begünstigt wurde dieses Streben durch die Entwicklung der Luftfahrttechnik, die in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts zunächst langsam und einseitig, später aber schneller und allgemeiner erfolgte. Diese setzte auch die Meteorologen in Stand, sich in die freie Atmosphäre zu erheben und auch dort Beobachtungen und exakte Messungen anzustellen. Zunächst war nur der Kugelballon das Forschungswerkzeug, das es zu großen Erfolgen brachte. Die vielen und zum Teil auch erfolgreichen wissenschaftlichen Ballonfahrten des neunzehnten Jahrhunderts, die besonders in Frankreich und England stattfanden, seien nur erwähnt. Ich will im folgenden hauptsächlich die Tätigkeit in Deutschland schildern. Hier hatten sich eine Reihe von Luftfahrtvereinen gebildet, die zunächst rein technische Zwecke verfolgten, sich aber bald unter der Führung von Meteorologen und Geophysikern der wissenschaftlichen Luftfahrt zuwandten, dies um so mehr, da die weitere technische Entwicklung, nämlich der Weg zum Flugzeug und lenkbaren Luftschiff, noch zu weit und zu teuer war. Im Berliner Verein waren es besonders Assmann, Berson, Gross, Süring und andere, die die beobachtende Meteorologie im Freiballon zur Ausbildung brachten. Doch seien auch die Vereine in München unter Führung von Erk und Emden und in Straßburg—hier sind es besonders Hergesell, Moedebeck, Hildebrandt und Stolberg — nicht vergessen. Das Assmannsche Aspirationsspychrometer ermöglichte eine einwandfreie Beobachtung der wahren Lufttemperatur und der Feuchtigkeit und führte bald zu begründeten Vorstellungen über die vertikale Verteilung dieser wichtigen Größen, wenigstens bis zu Höhen von etwa 9 000 m. Die großen Mittel, welche der Kaiser und das Preußische Kultusministerium zur Verfügung stellten, erlaubten es, mit Ballonen zu arbeiten, die die oben genannte Höhe erreichen konnten. In einem dreibändigen, reich ausgestatteten Werke wurden die Resultate dieser Fahrten in klarer und überzeugender Weise von Assmann publiziert. Die Festlegung des vertikalen Gradienten der Temperatur und Feuchtigkeit bis in etwa 9 000 m Höhe brachte uns die einwandfreie Feststellung, daß sowohl Temperatur wie Feuchtigkeit im Mittel ständig nach oben abnehmen, daß aber oft vertikale Störungsschichten auftreten, die diese Abnahme unterbrechen bzw. unregelmäßig machen. Diese Inversionsschichten, wie sie zunächst benannt wurden, erwiesen sich bald von besonderer Wichtigkeit für den Aufbau der Atmosphäre. In Frankreich war mittlerweile eine andere Untersuchungsmethode vermittels Freiballonen zur Ausbildung gekommen, die Aussicht auf Messungen in noch größeren Höhen bot. Man versuchte, mit selbstregistrierenden Instrumenten

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die Beobachtung der hauptsächlichsten meteorologischen Elemente auszuführen. Auf die Konstruktion und Durchbildung dieser selbstregistrierenden Meteorographen mußte ganz besonderer Wert gelegt werden. In Frankreich war es Teisserence de Bort, in Deutschland Assmann, Hergesell und andere, welche diese neuen Typen schufen. Auch gelang es durch die Entwicklung der Gummitechnik, sehr leichte Gummiballone zu schaffen, die in geschlossenem Zustande Höhen bis zu 25 und 30 km erreichen konnten. Mit Hilfe dieser Registrierballone wurden die Temperaturverhältnisse der freien Atmosphäre bis in etwa 30 km erforscht. Die Entdeckung der Stratosphäre, einer Inversionsschicht, die in unserer Breite im Mittel in 11 km beginnt, war die Hauptfrucht dieser Arbeit. Die obere Grenze der Stratosphäre mit einer mittleren Temperatur an der unteren Grenze von etwa —52° für unsere Breiten konnte noch nicht bestimmt werden. Sie reicht sicher bis über 30 km. Der Name »Stratosphäre« rührt von Teisserence de Bort her, der auch die darunter liegende Luftschicht mit allgemeiner Temperaturabnahme und mehr oder minder zahlreichen dünnen Inversionsschichten als »Troposphäre« bezeichnet hat. Bemerken will ich hier noch, daß die Entdeckung der Stratosphäre eigentlich schon etwas früher erfolgte, doch wurden die Kurven der Registrierinstrumente, die sie verzeichneten, als durch Strahlungseinflüsse auf die Thermometerkörper verfälscht angesehen. Erst eingehende Untersuchungen, an denen auch der Verfasser beteiligt war, haben die Genauigkeit der Thermographenanzeigen auch in den größten Höhen bestätigt. Das weitere Studium der Stratosphäre beschäftigt sich mit ihrer Höhenlage in den verschiedenen Breiten. Die aerologischen Untersuchungen der Passatregionen von Hergesell wiesen die Existenz dieser Schicht auch in den niederen Breiten nach. Die Expedition des Aeronautischen Observatoriums Lindenberg nach Deutsch-Ostafrika und die Forschungsreise Claytons, die er auf Veranlassung von Teisserence de Bort und Lawrence Rotch in die südlichen Teile des Ostatlantischen Ozeans unternommen hatte, sowie endlich die Expedition des Verfassers in die westindischen Gewässer wiesen die Existenz und die verschiedene Höhenlage in den verschiedensten Breiten nach. Die eingehendsten Untersuchungen der tropischen Höhenlage der Stratosphäre machte das Niederländische Institut auf Veranlassung seines damaligen Direktors van Bemmelen und dessen Nachfolgers Braak. Zu bemerken ist hier, daß die Untersuchungen der hohen Luftschichten auf dem Meere erst ausgeführt werden konnten, nachdem der Verfasser die Tandem-Methode und die Verfolgung der Gummiballone durch Sextant und AzimutKompaß auf der Yacht des Fürsten von Monaco erprobt und durchgebildet hatte. Das Ergebnis all dieser Studien war die Erkenntnis, daß die Troposphäre um so höher reicht, je weiter südlich dem Äquator zu die Beobachtungsstationen liegen. Am Äquator finden wir die Stratosphäre in etwa 18—20 km Höhe mit einer Grenztemperatur von etwa —8o° C. Sie senkt sich stetig, je weiter nördlich die Aufstiege liegen, während die Grenztemperatur auf etwa — 50° ansteigt. In Lappland, wo auf Veranlassung von Teisserence de Bort und Hildebrandson Aufstiege zu verschiedenen Jahreszeiten unternommen wurden, sinkt die Grenze auf etwa 9—10 km Höhe. In noch höheren Breiten (westlich von Spitzbergen) scheint nach dem einen Aufstieg, der im arktischen Sommer des Jahres 1910 vom Verfasser unternommen wurde, ihre Höhe wieder zwischen 11 und 12 km zu liegen. Uber ihre Höhenlage

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in hohen Breiten im arktischen W i n t e r ist nichts bekannt. Daß die Bildung der Troposphäre mit Konvektionsströmen, die durch die Strahlung und Erwärmung in den unteren Schichten hervorgerufen werden, zusammenhängt, ist nicht zu bezweifeln. Darauf deutet die Höhenlage der Grenzfläche in den verschiedenen Breiten, besonders aber ihre verhältnismäßig hohe Position im arktischen Sommer hin. Die nahezu gleichmäßige Temperatur der darüber beginnenden Stratosphäre bedurfte jedoch einer besonderen Erklärung. In Amerika wurde wohl zuerst von Humphrey der Beweis zu führen versucht, daß die Stratosphäre eine mächtige Schicht ohne Konvektionsströme darstellt, in der die vertikale Temperaturverteilung lediglich durch die Strahlungsverhältnisse bedingt ist. Von deutschen Forschern, die auf diesem Gebiet gearbeitet haben, nenne ich hier besonders Schwarzschild, Emden und den Verfasser. Wenn auch bei diesen Strahlungsuntersuchungen nicht alle Eigentümlichkeiten und Fragen geklärt sind, worauf besonders Simpson und Mügge hingewiesen haben, woran aber wohl die etwas einseitige Schematisierung der Absorbtionsströme und andere Ursachen schuld sind, — ist doch wohl das Wesen der Stratosphäre richtig erkannt worden. Durch Ausmessung der Ballonbahnen und Deutung der Temperaturkurven sind noch andere Eigenschaften der Stratosphäre festgelegt worden. Das Nachlassen der Intensität der Luftströmungen und die Wolkenfreiheit in der Stratosphäre seien hier besonders hervorgehoben. Interessant ist auch die Tatsache, daß die Grenzschicht zwischen der Stratosphäre und Troposphäre, die mitunter mehrere Kilometer Dicke hat, gesonderte Eigenschaften aufweist. In Deutschland wird sie mit Substratosphäre, in England mit Tropopause bezeichnet. Die Einführung der Gummiballone mit der angenehmen Eigenschaft, daß sie mit fast konstanter Geschwindigkeit steigen, in die messende Meteorologie hat zu einem besonders intensiven Studium der Luftströmungen hauptsächlich in den unteren Schichten geführt. Dies ist von besonderer Wichtigkeit für die Sicherung der Luftfahrt geworden. Eine allgemeine Erkenntnis der Wichtigkeit des aerologischen Studiums ist besonders im Kriege entstanden, da alle am Weltkriege teilnehmenden Nationen besondere Kriegswetterdienste einrichteten und allerseits mit finanziellen Mitteln gearbeitet wurde, die weder vorher noch nachher zur Verfügung standen. Diese weit verbreitete Anerkennung des Nutzens der Meteorologie machte sich bald in den Fortschritten unserer Wissenschaft auch nach dem Kriege bemerkbar. Die internationale Zusammenarbeit wurde in der Wetterkunde wohl zuerst wieder aufgenommen. Die Untersuchungen über die Entstehung und den Aufbau der Zyklonen, die V. Bjerknes, angeregt durch die Publikationen der internationalen Kommission für aerologische Untersuchungen, schon vor dem Kriege begonnen hatte, wurden von der nordischen Schule in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts mit Eifer fortgesetzt. Die Existenz von Luftkörpern mit verschiedenen meteorologischen Eigenschaften, die gleichzeitig neben- und übereinander liegen, wurde erkannt und zur Erklärung des Entstehens von Zyklonen in unseren Breiten verwandt. Die Aufstellungen der Bjerknes'schen Schule in Bergen wurden überall eifrig diskutiert und kritisiert. Dadurch daß die aerologischen Messungen des Observatoriums Lindenberg von diesem zu der Erkenntnis der meteorologischen Eigenschaften der Luftkörper und der Luftströmungen herangezogen wurden, 2 2 Festschrift Schmidt-Ott

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sind dort wertvolle Erweiterungen und Abänderungen der Bjerknes'schen Polarfronttheorie gewonnen worden. Der Kern der Anschauungen der Bergenschen Schule besteht darin, daß die Verschiebungen der verschieden temperierten Luftmassen die Hauptursache für die vielseitige Veränderlichkeit des Wetters sind. Wohl hatten schon österreichische Meteorologen, wie Ficker, Exner und andere, auf die Wichtigkeit plötzlicher Wärme- und Kälteeindrücke hingewiesen und diese näher untersucht. Das allgemeine Interesse wurde aber erst durch die geschickten Publikationen von Bjerknes und seinen Schülern erweckt, besonders als sie ihre Anschauungen mit Erfolg auf die Prognose der Witterung an den nordischen Küsten anwenden konnten. Auch durch die Beobachtungen der stratosphärischen Verhältnisse wurde die Polarfronttheorie für die unteren Schichten nicht unwesentlich erweitert. Schmauß war wohl der erste, der auf Kälte- und Wärmeeinbrüche an der Grenze der Stratosphäre aufmerksam machte und so dem Einbruchsystem von Luftströmungen in den unteren Schichten aus den höheren Breiten ein äquatoriales System von Luftströmungen gegenüberstellen konnte, das hoch oben in den kalten Grenzschichten über der Stratosphärengrenze sein Spiel treibt. Die Zusammenhänge der Vorgänge in den höheren Schichten mit dem Wetter in der Troposphäre wurden dann auch von anderen Forschern, wie Dines, Koppen usw., untersucht. Eine wesentliche Rolle in der Entwicklung der Meteorologie spielt die Verbesserung der Wettervorhersage. Schon der Krieg hatte auf den weiteren Ausbau aufmerksam gemacht. Nach dem Kriege erzwangen die wirtschaftlichen Verhältnisse und besonders die Fortschritte in der Flugtechnik eine schnelle Entwicklung. Neben der Bedeutung der Bjerknes'schen Anschauungen seiner Nachfolger für die Prognose erleichterte der Ausbau der drahtlosen Telegraphie die Verbesserung des Wetterdienstes. Der meteorologische Nachrichtendienst wurde mit Hilfe der Funkübermittlung der Beobachtungen in erstaunlicher Weise ausgebaut. Während vor dem Kriege zwei tägliche Beobachtungstermine genügen mußten, um die Wetterverhältnisse Europas durch synoptische Karten darzustellen, sind wir heute in der Lage, täglich ein halbes Dutzend Karten von Europa zu zeichnen und so die Veränderungen der meteorologischen Elemente genauer zu verfolgen. Diese Karten erstrecken sich nicht allein über Europa, sondern eine von ihnen auch über die ganze nördliche Hemisphäre. Auf diese Weise ist die Voraussage eine viel sichere geworden, allerdings nicht auf lange Sicht, sondern nur auf den folgenden oder auf den nächstfolgenden Tag. Langfristige Voraussagen sind nicht nur der Wunsch der Allgemeinheit, sondern noch viel mehr unserer Wissenschaft selbst. Das Sehnen der großen Menge hat schon seit den ältesten Zeiten Propheten geschaffen, die mit Kühnheit, aber ohne Verstand die gewünschten Aufstellungen machten und Vorteile daraus zogen. Die eigentliche Wissenschaft ist an diese Frage mit größter Vorsicht herangetreten, einige vorwitzige Jünger sind durch ihre Mißerfolge wohl zurückgeschreckt worden. Die Frage ist aber für die Menschheit von so großer Wichtigkeit, daß man sie in keiner Weise vernachlässigen darf. Es bestehen ohne Zweifel zwischen den Wettervorgängen an verschiedenen weit entlegenen Stellen der Erdoberfläche Zusammenhänge, die sich auch zeitlich auswirken, so daß beispielsweise Witterungserscheinungen an einer bestimmten Stelle der Südhemisphäre auf die Wettervorgänge an einer weit

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entfernten Stelle der Nordhemisphäre einen bestimmten Einfluß haben können, sehr häufig erst nach Wochen oder Monaten. Diese Zusammenhänge zu erforschen, ist zur Zeit die Aufgabe eines besonderen Zweiges der Meteorologie, den wir unter »Korrelationsuntersuchungen« zusammenfassen können. Ich möchte an dieser Stelle das unter Leitung von Prof. Weickmann stehende Leipziger geophysikalische Institut nennen, das sich nicht nur mit den soeben geschilderten Versuchen beschäftigt, sondern weitgehende Untersuchungen über die Wellenerscheinungen im Luftmeer unternimmt. Ich kann an dieser Stelle selbstverständlich auf diese wichtigen Untersuchungen nur hinweisen, aber schon bemerken, daß ihre Resultate aussichtsreiche Ausblicke auf eine langfristige Wetterprognose erlauben. Von der Theorie zur Praxis ist aber noch ein weiter Weg. Durch diese Studien wird aber auf alle Fälle ein »Weltwetter* festgelegt, das auf eine geschickte Auswahl von über die ganze Erdoberfläche verteilten Beobachtungsstationen basiert ist. Diese Schöpfung der letzten Jahre verdankt ihren Ausbau der nach großen Zügen angelegten internationalen Organisationen der Meteorologie. Die Zentralstelle ist das Internationale Meteorologische Komitee mit seinen vielen wissenschaftlichen Kommissionen. Die Entwicklung des öffentlichen Wetterdienstes für praktische Zwecke hat in allen Staaten, besonders aber in Deutschland große Fortschritte gemacht. Bei uns bestehen 17 öffentliche Wetterdienststellen, die bei den süddeutschen Ländern mit den dort bestehenden Zentralinstituten verbunden, in Norddeutschland durch das Preußische Landwirtschaftsministerium zu einer einheitlichen Organisation zusammengefaßt sind. Eine besondere Ausbildung hat der Flugwetterdienst erfahren, der zur Sicherung der Luftfahrt dient. Er ist schon vor dem Kriege durch die Bemühungen des Aeronautischen Observatoriums in Lindenberg entstanden. Nach dem Kriege ist er durch das Reichsverkehrsministerium besonders ausgebaut worden. Die Leitung des Flugwetterdienstes befindet sich seit einiger Zeit in Berlin, aber immer noch in enger Verbindung mit dem Observatorium Lindenberg, dessen Direktor an der Spitze der ganzen Organisation steht. Die aerologischen Messungen sind im Anschluß an diesen Flugwetterdienst ebenfalls durch die Tätigkeit des Reichsverkehrsministeriums an vier verschiedenen Stellen des deutschen Reichs neu aufgenommen worden. Wetterflugstellen, die durch möglichst häufige Flugzeugaufstiege die Verhältnisse der freien Atmosphäre erkunden, sind in Königsberg, Hamburg, Darmstadt und München errichtet worden. Diese wissenschaftlichen Flugstellen geben uns fast täglich das Beobachtungsmaterial für die freie Atmosphäre über Deutschland bis in ca 6 000 m Höhe, sodaß seit einiger Zeit die täglichen aerologischen Messungen nicht mehr allein von Lindenberg mit seiner schon bestehenden wissenschaftlichen Flugstelle in Tempelhof und von der mit Hilfe eines schnellen Schiffes arbeitenden Aufstiegsstation in Friedrichshafen vorgenommen werden. Neben diesen aerologischen Messungen der genannten Stationen führen zudem die in Deutschland bestehenden 16 Flugwetterwarten noch täglich mehrmals Pilotballonaufstiege aus, die, in genügender Anzahl vorhanden, die Strömungen im Lufitmeer hinreichend zu erkennen gestatten. So ist in Deutschland ein neues Forschungsgebiet der Meteorologie zur Ausbildung gelangt, das sich in selbständiger Weise neben die bestehenden Arbeitskreise unserer Wissenschaft gestellt hat. Die 22*

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angewandte Meteorologie, wie ich diesen Entwicklungszweig genannt habe, weist auch auf den Weg, auf dem eine größere Vereinheitlichung der deutschen meteorologischen Forschung zu erstreben ist. Hier ist nicht der Ort, näher auf diese interessante Frage einzugehen, ich möchte nur betonen, daß die oben definierte angewandte Meteorologie mit ihren Flugwetterwarten und selbständigen Forschungsinstituten als Ganzes bestehen und unter eine wissenschaftliche Leitung gestellt bleiben muß. Auf weitere wichtige meteorologische Arbeiten möchte ich nur hinweisen. Es ist das Verdienst des Preußischen Meteorologischen Instituts, die klimatologische Forschung in seinem Gebiet eifrig zu betreiben, an welcher Arbeit sich auch die anderen meteorologischen Institute der Länder seit ihrem Bestehen beteiligen. Die Herausgabe eines kümatologischen Atlas für Deutschland ist besonders dankenswert, hoffentlich folgt ihm bald der letzte ergänzende Teil. Eine begrüßenswerte Entwicklung hat auch die Mikroklimatologie genommen. Sowohl Schmauss und Geiger in München als Wilhelm Schmidt in Wien und in neuester Zeit Bartels in Eberswalde haben hervorragende Arbeiten in dieser Beziehung bereits geleistet, die von ganz besonderer Wichtigkeit für die Land- und Forstwirtschaft sind. Weiter muß ich noch auf die Strahlungsmessungen hinweisen, die sowohl international als auch bei uns in Deutschland eine besondere Pflege gefunden haben. An erster Stelle ist hier das Potsdamer Observatorium zu nennen und weiter das Observatorium Wahnsdorf; aber auch das Frankfurter Institut hat sich auf diesem Gebiet große Verdienste erworben. Sein Direktor, Prof. Dr. Linke, sucht besonderen Anschluß an die Kreise, welche medizinische Belange haben. Es ist dieses Streben sehr zu begrüßen, aber auch auf die Gefahren, welche ein zu enger Anschluß für die Physik der Atmosphäre haben kann, ist zu achten. Strömungsforschung In ähnlicher Weise wie die Mikroklimatologie ist ein in gleichem Maße die Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Windkrafttechnik sowie auch die reine Wissenschaft interessierendes Arbeitsgebiet, die Strömungsforschung, — eben aus der Forderung der Praxis heraus — in den letzten Jahren stärker in Angriff genommen worden. Die Erforschung der Windstruktur im kleinen und großen ist das Hauptziel dieser Studien. W. Schmidt hat hier durch die Einführung experimenteller Hilfsmittel neue Forschungsmethoden beschreiten gelehrt; Lindenberg, München und Darmstadt gehen ebenfalls auf besonderen Wegen auf dasselbe Ziel los. In großem Stile befaßt sich das Forschungsinstitut der Rhön-Rossitengesellschaft unter Georgiis Leitung ebenfalls mit der Windstrukturforschung an kleinen Hindernissen. Den Einfluß des Alpenmassivs auf die Struktur der freien Atmosphäre läßt in gleichem Rahmen Schmauss durch vergleichende Flugzeugaufstiege und Zugspitzbahnmessungen durch seine Schüler studieren. Ganz neue Wege in der Auffassung über die Struktur des Gas- und Wasserdampfgemisches, das unsere Atmosphäre darstellt, scheinen uns die Arbeiten von Schmauss und Wigand zu weisen, die die Erfahrungen der Colloidchemie auf die Atmosphäre angewendet haben und schon heute nach kurzer Zeit zu sehr schönen Ergebnissen gelangt sind.

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Zum Schluß gebe ich noch eine kurze Übersicht über einige Forschungsgebiete in unserer Lufthülle, die ganz aktuell sind und auf das Studium der höchsten Schichten der Atmosphäre hinausgehen. Ein Teil hiervon beschäftigt sich mit dem elektrischen Zustand unserer Atmosphäre. Chauveau hat eine ausgezeichnete Ubersicht über die geschichtliche Entwicklung der Luftelektrizität gegeben. Während früher, eigentlich schon seit Franklin 1750 nur mit bescheidenen Instrumenten ziemlich tastend gearbeitet werden konnte, brachte die bahnbrechende Arbeit von Elster und Geitel 1899 »Über die Existenz der elektrischen Ionen in der Atmosphäre« einen gewaltigen Umschwung. Die Arbeiten und Theorien über die Erdladung, die Ursachen des elektrischen Erdfeldes, Leitfahigkeitsmessungen, Ionenzahl und Ionenbeweglichkeitsmessungen und nicht zuletzt die Arbeiten über die durchdringende Strahlung sind damit teils auf eine andere Basis gestellt, teils überhaupt erst ermöglicht worden. Die Grundfrage, wodurch die negative Ladung des Erdkörpers erhalten wird, ist aber immer noch nicht gelöst. Zu diesen allgemeinen, mit Studium der Luftelektrizität bezeichneten Arbeiten ist, veranlaßt durch die Entwicklung der drahtlosen Telegraphie und die in ihrer Ausbreitung beobachteten Unregelmäßigkeiten und Störungen, ein neues Grenzgebiet getreten, das sich mit den atmosphärischen Einflüssen auf die Ausbreitung der elektromagnetischen Wellen befaßt. Hier sind in erster Linie vom Observatorium Lindenberg von Herath und Duckert grundlegende Untersuchungen angestellt worden, deren Ergebnisse über die Einwirkung auch höher gelegener Grenzschichten in der Atmosphäre auf Lautstärke der Signale, Höhe des Störungsspiegels und die Peilrichtung lange bekämpft wurden, aber sich heute voll und ganz durchgesetzt haben. Über die Messungen zur Erklärung der Anomalien infolge atmosphärischer Einflüsse hinaus konnten jetzt schon Wege gewiesen werden, um aus den Beobachtungen der Ausbreitungsstörungen der drahtlosen Telegraphie Rückschlüsse auf die jeweilige atmosphärische Struktur zu ziehen. Es ist dies deshalb von besonderer Bedeutung, als uns damit die Möglichkeit gegeben wird, auch Schichten unserer Erdhülle, die mit aerologischen Meßinstrumenten nicht mehr erreicht werden können, durch indirekte Meßmethoden zu studieren und Veränderungen in denselben zu überwachen. Die rein funktechnisch interessierende Seite ist mit Unterstützung der Heinrich Hertz-Gesellschaft vom Reichspostzentralamt (Bäumker) ausführlich studiert worden. In letzter Zeit ist mit der Schaffung des Heinrich-Hertz-Institutes für Schwingungsforschung ein neues Forschungsinstitut für diese Frage entstanden, das unter K. W. Wagners Leitung, unterstützt durch namhafte Wissenschaftler, gute und schnelle Förderung unserer Erkenntnis zu geben verspricht. Ganz ähnliche Ziele verfolgen auch die noch kurz zu erwähnenden Arbeiten über die Schallfortpflanzung in unserer Atmosphäre. Hier ist aus den Beobachtungen über die Störungen der plausiblen Schallausbreitung eine äußerst umfangreiche Gemeinschaftsarbeit entstanden, die uns Wege zur experimentellen Erforschung der Atmosphäre in Höhen über 30 km gezeigt hat. Das Observatorium Lindenberg hat auch an der Gestaltung und Entwicklung der hier in Frage kommenden Methoden hervorragenden Anteil genommen. In Band X V I der Arbeiten des

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Preußischen Aeronautischen Observatoriums sind, um auch weiteren Kreisen das Studium dieses Gebietes zu erleichtern, in den Heften B und D umfangreiche Literaturnachweise hierüber aufgenommen worden. Die dritte Methode für indirekte Rückschlüsse auf die Gradienten der meteorologischen Elemente in den höchsten Schichten beruht auf dem Studium des Ozongehaltes in der Gesamtatmosphäre. Auch hier sind, speziell in Zusammenarbeit mit den Engländern, in letzter Zeit große Fortschritte erzielt worden. Die moderne Aerologie hat mit weitgehender Unterstützung der deutschen Forschungsgemeinschaft daher ganz planmäßige Studien dieser drei Probleme aufgegriffen und darf hoffen, durch diese neuen Forschungsmethoden in ihrer Erkenntnis erheblich weiter zu kommen. Ich schließe hiermit diese Übersicht über die Probleme und die Entwicklung der Physik des Erdkörpers und seiner Atmosphäre in den letzten 50 Jahren. Mit Stolz können wir auf die deutsche Mitarbeit bei diesem Studium blicken. Befand sich Deutschland vor dem Kriege an leitender Stelle der internationalen Organisationen dieser Arbeiten, so hat es auch nach dem Kriege, der so viele Störungen in der Gemeinschaftsarbeit der Nationen gebracht hat, es verstanden, wiederum einen hervorragenden Platz bei der Untersuchung aller hier in Betracht kommenden Fragen einzunehmen. Die Arbeiten unserer Geophysiker und Meteorologen haben sich die Anerkennung aller wissenschaftlichen Kreise erworben. Neben den Namen unserer alten bewährten Forscher stehen heute schon die jüngeren Gelehrten mit voller Gleichberechtigung.

FRITZ HABER CHEMIE Die Geschichte des letzten halben Jahrhunderts sieht in der Chemie anders aus als in den Geisteswissenschaften, die viele Jahrhunderte alt sind. Es gibt eine Philologie der Chemie, die sich mit den einzelnen chemischen Tatsachen beschäftigt, die man schon im Altertum und im Mittelalter kannte. Aber eine systematische Wissenschaft besteht erst seit anderthalb Jahrhunderten, und in den ersten 50 Jahren dieses Zeitraums beschränkt sich der Erfolg auf wenige Grundlagen, die einzelne große Männer geschaffen haben. Die Systematik nimmt ihren Ausgang von der Einführung der Waage, des Hohlmaßes und des Thermometers in den Kreis der qualitativen Beobachtungen einer älteren Zeit. Der spezifisch chemische Sinn besteht in der Gabe, die Wechselwirkung der chemischen Stoffe zu beobachten, ihre Merkmale festzuhalten und durch ein ahnendes Verständnis zu verbinden. Die systematische Wissenschaft aber entsteht durch die Gliederung dieses Beobachtungsinhalts, die nicht ohne physikalische Hilfsmittel möglich ist. Den Chemiker macht die Liebe zu den Grundeigenschaften des Stoffes, die sich hinter der Gestalt der Dinge verbergen, aber sein Beobachtungsmaterial ordnet sich nur mit Hilfe physikalischer Bestimmungen und Gesetze. Der stoffliche Reichtum der Natur gibt tausenden von Chemikern Gelegenheit zu wissenschaftlichen Experimenten und Beobachtungen. Aber ihre wunderbare Beobachtungsschärfe und ihr Sinn für Zusammenhänge findet die gemeinsame Grenze dort, wo die physikalische Erleuchtung aufhört. Es ist schwer in Ermangelung einer ausreichenden Fachstatistik, die Ausbreitung anzugeben, die das Fach im Laufe der Zeit erfahren hat. Die Zahl der akademisch gebildeten Chemiker in der Welt mag der Größenordnung nach heute 50000 betragen und übertrifft die Anzahl derer, die vor einem halben Jahrhundert im Dienste des Faches gestanden haben, sicherlich um ein hohes Vielfaches. Die Wirtschaftsstatistik, die die Produkte aufzählt, die von der Chemie für andere Zweige des industriellen Lebens und für den allgemeinen Verbrauch geschaffen werden, kommt auf eine JahreserzeugungimungefährenWertvon25 Milliarden Mark in der Welt. Aber sie ist weit davon entfernt, mit dieser Ziffer die wirtschaftliche Bedeutung der chemischen Umsetzungen zu erfassen. Schon im industriellen Sinne umschließt das Gebiet der Chemie neben dem, was chemische Industrie heißt, alle Metallhüttenkunde und die Brennstoffe, deren Nutzbarmachung zur Wärme- und Kälteerzeugung durch chemische Umsetzung vor sich geht. Im wissenschaftlichen Sinne aber reicht die Chemie weit über diese Gebiete hinaus und umfaßt alle Umsetzung stofflicher Art in der unbelebten wie in der belebten Welt mit Einschluß der Vorgänge und Bestandteile unseres eigenen Körpers. Nichts erscheint für den Außenstehenden überraschender, als daß ein wissenschaftliches Fach von dieser Breite sich nicht aufgespalten hat und im Fortgange der Jahrzehnte eine einheitliche Disziplin geblieben ist, obgleich der Umfang des Materials weit über das hinausgeht, was der einzelne beherrschen kann. Doch die geistigen Disziplinen spalten sich nicht auf nach dem Umfange des Materials, das ihnen zurechnet, sondern

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bleiben eine Einheit, wenn sie eine einheitliche Denk- und Arbeitsweise bewahren. In diesem Punkte besteht Ähnlichkeit mit der Jurisprudenz, die durch die Gemeinsamkeit der Denkweise eine einheitliche Disziplin bleibt, obgleich der juristische Stoff in alle Zweige des täglichen Lebens eingreift und der Masse nach alles überschreitet, was der einzelne zu beherrschen vermag. In jedem wissenschaftlichen Fache gibt es eine innere Bewertung, und die führenden Gelehrten ringen darum, sie gegenüber der praktischen Wichtigkeit in den Vordergrund zu schieben. Aber der äußere Erfolg erfaßt den weiteren Kreis der Menschen. Am wirksamsten ist das Zusammentreffen von fachlicher Vertiefung mit praktischem Nutzen, und dieses Zusammentreffen kennzeichnet die organische Chemie im ersten Abschnitt der letzten 50 Jahre und macht um jene Zeit diesen Fachzweig, die Chemie der Kohlenstoffverbindungen, zum führenden Teilgebiet. Die Zahl der Verbindungen des Kohlenstoffs mit dem Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff übertrifft die der anderen einzelnen Elemente zusammengenommen bei weitem, und die Mannigfaltigkeit der Kohlenstoffverbindungen ist unabsehbar. Diese Kohlenstoffverbindungen sind zugleich an Wichtigkeit an der ersten Stelle, weil sie die lebende Substanz ausmachen, die uns Menschen letzten Endes das Wichtigste in der Natur ist. Um das Jahr 1880 ist in der Chemie der Kohlenstoffverbindungen ein Punkt erreicht, von dem aus die systematische Wissenschaft sich zurecht zu finden beginnt und das technische Fach die Aussicht sieht, durch sie für die Textilindustrie Farbstoffe zu schaffen, die mannigfaltiger und schöner als die Erzeugnisse der Natur sind. Es ist unmöglich, in Kürze die Gegenstände und die Männer zu nennen, die in diesem Zweig der Fachgeschichte einen wichtigen Platz einnehmen, ohne in eine Aufzählung zu verfallen, die dem Außenstehenden durch die Bezeichnungen unverständlich ist und ihn ermüdet. Die wichtige Klasse der synthetischen Farbstoffe, die um das Jahr 1880 in ihre Blüteperiode tritt, trägt den Namen der Azofarbstoffe und hat die bedeutendste gemeinsame Grundlage für die Entwicklung der Farbenindustrie in Deutschland in den beiden nächsten Jahrzehnten abgegeben. Ihren Ausgangspunkt haben die Untersuchungen von Peter Gries gebildet. Aber an wissenschaftlichem Gewichte werden diese Arbeiten von den Forschungen übertroffen, die Adolf v. Baeyer dem Pflanzenfarbstoff Indigo gewidmet hat. Die Chemie der Kohlenstoffverbindungen hat durch Adolf v. Baeyer und seine Schule in Deutschland einen geschichtlichen Fortschritt gemacht, der auf diesemGebiete in anderen Ländern nicht seinesgleichen besitzt. Die Eroberung der Farbstoffe der Indigopflanze und des Farbstoffs der Krappwurzel, des Alizarins, aber hat die technische Chemie durch die anschließenden Prozesse mannigfaltiger bereichert als irgend ein anderes Einzelthema. Es gibt Prozesse chemischer Art, die für sich allein stehen und die Welt erobert haben. Das Ammoniak- Soda -Verfahren von Ernest Solvay ist ein Beispiel. Aber an die Synthese des Alizarins, die sich an die Namen Graebe und Liebermann knüpft, und die des Indigos, die ihre schließliche Gestalt durch die wissenschaftlichen Untersuchungen K. Heumanns erfahren hat, haben sich die wichtigsten neuen großen technischen Prozesse als Hilfszweige angeschlossen. Mit dem Indigo entwickelt sich die Darstellung des elektrolytischen Chlors und der Alkalien und mit dem Alizarin die Industrie des Schwefelsäureanhydrids und machen von den deutschen Farbenfabriken aus einen Lauf durch die Welt, denen erst

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im letzten Teile des behandelten halben Jahrhunderts wieder in Gestalt des synthetischen Ammoniaks ein Fortschritt gleichgroßen Stiles zur Seite tritt. Die Verbindung des wissenschaftlichen Erfolgs mit dem wirtschaftlichen Fortschritt schafft den neuen Typus der chemischen Industrie und hebt eine Gruppe ihrer Fabriken, die im öffentlichen Ansehen ihre Geltung früher hinter den mechanischen Fertigungen hatten, an die erste Stelle. An das Alizarin schließt sich in unserem Jahrhundert noch ein Fortschritt auf dem Farbstoffgebiete, der nicht unerwähnt bleiben darf, in Gestalt der Indanthren-Farbstoffe. Diese Gruppe, die ein Erfolg der Badischen Anilin- und Sodafabrik ist, überholt auf dem synthetischen Wege in der eindrucksvollsten Weise die Natur und bietet dem technischen Bedürfnis die Möglichkeit, an Echtheit alles zu übertreffen, was die Pflanze hervorbringt, und die Färbung auf der Faser so haltbar zu machen wie die Faser selbst. Die Verbindung der systematischen Wissenschaft mit dem technischen Interesse ist eine Auswirkung der Liebigschen Zeit und weckt die Blüte der Chemie in der ersten Hälfte des geschilderten halben Jahrhunderts in Deutschland. Liebig setzt sein halbes Leben daran, die systematische Chemie zu entwickeln, und widmet die andere Hälfte der Aufgabe, über sie hinaus zu kommen und mit Hilfe der chemischen Einsicht dem technischen Fortschritt zu dienen und die ganze lebendige Welt zu verstehen. Seit seinen Tagen faßt jede neue Generation der Chemiker im Fortschritt ihrer Erkenntnis der Kohlenstoffverbindungen die Erzeugnisse des Lebens an und glaubt sich weit genug, um in den Mechanismus der Vorgänge einzudringen, durch welche die lebende Natur ihre Haupterzeugnisse hervorbringt. In unserer Periode werden die Kohlenhydrate, unter denen die Zuckergruppe im Vordergrunde steht, und das Eiweiß unter Emil Fischers Händen zum bedeutsamsten Thema. Beide Aufgaben erfahren durch seine meisterliche Behandlung eine Lösung, aber in unvergleichlich anderem Sinne wie das Alizarin und der Indigo. Diese Farbstoffe werden auf naturfremdem Wege dargestellt und für die Arbeit der Industrie gewonnen. Die landwirtschaftliche Erzeugung wird wirtschaftlich überholt. Der Zucker und das Eiweiß werden in ihrem chemischen Aufbau verstanden und synthetisch nachgeahmt, bleiben aber wirtschaftlicher Besitz der Landwirtschaft und gehen nicht in das Bereich der synthetischen industriellen Aufgaben über. Es wird allmählich deutlich, daß die Wege des Aufbaus der chemischen Stoffe, die die chemische Synthese geht, nur ausnahmsweise in der wirtschaftlichen Welt mit der Landwirtschaft wetteifern können, und daß es große Schwierigkeiten bietet, von der systematischen Chemie mit ihren naturfremden Arbeitsweisen zur Beherrschung der noch unbekannten Wege zu gelangen, auf denen die lebende Natur ihre Erzeugnisse hervorbringt. Statt der Produkte der Pflanze wird durch Willstätters Untersuchungen über das Chlorophyll und die Assimilation das Leben der Pflanzen selbst zum chemischen Thema, und die wissenschaftliche Arbeitsrichtung lenkt bewußt von dem gemeinsamen Boden der industriellen und der systematischen Chemie bei den Kohlenstoffverbindungen in die biochemische Richtung. Dafür tritt eine neue Verbindung der Technik mit der wissenschaftlichen Chemie auf dem pharmazeutischen Gebiete ein, die ihren Ausgang von einer primitiven Vorstellung über den Aufbau des Chinins nimmt und in der Gruppe der organischen Arsenverbindungen mit dem Salvarsan durch Paul Ehrlich zu einem

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sehr glanzvollen Erfolge führt. Der Zusammenhang der chemischen Konstitution mit der pharmazeutischen Wirkung bleibt der allgemeinen Erkenntnis vorenthalten, aber in einzelnen Gruppen chemischer Verbindungen, unter denen die der Barbitursäure (Veronal) am meisten hervortritt, liefert eine jahrzehntelange Facharbeit doch eine Fülle neuer Medikamente, die in den dauernden Besitzstand der Medizin übergehen. Im ganzen freilich zeigt sich in dem Unterschiede der Entwicklung auf dem Farbstoffgebiet und dem pharmazeutisch-chemischen Gebiet, wieviel mühseliger und langsamer die Erfolge sind, wenn die Fortschritte nicht durch ein glückliches Zusammentreffen in Richtung der systematischen Entwicklung des Faches liegen, sondern durch das Interesse an einem systemfremden praktischen Nutzen vorgeschrieben werden, an dem uns Menschen gelegen ist. Während die Lehre vom Aufbau der Kohlenstoffverbindungen sich auf wohlvorbereitetem Grunde durch das ganze halbe Jahrhundert auswächst und verfeinert, entsteht um das Jahr 1880 auf dem Boden Helmholtzscher Erfolge durch van't Hoff und Arrhenius ein neuer Zweig des Faches, der durch das Thema grundsätzlich von der herrschenden Richtung verschieden ist. Die primitiven physikalischen Werte und Gedanken, die ein Jahrhundert für die Chemie genügt haben, erfahren eine große Bereicherung; Feststellung der Masse, des Volumens und die Ermittlung der Temperatur, die bisher im wesentlichen den physikalischen Rahmen für die Beschreibung des Reaktionsverhaltens der Stoffe geliefert und ausgereicht haben, um die Kohlenstoffverbindungen und das System ihres Zusammenhanges zu schaffen, befriedigen nicht mehr, und es entwickelt sich eine physikalische Richtung, die nach dem Zustande und Betrage der chemischen Energie und nach den Gesetzen der Geschwindigkeit fragt, die den Ablauf der chemischen Vorgänge beherrschen. Neben dem empirischen Charakter der synthetischen Umsetzungen, die darauf ausgehen zu ermitteln, wie die Atome in den Molekülen aneinander hängen und wie man die Stoffe zusammenbringen muß, damit sie angestrebte Veränderungen erfahren, werden die quantitativen Seiten der Vorgänge bedeutsam. Wichtige Vorläufer, wie J. Thomsen, M. Berthelot, Guldberg und Waage, treten bereits in der letzten Generation vor unserer Berichtszeit auf. Aber im allgemeinen Denken des Faches hört erst in unserer Berichtsperiode die chemische Reaktion auf, für die Verwandlung merkwürdiger Stoffe in andere merkwürdige Stoffe zu gelten, die von Änderungen des Wärmezustandes wie von einer physikalischen Zufälligkeit begleitet ist. Es entsteht die Grundvorstellung, daß die begleitenden Wärmeerscheinungen zum innersten Wesen der Sache gehören und daß es nicht genügt, die Anordnung der Atome vor und nach dem chemischen Umsatz zu beschreiben und eine unbestimmte chemische Affinität, die sich mit den Zu- und Abneigungen des menschlichen Herzens vergleicht, dabei betätigt zu glauben, sondern daß der chemische Vorgang die Betätigung einer spezifischen Energie ist, die man nach ihrem Wesen physikalisch erkennen und messen muß. Es wird zunächst die Wärmeerzeugung bei den chemischen Vorgängen als Maß der Energie angesehen, die sich beim Umsatz der Stoffe betätigt, bis als wichtigster Fortschritt des vergangenen Jahrhunderts die Einsicht entsteht, daß unter allen physikalischen Energieformen die Wärme eine Sonderstellung einnimmt, weil sie nicht beliebig, sondern nur begrenzt in Arbeit verwandelbar, und daß die chemische

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Energie eine Form der Arbeit ist. Der Satz von der Erhaltung der Energie, der sogenannte erste Hauptsatz der Wärmetheorie gewinnt nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts seine gleichwertige Ergänzung durch den Einblick in den Zusammenhang von Wärme und Arbeit, und diese Erkenntnis, der sogenannte zweite Hauptsatz, wird nach Horstmanns Vorgang von Helmholtz 1882 auf die Chemie angewandt, in der ihn van't Hoff 1884 zur Messung der chemischen Verwandtschaft nach einem exakten Maßstabe nutzbar macht. Von diesem Augenblicke an ist es grundsätzlich wenigstens möglich, vom chemischen Vorgange wie von der mechanischen und der elektrischen Arbeit eine quantitative Aussage zu machen, nicht nur nach der Menge der beteiligten Stoffe, sondern hinsichtlich der Energieänderung, die bei dem Vorgang sich vollzieht. Der Zufall will es, daß diese van't Hoffsche Leistung mit einem grundlegenden Fortschritt zusammenfallt, den Arrhenius in einer anderen Helmholtzschen Gedankenrichtung erreicht. Die wissenschaftliche Chemie hat am Anfang ihrer Entwicklung als die wichtigste quantitative Einsicht von der Waage und Volumenmessung gelernt, daß die Grundstoffe, die sie durch ihre qualitativen Reaktionen unterscheidet, in unveränderlichen Mengenverhältnissen zusammentreten. Helmholtz hat 1881 in seiner FaradayLekture diese Erkenntnis auf dem Boden Faradayscher Beobachtungen dahin ausgedehnt, daß die Elektrizität sich wie ein solcher Grundstoff verhält, indem sie sich mit den kleinsten selbständigen Massenteilchen in einem ebenso festen Verhältnis vereinigt. Arrhenius erkennt 1887, daß es in den wässerigen Lösungen einen Zerfall gibt, bei dem aus den einfachsten Verbindungen, den Salzen, Säuren und Basen, neue Verbindungen hervorgehen, die sich aus den Spaltstücken dieser Stoffe und aus Elementarmengen der Elektrizität zusammensetzen. An diesen Fortschritt knüpft sich die breiteste Entwicklung der Lehre von der chemischen Energie, weil die elektrischen Hilfsmittel für die Bestimmung der chemischen Arbeitsfähigkeit anwendbar werden. Es bildet sich zeitweilig ein scharfer Gegensatz der verschiedenen Richtungen aus. Die physikalischen Chemiker, die die Entwicklung auf diesem Wege an die Spitze stellen, treten damit in Gegensatz zu den organischen Chemikern, die an ihrer qualitativen Bewertung der chemischen Verwandtschaft festhalten und ihr schöpferisches Können für fruchtbarer halten, mit dem sie neue Verbindungen entdecken und unbekannte qualitative Zusammenhänge aufklären. Die physikalisch-chemische Richtung erreicht einen besonderen Höhepunkt im Anfange unseres Jahrhunderts durch Nernst, dem es 1906 gelingt, die Wärmelehre durch einen Satz zu erweitern, mit dessen Hilfe die chemische Energie grundsätzlich aus Wärmegrößen allein hergeleitet werden kann. Der Gegensatz aber zwischen der organischen und der physikalisch-chemischen Richtung verblaßt, weil in unserem Jahrhundert neue physikalische Erkenntnisse von solcher Bedeutung aufwachsen und in die Chemie eintreten, daß die Grundwurzeln beider Fächer sich verflechten und das Bedürfnis nach der Hilfe des anders gerichteten Fachgenossen die Vorliebe überwindet, mit der jeder in seinem Zweige die fruchtbare Zukunft sieht. Die Mechanik, die durch Jahrhunderte die feste Grundlage des physikalischen Denkens abgegeben hat, scheitert an dem Versuche, die Strahlungsgesetze des schwarzen Körpers mit ihren Prinzipien zu verbinden, und die Optik wie die Atomphysik gewinnen in der Planckschen Quantentheorie 1900 eine

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neue Grundlage, die uns in mehr als 25 Jahren unentbehrlich geworden ist, ohne daß wir noch imstande wären, sie nach ihrem vollen Umfange zu verstehen und in unserem Weltbilde im Sinne einer älteren physikalischen Denkweise unterzubringen. Die höchste Betätigung des spezifisch chemischen Könnens, das an physikalischen Hilfsmitteln nur die Waage, das Hohlmaß und das Thermometer besaß, wurde in der Auffindung und Reindarstellung eines chemischen Elementes gesehen. Diese Leistung bot eine doppelte Schwierigkeit durch die Trennung der Verbindungen verschiedener ähnlicher Elemente und durch die Zerlegung der getrennten Verbindungen in die Grundstoffe. Das Altertum verdient Bewunderung für die Beobachtungsschärfe, mit der es neun Elemente auffand. Die Alchimisten haben diese Zahl um sechs vermehrt und vor 150 Jahren waren es 23 geworden. Dann erhöhen die nächsten 100 Jahre die Zahl auf 60 und fügen in der Elektrolyse und in der Spektralanalyse zwei Verfahren hinzu, die für die Reindarstellung und für die Erkennung wichtige neue Wege bedeuten. Aber das halbe Jahrhundert, von welchem wir handeln, löst eine Aufgabe anderer Art und anderen Ranges. Wohl führt es auch die Reihe der älteren Entdeckungen fort und sondert die Elemente von den anderen, deren Abtrennung die größten Schwierigkeiten bietet. Es legt mit einer verfeinerten Beobachtungskunst, einem vermehrten Können und einer Kraft, die der besten Vergangenheit gleichkommt, die seltenen Erden auseinander, die in ihrem Verhalten fast übereinstimmen, bringt unter den Händen Ramsays (1895—1899) aus der L u f t die fünf Edelgase zum Vorschein, die keine chemischen Verwandtschaften zeigen, und erschließt am Ende des Jahrhunderts unter den Händen der Curies den Zugang zu der radioaktiven Gruppe, deren Angehörige freiwillig in andere Elemente zerfallen. Aber darüber hinaus reicht der Erfolg in der Erkenntnis des Aufbaus der Elementaratome, die noch durch das ganze vorige Jahrhundert die letzten nicht weiter zerlegbaren Bausteine der Welt waren. Es gab nichts Unverständlicheres in der Chemie als die Zusammensetzung der Welt aus 70 verschiedenen Atomsorten, die letzte unteilbare Einheiten der Materie darstellten. Rutherford überwindet diese Grenze und erkennt in den Atomen Planetensysteme. Ihr Mittelpunkt ist ein positiver Kern, dessen Ladung der Zahl der Elektronen gleich ist, die ihn in einer Wolke umspielen. Niels Bohr gelangt zu dem Gesetz, nach welchem die Elektronen sich um die Kerne der Elemente ordnen, die zu einer lückenlosen Treppe von 92 Stufen vom Wasserstoff zum Uran werden, deren jedes die Kernladung des vorangehenden Elementes um eine positive Einheit übertrifft. Die chemischen Eigenschaften der Elemente werden durch diesen Treppenaufbau ungleich besser als früher verständlich ; das Atomgewicht aber, das früher die theoretische Grundgröße war, wird zu einer praktischen Konstante, weil auf vielen Stufen dieser Treppe Shoddy, Fajans und Aston mehrere im Atomgewicht verschiedene, aber im chemischen Verhalten identische Elemente, sogenannte Isotope, nebeneinander nachweisen. Es wird glaubhaft, daß die positiven Kerne sich ihrerseits aus den einfachsten positiven Gebilden, den Wasserstoffatomkernen oder Protonen, und aus Elektronen zusammensetzen, so daß die Gesamtheit der Welt auf je eine Sorte positive und negative Ladungen zurückgeht und ihre mannigfaltige Art sich nur von den Unterschieden ihrer gesetzmäßigen Anordnung herleitet. Damit kehrt die Wissenschaft nach mehr als 100 Jahren zu einer Ahnung zurück, die 1815 der englische

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Arzt Prout ausgesprochen hatte, und gewinnt auf gesicherter Grundlage die Einheitlichkeit des chemischen Weltbildes. Ja noch mehr. Zu dem freiwilligen Zerfall, den die radioaktiven Elemente uns kennen gelehrt haben, tritt durch Rutherford der erzwungene. Die Unzerstörbarkeit, die seit dem Altertume den Begriff des Elementes kennzeichnete, verliert ihre Geltung, und eine Reihe leichterer Elemente werden in kleinere Bestandteile gespalten. Das wichtigste Hilfsmittel, mit dessen Hilfe die neuen Einsichten möglich werden, ist die Optik, der Röntgen 1895 das Bereich der kürzesten Wellen hinzufügt. Mit ihrer Hilfe macht v. Laue 1912 den Aufbau der Atome sichtbar, und Niels Bohr erschließt auf dem Boden der Planckschen Quantentheorie den Zugang zum Verständnis des ganzen Spektralbereiches von diesen kürzesten Wellen bis in das sichtbare Gebiet, in das uns Bunsen und Kirchhoff eingeführt haben. Die Chemie aber, in der nichts selbstverständlicher war, als daß sie durch Beobachtung die letzten Eigenschaften der sinnfällig gegebenen Materie feststellte, wird in ihren Grundlagen metaphysisch. Wie ehemals der Äther, ehe Physik und Chemie ineinander flössen, etwas Unbekanntes war, erfunden, um für das Licht einen Nominativ zu dem Verbum schwingen zu haben, so werden jetzt die Vorstellungen und Gleichungen der Wellenlehre zur eigentlichen Realität, und was wir sehen, fühlen, riechen und schmecken, erscheint als der Ausfluß schwer verständlicher Zusammenhänge, in die einzudringen vielleicht ein neues halbes Jahrhundert in Anspruch nehmen wird. Es ist eine seltsame Geschichte der Chemie in den letzten 50 Jahren, die wir hier hingeschrieben haben. Es fehlt im technischen die Entwicklung der Kunstseide, die seit der Entdeckung des Grafen Hilaire de Chardonnet 1884 fast durch das ganze halbe Jahrhundert um ihren Platz neben den Naturfasern kämpft. Es fehlt das Gasglühlicht, durch das Auer v. Welsbach 1886 eine Revolution in das Beleuchtungswesen hineingetragen hat. Der elektrische Ofen ist beiseite geblieben, der seit 1894 die Chemie der höchsten Temperaturen industriell zugänglich gemacht hat, und es fehlt auch die Flotation, die Elmore 1898 eingeführt hat und die in der Aufbereitung der gemischten Stoffe eine fundamentale Stelle gewonnen hat. Sabatiers Katalysen, die in der Wissenschaft und der Technik eine gleich überragende Stelle erlangt haben, sind übergangen, und der Stickstoff ist kaum berührt, den Bosch zu einer Weltindustrie gemacht hat. In der biochemischen Wissenschaft ist die größte Lebensarbeit Willstätters kaum gestreift, die uns das Chlorophyll und die Blütenfarbstoffe und später die Auseinanderlegung der Enzyme geschenkt hat. Nichts ist über die Jahrzehnte erfolgreicher Arbeit ausgeführt, mit der Hans Fischer zu der Synthese des Blutfarbstoffes gelangte, nichts über die Sterine, die Windaus und Wieland aufgeklärt haben bis sie unter Windaus' Händen den chemischen Zugang zu dem wunderbaren Gebiete der Vitamine eröffneten. Die Gärungschemie von Buchners Entdeckung der zellfreien Gärung 1897 bis zu Neubergs aufklärenden Untersuchungen ist beiseite geblieben. In der reinen organischen Chemie fehlen die Radikale Gombergs von 1900 und Grignards Synthesen organischer Magnesiumverbindungen von 1901. Die Stickstoff-Wasserstoffsäure von Curtius (1890) ist ebenso übergangen wie aus der neuesten Zeit Ruzickas vielgliedrige Kohlenstoffringe. Von der Kolloidchemie und dem Ultramikroskop Zsigmondys (1903)

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schweigt die Darstellung; auf dem rein anorganischen Gebiete ist nichts über eine Leistung vom Range der Reindarstellung des Fluors durch Moissan 1886 gesagt. Und doch ist diese Aufzählung des Übergangnen nur eine Folge von Beispielen, denen andere gleichbedeutsame Leistungen sich im Gedächtnis des Fachmanns von selber zur Seite stellen. Glücklich der Geschichtsschreiber, dem sein Gegenstand erlaubt, in der Sprache der gebildeten Menschen den Erfolg eines Faches in einem halben Jahrhundert zu schildern. Glücklich das Fach, das mit der allgemeinen Bildung soweit verwachsen ist, daß ein halbes Dutzend Sätze dem Leser genügen, um ihn die Bedeutung verstehen zu lassen, die eine bedeutende Leistung gehabt hat. Die Chemie muß sich begnügen, die Grenzen ihrer Welt abzustecken und auf das hinzuweisen, was alles dazwischen liegt und was sie ausfüllt. Jede große Nation hat ihren Reichtum, von dem sie lebt. Das eine der großen Völker besitzt ihn in der fruchtbaren Fläche, das andere über See oder unter der Erde. Wir sind mit diesen natürlichen Reichtümern unter den führenden Nationen am schlechtesten versorgt und darum vor anderen auf den geistigen Besitz gestellt, den wir in wirtschaftliche Münze ausprägen. Wir übertreffen die anderen führenden Völker nicht an Begabung, an Scharfsinn und an Fleiß. Uns ist gegeben, mehr Pflege auf die Entwicklung der Wissenschaft zu wenden, die wir als Grundlage unseres wirtschaftlichen Lebens benötigen. Wir haben in den letzten 50 Jahren einen Vorsprung in der Chemie gewonnen, in die wir später als die Engländer und Franzosen eingetreten sind. Ob wir ihn halten, wird davon abhängen, ob Reich und Volk in der Pflege der Wissenschaft unsere besondere Notwendigkeit sehen und ihr die Opfer bringen, die Völker mit größeren natürlichen Reichtümern in schweren Zeiten zurückstellen können.

HANS STILLE GEOLOGIE Die deutsche Geologie hat in den letzten fünf Jahrzehnten im Zeichen der Anhäufung eines ganz gewaltigen Beobachtungsmaterials gestanden. Es betraf zu einem guten Teil die einzelnen Formationen, wobei die Schichtgliederung im Interesse vertiefter stratigraphischer und biologischer, gesteinsgenetischer und geodynamischer Fragestellungen im einzelnen immer weiter getrieben wurde und immer kleinere zeitliche Unterstufen zu erfassen versuchte. Es betraf weiter den Fossilinhalt der Formationen, der immer mehr in scharfer Trennung nach den stratigraphischen Unterstufen seine Untersuchung und Darstellung erfuhr. Aber vor allem häufte sich gewaltig die Kenntnis der speziellen geologischen Verhältnisse der Einzelgebiete, und nichts hat gerade diese mehr gefördert, als die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzende Tätigkeit der staatlichen geologischen L a n d e s a n s t a l t e n , die ihre hauptsächliche Bestimmung in der Aufnahme geologischer Spezialkarten (besonders im Maßstab i : 25 000) finden. Diese Aufnahme liegt in Sachsen, wo sie von Hermann Credner begründet worden ist und bis 1912 unter dessen Leitung gestanden hat, schon seit etwa 20 Jahren ziemlich abgeschlossen vor, und die Preußische Geologische Landesanstalt hat unter der wissenschaftlichen Leitung zunächst von E. Beyrich, dann von F. Beyschlag und zuletzt von P. Krusch die Kartenaufnahme im überwiegenden Teile des Staates und in den an die preußische geologische Landesaufnahme angeschlossenen kleineren Nachbarstaaten (Thüringen, Anhalt, Braunschweig usw.) fertiggestellt. Weitere geologische Landesuntersuchungen bestehen in Bayern, Württemberg, Baden und Hessen. Man bedenke, welch ungeheure Fülle von Tatsachen in den Kartenblättern der Landesanstalten und den dazugehörigen »Erläuterungen« niedergelegt ist und welches Maß von Beobachtungen überhaupt von den etwa 100 Geologen der deutschen Landesanstalten alljährlich während der Sommermonate zusammengetragen und dann wissenschaftlich verarbeitet wird. Neben den mit großen Mitteln arbeitenden Landesanstalten dürfen manche akademischen Institute für sich ein Verdienst gerade auch in der Aufklärung regionaler geologischer Verhältnisse in Anspruch nehmen. Es sei z. B. hervorgehoben, daß sozusagen die ganze Erforschung der bayrischen Alpen in den letzten Jahrzehnten ihren Mittelpunkt im Münchener Universitätsinstitut gehabt hat. So hat das letzte Halbjährhundert Deutschland zu einem der geologisch weitgehendst erforschten Länder der Welt, ja wohl überhaupt zu dem besterforschten gemacht. Natürlich hat die deutsche Forschung an den Grenzen Deutschlands nicht Halt gemacht, sondern auch in den letzten fünf Jahrzehnten im internationalen Wettbewerb sich so ziemlich in aller Welt betätigt. Es sei in diesem Sinne hervorgehoben, daß in den siebziger und achtziger Jahren das große Werk Ferdinand von Richthofens über China erschienen ist und daß ein Deutscher die Basis für die geologische Kenntnis Japans gelegt hat. Deutsche Expeditionen haben die Erforschung der zentralasiatischen Gebirge vielfach zum Ziel gehabt; deutsche Geologen haben an der Untersuchung Südosteuropas, Kleinasiens, Syriens und

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Ägyptens hervorragenden Anteil genommen; von niemand ist die Geologie Südamerikas stärker gefördert worden als von Gustav Steinmann und seinen Schülern. Und wenn nach Krieg und Inflation die deutschen Geologen sich auch in den letzten Jahren wieder in allen Erdteilen betätigen konnten, so ist das nicht zum wenigsten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft zu danken. Es lag nahe, daß der deutsche Geologe in unseren Kolonien arbeitete, solange wir sie besaßen, und in den von der Preußischen Geologischen Landesanstalt herausgegebenen »Beiträgen zur geologischen Erforschung der deutschen Schutzgebiete« ist eine große Zahl wertvoller Untersuchungen niedergelegt worden. Die letzten Hefte sind erst nach dem Kriege erschienen, und posthum hat auch das umfassendste und tiefgründigste Werk deutscher Kolonialgeologie, E. Kaisers »Diamantenwüste Südwestafrikas«, das Licht der Welt erblickt, ausgestattet mit geologischen Kartenaufnahmen, wie kein anderes Kolonialgebiet sie aufzuweisen vermag. In Deutsch-Ostafrika richteten sich Expeditionen, z. T. unterstützt von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, auf die Ausbeutung der im Anfang des Jahrhunderts am Tendaguru entdeckten reichen Fundstätten riesiger Saurier. Die internationale Anerkennung für die deutsche Geologie, aber daneben auch für die deutsche Technik der Kartenherstellung kam darin zum Ausdruck, daß auf Beschluß der internationalen Geologenkongresse die Herausgabe der großen Internationalen Geologischen Karte von Europa im Maßstab i : i % Millionen in deutsche Hände gelegt wurde. Unter der tatkräftigen Leitung Beyschlags kam sie noch vor dem Kriege zum Abschluß. Und nach dem Kriege wurden von einem internationalen Kongreß wieder Deutsche in Bestätigung älterer Pläne zum Vorsitzenden und Generalsekretär eines zweiten großen Kartenunternehmens, der Internationalen Geologischen Karte der Welt im Maßstab 1 : 5 000 000, erwählt. Trotz aller wissenschaftlichen Betätigungen, die über den Rahmen des eigenen Landes hinausgehen, liegt es nahe, daß man den Untergrund Deutschlands, dem ja begreiflicherweise die Hauptforschung gegolten hat, in den Vordergrund treten läßt, wenn von den Ergebnissen der deutschen Geologie während der letzten fünf Jahrzehnte die Rede sein soll. Der verfügbare Raum verlangt die Beschränkung auf solche Zweige des geologischen Wissens, die wohl am stärksten im Mittelpunkt der Arbeit gestanden haben. Deutschland besteht ja etwa zur Hälfte aus einem Tief lande und einem Berglande. Im T i e f l a n d e ist der feste Gesteinsuntergrund weitgehend verhüllt durch die mehr lockeren Quartärablagerungen, besonders durch Diluvium, und aus dessen weiter Verbreitung ist also zu verstehen, daß es in der deutschen geologischen Forschung einen großen Raum eingenommen hat und auch fernerhin noch einnehmen wird. Bis hinein in die siebziger Jahre hatte die deutsche Diluvialforschung stagniert unter der Herrschaft der in den vierziger Jahren von britischen Geologen aufgestellten Drifttheorie, die als Vehikel für das überall in Norddeutschland nachweisbare »erratische« Gesteinsmaterial, dessen Herkunft aus Skandinavien und Finnland schon lange feststand, schwimmende Eisberge angenommen hatte. Zwar war Agassiz, ausgehend von den Schweizer Alpen, schon Ende der dreißiger Jahre zu seiner Eiszeittheorie gekommen, die ungeheure Eisfelder und den Transport der erratischen Blöcke durch diese annahm, und mit ihr hatte man sich außer

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in der Schweiz, in Großbritannien und Skandinavien wie auch in Nordamerika befreundet. Aber in Deutschland hatte man sich ablehnend verhalten, der Autorität Leopold von Buchs auch nach dessen 1852 erfolgten Tode sich immer noch beugend, und so war Deutschland bis 1875 das letzte Bollwerk der hier fast unbeschränkt herrschenden Drifttheorie. Die große neue Zeit der deutschen Diluvialforschung können wir beginnen lassen mit dem Vortrage, in dem der Schwede Torrel in der Versammlung der Deutschen Geologischen Gesellschaft am 3. November 1875 die Inlandeistheorie auch für die Verhältnisse Norddeutschlands entwickelte. Seitdem ist durch die Aufnahmearbeiten der Preußischen Geologischen Landesanstalt, aus deren älterer Generation von Glazialforschern nur G. Behrendt, F. Wahnschaffe, K. Keilhack und A. Jentzsch genannt sein mögen, ein ungeheures Beobachtungsmaterial erstanden, das zusammenfassende Bearbeitungen in älterer Zeit namentlich durch Wahnschaffe und Keilhack erfahren hat. Auch die zusammenfassende Untersuchung und Darstellung des Eiszeitalters der Alpen ist von deutscher Seite geleistet worden, von A. Penck gemeinsam mit dem Wiener R. Brückner. Die diluviale Glazialforschung Deutschlands wies hinaus auf die heute noch von Inlandeis bedeckten Gebiete, und so erfolgten Untersuchungen in den Eisfeldern Islands (K. Keilhack), Grönlands (E. Drygalski und Wegener), Spitzbergens, der Antarktis (Deutsche Südpolarexpedition der Jahre 1901—03 unter von Drygalskis Leitung) usw. Aufgabe der über die Untersuchung des Einzelobjektes hinausgehenden geologischen Forschung war es, in das ungeheuer anwachsende Tatsachenmaterial über den Aufbau des festen Felsgerüstes des Bodens eine geistige Ordnung zu bringen. In dieser Hinsicht steht ein Drittes an der Schwelle der letzten fünf Jahrzehnte, das neben der Einleitung der geologischen Landesaufnahmen und neben dem Eindringen der Inlandeistheorie in die deutsche Diluvialforschung für die Entwicklung der deutschen Geologie von entscheidender Bedeutung geworden ist, nämlich die gewaltige Erkenntnis, die der Wiener Geologe Eduard Sueß als der eigentliche Begründer eines neuen, hochbedeutsamen wissenschaftlichen Zweiges, der »vergleichenden« Geologie, zunächst in einem äußerlich anspruchslosen Büchlein, betitelt »Die Entstehung der Alpen«, und danach in dem Monumentalwerk »Das Antlitz der Erde« niedergelegt hat. Ein Älteres und ein Jüngeres sind im geologischen Bau Deutschlands zu unterscheiden, ein Älteres, das in der paläozoischen Zeit gefaltete »Grundgebirge«, und ein Jüngeres, das weit einfacher gebaute und vielfach auch heute noch flach liegende »Deckgebirge«. Im G r u n d g e b i r g e steckt das »Urgebirge« von kristalliner Beschaffenheit, und die letzten Jahrzehnte haben nach älteren Ansätzen zu solchen Auffassungen auch in Deutschland der Vorstellung zur allgemeineren Anerkennung verholfen, daß die kristallinen Schiefer (Gneis, Glimmerschiefer, Phyllite etc.) keine primären Gebilde, sondern Umprägungsformen verschiedenartigster Ausgangsmaterialien seien. Vor etwa 50 Jahren begründete Lossen, ausgehend von Untersuchungen im Taunus und Harz, seine Theorie des Dislokationsmetamorphismus, d. h. der Entstehung der kristallinen Schiefer durch den gebirgsbildenden (seitlichen) Druck, 23 Keuichrift Schmidt-Ott

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und im gleichen Sinne lehrten dann Joh. Lehmann und besonders H. Rosenbusch, der in seinen »Elementen der Gesteinslehre« die kristallinen Schiefer als »unter wesentlicher Mitwirkung geodynamischer Phänomene zu geologischer Umgestaltung gelangte Eruptivgesteine und Sedimente« definierte. Neben die Dislokationsmetamorphose und die schon lange für die Entstehung kristalliner Schiefer verantwortlich gemachte Kontaktmetamorphose stellen sich die statische Metamorphose infolge Belastung durch überlagernde Gesteinsmassen und die Injektionsmetamorphose, die Erzeugung kristalliner Schiefer unter Durchdringung der Schichtgesteine mit dem Glutfluß. Was z. B. das Erzgebirge anlangt, d. h. das klassische Gneisgebiet nicht nur für die deutsche Geologie, sondern von den Zeiten G. A. Werners her für die ganze Welt, so haben seine Gesteine nach der jetzt vorherrschenden Meinung ihren Charakter als kristalline Schiefer erst recht spät, nämlich erst in karbonischer Zeit, aufgeprägt bekommen. Für andere deutsche »Urgebirgsmassen«, wie für die Gneise des Schwarzwaldes, die A. Sauer in solche von eruptiver und solche von sedimentärer Herkunft einteilte, oder wie für diejenigen des nördlichen Thüringer Waldes und Kyffhäusers, wird heute noch an einem archäischen oder wenigstens vorkambrischen Alter festgehalten. Gewiß hatte man auch schon früher die tektonischen Lagerungsverhältnisse in vielen Teilen des deutschen Grundgebirges mit Erfolg untersucht. Aber eine großzügige Zusammenfassung der Gesamtheit der alten Falten zu einem Gebirgssystem, das Mitteleuropa in ähnlicher Weise durchzog, wie heute das Alpensystem das südlichere Europa, ist doch erst durch den großen Fortschritt in den Einzelforschungen ermöglicht worden. E. Sueß sprach in diesem Sinne von einem »variscischen« Gebirge. Auch die zeitliche Gliederung der dynamischen Vorgänge nach deren einzelnen Phasen hat Ergebnisse über die fortschreitende Ausgestaltung des variscischen Gebirges gebracht, die nicht nur für dieses, sondern allgemeinere Bedeutung haben, so auch in Richtung der Beziehungen zwischen den dynamischen Vorgängen und den sie unterbrechenden Sedimentationen. Erst jung ist die Erkenntnis, daß weite horizontale Massenverfrachtungen, wie sie in den jungen Hochgebirgen etwa seit Anfang dieses Jahrhunderts zunehmend festgestellt worden sind, auch im variscischen Gebirge auftreten, und es wird sogar schon der Versuch gemacht, das ganze Variscikum nach Art der Alpen in ein System übereinander geschobener Decken zu gliedern. Neben solchen extensiven Arbeitsrichtungen steht die mikrotektonische Forschungsmethode, die auf engstem Räume, ja im einzelnen Aufschluß die Spuren verfolgt, die die Erdkräfte im Gestein hinterlassen haben. Sie geht aus von der Überlegung, daß die Vorgänge, die den Großbau geschaffen haben, sich auch unter den kleinsten Verhältnissen nach Art und Richtung abbilden müssen, ja vielleicht unter ihnen sich weit klarer ergeben. Diese tektonische Arbeitsmethode wird sich um so fruchtbringender entwickeln, je mehr sie auch das allerfeinste Gefüge des Gesteinsstückes nach dem Vorbilde, das in den Alpen von österreichischen Petrographen gegeben worden ist, in den Kreis der Betrachtung zieht. Es wird sich zeigen müssen, ob die Synthesen, zu denen man auf Grund des Großbildes der Gesteinslagerungen gekommen ist, vor dem Richterstuhl der feinanalytischen Methoden ihren Bestand behalten.

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Die Kenntnis der magmatischen Begleit- und Folgeerscheinungen der variscischen Vorgänge hat eine außerordentliche Vertiefung erfahren, und zwar sowohl was die geologische Seite, d. h. die Platznahme der vulkanischen Massen und ihre Umformungen im Wechsel der zähflüssigen und festen Phase, wie auch was die petrographisch-chemische Seite des Problems und hierbei auch die magmatischen Lagerstätten angeht. Im Zusammenhange mit letzterem mag gesagt sein, daß überhaupt die chemische Geologie sich in enger Fühlung mit den physikalisch-chemischen Wissenschaften zu einem höchst bedeutungsvollen Wissenszweige entwickelt hat. Wie die Alpen nur ein Teil des großen eurasiatischen Gebirgssystems der Alpiden sind, so ist auch das deutsche variscische Gebirge nur ein Teil der alten Varisciden, und an der Aufklärung des Gesamtsystems auch außerhalb Deutschlands und Mitteleuropas sucht die deutsche Geologie Anteil zu nehmen. Daß auch das deutsche D e c k g e b i r g e eine Faltung aufweist, war den Geologen vor 50 Jahren längst bekannt, und alte, auch heute noch übliche Bezeichnungen, wie Hils, »Mulde«, drücken dieses aus. Vereinzelt waren auch schon Verwerfungen festgestellt worden, besonders durch den Bergbau. Aber daß die Verwerfung eine ungemein verbreitete Erscheinung im deutschen Deckgebirge ist, hat sich doch, zum Teil gegen die Auffassung damals führender Männer, wie E. Beyrich, erst etwa in den achtziger Jahren durchgesetzt, und hier haben die geologischen Spezialaufnahmen, besonders wohl diejenigen von Koenens, zuerst in Niederhessen, dann in Südhannover und diejenigen Moestas in Niederhessen, ganz wesentliche Fortschritte gebracht. Es kam die Zeit, die ihren Niederschlag im »Antlitz der Erde« gefunden hat, in der sogar das ganze Wesen der jungen deutschen Gebirgsbildung in der Zerstückelung des Bodens zu einem »Schollengebirge« gesucht wurde. Und endlich folgte in der Vorstellung einer »Bruchfaltung« der mittlere Weg des Bejahens der Faltungen und zugleich des Schollengebirges. Parallel ging die Frage nach der Ursache solcher Gebirgsbildungen. Solange man nur von »Faltung« sprach, dachte man an seitlichen Zusammenschub; aber die Erkenntnis eines Schollengebirges brachte die Vorstellung, daß vertikale, nach Sueß nur zentripetale Motive den Bau des Bodens bedingten, und die Bruchfaltung führte wieder weitgehend zur älteren Vorstellung des Seitenschubes zurück. Die letzten drei Jahrzehnte brachten auch die Erkenntnis, daß die deutsche jüngere oder, wie man seit 20 Jahren zu sagen pflegt, »saxonische« Gebirgsbildung sich nicht, wie bis Ende des vorigen Jahrhunderts als feststehend gegolten hatte, in einem einzigen Akte oder höchstens in zweien, die einander schnell gefolgt waren, in der Tertiärzeit ereignet hat, sondern in mehreren Phasen und dabei zu einem wesentlichen Teil schon im Mesozoikum. Damit war der Weg frei für eine fruchttragende Analyse der Bodenstrukturen nach ihren zeitlichen Entwicklungsabschnitten, so auch für die Unterscheidung zweier großer Gruppen tektonischer Vorgänge, der oro- und der epirogenetischen. Ein bemerkenswerter Teil gerade des deutschen Deckgebirges ist die mächtige Salzformation der Zechsteinzeit, die unsere Kalisalzschätze umschließt und schon deswegen ein gesteigertes Interesse gefunden hat.Nach der chemisch-mineralogischen Seite stehen im Vordergrunde die Forschungen van 't Hoffs und seiner Schüler, 23*

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nach der stratigraphischen diejenigen der Mitglieder der Preußischen Geologischen Landesanstalt. In tektonischer Hinsicht haben die merkwürdigen Formen, unter denen das Salz im Boden auftritt, die deutschen Geologen viel beschäftigt, und ihre Arbeitsergebnisse sind grundlegend geworden für die Deutung vergleichbarer Vorkommen, die man inzwischen auch in vielen anderen Ländern gefunden hat. Auch die Erforschung der saxonischen Gebirgsbildung macht sich in steigendem Maße die mikrotektonische Arbeitsmethode zunutze, und daß auf diesem Wege eine wesentliche Vertiefung der Auffassungen zu erzielen ist, zeigen allerneuste Arbeiten. Gerade in viel umstrittenen grundsätzlichen Fragen, z. B. derjenigen, wie weit neben dem seitlichen Zusammenschub auch ein seitliches Auseinanderrücken von Erdschollen auftritt und wie wir solche »Zerrungen« im Gesamtbilde der saxonischen Orogenesen zu erklären haben, wird die kleintektonische Methode sich gewiß weiter bewähren. Die Auffassung des Vulkanismus oder wenigstens des Tiefenvulkanismus (Plutonismus) als einer Tektonik der höchstmobilen Massen bedeutet nur die Fortentwicklung der Sueßschen Erkenntnis der passiven Rolle des Glutflusses im Rahmen der dynamischen Vorgänge der Erdkruste. Als aktiv aufgefaßt wird der Vulkanismus heute im allgemeinen nur noch in den explosiven Vorgängen, die sich in geringen Erdtiefen bei der gewaltsamen Entbindung gelöster Gase infolge eingetretener Druckentlastung vollziehen. Der deutsche Vulkanologe Stübel hatte zwar um die Jahrhundertwende den gesamten Magmenaufstieg endomagmatisch erklären wollen, nämlich unter der Annahme einer zeitweiligen Volumvermehrung des sich abkühlenden Magmas, vergleichbar der Volumvermehrung des sich abkühlenden Wassers unterhalb + 40, und der Stübelschen Auffassung hatte sich weitgehend W. Branca angeschlossen. Ausgehend von den Vulkan»embryonen« Schwabens stellte Branca die Frage der Abhängigkeit der vulkanischen Austritte von vorhandenen Erdspalten in den Vordergrund, und in der Verneinung dieser Frage fand er zwar in Einzelfällen Gefolgsleute, überwiegend jedoch Ablehnung. Die allgemeinere Auffassung ist heute die, daß das Magma in der explosiven Phase zwar in der Lage ist, sich den letzten Weg zur Tagesoberfläche auch einmal selbst zu schlagen, daß es aber ganz überwiegend die durch Erdspalten vorgezeichneten Bahnen benutzt. Das Nördlinger Ries stand in den letzten Jahrzehnten und bis in die allerjüngste Zeit hinein immer wieder im Mittelpunkte der vulkanologischen Erörterungen. Auch außerhalb Deutschlands, wie in den südamerikanischen Anden, in Mittelamerika, auf den mittelatlantischen Inseln und in den mediterranen Gebieten, nahmen deutsche Forscher im letzten Halbjahrhundert regsten Anteil an den vulkanischen Untersuchungen. Wesentliche Unterstützung ist der geologischen Forschung in g e o p h y s i kalischen A r b e i t s m e t h o d e n erwachsen, namentlich in den Beobachtungen über Erdschwere und Erdbeben, neuerdings auch aus der Verfolgung des Verlaufs der durch künstliche Erdbeben (Sprengungen) hervorgerufenen Erdwellen. Letztere Methode ist ganz von Deutschland ausgegangen und hier weiter entwickelt worden und wird neben anderen geophysikalischen Arbeitsmethoden immer wertvoller für die Aufklärung von Gesteinslagerungen für wirtschaftliche Zwecke. Auch in der

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theoretischen Auswertung der natürlichen Erdbeben für den Bau des Erdinnern steht Deutschland mit den Arbeiten E. Wiecherts und anderer voran. An die Untersuchung über die Erdschwere, vor allem an die hierbei sich ergebenden Schwereanomalien, knüpfen letzten Endes auch die Fragen nach den Ursachen alles tektonischen Geschehens an. Hier ergibt sich u. a. das Problem, inwieweit die tektonischen Bewegungen durch das Bestreben der Erdkruste nach isostatischer Einstellung zu erklären sind oder inwieweit dieses Bestreben doch wenigstens als Nebenmotiv in das tektonische Geschehen eingreift. Untersuchungen von deutscher Seite, die die Kenntnis der Schwereanomalien bedeutsam förderten, waren z. B. die Heckerschen über die Schwereverhältnisse der ozeanischen Räume (1901—1909) und die Kohlschütterschen über die Schwere in den ostafrikanischen Grabengebieten (1898—1900). Höchst wertvolles Material für geodynamische Fragestellungen haben durch Aufklärung der submarinen Reliefverhältnisse die deutschen T i e f s e e - E x p e ditionen ergeben, unter denen die jüngste, die Meteor-Expedition der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft 1925—1927, besonders genannt sein mag. Der Mensch ist in seinen Lebensbedürfnissen aufs engste mit der Erdkruste, die ihn trägt, verbunden. Der Erdboden, der ihm sein Brot liefert, ist umgewandeltes Gestein, der Untergrund spendet ihm das Wasser, dessen er bedarf. Er enthält für den Menschen nötige Schätze, wie Kohle, Erdöl, Salz und Metall. Der Mensch schneidet die Erdkruste aber nicht nur bei Aufsuchen und Gewinnung dieser Schätze an, sondern auch schon bei Führung seiner Straßen und Bahnen, in seinen Tunneln und Kanälen. So steht er dauernd vor Fragen, auf die ihm die Geologie Antwort geben muß, und so hat die angewandte G e o l o g i e als Bodenkunde, Grundwasserkunde, Lagerstättenkunde, Ingenieurgeologie usw. einen ganz weiten Raum in der geologischen Wissenschaft gewonnen. Jeder dieser Zweige ist ein Wissensgebiet für sich geworden und bei hoher Wissenschaftlichkeit der Arbeitsmethoden in Deutschland zu großer Blüte gekommen.

GOTTLOB LINCK MINERALOGIE Wie für die Geologie so sind auch für die Mineralogie die letzten fünf Jahrzehnte von großer Bedeutung gewesen. Erst in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind die ersten öffentlichen Mineralogischen Institute gegründet worden, und gerade das Straßburger Institut, welches von Paul von Groth eingerichtet wurde, war vielleicht das allererste. Damit waren auch die Tore geöffnet für die Ausführung vieler mineralogischer Arbeiten. Die Mineralogie teilt sich eigentlich in drei Gebiete, welche mehr oder minder stark ineinander übergreifen: die Kristallographie, die Mineralogie und die Petrographie. Für die K r i s t a l l o g r a p h i e war eben um diese Zeit endgültig der lange vorher gefolgerte mathematische Satz von der Möglichkeit von nur 32 Symmetrieklassen allgemein angenommen worden, und Groths Kristallographie wurde zur Grundlage für alle morphologischen Forschungen über die Kristalle, auch zur Grundlage für die Kristallphysik, insbesondere der Kristalloptik, welche später durch Theodor Liebisch und F. Pockels ihren Ausbau erfuhren. Groth hat auch auf einem anderen Gebiet, welches hundertjährige Wurzeln hatte, neue Triebe gebracht, indem er sich jetzt dem Ausbau der chemischen Kristallographie zuwandte, die sich mit den Beziehungen zwischen Gestalt, Volumen und chemischer Zusammensetzung befaßt. Das von vielen Mitarbeitern zusammengetragene Material ist in Groths großen Werken niedergelegt. Schon seit Jahrhunderten, insonderheit aber seit R. J. Hauy, beschäftigte man sich mit dem F e i n b a u der K r i s t a l l e , und auf der Grundlage von Hauys theoretischen Anschauungen, nach welchem die Kristalle aus Molekülen in regelmäßiger Anordnung aufgebaut sein sollten, haben Physiker und Mathematiker versucht, eine Theorie der Punktsysteme und Raumgitter aufzustellen, welche für den Bau der Kristalle maßgebend sein sollten. Durch die glückliche Entdeckung M. v. Laues, der Beugung der Röntgenstrahlen durch Kristalle, wurden die Diskontinuität der Materie und die Theorie vom Gitterbau der Kristalle zur Tatsache. Als nun noch die Untersuchungen von Bragg, Debye und Scherrer dazu kamen, nach welchen man die Struktur der Kristalle auch aus ihrem Pulver erkennen konnte, nahmen die Strukturuntersuchungen bis auf den heutigen Tag ein ungeahntes Ausmaß an und wurden von der größten Wichtigkeit. Sie versprechen auch für die Zukunft noch viel in Hinsicht auf die Molekularstruktur der festen Körper und auf die Struktur und Textur der Gesteine. Gerade hier hat die N o t g e m e i n s c h a f t durch die Beschaffung zahlreicher Apparate und durch die Unterstützung jüngerer Gelehrten tatkräftig eingegriffen. In diese fünf Jahrzehnte fällt auch die Entdeckung der sogenannten f l ü s s i g e n K r i s t a l l e durch Reinitzer und deren vielfache Untersuchung durch andere Gelehrte, die aber bis jetzt noch nicht zu einer endgültigen Aufklärung geführt haben. Weiterhin hat diese Zeit auch die Kenntnis vom Wachstum und von der Auflösung der Kristalle wesentlich gefördert und uns die Züchtung von Einkristallen gelehrt. Auch unsere Kenntnis von den physikalischen Eigenschaften, insbesondere

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ihre plastische Umformung durch einseitigen Druck, hat Fortschritte gemacht und ist für andere Wissensgebiete von Bedeutung geworden. In der M i n e r a l o g i e hat in diesen Dezennien das hundert Jahre zuvor im wesentlichen durch Berzelius eingeführte chemische Mineralsystem, welches damals das naturhistorische ablöste, in G. Tschermak und P. v. Groth seinen Höhepunkt erreicht, ohne das Ziel, die Erkenntnis der chemischen Struktur der Mineralien, auch nur einigermaßen einwandfrei zu gewinnen. So kommt es, daß die nachher zu erwähnende Entwicklung der Petrographie und die Lehre von der Entstehung und Beschaffenheit der Erzlagerstätten neuerdings wieder in Erkenntnis der Paragenesis zur naturhistorischen Betrachtung zurückführten. Zahlreiche Versuche hinsichtlich der Synthese der Mineralien, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hauptsächlich von französischen Forschern angestellt wurden, haben in unserem Zeitraum wichtige Erkenntnisse gebracht und insbesondere zur künstlichen Herstellung von Schmucksteinen (Korund, Saphir, Rubin) geführt. Auf dem Gebiet der Genesis der Mineralien, ihrer Wandlung und Umwandlung hat die Anwendung der Methoden und der Kenntnisse der physikalischen Chemie insbesondere aber auch die Erforschung der amorphen Kolloide zahlreiche hochinteressante Fortschritte gebracht. Das Ultramikroskop von Siedentopf und Zsigmondy zuletzt in Verbindung mit der Spektroskopie hat uns über die Färbung der Mineralien und über ihre Verunreinigungen weitgehend aufgeklärt und verspricht in Zukunft noch recht reiche Ausbeute. Die Lehre von den E r z l a g e r s t ä t t e n , um welche sich seinerzeit A.W. Stelzner besonders verdient gemacht hatte, hat eine gewaltige Erweiterung erfahren, welche wesentlich durch die Anwendung der Metallographie auf die Erzmikroskopie durch Schneiderhöhn gefördert wurde. Die P e t r o g r a p h i e hatte etwa mit Beginn des von uns behandelten Zeitraums in bezug auf die mikroskopische Untersuchung der Gesteine durch F. Zirkel den höchsten Stand erreicht, als H. Rosenbusch, wesentlich angeregt durch K. A. Lossens Arbeiten über den Harz, die Meinung aussprach, daß für die Petrographie der Eruptiven nicht bloß die mineralische Zusammensetzung, sondern vor allen Dingen auch der chemische Bestand und das geologische Auftreten von fundamentaler Bedeutung sei, daß alle Eruptiven sozusagen aus einem gemeinsamen Stammagma durch Saigerung oder Differentiation entstanden seien, daß durch diese Vorgänge die Teilmagmen einem bald kieselsäurereicheren, bald daran ärmeren, bald alkali- und tonerdereicheren, bald daran ärmeren Magma, d. h. der Zusammensetzung eines Minerals oder des Eutektikums mehrerer Mineralien zustrebt. Diese Erkenntnisse waren von besonderer Fruchtbarkeit und bilden noch heute die Grundlagen der Petrographie der Eruptiven, wenn auch neuerdings noch andere Momente von Bedeutung geworden sind. Auch für die Ganggefolgschaften, die Blutsverwandtschaft (consanguinity), die an bestimmte geologische Vorgänge gebundenen Sippen F. Beckes und P. Nigglis liegen im Grunde schon darin. Für die moderne Anschauung in der Petrographie hat allerdings auch die experimentelle synthetische Untersuchung, die vor einem halben Jahrhundert von Fouquet und

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Michel-Levy begonnen und in den letzten Jahrzehnten besonders von dem C a r n e g i e - I n s t i t u t in W a s h i n g t o n mit großen Mitteln gepflegt und erweitert wurde, auch im Kaiser-Wilhelm-Institut für Silikatforschung durch W. Eitel vertieft wird, und die physikalisch-chemische Betrachtungsweise der Ein- und Mehrstoffsysteme ganz wesentlich zur Vertiefung und Erweiterung unserer Kenntnisse von den Vorgängen im Magma beigetragen. Aber diese Forschung dürfte schon heute oder bald ihren Höhepunkt erreicht haben, wenn nicht das eben beginnende Verständnis für das Auftreten weitgehender Einschmelzungen durch die das Magma verlassenden flüchtigen Bestandteile uns neue Einblicke in den Gang der Gesteins- und Mineralbildung erschließt. Auch in bezug auf die M e t a m o r p h o s e der G e s t e i n e ist H. Rosenbusch, wiederum gestützt auf Lossen, ein Bahnbrecher gewesen. Seine Arbeit über die Kontaktzone von Barr-Andlau ist klassisch und alle späteren Bearbeiter, auch wenn sie den pneumatolytischen Kontakt hinzugefügt haben, bauen schließlich auf den Arbeiten Rosenbuschs und seines Schülers Brögger auf, und ihre Arbeiten erreichen mit denen von V. M. Goldschmidt ihren höchsten Stand. Ein weiterer Gedanke von H. Rosenbusch, daß auch die kristallinen Schiefergesteine ihre Ausbildung den geologischen Vorgängen verdanken, welche eine Änderung des chemischen Gleichgewichts durch Änderung von Temperatur und Druck bewirken, war ebenso fruchtbar und hat seine Krönung in den einschlägigen Werken von F. Becke und M. Grubenmann erfahren. Wir wissen heute, daß bei allen Metamorphosen bald Temperaturänderungen, bald hydrostatischer Druck, bald Streß, bald mehrere dieser Umstände, bald die Zufuhr von gasförmigen oder magmatischen Materialien (Intrusionen) eine wesentliche Rolle spielen, und daraufhin wurde die Untersuchung der Gesteine in mineralogischer und chemischer Hinsicht auch in bezug auf Struktur und Textur außerordentlich gefördert. Hier setzt auch neuerdings Sander ein mit seinen Untersuchungen über die Gefügeregelung der Gesteine. Das Gebiet der Petrographie der S e d i m e n t e ist erst in den allerletzten Jahrzehnten in Angriff genommen worden. Man war bis dahin kaum über die allerdings vortrefflichen Beobachtungen C. F. Naumanns herausgekommen. Erst die Untersuchungen analytischer, synthetischer und naturhistorischer Art der neuesten Zeit, ferner die Untersuchungen über die Bildung rezenter Sedimente, wie sie von Erich Kaiser und seiner Schule und anderen gepflegt werden oder wie sie auch durch die von der Notgemeinschaft finanzierte Meteorexpedition geliefert wurden und werden, haben Geologie sowohl als auch Mineralogie auf neue Wege und zu neuen Erkenntnissen geführt. Die Verwitterung der Gesteine, ihre Umbildung durch Diagenese und Metasomatose sind weitgehend erforscht oder in der Erforschung begriffen. Daß diese Dinge auch für die Verwitterung der Bauwerke, für die Entstehung des Bodens, für das Auftreten gewisser Krankheiten bei Tieren und Menschen, für das Vorkommen und Gedeihen bestimmter Pflanzen von Wichtigkeit sind, haben eine ganze Reihe neuerer Arbeiten gezeigt und darüber werden uns kommende Arbeiten noch eingehender belehren. Über die Salzlager, über Kohlen und Bitumina ist ja schon in dem vorhergehenden Abschnitt der Geologie gesprochen worden.

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Ein letztes zur Petrographie und allgemeinen Geologie gehöriges Gebiet ist der chemische und mineralogische Bestand des E r d i n n e r e n und der Aufbau des Erdballs. Die Auffassungen darüber haben sich gerade in letzter Zeit auf Grund der Fortpflanzung der Erdbebenwellen und anderer geophysikalischer Kenntnisse wesentlich verschoben und die Verteilung der Elemente in der Erde, die eigentliche Geochemie überhaupt, fand in V. M. Goldschmidt ihren hauptsächlichsten Vertreter und Förderer. Diese Arbeiten haben uns sicher der Wahrheit einen erheblichen Schritt näher gebracht. Es bliebe uns hier noch ein Wort zu sagen über die Versuche, das A l t e r der E r d e zu bestimmen. Hat man früher den Versuch gemacht, aus dem Salzgehalt der Meere oder aus der Mächtigkeit der Sedimente das Alter seit dem Niederschlag des ersten Wassers auf der Erde zu berechnen; so hat Lord Kelvin versucht, aus der Abkühlungsdauer einer homogenen Kugel von der Größe der Erde die Zeit zu bestimmen, welche vergangen ist seit der Bildung der ersten festen Kruste auf der einst feurig flüssigen Erde. Neuerdings wollte man nun dieses Alter bestimmen mit Hilfe des aus den radioaktiven Substanzen der Erdrinde entstandenen Heliums oder Bleis und ist dabei zu Zahlen gekommen, die durch ihre enorme Größenordnung gänzlich von den ersten Berechnungen abweichen, indem sich für das Alter der Erde aus jenen höchstens hunderte Millionen von Jahren, aus den letzteren Bestimmungen aber Milliarden von Jahren ergeben. Möglich, daß wir da noch eine Revision zu erwarten haben, indem vielleicht Prämissen noch nicht bekannt sind, welche das Resultat wesentlich zu ändern vermögen.

ALBRECHT PENCK MARITIME UND GEOGRAPHISCHE EXPEDITIONEN Kein deutsches Schiff hat sich an den großen Entdeckungsfahrten zu Beginn der Neuzeit beteiligt, aber der erste große Forschungsreisende war ein Deutscher: Alexander von Humboldt wird in der Neuen und Alten Welt als solcher verehrt, und die deutschen maritimen Expeditionen, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einsetzen, tragen mehr oder weniger einen wissenschaftlichen Charakter. Die Expedition nach Ostasien, welche Preußen 1859—1862 entsandte, um dort seine Flagge zu zeigen und Handelsverträge zu schließen, war von einem Stabe von Forschern begleitet; rein wissenschaftlichen Charakter hatte die 1857 bis 1860 von der andern deutschen Großmacht veranstaltete österreichische NovaraExpedition. An beide Expeditionen knüpften sich große Forschungsreisen. Mit der preußischen Expedition kam Ferdinand Freiherr von Richthofen nach dem Fernen Osten; seine Forschungsreisen bedeuten für China dasselbe, wie die Humboldts für Amerika. Die Novara brachte den Schwaben Ferdinand von Hochstetter nach Neuseeland, dessen Geologie er entschleierte. Den Staaten folgte das Volk in der Entsendung von Expeditionen. Durch Petermann für die Polarforschung begeistert, rüstete der Bremer Verein für Nordpolforschung die zweite deutsche Nordpolexpedition aus, der es zwar nicht gelang, große Entdeckungen zu machen, die aber Grundlegendes in der Küstenaufnahme Ostgrönlands leistete. Die österreichisch-ungarische Polarexpedition unter Payer und Weyprecht entdeckte neues Land im Norden; die Archipelnatur von Kaiser-Franz-Josephsland wurde allerdings erst später erkannt. Kurz nach Begründung des Deutschen Reiches griff dessen Marine die Meeresforschung in den heimischen Gewässern auf und betraute 1874—1876 die Gazelle mit der Vornahme ozeanographischer Untersuchungen auf ihrer Fahrt um die Erde. In zielbewußter Weise ergänzten sich deren Beobachtungen mit denen des Challenger. Das Deutsche Reich rückte damit in die Reihe der seefahrenden Staaten ein, welche die Erforschung des Ozeans betrieben. Nur ein Wissenschaftler, der Schweizer Studer, hat die ganze Fahrt der Gazelle begleitet; die geleistete ozeanographische Arbeit ist ganz den Offizieren des Schiffes zu danken. In den folgenden Jahren haben auch andere Schiffe der kaiserlichen Marine Material für die Tiefseeforschung beigebracht. Aber zu einer zweiten großen Expedition kam es erst viel später. Mittlerweile war in wissenschaftlichen Kreisen das Verlangen nach der Ausdehnung der in den heimischen Gewässern emsig betriebenen Meeresforschung auf den Ozean lebendig geworden. Der Kieler Physiologe Hensen regte die Erforschung der Planktonmengen auf offener See an. Die preußische Akademie der Wissenschaften förderte den Plan durch Gewährung einer namhaften Unterstützung aus ihrer Humboldtstiftung; der Kaiser wandte ihm Interesse zu und helfend bekundete gleiches Interesse der preußische Staat. Fast vier Monate kreuzte 1889 der Handelsdampfer National im Atlantischen und erwies, daß das Plankton nicht so gleichmäßig verbreitet ist, wie Hensen gemutmaßt hatte. Dann regte auf dem Naturforschertage zu Braunschweig 1897 der Zoologe Carl Chun die deutsche

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Tiefsee-Expedition an, welche biologisch und ozeanographisch insbesondere den Ozean erforschen sollte, an dem der Challenger vorübergegangen war. Wieder wurde das Interesse des Kaisers für die Sache gewonnen. Das Reichsamt des Innern übernahm das Protektorat; einmütig bewilligte der Reichstag die Mittel; kräftig half das preußische Kultusministerium durch Althoff. Dankbar erwähnt das Vorwort des Expeditionswerkes auch die Bemühungen des damaligen Oberregierungsrates Schmidt, der bereits für die Planktonexpedition gewirkt hatte und der dann auch für die deutsche Südpolarexpedition unermüdlich tätig gewesen ist. Damals entwickelte sich bereits das fördernde Interesse des jetzigen Präsidenten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft für Expeditionen. Wieder wurde ein Handelsdampfer gechartert, die Valdivia der Hamburg-Amerika-Linie, die ihre Aufgabe unter der Leitung Chuns in neun Monaten bewältigte. Sie kam bis über 64° S hinaus und brachte eine unerwartete Fülle des Tierlebens aus den großen Tiefen heim. Den Teilnehmern des internationalen Geographenkongresses zu Berlin konnte die Gesellschaft für Erdkunde bereits im Herbste 1899 die vorläufigen Ergebnisse vorlegen. Auch eine dritte deutsche wissenschaftliche Expedition jener Zeit ist vorzugsweise als maritime zu betrachten, nämlich die vom Reiche ausgesandte deutsche Südpolarexpedition 1901—1903 E. v. Drygalskis. Sie verwirklichte den lange und oft geäußerten Wunsch Georg Neumayers nach deutscher Südpolarforschung in einem internationalen, von deutscher Seite gewünschten Rahmen. Das Ziel war Erforschung des Südpolargebietes südlich vom Atlantischen und Indischen Ozean. Hier war keine Sicherheit für eine Landungsmöglichkeit gegeben; von Anfang an war daher damit zu rechnen, daß sich die Arbeiten vornehmlich auf das Meer erstrecken würden. Das ist geschehen. Angesichts der antarktischen Küste fror der Gauß ein und verlor ein Jahr lang die Beweglichkeit einer Expedition, ohne die feste Basis für das Eindringen in den antarktischen Kontinent zu gewinnen. Wissenschaftliche Wünsche waren es, die die drei letztgenannten Expeditionen ins Leben riefen; alle drei wurden von Reichs wegen gefördert, die Kriegsmarine stand ihnen fern. Alle drei wurden von Männern der Wissenschaft geleitet und von Kapitänen der Handelsmarine geführt. Kapitän Ruser des Gauß stand lediglich das Recht zu, den Weisungen des Leiters dann nicht zu folgen, wenn er in ihnen eine Gefahr für Leben und Eigentum auf dem Schiff erblickte. Mißhelligkeiten sind aus einer solchen Überordnung des Leiters über den Schiffsführer in keinem Fall erwachsen; man kann sich nur fragen, ob der Ausgang der Südpolarexpedition ein anderer geworden wäre, wenn nahe der antarktischen Küste v. Drygalski nicht nach Westen gegangen wäre, wo er alsbald einfror, während Ruser dem offenen Wasser im Osten folgen wollte. Verschieden allerdings ist die Zielstellung. Eng das Programm der Planktonexpedition, weiter das der Tiefsee-Expedition, sehr umfangreich das der Südpolarexpedition, die nicht bloß ozeanographisch und biologisch, sondern auch erdmagnetisch und geodätisch sowie geologisch gearbeitet hat und auf allen Gebieten Vieles, auf erdmagnetischem Ausgezeichnetes geleistet hat. Ihre ursprünglich geographisch-ozeanographische Konzeption aber wird in ihrem bändereichen Reisewerke durch die umfängliche Behandlung der Biologie einigermaßen zurückgedrängt. Hier sind es die Ergebnisse der Aufsammlungen,

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welche in den Vordergrund rücken und den Abschluß des großen Werkes erheblich hinausgeschoben haben. Daß sie im Reisewerke der Tiefsee-Expedition die Hauptrolle spielen, liegt auf der Hand; noch sind sie nicht ganz aufgearbeitet, und das Werk ist noch nicht vollendet. Daß die Behandlung der ozeanographischen Fragen in den endgültigen Veröffentlichungen der Werke aller drei Expeditionen systematisch gestaltet und vielfach umfänglich ausgebaut ist, entspricht deutscher Gründlichkeit. Infolge des Krieges hat man auf die der Südpolarexpedition lange warten müssen; der Reiz der Neuheit ging ihnen darüber verloren. Für das Zustandekommen der bändereichen Expeditionswerke haben wir nicht bloß den Herausgebern und Autoren zu danken, die sie verfaßten, sondern auch den Behörden, die das Erscheinen ermöglichten. Dasselbe Bestreben, das die drei besprochenen reichsdeutschen Expeditionen ins Leben rief, hat in Österreich die Expeditionen des Schiffes Pola veranlaßt. Die Anregung ging von der Wiener Akademie der Wissenschaften aus; zur Ausführung bot die K. u. K. Kriegsmarine die Hand, und wenn auch diese Marine eine österreichisch-ungarische war, so wurde die Arbeit beinahe ausschließlich von Deutschen geleistet. Sie ergänzt die reichsdeutsche in wirkungsvoller Weise, indem sie das Mittelmeer und Rote Meer behandelt, in denen sich die reichsdeutschen Unternehmungen nicht betätigten. 1906 hat die Reichsmarine nach langer Pause wieder eine maritime Expedition entsandt. Der Planet führte durch seinen Stab und den Ozeanographen Brennecke Beobachtungen im Atlantischen und Indischen Ozean aus und erstreckte dieselben bis in die damals deutsche Südsee, in die Gewässer bei Neuguinea. Die Aufgaben waren ozeanographischer und aerologischer Art. Prompt sind die Reiseergebnisse erschienen. Ozeanographische Beobachtungen führte auch das Schiff Möwe bei seiner Ausreise nach Ostafrika aus, von wo es nicht heimkehren sollte. In umsichtiger Weise wurde der Kurs so gelegt, daß er im Atlantischen bestimmte Schnitte machte und Erscheinungen des Kontinentalabfalles aufhellte. Der Krieg hat dieser vielversprechenden Arbeit hier wie auch in anderen Fällen ein Ende bereitet. Vorher hatte aber noch eine weitere große deutsche maritime Expedition stattgefunden, die deutsche antarktische Expedition des damaligen Oberleutnants W. Filchner. Sie sollte eine Entdeckungsfahrt werden und zu einer Durchquerung von Antarktika führen. Mit großer Energie angepackt, fand sie Interesse namentlich in militärischen Kreisen, die bei der Beschaffung von Mitteln mithalfen und eine schneidige Leistung erwarteten. Überstürzt ging die Expedition in See; ihr Leiter erreichte sie erst in Buenos Aires, nachdem sie die für die Ausreise geplanten ozeanographischen Arbeiten bereits vollendet hatte, und es hat sich kein harmonisches Verhältnis zwischen ihm und seinem wissenschaftlichen Stabe entwickelt. Es glückte Filchner, auf dem ihm von wissenschaftlicher Seite vorgeschlagenen Wege weiter in die Weddellsee vorzudringen, als zuvor geschehen, aber sein Versuch einer Landung auf dem Eise Antarktikas schlug fehl, und auch seiner Expedition blieb es versagt, in den Erdteil des eisigen Südens einzudringen. Seine wissenschaftlichen Begleiter Barkow, Brennecke und Lohmann haben ein reiches meteorologisches und ozeanologisches Material sowie solches über das Plankton beigebracht und dadurch unsere Kenntnis über die Westseite des Atlan-

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tischen ebenso bereichert, wie die der Ostseite durch die Expeditionen des Planet und der Möwe vermehrt worden war. Alle großen deutschen maritimen Expeditionen haben im Atlantischen gearbeitet. Eine ansehnliche Zahl von Längsschnitten ist durch ihn gelegt worden, und es hatte sich gezeigt, was schon dem Leiter und Führer der Gazelle-Expedition, Freiherrn von Schweinitz, aufgefallen war, daß das kalte polare Bodenwasser nicht bloß zum Äquator, sondern von Süden her weit über denselben hinaus auf die Nordhemisphäre fließt. Eine Aufarbeitung aller bis zum Kriege veröffentlichten Serienbeobachtungen führte Alfred Merz zur Erkenntnis, daß die übliche Annahme der ozeanischen Zirkulation nicht zutreffend sei, und er kam zur Vorstellung mehrerer übereinander gelagerter Ströme, zu der auch Brennecke bei der Verarbeitung seiner Beobachtungen auf der deutschen antarktischen Expedition gelangte. Überdies nahm er Ungleichheiten zwischen der Ost- und Westseite des Ozeans wahr. Eine systematische Untersuchung desselben war nötig geworden. Den Plan einer solchen entwickelte er dem Präsidenten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Exz. Schmidt-Ott, der ihn aufgriff. Die Marine war bereit mitzuwirken, und so kam die deutsche atlantische Expedition zu Stande, der erste Versuch der systematischen Erforschung eines Ozeans, die größte deutsche maritime Expedition. Sie machte sich die Erfahrungen aller früheren zunutze. Eine Vorexpedition wurde veranstaltet, wie sie schon Hensen für unerläßlich gehalten hatte, um das kleine Vermessungsschiff Meteor zu erproben, um die Einrichtungen für den wissenschaftlichen Betrieb zu überprüfen, um zu sehen, wie sich das Zusammenarbeiten vom Schiffs- und Gelehrtenstabe gestalte. Das schwierige Problem, wie wissenschaftliche Leitung und Führung des Schiffes gegeneinander abgrenzen, wurde dadurch gelöst, daß beide, Professor Merz und Kapitän Spieß, lange vor der Ausreise zusammen arbeiteten und Pläne und Möglichkeiten gemeinsam miteinander abwogen. Die Aufarbeitung des vorliegenden wissenschaftlichen Materials war vor Auslaufen der Expedition vollendet und für deren Planlegung verwendet. Diese war auf das sorgfältigste ausgestaltet, so daß, als Merz bei Beginn der wissenschaftlichen Arbeit der Expedition bedauerlicherweise tödlich erkrankte und ausgeschifft werden mußte, Kapitän Spieß auch die wissenschaftliche Leitung übernehmen konnte. Das Programm beschränkte sich auf Erforschung des Meeresraumes und seines Wasserinhalts: auf Lotungen, Serienmessungen von Salzgehalt und Temperatur sowie auf Planktonfange, welche den Lebensinhalt einer beliebigen kleineren Wassermenge erfassen; dazu gesellten sich ebenso wie auf dem Planet aerologische Forschungen. In bezug auf Planlegung und Ausführung ist die Expedition des Meteor mustergültig. Auch ist dafür Sorge getragen, daß die Veröffentlichung der Ergebnisse rasch erfolgt. Neben dem reichen wissenschaftlichen Ertrag, den sie bereits erzielt hat, und dem Gewinne an organisatorischen Maßnahmen hat sie auch großen politischen erzielt, indem sie die deutsche Flagge wieder auf dem Weltmeere zeigte und die friedliche Betätigung der kleinen dem Reiche gebliebenen Marine an fremden Küsten offenbarte. Sie war eine epochemachende Tat. Es zeigt sich bereits, daß ihr Programm für ozeanologische Expeditionen maßgebend wird. Biologische maritime Expeditionen erheischen eine andere Ausrüstung und Planlegung; sie tragen reichsten Gewinn, wenn ihre Leitung

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in Händen eines Biologen liegt, wie dies bei der deutschen Tiefsee-Expedition der Fall war. Erdmagnetische Expeditionen benötigen auf dem Meere Spezialschiffe, wenn sie vollen Erfolg haben sollen, wie die Fahrten des Carnegie lehren. Die Zeit allumfassender maritimer Expeditionsarbeit ist vorüber. Selbstverständlich werden Errungenschaften auf instrumentellem Gebiete die Planlegung künftiger Expeditionen beeinflussen. Auch hierfür gibt die Fahrt des Meteor wichtige Winke. Sie hat die Verwendbarkeit des Echolotes erwiesen und gezeigt, daß die Gestaltung des Meeresbodens keineswegs so einförmig ist, wie vielfach angenommen. Allerdings gewähren die Ergebnisse des Meteor noch keinen vollen Einblick hierein; während auf seinen Profilen rund alle 5 km Lotungen vorgenommen worden sind, stehen die Profile um mehr als 500 km voneinander ab. Erst wenn man Profile ablotet, die so nahe aneinander stehen wie die Lotungen auf ihnen, wird man die Gestaltung des Meeresbodens klar erfassen können. Dafür ist aber nicht die Ausrüstung großer Expeditionen notwendig, sondern die Arbeit kann für enger begrenzte Gebiete auch bei Ubungsfahrten von Kriegsschiffen geleistet werden; werden dafür Vereinbarungen getroffen, so läßt sich unsere einschlägige Kenntnis durch internationales Zusammenwirken wesentlich fördern. Als Humboldt in den beiden Amerika weilte, waren die geographischen Züge des bereisten Gebietes in gröbsten Umrissen bereits bekannt; gleiches galt von China zur Zeit von Richthofens Reisen; beide Forscher hatten deswegen nicht die allererste geographische Arbeit zu leisten. Aber große weiße Flecken dehnten sich damals noch auf der Karte Afrikas. Hier gab es noch alles zu entdecken, während anderswo vertiefende geographische Forschung längst einsetzen konnte. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mühten sich deutsche Reisende, das unbekannte Innere Nordafrikas zu entschleiern; Barth und Vogel, Rohlfs, Nachtigal und etwas später Schweinfurth haben hier die grundlegende Pionierarbeit geleistet. Sie reisten allein. Zu deutschen Expeditionen kam es erst, als aus der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin die Afrikanische Gesellschaft in Deutschland hervorging. Von allen Seiten, manchmal unter Aufwendung ansehnlicher Mittel, suchte man in das Innere des Schwarzen Erdteils einzudringen. An der Küste blieb allerdings die deutsche Loango-Expedition stecken, aber bald kamen Pogge und Max Buchner von Westen her tiefer in das Innere, und bereits 1880 bis 1883 querte Wissmann Afrika unter deutscher Flagge von West nach Ost. Im Osten arbeiteten Böhm und Reichard; Flegel war im Nigergebiet tätig; Oskar Lenz erreichte Timbuktu von Marokko aus. Rohlfs ging mit einer kaiserlichen Mission nach Abessinien. Den Reisenden folgten kolonisatorische Bestrebungen, und als das Reich Deutsch-Ost- und Südwestafrika gewonnen und sich im Golfe von Guinea festgesetzt hatte, übernahm es auch die wissenschaftliche Erforschung seiner afrikanischen Schutzgebiete. Binnen wenig mehr als einem Jahrzehnt waren deren große geographische Züge durch zahlreiche Expeditionen erschlossen. Emin Pascha und Stuhlmann drangen 1890 bis über den Viktoria-See hinaus; ihnen folgte der Österreicher Oskar Baumann im Auftrage des Antisklaverei-Komitees; Graf von Götzen querte auf langer, sehr erfolgreicher Fahrt 1893—1899 Afrika von West nach Ost. Die Göttinger Akademie der Wissenschaften entsandte eine Pendelexpedition in das Gebiet der Großen Seen unter Glauning und Kohlschütter. 1906 nahm die landeskundliche Kommission der deutschen Schutz-

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gebiete deren Erforschung energisch in die Hand. Hans Meyer, der sich selbst als Afrikaforscher betätigt hatte, war hier die treibende Kraft. Die Expeditionen von Jäger und Oehler (1906) in das abflußlose Gebiet des nördlichen DeutschOstafrika, die von Hassert und Thorbecke (1907) in das Manenguba-Gebirge Kameruns, die von Sapper und Friedend (1907) in die Nachbarinseln von Neuguinea, die von Leonhard Schultze-Jena (1911) in das deutsch-holländische Grenzgebiet von Neuguinea, die große Kaiserin-Augusta-Fluß-Expedition gleichfalls nach Neuguinea (1912—1913), endlich die Expedition von Jäger und Waibel (1914) nach Deutsch-Südwestafrika sind vor allem seiner Initiative entsprungen. Private Hilfe griff manchmal ein, wo die Reichsmittel nicht langten; der damalige Ministerialrat Schmidt im preußischen Kultusministerium vermittelte solche Hilfe der Kaiserin-Augusta-Fluß-Expedition. Hans Meyer war auch der kräftige Förderer der beiden Expeditionen des Herzogs Adolf Friedrich von Mecklenburg nach Zentral Afrika (1907/8 und 1910/11), die weit über die Grenzen der deutschen Schutzgebiete hinausgriff. Unvergeßlich ist sein Wirken für die wissenschaftliche Erforschung der deutschen Kolonien. Dieselbe heischte zahlreiche Kräfte, brachte aber deutsche Forschertätigkeit in andern Teilen der Erde nicht zum Erlöschen. In Südamerika geschah sie zumeist durch heimisch gewordene oder dorthin berufene deutsche Gelehrte. Expeditionen dorthin waren nur für den Ethnographen nötig. Das unbekannte Innere Asiens lockte zu solchen. 1903/4 reiste W. Filchner, 1905/7 A. Tafel in Tibet. Als Bergsteiger kam Merzbacher vom Kaukasus zum Tienschan, dem er 1902 und 1903 erfolgreiche Forscherarbeit widmete. Seinem Beispiele folgte eine vom Deutschen und österreichischen Alpenverein ausgesandte Expedition, die sich 1913 unter Rickmers im westlichen Turkestan bergsteigerisch und forschend betätigte. Lange vorher (1891/93) hatte die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin E. v. Drygalski zur Erforschung des Inlandes nach Grönland entsandt. Es ist nicht möglich, in engem Rahmen all die Expeditionen aufzuzählen, die in den letzten 50 Jahren auf der Erde von Deutschland ausgegangen sind. Zielbewußt daheim veranstaltet, traten sie an Stelle der Forschungsreisen früherer Jahrzehnte, die meist in aller Stille vorbereitet wurden. Dabei war manchmal kein wesentlicher Unterschied zwischen derartigen Reisen und den Expeditionen. Filchner machte eine Expedition nach Tibet, Tafel reiste dorten. Meist allerdings waren die Expeditionen stattlicher ausgerüstet als die früheren Reisenden, und in Afrika nahmen sie vielfach durch ihre Trägerkolonnen ansehnliche Maße an. Für die Forschung selbst sind solche großen Karawanen oft mehr hemmend als fördernd, denn ihre Leitung entzieht die Kraft des Reisenden anderen Aufgaben. Am besten forscht derjenige, der allein reist; er ist unabhängig von anderen. Allein reiste, nur von Dienern begleitet, Richthofen in China. Nicht wenige deutsche Forscher haben es ihm nachgetan, und wenn die landeskundliche Kommission der deutschen Schutzgebiete in der Regel zwei Teilnehmer zu einer Expedition ausschickte, so gesellte sie gern einen jüngeren zum älteren, damit jener von diesem lerne. Mit einem Stabe von Gelehrten reiste der Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg. Seine gesellschaftliche Stellung machte ihn zum unbedingten Leiter seiner großangelegten Expedition, bei der die Wege des Botanikers oder Zoologen manchmal von den seinen sich abzweigten. Derjenige, der die Natur eines Landes erforschen

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will, wird immer geneigt sein, sich an einer Stelle länger aufzuhalten als derjenige, der dessen große Züge kennen lernen will. Forschungen können vorteilhaft auch von festen Stationen betrieben werden. Dies tat die Kaiserin-Augusta-FlußExpedition; sie legte sich eine feste Station an, von der aus sie auf den Flüssen Neuguineas tief in das Innere an den Fuß der dortigen Gebirge gelangen konnte, um hier Anstiege zu unternehmen. Ethnographen und Geographen arbeiteten dabei einmütig Hand in Hand; der gefurchtete Tropenkoller trat nicht in Erscheinung. Es kommt eben bei einer mehrköpfigen Expedition ganz wesentlich darauf an, wie die Teilnehmer zueinander gestimmt sind und daß der Leiter wirklich Führereigenschaften besitzt. Sie entwickeln sich am besten beim Bergsteigen, wo in einer Gruppe Aneinandergeseilter derjenige ohne weiteres die Führung übernimmt, der dafür am besten geeignet ist, und die andern ihm aus freien Stücken gehorchen. Deswegen hatte die Expedition des Alpenvereins nach Westturkestan 1913 so schönen Erfolg. Daß die erste größere deutsche Expedition nach dem Kriege von so reichem Erfolg gekrönt war, dankt sie nicht zum mindesten dem Umstände, daß sie wie eine Bergsteigergruppe organisiert war. Ihrem erfahrenen Leiter Willy Rickmers ordneten sich die deutschen Gelehrten, die die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft nach dem Pamirgebiete entsandte, ebenso willig unter wie die Russen des »Roten Lagers«, die von der U. S. S. R. abgeordnet waren, wie endlich die vier Bergsteiger, denen der Deutsche und österreichische Alpenverein die Teilnahme ermöglicht hatte. Er befahl ihnen nicht wie ein General, noch war er ihnen übergeordnet; er war ihnen Kamerad und Genosse zugleich. In die verschiedensten Richtungen gingen Zoologen, Sprachforscher und Bergsteiger. Langsam bewegte sich das Hauptquartier von Rickmers durch das Hochgebirge als ein Zentrum der Ausstrahlungen und der Versorgung der einzelnen Gruppen. Ein internationaler Großbetrieb der Wissenschaft entwickelte sich, wie er bislang kaum je in Erscheinung getreten ist. Rickmers glaubt, daß damit nicht bloß der Ubergang von der Entdeckungsreise zur Forschungs-, sondern weiter zur Bearbeitungsreise sich vollzogen hat, aber er erkennt auch an, daß dies in einem weiträumigen Lande geschehen ist, wo weder der Urwald noch eine mißtrauische einheimische Bevölkerung die Arbeit hemmte. Recht hat er sicher, wenn er die Pamirexpedition mit der Meteorexpedition vergleicht, die sich gleichfalls an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft knüpft. Daß die jüngste Expedition, die von letzterer ausgesandt wird und die die Erforschung des grönländischen Inlandeises zum Ziel hat, von ähnlichem Erfolge begleitet sein wird, kann nach dem Verlauf ihrer Vorexpedition gewärtigt werden. Wieder haben sich gleichgestimmte wissenschaftliche Kräfte zusammengefunden, die größtenteils durch die alpine Schule gegangen sind und deren erprobte körperliche Leistungsfähigkeit nicht hinter ihrem hohen Enthusiasmus für die Sache zurücksteht. Wieder ist ein Führer vorhanden, der von allen als solcher anerkannt wird. Schon bei seiner Vorexpedition hat sich Alfred Wegener als ein Meister in der Erziehung von Polarforschern erwiesen, ebenso wie Merz bei der Fahrt des Meteor ein solcher für Ozeanographen und im Pamirgebiete Rickmers ein solcher für Hochgebirgsforscher gewesen sind. Große wissenschaftliche Expeditionen nützen allen Wissenschaften, die mit

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ihrem Arbeitsfelde zu tun haben, und die Geographie ist an den meisten ihrer Ergebnisse interessiert, mögen sie Botanik und Zoologie, Geologie oder Völkerkunde betreffen. Aber in erster Linie kommt für sie in Betracht, was sie für die Festlegung der Züge der Erdoberfläche leisten, was in Karten dargestellt werden kann. Das ist in erster Linie ihr Itinerar. Itineraraufnahmen sind das mindeste, was der Geograph von einer Expedition zu erwarten hat. Sie sind in mehr oder weniger großem Umfange immer heimgebracht worden. Der durch die Sahara in Verkleidung Reisende ist allerdings meist gehindert gewesen, Aufzeichnungen zu machen, und es war schon ein großer Gewinn für die Wissenschaft, wenn er wenigstens da und dort Ortsbestimmungen vornehmen konnte. Aber in der Zeit der ersten Erschließung unserer Kolonien durfte mehr erwartet werden. Da waren genaue Routenaufnahmen möglich und wurden auch geleistet; aber die damals schon von O. Baumann nachdrücklich empfohlenen Anpeilungen abseits von der Route gelegener Berge wurden nur selten in entsprechendem Umfange vorgenommen. Das Gesehene wurde im Routenbuche aufgeschrieben und die Konstruktion einer Karte danach dem Kartographen in der Heimat überlassen. Es ist erstaunlich, was für Karten ein Hassenstein und ein Richard Kiepert, was Moisel und Sprigade nach solch dürftigem Material zu schaffen vermochten. Routenaufnahmen machten auch die beiden deutschen Tibetreisenden; und namentlich Filchner nahm so zahlreiche Peilungen vor, daß militärische Autoritäten glaubten, die Veröffentlichungen seiner Aufnahmen im Maßstabe 1 : 44 000 und x : 75 000 empfehlen zu können. Sie berücksichtigten nicht, daß so große Maßstäbe wohl für Einzelheiten zulässig sind, aber nicht mit der inneren Genauigkeit einer auf Hunderte von Kilometern sich erstreckenden Routenaufnahme vereinbar sind. Es war daher richtig, daß Filchner schließlich zum Maßstab 1 : 250 000 griff, ähnlich dem von 1 : 200 000, den Sven Hedin und Tafel anwendeten. Bei Itineraraufnahmen durfte man nicht stehen bleiben. Es kann eine Karte auch während einer Expedition entstehen, wenn dem Reisenden dazu Zeit bleibt und er das Geschick für kartographische Aufnahmen besitzt. Beides war anfänglich nicht vorhanden, und es war dem Geographen Fritz Jäger vorbehalten, von seiner Reise in das Hochland der Riesenkrater Kartenentwürfe heimzubringen, die dann zu einer Karte im Maßstabe 1 : 150 000 zusammengearbeitet werden konnten. Der Nutzen des Meßtisches, der bis dahin in den Kolonien nur selten angewendet worden war, für den Reisenden war damit klar erwiesen. Er kam bei der KaiserinAugusta-Fluß-Expedition in Neuguinea durch Walther Behrmann in ausgedehntem Umfang zur Anwendung; durch Anpeilungen markanter Punkte von Gipfeln aus, auf denen er den Wald niederschlagen ließ, konnte Behrmann eine ungeschlossene Triangulation in ähnlicher Weise durchführen, wie es Kohlschütter im UkingaGebirge getan hatte; Panoramenzeichnungen unterstützten die Verwertung der Peilungen, Routenaufnahmen ergänzten sie, und so konnte Behrmann eine Karte heimbringen, die zum ersten Male die Oberflächengestaltung von nicht weniger als 50 000 qkm in großen Zügen richtig zur Darstellung brachte. Das war die größte kartographische Leistung einer deutschen Expedition vor dem Kriege. Als nach dem Kriege die deutsch-russische Pamirexpedition wieder vor die Frage kartographischer Aufnahmen gestellt wurde, hatten sich die Verhältnisse geändert. Die Photogrammetrie kam zur Geltung. Vom Deutschen und öster2 4 Fetuchrift Schmidt-Ott

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reichischen Alpenverein bislang zur Spezialaufnahme großen Maßstabes einzelner Gebirgsteile benutzt, hatte die von ihm veranstaltete Expedition nach Westturkestan ihren Nutzen nicht bloß für die Aufnahme wenig bekannter Gebiete erwiesen, sondern auch erkennen lassen, daß sie auch für kleinere Maßstäbe verwendbar sei. In beiden Richtungen hat Richard Finsterwalder das von seinem Vater Sebastian Finsterwalder so kräftig geförderte photogrammetrische Verfahren auf dem Pamir angewendet. Er nahm von demselben etwa den fünften Teil übersichtlich auf und fertigte vom größten bisher bekannten Gletscher der Erde, dem Fedschenkogletscher, eine Karte i : 50 000, welche die Einzelheiten in der Gestaltung dieses Riesen zur Darstellung bringt und einen Vergleich mit jenen der bestuntersuchten Alpengletscher ermöglicht. Diese Leistung hat nicht ihres Gleichen unter denen aller Forschungsexpeditionen. Sie setzt allerdings so hervorragende topographische Schulung voraus, wie sie Richard Finsterwalder bei seinen Aufnahmen im Glocknergebiet und in den Zillertaler Alpen gewinnen konnte. Alle Aufnahmeverfahren setzen eine derartige Schulung voraus; der Mangel an solcher macht es begreiflich, daß deutsche Geographen bei den großen deutschen Expeditionen am Ende des 19. Jahrhunderts so wenig zur Geltung gekommen sind; erst im Laufe des 20. vollzieht sich hier eine Wendung, als die zwischen Topographie und wissenschaftlicher Geographie bestehende Kluft sich zu schließen begann. Nunmehr, wo die Landesaufnahme nicht mehr in militärischen Händen liegt, steht nichts mehr einer lebendigen Wechselwirkung zwischen beiden Disziplinen entgegen; der Topograph bedarf morphologischer Schulung, der Morphologe aber benötigt, sobald er sich nicht auf topographische Vorarbeiten stützen kann, topographischer Schulung, um sich selbst die benötigte Grundlage zu schaffen. Daran wird sich nichts ändern, wenn die Photogrammetrie noch mehr als bisher bei Expeditionen in Anwendung kommt. Dazu befähigt sie ihre neueste Entwicklung. Passende Linsenanordnungen ermöglichen, aus verhältnismäßig geringer Flughöhe weite Gesichtsfelder zu gewinnen und photogrammetrische Aufnahmen aus der Luft in verhältnismäßig kleinem Maßstabe zu machen, wie er bei einer ersten Aufnahme unbekannter Gebiete allein in Anwendung kommen kann. Vom Flugzeuge aus wird man in Zukunft auch die Urwaldgebiete Amazoniens und die Wüsten der Erde aufnehmen können, in denen die topographischen Aufnahmen bisher sich auf wenige Itinerare beschränken mußten. Dann wird dem Geographen von allen Teilen der Erde Kartenmaterial zur Verfügung stehen können; aber nie wird ihm das aus der Luft gewonnene Bild die Arbeit auf der Erdoberfläche unnötig machen. Noch lange wird die Aussendung von Expeditionen zur Erforschung der Fremde zu Lande geschehen müssen. Es ist eine großartige Entwicklung, welche dieselben in Deutschland im Laufe des letzten Halbjahrhunderts genommen haben. Die Nation kann stolz darauf sein, daß diese Entwicklung durch den Krieg nicht abgebrochen worden ist und nach einer zehnjährigen Pause mit neuen Kräften hat wieder einsetzen können, auf dem Ozean und im Innern Asiens sowie im polaren Grönland. Daß diese Renaissance geschehen konnte, ist der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft zu danken und der lebhaften Anteilnahme, die ihr Präsident, Exz. Schmidt-Ott, seit mehr als 30 Jahren an der Entsendung deutscher Forschungsexpeditionen genommen hat. Ihm sei dafür namens der geographischen Wissenschaft auf das herzlichste gedankt.

ALBERT DEFANT OZEANOGRAPHIE Die Ozeanographie ist bekanntlich als Teilgebiet der allgemeinen Erdkunde jener Wissenszweig, der sich mit den Erscheinungen an der Oberfläche und im Innern der Meere befaßt. Ihre Bedeutung erhellt allein schon aus der Tatsache, daß fast zwei Drittel der Erdoberfläche vom Wasser bedeckt sind und ungeheure Wassermassen die Tiefenbecken der Erdfeste erfüllen. Wie alle anderen Teilgebiete der Naturwissenschaft erhält die Meereskunde ihre Tatsachen, auf die sie sich wie jede andere Wissenschaft stützen muß, auf dem Wege der Beobachtung. Vom festen Lande aus, auf dem die Menschen leben, lassen sich die Erscheinungen an der Oberfläche des Meeres, soweit das Auge reicht, verfolgen und beobachten. Die Anfänge der Meereskunde beschränken sich so auf die Erscheinungen an den Küsten und Inseln und auf einen schmalen Wasserstreifen, der sie umgibt. Beim Emporblühen der Seeschiffahrt dehnten sich die Beobachtungen weiter aus, und die Schiffer und Fischer sammelten allmählich Beobachtungen und Tatsachen über die Erscheinungen auf der weiteren Oberfläche des Meeres schon aus rein praktischen Gründen des Seeverkehrs und der Seewirtschaft, und sie sorgten so auch am besten für ihre eigene Sicherheit. Aber erst die neuere Zeit, die im 19. Jahrhundert den allgemeinen Aufschwung der Naturwissenschaften brachte, gab auch der Meereskunde einen fruchtbaren Impuls zur eingehenden Erfassung des Naturgeschehens und Ergründung der bewegenden Kräfte. Dem Menschen genügt nicht mehr die bloße Tatsache, die ihm in der Natur oft rätselhaft entgegentritt, er sucht auch einzudringen in das Wesen der Erscheinungen, er will wissen, nicht nur wie und was an der Oberfläche des Meeres vor sich geht, er will auch wissen, wie es im Innern und am Boden des Meeres aussieht, welche Kräfte und Bewegungen hier vorhanden sind und wie dieser ungeheure Raum zum Lebensraum der Meerestiere, die von unendlichem Formenreichtum sind, wird. Schon frühzeitig haben die zahlreichen Handelsschiffe, die über die Meere fahren, ozeanographische Beobachtungen über die Verhältnisse an der Meeresoberfläche gesammelt, und die Schiffstagebücher, die nach den Fahrten in den hydrographisch-meteorologischen Zentralinstituten (in Deutschland: Deutsche Seewarte in Hamburg) deponiert wurden, waren lange Zeit hindurch das einzige Quellenmaterial zu Untersuchungen der die Meeresoberfläche beherrschenden Gesetzmäßigkeiten und eventuell vorkommenden Veränderungen auf ihr. Auf internationalen Kongressen (Brüssel 1853, London 1875 usw.) wurden über Form und Inhalt der Schiffstagebücher Festsetzungen getroffen und dadurch ermöglicht, daß das von den verschiedenen Nationen an Bord ihrer Handelsschiffe gewonnene Beobachtungsmaterial einigermaßen einheitlich und homogen wird. Die Bearbeitung dieses großen Materials durch die wissenschaftlichen hydrographischen Institute hat so die geographische Verteilung der wichtigsten Elemente für die Meeresoberfläche geliefert; so vor allem die geographische Verteilung der Wassertemperatur und der klimatischen Faktoren an der Meeresoberfläche, sowie den durchschnittlichen Verlauf der Meeresströmungen in den obersten Wasserschichten. 24*

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Bald aber stellte sich heraus, daß zur genaueren und eingehenderen Erfassung des mittleren Zustandes der Meeresoberfläche und seiner zeitlichen Änderungen ein innigeres internationales Zusammenwirken, eine gemeinschaftliche Arbeit der verschiedenen seefahrenden Nationen mit gut überlegten gleichen Zielen notwendig ist. Einen starken Impuls erfuhr diese internationale Zusammenarbeit im Jahre 1902, als sich die nordeuropäischen Staaten zu einer Internationalen M e e r e s f o r s c h u n g zusammentaten mit dem Ziele, die rationelle Bewirtschaftung der Meere auf wissenschaftlicher Grundlage vorzubereiten. Bei der Gründung dieser Organisation war Deutschland führend beteiligt. Die in dieser Organisation vereinigten Nationen haben später ihre ozeanographischen Arbeiten von ihrem ursprünglichen Arbeitsgebiet — den europäischen Randmeeren — aus auch über den Nordatlantischen Ozean weiter ausgedehnt, und schon vor dem Kriege waren Anzeichen vorhanden, daß in kurzer Zeit die gesamte Meeresfläche, soweit sie von den Schiffahrtswegen gekreuzt wird, der meereskundlichen Forschung näher gebracht wird. Die dauernde Kontrolle der Temperatur- und Salzgehaltsänderungen an der Meeresoberfläche würde auch ohne weiteres die Möglichkeit geben, die Zusammenhänge mit anderen Naturerscheinungen, namentlich mit den Verhältnissen in der Atmosphäre, aufzudecken und zum Nutzen der Menschheit auszuwerten. Aber wenn man weiter kommen wollte, so genügte zu intensiveren ozeanographischen Untersuchungen die gewöhnliche Schiffahrt nicht, denn diese Untersuchungen erfordern Zeit und wollen alle Meeresteile gleichmäßig erfassen, während doch der Seeverkehr der möglichst raschen Überbrückung der Wassermassen zwischen den Kontinenten dient. Von dieser Seite wird deshalb den mehr abgelegenen Meeresteilen weniger Interesse entgegengebracht, und es ist selbstverständlich, daß die gewöhnliche Handelsschiffahrt Beobachtungen nur von der Oberfläche des Meeres beibringen kann. Auf diese Umstände ist in erster Linie die Notwendigkeit von Expeditionen, die nur der Wissenschaft des Meeres dienen, zurückzuführen. Die Grundlagen unseres Wissens über die physikalisch-chemischen und biologischen Verhältnisse im Innern des Meeres lieferten so vor allem die zahlreichen und von allen seefahrenden Nationen unternommenen Tiefsee- und Polar-Expeditionen, dann aber auch die ozeanographischen Arbeiten der Vermessungsschiffe der Marinen und der Kabeldampfer. Die ersten Versuche meereskundlicher Tiefseeforschung findet man ja schon bei den großen Entdeckungsfahrten, so zum Beispiel bei Cook und Ross. Aber der eigentliche Zweck dieser Fahrten war ja ein der intensiven Arbeit auf dem Meere so fremder, daß sie nur wenig unsere Kenntnisse vom Meere erweiterten. Das Bedürfnis nach rein ozeanographischen Forschungsexpeditionen steigerte sich ganz erheblich und fand eine erste Befriedigung in der großen umfangreichen ozeanographischen Expedition der britischen »Challenger«, die alle Meere befuhr und sowohl in physikalischchemischer Hinsicht als auch auf dem Gebiete der Meeresbiologie Grundlegendes leistete. Fast gleichzeitig mit der »Challenger« hat auch die neubegründete deutsche Marine ihre meereskundlichen Untersuchungen begonnen, indem sie die Korvette »Gazelle« zu ozeanographischen Untersuchungen auf eine Fahrt um die Erde 1874 bis 1876 aussandte. Beide Expeditionen haben außerordentlich wichtige Arbeit,

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sowohl in bezug auf die Ausarbeitung und Erprobung der ozeanographischen Bordmethoden als auch in der Sammlung von ozeanographischem Tiefenmaterial geleistet; auf diese Weise ist eine erste Orientierung über den physikalisch-chemischen Aufbau des Meeres gewonnen worden. Aber nur wenige ozeanographische Schnitte wurden auf der Fahrt durch die einzelnen Ozeane oder bei ihrer Durchquerung ausgeführt, und nur die wenigsten von ihnen haben Aufschlüsse über alle Meeresschichten von der Oberfläche bis zum Meeresgrund erbracht. So ist es nicht verwunderlich, wenn man heutzutage sagt, daß ihre ozeanographische Arbeit, die an ziemlich zufälligen Stellen im Meere und in isolierten Schnitten die vertikale Verteilung von Temperatur und Salzgehalt gab, nur S t i c h p r o b e n darstellte, die keinen Einblick in die räumliche Verteilung der einzelnen Faktoren gewähren konnte. Auch die ozeanographischen Expeditionen, die nach der »Gazelle« von Deutschland ausgesandt wurden, haben diese Methode der ozeanographischen Arbeit beibehalten. Zur Gewinnung eines ersten Uberblickes über das Meer als Ganzes ist sie zunächst ausreichend namentlich in jenen Fällen, in denen den Expeditionen als Hauptaufgabe die Lösung einzelner mehr biologischer Probleme zugewiesen worden war, deren Klärung man zunächst im Großen ohne nähere Details wünschte. So hat 1889 die Plankton-Expedition auf dem Handelsdampfer »National« mit Unterstützung der Preußischen Akademie der Wissenschaften und des Preußischen Staates unter der Leitung von Hensen die Verteilung der kleinsten Organismen in den oberen Schichten des Atlantischen Ozeans erforscht, und 1898—99 die »Valdivia«-Expedition unter dem Protektorate des Reichsministerium des Innern und des Preußischen Staates unter der Leitung von Karl Chun eingehende Untersuchungen der Tierwelt der großen Meerestiefen im Atlantischen und im Indischen Ozean ausgeführt. Beide Expeditionen haben auch physikalisch-ozeanographische Arbeiten vorgenommen, aber doch nicht in dem Maße, daß unsere Kenntnisse vom Aufbau desMeeres wesentlich über jene, die durch die »Challenger« und »Gazelle« gewonnen wurden, erweitert worden wären. Das »Valdivia«-Werk weist insofern einen Fortschritt auf ozeanographischem Gebiete auf, als der Ozeanograph dieser Expedition, G. Schott, alle damals vorhandenen Tiefseebeobachtungen des Atlantischen und Indischen Ozeans einheitlich in einem Atlas zusammenfaßte und auf diese Weise einen guten Überblick über die vertikale Verteilung von Temperatur und Salzgehalt in diesen Meeren gab. Diese kartographischen Darstellungen stellten unsere Kenntnisse über den Aufbau des Meeres zur Zeit der Hundertjahrwende dar. In ähnlicher Weise hat G. Schott auch später die ozeanographischen Befunde kartographisch dargestellt und so die Ergebnisse der Meereskunde den Geographen nähergebracht. Um dieselbe Zeit entstand auch das erste zusammenfassende Handbuch der Ozeanographie. Wir verdanken es Otto Krümmel; in ihm ist bis zu den Jahren 1907 und 1911 die ozeanographische Literatur mit großer Gründlichkeit verarbeitet. Auf diese Expeditionen, die in der Hauptsache besonderen Problemen der Meeresbiologie dienten, folgten wieder Expeditionen mehr rein maritimen Charakters: die »Deutsche S ü d p o l a r - E x p e d i t i o n « auf dem Forschungsschiff »Gauß« (1901—03), die unter Leitung von E. v. Drygalski im Atlantischen und Indischen Ozean viel ozeanographisches Material sammelte; weiter die Fahrten des Ver-

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messungsschiffes »Planet« (1906—07) durch den Atlantischen und Indischen Ozean bis zum Westpazifischen; die Untersuchungen der »Möwe« ( 1 9 1 1 ) um Afrika herum. Durch die beiden letzteren hat die deutsche Reichsmarine die Reihe ihrer wissenschaftlichen ozeanographischen Untersuchungen wieder erfolgreich aufgenommen. Alle ozeanographischen Arbeiten dieser Expeditionen entsprechen aber im wesentlichen immer noch der Stichprobenmethode und gehen in ihren Untersuchungen meistens sogar nicht bis zum Meeresgrund, sondern begnügen sich mit der Erforschung des obersten Stockwerkes des Ozeans. Die folgende »Deutsche A n t a r k t i s c h e E x p e d i t i o n « ( 1 9 1 1 — 1 3 ) brachte insofern einen methodischen Fortschritt, als die ozeanographischen Reihenmessungen bis zu größerer Tiefe, vielfach bis 2000—3000 m ausgedehnt und neben Temperatur und Salzgehalt auch regelmäßig der Sauerstoff beobachtet wurde. Aber entsprechend dem eigentlichen Ziele der Expedition — der Erforschung der Antarktis — mußte sich der um die Beibringung modernen ozeanographischen Beobachtungsmaterials verdiente Ozeanograph W. Brennecke (Deutsche Seewarte, Hamburg) mit einem einzigen, durch nicht sehr zahlreiche Stationen belegten Längsschnitt durch den Ozean bei der Ausfahrt der Expedition begnügen. Man konnte sich damals noch nicht eine r ä u m l i c h e Erfassung der Erscheinungen denken, was einzig und allein einen Fortschritt unserer Kenntnisse bringen konnte. Mit Ausnahme der »Challenger«- und »Gazelle«-Expedition haben alle großen deutschen und auch die nichtdeutschen Expeditionen vornehmlich im Atlantischen und Indischen Ozean gearbeitet. Für den gewaltig ausgedehnten Pazifischen haben auch die zuerst genannten Expeditionen nur sehr wenig Material geliefert, so daß dieser Ozean bis jetzt noch als der am wenigsten erforschte anzusehen ist. Es sind in ihm noch Flächen von Erdteilgröße, die für die Tiefenstufen unterhalb 2-3000 m bar aller Beobachtungen sind. Eine Bearbeitung der im »Challenger«Werk 1884 gesammelten Beobachtungen ist von Buchanan selbst noch vorgenommen worden. Sie wurde ergänzt 1895—1896 durch Karten der Temperatur bzw. der Dichte, welche Buchanan für verschiedene Niveaus bis 2000 Faden Tiefe und den Meeresboden entworfen hat. Später haben dann Schott und Schu für alle Schichten dieses Ozeans das vorliegende Beobachtungsmaterial der T e m p e r a t u r einer neuen kartographischen Bearbeitung unterzogen; aber die Verteilung des Salzgehaltes ist nicht weiter Gegenstand einer näheren Untersuchung geworden. Für den Fortschritt der ozeanographischen Wissenschaft und für die Zusammenfassung unserer bisherigen Kenntnisse über den Aufbau des Meeres und seiner inneren Zirkulation war es gewiß eine große Tat, als A. Merz (1920) eine neue eingehende Bearbeitung des gesamten Tiefenmaterials von Temperatur und Salzgehalt aller drei Ozeane organisierte und im Institut für Meereskunde zu Berlin Methoden entwickelt wurden, durch die auch älteres Beobachtungsmaterial, insbesondere die älteren aerometrischen Bestimmungen des spezifischen Gewichtes, für die Ermittlung des Salzgehaltes in kritischer Weise herangezogen werden konnten. Für alle drei Ozeane wurde so die Verteilung der Temperatur und des Salzgehaltes für alle Längs- und Querschnitte, die sich beim vorhandenen Beobachtungsmaterial überhaupt entwerfen ließen, graphisch festgestellt. Die eingehende und kritische Diskussion dieser ozeanographischen Längs- und Quer-

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schnitte durch die drei Ozeane ließ die Fülle der in allen Ozeanen noch ungelösten ozeanographischen Probleme klar hervortreten und den lebhaften Wunsch nach einer intensiven systematischen Inangriffnahme ihrer Untersuchung wach werden. Damals reifte in A. Merz der Plan zu einer großen P a z i f i s c h e n E x pedition. In einer Denkschrift an die Deutschen Akademien der Wissenschaften und an die Deutschen Geographischen Gesellschaften (1921) hat er die ozeanographischen Probleme, die der Lösung harren, scharf herausgearbeitet und die Wege, die zu ihrer Lösung führen, dargelegt. Wärme- und Wasserhaushalt des Weltmeeres, die ozeanische Zirkulation und die ozeanischen Gezeiten traten als Hauptprobleme in den Vordergrund, und man erkannte, daß nur in der Beibringung von neuem, auf s y s t e m a t i s c h e m Wege gesammelten Beobachtungsmaterial der Fortschritt der ozeanographischen Wissenschaft liegt. Für die Ausführung der Pazifischen Expedition hatte A. Merz ein verhältnismäßig weitmaschiges Netz von ozeanographischen Stationen mit einer genügenden Anzahl von Anschlüssen zu den arktischen und antarktischen Gebieten vorgegeschlagen. Da der größte Teil dieses Ozeans tatsächlich ein wahres Mare incognitum ist, hätte ein solches Routennetz zunächst den wissenschaftlichen Bedürfnissen vollauf genügt. Der Merzsche Plan einer Pazifischen Expedition, die auf etwa drei Jahre veranschlagt war, konnte aus äußeren Gründen (Inflation) nicht realisiert werden, und aus den Arbeiten des Instituts entstand später die letzte deutsche ozeanographische Leistung: die »Deutsche Atlantische Expedition auf dem Vermessungsschiff »Meteor«. A. Merz konnte den Präsidenten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Staatsminister Dr. Schmidt-Ott, für den Gedanken dieser großen Expedition für die Erforschung des Südatlantischen Ozeans unter der Voraussetzung gewinnen, daß die Reichsmarine ein noch im Bau befindliches Vermessungsschiff in den Dienst der Expedition stellte. Die Reichsmarine sagte zu, der »Meteor« stand Oktober 1924 mit einem wissenschaftlich vorgebildeten Stab von Seeoffizieren und eingeschulten Vermessungspersonal zur Verfügung, und die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft übernahm die Sorge für den wissenschaftlichen Stab und für die gesamte wissenschaftliche Ausrüstung. Von April 1925 bis Juni 1927 hat der »Meteor« im Südatlantischen Ozean eine eingehende systematische Untersuchung der Wassermassen dieses Meeres auf einem enggelegten Netz von ozeanographischen Stationen geleistet. War im Pazifischen Ozean infolge der Unkenntnis der ozeanischen Verhältnisse noch eine e x t e n s i v e Arbeitsverteilung gerechtfertigt, so mußte für den Südatlantischen Ozean, von dem doch verhältnismäßig viel mehr ozeanisches Beobachtungsmaterial vorlag, eine intensive und streng systematische Aufnahme des ganzen Raumes erfolgen, wollte man tiefer als bisher in die Probleme der ozeanischen Zirkulation eindringen. Diese erste systematische Aufnahme des Gesamtaufbaues des Südatlantischen Ozeans und des Nordatlantischen bis zu 20° N Breite hat die »Meteor«-Expedition tatsächlich ausgeführt und dadurch in der f o l g e r i c h t i g e n E n t w i c k l u n g der A r b e i t s m e t h o d e n v o n der E n t d e c k u n g s r e i s e über die e i n f a c h e F o r s c h u n g s f a h r t zur s y s t e m a t i s c h e n D u r c h f o r s c h u n g eines E r d r a u m e s den letzten Schritt getan.

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Damit dieser Schritt erfolgreich wurde und weiter einen Fortschritt unserer Kenntnis des Geschehens bringe, mußten aber zwei Voraussetzungen gegeben sein: einerseits ein Stand der Technik meereskundlicher Forschung durchgeführt bis in die letzten Details, andererseits die Ausbildung der mathematisch-physikalischen Theorie meereskundlicher Probleme bis zu jenem Punkt, der ihre Erprobung an einem ausgezeichneten Beobachtungsmaterial forderte. Diese beiden Voraussetzungen waren dank der Entwicklung der Ozeanographie über das mehr rein geographisch-statistische Anfangsstadium jeder Naturwissenschaft hinaus als erfüllt anzusehen, als die »Meteor«-Expedition den Heimathafen zur Inangriffnahme der ersten systematischen Arbeit auf dem Meere verließ. Die Technik meereskundlicher Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten, aufbauend auf die bei den zahlreichen früheren Expeditionen gewonnenen Erfahrungen und fortdauernden Versuche in den heimischen Gewässern, insbesondere für Bordzwecke, sehr ausgebildet. Hervorzuheben ist die Ausgestaltung der Methoden zur Gewinnung von ungestörten, möglichst langen Bodenproben, die auch die Schichtung innerhalb der Meeresablagerungen wenigstens in ihren obersten Schichten erkennen lassen; denn erst durch systematische Gewinnung solcher Proben kann mit Anwendung der modernen mineralogischen und geologischen Arbeitsmethoden den Ursachen der wirklichen und scheinbaren Unterschiede der marinen Ablagerung des festen Landes und der in der neuesten Zeit gebildeten Meeressedimente nachgegangen werden. Die Verschiedenheiten in der r e g i o n a l e n Verteilung der Bodenproben können auch näher und mit Wahrscheinlichkeit auf Erfolg nur studiert werden, wenn letztere systematisch gewonnen wurden. Die Gewinnung der Bodenproben gibt natürlich auch genauere Werte der Drahtlotungen, die notwendig sind zur ersten Kontrolle der Echolotungen, die ja einen besonderen Fortschritt in der Aufhellung des genauen Reliefs der Meeresböden und der Form des Kontinentalabfalles bedeuten werden. Es ist ohne Zweifel die Behauptung richtig, daß ohne die Möglichkeit, die Meerestiefe bei fahrenden Schiffen auf so raschem Wege wie auf dem akustischen ermitteln zu können, wir noch lange Zeit hätten warten müssen, bis uns der morphologische Aufbau der Einsenkungen der Erdfeste, auch in ihren Beziehungen zu den anliegenden Kontinenten und deren Gebirgsketten mit der gewünschten Genauigkeit und Sicherheit bekannt geworden wäre. Wie viel in geographischer Hinsicht daran liegt, gerade die Bodengestaltung der Ozeane einigermaßen zuverlässig zu erkennen, ersieht man doch wieder daraus, daß zwei Drittel der Erdfeste vom Meere bedeckt sind und uns ohne die Kenntnis der morphologischen Gestaltung der Meeresböden zwei Drittel des Antlitzes der Erde unbekannt blieben. Die Echolotmethode bedeutet gewiß einen der wichtigsten ozeanographischen Fortschritte der neueren Zeit. Für die Festlegung des physikalisch-chemischen Aufbaus des Meeres ist die Ermittlung der Temperatur und des Salzgehaltes, sowie des Gehaltes der im Meerwasser gelösten Gase und Stoffe erforderlich. Auch in dieser Hinsicht ist der Fortschritt, der in den letzten Jahrzehnten gewonnen wurde, ganz erheblich. Er betrifft sowohl die Ausarbeitung von neuen Methoden als auch die Steigerung der Genauigkeit der Zahlenwerte für die einzelnen Größen. Und gerade das letztere

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ist sehr wichtig, denn in den tieferen Schichten des Meeres sinken die Unterschiede der Temperatur und des Salzgehaltes auf ganz kleine Werte herab, und doch hängt gerade von diesen die Wasserbewegung in der gesamten Tiefsee ab. Für die Temperatur forderte man die Genauigkeit auf mindestens 0,01° C, für den Salzgehalt auf o,oi°/oo> dann ist auch die Dichte, die von diesen Elementen abhängt, bis auf die 5. Dezimale gesichert. Auf jahrelanger Arbeit aufbauend, ist es zusammen mit den Wissenschaftlern der Firma Richter & Wiese in Berlin gelungen, gegen Druck bis zu 1000 Atmosphären geschützte Thermometer mit einer solchen Präzision der Arbeit zu bauen, daß obige Genauigkeit sicher gewährleistet ist. Aber noch mehr: die Benutzung von Thermometern, die gegen Druck nicht geschützt sind, neben solchen, die geschützt sind, hat eine Methode gegeben, auch bei den größten Meerestiefen die Messungstiefe, in der die Beobachtung (Umkippen der mit Thermometer versehenen Wasserschöpfer) tatsächlich gemacht wurde, unabhängig vom Ausstehen der Drahtlitze, an der die Apparate in die Tiefe geführt werden, zu bestimmen. Die Bearbeitung des »Meteor«-Materials hat jetzt schon gezeigt, wie außerordentlich wertvoll diese Tiefenbestimmung ist und wie sie viele sonst nicht recht verständliche Beobachtungsdaten in das richtige Licht rückt. Die Verfeinerung der Wasserschöpfer hat gleichzeitig ein weit selteneres Versagen derselben als früher bedingt, so daß man heutzutage durch ozeanographische Serienarbeit ein Material an Tiefentemperaturen und an Wasserproben in relativ kurzer Zeit gewinnen kann, das den Forderungen exakter Forschung in allen Punkten genügt. Aus den Wasserproben, welche die Wasserschöpfer heraufbringen, läßt sich einerseits der Salzgehalt des Meerwassers und sein Gehalt an Gasen und Nährstoffen ermitteln, andererseits aber auch sein Gehalt an Plankton, den kleinsten Lebewesen des Meeres. Die genaue Definition des Begriffes »Salzgehalt« und die genaue Ermittlung dieser Eigenschaft hat dem Ozeanographen manche Schwierigkeiten bereitet, namentlich wenn die Bestimmung in größeren Mengen an Bord des Schiffes auszuführen war. Aber die Schwierigkeiten sind allmählich behoben worden, und die Verfeinerung der Arbeitsmethoden (Chlortitrierung) ist soweit getrieben worden, daß zur Zeit die gewünschte Genauigkeit von o,oi°/oo erreicht werden kann. Aber auch hier geht die Entwicklung weiter. In neuester Zeit entwickeln sich verschiedene Methoden, die bei gleicher Genauigkeit ein noch besseres Arbeiten erwarten lassen. Untersuchungen, die mit Hilfe der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft in dieser Richtung zum Erproben und Vergleich aller Methoden zur Bestimmung des Salzgehaltes vom Institut für Meereskunde zu Berlin zusammen mit der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt ausgeführt werden, lassen erwarten, daß eine festere und sichere Grundlage, auf der die Ozeanographen ihre Schlüsse bauen, auch hier gefunden wird. Für die Meeresbiologie andererseits ist die Ermittlung des Gehaltes des Meerwassers an Gasen und Nährstoffen eine unbedingte Notwendigkeit. Ohne ihre Kenntnis ist eine Deutung der geographischen Verbreitung der einzelnen Arten und Gattungen des Plankton nicht zu gewinnen. Nach den ersten Untersuchungen Lohmanns auf der Ausreise der »Deutschland« hat später der »Meteor« die ersten Karten der Bevölkerungsdichte des Planktons für einzelne Tiefen-

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niveaus sowie die ersten Längs- und Querschnitte durch den Atlantischen Ozean erbracht. Auch die Meeresbiologie wird durch weitere zielbewußte Entwicklung zu einem festen Bild des biologischen Haushaltes des Weltmeeres kommen, sich zu einer Dynamik der marinen Lebewelt, die einmal als eines der glanzvollsten und anziehendsten Gebiete naturwissenschaftlicher Arbeit bezeichnet worden ist, ausbilden. Die Chemie und Biologie des Meeres hängen so innig miteinander zusammen, daß der Fortschritt in einem Teilgebiet auch stets einen solchen im anderen bedeutet, und beide verbinden ihre Untersuchungen zum Nutzen der praktischen Seefischerei, die allgemein als ein wichtiger Zweig der Volkswirtschaft betrachtet wird. Nach dieser Richtung arbeitet in Deutschland auch in der Hauptsache die D e u t s c h e K o m m i s s i o n f ü r M e e r e s f o r s c h u n g , der zusammen mit der Deutschen Seewarte auch manche physikalisch-ozeanographischen Einzeluntersuchungen in den deutschen Randmeeren und zuletzt auch im Barentsmeer zu danken sind. Als Hauptproblem der Ozeanographie hat sich allmählich die Feststellung der Bewegungen der Wassermassen im Meer, die ozeanische Zirkulation, herausgebildet. Der exakteste und direkte Weg ihrer Ermittlung wäre die Feststellung der Stromrichtung und der Stromgeschwindigkeit an möglichst vielen Stellen des Meeres sowohl an seiner Oberfläche wie im Innern desselben. Sie kann aber auch erschlossen werden aus dem physikalisch-chemischen Aufbau des Meeres, da neben den äußeren Kräften, die an der Meeresoberfläche stromerzeugend wirken, die inneren Kräfte nur von diesem Aufbau abhängen und die Zirkulation diesen Aufbau ja beeinflussen muß. Auch die Schwierigkeiten, die sich in dem zuerst angegebenen Weg der Forschung entgegenstellen, sind zum großen Teil behoben worden. Bei kleinen Tiefen macht die Erlangung eines fixen Punktes im Meer, von dem aus die Strommesser in die verschiedenen Tiefen herabgeführt werden, keine großen Umstände. Anders bei Meerestiefen über 200 m. Die Verankerung eines Schiffes auf großen Tiefen bedarf einer eigenen Apparatur und erst der »Meteor«-Expedition ist es gelungen, die großartigsten Verankerungsexperimente der »Blake« (1885—1889) zu wiederholen uhd solche tagelangen Verankerungen bei Tiefen bis zu 5000 m durchzuführen. Durch besonders genaue Ortsbestimmungen ist kontrolliert worden, ob die Verankerung des Schiffes immer eine tatsächliche war, d. h. ob die Strommessungen wirklich von einem annähernd festen Punkte im Ozean vorgenommen worden sind. An den Strommessern selbst sind in der letzten Zeit ebenfalls wesentliche Verbesserungen angebracht worden; es wurden auch selbstregistrierende Apparate konstruiert, die vielversprechend zu sein scheinen. Aber trotz allem, direkte Strommessungen im freien Ozean gehören zu den schwierigsten Messungen der Ozeanographie, und ihre Zahl ist bisher sehr gering. So bleibt, systematische Strommessungen im freien Ozean auszuführen, nach wie vor eine der dringendsten Forderung der Ozeanographie. Anders steht es wohl für die flachen Neben- und Randmeere, wo namentlich für die Untersuchung der Gezeiten, die hier in besonderer Weise zu einer für die Schiffahrt äußerst wichtigen Erscheinung anwachsen, die Feststellung der periodisch ihre Richtung und Stärke ändernden Gezeitenströmungen eine unbedingte Notwendigkeit wird. Außerordentlich wichtig für die richtige Beurteilung des

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Wasserhaushaltes der Mittelmeere und ihres Wasseraustausches mit dem freien Ozean sind Messungen der Stromrichtung und -stärke in den Meeresstraßen. Hier bedeuten die Ergebnisse der systematischen Strommessungen zusammen mit der gleichzeitigen Feststellung der Temperatur- und Salzgehalt-Verteilung in den Meeresstraßen des Bosporus und der Dardanellen, die A. Merz während des Krieges ausgeführt hat und die L. Möller einer eingehenden Bearbeitung 1928 unterzogen hat, einen großen Fortschritt zur Erfassung des angedeuteten Problems. Mit der Entwicklung der Technik meereskundlicher Forschung hat auch die Entwicklung der Arbeitsmethoden an vorhandenem Material gleichen Schritt gehalten. Die wesentlich genauere zahlenmäßige Erfassung der Tatsachen und die Präzisierung der Probleme hat, wie es selbstverständlich ist, dazu geführt, daß auch die T h e o r i e sich der ozeanischen Erscheinungen bemächtigte; denn was stellt die gesetzmäßige Bewegung der ozeanischen Wassermassen, ihre Zirkulation, anders dar als eine Anwendung der Hydrodynamik auf die größten Räume, die zur Verfügung stehen? In letzter Zeit haben Theorie und die Sammlung von ozeanographischem Beobachtungsmaterial sich gegenseitig mächtig gefördert; dies wird vielleicht auch in noch größerem Maße in der Zukunft der Fall sein. Es scheint, daß neben den großen ozeanographischen Expeditionen, die ein übersichtliches, mehr geographisches Bild der Verhältnisse der weiten Flächen und Räume der Ozeane liefern sollen, in der Folge auch sicherlich kleinere Expeditionen, vielleicht auf mehreren kleinen Schiffen zugleich, notwendig werden; sie können einzelnen genau präzisierten Erscheinungen der Ozeanographie nachgehen und dadurch unsere derzeitigen hydrodynamischen Anschauungen über die ozeanischen Bewegungen einer eingehenden Revision unterziehen. Das Institut für Meereskunde zu Berlin hat 1929 mit Unterstützung der Reichsmarine, die hierzu wieder den »Meteor« zur Verfügung stellte, begonnen, das Gebiet des Ostgrönland- und Irmingerstromes genau ozeanographisch und teilweise auch biologisch aufzunehmen; es wird 1930 diese Untersuchungen fortsetzen. Es ist ein erster Versuch, ein kleines, aber interessantes Meeresgebiet, in dem zwei Wassermassen verschiedener Herkunft nahe aneinander gebracht werden, ozeanographisch aufzuklären und die aus theoretischen Überlegungen erwarteten Erscheinungen in der Grenzschicht der beiden bewegten Wasserkörper in der Natur festzustellen und mit den theoretischen Vorstellungen zu vergleichen. In dieser Richtung ist noch sehr vieles zu leisten, denn ein s y n o p t i s c h e s ozeanographisches Beobachtungsmaterial, das hierzu eigentlich notwendig wäre, fehlt derzeit nahezu vollständig. Die Ozeanographie hat hier in gewisser Hinsicht einen wesentlich schwierigeren Standpunkt als ihre Schwesterdisziplin, die Meteorologie, die sich auf die Beobachtungen der ausgedehnten meteorologischen Netze stützen kann. Andererseits ist aber ihre Stellung insoweit besser, als im inkompressiblen Medium der Meere die Bewegungen langsamer und stetiger vor sich gehen als im kompressiblen Medium der Atmosphäre. Die Bewegungen der Massen im Meere finden sicherlich eher in der Nähe eines stabilen, stationären Bewegungszustandes statt als in der Lufthülle der Erde. Die lehrreichen Analogien, die zwischen den Gesetzmäßigkeiten der Atmosphäre und des Ozeans existieren, ver-

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dienen näher verfolgt zu werden und haben bisher sehr fördernd auf die Vorstellung über den Aufbau der Ozeane und der ihnen innewohnenden Bewegungen gewirkt. Die konsequente Durchführung der Theorie der Windtriften, der Stauströme und der Konvektionsströme unter genauer Berücksichtigung der sekundären, aber in der Gestaltung der Strömungen außerordentlich wirksamen Kräfte, insbesondere der ablenkenden Kraft der Erdrotation und der Reibung sowie unter Berücksichtigung von äußeren Faktoren, wie Bodengestaltung und Erdkrümmung, gibt die Grundlage zu einer modernen Bearbeitung des systematisch gewonnenen ozeanographischen Materials der »Meteor«-Expedition. Vorläufige Ergebnisse der Expedition, insbesondere was die instrumentelle Seite der angewandten Methoden und die Richtlinien der Verarbeitung betrifft, sind von den einzelnen Teilnehmern der Expedition auf der unter Vorsitz von Staatsminister Exzellenz Schmidt-Ott abgehaltenen Ozeanographischen Konferenz anläßlich der Hundertjahrfeier der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin im Mai 1928 mitgeteilt und im Festbande derselben sowie in den »Verhandlungen« zu dieser veröffentlicht worden. In erster Linie tritt bei der Bearbeitung dieses Materials die ozeanische Zirkulation wieder in den Vordergrund. Alle bisherigen einigermaßen abgeschlossenen Untersuchungen darüber sowie die von G. Wüst und L. Möller jüngst durchgeführten Neubearbeitungen der bisher vorliegenden Reihenmessungen des Pazifischen und Indischen Ozeans lassen keinen Zweifel darüber mehr, daß die ozeanische Zirkulation in ihrem Aufbau wesentlich komplizierter ist, als man früher annahm. Der einfache Kreislauf mit polwärts gerichteten Komponenten in den Polarschichten und äquatorwärts gerichteten in den Unterschichten, aufsteigendem Wasser in den niedrigen und absinkendem in den Polarbreiten, hat sich auf eine kaum 200 m dicke Schicht der Subtropen und Tropen reduziert. Nur in dieser Warmwasserschicht (ozeanische Troposphäre) ist diese Zirkulation vorhanden, darunter in der einige 1000 m mächtigen Kaltwasserschicht (ozeanische Stratosphäre) ist die Zirkulation in allen drei Ozeanen etagenmäßig gegliedert. Von den subpolaren Gebieten, wo überwiegender Niederschlag und Eisschmelze den Salzgehalt merkbar herabsetzen, strömt kaltes, salzarmes Wasser unter der Warmwasserschicht in der oberen Schicht der Stratosphäre äquatorwärts. Das sind die subarktischen und subantarktischen Zwischenströme, deren Ausbildung in jedem Ozean durch die Bodenmorphologie und Küstenkonfiguration mächtig beeinflußt wird. Die Offenheit aller Ozeane gegen Süden, gegen die Antarktis, läßt ohne weiteres erwarten, daß in jedem Ozean der subantarktische Zwischenstrom kräftig in Erscheinung tritt. Dies bestätigen auch die Beobachtungen. Der arktische Zweig der polaren Zwischenströme fehlt naturgemäß im Indischen. Im Nordatlantischen ist er infolge der Kleinheit der nordpolaren Meere und ihrer Abschnürung durch die Landfiguration nur rudimentär entwickelt. Ebenso kräftig wie der südliche Zweig tritt er aber im Pazifischen Ozean in Erscheinung; das Ochotskische Meer ist sein Ausgangspunkt. In den unteren Schichten der Stratosphäre muß ein polwärts gerichteter Kompensationsstrom die äquatorwärts verfrachteten Wassermassen der sub-

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polaren Zwischenströme zurückführen. Soweit das spärliche Material eine Entscheidung zuläßt, scheinen diese Kompensationsströme, denen man den Namen »Tiefenströme« gegeben hat, im Pazifischen Ozean entsprechend der mehr symmetrischen Ausbildung der Zwischenströme in ebenso annähernd symmetrischer Form vorhanden zu sein. In den anderen Ozeanen bringt noch ein anderer Umstand einen durchgreifenden Einfluß auf die meridionale Gestaltung der stratosphärischen Zirkulation. Als Umkehrpunkte des antarktischen Zwischenstromes im Atlantischen erscheint die große tiefreichende subtropische Ansammlung warmen und salzreichen Wassers im Nordatlantischen Ozean in 25—35 0 N Br. Sie ist außer auf dynamische Ursachen auf die beträchtliche Zufuhr warmen und salzreichen Wassers aus dem romanischen Mittelmeer durch die Straße von Gibraltar zurückzuführen. Auch im Indischen Meere bedeuten die salzreichen Zuflüsse aus dem Roten Meer und dem Persischen Golf eine Quelle der Verstärkung der stratosphärischen Zirkulation. Im Atlantischen Ozean trägt so die Lage des größten aller Nebenmeere zu einer Verschiebung des Umkehrpunktes der stratosphärischen Zirkulation nach Norden bei, wodurch letztere zu einem gewaltigen interhemisphärischen Wasseraustausch zwischen dem warmen und salzreichen Nordatlantischen Ozean und dem kalten, salzärmeren Südatlantischen Ozean wird. Die Tiefenzirkulation der Ozeane und die die Bodenschichten umfassenden polaren Bodenströme dürfen wir uns nicht vorstellen als einen raschen Transport von Wassermassen, als wirkliche Ströme von größerer Geschwindigkeit. Dies würde wohl ein falsches Bild der Erscheinung geben. Die Geschwindigkeit der Wasserverfrachtungen ist gering, eher einer gleichförmig vor sich gehenden Ausbreitung verschieden dichter Wasserarten zu vergleichen, in der jede Wasserart sich im Ozean in vertikaler Richtung jene Tiefe aussucht, die ihrem spezifischen Gewicht entspricht. Was wir aber von der ozeanischen Zirkulation bisher wissen, ist relativ wenig, bezieht sich nur auf die meridionale Komponente und ist nur qualitativer Natur. Nur die eingehende Bearbeitung des Materials ist im Stande, uns hier weiter zu bringen. Durch die Deutsche Atlantische Expedition hat die Deutsche Ozeanographie vor jener der anderen Nationen einen großen Vorsprung gewonnen. Ihr Ansehen im Auslande ist bedeutend gewachsen; allen derzeit auf dem freien Ozean tätigen ozeanographischen Expeditionen ist wohl der »Meteor« sowohl in der Planlegung der Reise als auch in der wissenschaftlichen Ausrüstung wie in der Abwicklung der ozeanographischen Stationen ein Muster gewesen. Der »Meteor« hat allgemein die Ansicht zum Durchbruch gebracht, daß nur eine alle Faktoren berücksichtigende genaue Aufnahme aller Meeresschichten im Stande ist, einen weiteren Fortschritt der Ozeanographie zu gewährleisten. Diese Entwicklung kann sich aber nur einstellen in einer engen internationalen Zusammenarbeit aller wissenschaftlichen ozeanographischen Institute, und so war auch die Ozeanographie eine der ersten Wissenschaften, deren Vertreter sich nach dem Kriege zu gemeinsamer internationaler Arbeit wieder zusammengefunden haben. Auch in dieser Beziehung ist der Weg zu weiterer Arbeit und zu weiterem Fortschritt frei.

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Eines der großartigsten ozeanischen Phänomene unseres Erdballes ist bisher nicht gedacht worden: es sind die Gezeiten und Gezeitenströmungen, die, wie die ozeanische Zirkulation, die gesamten Wassermassen der Meere umfassen und in denen sich wohl der einzige genau feststellbare kosmische Einfluß der Gestirne auf das bewegliche Medium des Meeres äußert. Die Entwicklung unserer Kenntnisse der Gezeiten hat einen ganz besonderen Weg genommen. An die relativ einfache Erscheinung der Ebbe und Flut an den freien Küsten der Ozeane, deren Feststellung für die Schiffahrt von größter Wichtigkeit ist, knüpfte sich schon frühzeitig die Frage nach der Ursache dieses periodischen Wechsels des Wasserstandes. Bald wurde mit großer Wahrscheinlichkeit erkannt, daß die Ebbe und Flut auf Einwirkung der anziehenden Kräfte von Sonne und Mond zurückzuführen sind, derart daß es sogar gelingt, aus der Kenntnis dieser Kräfte zusammen mit den Wasserstandsbeobachtungen an einem Küstenort diese mit großer Genauigkeit voraus zu berechnen (harmonische Analyse der Gezeiten). Dieser auffallende Erfolg der Theorie hat die mathematische Seite der Frage nach der Ausbildung der ozeanischen Gezeiten in den Vordergrund treten lassen. Man suchte auf rein theoretischem Wege den komplizierten Erscheinungen der Gezeiten der Weltmeere beizukommen; doch sind die zu überwindenden mathematischen Schwierigkeiten außerordentlich groß. So haben die klassischen Arbeiten der hervorragendsten Gelehrten, von Newton und Daniel Bernoulli herab bis zu Laplace und Georg Howard Darwin, in erster Linie nur theoretischen Wert. Mit großer Vollkommenheit ist das Kräftesystem, auf das die Gezeiten zurückzuführen sind, festgestellt worden; die dynamischen Grundsätze, die für das Verständnis und die Erklärung der durch die fluterzeugenden Kräfte bedingten Schwingungen des Weltmeeres als Ganzes unbedingt erforderlich sind, wurden in scharfsinniger Weise entwickelt. Aber einer direkten Anwendung dieser grundlegenden theoretischen Ergebnisse auf die tatsächlichen Verhältnisse der beobachteten Gezeiten blieb der Erfolg versagt. Mehr als allgemeine Gesichtspunkte, die zwar nicht entbehrt werden können, aber in Anbetracht der Verwickeltheit der Erscheinungen nicht bis zum letzten Grund gehen ließen, haben sie nicht gebraucht. Das Phänomen der Gezeiten wird zu einem der schwierigsten in dem Moment, wo man versucht, das ganze System der vertikalen und horizontalen Bewegungen, insbesondere was ihre geographische Verbreitung und ihre Beeinflussung durch die Land- und Meerverteilung anlangt, zu erfassen. Wenn sich auch zeigt, daß das Phänomen der Ebbe und Flut in jedem Punkt völlig gesetzmäßig vor sich geht, fehlt derzeit noch die Zusammenfassung zu einem einheitlichen System, und man ist noch weit von einer allgemein befriedigenden Lösung entfernt. Die Ursache dieses Zustandes liegt aber nicht zuletzt darin, daß der Feststellung der Gezeiten und auch wohl der Gezeitenströme auf den freien Flächen der Ozeane die größten Schwierigkeiten entgegenstehen, deren Uberwindung sobald nicht zu erwarten ist. Nur für die Küstenorte und für die Flachsee sind die technischen Hilfsmittel (Hochseepegel) soweit entwickelt worden, daß in Zukunft für jeden Ort das notwendige Beobachtungsmaterial auf Wunsch erbracht werden kann. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine andere Betrachtungsweise der Gezeiten einzelner kleiner Meeresteile (Mittel- und Randmeere sowie Buchten und Kanäle)

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durchgesetzt, die, völlig auf dem Standpunkt der dynamischen Theorie stehend, mehr vom geophysikalischen Gesichtspunkte aus die tatsächlichen Verhältnisse, wie sie in Wirklichkeit vorhanden sind, insbesondere die morphologischen Einflüsse berücksichtigt. Diese Betrachtungsweise hat das Verständnis der Meeresgezeiten dieser kleinen Meeresteile und ihrer geographischen Ausbildung sehr gefördert. Ohne Zweifel werden diese Erfolge auch zurückwirken auf das Verständnis der große Phänomene der Weltmeergezeiten. Ansätze hierfür sind schon vorhanden. Neben diesen zusammenfassenden Untersuchungen gehen spezielle Arbeiten über den Einfluß der Reibung auf die Gezeitenströme; auch hier zeigt sich, welch einschneidenden Einfluß das turbulente Strömen des Wassers in allen Wasserbewegungen auf die schließliche Ausbildung der Gezeiten besitzt. Allmählich und Schritt für Schritt fortschreitend werden sich auch hier unsere Kenntnisse zu einem einheitlichen Bild der Erscheinungen herauskristallisieren und auf diese Weise unser Drängen nach Erklärung des Weltgeschehens befriedigen.

GEORG THILENIUS VÖLKERKUNDE Im Jahre 1900 erschien die »Urgeschichte der Kultur« von H. Schurtz. Das klassische Werk der Völkerkunde behandelt unter den Grundlagen der Kultur anthropologische Fragen, zieht Vorgeschichte und Volkskunde heran und berücksichtigt die Sprachforschung ; es unternahm zum ersten Male die zusammenfassende Darstellung einer allgemeinen Völkerkunde mit solchem Erfolge, daß es heute noch wirksam ist. Und doch steht das Buch nicht am Anfang einer neuen Periode, denn um die Zeit seiner Veröffentlichung erscheinen oder reifen Arbeiten heran, die zum Teil in anderer Richtung und wesentlich weiter führen; wohl aber kennzeichnet es das Ende des vorangegangenen Abschnitts, in welchem die Völkerkunde und die anderen Gebiete selbständige Wissenschaften werden. Das geschah freilich nicht gleichzeitig. W. H. Riehls gedankenreicher Vortrag (1858) über die Volkskunde als Wissenschaft brachte sie nicht zur vollen Geltung gegenüber dem folk-lore; die R. Lepsius' Standard-Alphabet ( 1863), das ein in sich geschlossenes System für die Niederschrift der Sprechlaute darstellt, bot damit eine neue Grundlage für das Studium schriftloser Sprachen. 1860 erschien A. Bastians Werk »Der Mensch in der Geschichte«, zur »Begründung einer psychologischen Weltanschauung«; von der »Einheit des Menschengeschlechts und dem Naturzustand des Menschen« handelte die »Anthropologie der Naturvölker«, deren erster Band der Marburger Philosoph Th.Waitz (1858) herausgab, während nach dessen Manuskript der Straßburger Geograph G. Gerland die folgenden bis 1872 veröffentlichte als erste zusammenfassende Darstellung des damaligenWissens von den Völkern Afrikas, Amerikas und der Südsee. In den Verhandlungen der 1870 begründeten Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte sind die völkerkundlichen, volkskundlichen und sprachwissenschaftlichen Veröffentlichungen zunächst nur ebenso gelegentlich zu finden wie in denen der Berliner Gesellschaft ; das gleiche gilt von ihren Zeitschriften, mögen sie Archiv für Anthropologie (seit 1866) oder Zeitschrift für Ethnologie (seit 1869) heißen. Dagegen wird viel Arbeit auf die Anthropologie und die Prähistorie verwandt, denn hier eröffneten sich grundlegend neue Gesichtspunkte. Cuviers Kataklysmentheorie war überwunden, Lyells Autorität verschaffte den diluvialen Artefakten die seit Jahrzehnten erstrebte Anerkennung ; die von F. Keller und seinen verständnisvollen Landsleuten ausgebeuteten Schweizer Pfahlbauten führten im Gegensatz zu den Gräberfunden ein Stück Leben längst verschwundener Völker vor Augen aus einer Zeit, die weit vor der schriftlich belegten liegen mußte; schließlich erhielt der naturwissenschaftliche Transformismus durch Darwins Werke die Form, welche die herkömmlichen Anschauungen wandelte. Anthropologie und Prähistorie begannen in Deutschland ihren Weg gemeinsam im Zusammenhange mit naturwissenschaftlichen Gedankenkreisen und überwiegend geführt von Naturforschern und Ärzten, wie A. Ecker, K. Semper, R. Virchow, H. Schaafhausen, M. v. Holder, J. Kollmann, J. Ranke, die sich beiden Gebieten zuwandten, wobei ins Gewicht fiel, daß sie auch über die gründliche philologisch-historische Vorbildung des alten humanistischen Gymnasiums verfügten.

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Die Anthropologie.war zunächst mit der Ordnung des prähistorischen und rezenten Materials beschäftigt; die Frage nach dem »Stammbaum« des Menschen wollte sie durch Vergleichung von Menschen und Affen lösen. Der Versuch, Mikrokephale atavistisch aufzufassen oder ein farbiges Volk, etwa die Australier, an den Anfang der Reihe zu stellen, wurde bald aufgegeben, dagegen fand R. Virchow z. B. in Schläfenenge und Stirnfortsatz des Schläfenbeins pithekoide Merkmale und überwand mit diesen an wohlgebildeten Schädeln vorkommenden Erscheinungen die alte Vorstellung, die frühesten Menschen müßten besonders rohe Bildungen aufweisen. Die Untersuchung der Schädelformen, der man sich vor allem zuwandte, ergab zu den von A. Retzius in Stockholm aufgestellten Lang- und Kurzköpfen weiterhin Mittelköpfe sowie die Flach- und Hochköpfe. Aber die Terminologie haftete noch am Historischen. Zwar wurde rasch klar, daß ein »Friesen«-Schädel nur den Fundort, nicht aber die Zugehörigkeit angab, indessen bemühte man sich, die Gräberschädel den Germanen, Römern, Kelten, Slaven zuzuweisen. Erst Virchows Untersuchung der Augen- und Haarfarben bei Schulkindern ergab einen Überblick über ganz Deutschland, und nun zeigte die ungefähr zonale Verteilung der Farben mit dem Übergewicht der Blonden im Norden, der Braunen im Süden die Unabhängigkeit körperlicher von sprachlichen oder kulturellen Merkmalen. Die Aufstellung einer langköpfigen, blonden »nordischen« Rasse, einer kurzköpfigen, braunen »alpinen«, endlich einer langköpfigen, braunen »mediterranen« war das erste Ergebnis der Systematik. Auch eine biologische Frage tauchte auf: wenn im Flachland blonde Langköpfe, im Gebirge braune Rundköpfe stark überwogen, war dann nicht die Form durch die Umwelt beeinflußt? Allerdings waren große Wanderungen geschichtlich erwiesen, und die kulturelle Umwelt hatte sich offenbar gewandelt, dennoch bestanden die Rassen der Steinzeit anscheinend in der Gegenwart fort; daher trat vor allem J. Kollmann für die Konstanz der Rassen ein. Virchows Ablehnung allgemeiner Erblichkeit zu Gunsten einer partiellen, ferner seine Vermutung, die Zunahme der Schädelbreite von älteren zu jüngeren Gräberfeldern beruhe auf Kultureinfluß, wurde nicht verfolgt, ebensowenig biologische Gedanken, insbesondere über Umweltwirkung des Physiologen J. Ranke, der 1886 in München das erste anthropologische Ordinariat in Deutschland erhielt und ein vielgelesenes anthropologisch-prähistorisches Werk »Der Mensch« herausgab. Mancherlei Ergebnisse waren gewonnen, aber sie bedeuteten nur einen Anfang gegenüber der Fülle der Formen. Weiterhelfen konnte voraussichtlich dieVermehrung des Materials. Waren die rezenten Europäer ein Rassengemisch und darum schwer zu ordnen, so mochten reinere Rassen aus vorgeschichtlichen oder ausländischen Quellen erwartet werden, und in der Tat wuchs das »exakt« gesammelte Material außerordentlich; E. Schmidt bearbeitete zuerst altägyptische Schädel und bewies damit, daß in jener Jahrtausende zurückliegenden Zeit wesentliche Unterschiede gegenüber der Gegenwart nicht bestanden. Man suchte außerdem den Fortschritt durch Verfeinerung der Methoden; die von P. Broca stammende Anthropometrie ward ganz besonders gepflegt: A. v. Török veröffentlichte über zwei Ainoschädel ein an Maßen und Berechnungen überreiches Werk von 402 Druckseiten. Metrik und Massenstatistik mit ihrer Überschätzung der Zahl führten aber nicht weiter; 25

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eine leidlich befriedigende Systematik aller Rassen des Menschen schien unmöglich, und J. Deniker erklärte 1900, es gäbe in Wirklichkeit gar keine Rassen, sondern nur auf dem Papier stehende Konstruktionen. Was aus dieser Periode an Methoden und Ergebnissen brauchbar war, sammelte der Züricher Ordinarius für Anthropologie R. Martin in seinem wertvollen Lehrbuch der Anthropologie, das als erstes seiner Art 1914 erschien. Wesentlich geklärt wurde dagegen die Stammesgeschichte des Menschen gegen Ende des Jahrhunderts durch die Arbeiten und Hypothesen von H. Klaatsch und die scharfsinnigen Forschungen von G. Schwalbe, der nach eigner Methode die seit 1856 bekannten, aber trotz oft wiederholter Hinweise Schaafhausens verkannten Reste aus dem Neandertal bei Düsseldorf (1899) und weiterhin alle Funde diluvialer Menschen neu untersuchte; 1916 veröffentlichte er in der »Kultur der Gegenwart« eine Übersicht seiner Ergebnisse, die bis auf Einzelheiten allgemein angenommen wurden: Dem Formenkreis der Ostaffen gehören die miozänen Anthropoiden an, von denen auch die Anfänge der spezifisch menschlichen Formenbildung abzuleiten sind. Zwischenglieder nach dem Menschen hin sind der 1890/91 von E. Dubois auf Java gefundene Pithecanthropus erectus aus dem Ende des Tertiärs oder Anfang des Quartärs, ferner der ihm nahestehende Palaeanthropus Heidelbergensis aus frühdiluvialen Sanden bei Mauer, dessen Unterkiefer Schoetensack 1907 fand. An sie schließt sich morphologisch im mittleren Diluvium der von rund 20 europäischen Fundstellen bekannte Homo primigenius des Mousterien, auf den bereits imAurignacienHomo sapiens mit verschiedenen, z. T. altertümlich erscheinenden Formen folgt. Im übrigen ist der Mensch einheitlicher Abstammung und gehört der alten Welt an; aus ihr ist er in die neue als Homo sapiens eingewandert. Darwins und seiner Nachfolger Lehren von der Auslese und der Vererbung hatten in der deutschen Anthropologie wenig Beachtung gefunden, auch nicht P. Topinards biologische Einstellung oder später die grundlegenden Arbeiten von A. Weismann, H. de Vries und anderen um die Jahrhundertwende, trotz vereinzelter Ansätze, wie etwa dem Werk von O. Ammon über die Badener. Abgesehen von morphologischen Fragen, war die Anthropologie der Zoologie fremd geworden und hatte keine Beziehung zur experimentellen Biologie, so daß sie von Rassen handelte, ohne die Vorfragen z. B. nach ihrer Entstehung oder den Vorgängen bei ihrer Kreuzung zu erörtern, abgesehen von ganz vereinzelten Ausnahmen. Die Rassenbiologie, welche die Anthropologie theoretisch weiterführen konnte, war auf der anderen Seite eine Voraussetzung für das praktische Gebiet der Rassenhygiene, welche R. Ploetz etwa seit der Begründung seines Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 1904 führte. Sein Mitarbeiter F. Lenz, heute der international anerkannte Fachmann, gab dem Gebiet durch seine Arbeiten die zwingende Stellung gegenüber der Anthropologie; 1912 erklärte der Berliner Ordinarius für Anthropologie F. v. Luschan in einem Vortrage: »Wir müssen auf breiter Basis untersuchen, ob wir geistig und körperlich fortschreiten oder zurücksinken, und wir müssen feststellen, ob in der Masse des Volkes die Tüchtigen zunehmen oder die Untüchtigen«. Inzwischen hatte in Botanik und Zoologie die Mendelforschung die ersten Früchte getragen, die nun auch die Anthropologie beachtete. Am Anfang der neuen Periode steht hier das Werk von E. Fischer über die Rehobother Bastards und das

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Bastardierungsproblem beim Menschen 1913. Er suchte Material zur Erklärung der Vorgänge bei der Rassenkreuzung und fand es bei dem Völkchen, welches das Experiment der Kreuzung zwischen Hottentotten und Weißen verwirklichte. Der klaren Fragestellung entsprach das Ergebnis: die beiderseitigen Rassenmerkmale mendeln; eine präpotente Rassenvererbung gibt es nicht; Einzelmerkmale sind dominant, nicht Rassen; neue Rassen entstehen nicht durch Bastardierung. Nächst den körperlichen Merkmalen verweist Fischer ausdrücklich auf die geistigen, er führte die Anthropologie in Gedankengänge zurück, die A. Ecker bereits 1870 ausgesprochen hatte, und die sie später verließ, um gewiß nicht ohne Erfolge, aber doch ohne stetigen Fortschritt zu bleiben. Die biologische Richtung, welche die deutsche Anthropologie nach dem Kriege einschlug, will zunächst die verwickelten Vorgänge aufklären, aus welchen die Zustände und Befunde hervorgehen. Gelingt es dabei, Gesetzmäßigkeiten zu ermitteln, so wird später ein natürliches System an die Stelle der früher nur teilweise gelungenen logischen Ordnung der Formen treten, vielleicht R. Virchows ideales Ziel einer spezifischen Charakteristik der Hessen, Sachsen usw. erreicht werden können. Aus den neuen Gedankengängen heraus schrieb W. Scheidt seine »Allgemeine Rassenkunde« (1925). Unmittelbare praktische Bedeutung erlangen die Ergebnisse der Rassenbiologie für die Rassenhygiene, wenn sie die durch den Krieg und seine Folgen verschärften und hervorgerufenen ernsten Schäden des deutschen Volkskörpers bekämpfen soll. In welchem Maße der Aufbau der menschlichen Erblichkeits- und Ausleselehre gelingen und die rassenkundliche Untersuchung des deutschen Volkes durchführbar wird, hängt von den Kräften und Mitteln ab. Die genetischen Aufgaben, für welche vor Jahrzehnten Galton ein Institut in London schuf und Schweden 1900 ein weiteres unter Lundborgs Führung stellte, verfolgt in Deutschland das 1927 eröffnete Kaiser-Wilhelms-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik unter dem Ordinarius E. Fischer und den Abteilungsvorstehern H. Muckermann und O. v. Verschuer, 1929 wurde das Anthropologische Institut in Kiel unter dem Ordinarius O. Aichel eröffnet; hier wie an vielen anderen Stellen wird vor allem nach einheitlichen Gesichtspunkten an der Untersuchung der deutschen Bevölkerung gearbeitet, deren Ergebnisse in dem Sammelwerk: »Deutsche Rassenkunde, Forschungen über Rassen, Stämme, Volkstum und Familien im Deutschen Volk« erscheinen. D i e V o r g e s c h i c h t e hat sich zu der Wissenschaft von dem Kulturgut der vorgeschichtlichen Völker der alten Welt entwickelt. Sie begann mit der Loslösung von der literarischen Überlieferung, die sie dazu verleitet hatte, etwa bronzenes Grabinventar den Kelten zuzuschreiben, eisernes den Germanen; neue Gesichtspunkte zwangen bald zur Einstellung auf Zeiträume von Jahrtausenden vor den ältesten schriftlichen Quellen. Der Anfang ihres Bereichs verbindet die Vorgeschichte mit der Diluvial-Geologie und -Paläontologie, sein Ende läuft in die überlieferte Geschichte aus, deren zunächst spärliche und lückenhafte Angaben sie wesentlich zu ergänzen vermag. Innerhalb dieses Bereichs galt und gilt die erste Sorge einer auf Denkmäler angewiesenen Wissenschaft der Sicherung ihrer Quellen, zu denen nicht allein die Fundstücke, sondern auch die Fundumstände gehören: die Erfahrung von Jahrzehnten hat eine zuverlässige Technik der Beobachtung und 25*

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Bergung geschaffen, die heute auch sehr große Aufgaben zu bewältigen vermag. Zu den neuen Funden kamen die Bestände der Sammlungen, und alle diese Quellen bedurften der Ordnung. Die räumliche strebte die Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte schon 1872 an, indem sie die Herstellung von prähistorischen Karten in die Wege leitete. Die zeitliche Ordnung ergab sich zunächst durch die Übernahme des französischen Schemas für die Diluvialfunde und des Dreiperiodensystems, nach welchem Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit auf einander folgen. Beide blieben nicht unbestritten und bedurften der Anpassung an die deutschen Verhältnisse. Für das skandinavische Neolithikum hatte z. B. die Grabform das Einteilungsprinzip hergegeben, während in Deutschland die Keramik viel geeigneter erschien, um danach typische Formenreihen oder eine Zeitfolge zu erkennen; einzelne besonders geeignete Gegenstände, wie etwa die Fibel, die in der älteren Bronzezeit auftritt und bis in die nachchristliche Zeit reicht, dabei in ihrer Bindung an die Tracht ein häufiges Fundstück ist, werden zu Leitformen für Kulturstufen. Die Altertumskunde wurde zurPrähistorie. Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren die typologischen und chronologischen Grundlagen geklärt und der unerläßliche Denkmalschutz in Angriff genommen, allerdings mit zunächst geringem Erfolge, sieht doch ein älterer Entwurf für ein Ausgrabungsgesetz die Teilung eines »Schatzes« zwischen Grundeigentümer und Finder vor, — summum ius summa iniuria. Wenn im neuen Jahrhundert ein gewisser Schutz möglich ist, so liegt das nicht nur an brauchbaren Bestimmungen. Man verfolgte eine Zeitlang den Gedanken des staatlichen Zentralmuseums, eines Gelehrtenmuseums, das naturgemäß auf den Widerstand der örtlichen Museen und Privatsammlungen stieß und seine Aufgabe schon aus technischen Gründen nicht erfüllen konnte. Als die Unzweckmäßigkeit des Gedankens klar wurde, blühten zumal dieProvinzialmuseen auf, dazu die städtischen, die nun die Denkmäler ihres Gebietes sachgemäß erhalten konnten. Wesentlich für die Organisation der Forschung war endlich der Zusammenschluß der Prähistoriker in regionalen wissenschaftlichen Verbänden und der Beginn einer archäologischen Landesaufnahme, wie sie in der Ostpriegnitz durchgeführt, für SchleswigHolstein im Gange ist. Die wichtigste Ausbeute an vorgeschichtlichen Funden lieferten zunächst die Gräber, daneben Höhlen, auch Burgwälle und Pfahlbauten in Gewässern und Mooren. Einen entscheidenden Anstoß zur Erweiterung des Arbeitsgebiets gab die 1892 beginnende Limesforschung, aus der unter C. Schuchhardt die systematische Untersuchung vorgeschichtlicher Befestigungsanlagen und zuerst durch W. Kiekebusch die Erforschung der Siedelungen erwuchs. Ein Atlas vorgeschichtlicher Befestigungen liegt für Niedersachsen bereits vor, und seit 1927 arbeitet die »Burgwall-Gemeinschaft« systematisch östlich der Elbe. Nachdem einmal die Frage nach den Siedelungen gestellt war, die zu den Gräbern gehören mußten, wurden an vielen Orten auf dem festen Lande die Reste von Häusern, Gehöften und Dörfern der verschiedensten Zeiten gefunden, die außer Grundrissen auch Einzelheiten der Architektur erkennen ließen und eine Vorstellung von der Wirtschaft ihrer Bewohner vermittelten. In diesen Zusammenhang gehört die Aufdeckung der slavischen Heiligtümer von Arkona und Rethra 1921/22 und die auf-

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schlußreiche Untersuchung des durch lange Zeiten besiedelten und befestigten Goldbergs bei Nördlingen, die noch nicht abgeschlossen ist. So unentbehrlich die Lokalforschung ist, so wenig kann sie alle Probleme lösen. Die Frage nach der Herkunft der nordischen Bronze führte wohl, durch »indogermanische« Vorstellungen beeinflußt, aus Deutschland heraus nach dem Kaukasus und Indien, dann mit besserem Erfolge nach Italien; man nahm die Verbindung mit Österreich, Ungarn und Rußland auf; H. Schliemanns und seiner Nachfolger Grabungen in Troja ergaben weitreichende Verknüpfungen schon zu neolithischer Zeit; der in einzelnen deutschen Gebieten gefundene Glockenbecher wies nach Spanien, das wiederum Verbindungen mit Troja zu haben schien. Solche zunächst gelegentlich verfolgten Beziehungen versprachen wesentliche Erkenntnisse, und der preußische Kultusminister beauftragte daher das Museum für Völkerkunde in Berlin, europäische Vorgeschichte zu treiben. Daraus ergaben sich eigene Unternehmungen des Museums in Rumänien, Südrußland, Frankreich, England, Spanien, welche die deutsche Vorgeschichte in die großen Zusammenhänge hineinstellten. Über Europa hinaus und weit nach Asien reichen die Forschungen von Hub. Schmidt, G. v. Merhart, v. Bernegg und O. Menghin. Man kann heute wohl die Vermutung hören, grundsätzlich neue Formen von Fundstücken seien in Deutschland kaum mehr zu erwarten. Das ist zwar übertrieben, kennzeichnet aber den Eindruck, den die Fülle und zeitliche Verteilung des in den letzten Jahrzehnten gewonnenen Materials macht. In der Tat stellen sich etwa von 1900 an auch reiche paläolithische Entdeckungen ein, und die Lücke zwischen Paläo- und Neolithikum schloß sich durch immer zahlreichere mesolithische Funde. Die fortschreitende Vergleichung von Stücken der gleichen Periode ergab auf der einen Seite die Zerlegung bisher vereinigter Gruppen, so die Zuweisung der früher als »slavisch« angesprochenen »Lausitzer Kultur« zur Bronzezeit, auf der anderen die Erkenntnis, daß der rein typologischen Reihung der Formen nicht immer ein Nacheinander entsprach; innerhalb der großen Gruppen konnten verschiedene Formen auch nebeneinander vorkommen. Das führte dann zur Zerlegung großer räumlicher Gebiete in Kulturkreise, als deren Träger an Völker oder Völkergruppen zu denken ist. Von hier aus fand sich der Anschluß an die Ergebnisse der Sprachwissenschaft und an die geschichtlichen Überlieferungen, da vorgeschichtliche Fundgruppen sich räumlich mit ermittelten oder bezeugten Sprachgruppen oder Völkern deckten. G. Kossinna, der an der Berliner Universität 1902 den ersten deutschen Lehrstuhl für Vorgeschichte erhielt, hat sich um die Klärung solcher Zusammenhänge besonders bemüht. Wenn ein Wortspiel der Forschung die Aufgabe stellt, aus Prähistorie Historie zu machen, so genügte sie auch ihr; C. Schuchhardts »Alt-Europa« weist die Bewegungen von Völkern aller vorgeschichtlichen Zeiten auf, zumal die Kulturströme, die aus Europa nach Vorderasien führen. In Deutschland zeigte O. Montelius, daß seit dem Neolithikum nördlich und südlich der Ostsee die gleiche Kultur herrschte, also die gleiche Bevölkerung saß, bis in nachchristlicher Zeit die Gleichheit allmählich nachläßt und schließlich aufhört; R. Beltz wies an den Typenkarten nach, daß Mecklenburg bis in die jüngere Bronzezeit skandinavische Formen, danach ostelbische aufweist. In beiden Fällen müssen sich historische Vorgänge abgespielt haben. Daß in der

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Tat Kulturkreise Völker bedeuten, zeigt sich in England. Dort erscheint unvermittelt ein besonderes Grabinventar in dem Gebiet und zur Zeit der Einwanderung der Angeln; es schließt sich typologisch und chronologisch an dasjenige an, welches sich in Nordwestdeutschland findet und zu eben der Zeit eine starke Verminderung erfahrt. Die immer weiter verfeinerte Unterscheidung des Stoffes gestattet aber die Behandlung noch einer Reihe anderer Fragen. So werden die Wirkungen der Umwelt auf Siedelungslage und Wanderung, der Kampf um den Raum, untersucht von R. Gradmann, E. Wahle und anderen, die Anthropologie der Steinzeit erörtert zunächst A. Schliz und vollständiger W. Scheidt. Was die Vorgeschichte bisher in Europa, Nordafrika, West- und Nordasien leistete, zeigt Eberts 15bändiges Reallexikon der Vorgeschichte. Ein Menschenalter, nachdem sie zur selbständigen Wissenschaft geworden war, fand die Vorgeschichte ihren Platz in den Universitäten und die Verbindung mit der Schule; der Unterricht in Heimatkunde, den die neuen Lehrpläne vorsehen, gibt ihr einen weiten Wirkungskreis und in der Lehrerschaft eine große Zahl verständnisvoller Mitarbeiter. Wenn die V ö l k e r k u n d e mit den Werken von Waitz-Gerland und Bastian einen neuen Abschnitt beginnt und in dem ersten überwiegend eine ethnographische Stoffsammlung, im zweiten die ethnologische Behandlung einer Reihe von Themen findet, so ist beiden die ausschließliche Benutzung literarischer Berichte gemeinsam. Zu dieser Zeit fehlte der Völkerkunde die Hälfte der Quellen, nämlich die große Gruppe der Denkmäler. Zwar waren in mancherlei Museen und Sammlungen ethnographische Gegenstände vorhanden, aberdochnoch nicht wissenschaftlich lebendig geworden. Nun setzte die planmäßigeBeschaffung von Denkmälern ein. A.Bastian war 1868 zum Leiter der ethnographischen Abteilung der kgl. Museen in Berlin berufen worden und habilitierte sich im folgenden Jahre für Ethnologie an der Universität; in Leipzig plante E. Obst ein völkerkundliches Zentralmuseum, das 1872 eröffnet wurde und den Keim des späteren städtischen Museums bildete; 1878 wurden in Hamburg vorhandene Bestände zu einem selbständigen Museum für Völkerkunde vereinigt; anderwärts kam es zur Bildung völkerkundlicher Abteilungen in historischen oder naturwissenschaftlichen Museen, so in Dresden 1874. Als man den Neubau des Berliner Museums 1887 eröffnete, waren die außereuropäischen ethnographischen Sammlungen durch Bastians Verdienst bereits derart gewachsen, daß neben ihnen lediglich die anthropologischen und vorgeschichtlichen Platz fanden. Staatliche und private Mittel förderten den Ausbau des Museums, dem zahlreiche Forscher und Reisende dienten; Reichskolonialamt und Reichsmarineamt sandten Expeditionen aus in der einfachen Überlegung, daß eine Eingeborenenpolitik die Kenntnis der Eingeborenen voraussetze. Bald stand das Berliner Museum unerreicht da als eines der wenigen, die universalen Charakter hatten; von seinen Beamten errangen A. Grünwedel, F. v. Luschan, F. W. K. Müller, E. Seler internationalen Ruf; aus ihm kam K. Weule als Direktor und Ordinarius an das Leipziger und F. Gräbner als W. Foys Nachfolger an das Kölner Museum. Weitere Museen für Völkerkunde entstanden in Frankfurt a. M., Lübeck, München, Stuttgart, die in gleicher Weise arbeiteten; die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung veranstaltete 1908—10 eine völkerkundliche Schiffsexpedition nach dem BismarckArchipel und den Karolinen, die im ersten Jahre F. Fülleborn, im zweiten A. Krämer

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führte. Angehörige der verschiedensten Berufe erscheinen als Reisende und Sammler, vor allem Naturforscher und Ärzte, die durch ihren Beruf für die vorurteilslose Beobachtung besonders vorbereitet sind; später widmen sich geschulte Ethnographen der Außenarbeit, und seit etwa 1900 genießt die Völkerkunde in steigendem Umfange die Mitarbeit von Missionaren, die — eine angemessene Vorbereitung vorausgesetzt — durch ihre Sprachkenntnis und den jahrelangen Aufenthalt unter einem Volke Dinge zu erkunden vermögen, die dem meist zeitlich beschränkten Reisenden entgehen. Genügten in den ersten Jahren immerhin für die einfachsten wissenschaftlichen Fragen auch kaum bestimmte Denkmäler, so wurde es sehr bald notwendig, sie im Zusammenhang mit dem Weltbild, den gesellschaftlichen Zuständen, der Wirtschaftsform, den religiösen Vorstellungen, kurz der geistigen Struktur, deren Ausdruck sie waren, kennen zu lernen, wenn die Binnenarbeit der Museen fortschreiten sollte. Schon 1895 konnte der Leipziger Geograph F. Ratzel seine dreibändige Völkerkunde veröffentlichen, die den außerordentlichen Zuwachs an Quellen jeder Art und den Fortschritt ihrer Behandlung in 25 Jahren erkennen ließ. Die theoretische Verwertung der Befunde ähnelte zuerst der der Vorgeschichte. Man ordnete die Dinge in Reihen, die von den einfachsten Formen ausgehen, verfolgte die Wandlung des Stabes auf der einen Seite zum Speer, auf der anderen zur Keule und zeigte an einer fortlaufenden Reihe die Wandlung eines figürlichen Ornaments in ein lineares; man stellte die vielgestaltigen Wirtschaftsformen in das Schema Jäger—Viehzüchter—Ackerbauer oder die Religion unter den einheitlichen Gesichtspunkt des Animismus. Das waren logische Ordnungen, und erst der herrschende Entwicklungsgedanke gab ihnen eine genealogische Bedeutung, die tatsächlich meist noch zu erweisen gewesen wäre, zumal manche Reihen Formen ganz verschiedener ethnischer Herkunft enthielten. Ein wesentlicher Fortschritt erfolgte von der Geographie her. F. Ratzel behandelte 1887 die Verbreitung von Bogen und Pfeil in Afrika, und von da an bürgerte sich die kartographische Darstellung der Verbreitung eines Kulturelements rasch ein. 1898 zeigte L. Frobenius, daß eine größere Zahl von Elementen in Afrika die gleiche Verbreitung habe, und nannte eine solche Gruppe »Kulturkreis«. Dabei ergab sich ferner, daß gewisse afrikanische Elemente mit indo-ozeanischen übereinstimmten, wie dies kurz zuvor F. Ratzel für Bogen und Speer gefunden hatte. Zur Erklärung solcher Übereinstimmungen über weite Gebiete wurdenWanderungen herangezogen, und L. Frobenius wies nach, daß die Kulturelemente nicht einzeln, sondern als Kulturkreis wandern. Damit war zwar eine räumliche Vorstellung gewonnen, aber es blieb zunächst bei dem Querschnitt. F. Ratzels Forderung nach der Umwandlung des räumlichen Nebeneinander in ein zeitliches Nacheinander entsprach 1904 B. Ankermann, der Kulturkreise und Kulturschichten in Afrika behandelte, während auf seine Veranlassung F. Gräbner sie in Ozeanien nachwies. Mit diesen und anderen gleichartigen Arbeiten waren die Probleme der Kulturbeziehungen und der Kulturchronologie spruchreif geworden. F. Gräbner hat sie 1911 in seiner »Methode der Ethnologie« dargestellt. W. Schmidt und W. Koppers sowie ihre Mitarbeiter verfolgten die Probleme der Kulturkreise weiter und stellten die Ergebnisse 1924 in ihrem Werke »Völker und Kulturen« dar. Danach gibt

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es drei Urstufen, ihnen entsprechen weiterhin drei selbständige Kulturkreise, schließlich entstehen durch Vermischung mindestens eines dieser primären Kulturkreise mit einem anderen oder mit einer Urstufe sekundäre; sie alle können wandern. Man hat wohl einen Gegensatz konstruiert zwischen dieser Methode, die ausgiebig Wanderungen annimmt, ohne allerdings stets ihre Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit zu erweisen, undA. Bastians psychologischer Auffassung, wobei sich im Meinungsstreit als Schlagwort »Historismus gegen Evolutionismus« oder »Erfindung gegen Entlehnung« der Kulturgüter ergaben. Immerhin wird nicht zu leugnen sein, daß die Entstehung sekundärer aus primären Kulturkreisen auch Entwicklung genannt werden kann, daß es ferner nicht auf Erfindung oder Entlehnung ankommt, sondern darauf, ob ein Volk das endogen erfundene oder herangetragene exogene Kulturgut aufnimmt oder ablehnt. A. Bastian nahm schon vor Jahrzehnten auf Grund der gleichen psychischen Anlage der Menschheit eine Reihe von »Elementargedanken« an, so daß aus dem gleichartigen Denken unter gleichen Bedingungen gleiche Kulturformen entstehen müssen; die auf einzelne Völker beschränkten Kulturelemente dagegen würden durch Besonderheiten des Raumes bedingt, d. h. sie wären Ergebnis von »Völkergedanken« innerhalb einer »geographischen Provinz«. Leider hat Bastian es nicht vermocht, seine Gedanken zu verfolgen. B. Ankermann weist aber 1926 mit Recht daraufhin, daß »Kulturkreis« vom ethnographischen, »Völkergedanke« vom psychologischen Standpunkt dieselbe Sache sind; ähnlich entsprechen sich A. Bastians »Elementargedanken« und F. Ratzels »Allgemeinbesitz«. Gleichgültig ob man die eine oder die andere Grundstellung einnimmt, bedeutet die Ausbildung eigner Kulturgüter aus Völkergedanken oder die Verschmelzung zweier Kulturkreise einen Vorgang, der zwei Zustände verknüpft, psychologisch gesprochen einen Kulturwandel, wie ihn schon der Soziologe A. Vierkandt 1908 in wesentlichen Zügen dargestellt hat. Die Völkerkunde hat rasch Einfluß gewonnen auf alle kulturgeschichtlichen Gebiete, außer den ihr zunächststehenden, Vorgeschichte und Volkskunde, zumal auf Soziologie, Wirtschaftswissenschaft, vergleichende Rechts- und Religionsgeschichte, und ihre gedruckten Quellen sind allgemein zugänglich. Aber ihre Archive sind in der Hauptsache die Museen, die von vornherein eine doppelte Aufgabe als wissenschaftliche Forschungs- und zugleich öffentliche Bildungsstätten haben. Der letztere Aufgabenkreis schließt sie eng an die wissenschaftlichen Museen an, deren Entwicklungsgang auch der ihre wurde, insofern sie vomGelehrtenmuseum ausgingen und heute bei der Trennung einer Studiensammlung von der didaktisch eingerichteten Schausammlung angelangt sind, die zuerst von 1912 ab in Hamburg durchgeführt wurde. Ihr Charakter als Archive beeinflußt auch ihre Stellung zur Hochschule. Zwar kann man Völkerkunde mit einer Bibliothek und einer Lehrsammlung von einigen Hundert Denkmälern lehren; wenn aber zugleich der Forschung gedient werden soll, werden von einem gewissen Punkte ab die Archive notwendig, und so bestehen mit den Direktoraten der Museen verbundene Ordinariate für Völkerkunde in Hamburg und München, während in Berlin, Frankfurt a. M., Köln, Leipzig, Stuttgart, Tübingen die notwendige Verbindung in anderer Weise hergestellt wurde.

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Gegenüber der hologäisch eingestellten Völkerkunde ist die V o l k s k u n d e national gebunden. Wenn erst vor einem Menschenalter annähernd geklärt wurde, was unter Anthropologie und Ethnologie zu verstehen sei, so währt ungefähr ebenso lange der Meinungsaustausch darüber, was Volkskunde bedeute. 1891 schrieb K. Weinhold: »Die Volkskunde ist zur Zeit noch im Werden. Nur durch exakte Forschung und richtige Methode kann sie zur Wissenschaft sich erheben«. Heute sind diese Bedingungen erfüllt, mögen auch im einzelnen noch Verschiedenheiten der Auffassung bestehen. Wesentlich für die Entwicklung der deutschen Volkskunde wurde zunächst ihre enge Verknüpfung mit der Germanistik. Deren Erfahrungen bei der Erforschung sprachlichen Lebens befruchteten die Volkskunde, die ähnlich vorzugehen begann. Man stellte das Material der Gegenwart in den Vordergrund und suchte aus ihm und der Beobachtung seines Lebens das Werden und Sein volkskundlicher Erscheinungen überhaupt zu erforschen, wobei die Auswahl und Umformung des aus der Oberschicht in die unteren Kreise des Volkes gedrungenen Materials wichtigste und zuverlässigste Beobachtungen ergeben mußten. Die Erkenntnis von Wesen, Umfang und Ziel volkskundlicher Forschung wurde zunächst auf dem Gebiete der Volksliedforschung gefördert und der Nachweis erbracht, daß die unteren Schichten des Volkes im wesentlichen nicht neue Ideen und Formen schaffen, sondern solche von anderer Seite, zumeist wohl von der Oberschicht des eigenen Volkes, übernehmen und nach den eigenen Geistes- und Geschmacksbedürfnissen selbsttätig umgestalten. So wies J. Meier für nicht weniger als 567 deutsche Volkslieder ihre Herkunft aus der Oberschicht nach. Anderweitig wurde dann noch ergänzend auf die stark hervortretende assoziative Denkart des Volkes hingewiesen und der darin liegende Unterschied zwischen Volk und Oberschicht hervorgehoben. Beide Ideen haben sich dann in der schlagwortähnlichen Formulierung »Primitives Gemeinschaftsgut und gesunkenes Kulturgut« weite Zustimmung zu erringen vermocht, obwohl diesen Worten eine gewisse Unklarheit anhaftet. Während die Forschung auf dem Spezialgebiet des Volksliedes, vor allem auch nach der methodischen und entwicklungsgeschichtlichen Seite, sich in Breite und Tiefe entwickelt, bemüht sich die Sagenforschung neuerdings um die psychologischen Grundlagen für die Sagenbildung und die Gesetze der Sagenverbreitung, so daß auch hier Neuland gewonnen wird. In der Märchenforschung hat man ebenso die Annahme eines gemeinsamen arischen Ursprungs wie die einer indischen Herkunft (Th. Benfey) als unrichtig erkannt und weiter gesehen, daß auch von einer Polygenese des Märchens nicht die Rede sein kann, sondern daß seine literarische Kunstform einmal irgendwann und irgendwo entstanden und von diesem Entstehungspunkte aus gewandert ist. Nur die einzelnen Bestandteile und Motive können durch Polygenese entstanden sein. Die finnische Wissenschaft hat zuerst begonnen, aus den zahllosen Erscheinungsformen der einzelnen Märchen die Grundformen herauszuschälen und deren Heimat, Ursprung und Wanderungen festzustellen. Diese Methode ist im Ganzen auch von deutschen Gelehrten übernommen und in eigener Arbeit ausgestaltet worden.

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Zu der geschriebenen und »ungeschriebenen« Literatur, die längst vor den Brüdern Grimm Gegenstand der Sammlung und Forschung war, traten seit etwa 50 Jahren die Realien hinzu, die ebenso als Ausdruck einer geistigen Struktur zu beurteilen sind und die Probleme des Gemeinschaftsguts oder des Wechselspiels zwischen »Mutter- und Tochterschicht«, der Wanderung und selbständigen Schöpfung stellen. Neben mancherlei kleinen örtlichen Sammlungen gewann das Museum in Berlin maßgebende Bedeutung, nicht zum wenigsten, weil es von vornherein den großen Rahmen vorsah, der die Vergleichung ermöglicht. Als das Museum für Völkerkunde vorbereitet wurde, beantragte der Vorstand der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, darin eine besondere nationale Abteilung für deutsche Trachten und Geräte zu schaffen. Bei der Einrichtung des Museums erwies sich der Raum als unzulänglich, und so entstand unter der Führung von R. Virchow zunächst als Sammlung eines privaten Vereins das »Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes«, das sich von Anfang an der Förderung durch das preußische Kultusministerium erfreuen konnte und 1903 als »Sammlung für deutsche Volkskunde« verstaatlicht wurde. Parallel ging der Ausbau volkskundlicher Abteilungen in den Provinzialmuseen; die sachlich abwegigen Museen für Volkskunst blieben zum Glück vereinzelt. Erst im Besitz beider Gruppen von Quellen verfügte die Volkskunde über ihr ganzes Gebiet, und R. Meringer schlug mit seiner Zeitschrift »Wörter und Sachen« ein Brücke zwischen ihnen. Die neuerdings eingeleiteten Stoffsammlungen unterscheiden sich von den früheren romantisch und subjektiv gefärbten durch ihre objektive Einstellung. Das auf geistigem und sachlichem Gebiete Gesammelte wird zeitlich und örtlich genau gekennzeichnet, und bei der Aufnahme werden biologische Gesichtspunkte eingehend berücksichtigt. Diese Sammelaufgabe in umfassenderWeise und in der notwendigen Weite des Raumes und Engmaschigkeit des Netzes durchzuführen, konnte nicht das Werk einzelner Persönlichkeiten sein, sondern mußte einer größeren Organisation vorbehalten bleiben, die auch die wissenschaftlichen Richtlinien für die zumeist von Laien zu leistende Arbeit aufstellte. Vor allem für derartige Aufgaben wurde 1904 der Verband deutscher Vereine für Volkskunde gegründet. So nahm er die Sammlungen der Zauber- und Segenformeln in Angriff und wandte sich weiter zu einer Sammlung der deutschen Volkslieder auf dem gesamten deutschen Kulturboden, zu deren Durchführung er 1914 das Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg i. Br. gründete, dem sich 1917 eine musikalische Abteilung in Berlin anschloß. Da das Unternehmen die finanziellen Kräfte des Verbandes überstieg, wandte er sich schon im Jahre 1908 an den deutschen Kaiser und an das preußische Kultusministerium wie an die Ministerien der übrigen Länder und die preußischen Provinzen. Wenn diese Versuche von Erfolg gekrönt waren, so ist das insbesondere dem preußischen Kultusministerium zu danken. Auch auf weiteren Gebieten wurden neue Forschungsaufgaben gestellt: der Verband deutscher Vereine für Volkskunde suchte eine Geschichte der deutschen Volkstrachten ins Leben zu rufen, während von anderer Seite die Erforschung des deutschen Bauernhauses begann.

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Allen diesen Bestrebungen kam es wesentlich zugute, daß in neuerer Zeit die Regierungen der deutschen Länder die Wichtigkeit volkskundlicher Erkenntnisse für die Allgemeinheit und den Unterricht erkannten; seit 1919 ist O. Lauffer in Hamburg Ordinarius für Deutsche Altertums- und Volkskunde, an anderen Universitäten wurden Lehraufträge für Volkskunde geschaffen und im Unterricht aller Schulgattungen die Volkskunde weitgehend berücksichtigt. Die junge Wissenschaft erfuhr in letzter Zeit noch einen besonders kräftigen Anstoß zur Weiterentwicklung von der Sprachgeographie. Seit mehr als 25 Jahren hatte der »Deutsche Sprachatlas« in Marburg eine Sammlung vorzugsweise lautlichen Materials durch ganz Deutschland durchgeführt, deren Ergebnisse er in kartographischer Form veröffentlicht hat. Das Beispiel des Sprachatlas und ähnliche Versuche, die von historischer Seite, vor allem im Rheinland, gemacht wurden, regten dazu an, einen »Atlas der deutschen Volkskunde« zu schaffen, der eine gleiche Befruchtung und Weiterentwicklung auch der volkskundlichen Wissenschaft bringen sollte. Es galt für einen Zeitpunkt, die Gegenwart, eine Anzahl sorgfaltig ausgewählter volkskundlicher Erscheinungen auf dem gesamtdeutschen Kulturgebiete in einem engmaschigen Netz aufzunehmen. Die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft beschloß in der Erkenntnis der Notwendigkeit und Bedeutung des Werkes, das ganze Unternehmen ihrerseits durchzuführen: sie wollte die berufenen Gelehrten zu einer Gemeinschaftsarbeit zusammenführen, die leitenden Stellen in Regierung und Kirche zur Förderung des Werkes veranlassen. Im Frühjahr 1930 sind die ersten Fragebogen hinausgegangen und werden jetzt nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich, Ungarn, der Tschechoslowakei und anderen Ländern von der deutschsprachigen Bevölkerung beantwortet. Die örtlichen Arbeitsorganisationen werden — das ist wohl auch der letzte Gedanke des Hauptförderers dieses Unternehmens — über die nächste Aufgabe hinaus fortleben und sich als dauernde Arbeitsstellen für Sammlung und Forschung auf dem Gebiete der deutschen Volkskunde erhalten. Der Zusammenhang zwischen dem deutschen Sprachatlas und dem geplanten Volkskundeatlas beruht im Grunde darauf, daß Geräte oder Sitten ebensosehr Teile des Kulturbesitzes sind, wie Sprache und Dialekt und irgendwie räumlich verbreitet sind. Daher hat auch W. Schmidt 1926 versucht, Linguistik und Ethnologie grundsätzlich eng mit einander zu verbinden, indem er den von ihm und seinen Mitarbeitern aufgestellten Kulturkreisen bestimmte Sprachkreise zuordnete. Zwar stehen beide Wissenschaften diesem Unternehmen noch abwartend gegenüber, aber zweifellos ist es ein Symptom für das Bedürfnis nach einer Synthese, und ein solcher Versuch ist überhaupt erst möglich, seitdem die E r f o r s c h u n g der E i n g e b o r e n e n s p r a c h e n zuverlässige Quellen beschafft und gewisse allgemeine Ergebnisse erarbeitet hat. Man versteht heute unter »Eingeborenensprachen« die von Europäern aufgezeichneten Sprachen schriftloser Völker, aber eine sie alle vereinende Wissenschaft fehlt noch. Die schriftlosen Sprachen Asiens suchen den Anschluß an die dort und in Europa gesprochenen Kultursprachen, während die Sprachen Amerikas

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eine wissenschaftliche Zusammenfassung trotz mancher Einzelarbeiten noch nicht gefunden haben. Streng genommen kann heute erst von einer Afrikanistik und einer indo-pazifischen Sprachforschung die Rede sein, die bereits ihre eigenen Wege gehen, obgleich die Erforschung dieser Sprachen ihre wissenschaftliche Selbständigkeit nach Gebieten, Methoden und Problemen erst in den letzten Jahrzehnten errungen hat. Daran ändert nichts, daß schon in der Entdeckerzeit Aufzeichnungen aus fremden Sprachen erfolgten, daß der im vorigen Jahrhundert sich entwickelnde Weltverkehr weiterhin die Arbeit der Missionen und die Kolonialpolitik zu der Beschäftigung mit den Sprachen der Eingeborenen zwangen. Man begann mit der Erforschung von Einzelsprachen nach dem Muster der europäischen Schulgrammatik und mit der Anlegung von Wörterverzeichnissen und ist bei dieser philologischen Methode bis in die Gegenwart meistens geblieben. Dieses Material ist sehr reichhaltig, aber ungleichwertig. Die brauchbarsten Werke behandeln Eingeborenensprachen Afrikas und der Südsee. Für Afrika sind hervorzuheben: Die Grammatik und das Wörterbuch des Sotho von C. Endemann (1876 und 1910), die Darstellungen des Tschi von Christaller (1881), des Ewe von D. Westermann (1907), des Schambala von Röhl (1911) sowie die Werke von L. Reinisch (f 1919) über eine Anzahl von Sprachen im Nordosten des Kontinents. Für Indonesien und die Südsee liegen Werke von dauerndem Werte vor, z. B. von Hardeland über das Dajak (1859), von van der Tuuk über das Toba-Batak (1861), von Adriani über das Sangir (1893), von Hanke über das Bongu (1909) und von Keysser über das Kate (1925). Dazu kommen umfangreicheTextsammlungen u. a. für Afrika von Spieth aus dem Ewe (1906), von Kootz- Kretschmer aus dem Safwa (1929), für Indonesien von Adriani aus dem Sangir (1894), von Schwarz aus dem Tontemboan (1907), ferner aus dem Tagalog (1917) von Bloomfield, der mehr als andere Sprachforscher neue linguistische Methoden angewandt hat, um der Eigenart fremder Eingeborenensprachen gerecht zu werden. Auch aus Amerika liegen wertvolle Textsammlungen vor, so aus Nordamerika von F. Boas und seinen Schülern, aus Mittelamerika von K. Th. Preuß. Bereits 1877 hat F. Müller die ihm zugänglichen Ergebnisse solcher Einzelforschungen über schriftlose Sprachen in seinen Grundriß der Sprachwissenschaft hineingearbeitet, erst 1924 haben Meillet und Cohen dieses Unternehmen in ihrem Sammelwerk »Les Langues du Monde« wiederholt. Aber eine summierende Darstellung noch so reichlichen Materials kann nicht den Anspruch erheben, eine besondere wissenschaftliche Disziplin zu sein. Erst die vergleichende Ordnung linguistischer Tatsachen mit exakten Methoden, die zur Problemstellung über die kulturhistorischen Zusammenhänge führt, und die sich an die Lösung solcher Probleme heranwagt, berechtigt die Erforschung der Eingeborenensprachen, sich als selbständigen Teil der Sprachwissenschaft zu fühlen. Vorbild ist hierbei nicht mehr die Philologie, sondern die vergleichende historische Sprachforschung gewesen, und auf ihren Ergebnissen fußend, hat bereits W. v. Humboldt die malaio-polynesische Sprachfamilie der indogermanischen gegenübergestellt. Es hat indessen lange gedauert, bis man über Humboldt hinauskam und neben manchen Irrwegen und Trugschlüssen solche Methoden und Ergebnisse erzielte, die strenger Prüfung standhalten.

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Beim Studium der einzelnen Eingeborenensprachen und auch bei ihrer vergleichenden Bearbeitung stellte sich heraus, daß die traditionelle, rein geisteswissenschaftliche Betrachtungsweise nicht genügte. Früher zeichnete jeder Europäer die Sprache von Eingeborenen derart auf, daß er die Laute, die er hörte oder zu hören glaubte, in seiner heimischen Schrift wiedergab; solche Aufzeichnungen miteinander zu vergleichen, ist meist wertlos. Später erkannte man, daß neben einer von der europäischen verschiedenen Grammatik die Eingeborenensprachen auch Laute und Lautverbindungen besitzen, die dem Europäer fremd sind. Das nötigte zur genauen Beobachtung der Lautvorgänge und zur Verwendung naturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden neben den herkömmlichen geisteswissenschaftlichen. Die richtige Aufzeichnung einer Eingeborenensprache setzte nunmehr eine besondere Schulung des Beobachters voraus, die ihn zum richtigen Hören und eigenen Nachbilden der Laute anleitete. Auf der anderen Seite konnten nur Eingeborene als Sprachquellen benutzt werden, also einzelne nach Europa gebrachte Leute, aber besser noch erfolgte die Aufnahme im Lande selbst durch Linguisten und sprachlich geschulte Missionare. Einen starken Antrieb gewannen diese Studien durch die deutsche Kolonialpolitik. Aus der Notwendigkeit, neben den großen Kultursprachen des Ostens auch die schriftlosen Sprachen der deutschen Kolonien zu erforschen und zu lehren, entstand 1887 das Seminar für Orientalische Sprachen zu Berlin, und C. G. Büttner, ein früherer afrikanischer Missionar, wurde als Lehrer des Suaheli dahin berufen. Es war für alle Folgezeit bedeutsam, daß der Unterricht im Suaheli unter steter Mitwirkung eines Eingeborenen erteilt wurde, so daß die lebendige Sprache Gegenstand der Forschung und der Lehre war. Büttner gelang es aber auch, die fast unbekannte, arabisch geschriebene SuaheliLiteratur zugänglich zu machen. In den Lehrbüchern und den Mitteilungen des Seminars sowie im Archiv für Kolonialsprachen wurden afrikanische und Südseesprachen grammatisch und lexikographisch behandelt. Man begann auch bereits, durch einen Unterricht in Phonetik das Studium weiterer ungeschriebener Sprachen vorzubereiten. Neuerdings wurde das Seminar reorganisiert und D. Westermann zum Ordinarius für afrikanische Sprachen an die Berliner Universität berufen. An dem 1908 errichteten Hamburgischen Kolonialinstitut wurde die erste deutsche Professur für afrikanische Sprachen errichtet und C. Meinhof übertragen, 191 o im Anschluß an sie ein eigenes Laboratorium für Experimentalphonetik begründet, das G. Panconcelli-Calzia leitet. Mit dem Übergang auf die 1919 errichtete Universität erhielt das zugehörige Seminar zu der afrikanischen eine Abteilung für Südseesprachen unter O. Dempwolff; die »Zeitschrift für Kolonialsprachen« wurde als »Zeitschrift für Eingeborenensprachen« fortgeführt, der Phonetik dient die Zeitschrift»Vox«. Erst später folgten Amerika und England dem Beispiel Deutschlands. Den Einrichtungen in Berlin und Hamburg entsprechend, zu denen noch Lehrstühle in Leipzig und Wien treten, hat Deutschland einen großen Anteil an der Erforschung der Eingeborenensprachen Afrikas und der Südsee, den beiden Gebieten, für die, abgesehen von allen anderen, auch anerkannte Leistungen der Sprachvergleichung bereits vorliegen. Nachdem 1869 Bleek die erste vergleichende Grammatik der Bantusprachen veröffentlicht hatte, ist es 30 Jahre später C. Meinhof gelungen, die Lautlehre (1899)

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und die Grammatik (1906) dieser Sprachfamilie dadurch auf eine sichere Vergleichsbasis zu stellen, daß er für sie eine Ursprache, das Urbantu, aufstellte. Er hat damit das hauptsächlichste Mittel der historischen Sprachforschung auch auf schriftlose Sprachen anzuwenden gelehrt. Er konnte ferner eine Anzahl anderer afrikanischer Einzelsprachen zu einer Gruppe als Hamitensprachen zusammenfassen (1912). Die gleiche Arbeit hat D. Westermann für eine dritte Gruppe, die Sudansprachen, geleistet (1911). Auf dem Gebiet Indonesiens ist vor allem Brandstetter bahnbrechend geworden, indem er in zahlreichen Monographien (seit 1893) die besonders durch niederländische Gelehrte betriebene Vergleichung von Einzelsprachen dadurch methodisch begründete, daß er eine indonesische Ursprache ausarbeitete. Dieses Urindonesische ist neuerdings durch Dempwolff (seit 1920) modifiziert und zum Uraustronesischen erweitert worden, indem er anschließend an die Arbeiten von v. d. Gabelentz (1860), Kern (1883), Godrington (1885), W. Schmidt (1899) und von anderen die melanesischen und polynesischen Einzelsprachen in lautgesetzliche Beziehung zu den indonesischen Sprachen brachte. Die Sprachen der Molukken haben dann durch E. Stresemann in der austronesischen Sprachfamilie ihren besonderen, lautgesetzlich begründeten Platz erhalten (1927). Der Anschluß an andere Disziplinen der Sprachwissenschaft bleibt ebenso gewahrt wie die Fühlung mit der Völkerkunde. Ein Beispiel für den ersteren ist das Problem der Beziehung der Hamitensprachen zu den semitischen (C. Meinhof, A. Klingenheben u. a.) oder das Problem des Einflusses vorderindischer Sprachen auf das Indonesische (W. Aichele u. a.). Mit der Völkerkunde steht die Erforschung der Eingeborenensprachen von jeher in Wechselwirkung: sie empfängt von jener die Aufklärung über materielle Kulturgüter, über die Sachen, die zu den Wörtern gehören, sie liefert ihr die Texte über geistige Kultur, Lieder und Märchen, Sittenschilderungen und religiöse Beschreibungen. Mit diesen stellt sie sich auch der Märchenforschung und der Rechts- und Religionswissenschaft zur Verfügung. Als die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft ihre Fachausschüsse ordnete, faßte sie Anthropologie, Ethnographie, Vorgeschichte, Volkskunde und Eingeborenensprachen zusammen zu dem Fachausschuß »Völkerkunde« und stellte ihn zwischen die historischen und die Naturwissenschaften. Die Zusammenfassung entsprach der äußeren Entwicklung, welche die fünf Wissenschaften in den letzten 50 Jahren durchliefen: Zunächst von Vertretern anderer Gebiete gepflegt und langsam fortschreitend, erlangen sie ihre Selbständigkeit; sie bilden ihre Methoden aus und finden ihre eigenen Probleme, erweisen ihre Bedeutung und werden schließlich an Hochschulen von Fachleuten vertreten, was ihren Bestand und Wirkungsbereich sichert. Aber die Verknüpfung reicht wesentlich weiter. Enger mit einander verbunden sind drei dieser Wissenschaften, die an Kulturgütern ihre Probleme mit z. T. naturwissenschaftlichen Methoden verfolgen: Vorgeschichte, Ethnologie und Volkskunde. Man hat die Vorgeschichte als PaläoEthnologie bezeichnet, und das entspricht den Tatsachen; sie ging von Westeuropa aus, hat aber ihr Gebiet bis zum Stillen Ozean erstreckt, und es ist nur in der Geschichte begründet, daß die amerikanische Archäologie oder die Steinzeit Mittelund Südafrikas von der Völkerkunde gepflegt werden; sobald die Vorgeschichte an

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die Deutung ihres Stoffes und die Rekonstruktion der Kulturen herangeht, kann sie der völkerkundlichen Ergebnisse nicht mehr entraten; irgendwann geht Vorgeschichte in Volkskunde über. Die national gebundene Volkskunde wiederum ist Ethnographie und, sofern sie zu einer internationalen Vergleichung fortschreitet, Ethnologie. Die Völkerkunde heute noch willkürlich auf bestimmte Völker zu beschränken, ist angesichts ihrer Probleme unmöglich, aber manche Volkskunde ist der Völkerkunde insofern voraus, als in »exotischen« Völkern sich erst unter europäischem Einfluß die zivilisierte Oberschicht bildet und eine einheimische Literatur entsteht, die wiederum schwerlich zustande käme ohne die Erforschung der Eingeborenensprachen, die in ihrer Eigenart unentbehrlich für die Erkenntnis der Denkweise der Völker sind. Und hier begegnet sich auch die Völkerkunde wiederum mit der Volkskunde. Wenn diese sich mit allen Erscheinungen des Volks befassen soll, in denen sich assoziative Denkweise offenbart, also keineswegs auf das »vulgus in populo« beschränkt bleibt, sondern in die Oberschicht hineingreift, so deckt sich ihr Bereich weitgehend mit dem der Völkerkunde, die gleichfalls die Schicht der wissenschaftlichen Denkweise nicht ausschließt. Eben diese psychologische Einstellung der vom Kulturgut ausgehenden Wissenschaften verbindet sie mit der Anthropologie unbeschadet aller Sonderprobleme. Für die Völkerkunde ist die Frage, ob sie die Menschen selbst zu berücksichtigen habe, nicht allgemein und endgültig verneint, und die Volkskunde sollte die Menschen nach K. Weinhold ausdrücklich einschließen. Solche Definitionen beruhten nicht so sehr auf theoretischen Überlegungen als auf der Erkenntnis, daß Kulturen keine selbständig lebenden Organismen sind, sondern Menschen und Völker als Träger und Gestalter voraussetzen. Wenn immer Vorgeschichte, Völkerkunde, Volkskunde, Sprachwissenschaft ihren Stoff in eine Abfolge von Zuständen gliedern, geschieht es auf Grund des Typischen, d. h. der Formen, die eine Gesamtheit oder eine Mehrheit zu einer Zeit besitzt. Die Frage nach der Ursache der Wandlung von einer Stufe zur anderen, also von Vorgängen, führt notwendig zu der weiteren nach der Wandlung der Menschen, also auch in die biologischen Probleme der Vererbung und Auslese, welche die Rassenkunde verfolgt, wenn sie körperlichen und geistigen Formen nachgeht. Auch sie sucht nach dem Typischen einer gegebenen Bevölkerung, aber sie kann vor der Frage nach deren Schichtung nicht Halt machen und wird darum auch die Minderheiten und die Einzelnen zu berücksichtigen haben, von denen, ein Kulturwandel ausgeht; das gemeinsame Problem führt die Anthropologie zunächst mit Völker- und Volkskunde zusammen. Zu den zahlreichen einzelnen Untersuchungen, welche die Notgemeinschaft den im Fachausschuß »Völkerkunde« verbundenen Wissenschaften ermöglichte, zu den beiden großen Unternehmungen der rassenkundlichen Untersuchung des deutschen Volkes und des Volkskundeatlasses tritt damit als weitere eine anthropologisch-ethnologische Gemeinschaftsarbeit.

FRITZ VON WETTSTEIN BIOLOGIE Die mächtige Entwicklung eines Teiles der biologischen Wissenschaften in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde besonders durch zwei Momente angeregt, die Deszendenztheorie Darwins und die Fortschritte der mikroskopischen Technik. Bis in scheinbar weit abseits liegende Teilgebiete der Biologie ist die Wirkung der umfassenden Idee Darwins zu spüren; sie zieht sich als roter Faden durch tausendfaltige Untersuchungen dieser Zeit. Sehr bald greift der Streit für und wider Darwin von England nach Deutschland über und eine Untersuchung folgt der anderen, alle gekennzeichnet durch das Bestreben, im Rahmen dieser Theorie beweisende oder widerlegende Tatsachen aufzudecken. Bald erscheint die neue Theorie gesichert und beginnt ihren Siegeszug. Die Übertreibungen bleiben nicht aus. Kampfnaturen wie Ernst Häckel, die mit ihrer glänzenden Begabung dem Darwinismus zum Siege verhalfen, schießen weit über das Ziel hinaus und tragen den Kampf ins Gebiet des Irrationalen, wo der Biologe sich feste Grenzen setzen soll, solange er nicht wirklich Rätsel lösen kann. Die Scheinlösung der Welträtsel hat leider vielmehr Unheil gestiftet, als die redliche Absicht verantworten kann. Die Reaktion blieb nicht aus. Der Kampf wird später weniger leidenschaftlich geführt, aber mit den neuen Waffen der experimentellen Forschung. Und heute am Beginn des vierten Jahrzehntes dieses Jahrhunderts leben die Kämpfe um die Theorie von neuem auf, freilich in anderer Fragestellung. Die Grundtatsache der Deszendenz, daß die Organismen von einander abstammen und sich allmählich entwickelt haben, ist gesichert. Nur die Wege und die Ursachen dieser Entwicklung sind umstritten. Darin aber erscheint auch der bedeutende Fortschritt gegeben, daß sich die Forschung dem Wie und Warum zuwenden kann. Der Fortschritt wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht um dieselbe Zeit Physik und physikalische Technik, allen voran in Deutschland Ernst Abbe, den Biologen die Instrumente in die Hand gegeben hätten, mit denen ein Eindringen in den feinsten Aufbau der Lebewesen, in alle Einzelheiten der Zellen möglich gewesen ist. Vor allem konnten die Vorgänge der Zellteilung und Befruchtung genau studiert werden, auf deren Kenntnis Entwicklungsgeschichte und vor allem Vererbungswissenschaft aufbauen mußten. Die glänzende Entwicklung der Zytologie, gekennzeichnet in Deutschland durch die Namen Boveri, Bütschli, O. u. R. Hertwig, Strasburger, ist die Frucht der Möglichkeiten, die das hochentwickelte Mikroskop in den Händen genialer Forscher zeitigte. Die umfassende Theorie bildet auch heute noch den Rahmen, in dem das Für und Wider der Meinungen ausgefochten wird, pendelnd von einem zum andern Extrem. Die stetig verfeinerte Methodik sorgt für den immer gleichmäßigen Anstieg, mit dem das uns im einzelnen Momente sich bietende Bild der Erscheinungen ihrem wahren Verlaufe mit immer größerer Genauigkeit sich assymtotisch nähert. Auf breitester Basis war die Deszendenztheorie schon von Darwin aufgebaut worden. Aus allen Teilgebieten der Biologie wurden die Wahrscheinlichkeits-

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beweise geführt. Die systematische Beschreibung der lebenden und fossilen Organismen, die vergleichend-morphologische und anatomische Betrachtungsweise, die entwicklungsgeschichtliche Untersuchung und biogeographische Forschungen wetteiferten miteinander, ebensoviele Beweismöglichkeiten zu erbringen. Die Folge davon war, daß alle diese Richtungen einen besonderen Anreiz zur erfreulichen Fortentwicklung erhielten. Durch das rastlose Arbeiten von zwei Forschergenerationen, an denen Deutschland besonderen Anteil hat, sehen wir viele dieser Richtungen in einem Grade gefördert, daß vielfach tatsächlich im Grundsätzlichen ein vorläufiger Abschluß erreicht wurde, an dessen Ende die klassischen Handbücher und Sammelwerke stehen, an denen gerade die deutsche biologische Literatur so reich ist. Die systematische Beschreibung führt zu einer Bestandesaufnahme der Organismen dieser Erde in einer durch ein natürliches System geordneten Form. Daß viele Hunderttausende verschiedener Organismen überhaupt in ein solches System gebracht werden können, ist eine der eindringlichsten Stützen der Deszendenztheorie. Wie weit diese Bestandesaufnahme gediehen ist, wird am besten dadurch erhellt, daß in den letzten Jahren nur sehr wenig prinzipiell neue Organismenformen gefunden wurde, Neues, das ganz wesentlich unsere systematisch-entwicklungsgeschichtlichen Kenntnisse beeinflußt hätte. Natürlich nimmt die Zahl der neu entdeckten Typen, welche die Mannigfaltigkeit vermehren, Übergänge schaffen und Lücken schließen, fast täglich ins Unheimliche zu, seitdem in immer steigendem Maße auf der ganzen Erde auch von außereuropäischen Ländern an dieser Bestandesaufnahme gearbeitet wird. Durch zahlreiche Expeditionen wurde auch nach Deutschland das Material gebracht, und das Ergebnis der umfassenden Bearbeitung vermitteln die gerade in deutscher Sprache erschienenen Sammelwerke, »Die natürlichen Pflanzenfamilien«, »Das Pflanzenreich«, »Das Tierreich«, Werke, die vielfach ebenso durch ihre gründliche Bearbeitung wie durch ihre großartige Organisation imponieren. Auch die Entwicklung unserer großen Museen zeigt das Erreichte oder den Weg, auf dem trotz aller Schwierigkeiten der letzten Jahre immer wieder erfolgreich fortgeschritten wird. In unserer Heimat ist die Bestandesaufnahme wohl in vielen Gruppen beendet. Man wendet sich dem Studium der Verteilungsweise zu und eine großzügige Kartierungsorganisation, die über Deutschland ausgebreitet ist, stellt sich diese Aufgabe. Bei der Erfassung fossiler Organismen entscheidet in ganz anderer Weise der Zufall, daß wichtige Typen in unsere Hände gelangen. Manches ist noch zu erwarten. Freilich hat gerade die Phytopaläon tologie in Deutschland bisher durchaus nicht die Pflege gefunden wie in anderen Ländern. Hier ist noch manche Aufgabe zu erfüllen. Vergleichend-morphologische, anatomische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen wurden gerade in der Zeit des Kampfes um Darwin besonders zahlreich durchgeführt. Die deutschen Biologen haben hier ohne Zweifel die Führung ergriffen und dauernd behalten. Häckels biogenetisches Grundgesetz wurde der Leitgedanke der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise im Tierreich. Auch hier wurden nach heftigen Kämpfen Übertreibungen beschränkt und eine Einigung auf mittlerer Linie erzielt, nachdem eine ganz große Zahl von Untersuchungen einen Uberblick über die Reichweite des Prinzips gestattete. Die 26 Festschrift Schmidt-Ott

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geniale Tat Hofmeisters, die Entdeckung der Generationswechselverhältnisse im Pflanzenreich, führte zu einer einheitlichen Auffassung der Entwicklungsabläufe in den verschiedenen Pflanzengruppen. Die Auswirkung dieser Entdeckung reicht bis in die jüngste Zeit, nachdem das Prinzip auch mit so großem Erfolge auf die niederen Pflanzen übertragen werden konnte. Die Leistung erscheint uns besonders groß, weil sie unabhängig von Darwins Theorie entstand. Darwin selbst hat besonders eingehend biogeographische Tatsachen als Stützen seiner Theorie herangezogen. Daß im Lande Humboldts diese Fragen eifrigste Pflege fanden, wird nicht überraschen. Besonders die Alpen, wie die Gebirge überhaupt regten den Pflanzengeographen an, und bis in unsere Tage finden wir diese Richtung bodenständig. Wenn auch mitunter in einzelnen Zweigen Schweiz, Schweden und Amerika besonders hervortreten, so bleibt doch die Lebensarbeit von Engler, Griesebach, Kerner und Schimper entscheidend für die weitere Entwicklung. Von zoologischer Seite wurde durch Ortmann, Brauer und Chun die Verteilung der Tierwelt im Weltmeer grundlegend studiert. Die Bedingungen, welche die heutige Verteilung der Organismen auf der Erde, ihre Begrenzung, das Zusammenleben und Wandern von Pflanze und Tier begründen, sind sicher nicht weniger fesselnd als die großen Fragen nach Entstehung und Abstammung. Immer mächtiger schwoll das Tatsachenmaterial an, das diese Richtungen zu Tage förderten. Lange noch ist Einzelarbeit notwendig, um alles auszuschöpfen. Aber unheimlich türmt sich das Erkannte vor uns auf, und jeder Fortschritt bedeutet fast schon Hemmung. Die immer drohende Gefahr der uferlosen Mannigfaltigkeit wirkt lähmend und verwirrend, und manche mächtig aufgeblühte Richtung ist in Gefahr der Stagnation. Spezialistentum macht sich breit, die allgemeinen Zusammenhänge verlierend. Eine neue Methodik wirkt hier erfrischend, die in der Physiologie schon lange ausschlaggebend, in die Gebiete beschreibender, vergleichend-analysierender Forschung erst allmählich eindringt. Bald früher, bald später ist sie da, aber um die Jahrhundertwende überall zur entscheidenden Wendung drängend, das Experiment. Experimentieren ist der Ruf, der überall ertönt, von vielen begeistert aufgenommen im Drange nach neuer Erkenntnis, von manchem wohl auch in ängstlicher Flucht vor der verwirrenden und doch so großartigen Mannigfaltigkeit. Experimentieren mit intensiver statistischer Durchdringung ist das Kennzeichen, das immer mehr in allen biologischen Richtungen hervortritt. Immer höhere Ansprüche an experimentelle Behandlung und statistisch richtig gewonnene Ergebnisse werden gestellt. Die schöne, sicher genußvollste Zeit, wo ein Beobachter mit hellem, kritischen Auge das von der Natur offenliegend Gebotene sammeln und zu den schönsten Ergebnissen zusammenlesen konnte, ist leider meistens vorbei. Wer wollte nicht die Männer beneiden, die als erste eine insektenfressende Nepenthes-Kanne, die wundervolle Konstruktion eines Insektenauges, den aufregenden Ablauf einer Kernteilung oder den Befruchtungsvorgang eines Seeigeleies beobachten und erforschen konnten. Jedes Nacherleben dieser Wunderdinge löst in jedem wirklichen Biologen die hellste Begeisterung aus, trotzdem die Jungfräulichkeit der Entdeckung längst verschwunden ist. Die Zeit der reinen Beobachtung ist gewichen einer Zeit

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des Messens, Wägens, des Ersinnens raffiniertester Experimente, die eine oft widerwillig gegebene Antwort erzwingen müssen. Die Arbeit ist nicht schwieriger geworden, aber die genußfrohen Stunden heiteren Beobachtens sind abgelöst von seltenen Stunden erhöhten Hochgenusses, wo das ersonnene Experiment einen vorübergehenden Ausblick in ungeahnte Fernen gestattet, oder noch selteneren Stunden, wo das experimentell Ermittelte das Gefühl des endgültig Erfaßten verleiht. Experimentieren, Messen, Wägen und Rechnen ist modern geworden in allen Richtungen biologischer Forschung. Freilich mag manchem auch bange werden vor dieser Entwicklung. Man sollte nie vergessen, daß Experiment und Statistik nur Methoden sind und die Methoden richtig angewendet und Ergebnisse ausgewertet sein wollen. Ein statistisch ermitteltes oder experimentell gewonnenes Ergebnis steht deswegen allein auf keiner höheren Stufe als ein durch kritische Beobachtung gefundenes Resultat. Die Überschätzung der Nur-Experimente bedeutet die gefahrlichste Übertreibung unserer gegenwärtigen Biologie. Es ist verlockend zu verfolgen, wie überall experimentelles Arbeiten mehr und mehr hervortritt. Mit neuer Methode wird ein Tochtergebiet aufgebaut, häufig die Mutter überflügelnd und beiseite drängend, oft undankbar genug, seine geistige Abhängigkeit von früher zu vergessen. Die systematische Unterscheidung der vielfaltigen Formenwelt steht oft vor der Schwierigkeit, daß die zufallige Erscheinungsform Unterschiede verwischen, in andern Fällen solche scheinbar hervortreten läßt. Ein Material, im Experiment unter gleichen Bedingungen erfaßt, kann diese Fehler vermeiden. Verwandtschaftsbeziehungen werden oft im Experimente klarer. Die Unterschiede der Eigenschaften sind bedingt durch solche der erblichen Konstitution. Sie können nur durch Kreuzungsversuche studiert werden. Damit gesellt sich die Vererbungsforschung zur Systematik, deren Fortentwicklung nach einer Richtung erstere in gewissem Sinne ist. Das Bedürfnis nach Vertiefung systematischer Methoden durch das Experiment hat zum Ausbau der Serumdiagnostik geführt. Nicht die Ähnlichkeit äußerer Eigenschaften, sondern Verwandtschaft der Protoplasmen wird zu erfassen gesucht. Besonders an Pflanzen wird diese Methode gerade in Deutschland bearbeitet und in neuerer Zeit vielfach kritisch geprüft. Unter der bewährten Führung Goebels hat in der Botanik die Morphologie längst den Übergang zur experimentellen Arbeit gefunden. Der Vergleich der fertigen Formen ist oft nur der letzte Abschnitt in der vergleichenden Untersuchung der Entwicklungsgeschichte. In vielen Fällen ist der Entwicklungsgang eines Organismus deskriptiv geklärt. Doch häufig auch ist so nur unsichere Wahrscheinlichkeit erreicht, einer exakten Beweisführung bahnt das Experiment den Weg. Eine experimentelle Entwicklungsgeschichte beginnt sich aufzubauen. Von hier aus aber haben geniale Forscher längst den Weg zur kausalen Betrachtungsweise gefunden. Nicht nur das Wie der Entwicklung, sondern die Ursachen bannen unser Interesse, und unter Führung der Deutschen Boveri, Driesch, Goebel, Roux, Spemann, Vöchting u. a. wurde mit experimentellen Methoden der Aufbau der Entwicklungsmechanik oder Entwicklungsphysiologie begonnen. Nachdem diese die Ursachen und Vorgänge der Entwicklung aufzudecken sucht, die zur Ausbildung der Gestalt, der verschiedensten Eigenschaften führen, die Ursachen aber immer zum Teil in der erblichen Konstitution der Organismen liegen, 26*

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entwickelt sich in neuester Zeit eine Verbindung von Entwicklungsphysiologie und Vererbungsforschung, welche die Wege klarzulegen sucht, die von der Anlage zur fertigen Eigenschaft führen. Wer sich die Frage stellen wollte, die Ursachen der Organismengesellschaften aufzudecken, wie sie ein heimischer Wald oder das Leben am Ufer der Nordsee uns zeigt, der wird begreifen, daß nur eine genaue Analyse und klug angesetzte Experimente die zunächst chaotisch erscheinende Wirrnis zu klären im Stande sind. Klimatische, geologische, historische Bedingungen arbeiten in der buntesten Kombination an der Verteilungsweise der Lebewesen. Diese selbst wirken auf einander ein und verändern wieder die ersteren Bedingungen, sodaß im steten Kreislauf ein bunter Wechsel der Gesellschaften erscheint. Längst hat die Biogeographie teils im Anschluß an Systematik, an Stoffwechselphysiologie oder Geographie, vielfach mit dem Experimente arbeitend, die Analyse begonnen. Die Pflanzenwelt mit ihren festen Standorten bietet günstige Bedingungen der Erforschung; aber auch auf zoologischem Gebiete, ungleich schwieriger, ist manches in Angriff genommen, wie die Fragen des Vogelzuges, die Verteilung der Planktonorganismen. Schon häufig wurde in Beziehung zu anderen Gebieten auf die Vererbungsforschung hingewiesen. Sie ist der jüngste Zweig der Biologie, hat aber bald eine mächtige Entwicklung zu einer Wissenschaft von zentraler Bedeutung genommen. Mendel, ein einsamer Forscher, seiner Zeit voraus, führte 1865 die ersten Versuche durch. Die Ergebnisse mußten unbeachtet bleiben, weil erst mehrere Jahrzehnte Entwicklungsgeschichte die Grundlagen zum Verständnis schaffen konnte. Die Zeit war reif, als mit den Arbeiten von Correns, de Vries und Tschermak der Beginn der experimentellen Genetik um 1900 einsetzte. Von da wurde in 3 Jahrzehnten ein Gebäude aufgeführt, das zu den bestgefügten der Biologie gehört. Die Entwicklung beginnt mit der Untersuchung der Nachkommen einfachster Bastarde, der Entdeckung der Mendelschen Spaltungsregel und der Analyse der erblichen Konstitution der Organismen, der Feststellung der einzelnen Erbanlagen, die sich in großer Zahl zum Erbgut zusammenfügen. DurchVerwendung genauer statistischer Methoden, die vor allem der Däne Johannsen in die Genetik einführte, und durch die Verknüpfung mit den Ergebnissen der Zytologie wurde die Entwicklung mächtig gefördert und die Chromosomentheorie besonders durch den Amerikaner Morgan ausgebaut. Die Beweisführung ist geschlossen, daß die Mendelschen Erbanlagen im Zellkern in den Chromosomen gelagert sind und durch den Kernteilungsmechanismus von Zelle zu Zelle übertragen werden. Als besonders wichtiges Spezialproblem wurde der Mechanismus der Geschlechtsbestimmung gelöst. Aus drei Gründen legen wir der experimentellen Vererbungsforschung besondere Wichtigkeit bei. Die Biologen versuchen heute, sich in ihrer Arbeitsweise den exakten Naturwissenschaften zu nähern. Wir wollen nicht nur beobachten, beschreiben und vermuten. Es gilt zu beweisen. Die experimentelle Genetik ist das Gebiet, das sich hierin den exakten Naturwissenschaften am meisten nähert. Gerade die Chromosentheorie der Vererbung ist mit wirklichen Beweisen aufgebaut. Die Forschung an Pflanzen und Tieren trachtet, das Gemeinsame herauszuarbeiten; das allgemein Charakteristische des Lebens soll gefunden werden. Gerade in der Genetik ist es wie in keinem anderen Gebiet gelungen, das Gemein-

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same zu bearbeiten. Ergebnisse an einer Pflanze gefunden, können im Prinzipe auf das Tier übertragen werden und umgekehrt. Eine Experimentalreihe baut sich auf die andere auf, ein Objekt läßt dort fortsetzen, wo das andere durch eine ungünstige Eigenschaft versagt. Schließlich hat kein anderes Gebiet der Biologie derzeit für uns Menschen so wichtige Konsequenzen. Wie bei jedem Lebewesen sind auch unsere Eigenschaften, unser Handeln, durch die Gesetze der Vererbung, durch unsere Anlagen mitbestimmt. Kenntnis der Anlagen und ihrer Vererbung bedeutet hier zu einem Teil ein Meistern des Schicksals. Manches Unglücklichen Los könnte vermieden werden, wenn hier die Anwendung unserer Kenntnisse rechtzeitig erfolgt. In den meisten Kulturstaaten, so auch bei uns in Deutschland sind Bestrebungen im Gange, diese Nutzanwendung zu ziehen. Es ist eine besondere Aufgabe, durch vorsichtige Gesetzgebung die Ergebnisse der experimentellen Vererbungsforschung zu berücksichtigen, um das Anlagengut unseres Volkes auf möglichster Höhe zu halten und vor schädlicher Degeneration zu bewahren. Die Bestrebungen sind in Deutschland wohl erst in den Anfangen, doch ist es verständlich und notwendig, daß hier nur immer ein kleiner, sicherer Schritt vor dem nächsten getan wird. Dieselben Anwendungen sind natürlich auch für die Züchtung unserer Haustiere und Nutzpflanzen zu ziehen. Es ist betrüblich festzustellen, daß die Landwirtschaft nur zögernd hier lernen und Gelerntes verwerten will. Ein besonders rationelles Arbeiten auf genetischer Grundlage wäre bei unserer Not doppelt erforderlich. Es ist nicht recht und nicht verständlich, daß die deutsche Landwirtschaft nicht längst dem Beispiel von Schweden, Amerika und anderen Ländern gefolgt ist, wo praktische Anwendung der experimentellen Vererbungsforschung zum allgemeinen Wohle längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Schließlich fallt der experimentellen Vererbungsforschung im Streit um die Deszendenztheorie noch eine besondere Aufgabe zu. Wir stellten fest, daß heute die Frage nach dem Wie und Wodurch der Artentstehung aufgerollt ist. Das Konstante an einem Organismus ist seine erbliche Konstitution. Gerade die Gesetzmäßigkeit, durch die diese Konstanz von Generation zu Generation erhalten bleibt, hat die Genetik klargelegt. Soll etwas Neues entstehen, ein neuer Organismus aus einem anderen hervorgehen, dann muß eine Durchbrechung der Vererbung, eine Veränderung des Erbgutes erfolgen. Dies klarzustellen und damit einen Schlüssel für den Vorgang der Artentstehung überhaupt zu finden, das ist der Fragenkomplex, der in der vordersten Linie gerade von der Vererbungsforschung in Angriff genommen wird. Wir sehen, wie mannigfaltig die Auswirkungen der Theorie Darwins sind. Freilich haben viele der besprochenen Richtungen ihren Anfang von anderen Ideen genommen, manche ist zu einer starken Entwicklung vor Darwin gekommen, einzelne haben eine selbstständige Weiterentwicklung gefunden, keine aber ist von dem Auftreten Darwins unberührt geblieben. Ganz selbständig, mit der Deszendenztheorie nur in loser Berührung stehend, hat sich nur eine Gruppe von biologischen Richtungen entwickelt, die Physiologie in ihren mannigfachen Variationen. Das kausale Bedürfnis drängt nach Erforschung der Ursachen aller Vorgänge am lebenden Organismus, am Organismus, wie er vor uns ist, ohne Frage nach

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Deszendenz und Verwandtschaft. Wir wollen wissen, wie und warum die Atmung zum Energiegewinn führt, wir fragen, was geschieht, wenn eine Erregung unsere Nervenbahnen durchläuft, wir müssen wissen, warum ein Ei sich zu furchen beginnt und sich zum Embryo, zum fertigen Organismus entwickelt. Tausendfaltig sind die Fragen nach dem Verlauf, nach den Ursachen, und nur langsam kommt die Antwort, Schritt für Schritt, gewonnen auch hier durch das Experiment. In gleichmäßigem Anstieg baut sich die Physiologie in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts und weiter bis in unsere Tage auf. Die einen bearbeiten Stoffumsätze, Aufbau, Abbau und Umbau der Substanzen im Organismus. Andere wenden sich den Reizerscheinungen zu. Wieder andere sehen in der Erfassung der Ursachen der Entwicklung das Ziel der Wünsche und gewinnen so als Entwicklungsphysiologen wieder Anschluß an Morphologie und Genetik. Je mehr die Einzelarbeit gedeiht, um so deutlicher tritt uns wieder Mannigfaltigkeit entgegen. Vergleichende Betrachtung und Ordnung des Vielfältigen nach einzelnen Grundvorgängen kennzeichnen ein Bestreben, das im Aufbau einer vergleichenden Physiologie Erfüllung findet. Als fernes Ziel ist uns gesteckt, die besonderen Vorgänge des Lebens möglichst auf die bekannten der anorganischen Welt zurückzuführen. Es ist ein weites Ziel, dessen Erreichbarkeit manchem unmöglich erscheint. Und doch muß dieses Ziel am Ende aufgerichtet bleiben, soll vielfaltiger Mißerfolg und langsames Fortschreiten nicht zur vorzeitigen Resignation führen. Wird zwischen diesen Welten ein prinzipieller Gegensatz aufgerichtet, dann wird er überall als scheinbar unüberwindliches Hindernis hervortreten, wo nur unser derzeitiges experimentelles Unvermögen eine Schranke noch nicht zu übersteigen gelernt hat. Besondere Fortschritte der Physiologie sind zu vermerken, wenn es in den letzten Jahren gelang, einige grundlegende Stoffwechselprozesse weitgehend aufzuklären und auf Vorgänge der anorganischen Welt zurückzuführen. Arbeiten über die osmotischen Vorgänge in den Zellen, die Umsetzungen bei der Muskelbewegung, die Assimilation der Kohlensäure durch die grüne Pflanze, die Atmung bei Pflanzen und Tieren sind an die Namen Pfeffer, Meierhof, Willstätter, Warburg und Wieland geknüpft und zeigen, wie weit geniale und konsequente Experimentalarbeit führen kann. Manche dieser Vorgänge sind so weit aufgeklärt, daß der an exakte Arbeit gewöhnte Chemiker sicher kein Mißvergnügen empfindet, wenn diese Vorgänge schon zur Chemie gerechnet werden. Daß erst ein ganz kleiner Teil der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Stoffwechselprozesse seine Bearbeitung und Aufklärung gefunden hat, soll uns nicht beunruhigen. Selbst die organische Chemie hat noch lange nicht ihre Aufgaben gelöst. Und wenn organische Chemie die ungeheure Kombinationsmöglichkeit weniger Elemente bedeutet, dann sind die Lebensprozesse die unendliche Kombination dieser Kombinationen, woraus sich die Größe des Arbeitsfeldes ergibt. Der größte Vorstoß ist wohl dann zu erwarten, wenn Vitamine, Hormone und Enzyme ihre chemische Aufklärung gefunden haben. Es ist ein Ereignis ersten Ranges für den Biologen, daß gerade hier in den letzten Jahren vor allem von deutscher Seite durch Windaus und Willstätter wesentliche Fortschritte erzielt

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wurden. Daß enzymatische Prozesse im Leben eine ganz große Rolle spielen, wissen wir. Die Kenntnis der Enzyme und Vitamine bedeutet den Beginn der Analyse des Lebens. So wie einst Ernst Abbe den Fortschritt der Biologie ganz wesentlich unterstützt hat, werden vielleicht die Arbeiten der Chemiker über Enzyme und verwandte Stoffe einen toten Punkt in der Erforschung des Lebendigen überwinden helfen. Noch weniger als die Stoffwechselprozesse scheinen vielfach die Reizvorgänge in ihrem Wesen erfaßbar zu sein. Der Verlauf der Erscheinungen ist bei Tieren und Pflanzen immer wieder Gegenstand der Untersuchungen gewesen. Einzelne Vorstöße zum Wesentlichen sind aber auch hier gelungen. Es ist für die Entwicklung der Reizphysiologie ganz besonders wichtig, daß bei manchen Reizbewegungen der Pflanzen die Ursache in der Wanderung bestimmter Stoffe erkannt wurde und das Studium der Umsetzungen in den Nerven der Tiere mit Erfolg angebahnt ist. Dadurch werden beide Reizgebiete aus dem mystischen Dunkel gehoben, auf eine stoffliche Grundlage geführt und einer Analyse zugänglicher gemacht. Ein gutes Stück Weg liegt hinter uns, ein weites, weites Land ist vor uns ausgebreitet. Breite Straßen, schmale Wege und mühsame Pfade gehen in dieses Land, einladend zum Vorwärtsschreiten ins Neuland, das noch unerschlossen vor uns liegt. Probleme liegen überall für den, der sehen kann, und ein Stillestehen ist noch kaum zu merken. Die entscheidende Wendung zur experimentellen Wissenschaft ist überall vollzogen. Experiment und Statistik nähern die Biologie den exakten Naturwissenschaften. Umbildung zur experimentellen Wissenschaft und Streben nach exakter Naturwissenschaft könnte die Überschrift über die Entwicklung der Biologie in den letzten 50 Jahren sein. »Zum Experiment gehört ein Blumentopf und eine Fragestellung«. Die Fragestellungen liegen unerschöpflich offen vor uns. Möge der Mangel an Blumentöpfen uns Deutsche niemals zwingen, das Suchen in der vordersten Linie aufzugeben.

FRIEDRICH VON MÜLLER MEDIZIN Für einen alten Arzt ist es eine erfreuliche Aufgabe, sich den Entwicklungsgang in die Erinnerung zurückzurufen, den sein Fach im Laufe des letzten halben Jahrhunderts erfahren hat. — Denn es war eine heroische Epoche, die von großen Männern getragen war, und das Schönste daran ist, daß dieser Fortschritt nicht einem Stillstand und einer epigonenhaften Verflachung Platz gemacht hat. Wir sehen eine begeisterte Jugend am Werk. Ein solcher Rückblick muß sich auf das ganze Gebiet der Medizin erstrecken, denn ihr Objekt, der gesunde und kranke Mensch, ist eine Einheit. — Gewiß kann man einwenden, daß sich die Heilkunde gerade in den letzten fünfzig Jahren in eine immer größer werdende Zahl von Spezialfachern gespalten hat und daß gerade dadurch das therapeutische Können bedeutend vermehrt wurde. Aber die leitenden Grundgedanken, auf denen sich diese Disziplinen aufbauten, waren die gemeinsamen der Epoche, und wir sehen, daß sich neuerdings in allen Spezialfachern das Bestreben geltend macht, wieder den Anschluß an die allgemeine Heilkunde zu finden. Immer strebe zum Ganzen! Und kannst Du selber kein Ganzes werden, als dienendes Glied schließ' an ein Ganzes Dich an! Man bedenke, daß die A u g e n h e i l k u n d e bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts noch an vielen Krankenhäusern und Kliniken im Nebenamt von Chirurgen vertreten war, die sie als operative Kunst ausübten. Erst durch Helmholtz und Graefe ist sie zur Bedeutung einer Wissenschaft erhoben worden und damit zu einer unentbehrlichen Helferin der inneren Medizin. Die O h r e n h e i l k u n d e wurde zur Zeit meiner Universitätsstudien nur an wenigen Universitäten, nämlich Würzburg, Wien und Berlin, durch einen Fachmann gelehrt. Bezold hat die Errungenschaften der Akustik für die Diagnose und Behandlung der Schwerhörigkeit und Taubstummheit dienstbar gemacht. Heute sehen wir, daß die Otiatrie unter Heranziehung der modernsten akustischen Probleme sowie durch die Untersuchung des Bogengangapparates zum selben Rang und zu derselben Bedeutung herangewachsen ist wie die Ophthalmologie. Die L a r y n g o s k o p i e , ursprünglich von einem Gesanglehrer erfunden, wurde durch den Physiologen Czermak um die sechziger Jahre in die Medizin eingeführt und von einigen Chirurgen und Internisten diagnostisch und operativ ausgebaut. Nur in Wien und München war dieses Fach durch einen Spezialisten vertreten. Es erfuhr im Lauf der Jahrzehnte eine Erweiterung, indem Schech die Behandlung der Nasen- und Rachenkrankheiten einführte; durch Killian und seine Schule wurde die Endoskopie auf Bronchien und Oesophagus ausgedehnt, und die verfeinerte operative Technik beschränkte sich nicht mehr allein auf den Kehlkopf, sondern auf die Nase, ihre Nebenhöhlen und die benachbarte Hypophyse. — Immerhin blieb das Fach der Rhino-Laryngologie bei allen technischen Erfolgen auf ein relativ enges Feld angewiesen. Da aber die Erkrankungen der Nasen- und Rachenorgane ursächlich in engster Beziehung stehen zu vielen akuten

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und chronischen Leiden des Ohres, so mußte sich aus praktischen Gründen eine Verschmelzung der beiden getrennten Spezialitäten anbahnen, und heute sehen wir, daß nicht nur an den meisten Universitäten, sondern auch in der ärztlichen Praxis die Otologie mit der Laryngo-Rhinologie vereinigt worden ist. In Paris, in Wien, bald auch in Berlin hatten sich einzelne Arzte spezialistisch mit den Krankheiten der Harnröhre, der Vorsteherdrüse, der Blase und des Nierenbeckens, also mit der U r o l o g i e beschäftigt. — Ein uralter Brauch — war doch schon im Altertum die Behandlung der Harnsteine einer eigenen Gruppe von Ärzten anvertraut, und im Eid des Hippokrates schwört der Adept, daß er niemals in dies Gebiet der Steinschneider übergreifen werde. Durch die Cystoskopie und den Ureterenkatheterismus hat diese Kunst in den letzten Jahrzehnten ganz außerordentliche Fortschritte gemacht. Die engen Beziehungen zwischen den Erkrankungen der Harnwege zu denjenigen der Niere selbst, z. B. bei der Urogenitaltuberkulose, den aufsteigenden Infektionen sowie bei den Stauungszuständen des Harns, haben die Urologie wieder in enge Beziehung zur inneren Medizin geführt. Auch das Spezialfach der H a u t k r a n k h e i t e n ist ein Produkt der großen Städte, in welchen Patienten mit seltenen Krankheiten zusammenströmen, Paris und London mit Männern, wie Alibert, Wilson, Willan, Reyher, Bazin, sind die Geburtsstätten der Dermatologie. Ihnen trat um die fünfziger Jahre Wien an die Seite, wo Hebra für die ganze Welt maßgebend werden sollte. Während man früher die Hautkrankheiten samt und sonders als Manifestationen einer krankhaften Säftemischung, also einer D y s k r a s i e , betrachtet hatte, verwarf Hebra diese Anschauung vollständig; er faßte die Haut nicht mehr gewissermaßen als die Oberfläche des menschlichen Körpers, sondern mit Recht als ein Organ besonderer Art auf, und er behandelte die Hautkrankheiten im Sinne der damaligen Zeit als reine Organkrankheiten. Durch seine eminente Beobachtungsgabe und seine riesige Erfahrung war es ihm möglich, eine Reihe neuer Krankheitstypen aufzustellen und Ordnung in das System zu bringen. Aber in seinem Bestreben, die Hautkrankheiten von den anderen Organkrankheiten und Allgemeinleiden zu trennen, ging er zu weit. Die neuere und neueste Zeit hat eindringlich gelehrt, daß manche Hautkrankheiten in der Tat auf hereditäre oder erworbene Allgemeinleiden zurückzuführen sind und nicht nur mit Salben, sondern durch Veränderung der Ernährung und durch Einwirkung auf den Gesamtorganismus bekämpft werden müssen. Viele Hautaffektionen wurden ferner als Infektionskrankheiten der Haut und des ganzen Körpers erkannt, und so hat die Dermatologie in jeder Beziehung aufklärend auch in der allgemeinen Pathologie gewirkt. Die G e s c h l e c h t s k r a n k h e i t e n waren ursprünglich von den Hautkrankheiten getrennt in eigenen Spitälern behandelt worden. Erst in neuerer Zeit hat sich eine Personalunion zwischen diesen beiden Fächern herausgebildet. Es ist merkwürdig zu erfahren, daß noch in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Tripper, der weiche und der harte Schanker sowie die sekundäre Syphilis nicht sicher unterschieden werden konnten. Wohl hatte Hunter die papierene Härte des syphilitischen Schankers als bezeichnend erkannt. Aber in einem Experiment an sich selbst glaubte er durch die Übertragung gonorrhoischen Eiters Syphilis erzeugt zu haben. Es gab heiße Kämpfe in der französischen

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Akademie, als Ricord seine gewagten, ja man darf sagen, unverantwortlichen Impfungen von Schankereiter auf gesunde Menschen publizierte und nachwies, daß eine Übertragung des Sekrets vom harten Schanker wieder einen Schanker und damit Syphilis erzeugte, während eine Übertragung auf solche Individuen, welche schon vorher syphilitisch erkrankt waren, erfolglos blieb. Er wie auch Colles hatten damit eine gewisse Immunität des Syphilitikers gegen eine neue Syphilisansteckung entdeckt und damit eine Tatsache, welche zu weitgehenden Hoffnungen Veranlassung gab. Leider haben die Experimente von Neisser gezeigt, daß das einmalige Überstehen der Syphilis nicht eine wahre Immunität zur Folge hat, sondern daß die Krankheit noch nach Jahrzehnten zu schweren Veränderungen führen kann und daß somit eine Unempfanglichkeit gegen Neuinfektionen keineswegs als Zeichen einer Überwindung der Krankheit zu betrachten sei. Die Unterscheidung des harten vom weichen Schanker ist eigentlich erst durch Ducrey und Unna endgültig sichergestellt worden; denn noch vor gar nicht langer Zeit war die Tatsache einer Überimpfbarkeit des weichen Schankers auch auf syphilitische Individuen der einzige Beweis. Jetzt ist der weiche Schanker mit seinen langwierigen eiternden Bubonen glücklicherweise selten geworden. Desto größeres Interesse hat sich dem Studium der Syphilis zu gewandt. Fournier war lange Zeit führend. Ihm wie auch Erb ist es zu verdanken, daß die Tabes und die Dementia paralytica restlos als Spätfolgen der Syphilis erkannt wurden, die aber leider trotz aller Hoffnungen durch die bei frischer Syphilis erprobten Heilmittel, das Jod, das Quecksilber und selbst das Salvarsan, nicht beeinflußt werden konnten. Erst der geniale Gedanke von Wagner von Jauregg brachte Hoffnung in dieses trostlose Gebiet. Als letztes Glied in den Spätfolgen der Syphilis wurde durch Heller die Aortenlues und das Aortenaneurysma erkannt. Die Entdeckung der Spirochaeta pallida durch Schaudinn und seinen Mitarbeiter Hoffmann verbreitete neues Licht über die Diagnose und Pathologie der Krankheit. Dem Japaner Nogouchi gelang es, die Spirochaete auf künstlichem Nährboden zu züchten, und er konnte sie auch im Gehirn bei Dementia paralytica nachweisen. Durch die Wassermannsche Reaktion im Blut und der Spinalflüssigkeit ist eine sehr viel größere Sicherheit in der Diagnose erzielt worden, während sich diese vorher großenteils auf unsichere Indizienbeweise hatte stützen müssen. Seitdem durch Metschnikoff, Uhlenhut und Mulzer die Übertragbarkeit der Syphilis nicht nur auf Affen, sondern auch auf Kaninchen erwiesen worden ist, konnten prinzipiell wichtige Fragen im Tierexperiment entschieden werden, und damit haben jene Menschenexperimente ihr Ende gefunden, welche von Hunter, Ricord, Rinecker sowie von dem »Anonymus in der Pfalz« angestellt worden waren. Doch wollen wir nicht vergessen, daß diese unerlaubten Impfungen die ersten Aufklärungen in das verworrene Gebiet der Geschlechtskrankheiten gebracht haben. Der Kampf gegen die Verbreitung dieser scheußlichen Seuchen ist namentlich durch die Wassermannsche Reaktion und durch die Entdeckung des Salvarsans in neue Bahnen gelenkt worden, und wir dürfen nunmehr hoffen, der Syphilis einen Damm entgegensetzen zu können. Die O r t h o p ä d i e hatte als Stiefkind der Chirurgie lange Zeit wenig Fortschritte gemacht. Rückgratsverkrümmungen, Klumpfüße sowie die traurigen

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Folgen einer Kinderlähmung machten den Befallenen zum Krüppel sein Leben lang; ja selbst die Schmerzen des Plattfußes können die Lebensfreude verderben. Aus der Krüppelfürsorge erwachte das menschliche Bedürfnis, diese Zustände zu verhüten und ihre Folgen zu vermindern. Die Kriegsverletzungen brachten neue Aufgaben hinzu. Die neuere Orthopädie beschränkt sich nicht mehr auf ein mechanisches Redressement des krummen Rückens und der verunstalteten Glieder, also auf eine Verbesserung der s t a t i s c h e n Verhältnisse der Knochen, sondern sie sucht auf operativem Wege, z. B. durch Sehnenüberpflanzungen und durch Muskelübungen, eine f u n k t i o n e l l e Wiederherstellung zu erzielen. Es läßt sich nicht leugnen, daß das mechanische Genie eines Hessing, Lange, Lorentz, Spitzy außerordentlich segensreich gewirkt hat, aber es ging zu weit, als die Orthopädie den Anspruch erhob, auch die Behandlung der Knochenbrüche in die Hand zu nehmen; denn wir dürfen nicht vergessen, daß die Chirurgie bis auf die allerletzte Zeit auf diesem Gebiet z. B. durch Sauerbruch Maßgebendes geleistet hat. Duobus certantibus tertius gaudet und dieser gewinnende Dritte ist wie bei allen Grenzgebieten der Medizin niemand anders als der Kranke. Besonders schwierig liegen in diesem Sinne die Verhältnisse bei der N e u r o l o g i e : Ursprünglich ein reines Gebiet der inneren Medizin und entwickelt von Männern, wie Leyden, Friedreich, Romberg, Westphal, Charcot, Erb, die auch aufanderenGebieten der Medizin Bahnbrechendes geleistet hatten, hat sich die Nervenheilkunde einem Studium der Symptomatologie, der pathologischen Anatomie und dann der normalen und vergleichenden Histologie des Zentralnervensystems gewidmet. Durch dieArbeiten von Nissel, Ramon y Cajal, Brodmann, der beiden Vogt und Spielmeyer ist die Histologie des normalen und krankhaft veränderten Zentralnervensystems auf das Feinste ausgebaut worden. Edinger und Flechsig studierten die phylogenetische und ontogenetische Entwicklung. Gudden, Goltz und C. von Monakow fügten das Experiment hinzu. Durch Eckart, Sherrington, L. R. Müller, Eppinger sowie durch die Pharmakologen wurden die bis dahin vernachlässigten Gebiete des vegetativen (unwillkürlichen) Nervensystems weitgehend geklärt. — Dazu kommt, daß die klinische Diagnose durch die von Quincke eingeführte Spinalpunktion, neuerdings durch die Occipitalpunktion sowie durch die genaue chemische, histologische, serologische und bakteriologische Untersuchung der Cerebrospinalflüssigkeit eine ungeahnte Erweiterung erfahren hat. Die Lokaldiagnose von Gehirnund Rückenmarkstumoren und die Feststellung ihrer Operierbarkeit hat dadurch sehr an Sicherheit gewonnen, so daß Chirurgen, wie Horsley, Krause, Eiseisberg und Cushing mit viel größeren Aussichten auf Erfolg vorgehen konnten. Es muß zugegeben werden, daß heutzutage nur wenige innere Kliniker und Krankenhausärzte noch im Stande sind, diesen gewaltigen Fortschritten der Neurologie in genügender Weise zu folgen. Sie brauchen ebenso wie der Chirurg einen neurologisch geschulten Berater, und man ist deshalb an vielen Anstalten dazu übergegangen, eigene neurologische Stationen zu errichten und den Unterricht in der Neurologie von demjenigen der inneren Medizin abzutrennen. Auf der anderen Seite sehen wir aber merkwürdigerweise, daß sich die Neurologie in wissenschaftlicher Beziehung wieder mehr und mehr der inneren Medizin anschließt. Tabes und Paralyse werden durch die Einimpfung einer anderen In-

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fektionskrankheit, nämlich der Malaria oder der Recurrens, behandelt. Die Kinderlähmung, die Encephalitis lethargica sind als kontagiöse Infektionskrankheiten erkannt, und das Studium ihrer Übertragung wurde durch Epidemiologen und Bakteriologen ausgeführt. Die engen ursächlichen Beziehungen, welche zwischen den Erkrankungen des Gefaßapparates und den cerebralen Leiden bestehen, lassen gleichfalls eine scharfe Abtrennung der Neurologie von der inneren Klinik nicht zu. Ein ähnliches Verhalten besteht zwischen der Neurologie und P s y c h i a t r i e : es ist aus menschlichen Gründen begreiflich, daß viele Psychiater, wie Griesinger, Gudden, Westphal, Wernicke und Siemerling, bei der therapeutischen Hilflosigkeit gegenüber den psychischen Krankheitszuständen sich auch dem Studium der Nervenkrankheiten zuwandten, weil diese in pathologischer Anatomie und Therapie viel mehr greifbare Anhaltspunkte darbieten. Aber trotz mancher gemeinschaftlichen Züge mit der Psychiatrie steht die Neurologie der inneren Medizin doch viel näher als der Psychiatrie. Denn die Grundlagen der letzteren beruhen, wenn wir von der Paralyse absehen, nicht auf somatisch nachweisbaren Krankheitszuständen, sondern auf denjenigen der Psychologie. Auch diese hat in den letzten fünfzig Jahren große Umwandlungen erfahren und zu heftigen Meinungsverschiedenheiten Veranlassung gegeben, je nach dem Standpunkt, von dem die Forscher ausgingen. Fechner sowie auch Wundt studierten die elementaren Vorgänge der Sinnesempfindungen mit den Methoden der Physik und schufen die Psychophysik, die experimentelle Psychologie und Erkenntnislehre. Külbs, Becher, Jung, Husserl wandten sich den Problemen des Seelenlebens zu. Die Betonung des Trieblebens, das im Bereich des Unbewußten wirkt und uns alle beherrscht (wir wollens glauben oder nicht), hat im Anschluß an Freuds Lehren neue Impulse und Kämpfe hervorgerufen. — Jenseits von den philosophischen Betrachtungen der normalen und krankhaften Psyche des Erwachsenen hat sich eine n a t u r g e s c h i c h t l i c h e Richtung entwickelt, welche die psychischen Funktionen am Tier und am Kind unter Heranziehung der anatomischen Entwicklung zu erforschen bestrebt ist. Schon Darwin hat in seinem unsterblichen Buch über den Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Tieren und Menschen diesen Weg beschritten. Neuerdings sind an Affen klassische Studien durchgeführt worden. Carl v. Monakow baut seine Psychologie des Menschen auf der phylogenetischen und ontogenetischen Entwicklung auf. Noch ein anderes Gebiet hat sich im Lauf der letzten Jahrzehnte von der inneren Medizin losgelöst, obwohl es nach wie vor zu den wichtigsten Aufgaben des praktischen Arztes gehört, nämlich die P a e d i a t r i e . Gewiß sind die Krankheiten des Kindesalters fast ausnahmslos im Prinzip die nämlichen wie diejenigen des Erwachsenen, aber der kindliche Organismus, besonders derjenige des Säuglings, reagiert doch so andersartig auf Schädlichkeiten, daß eine besondere Einfühlung und Erfahrung des Arztes notwendig ist. Es sind vor allem zwei Gruppen von Krankheiten, welche hier in Betracht kommen, nämlich die Ernährungsschwierigkeiten einerseits und die Infektionskrankheiten andererseits. Die Erfahrung wußte schon längst, daß ein an der Mutterbrust gestilltes Kind gedeiht und daß es viel seltener von Infektionskrankheiten befallen wird. Wir wissen durch Ehrlich, daß Immunstoffe durch die Milch von der Mutter auf das Kind übertragen werden.

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Die kleinen quantitativen Unterschiede in der Zusammensetzung der Kuhmilch und der menschlichen Muttermilch konnten leicht ausgeglichen werden; aber dies reichte nicht hin, um die Gefahren abzuwenden, und man mußte sich zu der Annahme entschließen, daß spezifisch menschliche Eigenschaften in der Zusammensetzung der Eiweißkörper und anderer Milchbestandteile maßgebend seien. — Da unter den Kinderkrankheiten die Infektionskrankheiten an erster Stelle stehen, haben sich die Paediaker mit besonderem Eifer deren Studium zugewandt. In der Tat verlaufen viele akute und chronische Infektionen, vor allem die Tuberkulose im Kindesalter wesentlich anders als beim Erwachsenen. Die Empfänglichkeit dafür ist größer, und es hat sich nachweisen lassen, daß die erste Infektion mit Tuberkulose überaus häufig im Kindesalter geschieht, daß also die Prophylaxe im Kindesalter einzusetzen hat. Wenden wir uns nun zu denjenigen Fächern, welche von altersher als Sondergebiete der Heilkunde angesehen worden sind, nämlich der Chirurgie und Geburtshilfe. Lautet doch der alte Titel des Arztes »Doctor medicinae, chirurgiae, magister obstetriciae«. Die G e b u r t s h i l f e ist bekanntlich erst dann zu wirklichen Fortschritten gelangt, als sie aus den Händen der Hebammen in diejenigen der Arzte überging. Aber trotz aller ärztlichen Kunst zogen schwere Entbindungen allzuhäufig ein tödliches Wochenbettfieber nach sich, und die Sterblichkeit in Gebäranstalten war oft so groß, daß sie wieder aufgelöst werden mußten. Erst mit Semmelweiß kam neue Hoffnung, indem er nachwies, daß die Wochenbetterkrankungen meistens durch die infizierten Hände des Arztes hervorgerufen seien. Seitdem eine strenge, wohl überlegte Asepsis auch in dieses Gebiet eingezogen ist, verlor es seine Schrecken. Der Operateur konnte viel kühner vorgehen, und selbst der Kaiserschnitt ist heute ein relativ ungefährlicher Eingriff geworden, der für Mutter und Kind lebensrettend ist. Das Gebiet der F r a u e n k r a n k h e i t e n hat sich relativ spät entwickelt; es ist noch gar nicht lange her, daß man die gynäkologischen Leiden in der Hauptsache nur mit Bäderkuren, so in Franzensbad, behandelte. Erst 1865 wagte es der Engländer Spencer Wells, Eierstockscysten und andere Tumoren der Genitalorgane durch den Bauchschnitt zu operieren. Auch hier hat die Asepsis gründlichen Wandel gebracht und die Operationsmöglichkeiten derartig erweitert, daß große Eierstockscysten und Uterustumoren kaum mehr zur Beobachtung kommen. Indem der operierende Arzt die Verhältnisse im Leben klar überschauen konnte, wuchs vor allem auch die Kenntnis über die verschiedenen Arten der Frauenkrankheiten, und heutzutage ist das Gebiet der Frauenkrankheiten zu einer der erfolgreichsten Disziplinen der Heilkunde geworden. — Die Frauenkrankheiten hatten sich zunächst als eigene Spezialität entwickelt, und in Amerika und England sind ihre Vertreter und ihre Spitäler auch heute noch getrennt von den geburtshilflichen Anstalten. In Deutschland hat diese unnatürliche Teilung niemals festen Fuß gefaßt, und namentlich auf unseren Universitäten sind die beiden eng verwandten Fächer wohl immer vereint geblieben. Auch die wissenschaftliche Forschung hat durch die moderne Geburtshilfe und Gynäkologie ganz bedeutende Fortschritte erfahren. Es sei erinnert an die Entdeckung des menschlichen Eies, den Ort seiner

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Befruchtung und seiner Wanderung durch den Eileiter sowie seiner Einbettung im Uterus. Die Anschauungen über den Zeitpunkt und die Bedeutung der Menstruation hat eine vollständige Umwandlung erfahren, und vor edlem hat die Histologie des weiblichen Genitaltraktes durch Stieve ganz neue Gesichtspunkte entwickelt. Die C h i r u r g i e , noch um das siebzehnte Jahrhundert das Gebiet der Heilgehilfen, hat schon lange ihre Gleichberechtigung mit der inneren Medizin erworben. Große Operationskünstler hatten unter dem Licht der Anatomie die Akiurgie bis in alle Feinheiten entwickelt, aber trotzdem blieb sie ein trauriges Gewerbe. Die Wundinfektionen, der Hospitalbrand führten allzuhäufig selbst nach einfachen Operationen den Tod herbei. Erst als Lister durch sinnvolle Methoden die Antisepsis einführte, änderte sich das Bild, und es ist rührend, die Erzählungen der jetzt noch lebenden alten Chirurgen zu hören, mit welchem Glücksgefühl sie durch Listers Entdeckung mit einem Schlage in die Lage versetzt waren, die Gefahren der Operationen zu bannen. Wir dürfen dabei nicht vergessen, daß Listers Tat vorbereitet war, zuerst durch Semmelweiß, dann aber durch Pasteur. Unter der Lehre Listers wurden zu meiner Studentenzeit noch alle Operationen unter dem dichten Nebel mehrerer Carbolsäuresprayapparate ausgeführt, und man verätzte die Wunden zur Vernichtung der Bakterien mit starken Phenollösungen. In diese Periode übertriebener A n t i s e p s i s schlug 1881 ein Artikel des Tübinger Chirurgen Viktor von Bruns: »Fort mit dem Spray«, und auf allen Kliniken setzte das Bestreben ein, die Antisepsis zu ersetzen durch die A s e p s i s , also durch die Keimfreiheit der Instrumente, des Verbandsmaterials, sowie der Hände des Arztes. Einen weiteren Fortschritt erzielte die Operationskunst durch die Einführung der Esmarchschen Blutleere und durch das Bestreben, die Operationen schmerzlos zu gestalten. Auf die Chloroformnarkose mit ihren Gefahren folgte die Athernarkose und neuerdings die Avertinbetäubung. Die Lumbalanaesthesie und vor allem die Lokalanaesthesie, welche von Schleich eingeführt worden war, macht selbst bei vielen großen Operationen eine Allgemeinnarkose überflüssig. Diese und andere technische Errungenschaften gaben der Chirurgie vollkommen neue Möglichkeiten, und sie hat infolgedessen im Lauf der letzten fünfzig Jahre ihren Wirkungskreis in ungeahnter Weise ausdehnen können. Zuerst eroberte sie vollständig die Erkrankungen des Wurmfortsatzes, die bis dahin von der inneren Medizin in höchst unvollkommener Weise behandelt worden waren. Dann kamen (durch Billroth) die Operationen des Magens, ferner diejenigen der Gallenblase, des Darms und, namentlich durch Sauerbruch, die operative Behandlung der Pleura- und Lungenkrankheiten, auch der Bronchiektasie, ferner die Cardiolyse Brauers hinzu und schließlich wurde durch Horsley, Krause, Cushing auch das Zentralnervensystem in erfolgreicher Weise in Angriff genommen. Dabei hatten große Chirurgen, wie Volkmann, Bergmann, Thiersch und Bier, ihre Augen nicht nur auf die operativen Erfolge gerichtet, sondern sie wandten sich im Zusammenhang mit der Bakteriologie und der pathologischen Histologie den Problemen der allgemeinen Pathologie zu; aus der früheren Eifersüchtelei zwischen der Chirurgie und der inneren Medizin ist eine enge Verbindung dieser beiden Fächer hervorgegangen, so daß der Chirurg heutzutage wohl überall der nächste Freund und Berater des inneren Mediziners geworden ist.

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In welchem Grade aber die Chirurgie beteiligt war an den Fortschritten der W i s s e n s c h a f t , das möge nur an einem einzigen Beispiel gezeigt werden: Die operative Entfernung eines Kropfes war noch vor fünfzig Jahren ein unbedingt lebensgefährlicher Eingriff, und er wurde deshalb nur dort ausgeführt, wo durch gewaltige Strumen eine lebensgefährliche Verengerung der Luftröhre zustande gekommen war. Als die Operation unter dem Schutze der Asepsis und der verbesserten Blutstillung ihre Schrecken verloren hatte, konnten die Chirurgen, wie Theodor Kocher und Eiseisberg, daran gehen, die ganze Schilddrüse zu entfernen, aber bald stellte sich heraus, daß darnach eine ganz bedenkliche Veränderung an dem Patienten vorging. Er wurde blaßgelb, gedunsen, träge und sein psychisches Verhalten verfiel bis zur Idiotie. Dieses entsetzliche Bild der Kachexia strumipriva glich in weitem Maße dem Myxoedem, welches von dem englischen Arzt Ord beschrieben und auf einen Mangel an Schilddrüse zurückgeführt worden war. Die Schilddrüse war somit als ein lebenswichtiges Organ erkannt, und ihre Einwirkung nicht nur auf das körperliche, sondern auf das geistige Befinden war zur allgemeinen Überraschung festgestellt. Von nun ab gilt die Regel, daß die Schilddrüse niemals ganz, sondern nur zum Teil entfernt werden darf. Aber auch dabei kamen hin und wieder merkwürdige Folgeerscheinungen der Operationen zur Beobachtung: tonische Krämpfe namentlich der Extremitäten, welche der Tetanie Trousseaus glichen, Übererregbarkeit der peripherischen Nerven, Störungen des Mineralstoffwechsels und bisweilen ernstliche Gefahren. Diese Zustände wurden zunächst auf die Entfernung der Schilddrüse bezogen, bis sich im Tierexperiment herausstellte, daß sie mit der Schilddrüse überhaupt in gar keinem Zusammenhang standen, sondern daß sie hervorgerufen waren durch die Entfernung kleiner, linsengroßer Drüschen, welche beiderseits an der Hinterfläche der Schilddrüse gelagert sind, die von Cohn entdeckt und als Epithelkörperchen beschrieben worden waren. Damit war deren lebenswichtige Bedeutung festgestellt, und ihre Schonung bei der Kropfoperation ließ das gefürchtete Bild der Tetanie vermeiden. — Unterdessen hatte der Neurologe Moebius in Leipzig die Vermutung aufgestellt, daß bei der Basedowschen Krankheit jene charakteristische weiche Schilddrüsenvergrößerung nicht ein Symptom, sondern den Ausgangspunkt jener vielgestaltigen Krankheit darstelle. Die Versuche, durch Jod eine Verkleinerung der Basedowschen Schilddrüsenschwellung herbeizuführen, führten zu bedeutender Verschlimmerung des Leidens. Als man es aber wagte, einen erheblichen Teil der Basedowschen Schilddrüse operativ zu entfernen, stellte sich in kürzester Zeit ein völliger Umschwung im Befinden des Kranken ein, seine erregte Herzaktion wurde verlangsamt, der Stoffwechsel, die Ernährung kehrte zur Norm zurück, und die Rastlosigkeit des Patienten wich geistiger Ruhe. In der ersten Zeit war die Operation der Basedowschen Schilddrüse noch recht gefährlich, heute ist sie auf eine Mortalität von 2 bis 0,5 °/0 gesunken. Gehen wir dazu über, den Entwicklungsgang der inneren Medizin und der ihr benachbarten Fächer zu betrachten. Die naturphilosophische Richtung Schellings und Hegels mit ihren aprioristischen Deduktionen war um die sechziger Jahre überwunden. Schönlein, der Leibarzt Friedrich Wilhelms des Vierten, hatte an ihrer Stelle die einfache klinische

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Beobachtung, also die n a t u r g e s c h i c h t l i c h e Krankheitsbeschreibung, eingeführt. Um dieselbe Zeit waren namentlich in England bedeutende Männer tätig, um aus den einzelnen Symptomen zusammenhängende Krankheitsbilder zu entwerfen und sie mit den pathologisch-anatomischen Befunden in Einklang zu bringen: Hunter, Addison, Richard Bright, Paget und namentlich auch die Dubliner Schule mit Stokes, Adams und anderen. Wie hilflos stand der Arzt damals am Krankenbett, es fehlten ihm die Instrumente, er war vor allem auf die Beobachtungsgabe seiner Augen und Finger angewiesen; wohl hatte die Thermometrie (welche nicht etwa erst durch Wunderlich eingeführt wurde) die scholastisch überfeinerte Pulsbeobachtung erweitert und das Fieber der Messung zugänglich gemacht. Aber erst die Perkussion und Auskultation, die sich in Deutschland nur sehr langsam durchsetzte, bedeutete einen großen Fortschritt der Heilkunde, indem sie erlaubte, eine Reihe von Organkrankheiten, wie die Lungenentzündung, die Lungenschwindsucht, die Rippenfellexsudate, die Herzvergrößerung, die Klappenfehler, mit Sicherheit nachzuweisen, und, abgesehen von den Infektionskrankheiten, galt das Studium ausschließlich diesen Organkrankheiten. Die Kliniker boten noch in den siebziger Jahren nicht viel mehr als einen Perkussionskurs dar und ergingen sich in allerlei spitzfindigen Spielereien, die längst über Bord geworfen sind. Von Therapie war kaum die Rede. Die Diagnose galt nicht als Voraussetzung der Behandlung, sondern als Selbstzweck und zur Vorhersage des Obduktionsbefundes. Die p a t h o l o g i s c h e A n a t o m i e beherrschte das Feld. Sie war nach Morgagnis Vorbild vor allem durch Rokitansky gepflegt und erweitert worden. Aber auch Rokitansky mußte erkennen, daß nicht bei allen tödlichen Krankheiten eine charakteristische anatomische Veränderung nachweisbar war. Das galt z. B. für die meisten Infektionskrankheiten, und er suchte deshalb im Sinne der alten Humoralpathologie gewisse Veränderungen der Säftemischung heranzuziehen. Da jedoch um jene Zeit die Chemie noch nicht entfernt so weit entwickelt war, um an solche Probleme herantreten zu können, da eine Serologie im heutigen Sinne natürlich noch fehlte, so mußte der Versuch Rokitanskys scheitern, und er beschränkte sich darauf, an der Leiche festzustellen, ob reichlich oder spärlich Blutfaserstoff in den Gefäßen nachzuweisen sei. Indem er sich an Andral anschloß, unterschied er hypinotische und hyperinotische Krankheiten, ein System, welches zu den tollsten Gruppierungen führt. So hat z. B. Dittrich in Erlangen in seinen Vorlesungen unter die hypinotischen Zustände mit verminderter Faserstoffbildung den Typhus, die Chlorose, die Cholera, die Säufer dyskrasie und die mit Oedemen einhergehenden Nierenkrankheiten gerechnet. In seiner hyperinotischen Gruppe finden wir die Leukämie, die tuberkulöse Krase, das Rheuma und die Sepsis. Unterdessen war in Berlin ein neuer Geist eingezogen — J o h a n n e s M ü l l e r , der ursprünglich von der rheinischen Romantik und den Hegeischen Ideenkreisen ausgegangen war, unternahm es, die Lebensvorgänge beim Tier im E x p e r i m e n t zu prüfen, und er schuf sein berühmtes Lehrbuch der Physiologie. Um seine Person und mehr noch um seine Ideen sammelte sich ein Kreis bedeutender Männer, welche eine neue Epoche in der deutschen Medizin heraufführen sollten. Virchow

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ergänzte die makroskopischen Beobachtungen Rokitanskys durch die m i k r o s k o p i s c h e Untersuchung der Organe; er erkannte nach Schwanns Vorbild die Zelle als das ursprüngliche Element der Organe und schuf seine Zellularpathologie. Virchow verwarf die chemischen Untersuchungen als gänzlich bedeutungslos und bekämpfte die Krasenlehre Rokitanskys aufs Heftigste. Er ist der überzeugte Vertreter der Solidarpathologie, also der Morphologie. Selbst der Begriff der Entzündung war für ihn ein mikroskopisches Problem. Jene Veränderungen der Zellen, die man in den erkrankten Organen, z. B. bei Nieren-, Leber- und Nervenkrankheiten, nachweisen konnte und die wir heute großenteils als regressiveVeränderungen, also als Zellschädigungen auffassen, galten für ihn als Z e l l e n t z ü n d u n g e n , und er unterschied von dieser »parenchymatösen« Entzündung jene Vorgänge exsudativer und proliferativer Art, die sich im Stützgewebe abspielen. Durch diese scharfe Unterscheidung der parenchymatösen von der interstitiellen Entzündung wandte sich Virchow vollständig ab von dem alten f u n k t i o n e l l e n Begriff der Entzündung, welcher in der Definition des Römers Celsus vom rubor, tumor, calor, dolor niedergelegt war und der von jedem Menschen am eigenen Körper festgestellt werden kann. Den Virchowschen Definitionen folgend, wurde nunmehr eine narbige Retraktion der Herzklappen als Klappenentzündung, eine Degeneration der Nieren-, Leber- und Nervenzellen als Nieren-, Leber- und Nervene n t z ü n d u n g bezeichnet. Es hat lange gedauert, bis Virchows Lehre von der Entzündung wieder mehr einer funktionellen Betrachtung Platz machte: Cohnheim entdeckte die Auswanderung der weißen Blutkörperchen aus den Gefäßen und damit die Identität der letzteren mit den Eiterkörperchen, und vor allem hat Marchand in seinen beiden großen Werken die Vorgänge bei der Entzündung auf die Reizerscheinungen am Gefaßbindegewebsapparat zurückgeführt, die Neubildung und Wanderung der Bindegewebszellen bewiesen und die Unterschiede zwischen Degeneration, Exsudation, Proliferation und Regeneration ins richtige Licht gesetzt. Am größten war die Begriffsverwirrung zwischen der pathologisch-anatomischen Betrachtungsweise und der klinischen Krankenbeobachtung auf dem Gebiet der T u b e r k u l o s e . Laennec hatte jene hirsekorngroßen Knötchen als M i l i a r t u b e r k e l n beschrieben und erkannt, daß sie in naher Beziehung stehen zur Lungenschwindsucht. Virchow lehnte diese Verwandtschaft aus morphologischen Gründen entschieden ab, er rechnete den Miliartuberkel unter die G e s c h w ü l s t e , während er die Lungenschwindsucht mit Recht als die Folge einer käsigen Pneumonie ansah, also einer Lungenentzündung, welche aus irgendwelchen Gründen die Neigung hatte, in eine käseartige Degeneration und Erweichung des erkrankten Gewebes zu verfallen. Diese D u a l i t ä t s l e h r e wurde autoritativ von den Klinikern, nicht aber von den praktischen Ärzten angenommen, und es ist erstaunlich zu sehen, in welch vergeblicher Weise sich die Lehrbücher meiner Studentenzeit bemühten, die klinischen Krankheitsbilder mit den Virchowschen Lehren in Einklang zu bringen. Die Beziehungen der tuberkulösen Lungenerkrankungen zum Lupus, zur Knochenkaries, zur »skrophulösen« Drüsenerkrankung blieben vollständig ungeklärt. 27 Festschrift Schmidt-Ott

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In diese heillose Verwirrung einer klinischen Betrachtungsweise, welche nur auf pathologisch-morphologischer Basis aufbaute, platzte 1883 Kochs Entdeckung des Tuberkelbazillus wie eine Bombe hinein. Die experimentierende Bakteriologie hatte den Sieg davongetragen gegenüber der rein descriptiven Morphologie, welche in den pathologisch-anatomischen Veränderungen der Organe den letzten zureichenden Grund für die im Leben beobachteten Krankheitserscheinungen nachgewiesen zu haben glaubte. Es ist merkwürdig zu verfolgen, wie langsam sich der Begriff der i n f e k t i ö s e n K r a n k h e i t e n durchgesetzt hat. Bei Sydenham finden wir nicht den geringsten Hinweis auf die spezifische Verschiedenheit und auf die kontagiöse Übertragung der epidemischen Krankheiten. Er sieht ihre Ursache in geheimnisvollen Ausdünstungen, welche aus dem Inneren der Erde »ex ipsis terrae visceribus* aufsteigen und in den Menschen eindringen. Selbst Wunderlich gesteht in seinem Lehrbuch 1850 eigentlich nur bei den Geschlechtskrankheiten restlos eine direkte Kontagion zu und nimmt selbst bei den Masern noch eine Parthenogenesis an; leidenschaftlich bekämpft er Henle, der 1840 die logische Folgerung aufgestellt hatte, daß die Infektionskrankheiten durch v e r m e h r u n g s f ä h i g e , also lebende Keime, übertragen würden. Wohl hatten epidemiologische Untersuchungen bei gewissen Infektionskrankheiten, so z. B. bei Typhus, Cholera und Malaria, den Beweis geliefert, daß spezifische Erreger zugrunde liegen müßten, aber die Schulmeinung hielt an der miasmatischen, also durch schädliche Gase übertragbaren Natur der Krankheitsnoxe fest. Man rechnete auch den Typhus noch zu meiner Studentenzeit dazu, und Pettenkofer verzehrte eine Kultur von Cholerabazillen in der festen Uberzeugung, daß dadurch niemals eine Krankheit hervorgerufen werden könne, sondern daß es dazu noch eines anderen unbekannten Faktors Ypsilon bedürfe. Der Tübinger Polikliniker Jürgensen war bei seinen Studien über den Gelenkrheumatismus um die achtziger Jahre zu der Überzeugung gekommen, daß diese Krankheit mit den dabei so häufig vorkommenden Herzklappenentzündungen als ein infektiöses Leiden aufzufassen sei und in nächster Beziehung stehe zu den septischen Krankheiten, welche man bis dahin als B l u t v e r g i f t u n g aufgefaßt hatte. Eine solche Lehre ging aber damals den Ärzten viel zu weit, galt doch der Gelenkrheumatismus als die typische Folge einer Erkältung und der Nässeeinwirkung, und entrüstet sagten sie voraus, dieser Jürgensen wäre imstande, auch noch die Lungenentzündung für eine Infektionskrankheit zu halten. — Wenige Jahre später wurde der Pneumokokkus als Erreger der Pneumonie erkannt. Ein wirkliches Studium der I n f e k t i o n s k r a n k h e i t e n beginnt eigentlich erst mit Pasteur, der im Gegensatz zu Liebig die Gärung und Fäulnis nicht auf eine fermentative Wirkung der Eiweißkörper bezog, sondern in überzeugender Weise auf die Tätigkeit kleinster Lebewesen zurückführte. Die nächste Folge dieser Entdeckungen war deren Anwendung auf die Chirurgie durch Lister; Rosenbach beschrieb und züchtete die Erreger der gewöhnlichen Wundeiterung, nämlich die Staphylokokken und Streptokokken. Neben anderen deutschen und französischen Forschern war es aber vor allem Robert Koch, der die Bakteriologie in den Dienst der

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Krankheitsforschung stellte. Durch die Einführung des festen Nährbodens und der Färbungsmethoden gelang es ihm mit Sicherheit, die Bakterien rein zu züchten und ihre einzelnen Arten voneinander zu unterscheiden. Nach Kochs ersten Arbeiten über den Milzbrand kamen Schlag auf Schlag neue Entdeckungen. Eine Schar hervorragender Forscher sammelte sich in seinem Laboratorium in der Klosterstraße, Flügge, Gaffky, Löffler, Paul Ehrlich, Emil Behring und andere. Der Diphtheriebazillus, der Typhusbazillus und als Krönung des Ganzen der Tuberkelbazillus wurden beschrieben und nach kurzem Zweifel allgemein als Erreger dieser Krankheiten anerkannt. Nicht lange darnach wurden auch der Pestbazillus, der Cholerabazillus und durch Flügge der Tetanusbazillus aufgefunden. Durch Ronald Ross, Koch und Grassi wurde die Übertragung der Malaria durch die Stechfliege aufgeklärt, durch amerikanische Ärzte die Übertragung des Gelbfiebers, durch englische und deutsche Forscher diejenige der afrikanischen Schlafkrankheit und anderer Trypanosomenkrankheiten. — Jahr für Jahr erweiterte sich der Kreis jener Krankheiten, welche durch die Infektion mit lebenden Krankheitserregern verursacht werden. Die Kinderlähmung, welche früher durch eine Entzündung der grauen Substanz im Rückenmark genügend erklärt schien, wurde zunächst durch Medins epidemiologische Untersuchungen als kontagiöse Infektionskrankheit erkannt, bei deren Übertragung, ähnlich wie bei der epidemischen Genickstarre, gesunde Bakterienträger eine Rolle spielen. Neben den durch das Mikroskop und die Kultur nachweisbaren Krankheitserregern wurden durch die Übertragung auf das Tier auch solche nachgewiesen, welche jenseits der Sichtbarkeitsgrenze stehen und selbst durch das feinporige Filter gebrannter Tonkerzen hindurchgehen, so der Erreger der Encephalitis lethargica. Gerade auf diesem Gebiete bereiten sich neue Errungenschaften vor: im d'Herelleschen Phänomen der Bakteriophagie und auf dem rätselhaften Gebiet des Herpeskontagiums liegen neue Entdeckungen vor, die einen weiten Ausblick ermöglichen. Die Bakteriologie beschränkte sich bald nicht mehr auf das Auffinden der spezifischen Krankheitserreger und deren Übertragung auf das Tier, vielmehr suchte sie auch jene toxischen Produkte festzustellen, durch welche die Bakterien schädigend auf das Gewebe und den ganzen Organismus einwirken z. B. das Diphtherie- und das Tetanustoxin und ihre Antitoxine. Robert Koch trat im Jahre 1891 noch mit einer zweiten grundlegenden Entdeckung hervor: er spritzte die Nährlösung, auf welcher die Tuberkelbazillenkulturen gewachsen waren, bei Tieren ein und sah, daß diese Flüssigkeit bei gesunden Tieren auch in großen Dosen keine schädlichen Folgen hervorrief, bei tuberkulösen Tieren dagegen schwere Krankheitserscheinungen und selbst den Tod zur Folge hatte. Als er diese Versuche in vorsichtigsterWeise auf den Menschen übertrug, bestätigte es sich, daß der nichttuberkulöse Mensch (und selbst das gesunde Kind) große Dosen ohne jeden Schaden vertrug, daß aber bei einem tuberkulösen Individuum, z. B. einem Lupuskranken, selbst 1 Milligramm dieser Kulturflüssigkeit hinreichte, um Fieber und namentlich Entzündungserscheinungen im Bereich der tuberkulös erkrankten Organe hervorzurufen. — Man kann sich gar nicht mehr vorstellen, welches Erstaunen diese Feststellung Kochs hervorrief; hatte man doch durch die Erfahrungen bei der Schutzpockenimpfung, bei den 27*

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Masern, dem Keuchhusten und vielen anderen Infektionskrankheiten gelernt, daß das Überstehen einer Infektionskrankheit eine I m m u n i t ä t , also eine U n e m p f ä n g l i c h k e i t spezifischer Art hinterließ. Und nun reagierte ein tuberkulöses Individuum, das doch den Tuberkelbazillus und seine Produkte bereits in seinem Körper beherbergte, mit g e s t e i g e r t e n Krankheitserscheinungen auf die Injektion desselben Giftes! Es hat lange gebraucht, bis sich durch Theobald Smith und namentlich durch von Pirquet die Lehre von der spezifischen erworbenen U b e r e m p f i n d l i c h k e i t und damit der A l l e r g i e überhaupt entwickelte, eine Lehre, welche heutzutage weit über das Gebiet der Infektionskrankheiten hinaus Geltung hat. Auf ihr beruhen nicht nur unsere Anschauungen über die Genese und die Behandlung des Heuñebers, des Asthmas und mancher Hautkrankheiten, sondern sie hat auch weit darüber hinaus Anwendung gefunden: Wenn man bei einem Tier oder beim Menschen fremdartige Eiweißkörper, z. B. das Blutserum einer andern Tierart, einspritzt, so zeigen sich zunächst keinerlei erkennbare Symptome. Wiederholt man aber die Einspritzung desselben Stoffes nach etwa 14 Tagen, so treten merkwürdige und selbst gefahrliche Erscheinungen auf. Hat man z. B. einem diphtheriekranken Kinde Diphtherieheilserum, also Pferdeserum, eingespritzt, so darf diese Einspritzung nach Ablauf von etwa 14 Tagen nicht wiederholt werden, weil sich dann die »Serumkrankheit« einstellt, die sich durch Hautjucken, quaddelartige Exantheme, Oedeme, durch Gelenkschmerzen, Atemnot und bedenkliche Herzstörungen geltend macht. Diese Erscheinungen müssen so erklärt werden, daß sich unter dem Einfluß des fremden Tierblutes (des Antigens) ein Abwehrstoff (ein Antikörper) gebildet hatte, der spezifisch gegen das Antigen eingestellt ist und dieses unter stürmischen Reaktionserscheinungen zu vernichten vermag. Hat man einem Kaninchen das Blut von einem Hammel subkutan eingespritzt, so wird dieses bei einer zweiten Einspritzung von Hammelblut die Hammelblutkörperchen auflösen und damit vernichten. Es tritt eine H a e m o l y s e auf. Auf dieser Erfahrung beruht die Methode zur forensischen Unterscheidung von Tierblut und Menschenblut. Bordet wie auch Ehrlich und seine Mitarbeiter haben jedoch gezeigt, daß dieser Vorgang der Haemolyse komplizierter Art ist und daß dazu nicht nur der erworbene spezifische Antikörper gehört, sondern daß zur Auflösung der Blutkörperchen noch ein anderer, nicht spezifischer Faktor gehört, der den Antikörper erst wirksam macht. Ehrlich hat ihn als Komplement bezeichnet, und auf diesem Prinzip beruht die Wassermannsche Reaktion auf Syphilis. Das, was hier von der Auflösung der Blutkörperchen berichtet wird, gilt ebenso auch für die Auflösung und Zerstörung der in den Körper eingewanderten Bakterien, also für die B a k t e r i o l y s e , und neuerdings für manche andere Substanzen, welche nicht den Eiweißarten nahe stehen. — Freilich scheiterten Kochs Hoffnungen, durch die Tuberkulineinspritzungen die Abwehrreaktion gegen die Tuberkulose zu steigern und diese Krankheit dadurch zu heilen. Die Tuberkulintherapie ist heute so gut wie verlassen. Koch hatte seine Experimente über Tuberkulose vor allem an Meerschweinchen durchgeführt, weil dieses Tier am empfanglichsten ist für den Bazillus und selbst bei Beibringung kleinster Mengen in typisch fortschreitender Weise erkrankt und zu Grunde geht. Er hatte wenig in Betracht gezogen, daß andere Tiere, z. B. der

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Hund, sich sehr viel widerstandsfähiger gegen den Tuberkelbazillus verhalten, und er wollte nicht zugestehen, daß auch unter den Menschen große Unterschiede in der Empfänglichkeit für die Infektion mit Tuberkulose bestehen. Als ich als junger Assistenzarzt gesprächsweise Robert Koch gegenüber die Anschauung vertrat, daß die Gelegenheit zu einer Infektion mit Tuberkelbazillen nicht zur Erklärung genüge, warum bei dem einen Menschen die Tuberkulose nicht angehe oder alsbald zur Heilung käme, bei andern aber chronisch oder rapid weiter fortschreite, daß vielmehr auch die Widerstandsfähigkeit, also die K o n s t i t u t i o n , in Betracht gezogen werden müsse, da stampfte Koch ärgerlich mit dem Fuß auf und rief: »So lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrer verfluchten Konstitution!« Und doch hat diese rein ärztliche Erfahrung über die Wichtigkeit der Konstitution im Lauf der Jahre Recht behalten. Mehr und mehr hat sich herausgestellt, daß die erblich übertragenen Eigenschaften des Individuums sowie seine erworbene oder überwundene Bereitschaft von maßgebender Bedeutung ist, und zwar nicht bloß bei der Tuberkulose, sondern auch bei vielen andern Infektionskrankheiten, z. B. dem Scharlach. Freilich können wir die konstitutionelle Bereitschaft der Tuberkulose nicht durch äußerliche Betrachtung und auch nicht auf dem Wege serologischer Untersuchungen erkennen, und der Habitus phthisicus ist längst als Folge, nicht mehr als Bereitschaft zur Tuberkulose erwiesen. Die Lehre von der Bedeutung der Konstitution und damit der V e r e r b u n g hat in neuerer Zeit auf Grund der Studien von Mendel eine immer wachsende Bedeutung erworben, und sie beherrscht auf manchen Gebieten der Medizin, zum Beispiel demjenigen mancher Nerven- und Geisteskrankheiten, aber auch gewisser Gefaßkrankheiten, das Feld. Ja, man ist überhaupt dazu übergegangen, das Studium nicht auf »die Krankheit« zu beschränken, sondern das e i n z e l n e k r a n k e I n d i v i d u u m nach seinen körperlichen und geistigen Eigenschaften der Analyse zu unterwerfen. Auf psychologischem und psycho-pathologischem Gebiet hat man versucht, auch körperliche Eigentümlichkeiten als charakteristisch aufzudecken, z. B. einen pyknischen von einem asthenischen Habitus zu unterscheiden. Ist es nicht merkwürdig, daß diese I n d i v i d u a l p a t h o l o g i e und - p s y c h o logie sich zu einer Zeit geltend macht, wo der Kollektivismus regiert, der die Individualität unterdrückt und sie unter der Masse untergehen läßt ? Ungefähr um dieselbe Zeit, zu welcher das Studium der Infektionskrankheiten das vorwiegende Interesse der Klinik in Anspruch nahm, hat sich auch die H a e m a t o l o g i e als neues und fruchtbares Feld der Inneren Medizin entwickelt. Wir können an diesem Beispiel erkennen, daß neue Instrumente, wie z. B. die Einführung der Ölimmersionslinsen des Mikroskops oder der Blutzählungsapparate durch Abbe, die größten Umwälzungen zu stände bringen. Zwar hatte schon die Zählung der roten und weißen Blutkörperchen sowie die quantitative Bestimmung des Blutfarbstoffgehaltes zu einer Reihe wichtiger Unterscheidungen auf dem Gebiet der Blutkrankheiten geführt. Aber wir können doch behaupten, daß erst durch Paul Ehrlich die wirkliche moderne Haematologie geschaffen wurde. Als Schüler Adolf Baeyers und mit einem intuitiven Verständnis für die organische Chemie begabt, verwandte er die Farbstoffe als Reagentien zur Unterscheidung der Zellen und zur Analyse ihrer einzelnen Bestandteile. Die Anwendung seiner

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auf das mikroskopische

Blutbild

bei

gesunden

und

kranken

Menschen wie auch bei Embryonen führten ihn zu einer Reihe von Entdeckungen, welche für die Unterscheidung und Erkennung der verschiedensten Krankheiten, und zwar nicht nur der eigentlichen Blutkrankheiten von größter praktischer Bedeutung wurden. M a n kann wohl sagen, daß die klinische Haematologie bis in die neueste Zeit ganz im Banne von Ehrlichs Lehren wandelte, und erst durch Marchand wie auch durch Maximow sind neue Gesichtspunkte in die Lehre von der Entstehung der Blutkörperchen hineingetragen worden, welche mit Ehrlichs Anschauungen nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Es geht nicht mehr an, die verschiedenen Formen der Leukämie nach dem anatomischen Ursprungsort der Zellvermehrung zu unterscheiden und sie je nach der Schwellung der Lymphdrüsen oder der M i l z oder der Umwandlung des Knochenmarks sowie der verschiedenen Zellarten als lymphatische, lienale oder myeloische zu trennen, sondern wir müssen ebenso wie bei den Infektionskrankheiten und bei den verschiedenen Arten der Anaemie eine wechselnde R e a k t i o n s f o r m des g e s a m t e n blutbildenden A p p a rates und seiner verschiedenen Zellformen annehmen. D i e Haematologie umfaßt jetzt nicht mehr allein die morphologische, also mikroskopische Untersuchung des Blutes, sondern sie erstreckt sich auch auf die bakteriologische Fahndung

auf die

Krankheitserreger

und auf die spezifische

Agglutination gegenüber dem Typhusbazillus, den verschiedenen Arten des Paratyphus, der Bangschen Krankheit und anderer. Schließlich kam hinzu die chemische Mikrobestimmung

der Harnsäure, des Reststickstoffs, des Chlorgehaltes sowie

vor allem des Blutzuckers. Jetzt wird die Gefahr einer Nephritis oder eines Diabetes nicht mehr allein aus der Untersuchung des Harnes beurteilt, sondern vor allem durch die mikrochemische Untersuchung des Blutes. Das Jahr 1895 brachte eine Entdeckung, welche die Diagnostik auf allen Gebieten der Medizin in maßgebendster Weise umwandeln sollte, diejenige der Röntgenstrahlen.

Die Schöpfung dieses bescheidenen und wahrhaft großen

Mannes hat von Jahr zu Jahr neue Gebiete erobert und auch Einblicke ermöglicht in physiologische Funktionen, wie z. B. in diejenige des Magens und der Gallenwege, vor allem aber in Krankheitszustände, die wir früher nur vermuten, nicht aber nachweisen konnten. D i e Veränderungen der Knochen, auch die

Krankheiten des

Herzens und der Gefäße, der Lungen, des Darms, des Magens unter gesunden und krankhaften Verhältnissen sind mit einer Sicherheit zu erkennen, die wir früher nicht für möglich gehalten hätten, und die Diagnose ist auf vielen Gebieten aus dem Bereich genialer Intuition und Vermutung in dasjenige eines sicheren Nachweises gerückt. W e r möchte heute noch eine beginnende Lungentuberkulose, ein Magengeschwür oder einen Krebs diagnostizieren ohne Anwendung der Röntgenplatte ? Selbst auf dem Gebiete der Therapie haben sich die Röntgenstrahlen als überaus wertvoll erwiesen, so bei der Bekämpfung der Leukämie, mancher Neubildungen und Hautkrankheiten. Darüber hinaus hat aber die von der Notgemeinschaft geförderte Strahlenkunde eine viel allgemeinere Bedeutung erlangt. W e r die Geschichte der Medizin durch die Jahrhunderte verfolgt, mag die Frage aufwerfen, ob sie eine Geschichte des Fortschrittes darstellt, oder ob sie nicht

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vielmehr nur einen ewigen Wechsel der Anschauungen über die Probleme des Lebens und der Krankheitsprozesse bedeutet. Diese Frage aufzustellen ist jedoch nicht möglich auf dem Gebiet der T h e r a p i e . Vergegenwärtigen wir uns deren Stand vor 50 Jahren: Die Wiener Schule hatte mit der alten Rezeptierkunst von Mynsicht bis auf den alten Heim aufgeräumt. Die erprobten komplizierten Rezepte der Autoritäten waren über Bord geworfen, und nur wenige wirksame Medikamente wie das Chinin, das Opium und Morphium sowie die Digitalis fanden Gnade vor den Augen eines Skoda. Der Aderlaß war verworfen. Die herrschende pathologische Anatomie hatte nachgewiesen, daß gewisse Organkrankheiten den Tod nach sich zu ziehen pflegen, und da alle Leute, welche bei der Sektion die Erscheinungen der Lungentuberkulose darboten, nachweislich gestorben waren, so hielt man diese Krankheit für unheilbar und gab sich nicht viel Mühe bei ihrer Behandlung. Es bedurfte eines gewaltigen Optimismus, um zu erkennen, daß bei solchen Erkrankungen auch Heilungen vorkamen. Die Entzündung sowie das Fieber galten als »die Krankheit«, »die g e f ä h r l i c h e Schädlichkeit«; sie mußten unbedingt bekämpft werden: durch die Eisblase, sowie durch das kalte Bad, ja man hat hochiiebernde Typhuskranke bis zu 16 mal in 24 Stunden ins kalte Bad gesteckt, um das Fieber herabzudrücken, denn man hielt eine Temperatur über 39,5 für lebensbedrohlich. Später bediente man sich zum selben Zweck der von der Chemie entdeckten antipyretischen Mittel, zuerst der Salicylsäure, dann des Antipyrins und Phenacetins. Auf dem Internistenkongreß vom Jahre 1883 wurde ausführlich über die antipyretische Behandlungsmethode diskutiert, und merkwürdigerweise wurde von den Rednern kaum die Frage aufgeworfen, ob durch diesen Eingriff in den Temperaturverlauf dem Patienten ein wirklicher Nutzen geschähe oder die Krankheit kürzer und ungefährlicher gestaltet würde. — Es hat lange gedauert, bis man in der Entzündung und in der Temperatursteigerung nicht mehr die zu bekämpfende Schädlichkeit erblickte, sondern die Reaktion des Organismus auf eine nachweisbare Schädigung, also eine Defensio. Trotz der nihilistischen Richtung der Arzte, welche nur als Beobachter, nicht als Helfer am Krankenbett standen, behielt der Patient sein Vertrauen in die Arzneibehandlung bei. Dem mußte Rechnung getragen werden; es galt als unrichtig, einen Patienten in der Sprechstunde ohne Rezept zu entlassen,und auch in den Krankenhäusern mußte jeder Kranke seine Arznei erhalten; meist höchst harmlose Dinge, die nicht viel kosten durften und von denen der ordinierende Arzt überzeugt war, daß sie mindestens keinen Schaden anrichten würden: Tinctura Gentianae, Tinctura Chinae composita, Infusum Trifolii febrini; beim Typhus wurde unweigerlich Mixtura gummosa und bei andern akuten fieberhaften Infektionskrankheiten ebenso regelmäßig die Potio Riveri gereicht. Auf den Fahnen der Arzneiflaschen stand sorgfaltig geschrieben: »dreimal täglich 15 Tropfen« oder »alle 3 Stunden ein Eßlöffel zu nehmen«. Damit aber die Kranken in den Sälen nicht merken sollten, daß sie eigentlich alle mehr oder weniger nach derselben Schablone »behandelt« würden, so mußte der Assistent darauf sehen, daß eine gewisse Abwechslung zwischen den einzelnen Betten innegehalten wurde. Die innerliche Unwahrhaftigkeit dieser Therapie, welche von dem Spruch ausging »ut aliquid fecisse videamur«, untergrub begreiflicherweise das Vertrauen der

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Studenten zu ihren Lehrern; denn sie sahen, daß diese eine Behandlung übten, an die sie selbst nicht glaubten. Es ist begreiflich, daß die Arzte wie auch das Publikum der Heilkunst pessimistisch gegenüberstanden und nach neuen Methoden suchten. Zunächst bot sich die Elektrizität dar, die von Du Bois Reymond, Duchenne de Boulogne, Ziemssen und Erb in ihrer Einwirkung auf die Nerven gründlich studiert worden war. Man erwartete die größte Hilfe von diesen Strömen und glaubte die Rückenmarksschwindsucht durch Elektrisieren heilen zu können, bis sich herausstellte, daß jene geheilten Fälle gar nicht an Tabes, sondern an der später durch Leyden entdeckten ataktischen Polyneuritis gelitten hatten. Von enthusiastischen Vertretern der neuen Heilmethode wurde einfach alles mit dem elektrischen Strom behandelt: die Versteifung der Wirbelsäule, die Basedowsche Krankheit, die Lähmungen der Glieder, auch wenn deren Ursache in anatomischen Läsionen des Gehirns, des Rückenmarks oder in Entwicklungshemmung gelegen war. Glaubten jene Arzte wirklich an ihre Behandlungsmethode oder machten sie sich selber etwas vor? Bei der Ohnmacht der ärztlichen Therapie hatte das Publikum begreiflicherweise Hilfe gesucht außerhalb des Bannkreises der Medizin, namentlich wenn die Behandlungsmethoden mit dem Schleier geheimnisvoller Naturkräfte oder alten Volksbrauches umgeben waren. Die Kaltwasserbehandlung, die Hunger- und Durstkuren, die Naturheilkunde eines Pfarrer Kneipp, die Freiluftbehandlung, die Massage hatten zweifellose Erfolge aufzuweisen. Einsichtsvolle Arzte, wie Leyden und Curschmann, suchten diesen neuen Methoden auch in der Medizin Geltung zu verschaffen. Die Gründungen von Davos und Görbersdorf brachten neue Hoffnungen in der Therapie der Tuberkulose; nur der Heilwert des Sonnenlichtes blieb noch lange Zeit unentdeckt, und man baute nach wie vor die Rrankensäle mit der Fensterseite nach Norden. Schließlich hatte damals der alte Seitz in Gießen recht, wenn er behauptete, die ganze Therapie ziele nur auf die Beseitigung von Symptomen, nicht aber auf die Bekämpfung der Krankheit selbst. Die Morgenröte einer neuen Therapie stieg erst um die Mitte der neunziger Jahre auf, als nach der unglücklichen Tuberkulinaera durch die konsequenten Forschungen von Pasteur, Roux, Ehrlich, Behring die S e r u m t h e r a p i e eingeführt wurde. Der antitoxischen Behandlung der Diphtherie und bald auch des Tetanus war ein unbestrittener Erfolg beschieden. Man konnte hoffen, mit der antitoxischen und immunisatorischen Behandlung einer Infektionskrankheit nach der anderen Herr zu werden. Almroth Wright verkündete den stolzen Ausspruch: der Arzt der Zukunft wird ein Immunisator sein. Aber diese Hoffnungen haben sich nur bei wenigen Infektionskrankheiten wirklich erfüllt. Jene Mikroorganismen, welche nicht, wie der Diphtherie- und Tetanus-Bazillus ein heftiges Gift in die Kulturflüssigkeit abscheiden, sondern ihre gefahrlichen Produkte im Innern der Zelle als Endotoxine bewahren, wie der Typhusbazillus, blieben jeder therapeutischen Einwirkung gegenüber refraktär. Eine gewisse Enttäuschung griff Platz, und man suchte aufs neue nach c h e m i s c h e n Heilmitteln, welche die Infektions-

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erreger im Körper zu vernichten imstande wären, ähnlich wie das Chinin bei der Malaria. Ehrlichs Forschergeist ist es gelungen, in dem Salvarsan ein zuverlässig wirkendes chemisches Heilmittel nicht nur gegen die Spirochäten der Syphilis, sondern auch gegen einige andere Krankheitserreger zu finden und damit die neue Epoche der Chemotherapie einzuleiten. Namentlich auf dem Gebiet der Arsen- und Quecksilberpräparate und des seit langem bewährten Chinin gelang es, eine Reihe von Präparaten herzustellen, welche manche Infektionskrankheiten an der Wurzel anzugreifen vermögen. Es sei erinnert an das Germanin, das sich bei der Bekämpfung der afrikanischen Schlafkrankheit und anderer Trypanosomenleiden bewährt hat, oder an das Plasmochin, durch das wir endlich in den Stand gesetzt sind, die Ruheform der Malariaplasmodien zu vernichten und damit den Recidiven vorzubeugen. Gewiß sind auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten unsere Methoden zur Heilung des einzelnen Krankheitsfalles noch keineswegs befriedigend, aber die Kenntnis, die Erforschung der Krankheitserreger hat im Zusammenhang mit der prophylaktischen Impfung ganz wesentlich dazu beigetragen, die Seuchen zu bekämpfen und Epidemien einzudämmen. Es sei nur an das Beispiel des Typhus erinnert, an die Bekämpfung der Malaria, des Gelbfiebers und des Fleckfiebers. Auch die Tuberkulose und die Syphilis haben nach Ausweis der Statistik ganz bedeutend an Ausbreitung verloren. Die alte Pharmakologie hatte sich auf die Kenntnis und Prüfung der pflanzlichen Drogen und einiger wirksamer chemischer Substanzen beschränkt. Schmiedeberg, im unvergessenen Straßburg, und seine Schüler, wie H. H. Meyer und andere, zogen das Tierexperiment zur wissenschaftlichen Erforschung ihrer Wirksamkeit heran. Seit jenen achtziger Jahren hat die Pharmakologie einen gewaltigen Aufschwung genommen; sie hat in engster Verbindung mit der chemischen Industrie eine große Reihe neuer Heilmittel geschaffen, zuverlässige und unschädliche Schlafmittel, die lokalanaesthesierenden Derivate des Kokains, die harntreibenden Präparate des Theobromins und Theophyllins; sie hat die Erforschung der Digitalisgruppe durchgeführt, das Strophantin und andere Medikamente zur Hebung der Herzkraft und des Kreislaufs geschaffen. — Ausgehend von der Entdeckung Schäfers über die blutdrucksteigernde Wirkung des Nebennierensaftes und anschließend an die Reindarstellung, später die synthetische Fabrikation des Adrenalins, wurden die Produkte der inneren Sekretion, also die Hormone, pharmakologisch am Tier durchgeprüft und dann in die menschliche Therapie eingeführt. — Wer hätte noch vor 20 Jahren daran gedacht, daß wir imstande seien, mit einem Stoff aus der Nebenniere den Asthmaanfall zu coupieren oder mit dem Saft der Hypophysis cerebri den Diabetes insipidus wirksam zu bekämpfen und die Wehen einer Entbindenden zu verstärken, das jodhaltige Produkt der Schilddrüse synthetisch herzustellen und seine Heilwirkung bei Schilddrüsenmangel zu bewähren, und daß schließlich ein alkoholischer Extrakt der Bauchspeicheldrüse das Coma diabeticum zu bekämpfen und das Leben der Zuckerkranken bedeutend zu verlängern imstande ist. Auch die Leberbehandlung der perniziösen Anaemie gehört in dieses Kapitel. In neuester Zeit ist die Forschung damit beschäftigt, die Sexualhormone

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aufzufinden und anzuwenden bei jenen Menschen, welche die Jugendkraft verloren oder sie vielleicht niemals besessen haben. Ebenso wie die Pharmakologie steht auch die P h y s i o l o g i e in engster Beziehung zur Heilkunde. Sie war ursprünglich eine Tochter der Anatomie und wurde bis in die siebziger Jahre von den Anatomen im Nebenamt vorgetragen. Johannes Müller darf wohl in Deutschland als der Begründer der experimentellen Physiologie bezeichnet werden; aus seiner Schule gingen eine Reihe von bedeutenden Vertretern dieses Faches hervor, zu denen neben Du Bois Reymond, L. Herrmann auch Helmholtz gerechnet werden muß. Karl Ludwig begründete in Leipzig eine Physiologenschule, welche weit über Deutschlands Grenzen hinaus die fähigsten Köpfe heranzog; er setzte die Mechanik des Blutkreislaufs in den Mittelpunkt nicht nur der Physiologie, sondern auch der Pathologie. Wir wollen aber nicht vergessen, daß auch in Frankreich Experimentatoren ersten Ranges, wie Magendie und vor allem Claude Bernard, am Werke waren. Kaum ein anderes Fach der Gesamtmedizin baut sich auf derartig breiter internationaler Zusammenarbeit auf als die Physiologie. In Deutschland brachte Du Bois Reymonds Schüler Engelmann ganz neue Gesichtspunkte über die Experimentaluntersuchungen am Herzen zu Tage. Er lehrte die Automatie des Herzmuskels, die zwar im Sinne Bezolds durch Vagus und Sympathicus gesteuert wird, aber auch nach deren Ausschaltung erhalten bleibt. Er schuf den Begriff der Extrasystole und der kompensatorischen Pause; auf Grund des Tierexperimentes wurde der Ursprungsort der automatischen Herzkontraktionen in dem von Keith und Flack entdeckten Sinusknoten erkannt. Auf Grund anatomischer und dann tierexperimenteller Untersuchungen von W. His dem Jüngeren, Aschoff und Tavara wurde das Reizleitungssystem zwischen Vorhof und Ventrikel aufgefunden. Die geniale Entdeckung Einthovens erlaubte, mit dem Elektrocardiographen die Vorgänge der Herztätigkeit und deren Unregelmäßigkeiten auch am lebenden Menschen zu studieren. Wenckebach, ein Schüler Engelmanns, erkannte in gewissen Herzunregelmäßigkeiten die Extrasystolen seines Meisters wieder. Er wie auch Mackenzie zogen aus einem vertieften Studium der Herzunregelmäßigkeiten wichtige Folgerungen auf die Herztätigkeit überhaupt. Durch die Zusammenarbeit von Physiologen und Klinikern, wie Bier und Krogh, wurde das Studium des peripherischen Kreislaufs der Capillaren und des Gasaustausches studiert. Goltz in Straßburg und seine Schule haben sich vor allem den experimentellen Untersuchungen am Z e n t r a l n e r v e n s y s t e m sowie des Ohrapparates gewidmet. Es ist ihm gelungen, beim Hunde das ganze Großhirn zu entfernen und das Tier längere Zeit am Leben zu erhalten. Er konnte dadurch nachweisen, daß eine Reihe von elementaren Funktionen nicht von der Hirnrinde geleistet werden, sondern von den phylogenetisch alten Zentralganglien; er hat damit die große Bedeutung dieser an der Basis des Großhirns gelegenen Nervenzentren bewiesen, die heutzutage durch die Erfahrung an der Encephalitis lethargica bestätigt worden ist. Die Regulation des Schlafes und Wachens, des Blutdrucks, des Wasserhaushaltes, der Körpertemperatur, des Kochsalz- und Zuckerstoffwechsels sowie alle primitiven Bewegungen und Empfindungen müssen jetzt auf die Zentren jener Gegend bezogen werden.

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Neben dieser tierexperimentellen Richtung der Physiologie hatte sich von den sechziger Jahren ab eine andere Seite entwickelt, welche auf der c h e m i s c h e n Untersuchung der Lebensvorgänge beruhte. Liebig muß als ihr Schöpfer angesehen werden. Er stellte das Eiweiß in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen und schrieb ihm die wichtigsten Funktionen des Stoff- und Kraftwechsels zu. Carl Voit, zunächst in Zusammenarbeit mit dem Anatomen Bischoff, untersuchte den Stoffwechsel des Hundes und anderer Tiere sowie auch des Menschen; er stellte die Lehre vom Stickstoffgleichgewicht auf und erkannte, im Gegensatz zu Liebig, daß das Eiweiß nicht die Quelle der Muskelkraft sein könne, weil sein Umsatz bei angestrengter Arbeit keine Vermehrung erfahre, sondern daß dafür vor allem die Kohlehydrate herangezogen werden müssen. Gemeinsam mit seinem Freunde Pettenkofer hat er neben dem Eiweißumsatz auch die Gesamtoxydationsprozesse, also die Verbrennung der Kohlehydrate und Fette, im Respirationsversuch studiert. Während Voit noch eine scharfe stoffliche Unterscheidung des Eiweiß-, Kohlehydrat- und Fettumsatzes lehrte, konnte sein großer Schüler Rubner die Geltung der allgemeinen Gesetze der Thermodynamik im Experiment am Tier und Menschen nachweisen und den Stoffwechsel einer energetischen Berechnung zugänglich machen, indem er den Wärmewert der Nahrung zugrundelegte. — Seit jener Zeit haben die Fragen der Oxydation im Tierkörper die Forscher immer wieder aufs neue beschäftigt, sie wurden nicht mehr (wie durch Rubner und Zuntz) allein vom energetischen, also thermodynamischen Standpunkt aus betrachtet, sondern bis in ihre chemischen Einzelheiten verfolgt. Neubauer und Knoop konnten die Betaoxydation der Fettsäuren und Aminosäuren in eleganten Versuchen beweisen. Wieland erklärte die Oxydation nicht als Folge einer Sauerstoffaufnahme, sondern als diejenige einer Abgabe von Wasserstoff. Die Untersuchungen von Hopkins, Barkroft, Hill, Embden, Warburg und anderen haben gezeigt, daß die Vorgänge der Oxydation und damit der Energieproduktion im lebenden Körper nicht so einfach verlaufen, als man sich früher vorgestellt hatte, und daß hier mancherlei intermediäre Produkte, wie z. B. das Glukathion, das Lactacidogen, die Phosphorsäure und die Milchsäure, eine wichtige Rolle spielen. Als 1873 die neue deutsche Universität zu Straßburg gegründet wurde, empfanden es weitsichtige Gelehrte als notwendig, das Gebiet der Physiologie zu teilen in die experimentelle Richtung einerseits und in die physiologische Chemie andererseits. Die letztere wurde Hoppe-Seyler anvertraut, der sich nicht auf die einfachen Methoden der Gesamtbestimmung des Stickstoffs, des Sauerstoffs, der Kohlensäure und der Aschebestandteile beschränkte, sondern die Forschungsmittel der organischen Chemie auf die Lebensvorgänge anwandte. In ihm haben wir den Schöpfer der physiologischen Chemie zu erblicken. Er und sein großer Schüler Albrecht Kossei haben unter vielen anderen wichtigen Entdeckungen die Konstitution der tierischen und pflanzlichen Kernsubstanzen und der basischen Bausteine des Eiweißes aufgeklärt und damit der richtigen chemischen Forschung Eingang in die Physiologie verschafft. Ähnlich wie zu Liebigs Zeiten haben bedeutende Chemiker, wie Emil Fischer, Willstätter, Wieland, Windaus, Hans Fischer und andere, ihr Interesse der biologischen Chemie zugewandt, und ihre Entdeckungen

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haben nicht nur die Physiologie, sondern auch die Therapie maßgebend gefördert. Man denke an die bahnbrechenden Forschungen Emil Fischers über die Bausteine des Eiweißes und über die Kohlehydrate, ferner an diejenigen Wielands über die Gallensäuren. Windaus hat die Konstitution des Cholesterins aufgeklärt und zusammen mit Hess die Wirksamkeit des bestrahlten Ergosterins (des Vigantols) auf die Rachitis der Ratten und des menschlichen Kindes bewiesen. Willstätter studierte den Aufbau der Blumenfarbstoffe und des Chlorophylls und wandte sich dann dem Studium der Fermente zu. Hans Fischer konnte die Konstitution des Bilirubins, der Porphyrine und des Haematins aufklären, und es gelang ihm schließlich, den Farbstoffbestandteil des Blutes synthetisch darzustellen. Aber auch die medizinische Klinik war an diesen Arbeiten nicht unbeteiligt; ja wir können behaupten, daß gerade das Studium p a t h o l o g i s c h e r Vorgänge maßgebende Anregungen gebracht hat, indem die krankhaften Prozesse wie z. B. der Diabetes, die Gicht, die Knochenerweichung, das Fieber gewissermaßen wie ein von der Natur gegebenes Experiment den Anlaß gaben, auch die normalen Lebensvorgänge besser zu verstehen. Schon Frerichs hatte die medizinischen Kliniken von dem Vorwurf befreit, daß auf ihnen eine dilettantische »schmierige« Chemie getrieben würde. Sein großer Schüler Naunyn hat zusammen mit hervorragenden Mitarbeitern, Minkowski, Mering, Magnus Levi, Weintraut und anderen, die Lehre von der Zuckerharnruhr von Grund aus umgestaltet und die Acidosis als Ursache des Coma diabeticum erkannt. Voits Annahme, daß beim Umsatz des Eiweißes Zucker gebildet würde, ist durch den inneren Mediziner Lüthje endgültig bewiesen worden. Die Probleme des Nucleinstoffwechsels und damit der Gicht wurden in den Laboratorien der inneren Kliniken und am erfolgreichsten durch Thannhauser bearbeitet. Auch haben die modernen Lehren der physikalischen Chemie und Colloidchemie nicht nur in der inneren Medizin, sondern selbst in der Chirurgie wertvolle Resultate zutage gefördert. Die A n a t o m i e des Menschen erschien abgeschlossen und in allen Teilen fertig in dem großen Lebenswerk Vesals, das zwei Jahrhunderte allein maßgebend war. Neue Gesichtspunkte traten in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hervor, als durch Baer, Bischoff, W. His den Älteren, Kölliker, Gegenbauer und schließlich durch Roux die Entwicklungsgeschichte und die Entwicklungsmechanik des Menschen und der Tiere erforscht wurde. Wir können uns zum Beispiel in dem komplizierten Aufbau des menschlichen Gehirns gar nicht mehr anders zurecht finden als durch die Betrachtung seiner phylogenetischen und ontogenetischen Entwicklung. Die Neurologie wie auch vor allem die pathologische Anatomie hat an diesen Forschungen den regsten Anteil genommen. Es soll nicht vergessen werden, daß Rokitansky in seinem letzten Werke den entwicklungsgeschichtlichen Gedanken zur Grundlage seiner Erklärung über die Mißbildungen des Herzens herangezogen hatte, und vor allem hat Marchand die Entwicklungsgeschichte in der Pathologie zur Geltung gebracht. So sehen wir auf allen Gebieten der Heilkunde ein fruchtbringendes Zusammenarbeiten zwischen den einzelnen Fächern und ein gegenseitiges Verständnis in den Grenzgebieten, wo früher eine eifersüchtige Trennung geübt worden

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war, vor allem aber eine Verwertung der Errungenschaften aus den exakten Naturwissenschaften. Nur wenige wissen in vollem Umfange zu beurteilen, wie viel die N o t g e m e i n s c h a f t dazu beigetragen hat, diese Zusammenarbeit zu fördern und die Laboratorien durch die Gewährung von Apparaten und Beihilfen auf eine Höhe zu bringen, wie sie vor dem Kriege nicht erreicht worden war, auch durch Stipendien, um junge begeisterte Forscher der wissenschaftlichen Tätigkeit zu erhalten. Aus allen den einzelnen Forschungsstätten steigt das Gefühl wärmsten Dankes empor zum Schöpfer und Leiter dieser Gemeinschaft, der es verstanden hat, überall die großen Probleme in den Vordergrund zu stellen.

WILHELM KOLLE FORSCHUNG UND FORSCHUNGSINSTITUTE AUF DEM GEBIET DER EXPERIMENTELLEN MEDIZIN Eine eingehende Darstellung der Entwicklung derjenigen Wissenschaft, die zusammenfassend als experimentelle Medizin bezeichnet wird und die experimentellen Arbeitsmethoden und Leistungen der experimentellen B a k t e r i o l o g i e , Serologie, Immunitätslehre, Pharmakologie, Chemotherapie, P a t h o l o g i e und P h y s i o l o g i e umfaßt, ist nur in einem umfangreichen Werk möglich. Und wenn sie alle wichtigen Ergebnisse im Sinne der Geschichtsdarstellung, die die inneren Zusammenhänge der Entdeckungen und der sich ihr anschließenden Probleme und ihrer Bearbeitung ergründen muß, berücksichtigen wollte, so wäre sie nur von Vertretern der einzelnen Sonderfacher in eingehenderen Darstellungen zu bearbeiten. Von einer solchen wissenschaftlich alles Wichtige umfassenden Darstellung mit namentlicher Erwähnung aller Gelehrter, die durch ihre Arbeiten oder Entdeckungen die Forschung förderten oder anregten, kann in dem Überblick, den ich hier zu geben beabsichtige, nicht die Rede sein. Zweck meiner Darlegungen ist es vielmehr, in kürzester Fassung zu zeigen, welchen Anteil die deutschen und speziell die preußischen Forscher und ihre Institute an der Entwicklung der experimentellen Medizin in den letzten 50 Jahren nahmen. Auch in ausländischen Instituten sind in dieser Zeit gewiß viele wichtige Fortschritte in der experimentellen Medizin erzielt worden — neben R o b e r t K o c h , dem Begründer der Aera experimenteller Forschung auf bakteriologisch-biologischem Gebiet, ist der Name von L o u i s P a s t e u r zu nennen —, aber auch ein solcher kurzer Überblick läßt doch die hervorragende Bedeutung deutlich erkennen, die beim Ausbau der experimentellen Medizin den deutschen Gelehrten und den ihnen vom Staate zur Verfügung gestellten Arbeitsstätten zukommt. An erster Stelle hat hier das p r e u ß i s c h e K u l t u s m i n i s t e r i u m durch Männer, wie A l t h o f f , S c h m i d t - O t t , N a u m a n n , K i r c h n e r , N o r r e n b e r g , K r ü s s u . a . , die durch die großen wissenschaftlichen Entdeckungen eingeleitete Aera experimenteller Forschung großzügig gefördert und darin vorbildlich auch für die übrigen deutschen Staaten gewirkt. Experimentelle Medizin ist, wenn auch nicht systematisch, so doch von einzelnen hervorragenden Ärzten schon seit einigen Jahrhunderten getrieben worden. Ein klassisches historisches Beispiel der Experimental-Forschung sind die berühmten Untersuchungen von H a r v e y über den Blutkreislauf, die bereits 300 Jahre zurückliegen. Durch Tierversuche wurde die Lehre von der Blutzirkulation begründet und damit für die Physiologie und Pathologie des Blutkreislaufes die feste Grundlage geschaffen, auf der die Physiologen und Pathologen weiterbauend die moderne Lehre der Herz- und Kreislauffunktionen schufen. Auch die Versuche der Physiologen, die Funktion der Muskeln zu erforschen, reichen schon in das 18. Jahrhundert zurück. Ich erinnere an die Zuckungsversuche, die G a l v a n i an ausgeschnittenen Froschschenkeln ausführte, ferner an die physiologischen Versuche von A l b r e c h t v. H a l l e r . Ebenso ist die Einführung von zahlreichen Operations-

Forschung und Forschungsinstitute auf dem Gebiet der experimentellen Medizin

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methoden, die schon in ältesten Zeiten, wenn auch vereinzelt, am Menschen angewendet wurden, in das Gebiet der experimentellen Medizin zu verweisen. Hierher gehören z. B. die zunächst an Tieren oder an der Leiche erprobten Versuche, die erkrankte Linse beim grauen Altersstar des Menschen zu entfernen. Die Chirurgen, die Blasensteine entfernten, die sogenannten Steinschneider, waren Wegbereiter der modernen Chirurgie und der experimentellen Medizin. Aber alle experimentellen Forschungen bedeutender Mediziner waren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur Einzelerscheinungen. Die Epoche der experimentellen Medizin, die heute noch in der Fortentwicklung begriffen ist, begann im Anschluß an die großen Entdeckungen der Physiker und Chemiker, die es ermöglichten, auch wichtige Probleme der Physiologie und Pathologie mit neuen Untersuchungsmethoden in Angriff zu nehmen. Es war um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, als die experimentelle medizinische Forschung diese Impulse erhielt, die im letzten Drittel des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts so große Erfolge in Theorie und Praxis für die Erkennung, Verhütung und Heilung menschlicher Krankheiten und Krankheitszustände erzielt hat. Sie führten zur Gründung von Forschungsstätten, großen und kleinen Instituten. In wenigen Ländern wurde auf den genannten Gebieten so vielseitig, gründlich und nachhaltig gearbeitet wie in Deutschland. Die Forschung lag bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in den Händen der Hochschullehrer und wurde auch fast allein an den Universitäten und den ihnen dienenden Instituten gepflegt. Zuerst hat sich, wie schonerwähnt, die nach exakten Methoden getriebene Forschung in der Physik und Chemie Bahn gebrochen. Dann wurden die Ergebnisse auf die experimentelle Medizin übertragen. Aber die Gebiete, die damals mittels exakter Methoden zu erforschen waren, waren noch relativ klein, weil die Fragestellungen in der Medizin zunächst noch einfach waren. Deshalb war es möglich, daß die Hochschullehrer neben ihren Lehrverpflichtungen viel Zeit und Muße für die Erforschung der Probleme übrig hatten, die im Vordergrund des Interesses standen. Unter diesen Umständen wurden daher zunächst die Hochschul-Institute als Forschungsstätten für Physik und Chemie, daneben aber auch für naturwissenschaftliche Fächer und vor allen Dingen für die experimentelle Medizin, in denen seit den Zeiten A l e x a n d e r v. H u m b o l d t s neben der Lehre die Forschung eifrig gefördert wurde, von dem Kultusministerium, dem diese Forschungsinstitute unterstanden, erweitert und zumTeil neu gegründet. Im letztenDrittel des 19. Jahrhunderts begann dann die Erkenntnis zu reifen, daß große Forschungsaufgaben nur von solchen Gelehrten durchgeführt werden können, die von anstrengenden Lehr- und sonstigen Berufspflichten befreit sind. Seit dem Jahre 1880 haben sich diese Ideen unter der Aera von v. G o s s l e r , A l t h o f f u n d seinen Mitarbeitern, unter ihnen an erster Stelle S c h m i d t - O t t und N a u m a n n , ganz durchgesetzt und zur Gründung auch von F o r s c h u n g s s t ä t t e n Veranlassung gegeben, die von den U n i v e r s i t ä t e n u n a b h ä n g i g waren. Sie führten zur Verwirklichung einer Idee, die schon A l e x a n d e r von H u m b o l d t vorschwebte und die in den letzten 50 Jahren auf vielen Gebieten in die Tat umgesetzt ist. Bevor auf die Entwicklung der einzelnen Disziplinen eingegangen wird, müssen hier kurz in großen Linien rückblickend die wichtigsten Ereignisse erwähnt werden,

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die für A l t h o f f , S c h m i d t - O t t u n d N a u m a n n maßgebend wurden, um durch Gründung besonderer großer Institute die Entwicklung der Forschung zu fördern. Tatsächlich sind manche Entdeckungen mit größten theoretischen und praktischen Ergebnissen in den großen Instituten erzielt, die für die Forschung auf dem Gebiete der Pharmakologie, der Physiologie, der Entwicklungsgeschichte und Vererbungslehre, der Chemotherapie, der experimentellen Pathologie und Bakteriologie, der Immunitätslehre und Serologie geschaffen wurden. Entdeckungen lassen sich ja nicht erzwingen, sie kommen vielfach überraschend und unvorhersehbar, sie sind auch in kleinen Forschungsanstalten möglich und oft geglückt. Aber es ist bei dem heutigen Stande der Experimentalwissenschaft mehr Aussicht vorhanden, neue Probleme anzugreifen und durchzuführen, die zu Entdeckungen führen können, wenn, wie es in g r o ß e n I n s t i t u t e n der Fall ist, für eine systematische und n a c h e i n h e i t l i c h e n G e s i c h t s p u n k t e n z i e l b e w u ß t a r b e i t e n d e F o r s c h u n g genügende Arbeitskräfte, Mittel und Einrichtungen zur Verfügung stehen. In Ergänzung der staatlichen Einrichtungen haben die von der Großindustrie für bestimmte Zwecke geschaffenen Forschungslaboratorien auf experimentellem Gebiet viel geleistet. Aber fast immer waren die grundlegenden Tatsachen, auf denen weitergebaut werden konnte, in den wissenschaftlichen Instituten der Hochschulen oder in den vom Staat eingerichteten Forschungsstätten ermittelt worden. In ihnen wurden auch die Männer herangebildet, die dann später zu theoretisch und praktisch wichtigen neuen Erkenntnissen gelangten. G e r a d e a u s g r o ß e n I n s t i t u t e n s i n d v i e l e e r f o l g r e i c h e F o r s c h e r h e r v o r g e g a n g e n . Das geistige Fluidum, das vom Leiter eines großen Institutes, wenn er ein Führer seiner Wissenschaft ist, ausgeht, die Anregungen, die in solchen Forschungsstätten die Gelehrten durch das Zusammenarbeiten unter einem Dache, durch die Bearbeitung von Problemen nach einheitlichen Richtlinien und durch die gegenseitige Kontrolle und kritische Einstellung empfangen, sind für Forscher und Forschung von größter Bedeutung. Die experimentelle Medizin umfaßt Probleme der experimentellen Physiologie und Pathologie, der Bakteriologie, Immunitätslehre, Serologie, Chemotherapie und Pharmakologie. In allen diesen Disziplinen ist heute der Tierversuch eine der wichtigsten Untersuchungsmethoden. Wenn auch viele Resultate, die mit Hilfe des Tierexperimentes gewonnen sind, nicht ohne weiteres direkt auf denMenschen übertragbar sind, so steht doch fest, daß bei richtiger Fragestellung, exakter Versuchsanordnung und kritischer Wertung das T i e r e x p e r i m e n t Großes geleistet hat und weiterhin Großes zu leisten berufen ist. Ohne Versuche an Tieren wären z. B. die großen Fortschritte in der Erkennung, Heilung und Vorbeugung vieler Krankheiten, namentlich der Infektionskrankheiten des Menschen, nicht möglich gewesen. Die moderne Klinik kann deshalb auch für ihre Forschungen die experimentellen Hilfswissenschaften nicht mehr entbehren. Soweit die Kliniken diese selbst nicht in allen Einzelheiten beherrschen können, stehen ihnen für spezielle Zwecke kleine und große Institute zur Verfügung, die der praktischen Arbeit und Förderung dieser Wissensgebiete dienen. Am weittragendsten und für die praktische klinische Medizin bedeutungsvollsten sind vielleicht die Ergebnisse auf dem Gebiete der e x p e r i m e n t e l l e n B a k t e r i o l o g i e , S e r o l o g i e u n d B i o l o g i e geworden. Die großen Entdeckungen

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von Robert Koch und Louis Pasteur und dieVervollkommnung der mikrobiologischen Methodik hatten es ermöglicht, mit exakten Methoden an die Erforschung der Infektionskrankheiten heranzutreten. Von R o b e r t K o c h und seinen Schülern wurden die Erreger der meisten Seuchen entdeckt und mittels der Kochschen Methodik der festen Nährboden reingezüchtet und mit den von W e i g e r t u n d E h r l i c h in die Färbetechnik der Mikrobiologie eingeführten Anilinfarben farberisch dargestellt. Hiermit war die Grundlage geschaffen für die exakte Diagnostik der menschlichen und tierischen Infektionskrankheiten. DieEntdeckung desTuberkulins, das neben dem direkten Bazillennachweis und der Verimpfung der krankhaften Sekrete auf Tiere für die Diagnose der Tuberkulose verwertet werden kann, und des Malleins, das in ähnlicher Weise den Rotz der Tiere und Menschen erkennen läßt, hat neue Wege zur biologischen Feststellung der Infektionskrankheiten gewiesen. Durch die Entdeckungen von E. v. B e h r i n g , R. P f e i f f e r und P. E h r l i c h erhielt das große Gebiet der Serologie feste Grundlagen. Es würde viel zu weit führen, auf die modernen Errungenschaften dieser Zweige der experimentellen Medizin im einzelnen einzugehen, an denen weiterhin namentlich A . v. W a s s e r m a n n , W . K o l l e , R. K r a u s , P. U h l e n h u t h , H. S a c h s , F. N e u f e l d , M. G r u b e r , R . O t t o , B o r d e t , W r i g h t und andere beteiligt waren. Die Serumdiagnose der Infektionskrankheiten ist ein integrierender Bestandteil der Medizin geworden. Die Forschung wurde in ungeahntem Maße befruchtet, und heute arbeiten zahlreiche Gelehrte und Institute an der Verfeinerung der serologischen Methoden. Die Auffindung der spezifischen Stoffe im Serum immunisierter Tiere durch E. v. B e h r i n g , besonders der Antitoxine, eröffnete aber auch den W e g für die Auffindung spezifischer Heilmittel. Wir verfügen heute über eine ganze Anzahl von Serumpräparaten, die als sichere Heil- und Schutzmittel eine sehr wichtige Rolle spielen, namentlich bei Tetanus, Diphtherie, Botulismus, Dysenterie, Masern, Scharlach und Schlangenbissen. Mit Hilfe der durch Immunisierung gewonnenen Sera wurde auch ein großes Gebiet der allgemeinen Biologie erschlossen und wissenschaftlichen wie praktischen Zwecken dienstbar gemacht. Die Serologie ist heute eine umfassende, in viele Disziplinen der Biologie und Medizin eingreifende und sie befruchtende Wissenschaft geworden. P. Ehrlich faßte schon zu Beginn der serologischen Aera die bekanntenTatsachen in einer ingeniösenTheorie, der S e i t e n k e t t e n t h e o r i e , zusammen, die, wenn auch heute nicht mehr in allen Punkten haltbar, doch als A r b e i t s h y p o t h e s e wertvolle Dienste geleistet hat. Zunächst wurde durch diese Theorie der Zusammenhang zwischen erworbener spezifischer Immunität und natürlicher angeborener Resistenz oder Immunität erklärt. Sie erschloß das Verständnis z. B. für die Unempfänglichkeit mancher Tierarten für Gifte, für die andere hochempfanglich sind. Dann gab sie für die Lehre von der Spezifizität der Infektionserreger und ihrer spezifischen Wirkung als Antigene ebenso leicht faßliche Bilder wie für die spezifische Zellreaktion des Organismus und die Distribution der körperfremden Substanzen und Gifte. Viele Feststellungen, namentlich die der Distributionsgesetze der Gifte, treffen auch für die Wirkung und Verteilung der Pharmaka zu. Indem die Affinität der Gifte zu bestimmten Zellen oder Organen und damit ihre Distribution im Körper des Menschen und der Tiere die Entstehung und Wirkungsweise der nach ihrer Injektion im Tierkörper entstehenden 2 8 Festschrift Schmidt-Ott

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Antikörper zu bekannten chemischen Tatsachen in Parallele gesetzt wurde, konnten viele der komplizierten I m m u n i t ä t s - V o r g ä n g e dem Verständnis näher gebracht und leichter erfaßt werden. Die spezifischen Wirkungen der Antikörper haben die Unterscheidung von Eiweißkörpern, die nach keiner chemischen Methode voneinander unterschieden werden können, — z. B. des Menscheneiweiß von Tier-, Pflanzen- und BakterienEiweiß, der Eiweißkörper der verschiedenen Tierspezies — und ihre Identifizierung mittels der Präcipitation ermöglicht. Die spezifischen Agglutinine, Bakteriolysine haben die Differenzierung und Identifizierung nahestehender Bakterienarten, die vielfach mit keiner anderen Methode unterscheidbar sind, ferner d i e D i a g n o s t i k und r e t r o s p e k t i v e D i a g n o s t i k d e r I n f e k t i o n s k r a n k h e i t e n ermöglicht. Auch viele Überempfindlichkeitserscheinungen, z. B. die Serumkrankheit und die Überempfindlichkeit gegenüber bakteriellen und tierischen Substanzen, beruhen, soweit sie in das Gebiet der e c h t e n s p e z i f i s c h e n A n a p h y l a x i e gehören, auf der Wirkung von Antikörpern. Durch den Nachweis oder das Fehlen von spezifischen Stoffen konnten auch die unspezifischen Effekte von Substanzen, die parenteral einverleibt werden, auf den Organismus von Menschen und Tieren studiert und analysiert werden. Der Mechanismus und die Grenzen der T h e r a p i e m i t u n s p e z i f i s c h e n M i t t e l n (W. W e i c h a r d t ) , mit Eiweißkörpern, Metallen, Metalloiden und deren Salzen, wurden erkannt. Hier zeigte sich die große Bedeutung, die dem R e t i k u l o e n d o t h e l und den Zellen der tiefen Hautschichten bei der E n t s t e h u n g der R e s i s t e n z und I m m u n i t ä t zukommt. Die Abgrenzung der genannten Körper von den spezifischen, durch Immunisierung wirkenden Stoffen, wie sie bei der Bakteriotherapie verwandt werden, oder den spezifischen, von den verschiedensten Organen oder Drüsen bei ihrer Funktion gelieferten Stoffen, den E n z y m e n , F e r m e n t e n und Hormonen, gelang auf serologischem Wege. Die experimentelle Serologie und Bakteriologie lieferte aber auch den modernsten Zweigen der Medizin, der K o n s t i t u t i o n s u n d V e r e r b u n g s l e h r e , wichtige Hilfsmittel. Besonders zu erwähnen ist die auf serologischen Grundlagen aufgebaute B l u t g r u p p e n f o r s c h u n g . Die Konstitutionslehre nimmt mehr und mehr ihre Entwicklung in experimenteller Richtung und steht mitderVererbungsforschung in engstem Zusammenhang. Gerade hier zeigt sich der Einfluß der experimentellen Disziplinen auf die Biologie und über diese hinaus auf die Medizin. Schon jetzt liegen zahlreiche Beobachtungen darüber vor, daß viel mehr, als man bisher annahm, die konstitutionellen Faktoren die Krankheiten, auch die Infektionskrankheiten und die Empfänglichkeit für sie wesentlich mitbedingen, daß also die Lebensschicksale der Individuen von ihren Erbmassen abhängen. Wenn die auf diesen Ideen fußende Lehre von der E u g e n i k auf die menschliche Entwicklung Einfluß gewinnen soll, muß auch hier die Experimentalwissenschaft ein Betätigungsfeld finden, wie sie für Pflanzen- und Tierzucht, zur Gewinnung seuchenresistenter, besonderen Zwecken z. B. der Landwirtschaft dienender Pflanzen- und Tierstämme bereits mit Erfolg herangezogen ist. Neben der Serumtherapie hat die s p e z i f i s c h e I m m u n i s i e r u n g die Forscher beschäftigt und uns schon heute Methoden an die Hand gegeben, die zwar nicht bei allen Infektionskrankheiten so Ideales leisten wie die Jennersche Schutz-

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pockenimpfung mit abgeschwächtem Impfstoff, aber doch wertvolle Mittel bei der Bekämpfung der Infektionskrankheiten sind, so die von R i c h a r d P f e i f f e r , W . K o l l e und W r i g h t bei T y p h u s , von H a f f k i n e und V e r f a s s e r bei C h o l e r a , von E. v. B e h r i n g bei D i p h t h e r i e , von D i c k bei S c h a r l a c h inaugurierten S c h u t z i m p f u n g e n . Alle diese für die Volksgesundheit so segensreichen Errungenschaften der experimentellen Medizin sind zum großen Teil deutschen Forschern zu verdanken, und deren Erfolge waren nur dadurch möglich, daß durch die Weitsicht des Kultusministeriums unter der Aera A l t h o f f , N a u m a n n und S c h m i d t - O t t Forschungsinstitute für die Durcharbeitung der durch die großen Entdeckungen aufgerollten Probleme gegründet wurden. Es sind das vor allen Dingen das für R o b e r t K o c h und seine Schüler gegründete Institut für Infektionskrankheiten, jetzt I n s t i t u t f ü r I n f e k t i o n s k r a n k h e i t e n R o b e r t K o c h , das für P a u l E h r l i c h geschaffene I n s t i t u t für e x p e r i m e n t e l l e T h e r a p i e in S t e g l i t z , später in F r a n k f u r t a. M., das Institut für e x p e r i m e n t e l l e T h e r a p i e in M a r b u r g f ü r E m i l v . B e h r i n g , das C h e m o t h e r a p e u t i s c h e F o r s c h u n g s i n s t i t u t G e o r g S p e y e r h a u s in F r a n k f u r t a. M. f ü r P a u l E h r l i c h , endlich die w i s s e n s c h a f t l i c h e n U n t e r s u c h u n g s - u n d F o r s c h u n g s die laboratorien des R e i c h s g e s u n d h e i t s a m t e s und später b i o l o g i s c h e n und m e d i z i n i s c h e n I n s t i t u t e der Kaiser W i l h e l m Gesellschaft. Die Erfolge der Serumtherapie, die erst durch die von E h r l i c h geschaffenen W e r t b e s t i m m u n g s m e t h o d e n bezüglich der Dosierung auf feste Grundlagen gestellt wurden, gaben diesem Forscher den Anlaß, auch die Wirkung chemischer Präparate auf Infektionskrankheiten systematisch zu prüfen. So wurde P a u l E h r l i c h durch seine klassischen Untersuchungen über die Wirkungen von Farbstoffen auf Trypanosomen, durch die von ihm geschaffenen Methoden der Prüfung von chemischen Verbindungen an infizierten Tieren und durch seine theoretisch so wichtigen Arbeiten über die Distributionsgesetze der Chemikalien im normalen und infizierten Körper der B e g r ü n d e r d e r m o d e r n e n C h e m o t h e r a p i e . Wenn wir von der C h e m o t h e r a p i e als einerWissenschaft sprechen, so haben wir das zielbewußte und nach Auffindung von Gesetzen suchende Streben im Auge, mit Hilfe des Tierexperimentes Substanzen zu gewinnen oder auf synthetischem Wege chemisch herzustellen, die die Krankheitsursache als solche beseitigen und damit das Übel von der Wurzel aus bekämpfen. Das Ziel der Chemotherapie ist also dasselbe, wie das der ihr deshalb naheverwandten Serumtherapie, die bei einigen Infektionskrankheiten den Organismus von den Infektionsstoffen in vollkommenem Maße zu befreien imstande ist. Bei vielen Infektionskrankheiten, im besonderen bei Protozoeninfektionen, bei Syphilis, Tuberkulose und den meisten bakteriellen Infektionskrankheiten versagt aber die Serumtherapie. Hier sucht nun die Chemotherapie geeignete chemische Stoffe ausfindig zu machen, mit denen sich die Vernichtung der pathogenen Mikroorganismen erreichen läßt. Alle diese Arbeiten, die uns weitgehende Einblicke in das Wesen der Heilung der übertragbaren Krankheiten gaben, haben zu bemerkenswerten, für die praktische Medizin wichtigen Heilmitteln geführt. A n die Seite der Chemotherapie ist in 28*

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neuerer Zeit die S t r a h l e n t h e r a p i e getreten, deren Verwendung mit wachsender Erkenntnis des Wirkungsmechanismus der Strahlen immer mehr an Bedeutung gewinnt. Aus der großen Menge der C h e m o t h e r a p e u t i k a , die nur auf die eine Spezies von Infektionskrankheiten eingestellt sind, möchte ich nur die wichtigsten herausgreifen, so die Arsenobenzolderivate, die unter dem Namen »Salvarsan« in den Handel gebracht werden und bei der Bekämpfung der Syphilis und Framboesie eine so große Rolle spielen, die Wismutpräparate, die sich als starke, wenn auch in ihrer namentlich spiroziden Wirksamkeit weit hinter dem direkt die Spirochaeten tötenden Salvarsan zurückbleibende Antisyphilitika herausstellten, das synthetisch hergestellte nach dem Vorbild Ehrlichs von H e y m a n n u n d R ö h l gewonnene Präparat Bayer 205, ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung der Trypanosomenkrankheiten, das gleichfalls synthetisch hergestellte, auf Grund von Tierversuchen von M o r g e n r o t h erprobte, auf Pneumokokken wirkende Optochin, das durch zielbewußte chemische Modellierung von W. S c h u l e m a n n synthetisch gewonnene Plasmochin. Die Auffindung aller dieser Mittel glückte nur durch die Heranziehung des Tierversuches, und dieser wieder war vielfach nur möglich, nachdem es mit reingezüchteten Erregern in Verfolgung der Kochschen Arbeiten gelungen war, die Krankheitserreger des Menschen, z. B. der Syphilis, der Tuberkulose, der Schlafkrankheit usw., auf Tiere zu übertragen. Denn bei der experimentellbiologischen Prüfung derartiger Mittel hat sich der lebende gesunde oder infizierte Körper fast immer im Vergleich zu den chemischen Reaktionen als viel empfindlicher erwiesen. Der Versuch im Reagenzglas kann den Tierversuch nicht ersetzen. Der Chemotherapie als der Wissenschaft von der Heilung der Infektionskrankheiten durch chemisch definierte Substanzen, die sich mit der Auffindung und Erprobung von spezifisch auf die Infektionserreger wirkenden chemischen Körpern beschäftigt, ist die moderne e x p e r i m e n t e l l e P h a r m a k o l o g i e nahe verwandt. Diese sucht, auch unter Heranziehung der synthetischen und analytischen Chemie, systematisch mit Hilfe des Tierexperimentes nach Substanzen, die Störungen der Organfunktionen und die dadurch bedingten Krankheitssymptome beseitigen. Auch hier sind viele Erfolge zu verzeichnen, denn eine große Reihe von Mitteln wurde auf experimentellem Wege als therapeutisch wertvoll erkannt. Vor dieser Aera experimenteller Forschung waren bereits durch die Ärzte, die als Empiriker die verschiedensten chemischen Körper, darunter Schwefel, Arsen, Quecksilber, Antimon und andere Metalle, bei den verschiedensten Krankheiten oft wahllos anwandten, einige wichtige Beobachtungen gemacht. Man war dadurch schon im Mittelalter in den Besitz einiger wichtiger Medikamente gelangt, die in gewissem Sinne als Chemotherapeutika bezeichnet werden können, z. B. des Quecksilbers und Arsens bei Syphilis, des Dekoktes der Chinarinde bei Malaria. Aber mit der modernen, auf Tierexperimente gestützten Chemotherapie hat diese Art von Empirie ebenso wenig etwas zu tun wie z. B. die Jatrochemie des Paracelsus, der giftige Kupfer-, Gold- und Bleipräparate oft wahllos bei den verschiedensten Krankheiten verwandte. Dieser primitiv-empirischen Forschungsweise wurde erst ein Ende bereitet durch die planmäßig vorgehende e x p e r i m e n t e l l e P h a r m a k o l o g i e , die um die

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Mitte des 19. Jahrhunderts durch R. B u c h h e i m begründet und durch seinen berühmten Schüler O. S c h m i e d e b e r g in klassischer Weise ausgebaut wurde. Die pharmakologischen Methoden wurden später durch H. H. M e y e r , M a g n u s , G o t t l i e b , S t r a u b , B ü r g i u. a. weiter vervollkommnet. Durch die systematischen Studien der Präparate an Tieren oder deren ausgeschnittenen überlebenden Organen, seien sie aus Drogen oder synthetisch dargestellt oder aus Organen mittels chemischer Methoden gewonnen, hat die experimentelle Pharmakologie in vielen Fällen wertvolle Beiträge zum Verständnis der Wirkung und zur Verbesserung und Wertbestimmung der Präparate herbeigeführt. Mit der Entwicklung der s y n t h e t i s c h e n C h e m i e auf Grund der Arbeiten von L a v o i s i e r , B e r z e l i u s , W ö h l e r , J. v. L i e b i g , K e k u l é , A. v. B a e y e r , A . W . v. H o f m a n n , E m i l F i s c h e r u. a. und dem damit zusammenhängenden A u f b l ü h e n d e r c h e m i s c h e n , vor a l l e m der d e u t s c h e n p h a r m a z e u t i s c h e n I n d u s t r i e , begann in ungeahntem Umfange eine Herstellung von pharmazeutischen Produkten. Viele von ihnen wurden zufallig oder durch wahllose Anwendung bei den verschiedensten Krankheitszuständen als Symptomatika oder Narkotika bzw. schmerzstillende Mittel erkannt. Die wissenschaftliche Experimental-Pharmakologie hat aber durch systematische Studien im T i e r e x p e r i m e n t w i c h t i g e G e s e t z e f ü r die S y n t h e s e der N a r c o t i k a und L o k a l a n ä s t h e t i k a sowie der verschiedenen H e r z m i t t e l und O r g a n p r ä p a r a t e aufgefunden und sichere Grundlagen für die therapeutische Verwendung beim Menschen geschaffen. Auch der Mechanismus der Wirkung vieler Pharmaka, die Bedeutung der Adsorbentien, z. B. der Kohle für Gifte u. a., wurde durch das Tierexperiment geklärt, die Dosierung und die Nebenwirkungen experimentell erforscht. Es wurden ferner zum Teil Hand in Hand mit der E n t w i c k l u n g der p h y s i o l o g i s c h e n C h e m i e und der experimentellen Physiologie nicht nur die F u n k t i o n e n der B l u t d r ü s e n richtig erkannt, sondern auch aus ihnen die w i r k s a m e n S u b s t a n z e n gewonnen. Die Wirkung wurde nicht nur mit Hilfe von Tierversuchen festgestellt und studiert, sondern es wurde auch die Dosierung durch Experimente z. B. an ausgeschnittenen überlebenden Organen möglich. Durch exakte Versuche im Vergleich mit Standardpräparaten wurden für manche Heilmittel Wertmaßstäbe festgelegt, die zum Teil auch internationale Anerkennung gefunden haben. So erzielte die experimentelle Pharmakologie große Erfolge in der Auffindung von Wehenmitteln, die aus der Zirbeldrüse hergestellt wurden, ebenso von Präparaten aus der Schilddrüse, aus der Nebenniere, aus den Ovarien. Es gelang so, nicht nur neue Gesichtspunkte für die Auffassung vom Stoffwechsel zu gewinnen, sondern auch diese Präparate in therapeutisch richtiger Dosierung für die Heilung von schweren Krankheitszuständen zu benutzen. Diese Experimentalstudien wirkten auch befruchtend auf andere Zweige der praktischen Heilkunde. K o m b i n a t i o n e n von N a r k o t i c i s , die zuerst B ü r g i experimentell begründete, sind z. B. zur Verbesserung der Narkose-Methoden in der Chirurgie bedeutungvoll geworden. Die innere Medizin wie die Chirurgie haben durch diese Versuche weitgehende Anregung erhalten und Nutzen daraus gezogen.

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Eine große Entwicklung mit theoretischen und praktischen Erfolgen hat, zum Teil in enger Anlehnung an die experimentelle Physiologie, die e x p e r i m e n t e l l e P a t h o l o g i e genommen. Beide Forschungsrichtungen haben, soweit sie mit Tierversuchen arbeiten, einen innigen Zusammenhang und sind auch durch Ergebnisse der inneren Medizin und später der Chirurgie und pathologischen Anatomie ergänzt worden. Die experimentelle Erforschung der Funktion der Blutdrüsen und deren Bedeutung für die Pathologie ist auf den Göttinger Physiologen B e r t h o l d zurückzuführen, der bereits 1849 durch Tierversuche die Wirkung von Sekreten der Keimdrüsen, der jetzt als Hormone bezeichneten Stoffe, auf die sekundären Geschlechtscharaktere und die Psyche nachwies. Berthold verpflanzte Hodenstückchen auf junge, völlig kastrierte männliche Tiere und sah danach die Entwicklung der spezifischen Geschlechtscharaktere auftreten, die bei den Kastraten ausblieb. Die Forschung wandte sich 40 Jahre später den Versuchen der Ovarientransplantation in Analogie der erwähnten Bertholdschen Versuche mit Testikeln zu, es folgten Beobachtungen über Akromegalie nach Hypophysis-Erkrankung, von A d d i s o n über die Bronzekrankheit bei Nebennierenerkrankungen, die B r o w n S ^ q u a r d zuerst experimentell verfolgte, dann die Beobachtungen der Chirurgen bei Totalexstirpation der Thyreoida, die zur Kachexie führt (Th. K o c h e r ) , und der Epithelkörperchen, die Tetanie zur Folge hat, weiterhin die Feststellung, daß der Kretinismus durch Schilddrüsenerkrankung bedingt ist. Alle diese Beobachtungen führten zu der praktisch und theoretisch wichtigen Erkenntnis von der außerordentlichen Bedeutung der Blutdrüsen und ihrer Sekrete, für pathologische wie physiologische Zustände. Seitdem ist das große Forschungsgebiet über die Blutdrüsen, die N e b e n nieren, Ovarien, Testikel, Schilddrüse, Zirbeldrüse, Hypophyse und T h y m u s und L y m p h d r ü s e n als O r g a n e d e r i n n e r e n S e k r e t i o n für physiologische und pathologische Vorgänge experimentell durchgearbeitet. Exakte Wertbestimmungsmethoden der Blutdrüsensekrete an Tieren, z. B. des Adrenalins, des Hypophysins, der Ovarialhormone, des Thyreoidins, die Reindarstellung und synthetische Gewinnung des Thyreoidins sind geschaffen. In neuester Zeit scheint auch die Reindarstellung des weiblichen Brunsthormons geglückt ( B u t e n a n d t ) . Durch die Gewinnung der wirksamen Stoffe aus diesen Drüsen und durch ihr Studium im Tierversuch wurden nicht nur die Fragen des Stoffwechsels in weitgehendem Maße geklärt, sondern auch neue klinische Methoden der Beeinflussung und Heilung von Krankheitszuständen, z. B. der Fettleibigkeit, der abnormen Magerkeit und vieler anderer Stoffwechselstörungen gewonnen. Diese neuen Erkenntnisse befruchteten auch andere Gebiete der praktischen Medizin und führten in vielen Richtungen zu neuen wertvollen Methoden der Therapie. Sie haben die Rolle des Blutes als Vermittler und Träger der spezifischen Stoffe der Blutdrüsen, der Hormone, in einem neuen Lichte erscheinen lassen. Gleich wichtig für die Fragen des normalen und pathologischen Stoffwechsels wurden die an den D r ü s e n d e s D i g e s t i o n s a p p a r a t e s , namentlich an P a n k r e a s und L e b e r , ausgeführten experimentellen Untersuchungen. Die Entdeckung von v. M e r i n g und M i n k o w s k i , daß nach Pankreasexstirpation

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Diabetes melitus auftritt, hat ihre Krönung mit der Auffindung und der R e i n d a r s t e l l u n g d e s I n s u l i n s , des spezifischen Sekretionsproduktes der Insel im Pankreas, in injizierbarer Form erfahren. In jahrelanger experimenteller Arbeit wurde von B a n t i n g , B e s t und M a c l e o d in dem Insulin ein für die Diabetesbehandlung jetzt unentbehrliches therapeutisches Präparat für den Arzneischatz gewonnen, das bei den schweren Zuständen der Zuckerkrankheit vielfach lebensrettend wirkt. Der Stoff- und Kraftwechsel des menschlichen und tierischen Organismus wurde durch chemisch-physiologische Forschungen über den Abbau von Eiweiß, Kohlehydraten und Fett, ihre gegenseitige Vertretung in Verbindung mit Versuchen an Menschen und Tieren in neues Licht gesetzt. Diese Forschungsergebnisse beeinflußten die Lehre von der E r n ä h r u n g d e s g e s u n d e n u n d k r a n k e n M e n s c h e n in weitgehendem Maße und gaben auch die Anregung, die Arbeitsleistungen gesunder Menschen systematisch wissenschaftlich zu untersuchen (M. R u b n e r ) . Die A r b e i t s p h y s i o l o g i e ist namentlich für die bedeutsame Frage, wie die Industriearbeiter am rationellsten bei den verschiedenen Formen der Arbeitsleistung ernährt werden, von größter volkswirtschaftlicher und hygienischer Bedeutung. Die experimentelle Pathologie hat die Ernährungsfragen auch durch den Nachweis der V i t a m i n e oder Ergänzungsstoffe geklärt und gefördert. E i j k m a n zeigte, daß Tauben nach längerer Fütterung mit geschältem und poliertem Reis an schweren nervösen Erscheinungen erkranken und regelmäßig sterben, daß die Erkrankung aber aufgehalten werden kann, wenn sie mit nicht geschältem Reis gefüttert werden. Daraus schloß Ei j km an auf das Vorhandensein eines für die Ernährung und das Leben notwendigen Stoffes, den C. F u n k als Vitamin bezeichnete. Heute kennen wir eine ganze Anzahl solcher für den menschlichen und tierischen Organismus notwendiger Vitamine. Fehlen sie in der Nahrung, so entstehen Beri-Beri, Skorbut, Rachitis, Xerophthalmie. Menschen, die nur polierten Reis essen, erkranken an der gefürchteten Beri-Berikrankheit. Die Aetiologie dieser bis dahin als Infektionskrankheit aufgefaßten, jetzt als Ernährungsstörung erkannten Erkrankung ist aufgeklärt, ihre Heilung ermöglicht. Die e x p e r i m e n t e l l e S t r a h l e n f o r s c h u n g hat das Vitamin-Problem, das auch für die Chemie interessant ist, befruchtet, seit W i n d a u s das E r g o s t e r i n durch Ultraviolettbestrahlung in ein A n t i - R a c h i t i s - V i t a m i n verwandeln konnte. Die experimentelle Strahlenforschung ist aber auch in vielen anderen Richtungen für die Medizin bedeutungsvoll geworden. Die Wirkung der Ultraviolettstrahlen, Röntgen- und Radiumstrahlen auf den Gesamtorganismus, auf die Haut, auf das lebende oder tote Eiweiß ist Gegenstand der Forschung gewesen und hat bereits zu mancherlei bemerkenswerten Ergebnissen geführt. Das große Gebiet der unspezifischen Resistenz-Steigerung, der parenteral durch Injektion von Eiweiß erzielten Protoplasma-Aktivierung steht mit den Wirkungen der Strahlen auf den lebenden Körper in innigem Zusammenhang. Während bei den sogenannten Avitaminosen (Skorbut, Beri-Beri, Rachitis) das Fehlen oder der ungenügende Gehalt der Nahrung an Stoffen, die quantitativ im Verhältnis zur Gesamtnahrung so minimal sind, Gesundheits-

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Störungen auslöst, bedingt bei manchen Menschen die Anwesenheit anderer Stoffe in der Luft oder Nahrung Schädigungen und Erkrankungen des Organismus. Es sind dies die A l l e r g e n e , die in minimalster Menge auf der Haut, den Schleimhäuten des Atmungs- und Digestionstraktus bei einzelnen Individuen schwere Reiz- und Entzündungswirkungen auslösen. Das experimentelle Studium der durch Allergene bedingten Störungen des Wohlbefindens hat für deren Verhütung bei solchen gegen bestimmte Stoffe überempfindlichen Menschen schon praktische Erfolge gehabt (Heufieber, allergenefreie Kammern von S t o r m v a n Leeuwen). Wohl kaum jemals ist ein Krankheitsproblem in größerem Umfange und mit mehr Energie studiert worden als in den letzten Dezennien das der K r e b s k r a n k h e i t . Seit den ältesten Zeiten hat die Krebserkrankung bei Ärzten und Laien das denkbar größte Interesse erweckt. Als durch die Zellularpathologie von V i r c h o w auch auf die bösartigen Geschwülste helleres Licht geworfen war, wandte sich zunächst die pathologische Anatomie der morphologischen Erforschung der Tumoren zu. Das experimentelle Studium der Geschwülste begann um die Jahrhundertwende mit der Entdeckung der Transplantabilität bösartiger Tiertumoren durch C. O. J e n s e n , wodurch auch dieses Gebiet der experimentellen biologischen Forschung zugänglich wurde. Die wichtige Entdeckung, daß gewisse Arten von Hühnersarkomen durch ein filtrierbares zellfreies Agens übertragen werden können ( R o u s , M u r p h y u. a.), die Feststellungen von C a r r e l und A. F i s c h e r , daß man auch in Gewebskulturen gewisse Zellarten auf diese Weise und ebenso auch auf chemischem Wege zu Sarkomzellen machen kann, sind zwar zur Zeit in ihrer Bedeutung keineswegs geklärt, aber man darf doch vielleicht von ihnen einen prinzipiellen Fortschritt in der Erkenntnis des Wesens der Krebskrankheit erhoffen; ähnlich wie seinerzeit die Versuche von P a u l E h r l i c h u n d A p o l a n t über die Immunität bei den transplantablen Mäusetumoren die erste Anregung für den Fortschritt in der Lösung dieser Probleme gegeben haben. So scheint die Frage, die den Kernpunkt des Krebsproblems bildet, warum eine Zelle krebskrank wird, sich allmählich ihrer Lösung zu nähern. Hierzu haben wesentlich beigetragen die Versuche zahlreicher Forscher über die experimentelle Erzeugung des Krebses durch chemische Reizwirkungen, besonders Teer ( Y a m a g i w a u n d I t c h i k a w a u. a.), durch parasitäre Reize ( F i b i g e r u.a.), Untersuchungen, die die uralte Frage, ob es einen Krebserreger im Sinne der Erreger von Infektionskrankheiten gibt, wenn auch nicht sicher, so doch mit größter Wahrscheinlichkeit dahin beantworteten, daß ein einheitlicher Krebserreger im Sinne der Infektionserreger nicht existiert. Von großer Bedeutung für die Kenntnisse vom Wesen der kranken Krebszelle dürften ferner die Versuche über die Stoffwechseländerungen der Krebszelle sein, die schon vor längerer Zeit von P e t r i , B l u m e n t h a l und N e u b e r g ausgeführt wurden und in den letzten Jahren durch die Untersuchungen von O. W a r b u r g über den Kohlehydratstoflwechsel der Krebszelle einen bedeutungsvollen neuen Impuls erhielten. Aussichtsreich sind vielleicht auch die Versuche über den Zusammenhang der Genese sowohl als auch des Tumorwachstums mit der Diät.

Forschung und Forschungsinstitute auf dem Gebiet der experimentellen Medizin

Auch die von H a r r i s o n , C a r r e l u n d B u r r o w s inaugurierte Gewebszüchtung hat bereits neue Gesichtspunkte ergeben und dürfte berufen sein, das Krebsproblem auch weiterhin zu fördern und der Lösung näherzubringen. Nicht zuletzt muß auch der S t r a h l e n w i r k u n g auf die Tumoren an dieser Stelle gedacht werden. Die Entdeckung, daß Röntgenstrahlen ( D e s p e i g n e s ) und Radiumstrahlen (W. C a s p a r i u. F. B l u m e n t h a l , H o l z k n e c h t u. E x n e r ) auf bösartige Tumoren eine intensive Wirkung, ja vielfach einen Heileffekt entfalten, ist für die Therapie der Krebskrankheit von weittragender Bedeutung geworden. Diese Heilwirkung der Röntgen- und Radiumstrahlen hat aber auch zu bemerkenswerten allgemeinbiologisch wertvollen Erkenntnissen geführt. Die Heilwirkung dieser Strahlen beruht, wie namentlich C a s p a r i und D e s s a u e r experimentell bewiesen haben, auf der Zerstörung eines Teiles der Krebszellen, die, wie H o l t h u s e n u. a. gezeigt haben, in gewissen Lebensstadien besonders strahlenempfindlich sind. Die so entstehenden toten Teile der Zelle liefern die Nekrohormone, d. h. Stoffe, die einerseits zelltötend wirken können, andererseits bei ihrem Übertritt ins Blut starke allgemeine Abwehrreaktionen hervorrufen. Hier ist vielleicht ein allgemein gültiges Gesetz für die Ursache des Alterns, des Absterbens und der Regeneration von Zellen auch unter physiologischen Verhältnissen aufgedeckt. Die Erfahrung der Wichtigkeit der frühzeitigen Erkennung der malignen Geschwulst für den Ausgang jeder Therapie hat zahlreiche Forscher zu serologischen Experimenten bei krebskranken Menschen und Tieren in großem Ausmaße angeregt. Aber bis heute ist trotz der eifrigen Studien eine auch nur einigermaßen befriedigende serologische Diagnostik der bösartigen Geschwülste nicht erreicht worden. Wenn die aufgezählten Entdeckungen und Fortschritte in enger Beziehung zu den physiologischenVorgängen stehen, so ist auf dem Gebiete der e x p e r i m e n t e l l e n P h y s i o l o g i e doch noch auf die grundlegenden Arbeiten, die namentlich die H e r z und G e h i r n f u n k t i o n betreffen, kurz hinzuweisen. Seit J o h a n n e s M ü l l e r , E. D u B o i s - R e y m o n d , H. v. H e l m h o l t z , C a r l L u d w i g die ExperimentalPhysiologie mit festen Grundlagen versahen, hat der Tierversuch eine immer größere Rolle gespielt. Die Studien über die Blutzirkulation, über die Funktion des Herzens unter den verschiedensten Bedingungen und die dabei gewonnenen Einblicke in den Mechanismus des Zirkulationsapparates haben weitgehend die innere Klinik beeinflußt. Das gleiche gilt für die Studien über die Lokalisation der verschiedenen Hirnfunktionen, die in gemeinsamer Arbeit von Experimentatoren, Klinikern und Chirurgen gewonnen wurden. Seit den Arbeiten von F1 o u r e n s, später F r i t s c h und H i t z i g , G o l t z , M ü n k und v. M o n a k o w haben sie weitgehende experimentelle Bearbeitung gefunden. Institute für Hirnforschungen, in denen auch die anatomischen Grundlagen weiter geklärt wurden, sind im Zusammenhang mit psychiatrischen Forschungsinstituten gegründet worden und für die Erkenntnis der Geistesund Gehirnkrankheiten von größter Bedeutung. Als Beispiel hierfür möge die moderne P a r a l y s e b e h a n d l u n g d u r c h M a l a r i a - oder R e c u r r e n s - I n f e k t i o n , die W a g n e r - v. J a u r e g g experimentell näher begründete, dienen. Die an Paralytikern

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mit fiebererzeugenden Mitteln und Bakterien angestellten Experimente haben einen Fortschritt in der Behandlung dieser bisher therapeutisch so aussichtslosen Krankheit herbeigeführt. Ein Überblick über die wichtigsten Ergebnisse der experimentellen Medizin wäre nicht vollständig, wenn nicht der Experimente gedacht würde, durch welche die V e r e r b u n g s l e h r e seit den Entdeckungen von M e n d e l , de V r i e s , H e r t w i g , C o r r e n s , G o l d s c h m i d t u. a. eine Wissenschaft von großer Bedeutung geworden ist. Nicht nur die Tierzuchtversuche, wie sie die experimentelle Zoologie jetzt systematisch durchgeführt (Erwin B a u r , K ü h n , Nachtsheim), sondern auch die Experimente der Botanik, die sich mit den Vererbungs-, Mutations- und Variations-Erscheinungen der Pflanzen beschäftigen, haben die Vererbungslehre befruchtet. Diese kann ja, soweit sie den Menschen betrifft, nicht in dem Sinne experimentell sein wie bei systematischen Züchtungen von Tieren und Pflanzen. Aber gerade hier zeigt sich der enge Zusammenhang der einzelnen Disziplinen der experimentellen Naturwissenschaft. Überall und trotz aller Spezialisierung, die hier stattgefunden hat, greifen die einzelnen Disziplinen so ineinander über, daß ein jeder Experimentator, auch der Vertreter der experimentellen Medizin und Therapie, sich über die Ergebnisse der anderen Disziplinen unterrichten muß. Das tritt vielleicht am deutlichsten auf dem Gebiete der Vererbungslehre zutage. Die innere Medizin und die Hygiene haben von der Vererbungslehre starke Anregungen erhalten. Mehr als es von den Ärzten früherer Zeiten angenommen wurde, sind Konstitution, Krankheitsveranlagung und Widerstandsfähigkeit gegen Infektionen und Schädigungen des Lebens, wie sie die Zivilisation mit sich bringt, als von der Erbmasse abhängig erkannt. Namentlich die Hygiene, die in der verflossenen Periode sich mit dem Studium des Einflusses von äußeren Faktoren, wie Klima, Ernährung, Krankheitsverhütung durch hygienische Nahrung, Wasserversorgung, Kleidung, Wohnung, Hautpflege, beschäftigte, hat bei den Forderungen der Zuchtwahl, wie sie bei der Eheberatung praktischen Ausdruck fand, in der experimentellen Erbforschung und Zoologie Rückhalt und Förderung erhalten. Aber die Bearbeitung dieser Probleme ist in der ersten Entwicklung begriffen. Je langsamer und schwieriger praktische Ergebnisse durch experimentelle Studien zu erzielen sind, um so mehr ist überall, wie es bei der Pflege der reinen Wissenschaft notwendig ist, die Hilfe und Unterstützung des Staates unentbehrlich, und gerade hier zeigt sich die große Bedeutung einzelner Persönlichkeiten, die in den Kultusministerien die Fürsorge für die Wissenschaft und die Verantwortung für ihre Entwicklung tragen. In Deutschland ist in den letzten 50 Jahren der Aufschwung der experimentellen Medizin und aller mit ihr im Zusammenhang stehenden und in Frage kommenden kurz und abrißartig skizzierten Gebiete in musterhafter Weise gefördert worden, und die Männer, die, den Geist der Zeit erkennend, mit Hilfe weitblickender Gelehrter für den Fortschritt eintraten, sollen besonders des Dankes aller versichert sein, die rein wissenschaftliche Fragen erforschen und sich zur Vertiefung des Naturerkennens und zum Fortschritt des Erkennens der Krankheiten in ihrem Lebensberuf einsetzen.

Forschung und Forschungsinstitute auf dem Gebiet der experimentellen Medizin

In den Zeiten nach dem unglücklichen Abschluß des Weltkrieges ist auch die von E x z e l l e n z S c h m i d t - O t t geschaffene Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft eine Zuflucht und ein Hort deutscher Forschung gewesen. Nicht zum wenigsten ist es diesem Manne zu danken, daß wichtige Probleme der experimentellen Medizin auch in den Zeiten geistiger und materieller Not weiter gefördert oder neu in Angriff genommen werden konnten und daß die deutsche Wissenschaft den Platz an der Sonne, den sie sich durch die Arbeit und Erfolge ihrer Vertreter verdient hatte, behielt und, wie wir im Vertrauen auf den jugendlichen Nachwuchs der Nation hoffen, behaupten wird. Aber für den deutschen Nachwuchs an Forschern gilt wie für alle Gelehrtenarbeit das Wort: »Per aspera ad astra!« Nur durch unermüdliche Arbeit wurden die Fortschritte, die Entdeckungen gezeitigt. Der sittlichen These der Arbeit unterstehen auch Genies, an denen es der deutschen Nation, wie es in der Vergangenheit war, auch in der Zukunft nicht fehlen möge.

HERMANN MIESSNER, JOHANNES PAECHTNER TIERHEILKUNDE An der freudigen Entwicklung, die den Weg der deutschen Wissenschaft im letzten Halbjahrhundert kennzeichnet, hat nicht zuletzt die Tierheilkunde ihren redlichen Anteil; ja man darf wohl sagen, daß gerade sie in dieser Zeitspanne einen besonders bedeutsamen und entscheidenden Abschnitt ihres Werdeganges durchlaufen hat, der sie aus der Stellung eines überwiegend praktischen Berufes zu der einer im vollen Sinne wirkenden und anerkannten wissenschaftlichen Disziplin mit allen hierfür in Betracht kommenden Voraussetzungen, Leistungen und Auswirkungen erhob. Es mag gestattet sein, zunächst eine knappe Skizze der Umstände und Bedingungen zu entwerfen, aus denen heraus sich der Aufstieg der tierärztlichen Wissenschaft in dem vorliegenden Zeitraum vollzog, also im wesentlichen der t i e r ä r z t l i c h e n B i l d u n g s a n s t a l t e n und der V o r b e d i n g u n g e n der tierärztlichen F a c h b i l d u n g zu jener Zeit. Sie waren in jeder Hinsicht, um es kurz zu sagen, dürftig genug und entbehrten fast jeglicher Vorbedingung wissenschaftlichen Wesens: T i e r a r z n e i s c h u l e n mit kümmerlichster Ausstattung, notdürftig für die Bedürfnisse ihres Lehrbetriebes eingerichtet, der von verhältnismäßig wenigen, mit verschiedenartigsten Lehraufträgen überlasteten Lehrkräften schulmäßig und in der Hauptsache nach rein praktischen Gesichtspunkten erteilt wurde an S t u d i e r e n d e von m a n g e l h a f t e r V o r b i l d u n g (Lateinschule). Es fehlte demnach an den äußeren Voraussetzungen wissenschaftlicher Betätigung in jeder Beziehung, und es ist fast erstaunlich, daß unter solch ungünstigen Bedingungen sich doch Forscherdrang und Forscherarbeit in einem Maße regen konnten, wie es etwa die Namen einesAdam Kersting, Ed. Hering, C. H. Hertwig, Fr. Günther, A. Ch. Gerlach, L. Franck, D. C. Haubner, W. Schütz u. a. bekunden. Sie künden uns zugleich von dem lebendigen Drang nach wissenschaftlicher Entwicklung und dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit für die Bildung und Tätigkeit des tierärztlichen Berufes, der in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter der Führung bedeutender Fachgenossen, getragen von dem einmütigen Willen der deutschen Tierärzteschaft, mit Macht ans Licht strebte. Von einschneidender Bedeutung hierfür war die Gründung des Deutschen Veterinärrates im Jahre 1874 durch den Münchener Professor Johann Feser. Er hatte die wissenschaftlichen Nöte der Veterinärmedizin und ihre Bedeutung für die Entwicklungsnotwendigkeiten des tierärztlichen Standes klar erkannt. Nur durch einen engen Zusammenschluß aller Tierärzte und der bestehenden örtlichen Verbände war eine Änderung möglich. Weit vorausschauend hatte er in der damaligen Begrüßungsrede bei der Eröffnungssitzung des ersten Deutschen Veterinärrates in Berlin die Ziele der zu gründenden Organisation gesteckt, die auch heute noch uneingeschränkt gelten, deren teilweise Erfüllung die rastlose, über 50jährige Tätigkeit des Deutschen Veterinärrats unter der Führung hervorragender Männer gebracht hat:

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»Mit dem ehrlichen Willen, dem Vaterlande durch unseren Beruf zu dienen, mit dem Aufwand aller Kräfte hierfür, kann es nicht ausbleiben, daß wir die Hauptzwecke des tierärztlichen Standes — die Gesunderhaltung und Vervollkommnung unserer Haustiere, die Entwicklung einer blühenden Viehzucht, damit die Hebung des Nationalwohlstandes möglichst erreichen. Man soll den deutschen Tierärzten nicht vorwerfen können, daß sie ihre Aufgabe nicht verstehen oder daß sie nicht genügend zur Erfüllung derselben beitragen könnten. Lassen Sie uns vielmehr zeigen, daß wir ohne Überschätzung die uns zugeteilte Stelle im Reichsorganismus auszufüllen bemüht sind, indem wir alle Einrichtungen befürworten und mit vorbereiten helfen, die der Nutzbarmachung des tierärztlichen Standes förderlich sind. Gelingt es unserem gemeinschaftlichen, ruhigen und besonnenen Wirken, den von uns beabsichtigten Beitrag zur Erziehung tüchtiger Veterinäre, zur Schaffung einer guten Veterinärgesetzgebung und zweckentsprechenden Veterinärverwaltung zu leisten, so werden all' unsere Mühen und Opfer reichlich entschädigt sein.« Dem Streben des 1874 auf Fesers Anregung gegründeten und unter Führung bedeutender Fachgenossen, wie Carl Dammann, Jakob Esser, v. Beißwänger, A. Lydtin, R. Schmaltz, R. Lothes aufblühenden Deutschen Veterinärrates reiften bald schöne Erfolge und schufen der deutschen Tierheilkunde eine sichere Grundlage wissenschaftlichen Aufstiegs, zunächst durch eine H e b u n g der V o r b i l d u n g s b e d i n g u n g e n für das t i e r ä r z t l i c h e S t u d i u m , die mit der Einführung der Maturität im Jahre 1902 ihren endgültigen Ausdruck fand, weiterhin mit der E r h e b u n g der T i e r a r z n e i s c h u l e n zu akademischen H o c h s c h u l e n und den damit verbundenen wesentlichen Änderungen des Verwaltungs- und Studienbetriebes (Einführung des Wahlrektorats und akademischen Lehrkörpers), schließlich aber mit dem im vorliegenden Zusammenhang vornehmlich interessierenden und bedeutsamen A u s b a u der t i e r ä r z t l i c h e n B i l d u n g s a n s t a l t e n zu q u a l i f i z i e r t e n Stätten w i s s e n s c h a f t l i c h e r F o r s c h u n g . In Preußen war wohl seit 1855 die Obersekundareife als Grundlage für das tierärztliche Studium gefordert worden. Leider wurde aber diese Bedingung 1869 mit Schaffung einer Reichsvorschrift auf die Sekundareife herabgesetzt. Erst im Jahre 1878 gelang es dann, die Primareife und ein 7-semestriges Studium durchzusetzen. 25 Jahre währte dann ein zäher Kampf um die Erlangung der Maturität als Grundbedingung für das tierärztliche Studium. Einen sachkundigen, wohlberatenen und weitblickenden Förderer fanden diese Bestrebungen in dem damaligen Prinzen, späteren König Prinz Ludwig von Bayern, der auf einer Tagung im bayerischen Landwirtschaftsrate 1899 auf einen durch L. V o g e l vertretenen diesbezüglichen Antrag der Tierärzteschaft antwortete, daß ihm die Forderung so sympathisch, so begründet, so notwendig erschienen sei, denn f ü r die T i e r ä r z t e sei die beste V o r b i l d u n g ihm gut genug. Der Präsident des Gesundheitsamtes, Köhler, der damalige Ministerialdirektor im Preußischen Landwirtschaftsministerium, Heinrich Küster, und ein meisterhafter Bericht von

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Willi Schütz, Tierärztliche Hochschule Berlin, brachten die Entscheidung (vgl. Schmaltz, 50 Jahre Deutscher Veterinärrat). Am 3. Juli 1902 beschloß der Bundesrat die Einführung der Universitätsreife für das tierärztliche Studium. Damit war endlich nach mühevollen Kämpfen und zahlreichen schweren Enttäuschungen der langersehnte Fortschritt erreicht. Nun lag die Bahn für die Weiterentwicklung der inzwischen zu Hochschulen erhobenen tierärztlichen Bildungsanstalten frei. Die Hochschulen erlangten in der Folgezeit das Promotionsrecht, die Einführung des Privatdozententums. Endlich wurde auch die Zahl der Studiensemester zuerst auf 8 und schließlich auf 9 erhöht. Nach Einführung der Rektoratsverfassung und der grundsätzlichen Gleichstellung der Ordinarien mit denen der Universitäten und technischen Hochschulen war nun eine den akademischen Forderungen und Gebräuchen Rechnung tragende Einrichtung geschaffen. Mit den erhöhten Anforderungen an die Vorbildung und an das Studium ging die Entwicklung der Hochschulen an wissenschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten Hand in Hand. Dies geschah — mit gewissen zeitlichen und örtlichen Verschiedenheiten — seit dem Anfang der achtziger Jahre durch die verbesserte Ausstattung der wenigen vorhandenen und durch Gründung zahlreicher neuer Lehr- und Forschungs statten (so z. B. zoologischer, botanischer, chemischer, physiologischer, pathologischer, pharmakologischer, hygienischer Institute), zu denen in neuester Zeit an einzelnen tierärztlichen Bildungsanstalten noch solche für Tierzucht und Vererbungsforschung, für Mikrobiologie und Parasitologie, für animalische Nahrungsmittelkunde traten; auch die bauliche Anlage und technische Einrichtung der Kliniken, wie die Versorgung mit Betriebsmitteln und Arbeitskräften fanden allenthalben (mit wenigen Ausnahmen) eine angemessene, z. T. auch eine vorbildliche Förderung. Die Frucht dieser Aufwendungen ist nicht ausgeblieben; sie kündete sich bald an im Aufblühen einer regen und vielfältigen wissenschaftlichen Arbeit auf den verschiedensten Gebieten der Veterinärmedizin, deren Einzelbehandlung sich hier aus räumlichen Gründen verbietet; doch sei erinnert an die Entwicklung der speziellen und der vergleichenden Tieranatomie und der einschlägigen mikroskopischen Anatomie durch die meisterhaften Arbeiten eines W. Ellenberger, H. Baum, P. Martin, R. Schmaltz und O. Zietzschmann, an die experimentelle Begründung einer speziellen Physiologie der herbivoren Haustiere durch W. Ellenberger und seine Schule, an die maßgebliche Förderung der experimentellen Physiologie des Zentralnervensystems durch Hermann Münk, den ersten Physiologen der Tierärztlichen Hochschule Berlin. Besondere Erwähnung gebührt ferner neben der speziellen und vergleichenden Tierpathologie und pathologischen Anatomie, die in den Händen eines W. Schütz, Th. Kitt und E. Joest eine den Leistungen der Humanmedizin vergleichsweise ebenbürtige Entwicklung erfuhr, die Tierhygiene mit ihren Hilfsdisziplinen Mikrobiologie und Serologie und ihren Anwendungsgebieten, insbesondere der systematischen Ätiologie und Seuchenbekämpfung. Es darf ausgesprochen werden, daß gerade dieses Gebiet der wissenschaftlichen Tierheilkunde in zielbewußter Auswertung der bahnbrechenden Erkenntnisse eines Pasteur und Robert Koch und

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unter der Führung von Männern wie Wilhelm Schütz, Th. Kitt und Robert von Ostertag eine vorbildliche, fruchtbare und segensreiche Entwicklung erfahren hat, die zu den beachtenswertesten Leistungen der Medizin überhaupt gehört. Hiervon zeugen heute stattliche veterinärhygienische Institute und die Fülle von wertvollen Erkenntnissen diagnostischer, prophylaktischer und therapeutischer Art, die aus ihnen hervorgingen und, in die Praxis der Seuchenbekämpfung umgesetzt, dem Volkswohlstand und der Volksgesundheit unermeßlichen Nutzen brachten und bringen. Es sei nur an die fast hundertprozentig wirksame Schutzimpfung gegen den Rotlauf der Schweine, an die hochwertige Heilwirkung des Rotlaufserums, an die bedeutenden Fortschritte in der Bekämpfung der vordem verheerenden Aphthen seuche, des Anthrax, der Malleosis u. a. m. erinnert, über welche die veterinärmedizinische Fachliteratur, eindringlicher noch die Veterinär- und Medizinalstatistik, beredten Aufschluß geben. Eines besonderen Anwendungsgebietes dieser Disziplin, der animalischen Nahrungsmittelkunde und Nahrungsmittelhygiene wird später noch Erwähnung geschehen. Uber das Wirken wissenschaftlicher Arbeit auf dem Gebiete der eigentlichen T i e r h e i l k u n d e und bedeutsame Erfolge derselben wären unzählige Einzelheiten zu sagen, von denen die einschlägigen Lehr- und Handbücher, die periodische klinische Fachliteratur in umfangreichen Bänden künden, hier aber nicht berichtet werden kann. Doch mag betont sein, daß auch in den in ihren Zwecken mehr praktisch gerichteten klinischen Disziplinen gleichermaßen wie in der Medizin der Grundsatz wissenschaftlicher Methode waltet und in enger Fühlung mit den Fortschritten aller in Betracht kommenden Grund- und Hilfswissenschaften gearbeitet wird. Die Anwendung der physiologischen Chemie, der Haemotologie und Serdologie, der Elektrokardiographie und Röntgentechnik, der diagnostischen und didaktischen Kinematographie, die hochentwickelte Technik chirurgischer und geburtshilflicher Eingriffe und des einschlägigen Instrumentariums geben hierüber Auskunft. Unter den für dieVeterinärmedizin und ihre Berufsarbeit wichtigen Forschungsgebieten kann schließlich die Tierzucht und Tierernährungslehre nicht unerwähnt bleiben, und so ist zu sagen, daß auch auf diesen für Land- und Volkswirtschaft gleich wichtigen Gebieten von ihr beachtenswertes geleistet worden ist, seit langem schon vornehmlich in Süddeutschland, wie die Namen der Tierzüchter Albrecht, Lydtin, L. Vogel bekunden. Der Veterinärmedizin ist es Bedürfnis und Pflicht, an der wissenschaftlichen Bearbeitung der Tiervererbungsfragen und ihrer nutzbaren Anwendung in gemeinsamer Arbeit mit Landwirtschaft und Agrikulturchemie an ihrem Teil und nach ihren Kräften mitzuwirken, und sie hat dies erst neuerdings durch Einrichtung von besonderen Tierzuchtinstituten an den Tierärztlichen Hochschulen zu Berlin und Hannover, welch letzteres durch seinen Schöpfer, C. Kronacher, bald Weltgeltung erlangte, deutlich zum Ausdruck gebracht. Wenn in der Entwicklung der wissenschaftlichen Veterinärmedizin ein wesentliches Versäumnis zu verzeichnen ist, so ist dies die Unterlassung einer rechtzeitigen Pflege der wissenschaftlichen Grundlagen der Tierernährung, d. h. also der experimentellen Stoffwechselphysiologie und der darauf begründeten Fütterungs-

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technik. Es mag dies wohl durch die in den 6oer und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts unzulängliche tierärztliche Ausbildung in den naturwissenschaftlichen Grunddisziplinen und in der Physiologie, vor allem in der Chemie und chemischen Physiologie bedingt sein; jedenfalls besteht die Tatsache, daß eine systematische Mitarbeit der Veterinärmedizin an der Begründung der wissenschaftlichen Fütterungslehre, die zur entscheidenden Zeit unterblieb, diese vielmehr fast ausschließlich der Agrikulturchemie überlassen wurde. Dies ist insofern zu beklagen, als dadurch, abgesehen von der rein wissenschaftlichen Bedeutung dieses Gebietes, der Veterinärmedizin ein Tätigkeitsfeld verschlossen blieb, auf dem sie in ihrem eigenen, wie vor allem im rein sachlichen Interesse Nützliches hätte leisten können. Damit ist nicht gesagt, daß es an tierärztlicher Betätigung in den einschlägigen Dingen überhaupt gefehlt hätte: die hohen Verdienste Wilhelm Ellenbergers sind in dieser Richtung bereits gewürdigt. Auch an anderen Orten so z. B. in der Schule von N. Zuntz sind mehrfach Tierärzte in Dingen der experimentellen Stoffwechselphysiologie erfolgreich tätig gewesen wie z. B. O. Hagemann, C. Dahm und besonders W. Klein, der auf diesem Gebiete sehr Beachtliches geleistet hat. Aus der Ellenbergerschen Schule ist in A. Scheunert, ein Mann von Rang und Einfluß im Fütterungswesen, hervorgegangen; aber dies alles ist bisher ohne grundsätzlich bestimmenden Einfluß auf eine diesbezügliche Ausgestaltung der tierärztlichen Berufsausbildung und ihre dementsprechende planmäßige Anwendung in der praktischen Tierwerbung, in Ergänzung der kurativen tierärztlichen Tätigkeit, geblieben. Es wird nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Aufgabe der Veterinärmedizin sein, in dieser Hinsicht Versäumtes so gut als möglich nachzuholen. Alles in allem aber darf man wohl sagen, daß die deutsche Tierheilkunde sich im Laufe des verflossenen Halbjahrhunderts durch ernstes und erfolgreiches Streben zur befähigten und anerkannten Dienerin der Wissenschaft emporgerungen hat. Hand in Hand mit den Naturwissenschaften und der Medizin geht sie auf gemeinsamen Forschungsgebieten den Grundfragen des Daseins nach und sucht mit jenen in den Erscheinungen des Lebens und Webens der Organismenwelt nach den sinnlich wahrnehmbaren Spuren ihrer Zusammenhänge und Gesetze. Aber ihre wesentliche Aufgabe ist nach Lage der Dinge doch die, den Zwecken des praktischen Lebens, d. h. der Förderung der gewaltigen, in den Nutztierbeständen verkörperten volkswirtschaftlichen Werte zu nützen, zumal in einer Zeit, die wie die unsrige der Landwirtschaft, der Tierproduktion und eigentlich jedem Gewerbe den Kampf ums Dasein unendlich schwer macht, und von jedem, der darin Erfolg haben will, eine umsichtige, erschöpfende Ausnutzung aller nutzbaren Möglichkeiten fordert. Somit sind also Heilung und Verhütung von Tierkrankheiten, Förderung der Tierhaltung, Tierwerbung und Tiernutzung ihre nächstliegenden Aufgaben. Daneben aber und nicht minder bedeutsam die Sicherung des Menschen vor den mannigfachen Gefahren, die ihm, sei es durch übertragbare Seuchen, tierische Parasiten, schädliche oder verdorbene Nahrungsmittel tierischer Herkunft drohen. Was dies anbelangt, so wäre zunächst der fortschreitenden Erfolge der kurativen tierärztlichen Tätigkeit zu gedenken, an die es freilich kaum möglich ist, ein objektives

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Wertmaß anzulegen; jedenfalls steht es aber außer Zweifel, daß es sich dabei — ganz abgesehen von dem auch hier gültigen Imponderabile der Linderung von Leiden und Sorgen — um ganz bedeutende Werte an Geld und Gut handelt; das erhellt schon aus der Überlegung, daß das Objekt dieser Tätigkeit — der deutsche Nutztierbestand — einen volkswirtschaftlichen Wertfaktor von mindestens 10 Milliarden Reichsmark verkörpert, wovon jahraus jahrein zunehmend ein beträchtlicher Anteil durch die ärztliche Kunst der Tierärzte vor der sonst unvermeidlichen Vernichtung bewahrt bleibt. Einen offenkundigen und vollkommenen Erfolg aber hat die veterinärmedizinische Wissenschaft in ihrer A u s w i r k u n g auf die ö f f e n t l i c h e W o h l f a h r t gefunden und zwar vornehmlich in der T i e r s e u c h e n g e s e t z g e b u n g und in der g e s e t z l i c h e n R e g e l u n g der F l e i s c h v e r s o r g u n g . Zur angemessenen Würdigung dieser beiden vorbildlichen Schöpfungen der deutschen Tierheilkunde darf daran erinnert werden, daß das deutsche Reichsgebiet, welches bis ins letzte Drittel des vorigen Jahrhunderts den Einbrüchen verheerender Tierseuchen wie z. B. der Rinderpest und der Lungenseuche der Rinder oder auch der für die menschliche Gesundheit unmittelbar bedrohlichen Malleosis (Pferderotz), der Lyssa (Tollwut), des Anthrax (Milzbrand) u. a. so gut wie schutzlos preisgegeben war und von ihnen in schweren Seuchengängen heimgesucht wurde, ihnen heute so gut wie verschlossen ist, derart, daß selbst in den Stürmen der Weltkriegsjahre trotz vielfaltiger Bedrohung der Grenzen ein bedenklicher Einbruch und jede gefahrliche Ausbreitung dieser Plagen verhindert werden konnte. So hat sich in der Tat die deutsche Veterinärmedizin der hohen Anerkennung auch unter schwierigsten Umständen würdig erwiesen, die ihr kein geringerer als Rudolf Virchow zollte, wenn er 1890 gelegentlich der Hundertjahrfeier der Berliner Tierärztlichen Hochschule sprach: »Die Tierseuchengesetzgebung hat sich mit einer hohen Schnelligkeit vollzogen, so daß ich als Mediziner bedaure, daß wir nicht mit gleicher Schnelligkeit haben mitkommen können. Die Gegensätze, die einstmals in Betrachtung der Objekte zwischen kranken Menschen und kranken Tieren bestanden, sind mehr und mehr gefallen.« Inzwischen ist diese Entwicklung nicht stillgestanden, vielmehr in der Neufassung des Gesetzes zur Bekämpfung der ansteckenden Tierkrankheiten, dessen Wirkungsbereich sehr wesentlich erweitert wurde, vor allem durch Anbahnung gesetzlicher Maßnahmen auch gegen die Tuberkulose fortgeschritten. Dank den Vorarbeiten Robert vonOstertags ist es der Veterinärmedizin gelungen, auf dem Gebiete der staatlichen Tuberkulosebekämpfung die Führung zu übernehmen; das Gesetz trägt der Ausbreitung der Tuberkulose unter Menschen und Tieren Rechnung. Es beschränkt sich auf die Ausmerzung aller jener Tiere, welche mit der offenen Form der Tuberkulose behaftet sind, d. h. mit der Atmungsluft, mit der Milch oder sonstwie Tuberkelbakterien nach außen ausscheiden. Wenn es hiermit auch nicht gelingt, die Tuberkulose zum Stillstand zu bringen, so vermag das Tuberkulosebekämpfungsgesetz doch, den gefahrlichsten Formen der Tuberkulose einen Damm vorzuschieben und die Ansteckungsmöglichkeiten für Menschen und Tiere zu vermindern. 29 Feauchrift Schmidt-Ott

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Wenn so die auf Initiative und Leistung der veterinärmedizinischen Wissenschaften gegründete T i e r s e u c h e n g e s e t z g e b u n g und deren segensreiche Ausführung als eine zweifellos hochbedeutsame Auswirkung der deutschen tierärztlichen Wissenschaft unwiderlegliche Geltung beanspruchen darf, an deren Segnungen jeder einzelne irgendwie Teil hat, so gilt dies nicht minder von ihrer zweiten organisatorischen Leistung auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege, der Schaffung und zweckdienlichen Durchführung des R e i c h s f l e i s c h b e s c h a u gesetzes (Reichsgesetz betreffend die Schlachtvieh- und Fleischbeschau vom 3. Juni 1900), dessen Zweck neben einer wirksamen Ergänzung und Unterstützung der Veterinärpolizei und Veterinärhygiene (vor allem der Tierseuchenbekämpfung) neben der Verhütung einer gewerbsmäßigen wirtschaftlichen Übervorteilung der Fleischverbraucher, vor allem der Schutz der menschlichen Gesundheit vor den mannigfachen Gefahren ist, die sie beim Genuß von Fleisch und Fleischerzeugnissen bedrohen, wie z. B. durch Übertragung von tierischen Parasiten (Bandwurmbrut, Trichinen), Infektionskrankheiten (Tuberkulose, Malleosis, Anthrax, Lyssa, Septikämie u. a.) und Intoxikationen (Fleischvergiftungen, Botulismus). Ihrem Wesen nach eine planvolle Verwirklichung angewandter Wissenschaft (insbesondere angewandte pathologische Anatomie, Parasitologie, Bakteriologie und Serologie) bedeutet die Durchführung der Maßnahmen, die sich unter der üblichen Bezeichnung »Fleischbeschau« verbergen, eine in der Tat gewaltige Leistung für die Volksgesundheit und öffentliche Wohlfahrt, deren Schöpfung durch den deutschen Professor der Veterinärhygiene Robert von Ostertag und deren Ausübung durch die deutsche Veterinärmedizin für alle Kulturstaaten vorbildlich geworden ist. Die Bedeutung dieser Angelegenheit mag u. a. aus der Tatsache erhellen, daß mit der Ausübung der Fleischbeschau im deutschenReichsgebiet allein in städtischen Schlacht- und Viehhöfen z. Z. 911 Amtstierärzte hauptamtlich tätig sind, die größtenteils über wohleingerichtete und wohlgeleitete bakteriologisch-serologische Laboratorien verfügen, daß der Anfall sanitätspolizeilich beanstandeter Schlachtfälle jährlich nach Ausweis der einschlägigen Statistik ca. 62057 Tiere und die Masse des dem öffentlichen Verkehr entzogenen Muskelfleisches von Schlachttieren ca. 739 939 kg beträgt; anderseits die Zahl der durch Genuß von beschaupflichtigem Fleisch bedingten parasitären und sonstigen Erkrankungen auf eine verschwindende Zahl von Fällen zurückgegangen ist, wovon die Mehrzahl auf eine Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen durch Gewerbetreibende entfallt. Somit stellen die skizzierten Gebiete tierärztlicher Tätigkeit eine Summe tierärztlicher Leistungen dar, deren Bedeutung sowohl in Hinsicht ihrer wissenschaftlichen Voraussetzungen und Methoden als auch ihrer praktischen Bedeutung derjenigen anderer akademischer Disziplinen und Berufe nach ihrem gegenwärtigen Stande ebenbürtig sein dürfte, wenn es auch hier wie dort noch Lücken, Mängel und weitere Aufgaben gibt. Eine der vornehmlichsten ist für die Veterinärmedizin auf dem Felde der öffentlichen Hygiene die langerstrebte Ausdehnung ihrer systematischen Wirksamkeit auf das wichtige Gebiet der M i l c h v e r s o r g u n g , auf dem zurzeit noch vieles im argen liegt. Bei dem gewaltigen Umfange der Milcherzeugung und der in jeder Beziehung hervorragenden Bedeutung der Milch als Volksnahrungs-

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mittel einerseits, der Gefahren anderseits, die der menschlichen Gesundheit durch den keineswegs unwahrscheinlichen Genuß gesundheitsschädlicher unkontrollierter Milch drohen — so z. B. durch Milch von kranken Kühen (Tuberkulose, Aphthenseuche, septische Infektionen allgemeiner oder örtlicher Art, insbesondere des Euters, der Gebärmutter oder des Darmes), handelt es sich hierbei um eine Frage von kaum minderer Bedeutimg, als sie der Hygiene der Fleischversorgung zukommt. An ihrer zweckdienlichen Lösung ist neben der Medizin und Nahrungsmittelchemie vor allem die Veterinärmedizin interessiert und, soweit die Erforschung der wissenschaftlichen Grundlagen veterinärhygienischer- und diätetischer Art in Betracht kommt, seit langem rege beteiligt; sie ist auch bemüht, hierfür in der Gestaltung des gegenwärtig in Bearbeitung stehenden R e i c h s m i l c h g e s e t z e s eine angemessene und wirksame Auswertung zu finden. Die vorstehenden Ausführungen sollten dem Zweck und Umfang dieser Festschrift angemessen in knappen Strichen ein Bild tierärztlicher Wissenschaft und ihrer wichtigsten Verwendungsgebiete umreißen, das weder auf Vollständigkeit noch auf Vollkommenheit Anspruch machen will. Ergiebigen Aufschluß findet, wer die wissenschaftliche Tierheilkunde an den Stätten ihrer Arbeit aufsucht oder ihren Ergebnissen nachgeht, in dem veterinärmedizinischen Schrifttum, das neben einer stattlichen Auswahl von Lehr- und Handbüchern der verschiedenen Sonderdisziplinen, neben einer reichlichen Zahl von Forschungsberichten, Monographien und Dissertationen in einer Reihe reichhaltiger periodischer Zeitschriften und Archive vorliegt. Es ist der deutschen Tierheilkunde eine aufrichtige Genugtuung, daß ihr wissenschaftliches Streben und Schaffen im Laufe des Entwicklungszeitraumes, von dem dies Werk handelt, neben dem Lohn, den es in sich selbst trägt, zunehmend auch in seiner Wirkung über die Grenzen seines unmittelbaren Wirkungsfeldes hinaus in Wort und Tat die Anerkennung führender Persönlichkeiten fand, so durch den Präsidenten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft an der Einhundertfünfzigjahrfeier der Tierärztlichen Hochschule Hannover: »Die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, die der deutschen Wissenschaft helfen soll, hat von vornherein erkannt, daß Zusammenarbeit nötig ist, wo es gilt, große grundlegende Ziele zu erforschen. Sie sucht allerwärts die Forscher verschiedener Wissenschaftszweige und Orte zu fruchtbarer Arbeit zu vereinigen. Und in diesem Zusammenschlüsse spielen auch die tierärztlichen Hochschulen eine Hauptrolle. Der Herr Rektor von Halle ( Z i e h e n , Die Tierärztliche Hochschule Hannover. Festschrift aus Anlaß der Hundertfünfzig-Jahrfeier. 1929. S. 319) hat sehr einleuchtend ausgeführt, wie gerade auch die Tiermedizin in die Tiefen der theoretischen Naturwissenschaften hineinreicht und, wie ich hinzufügen möchte, sich von dort immer ihre Kraft holen muß. Andererseits ist auch bereits darauf hingewiesen worden, wie die Medizin — auch die Menschenmedizin — vielfach an die Hilfe der Tiermedizin geknüpft ist. Man braucht nur an die Bakteriologie und an das Tierexperiment zu denken. Die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft hat Ihren Forschungen, wo sie konnte, mit Mitteln geholfen; sie wird auch weiterhelfen, wo sie kann.« 29*

ADOLPH NÄGEL MASCHINENWESEN Im Zusammenhang einer Festschrift, die persönlichem Verdienste um die deutsche Wissenschaft in Zeiten schwerster Not Rechnung trägt, die Entwicklung des Maschinenwesens innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte zu behandeln, ist eine Aufgabe, die — entsprechend der Tatsache, daß die Maschine in ihrer unübersehbaren Vielgestaltigkeit und Zahl während dieser Zeit nicht nur die Werke technischen Schaffens, sondern auch die landwirtschaftlichen und forstlichen Betriebe und in hohem Ausmaße bereits die menschliche Wohnung als Feld ihrer Betätigung erobert hat, — in umfassender Weise auf begrenztem Räume nicht mehr durchgeführt werden kann. Kein noch so erfahrener Ingenieur würde diese Aufgabe aus einem Gusse, d. h. in geschlossener Rückführung auf einen einzigen leitenden Gedanken meistern können. Daher sei es erlaubt, aus der Fülle des Stoffes, über den das Maschinenwesen verfügt, die Glieder einer einzigen Entwicklungskette herauszugreifen und an dieser als an einem Beispiel den Werdegang aufzuzeigen, den die Maschine von den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis in die Gegenwart durchlief. Als solches Beispiel diene die Wärmekraftmaschine, der die Aufgabe zufällt, die in den Brennstoffen der Natur schlummernden chemischen Energien auf dem Umweg über die Verbrennung und über die mit dieser verbundenen Wärmeerzeugung so umzuformen, daß sie zu möglichst großem Anteil als mechanische Arbeit zur Unterstützung menschlichen Schaffens bereitgestellt werden können. Die Wahl dieses Beispiels hat für den vorliegenden Zweck den Vorzug, daß die Wärmekraftmaschinen von jeher — ob mit Recht oder Unrecht, soll hier nicht diskutiert werden — der wissenschaftlichen Forschung den meisten Anreiz boten und noch in der Gegenwart im Mittelpunkt der maschinentechnischen Forschung und Lehre stehen. Hieraus erklärt sich, daß die Wärmekraftmaschine von Laien wie von Fachleuten in ausgesprochener Weise als Haupttypus des Maschinenbegriffes an sich angesehen wird. Die Werkzeugmaschinen, die Hebezeuge, Pumpen usw. treten trotz der bedeutenden Priorität ihrer Entwicklung und trotz der größeren Vielgestaltigkeit ihrer Ausführung und Zweckbestimmung gegenüber den Kraftmaschinen für die allgemein verbreitete Vorstellung vom Wesen der Maschine erheblich zurück. Zunächst sei der Stand des Wärmekraftmaschinenbaues festgelegt, dem wir rückwärtsschauend vor fünfzig Jahren begegnen. Im Vordergrunde der Behandlung sollen stets die Gesichtspunkte stehen, deren Verfolgung die spätere Entwicklung kennzeichnet und zum Einsatz der inzwischen gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnis veranlaßte. Diese Entwicklung sei nach Dezennien gegliedert, wobei sich ohne unnatürlichen Zwang herausstellt, daß jedem Jahrzehnt ganz typische Entwicklungsstufen zugeschrieben werden können. Dieser Darstellung wird der Vorwurf nicht erspart bleiben, den Werdegang des einzelnen Gegenstandes zu zerreißen und sich hierdurch in Gegensatz zu der gewohnten Behandlungsweise eines zeitlichen Fortschritts zu stellen. Sie bringt uns aber dafür den Vorteil,

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von jedem Unterabschnitt des hinter uns liegenden halben Jahrhunderts auf dem vorliegenden Teilgebiet ein Bild von der Arbeitsmethode zu geben, die man der fortschreitenden Entwicklung dienen ließ. Zu Beginn der achtziger Jahre war die Wärmekraftmaschine fast ausschließlich durch die ehrwürdige Dampfmaschine vertreten, die auf die Erfindung James Watts aus dem Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts zurückgreifend im Verlaufe des neunzehnten Jahrhunderts ihren grandiosen Siegeszug über den ganzen Erdball erstreckt hatte. Ihr waren, nachdem sie ihre Erstentwicklung in England vollzogen hatte, auf dem europäischen Kontinent wesentliche Vervollkommnungen zu Teil geworden, auf Grund deren sie zu Beginn des Zeitraumes, der dieser Darstellung vorbehalten ist, in ihren höchstentwickelten Ausführungen als SattdampfVerbundmaschine mit Ventilsteuerung zu verzeichnen ist. Sowohl an Zahl wie an Größe der Dampfzylinder stehen die Schiffsmaschinen an der Spitze, die Leistungen bis zu 5000 PS erreichen. Neben die Dampfmaschine gesellte sich der Gasmotor, dem die beiden genialen deutschen Erfinder Otto und Langen von den sechziger Jahren an die grundlegende Entwicklung zuteil werden ließen. Im Jahre 1877 erwarb Otto das bahnbrechende Patent auf den Viertakt-Prozeß, mit dessen Einführung in den Arbeitsvorgang der Verbrennungskraftmaschine dieser die kennzeichnenden Merkmale erteilt wurden, die sie in allen Ausführungsformen bis auf den heutigen Tag bewahrt hat. Das Ausland hat dem deutschen Erfinder sich für alle Zeiten dankbar erwiesen, indem es der Bezeichnung »Otto-Zyklus« zur allgemeinen Verbreitung verholfen hat, während sie sich in Deutschland nicht einbürgerte. Der die Erfindung Ottos auszeichnende Grundgedanke ist die Vorverdichtung der brennbaren gasförmigen Ladung des Zylinders. Die Atmosphärische Gasmaschine nach Otto und Langen, sowie die übrigen Bauarten des Gasmotors, die bis dahin als Kleinkraftmaschinen auftraten, entzündeten die aus einem brennfähigen Gemisch bestehende Ladung des Zylinders ohne jede vorherige Verdichtung unter dem Drucke des Ansaugevorganges, also ungefähr unter atmosphärischem Drucke. Hierbei ließ man den Kolben während eines anfänglichen Teilbetrages seines Hubes die Gemischladung ansaugen, um diese am Ende der Ansaugeperiode zu entzünden und sie unter Arbeitsabgabe an den sich weiterbewegenden Kolben für den Rest des Hubes expandieren zu lassen. Dieses Arbeitsverfahren zeigt vor allem den Nachteil, daß die mit der Zündung eingeleitete Explosion die plötzliche Drucksteigerung mitten während des Hubes auf den Kolben und somit auf alle Gelenke des Kurbeltriebes wirken läßt, wodurch ein stoßender Gang der Maschine veranlaßt wird. Um diesen Übelstand zu beheben, trug sich Otto mit dem Gedanken, die Zündung in die Totpunktstellung des Kolbens zu verlegen. Diese erfinderische Absicht führte ihn zu der Maßnahme, das zündfähige Gemisch während des ersten Hubes anzusaugen und während des folgenden Rückhubes in die am Zylinderende vorgesehene Verdichtungskammer hinein zu verdichten, um am Ende dieses Verdichtungshubes, also im entsprechenden Totpunkt des Kolbens die Zündung eintreten zu lassen. Der folgende Hub des Kolbens ist der eigentliche Arbeitshub, während dessen die durch die Explosion hervorgerufene Drucksteigerung infolge der sich abspielenden Expansion allmählich abklingt und die Expansionsarbeit an den Kolben übertragen

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wird. Der vierte Kolbenhub, der das über zwei volle Kurbelumdrehungen sich erstreckende Arbeitsspiel vollendet, dient zum Ausschub der verbrannten Ladung, die zu Beginn des folgenden Spieles durch eine frische Ansaugeladung aus brennbarem Gemisch ersetzt wird. Hiernach kam es Otto in erster Linie darauf an, durch seine Erfindung unter Beibehaltung eines normalen Kurbeltriebes die Zündimg in die Totpunktstellung des Kolbens zu verlegen. Er mied die Entstehung hoher Vorverdichtungsdrücke und versah den Zylinder zur Aufnahme der verdichteten Ladung an einem Ende mit einem so großen Verdichtungsraume, daß die Verdichtung nur eine Drucksteigerung um rund 2 at hervorbrachte. Dementsprechend blieb der thermodynamische Erfolg einer vorteilhafteren Umsetzung von Wärme in mechanische Arbeit, wie er nach später gewonnener wissenschaftlicher Erkenntnis mit der Steigerung der Vorverdichtung Hand in Hand geht, zunächst in so engen Grenzen, daß er durch die nachteiligen Einflüsse der noch unvollkommenen baulichen Gestaltung des neuen Motors überdeckt wurde, sodaß der um 1880 erscheinende neue Viertakt-Gasmotor der bisherigen Atmosphärischen Gasmaschine gegenüber in mancher Beziehung zunächst als ein Rückschritt empfunden wurde. Das große Verdienst, daß sich Otto mit seiner Erfindung um das Ansehen der deutschen Technik und um die Entwicklung der deutschen Industrie erworben hat, wird in keiner Beziehung durch die Tatsache berührt, daß das grundlegende Deutsche Reichspatent auf den Viertaktprozeß nach einem erbitterten Rechtsstreit im Jahre 1886 zu Fall kam. Vielleicht gelingt es sogar noch einmal, den Nachweis zu führen, daß der Bruch, den die Monopolstellung der Gasmotorenfabrik Deutz durch den Spruch des Reichsgerichts erlitten hat, als bedeutsamer Ansporn für die weitere Entwicklung des Verbrennungsmotors gerade an der Stätte dieser patentrechtlichen Niederlage gewertet werden muß. Das Jahrzehnt der 80er Jahre ließ die Viertaktmaschine sich in erster Linie hinsichtlich der Größe ihrer Zylindereinheiten entfalten. Hierbei haben gewisse Hemmungen eine unverkennbare Rolle gespielt, indem sich die maßgebenden Persönlichkeiten der Firmen des Gasmotorenbaues auf den Standpunkt stellten, daß der Gasmotor nur für kleinere Ausführungen als Antriebsmaschine des Gewerbes in Frage käme. Unter diesem Einfluß ist es verständlich, daß bis zum Jahre 1890 die Maschinengrößen der Gasmotorenfabrik Deutz nur bis zu Leistungen von 100 Pferdestärken emporstiegen. Innerhalb der 8oer Jahre begann die wissenschaftliche Durchdringung des Arbeitsverfahrens des Verbrennungsmotors. Durch die deutschen Forscher Adolf Slaby-Berlin und Gustav Zeuner-Dresden sowie durch den französischen Professor Aimé Witz-Lille wurde der Kreisprozeß des Gasmotors in den Bereich der aufkeimenden Thermodynamik einbezogen, die sich bislang vorwiegend mit der Dampfmaschine und dem bereits im Aussterben begriffenen Heißluftmotor befaßt hatte. Unter gewissen vereinfachenden Annahmen für die spezifische Wärme und die Gaskonstante der am Kreisprozeß beteiligten Gase wurde für den idealen Viertaktprozeß die Erkenntnis gewonnen, daß der Wirkungsgrad für seine Umsetzung von Wärme in mechanische Arbeit lediglich vom Grade der Vorverdichtung der angesaugten Gemischladung abhänge und mit wachsender Vorverdichtung stetig ansteige. Diese Erkenntnis zeigte bald den Weg, durch Verkleinerung des Verdich-

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tungsraumes und hierdurch bedingte Vergrößerung des Verdichtungsverhältnisses die Ökonomie des Gasmotorenvorganges wesentlich zu steigern. In diesem Bestreben begegnete der Gasmotor den Schwierigkeiten, die höheren Verdichtungsund Explosionsdrücke betriebssicher zu meistern. Die bisherige Schiebersteuerung mußte der Ventilsteuerung weichen, für die die Dampfmaschine das Vorbild gab und die seit dieser Zeit die Konstruktion der Viertaktmotoren aller Größen bis auf den heutigen Tag kennzeichnet. Hand in Hand mit dieser baulichen Entwicklung geht der Ersatz der ursprünglich allgemein angewandten Flammenzündung durch Zündungsverfahren, bei denen die Sicherheit des Zündungsvorganges und Zündungszeitpunktes nicht mehr in so hohem Maße durch die gesteigerten Drucke im Innern des Zylinders beeinträchtigt wurde, wie es für die Flammenzündung zutraf. Die inzwischen aufkommende Elektrotechnik wies hierfür neue Wege, zu denen man sich jedoch erst endgültig in den neunziger Jahren entschloß, nachdem man vorübergehend zur Glührohrzündung gegriffen hatte. In das erste Jahrzehnt des Viertaktmotors sind schließlich noch die zahlreichen Ansätze zur Vereinfachung des Motors einzuordnen, die in der Durchführung desselben Kreisprozesses innerhalb einer einzigen Umdrehung der Welle, also während des Ablaufes von zwei Kolbenhüben bestand. Zu diesem Zwecke wurden dem Arbeitskolben der Ansauge- und der Ausschubhub des klassischen Viertaktverfahrens abgenommen und durch Spül- und Ladevorgänge ersetzt, die besondere Spül- und Ladepumpen erforderlich machten. Der ursprüngliche Anlaß zu dieser Entwicklungsrichtung ist lediglich in dem Bestreben zu suchen, durch die skizzierte Modifikation einen Motor zu schaffen, für den man die Freiheit vom Schutzbereich des ursprünglichen Deutzer Viertaktpatentes zu erzielen hoffte. Nach dem Fall dieses Patentes waren diese Versuche zunächst gegenstandslos geworden. Sie bilden aber den Grundstein zu den späteren Arbeiten, die aus ganz anderen Motiven heraus dasselbe Ziel wieder aufgriffen und zum Zweitaktvorgang führten, wie er heute für Motoren von den kleinsten und von den größten Ausmaßen zur Anwendung gelangt. Die Dampfmaschine hat in den Jahren von 1880 bis 1890 keine wesentlichen Fortschritte zu verzeichnen. Ihre Größen wuchsen, ihre Ökonomie und ihre Betriebssicherheit wurden verbessert. Zu diesem Zwecke sehen wir eine unübersehbare Fülle der verschiedenstartigen Steuerungssysteme entstehen, die im Rückblick auf jene Zeit in ihrer Gesamtheit mehr als ein Tummelplatz für die Erfindungsgabe und Intelligenz des Ingenieurs erscheinen als eine Kette der sinnvollen Weiterentwicklung. Wenn auch der aufgespeicherte Reichtum an Formen und Gedanken der in ihrer Anwendung bald zurückgehenden Dampfkolbenmaschine nicht mehr in entsprechendem Umfang zum Vorteile gereichen konnte, so dient er doch heute und vermutlich noch für lange Zeit als Fundgrube für Lösungsmöglichkeiten von getrieblichen Problemen, die in Verbindung mit anderen Maschinenarten auftreten. Die Verwirklichung immer neuer Ideen für die Steuerung der Dampfmaschine setzt sich noch im kommenden Jahrzehnt fort, in dem zugleich ein grundlegend umstürzlerischer erfinderischer Gedanke aufkeimte, zu dem bereits um die Mitte der achtziger Jahre das erfinderische Samenkorn gelegt wurde und der in seiner weiteren Folge mehr oder weniger das Ende der Kolbendampfmaschine bedeutete,

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Die beiden genialen Ingenieure, der Schwede Carl Gustaf Patrik de Laval und der Engländer Chas. Algernon Parsons, weisen der Technik den Weg, die einem Dampfstrahl innewohnende Energie auf den Schaufelkranz eines Turbinenrades zu übertragen, und begründen damit für die Maschinentechnik eine neue Periode, in der die Dampfturbine in unmittelbarer Kupplung mit der Dynamomaschine die Hauptquelle der elektrischen Energie für die Stromversorgung ganzer Städte und Länder wird. Die Entwicklung der Dampfturbine setzte um die Mitte der neunziger Jahre ein, um bis zur Gegenwart einen nach mehreren Richtungen der Arbeitsweise ausstrahlenden Verlauf zu nehmen. Dieser Entwicklungsgang gleicht einem unwiderstehlichen Siegeszug, dessen beispielloser Erfolg von dem gleichzeitigen und gleichermaßen begünstigten Ansturm der Elektrotechnik unterstützt wurde. Anderseits hat die Dampfturbine durch die hohe Drehzahl ihres Rotors, die in ihrem Arbeitsvorgang bedingt ist, eine so ausgezeichnete Eignung zum Antriebe der ebenfalls für hohe Drehzahl geradezu prädestinierten Dynamomaschine, daß die Dampfturbine der Ausbreitung der elektrischen Energieversorgung einen gewaltigen Vorschub geleistet hat. In verhältnismäßig stetiger Linie haben sich Dampfturbine und elektrischer Generator ein immer weiteres Feld der Anwendung erobert, so daß wir uns heute den Zustand kaum vorstellen können, in dem sich ohne diese wechselseitige Förderung die Stromversorgung der Industrie und der menschlichen Wohnstätten befinden würde. Die Dampfturbine gab durch die Stetigkeit ihrer Entwicklung und Verbreitung für ihre vorliegende Behandlung die Veranlassung, ihre Laufbahn vom Ursprung bis zur Gegenwart in einem Zuge zu skizzieren. Im großen und ganzen ist ihr Werdegang von plötzlichem sprunghaftem Tempo verschont geblieben. In der Größe ihrer Maschineneinheiten hat sie i oo ooo Pferdestärken erreicht, eine Leistung, zu deren Erzeugung die anderen Wärmekraftmaschinen ganze Batterien von Einheiten erforderlich machen würden. Auch aus diesem Grunde, der sich übrigens noch mit dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit vereinigt, ist die Dampfturbine zum unbestritten besten Hilfsmittel geworden, die Grundbelastung der Elektrizitätswerke der großen Versorgungsgebiete zu übernehmen. Der erstaunliche Fortschritt, den die Dampfturbine innerhalb weniger Jahrzehnte zu verzeichnen hat, war nur durch die Bereitstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse und forscherischer Ergebnisse möglich, wie sie vielseitiger und zahlreicher kaum gedacht werden können. Die Thermodynamik mußte sich mit der Hydrodynamik zu gemeinsamer Arbeit vereinen, um die Erforschung der Eigenschaften des strömenden Dampfes soweit zu vertiefen, daß die Beziehungen der praktischen Erfahrungen nach Ursache und Wirkung klar gestellt und hierdurch die Angelpunkte für neue Vervollkommnungen gefunden werden konnten. Daß es sich im Dampfstrahl der Dampfturbine um Strömungsgeschwindigkeiten handelt, die die Schallgeschwindigkeit übertreffen können, mag zur Illustration der Schwierigkeiten dienen, die das forscherische Experiment zu überwinden hat. Parallel mit diesen Problemen laufen die Forderungen, die die Dampfturbine wegen ihrer hohen Drehzahl an die Festigkeit ihrer rotierenden Organe stellt. Hier begegnen sich Untersuchungen der Elastizitätslehre mit solchen des Baustoffs, der neben der ausreichenden Festigkeit gegenüber den auftretenden Kräften auch die entsprechende

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Widerstandsfähigkeit gegen die korrodierenden Einflüsse des strömenden Dampfes besitzen muß. Besonders wertvoll und erfolgreich erwiesen sich die aufklärungsreichen Rechnungen über das Verhalten der biegsamen Welle, die bereits von de Laval angewandt wurde, der auch ihre Eigenschaft der »kritischen Drehzahl« kannte. Daß er das Schaufelrad seiner Turbine normal mit rund 25 000 Umdrehungen in der Minute laufen ließ und Versuche mit Drehzahlen bis zu 40000 angestellt hat, verdient in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden. Die Umfangsgeschwindigkeit des Turbinenrades erreicht hierbei die Werte der Geschoßgeschwindigkeit und stellt höchste Anforderungen an die Festigkeit des Rades, um dieses gegen Explosion zu schützen. Die neunziger Jahre, zu denen wir nach diesem für die Dampfturbine bis in die Gegenwart reichenden Ausblick zurückkehren, brachten für die Wärmekraftmaschine auf dem Gebiete des Verbrennungsmotors eine neue umwälzende Erfindung, deren deutscher Ursprung für unseren heimischen Markt und für das Ansehen deutscher Technik von nachhaltigem Erfolge ist. Im Jahre 1892 erhielt Rudolf Diesel-München das bedeutungsvolle Patent auf seine neuartige Verbrennungskraftmaschine, für deren Arbeitsvorgang er von dem Vorteil gesteigerter Vorverdichtung den denkbar weitesten Gebrauch machte. Mit dem Viertaktmotor nach Ottos Arbeitsverfahren hatte man bald festgestellt, daß der Steigerung der Vorverdichtung eine obere, von der chemischen Natur des angewandten Brenngases abhängige Grenze gezogen war, die auf seiner Selbstentzündungstemperatur beruhte. Die Vorverdichtung durfte nicht bis zu solcher Höhe getrieben werden, bei der die mit ihr verbundene Temperatursteigerung sich der Selbstentzündungstemperatur des Brenngases näherte. In diesem Falle ergaben sich Frühzündungen die — ohne ursächlichen Zusammenhang mit der vorgesehenen Zündungsvorrichtung — durch Selbstzündung hervorgerufen wurden und infolge ihres verfrühten Zeitpunktes den ganzen Arbeitsvorgang aus seinem geordneten Ablauf brachten, hammerartige Schläge in den Gelenken des Getriebes auslösten und die ganze Maschine in ihrer Betriebssicherheit aufs schwerste gefährdeten. Es möge von Anfangsüberlegungen, mit denen Diesel seine Erfindung ursprünglich belastete, Abstand genommen und nur das bleibende Kernstück des neuen Arbeitsverfahrens hervorgehoben werden, wie es sich nach jahrelanger mühsamer Versuchsarbeit herausschälte, zu der sich die Firmen Maschinenfabrik Augsburg und Fried. Krupp-Essen gemeinsam bereitfanden. Der im Jahre 1897 zur Marktreife entwickelte Dieselmotor unterwarf lediglich eine aus atmosphärischer Luft bestehende Ansaugeladung der Vorverdichtung, für deren Höhe infolge des Fehlens jeder Brennstoffbeimischung keine Grenze vorlag. Sie wurde so hoch getrieben, daß die Selbstzündungstemperatur des anzuwendenden Brennstoffs erheblich überschritten wurde. Dieser wurde unter hinreichend hohem Drucke erst im Kolbentotpunkt nach vollendeter Vorverdichtung in den Zylinder gepreßt, um hier sich sofort an der heißen vorverdichteten Luftladung zu entzünden und in dem Maße weiter zu verbrennen, in dem er in den Zylinder eingespritzt und auf die Luftladung verteilt wurde. Entgegen der ursprünglichen Annahme Diesels gelang dieser Vorgang nur unter Anwendung flüssigen Brennstoffs, der durch einen Druckluftstrahl von hohem Drucke in den Zylinder hinein zerstäubt wurde. Zur Bereit-

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Stellung der Einspritzluft machte sich ein Hochdruck-Luftkompressor erforderlich, der dem Dieselmotor dieser anfanglichen Bauart die Zusatz-Bezeichnung »mit Einspritzkompressor« eintrug. Die Erfindung Diesels zeichnete sich durch den Wegfall jeder besonderen Zündeinrichtung und durch höchste Ökonomie für die Umsetzung von Wärme in mechanische Arbeit aus. Darüberhinaus gestattete er, schwersiedende Destillate des Petroleums als Brennstoff zu verwenden, die in ihrer Lagerung in bezug auf Feuersicherheit anspruchslos und verhältnismäßig billig am Markte sind. Der Dieselmotor erregte in den technischen Kreisen aller Länder das größte Aufsehen und führte zu zahlreichen in- und ausländischen Lizenzbeziehungen. Um die Jahrhundertwende mußte er — infolge mehrerer Fehlschläge durch Herstellungs- oder Bedienungsfehler — eine Krisis überwinden, die beinahe zur gänzlichen Aufgabe seiner Herstellung geführt hätte. Dem Weitblick der maßgebenden deutschen Ingenieure ist es zu danken, daß dieses Schicksal, das für lange Zeit sich als Verhängnis hätte auswirken können, dem deutschen Maschinenbau erspart blieb. Die neunziger Jahre gaben dem Verbrennungsmotor noch eine andere Möglichkeit seiner Entfaltung, die hinsichtlich seines Arbeitsverfahrens am ursprünglichen Otto-Prozeß festhielt und nur in der Wahl des Brennstoffes und in der Größe der Maschineneinheit von den gewohnten Bahnen abwich. Wieder war es ein Deutscher, der verdiente Eisenhüttenmann Fritz W. Lürmann-Osnabrück, der im Jahre 1886 die Forderung an die Gasmotorenindustrie richtete, den Gasmotor zur Verwendung der Gichtgase des Hochofenbetriebes geeignet zu machen und ihn solchen Ausmaßen anzupassen, wie sie die gewaltigen Mengen der Gichtgase geboten erscheinen lassen. Der deutsche Maschinenbau nahm diese Anregung willig auf und schuf die Großgasmaschine, die bis heute — neben der Dampfturbine, die mit ihr in stetem Wettkampfe um den Erfolg ringt — zur Ausnutzung der Hochofen-Gichtgase und auch der Abgase der Koksöfen in der Eisenhüttenindustrie in immer noch wachsenden Dimensionen angewandt wird. Auch die chemische Großindustrie hat neuerdings von ihr in steigendem Maße Gebrauch gemacht. Bemerkenswert ist der große Erfolg der Düsseldorfer Industrie- und Gewerbe-Ausstellung im Jahre 1902, die erstmalig der breiteren Öffentlichkeit die neuen Motoren zeigte und besonders aus diesem Anlaß das Interesse des Auslands auf sich lenkte. Der Erfolg der Großgasmaschine förderte das Bestreben, anstelle des teueren Leuchtgases, das anfanglich dem Gasmotor als alleiniger Brennstoff diente, billigere Kraftgase anzuwenden, wie sie in Gasgeneratoren erzeugt wurden, die bereits im Eisen- und Glashüttenwesen auf Anregung Friedrich Siemens' große Verbreitung gefunden hatten. Hierzu mußten mancherlei Schwierigkeiten überwunden werden, die sich vor allem auf die Reinigung des Gases von Staub und Teer bezogen. Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts gab der Dampfturbine ihre stetige Weiterentwicklung. Es bescherte dem Dieselmotor eine erneute Belebung seines Marktes und lenkte erstmalig den Schiffbau auf die Vorzüge, die dem Dieselmotor als Schiffsmaschine gegenüber der Dampfmaschine eigentümlich sind. Im Jahre 1908 ergriff die deutsche Reichsmarine die Initiative, indem sie die Firmen des Dieselmotorenbaues zum Wagnis einer Antriebsmaschine von 12000 Pferdestärken

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für einen Kreuzer aufforderte. Die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg, die Germaniawerft Fried. Krupp-Kiel und die Firma Gebrüder Sülzer-Winterthur folgten diesem Rufe und haben die Aufgabe gelöst. Wenn auch der Erfolg ihrer Mühen der deutschen Flotte nicht mehr im ursprünglich gedachten Umfange zugute kommen konnte, sind die gesammelten Erfahrungen doch von höchster Bedeutung für den Dieselmotorenbau der Nachkriegszeit geworden. Der Beginn dieses Jahrhunderts ist auf dem Verkehrsgebiet durch das Vordringen des Automobils ausgezeichnet. Der Automotor hat sich als Viertaktmotor der Verwendung des Benzin- oder Benzoldampfes angepaßt und in allen Industrieländern der Erde eine umfassende Entwicklung erfahren. Auch dem Luftschiff und dem Flugzeug dient der Benzinmotor in den besonderen Formen, die ihm für diesen Zweck erteilt wurden, als die einzige Kraftquelle, die unter hinreichend geringem Gewicht die erforderlichen Leistungen entfalten kann. Erst die allerneueste Zeit beginnt — wiederum unter dem Vorantritt deutschen Schaffens —, dem Benzinmotor durch die Anpassung des Dieselmotors an die Aufgaben der Luftfahrt den Rang streitig zu machen. Eigenartig ist für das erste Jahrzehnt die erneute Belebung, die Professor Johannes Stumpf-Berlin der ehrwürdigen Dampfmaschine zuteil werden ließ, indem er aus grundsätzlichen Erwägungen ihren Arbeitsvorgang durch Verminderung des Wärmeaustauschs zwischen Dampf und Zylinderwand auf dem Wege einer besonders orientierten Strömung des Dampfes innerhalb des Zylinders zu verbessern suchte. Die von ihm geschaffene Gleichstrom-Dampfmaschine reiht sich entwicklungsgeschichtlich an die Heißdampfmaschine an, die kurz vor der Jahrhundertwende von Wilhelm Schmidt-Kassel auf den Plan gebracht wurde. Die beiden deutschen Erfindungen haben einen Schatz von Erfahrungen gezeitigt, der für viele Fortschritte des Maschinenbaues sich wertvoll erwiesen hat und weiterhin erweisen wird, selbst für den Fall, daß diese Erfindungen in ihrer ursprünglichen Bindung an die Kohlendampfmaschine gegenüber der Dampfturbine und dem Verbrennungsmotor ihre Lebenskraft nur noch in beschränktem Umfange behaupten können. Das Jahrzehnt des Krieges hinterläßt für den deutschen Maschinenbau für alle Zeiten die Erinnerung an die erstmalige Bewährung des Dieselmotors für den Antrieb des Unterseebootes. Das erste Nachkriegsjahrzehnt hat auf allen Gebieten unter den Sorgen zu leiden gehabt, die das Kriegsende dem Schaffen und Wirken auf Deutschlands Boden bereitete. Diese Sorgen veranlaßten eine Sammlung der verfügbaren Kräfte zu systematischer Gemeinschaftsarbeit. Diese hat im technischen Fahrwasser nicht nur die Wissenschaftler unter sich und die Praktiker unter sich zusammengerufen, sondern auch zwischen Wissenschaftlern und Praktikern lebensvolle Beziehungen geschaffen, wie sie die Vorkriegszeit noch nicht kannte. Auf allen Gebieten des Maschinenbaues wird an der Verfeinerung des Fabrikates, an der Verbilligung der Herstellung, an der vollkommeneren Anpassung an die von der Umwelt gestellten Aufgaben gearbeitet. Die Dampfturbine hat durch die Gebrüder LjungströmStockholm eine neuartige Form angenommen, die die Turbinenbauer aller Länder aufhorchen läßt. Der Dieselmotor hat als Schiffsmaschine eine früher ungeahnte Verbreitung gefunden und beginnt, sich als Partner der Dampfturbine zur Übernahme

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der Spitzenleistungen in die Elektrizitätswerke Eingang zu verschaffen. Sowohl Lastkraftwagen wie Flugzeuge fangen an, sich des Dieselmotors als Antriebsorgan zu bedienen. Die Bedeutung dieses Schrittes für die Luftfahrt erhellt aus der Tatsache, daß der größte Teil aller Flugzeugunfalle den Ernst ihrer Folgen auf die Entzündung des leichtflüchtigen Benzins zurückführen muß und der Dieselmotor diese Gefahrquelle infolge des Ersatzes des Benzins durch schwerentzündliches Gasöl meidet. Auf dem Felde der Dampfkraft ist die Aufgabe der Verwendung des Höchstdruckdampfes aufgetaucht, um auf Grund der thermodynamischen Zusammenhänge zu größerer Wirtschaftlichkeit zu gelangen. Am Horizonte erscheinen die Probleme, die die Ausnutzung der Lösungserscheinungen binärer Gemische für die Umsetzung von Wärme in Arbeit stellt. Jedes dieser zahlreichen Themen, mit denen die Gegenwart auf dem Gebiet der Wärmekraftmaschine beschäftigt ist, umfaßt für sich einen großen Komplex der wissenschaftlich-forscherischen Fragestellung und ist in seinem Gelingen von der Mitarbeit der Gelehrten wie der Praktiker in gleichem Maße abhängig. Der Maschinenbau preist es als großes Verdienst um die Allgemeinheit, daß die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft der weisen Voraussicht ihres Begründers und Führers folgend die Förderung der wissenschaftlichen Forschung aufgegriffen hat, die für Deutschlands Technik um so notwendiger ist, je mehr uns eigene Not belastet, und zu der die Technik aus eigenem Antriebe um so weniger beitragen kann, je drückender ihr die Sorge um das »Heute« den Blick auf das »Morgen« versperrt. Die Beziehungen, die zwischen der ausführenden Technik und der wissenschaftlichen Forschung bestehen müssen, wenn dem technischen Schaffen jederzeit das in Forschungsarbeiten neugeschärfte wissenschaftliche Werkzeug zur Verfügung stehen soll, sind durch einen auffallig großen zeitlichen Abstand gekennzeichnet, um den die ausführende Technik mit ihrer Anwendung und Auswertung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse dem Zeitpunkte nacheilt, in dem diese gewonnen wurden. Der Umsetzungsvorgang vom wissenschaftlichen Ergebnis zu seiner Ausnutzung am fertigen, marktfähigen Produkt ist eben zu kompliziert, um in kurzer Frist ablaufen zu können. Dieser Zusammenhang fordert, daß der Technik jederzeit die forscherischen Ergebnisse im reichen Maße zur Verfügung stehen, deren sie bedarf. Es wäre verhängnisvoll, aus solchem Zustand den Schluß zu ziehen, die wissenschaftliche Forschung aufzuhalten, um sie mit der technischen Anwendung in Reih und Glied zu bringen. Die Gefahr solchen Vorgehens besteht darin, daß die Technik sich eines Tages von der Wissenschaft verlassen fühlt, da diese ihr den reichen Strom immer neuer grundlegender Erkenntnisse versagt, aus deren fortzeugendem Geiste sie ihre Kraft zu neuem Schaffen zieht. Daß die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft ihre Aufgabe der Technik gegenüber an diesem Angelpunkt anfaßte und gegen mancherlei Widerstände mit Energie dafür eintrat, das geistige Rüstzeug der Technik stets mit den neuesten Ergebnissen der Naturwissenschaften in Berührung zu bringen und von ihrem Inhalte durchdringen zu lassen, das ist das Verdienst der Notgemeinschaft, das ihr die Technik nie vergessen darf und wird.

GEORGE DE THIERRY BAUINGENIEURWESEN Zu keiner Zeit seit den Tagen des grauen Altertums, in welchen der Mensch das Bedürfnis hatte, die Güter, die er erzeugte und die über seinen eigenen Bedarf hinaus gingen, gegen andere Güter zu tauschen, haben die Gütererzeugung und der Verkehr, der sich in den Dienst der Güterverteilung stellt, solche Fortschritte aufzuweisen wie innerhalb der letzten fünfzig Jahre. Verkehrswege müssen schon bestanden haben, als die Phönizier über ihre Häfen Tyrus und Sidon die Güter, die ihnen aus dem Hinterlande Assyrien, Babylonien und Ägypten zuströmten, nach ihren über das ganze Mittelmeer und darüber hinaus bis Cadiz verstreuten Handelsniederlassungen ausführten. Wenn der Prophet Hesekiel von der berühmten Stadt, die am Meere lag und so mächtig auf dem Meere war, daß sich das ganze Land vor ihr fürchten mußte, berichtet, so dürfen wir ferner aus diesem Bericht entnehmen, daß der Handel den damaligen Bauingenieuren Aufgaben stellte, die eine gewisse Ähnlichkeit mit denjenigen hatten, die heutigen Tages den Bauingenieur hinsichtlich des Städtebaues und des Ausbaues der dem Verkehr dienenden Einrichtungen beschäftigen. Anstelle des heimischen Gewerbes, das aus dem Inneren Asiens seine Erzeugnisse auf Kamelen den Hafenstädten zusandte, von wo sie auf den kleinen Fahrzeugen, die damals die Meere befuhren, ihren Bestimmungsort erreichten, hat die Ausnutzung der Energien, die dem heutigen Menschen zur Verfügung stehen, unsere modernen Fabrikbetriebe und Verkehrsmittel geschaffen. Die Eisenbahnen, der Kraftwagen, das Dampfschiff von riesigen Abmessungen haben dem Begriff der Entfernung und der Ausnutzung der Naturprodukte eine in der Vergangenheit ungeahnte Bedeutung gegeben. Ein flüchtiger Blick auf die Umwälzungen, die im Laufe der Jahrhunderte sich vollzogen haben, führt uns zu der Einsicht, daß letzten Endes diese Entwicklung auf die fortschreitende Naturerkenntnis zurückzuführen ist. Allen Gebieten der Technik sind die wissenschaftlichen Ergebnisse der gesamten Naturforschung zu gute gekommen. In dem Augenblick, in dem zielbewußt der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung erkannt wurde — womit die Grundlage für weiteres Fortschreiten erreicht war —, entwickelte sich die Technik auf allen Gebieten vom Handwerk zur Wissenschaft. Auch die gewaltigen Fortschritte, die auf dem Gebiete des Bauingenieurwesens im Verlauf der letzten fünfzig Jahre gemacht worden sind, wären undenkbar, wenn die verwandten Gebiete der Chemie, der Metallurgie, des Hüttenwesens, des Maschinenbaues, der Elektrotechnik und des Schiffbaues dem Bauingenieur nicht die Hilfsmittel zur Lösung der mit jedem weiteren Fortschritt auftauchenden neuen Probleme gegeben hätten. Einen Anhaltspunkt für die rapide Entwicklung auf technischem Gebiet gibt uns die zunehmende Ausnutzung der Energiequellen und Rohstoffe; sie gewährt insofern einen Einblick in die Tätigkeit des Bauingenieurs, als die Gewinnung, die Beförderung und die Verwertung sämtlicher Energiequellen und Rohstoffe die Heranziehung des Bauingenieurs bedingt. Die Steinkohlenförderung der Welt, die von etwa 700 Millionen Tonnen im Jahre 1900 auf 1225 Millionen t

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im Jahre 1925, ebenso wie die Braunkohlenförderung, die von 67 Millionen t im Jahre 1900 auf 210 Millionen t im Jahre 1928 anwuchs, ist nicht allein auf eine Vermehrung der Kohlengruben, sondern auf eine intensivere Ausnutzung aller Anlagen zurückzuführen. Schon der Ausbau der Gewinnungsanlagen auf den Gruben erfordert die Mitarbeit des Bauingenieurs, und die mächtigen Kohlentürme aus Beton und Eisenbeton, die dem Kohlenrevier ein besonderes Gepräge verleihen, sind Werke des Bauingenieurs. Die Erdölförderung der Welt, die im Jahre 1859 im ganzen nur 2641 betrug, ist von 20 Millionen Tonnen im Jahre 1900 auf 185 Millionen Tonnen im Jahre 1928 gesteigert worden, sie weist zunächst auf größere Leistungen auf dem Gebiete der Gewinnung, aber auch auf die Leistungen des Schiffbaues, der anstelle der vor fünfzig Jahren noch üblichen Beförderung in Blechkannen und Fässern mit Segelschiffen die mächtigen Tankdampfer dem Transport dienstbar machte. Die Abfertigung dieser Fahrzeuge setzt jedoch auch bestimmte bauliche Anlagen voraus, die von Bauingenieuren geschaffen werden mußten, um den Transport und die Lagerung dieser großen Mengen wirtschaftlich zu gestalten. Die Ausnutzung der Wasserkräfte, die dem Bauingenieur meist schwierige Aufgaben stellt, hängt auf das engste mit den Fortschritten der Elektrotechnik zusammen, denn erst als es gelang, die weitab gelegenen Gewinnungsstellen der Energie auf dünnem Draht mit der Verwertungsstelle zu verbinden, war die Möglichkeit gegeben, die potentielle Energie des Wassers in kinetische umzusetzen. Hand in Hand damit geht der Hochwasserschutz durch Aufspeicherung der verheerenden Flutwellen hinter Talsperren. Der Großbetrieb in der Industrie, der aus wirtschaftlichen Gründen in den letzten 50 Jahren sich in allen Ländern besonders ausgebreitet hat, hat zu Menschenansammlungen geführt, die auch den Bauingenieur vielfach vor recht schwierige Aufgaben stellen. Es gilt, die hygienischen Lebensbedingungen der Städte zu sichern. Die rapide Entwicklung mancher Großstädte nötigt vielfach zu kostspieligen und schwierigen Bauten, um die Bevölkerung mit gesundem Trinkwasser zu versorgen. In vielen Fällen dienen die hinter Talsperren angesammelten Wassermengen der Trinkwasserversorgung und den Zwecken der Industrie. Die Wassergewinnung aus dem Grundwasser hat ihre Grenzen, und so sieht sich der Bauingenieur genötigt, das Wasser mitunter aus großer Entfernung heranzuholen. Die unschädliche Beseitigung der Abfallstoffe hat besonders im Laufe der letzten 50 Jahre gewaltige Fortschritte gemacht. Die Erfolge, die der Bauingenieur auf diesem Gebiete erzielt hat, hängen innig zusammen mit der zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnis auf den Gebieten der Chemie und der Bakteriologie. Die Beton- und Eisenbeton-Bauweisen haben auf fast allen Gebieten des Bauingenieurwesens die Ausführung von Bauwerken in einer Kürze der Zeit und Güte ermöglicht, die vor 50 Jahren selbst die weitblickendsten Ingenieure kaum zu erhoffen wagten. Hier haben die Chemie, die bei der Herstellung des Zements in hervorragendem Maße ihre Unterstützung gewährt, und die wissenschaftliche Erforschung des Spiels der Kräfte dem Bauingenieur die Wege geebnet. Der Ausbau aller Verkehrswege, sowohl der Landstraßen wie auch der Eisenbahnen und Wasserstraßen, hängt somit mittelbar mit den Fortschritten auf dem Gebiete der

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Chemie und Physik zusammen. Als Maßstab für die Entwicklung des Kraftwagenverkehrs, bei dem der Gummireifen eine so bedeutende Rolle spielt, dient der Hinweis darauf, daß England im Jahre 1830 kaum 25 t Kautschuk einführte. Nach Erfindung des Verfahrens des Vulkanisierens im Jahre 1836 nahm die Einfuhr rasch zu und erreichte im Jahre 1926 86300 t. Ohne die Erfindung des Explosionsmotors hätte aber auch das Automobil nicht das Licht der Welt erblickt. Das Jahr 1883, in dem Daimler den ersten schnellaufenden Automobilmotor baute, bedeutet den Anfang einer neuen Entwicklung im Straßenbau, die den Bauingenieur vor schwierige, noch nicht restlos gelöste Probleme stellt. Die endgültige Lösung wird erst dann gefunden werden, wenn unsere Kenntnisse der Materialien und die Ergebnisse der Bodenforschung, das jüngste Kind der technischen Wissenschaften, uns befähigen, alle die Zusammenhänge klarer zu erkennen und zu erfassen. Die erste Eisenbahn in Deutschland: »Die Ludwigs-Eisenbahn« zwischen Nürnberg und Fürth mit einer Länge von nur 6,4 km wurde am 7. Dezember 1835 eröffnet, und schon im Jahre 1843 besaß Preußen, ohne die Kohlenbahnen im Ruhr- und Saargebiet, etwa 800 km Dampfbahnen. Das von Friedrich List mit bewunderungswürdigem Weitblick entworfene Netz eines deutschen Eisenbahnsystems, das sich über alle Grenzen deutscher Kleinstaaten erstreckte, lag schon im Jahre 1880 in einer Gesamtlänge von fast 34 000 km fertig ausgebaut vor. Die Erfindung der Schießbaumwolle und des Nitroglycerins wie der mit Druckluft betriebenen Bohrmaschine in den vierziger Jahren hatte die Wirkung, daß die erste Durchquerung der Alpen durch den Mont-Cenis Tunnel 11 Jahre vor der planmäßig erwarteten Vollendung im Jahre 1871 fertiggestellt werden konnte. Der Bau der zahlreichen Bergbahnen, die Vollendung des Gotthard-Tunnels und des Simplontunnels, bei welchen die Verwendung vervollkommneter Geräte eine Steigerung des monatlichen Fortschritts auf 225,3 m gegenüber 70,8 m beim MontCenis ermöglichte, fallen in die Periode der letzten fünfzig Jahre. Die Verwendung von flüssiger Luft bei Felssprengungen ist erst in den letzten Jahrzehnten eingeführt worden. Der Portlandzement ist zuerst im Jahre 1824 in England hergestellt worden, aber der Bau großer massiver Brücken für Eisenbahnen und Straßen hat ebenso wie der schon kurz gestreifte Bau von Industrie-Bauten erst mit der wissenschaftlichen Ausgestaltung der Theorie des Eisenbetonbaues, der Herstellung besserer Zemente und der Vervollkommnung der Hilfsmittel zur Verarbeitung der Baustoffe im Laufe der letzten Jahrzehnte gewaltige Fortschritte gemacht. Mit den Fortschritten auf dem Gebiete der Statik einerseits, der Hüttenindustrie und der Materialprüfung andererseits, ist die Entwicklung im Bau eiserner Brücken, von Bahnhofs- und Luftschiffhallen wie des Gerippes der Luftschiffe und Flugzeuge auf das engste verbunden. Die Weichselbrücke bei Dirschau mit ihrem engmaschigen Netzwerk steht gewissermaßen als Denkmal an die ersten Anfange der Kunst des Eisenbrückenbaues. Das letzte Glied dieser Entwicklungsreihe, die Hängebrücke über den Hudson-Fluß bei New York, die in einer Spannweite von über 1100 m mit Tragkabeln von 90 cm Durchmesser den Fluß überspannt, legt Zeugnis ab für die Fortschritte, die namentlich innerhalb des letzten halben Jahrhunderts auf dem Gebiete des Brückenbaus und der Herstellung hochwertiger

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Stähle gemacht worden sind. Die Verwendung von schweren Lokomotiven zur Erzielung größerer Geschwindigkeiten und größerer Zugleistungen ebenso wie die Einführung von Güterwagen größerer Ladefähigkeit, hat nicht allein zur Verstärkung des Eisenbahn-Oberbaues, sondern auch zum Umbau fast aller Eisenbahnbrücken geführt. Mit der Veredlung des Brückenbaustahls ist eine Steigerung der zulässigen Beanspruchungen ermöglicht worden, die in einer erhöhten Leistungsfähigkeit der Bauwerke bei verhältnismäßig geringer Gewichtszunahme zum Ausdruck kommt. Daneben weist die Verwendung von Eisenbahnschienen von 30 m Länge von Gleisrück- und Gleisstopfmaschinen auf Leistungen hin, die durch die enge Verbundenheit des Bauingenieurwesens mit der Walztechnik der Hüttenindustrie und dem Maschinenbau ermöglicht wurden. Die intensivere Ausnutzung der Eisenbahnen sowohl in quantitativer Hinsicht, bezüglich der beförderten Gütermengen und Personenanzahl, als auch in qualitativer Beziehung durch Steigerung der Fahrgeschwindigkeiten der Personen- und Güterzüge hat, namentlich im Verlaufe der letzten Jahrzehnte, große Fortschritte in der Anlage und dem Betrieb der Verschiebebahnhöfe und in dem Signalwesen mit sich gebracht. Die Sicherheit des Eisenbahnbetriebes, die Mechanisierung des Rangierdienstes unter Verwendung von Lichttagessignalen und des Funkwesens ist durch die gewaltigen Fortschritte auf dem Gebiete der Elektrotechnik gewährleistet worden. Die Gründungsarbeiten der oben erwähnten Brückenbauwerke, wie der Bau städtischer Untergrundbahnen in Bodenschichten mit hohem Wassergehalt, habenden Bauingenieur vor Aufgaben gestellt, deren Lösung wiederum in engem Zusammenhang mit den Fortschritten auf dem Gebiete des Maschinenwesens möglich war. Der englische Ingenieur Brunei hatte schon in den Jahren 1823 bis 1841 den ersten Tunnel unter dem Bett der Themse hergestellt, nach einem Schildbauweise genannten Verfahren. Nach demselben Verfahren, unter Verwendung von Preßluft, ist in den Jahren 1907 bis 1911 der Elbtunnel in Hamburg erbaut worden. Aber auch bei der Gründung von Brückenpfeilern und andern Bauwerken sind, insbesondere durch Entwicklung der hierbei verwandten maschinellen Einrichtungen und durch Verwendung der Eisenbetonbauweise, in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte erzielt worden. Die Gefahren, die mit dem Aufenthält in der Preßluft verbunden sind und in fast allen Fällen auf Vernachlässigung der durch die Erkenntnisse auf dem Gebiete der Medizin gebotenen Vorsichtsmaßregeln zurückgeführt werden können, haben der Verwendung der Preßluftgründung keinen nennenswerten Abbruch zuzufügen vermocht. In vielen Fällen, in welchen vor fünfzig Jahren die Preßluftgründung allein zur Anwendung gekommen wäre, bietet aber heute das Verfahren der Grundwasserabsenkung die Möglichkeit, selbst in engbebauten Stadtteilen Gründungsarbeiten in größerer Tiefe auszuführen. Beim Bau der Berliner Untergrundbahn sind unter Mitwirkung der Elektrotechnik, durch welche die Zuführung der zum Betrieb der Pumpen von gesteigerter Leistungsfähigkeit und der übrigen Baumaschinen auf engstem Raum erforderlichen Energie ermöglicht wurde, diese Methoden entwickelt und vervollkommnet worden.

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Die Fortschritte auf dem Gebiete der Walztechnik haben dem Bauingenieur in der Herstellung eiserner Spundwände, die durch geringen Kupferzusatz auch den chemischen Angriffen des Seewassers zu widerstehen vermögen, die Ausführung von Gründungsarbeiten ermöglicht, die unter Verwendung hölzerner Spundwände unmöglich gewesen wären. Auch auf diesem Gebiete dehnt sich die Anwendung des Eisenbetonbaus immer mehr aus. Eisenbeton-Pfahle und Eisenbeton-Spundwände finden überall Verwendung, wo die Zerstörung des Holzes durch den Bohrwurm zu erwarten ist, oder insbesondere dort, wo die errechneten Längen von Pfählen und Spundbohlen in Holz nicht zu beschaffen sind. Die Entwicklung der Seeschiffahrt ist gelegentlich der Besprechung der Energiequelle ö l kurz gestreift worden. Die Erfindung James Watts war zunächst bei ortsfesten Dampfmaschinen angewandt worden. Bevor aber die Dampfmaschine im Landtransportwesen sich ihren Platz eroberte, wurde der Dampfantrieb in der Schiffahrt eingeführt. Mit Riesenschritten hat sich die Entwicklung hier vom ersten Dampfschiff Fultons zu den Ozean-Riesen »Bremen« und »Europa« vollzogen, dank den Fortschritten im Maschinenbau und im Schiffbau. Bei den ungeheuren Kapitalwerten, die in den modernen Seeschiffen investiert sind, bedeutet jeder Zeitverlust einen Geldverlust. Die Zufahrt zu den Häfen und die Häfen selbst müssen so ausgebildet sein, daß, um einen möglichst günstigen wirtschaftlichen Wirkungsgrad der Schiffahrt zu erzielen, rascheste Abfertigung gewährleistet wird. Diese Aufgabe ist vom Bauingenieur gelöst worden. Welche Leistungen auch auf diesem Gebiete im Laufe der letzten fünfzig Jahre vollbracht worden sind, geht daraus hervor, daß die ungeheure Zunahme der Schiffsabmessungen sich in verhältnismäßig kurzer Zeit vollzogen hat. Mit dem Bau der Schnelldampfer »Bremen« und »Europa« hat Deutschland die Führung auf schiffbautechnischem Gebiet übernommen, aber solche Leistungen gewähren keinen rechten Überblick über den Entwicklungsgang. England mit einem Anteil von annähernd 50% an der Welthandelsflotte läßt die Zunahme der Schiffsabmessungen deutlicher erkennen. Man muß sich vergegenwärtigen, daß noch im Jahre 1860 die Durchschnittsgröße der in Hamburg angekommenen Seeschiffe nur 188 Reg. Tonnen betrug, zu deren Entladung 14 Tage nötig waren. Wenn man nun die Betrachtung auf 20 der größten Schiffe der englischen Handelsflotte und sich auf die Jahre 1880 und 1927 beschränkt, so ergibt dieser Vergleich folgendes Bild: 1880 Gesamtraumgehalt rund 10000 BRT Mittlerer Raumgehalt 5 000 „ Mittlere Länge 135 m Mittlere Breite 16 m Mittlerer Tiefgang beladen... 7,5 m

1927 701 000 BRT. 35 000 „ m 222,9 26 m 9,9 m

Dasselbe Bild zeigt sich, wenn man das sogenannte Segelfrachtschiff ins Auge faßt. Der Unterschied tritt besonders kraß hervor, indem man die beiden Jahre 1900 und 1927 mit einander vergleicht: 3 0 Festschrift Schmidt-Ott

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466 mittlerer Raumgehalt mittlere Länge mittlere Breite mittlerer Tiefgang ..

1900 2 000 BRT. 90 m 12 m 5.5 m

1927 8 000 BRT. 150 m 19 m 8,3 m

Die meisten Handelshäfen sind an Flußmündungen gelegen und möglichst weit landeinwärts erbaut worden, um den größten Nutzen der billigen Seefracht zu erzielen. Die Zunahme des Tiefgangs in den letzten Jahrzehnten, die für die Frachtschiffe relativ größer ist als für die größten vorzugsweise dem Personenverkehr dienenden Dampfer, bedeutet daher eine ganz außerordentliche Anstrengung, um die Flußmündungen, deren natürliche Tiefe nur in den seltensten Fällen den gesteigerten Anforderungen der Schiffahrt genügten, so zu gestalten, daß die Dampfer mit geringstem Zeitverlust den Hafen erreichen und ihn verlassen. Die Zunahme der Schififsabmessungen hat bei den durch Schleusen gegen die wechselnden Wasserstände der Gezeiten abgeschlossenen Häfen und bei Seekanälen zu kostspieligen Neubauten von Schleusen und Docks genötigt, die viel völligeren Schiffsformen und der größere Tiefgang haben, auch in den offenen Häfen, zu Gestaltungen der Kaimauern geführt, die von den vor 50 Jahren üblichen Formen völlig abweichen. Durch Anwendung der Eisenbetonbauweise und gewalzter Spundwände ist es gelungen, Kaimauern mit einer Höhe bis zu 25 m, von der Hafensohle gemessen, herzustellen, die nicht nur den gesteigerten Anforderungen der Schiffahrt, sondern auch in bezug auf Sicherheit den fortgeschrittenen Erkenntnissen der Theorie in jeder Beziehung Genüge leisten. Die Abfertigung der Schiffe im Hafen, das Be- und Entladen hängt in der Hauptsache von der Beschaffenheit der Ladungen und von der Ausrüstung des Hafens mit Hebezeugen und den Flächen zur Lagerung der Güter ab. Massengüter, wie Getreide, das lose im Schiffraum befördert wird, Erz, Kohle und öl, werden, wenn das Schiff mit den entsprechenden Einrichtungen versehen ist, im allgemeinen rascher beladen und entladen als Stückgüter. Das Löschen von Getreide geschieht am häufigsten mit Hilfe von pneumatischen Hebern, die das Getreide nach automatischer Wägung aus dem Laderaum entweder in Fluß- und Kanalleichter oder unmittelbar in Eisenbahnwagen, aber auch zur längeren Lagerung in Getreidespeicher befördern. Die mechanische Ausrüstung der Häfen, die einen nennenswerten Massengüterverkehr zu bewältigen haben, hat eine hohe Vollkommenheit erlangt, und dem Bauingenieur ist die Aufgabe gestellt, zur Aufnahme dieser mechanischen Einrichtungen zweckmäßige Anlagen, ebenso wie Liegestellen für das Seeschiff und für die Fahrzeuge der Binnenschiffahrt, Eisenbahnanlagen und Zuwege für den Landtransport mit Lastkraftwagen zu schaffen. Für den Stückgüterverkehr ist es erforderlich, daß das Schiff mit der erforderlichen Anzahl Luken versehen ist, um das Ansetzen möglichst vieler Krane zu ermöglichen. Der Kranbau hat im Verlauf der letzten 50 Jahre gewaltige Fortschritte gemacht, das Druckwasser von 60 bis 70 Atmosphären hat dem elektrischen Antrieb Platz machen müssen, und das Ansetzen von 14 Kranen auf einen einzigen

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Dampfer ist keine Seltenheit mehr. Die Schuppen, in denen die Güter nur vorübergehend lagern, haben immer größere Abmessungen erhalten. Die ersten Schuppen, die im Sandthorhafen in Hamburg Ende der sechziger Jahre erbaut wurden, hatten eine Tiefe von nicht einmal 15 m — die heutigen Kaischuppen haben 66 m Tiefe bei Längen von annähernd 400 m. Hierbei wird die Feuersgefahr durch eingebaute Sprinkleranlagen so gut wie ganz ausgeschaltet, womit eine für die Wirtschaftlichkeit des Hafenbetriebes sehr erhebliche Herabsetzung der Versicherungsgebühren erzielt wird. Zu den Aufgaben des Bauingenieurs gehören auch die Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit der Schiffahrt. Auf dem Gebiete des Leuchtfeuer- und Signalwesens sind in den letzten Jahrzehnten gewaltige Fortschritte gemacht worden, die den Errungenschaften in der Elektrizität, der Beleuchtungstechnik, dem Funkwesen, mittelbar also der Physik und Chemie zu verdanken sind. Bei dem scharfen Wettbewerb zwischen den Seehäfen Nordwest-Europas ist die rasche Abfertigung der Dampfer entscheidend. Dazu gehören in den Häfen, in denen der Umschlag vorzugsweise sich zwischen Seeschiff und Eisenbahn abwickelt, ausgedehnte Verschiebebahnhöfe und Gleisanlagen, die eine reibungslose Abwicklung des Eisenbahnverkehrs ermöglichen. Neuerdings gewinnt auch im Hafenbetrieb der Kraftwagenverkehr eine zunehmende Bedeutung. Nicht nur in den Zufahrtstraßen muß hierauf Rücksicht genommen, sondern es müssen für die Abwicklung dieses Verkehrs auch entsprechende Einrichtungen vorgesehen werden. Gegenüber dem an dem starren Schienensystem gebundenen Eisenbahnverkehr, der für seine Anlagen große Uferflächen erfordert, bietet der Umschlag zwischen Seeschiff und Fahrzeug der Binnenschiffahrt den Vorteil, daß das Transportmittel viel beweglicher ist und dieselben Wasserflächen benutzen kann, die für die Seeschiffahrt bereitgehalten werden müssen. Gegenüber dem Eisenbahngüterverkehr spielt der Verkehr auf den deutschen Wasserstraßen eine untergeordnete Rolle; denn sein Anteil am Gesamtverkehr beträgt nur rund 2S°/o- Aus der Tatsache, daß diejenigen Wasserstraßen, die dem Verkehr zwischen den Seehäfen und dem Binnenlande vermitteln, den größten Anteil am Verkehr aufweisen, geht die Bedeutung der Binnenschiffahrt für das wirtschaftliche Leben Deutschlands hervor. Die deutsche Industrie bezieht den größten Teil ihrer Rohstoffe aus dem Auslande über die Seehäfen. Die billige Fracht auf den Wasserstraßen ist hierbei von größerer Wichtigkeit als die schnelle Beförderung auf der Eisenbahn. In den Vereinigten Staaten wird zielbewußt der Ausbau der großen Wasserstraße vom Golf von Mexiko nach den Großen Seen unter Heranziehung der Nebenflüsse des Mississippi betrieben. Dort ist das Zusammenwirken von Eisenbahn und Binnenschiffahrt selbstverständlich. Der Bau großer Seekanäle, wie des Panama-Kanals, des Kaiser-Wilhelm-Kanals und des Manchester-Kanals, sind Errungenschaften der letzten fünfzig Jahre. Im Verlauf der letzten 50 Jahre hat aber auch der Ausbau der Binnenwasserstraßen erfreuliche Fortschritte zu verzeichnen. Es genüge der Hinweis auf den DortmundEmshäfen-Kanal, den Rhein-Herne-Kanal, den Mittellandkanal, die Neckarkanalisierung und den Main-Donau-Kanal. 3°*

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Im Kleinen und in Grenzen, die durch die Verhältnisse eng gezogen sind, vollzieht sich auch in der Binnenschiffahrt derselbe Wandel in der Verwendung von Fahrzeugen größerer Tragfähigkeit wie in der Seeschiffahrt. Anstelle des Kahns von noch nicht 3001 Tragfähigkeit ist im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts auf dem westlichen Kanalnetz der 6001 Kahn getreten. Das Kanalnetz wird neuerdings für den Kahn von 1000 t Tragfähigkeit ausgebaut, während auf dem Rhein, dessen Fahrwasser durch Regelungsarbeiten ständig verbessert worden ist, Flußschiffe von 3000 t verkehren. Sowohl beim Bau von Schiffahrtsschleusen als auch bei einer ganzen Reihe anderer wasserbaulichen Arbeiten haben die Forschungsarbeiten in den verschiedenen Wasserbaulaboratorien zu Fortschritten geführt, die in der bisherigen Entwicklung des Wasserbaus noch nicht zu verzeichnen waren. Das erste Wasserbaulaboratorium ist vor 32 Jahren in Betrieb genommen worden; neben einer staatlichen Wasserbauversuchsanstalt des Preußischen Staates sind den meisten deutschen Hochschulen Wasserbaulaboratorien angegliedert worden, die zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel des Unterrichts und der Forschung sich entwickelt haben. Die Kosten der Anlage und des Betriebes dieser wissenschaftlichen Institute sind in vielfacher Höhe durch die Ersparnisse, welche bei den verschiedensten Bauausführungen auf Grund der gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse erzielt werden konnten, wieder eingebracht worden. Die Entwicklung auf dem Gebiet des Bauingenieurwesens innerhalb der letzten 50 Jahre beweist die innige Verbundenheit aller Wissenschaften. Jeder Fortschritt auf benachbarten Gebieten der Technik stellt dem Bauingenieur neue, schwierigere Aufgaben. Die Mathematik, Mechanik, Physik, Chemie sind das Fundament, auf dem der stolze Bau des Bauingenieurwesens errichtet worden ist; an dem inneren Ausbau und der Erweiterung dieses Baues sind aber alle Gebiete der technischen und der Natur-Wissenschaften in demselben Maße beteiligt. Und wenn der deutsche Bauingenieur sich des wohlverdienten Ansehens erfreut, das er in der Welt genießt, so ist an dieser Anerkennung die ganze deutsche Wissenschaft und die Fürsorge, die der Staat in Deutschland der Forschung angedeihen läßt, in gleichem Maße beteiligt.

FRITZ SCHUMACHER ENTWICKELUNG DES STÄDTEBAUES Wenn man zurückblickt auf die Art und Weise, wie am Anfang dieses Jahrhunderts im Gegensatz zum unfruchtbaren Geist historischer Nachahmung der Kampf um den Aufbau eines eigenen Kunstausdruckes unserer Zeit begann, fühlt man alle die vorwärts weisenden Regungen auf diesem Gebiete als eine große Kette innerlich ineinander greifender geistiger Glieder. In seltsamer Verkennung dessen, was Not tat, fing man an mit einer Revolution des Ornamentes. Heute lächeln wir über dies seltsame Beginnen, und doch war es kein Zufall, daß der Kampf hier einsetzte, es war der einzige Punkt, wo der mittellose Einzelne sofort praktisch aktiv werden konnte, ohne erst auf die Zustimmung eines Auftraggebers oder auf staatliche Erlaubnis warten zu müssen. Vom Ornament aus eroberte man sich das Einzelgerät. Vom Einzelgerät ging es zum Innenraum. Vom Innenraum zum ganzen Wohnhaus. Vom Wohnhaus zum Großstadtbau. Das waren deutlich erkennbare Etappen, welche die allmählich erstarkende Bewegung durchlief, — ein Weg vom künstlerischen Einfall zum Kunstgewerbe und vom Kunstgewerbe zur Architektur. Man erkannte, daß nur der Gesamtorganismus des Bauwerks der kunstgewerblichen Einzelleistung Wertung und Bedeutung gab. Und dann kam der entscheidende Augenblick, wo man sich einer praktisch beinahe vergessenen Wahrheit bewußt wurde, nämlich daß es auch mit der Kultur des Gesamtwesens des einzelnen Bauwerks nicht getan war. Das Bauwerk bekam seinen Wert erst als Teil eines übergeordneten Ganzen, als Teil der Straße, als Teil der Siedlung. Von der Architektur kam man zum Städtebau. Man erkannte, daß nur der Mikrokosmos der Stadt der Einzelleistung des Bauwerks Wertung und Bedeutung gab. Vom Ornament zum Städtebau, das war ein Weg, der über eine in lückenloser Folge sich abspielende Reihe von Erkenntnissen ging, ein Eroberungszug von Stufe zu Stufe, den die heutige Generation, die das Ergebnis als Selbstverständlichkeit betrachten darf, sich kaum noch vorstellen kann. Und doch erlebt auch sie innerhalb des Begriffes »Städtebau« etwas ganz ähnliches, wie wir es einst innerhalb des Begriffes »Architektur« erlebt haben, als wir von der Beschäftigung mit dem kunstgewerblichen Detail allmählich zum Gesamtorganismus des Bauwerks vordrangen: eine Ausweitung des Gesichtsfeldes, die gleichbedeutend ist mit einer Entwicklung vom Einzelnen zum Ganzen. Wenn man verstehen will, was sich auf städtebaulichem Gebiet in den letzten Jahrzehnten abgespielt hat, muß man sich klarmachen, daß wir ganz unvorbereitet in die große Aufgabe des 19. Jahrhunderts eingetreten sind, die darin bestand, die neue Großmacht »Industrie« unserer Lebenskultur organisch einzugliedern. Diese Aufgabe bedeutete, die Form zu finden für die Bewältigung von Massenanhäufungen von Menschen. Die Sorge für künstliche Massenanhäufungen von Menschen bedeutete vom Standpunkte des Gestaltens aus betrachtet nichts anderes, als die Form zu finden für die großen technischen Mechanisierungen unserer Lebens-

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gestaltung, die sich ausprägen in den neuzeitlichen Organisationen des Verkehrs, der Versorgung mit den Elementen der täglichen Lebensnotdurft, des Wohnens, des Arbeitens, der Erholung, — alles Dinge, deren heutige Bedeutung man vor 50 Jahren erst zu wittern begann und deren eigentliches Wesen man erst entdeckt hat, während man sie kennen lernte und in bauliche Gestalt zu bringen versuchte. Das deutlichste Symptom für die Ungelöstheit aller dieser neuen Anforderungen des Daseins war ein Verfall der künstlerischen Erscheinung unserer Städte. Es war deshalb ganz natürlich, daß man zuerst die Krankheit ansah als ein künstlerisches Versagen und sie vom Künstlerischen aus zu kurieren suchte. Die allgemeine Sehnsucht nach Heilung trat im Anfang der neunziger Jahre gleichsam greifbar hervor in dem ungeheuren Erfolg des Buches »Städtebau« von Camillo Sitte, ein Buch, das ganz vom Ästhetischen ausgeht. Sitte zeigt an praktischen Beispielen, wie uns das Gefühl für die Gestaltung von Platz und Straße, also für die Gestaltung der äußeren Raumeindrücke, die eine Stadt bietet, verlorengegangen ist. Er setzt auseinander, worauf der Reiz der Straßenbilder, der geschlossene Eindruck eines Platzes und seine wirkungsvolle Möblierung mit Brunnen und Denkmälern beruht, kurz, er behandelt den Umkreis der Fragen, die dem Laien meist noch heute den Inbegriff »Städtebau« ausmachen: die Einfügung der Bauten in ihre Umgebung, vor allem die Ausbildung der markanten Gelenkpunkte der städtischen Raumeindrücke. Erst allmählich ging man einen Schritt weiter. Man sah, daß es nicht getan war mit der künstlerischen Formung und Ausstaffierung eines Straßenraumes oder eines Platzes. Man merkte, daß man den Außenraum nicht als etwas Selbständiges betrachten konnte, daß er vielmehr zu betrachten war als die Folgeerscheinung einer Struktur, der Struktur der Stadtmasse. Das war nicht nur eine Erweiterung der bisherigen Anschauung, sondern eine grundsätzlich andere Form des Betrachtern. Nicht mehr die Reform des Raumes, also dessen, was die Baumassen der Straßenblöcke zwischen sich übrig lassen, war der Ausgangspunkt der Behandlung, sondern umgekehrt die Baumasse, der Block, war es, von dem man ausging als dem eigentlich Erzeugenden des jeweiligen Zustandes. Aus dem Zuschnitt des Blockes und seiner Aufteilung entstehen Hand in Hand mit den Gesetzen über die jeweilige Ausnutzung des Bodens die Baumassen. Aus den Baumassen entstehen einerseits die soziologischen Typen des Bauwerks selbst, andererseits sein Wirkungsbild im Straßen- oder Platzraum. Jetzt erst war man an der Wurzel. Neben die rein äußerliche Betrachtung der ästhetischen Wirkung, von der aus man in Wahrheit nichts zu reformieren, sondern höchstens einiges zu retouchieren vermochte, war die organische Betrachtung der soziologischen Formung der eigentlichen Baumaterie getreten. Das klingt sehr einfach und war doch das Ergebnis eines langen Kampfes, der sich zum wesentlichen Teil aus etwas Äußerlichem erklärt. Wenn man vor einem Bebauungsplan steht, kann auch der Laie verhältnismäßig leicht das Straßen- und Platzsystem verfolgen und sich ein leidliches Bild machen von seinem Funktionieren und seinem allgemeinen Eindruck. — Um aber zu erkennen, welche bauliche Wirkungen der Zuschnitt der Baublöcke hat, bedarf es schon eines eingehenden fachmännischen Studiums und einer weit komplizierteren und eigentümlicheren vorausschauenden Phantasie. Die meisten Menschen, vielfach auch zeichnende Menschen, beachten

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deshalb den Block kaum im Verhältnis zur Aufmerksamkeit, die sie der Straße schenken. Sie gehen ganz unbewußt aus vom Bild der negativen Masse, nämlich der Lufträume zwischen den Bauten, die wir Platz und Straße nennen. Der Schaffende aber muß ausgehen von der positiven Masse, er modelliert in Baumassen, und mehr noch als die Gesetze der negativen Massen regieren ihn dabei die Rücksichten auf die unsichtbaren Gesetze, die das Schicksal dieser Baublöcke bestimmen, die er schafft. Ganz ähnlich wie beim einzelnen Architekturwerk stets der doppelte Bewußtseinsvorgang des Außen und Innen waltet, geht hier ein doppelter Bewußtseinsvorgang im Schaffenden vor sich: gleichzeitig muß er die positive und die negative Masse des Stadtkörpers zu bestimmtem Endzweck organisieren. Wenn man spricht von den unsichtbaren Gesetzen, die das Schicksal bestimmt zugeschnittener Baublöcke regieren, so muß man sich vergegenwärtigen, daß die Größe und Form des Baublocks wesentlich ist für den Grad seiner wirtschaftlichtechnischen Ausnutzbarkeit und damit für den Typus des einzelnen baulichen Gebildes, das hier entstehen wird. Dies bauliche Gebilde wird alle Möglichkeiten, welche die Baupolizei-Ordnung an der betreffenden Stelle der Stadt zuläßt, ausschöpfen. Je nachdem, wie ein Bauplatz zugeschnitten ist, kann das eine bauliche und sozial-hygienische Verzerrung oder einen gesunden klaren Organismus bedeuten. Nirgends konnte man das vielleicht deutlicher erkennen als in Hamburg, wo die erschreckende Hinterflügel- und Schlitz-Bauweise mit ihren dunklen, unlüftbaren Räumen und ungestaltbaren Baumassen die Folge eines undurchdachten Blockzuschnitts war. Der Gestaltende schafft also, wenn er Baublock und Bauplatz festlegt, zugleich unsichtbar eine Baumasse und einen Typus von bestimmter wirtschaftlicher und hygienischer Art. Er wirkt also nicht nur ästhetisch, sondern auch sozial bestimmend. Je nach dem Grad, wie der Schaffende diesen Teil seines Tuns erfinderisch beherrscht, kann er das gleiche Stück Welt wirtschaftlicher oder unwirtschaftlicher gestalten, — und wenn er das eine oder das andere nicht imbewußt, sondern mit vollem Bewußtsein tut, — legt er den sozialen Typus dieses Stückes Welt fest, denn es bestimmt indirekt den untersten Preis der Wohnung, die hier nach erfolgter Aufteilung nur noch gebaut werden kann. Da die billige Kleinwohnung in einer richtig ausgewogenen Großstadt etwa 83% aller Wohnungen ausmacht, wird das schwierigste Zentralproblem des städtebaulichen Gestaltens darin bestehen, eine Gegend für einen möglichst niedrigen Wohnungspreis möglichst angenehm aufzuschließen. Manche Systeme haben sich dafür herausgebildet, aber unsere neueren städtebaulichen Regungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie unermüdlich neue Methoden ersinnen, um das wirtschaftliche Endergebnis im Verhältnis von Wohnungstypus, Straßenanlage und Grundstücksform immer günstiger zu gestalten. Alles kommt dabei auf kleingliedrige Erschließungsmöglichkeit mit möglichst wenig Straßenaufwand heraus, also möglichst ausgiebige Einzelteilbarkeit des Bodens bei möglichst geringer Grundteilung. Das kann man als das soziale Ziel bezeichnen bei der Aufteilung des Stadtgeländes zur Bauparzelle. Die Form des in sich geschlossenen Blockes wird dabei vielfach verlassen, und ein freieres System von Streifen tritt an die Stelle, das ganze Bezirke nach einheitlichem Grundgedanken beherrscht.

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Diese ganze Entwickelung, die von der Sorge für das angenehme Straßenbild zur Sorge für den gesunden Organismus der baulichen Materie führt, ist gleichbedeutend mit einem Übergang von der rein ä s t h e t i s c h e n zu einer w i r t s c h a f t l i c h e n und h y g i e n i s c h e n Betrachtungsweise. Der Begriff »Städtebau« hat sich geweitet, er ist von einer künstlerischen zu einer sozialen Betätigung geworden und, was dabei das Bemerkenswerte ist, das ist dieses: das Objekt seiner Wirksamkeit ist nicht mehr in erster Linie das architektonische Gebilde, sondern der G r u n d u n d B o d e n , auf dem es erstehen wird. Das ist das entscheidende Ergebnis dieser ersten Entwicklungsphase: wenn unsere Umwelt wieder zur Harmonie eines organisch entwickelten Gebildes kommen soll, können wir nicht beim architektonischen Objekt, dem Träger des künstlerischen Eindrucks anfangen, wir müssen viel tiefer greifen. Beim Grund und Boden müssen wir beginnen, alles andere sind spätere Kapitel, die sich aus diesem Urkapitel des Städtebaues entwickeln: S t ä d t e b a u ist B o d e n p o l i t i k . Wir haben diese Erkenntnis zu verdeutlichen versucht, indem wir von der kleinsten Einheit der Bodenaufteilung, dem in Parzellen zerlegten Baublock ausgingen und sein Verhältnis zum Freiraum der Straße betrachteten. Was hier im Kleinen als Problem auftritt, ist seinem letzten Sinne nach ein Problem, das sich nun auch immer mehr ausweitet. Der einzelne Bau als Teil einer Straße, die Straße als Teil eines Bausystems: das waren die beiden ersten Stufen städtebaulicher Erkenntnis, die nächste heißt: das Bausystem als Teil des Stadtganzen. Das ist eine unvermeidliche Progression, denn wenn man einmal anfangt, die Dinge vom Gesichtspunkte der rationellen Teilung des Bodens aus zu betrachten, wird man sich bei praktischer Arbeit bald bewußt werden, daß man in ein Netz von Beziehungen eingreifen muß, das nur vernünftig geknüpft werden kann, wenn man vom ganzen Zusammenhang seiner Maschen ausgeht. Mit einem Worte, wer einem Stück Boden einer Stadt im einzelnen Gestalt geben will, muß zunächst einmal die Dispositionen klären, die für das G a n z e maßgebend sind, in dem dies Einzelne ein lebendiger Teil sein soll. Die Aufteilung des noch ungestalteten Gebietes einer Stadt nach großen gliedernden Gesichtspunkten ist in Wahrheit die Vorbedingung städtebaulichen Tuns. Bei dieser Aufteilung wird der Gestalter als erstes Freiflächen und Bauflächen voneinander sondern. Man betrachtete einen Bebauungsplan lange hauptsächlich von dem Gesichtspunkte aus, die B e b a u u n g auf noch unerschlossenem Gelände zu entwickeln, seine nicht minder wichtige Funktion ist, die Nichtbebauung auf solchem Gebiete festzulegen. In vieler Hinsicht ist das sogar der schwierigere Teil der Aufgabe, denn im allgemeinen machen die sich vorwärts schiebenden Bauflächen einer Stadt das freie Land, das sie berühren, ganz von selber zu Bauland. Dazu bedarf es keiner besonderen Kunst, die Kunst besteht darin, dies, wo es nötig ist, zu hindern. Und es ist in vielen Fällen dringend nötig, es zu hindern; denn das wilde Weiterwuchern der Bebauung erzeugt jene unförmigen Klumpenstädte, die immer neue versteinerte Ringe in das freie Feld vorschieben und so den Großstadtmenschen hinter immer neue Festungen zwingen, die ihm den Zusammenhang mit der Natur wehren. Dieser Gefahr läßt sich nur dadurch entgegenarbeiten, daß das ringförmige Stadtgebilde umgestaltet wird in eine Form, die wie ein

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Polyp mit achsialen Armen in das umgebende Land greift. Das ist gleichbedeutend damit, daß das Freiland mit entsprechenden Armen umgekehrt in die Baumassen eingreift. Ist das erreicht, so können die Siedlungsarme wachsen, ohne daß dadurch das freie Land weiter vom Kernpunkt der Menschenwohnungen fortgeschoben wird, denn der Punkt, bis zu dem die Baumassen durch Freiflächen gleichsam aufgeschlitzt sind, bleibt ja immer der gleiche. So ergibt sich für die künftige Stadt, die der Städtebauer vorbereitet, die mehr oder minder deutlich herausgearbeitete Grundidee einer polypenartigen Struktur. Nun darf man nicht etwa glauben, daß der Gestaltende dieses Ziel einfach in seinem Plane graphisch zu fixieren brauchte; das würde praktisch gar nichts nützen. Die Freiflächen eines Stadtplanes sind nicht etwa einfach das, was bei einem richtigen Lenken des baulichen Wachstums zwischen den Siedlungsmassen übrig bleibt, nein, auch sie müssen ebenso wie die Baumassen nach zwingenden logischen Gesetzen organisch erwachsen, wenn sie durchführbar sein sollen. Bei der Gestaltung der Gesamtform eines künftigen Stadtgebildes müssen die Kräfte, welche die Glieder des weiterwachsenden Häuserkörpers ins Land schicken, und die Kräfte, welche ein Gebiet dazwischen weben, das ohne Bauten sein eigenes, jenes erste Wachstum ergänzendes Leben hat, sich gleichsam verflechten. Mit einem Worte »Freiland« ist nicht etwa ein rein negativer oder ein neutraler Begriff, sein Wesen muß in allen Teilen aus Elementen zusammengesetzt sein, die für das Ganze einer Stadt zweckdienlich sind. Was sind das für Elemente? Als erstes werden die Grünanlagen hervortreten. Sie wurden lange in den Bebauungsplänen in der Art von Platzanlagen behandelt. In das Netz der Straßenzüge wurden sie als mehr oder minder große Erweiterungen eingebettet. Das vermochte sehr hübsche Motive und schöne Einzelschöpfungen hervorzubringen, es war aber nicht der Gesichtspunkt, der dazu führen konnte, sie zum Stadtganzen in richtige Beziehung zu setzen. Im Stadtganzen spielen die Grünanlagen eine ähnliche Rolle, wie etwa ein System von Wasserläufen, das ein Gelände berieseln soll: sie berieseln das Baugelände mit frischer Luft. Ein solches System beginnt erst seine volle Wirkung auszuüben, wenn es ein ununterbrochen zusammenhängendes Ganzes darstellt, und so wird der Gestalter von diesen G r ü n z u s a m m e n h ä n g e n ausgehen, wenn man überhaupt eine Reihenfolge in Überlegungen feststellen kann, die fortwährend ineinander überspielen. Die Gegebenheiten der Natur sind dabei die alles übrige bestimmenden Elemente. Es ist ein selbstverständliches Ziel, alle Naturschönheiten in solchen Grünzügen gleichsam aufzusaugen: Wäldchen, Alleen, bemerkenswerte Einzelbäume, etwaige Bachläufe. Und auch materiell schwieriger faßbare Schönheiten, wie Ausblicke und Fernsichten, wird man in sie zu verflechten suchen. Aber nicht nur das, oftmals ist es fast ebenso wichtig, auch solche Gelände in sie einzubeziehen, die sich durch keinerlei Schönheit, sondern nur durch die NichtVerwendbarkeit für ordnungsmäßige Bebauung auszeichnen. An Hand dieser äußeren Gegebenheiten wird der Gestalter seine inneren Absichten zur Geltung zu bringen suchen. Sie beruhen ganz allgemein gesprochen darauf, das Ventilationssystem dieser Grünzüge so zu konstruieren, daß der Großstadtbewohner schnell und angenehm aus dem Häusermeer ins Freie geführt wird;

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zugleich aber auch, daß jedes Stück dieser Grünanlage dem benachbarten Wohngelände einen besonderen Reiz für die Anwohner gibt. Die an sich ganz verschiedenen Eigenschaften einer Durchgangspromenade und eines begrünten Platzes müssen also möglichst miteinander verbunden werden. Für diese Verbindung geben die Spielplätze vielleicht die natürlichsten Anhaltspunkte. Sie beginnen im Programm der heutigen Großstadt eine ganz neue Rolle zu spielen. Statt eines oft genug mühsam erkämpften Zugeständnisses werden sie zur Forderung; nach Zahl und Form bilden sie ein festes Element jedes Siedlungskörpers. Sie mit Grünzügen organisch zu verbinden, liegt nahe, und so entsteht im Charakter des Fließenden der feste Punkt, der mit der baulichen Umgebung verankert ist. An ihn werden alle Weiterbildungen gärtnerischer oder auch baulicher Art fast von selber anknüpfen. Aber das Ziel der Freiflächenpolitik muß in Wahrheit noch beträchtlich weiter gehen. Um jene gliedernde Wirkung erzeugen zu können, reichen die öffentlichen Grünflächen und Spielplätze, selbst wenn eine Stadt ihren Forderungen freigebig entgegenkommt, auch nicht annähernd aus. Man muß also auch alles andere Freiland, das im Organismus einer Stadt eine Rolle spielt, — Friedhöfe, Flugplätze, Wasserflächen, — mit diesen Grünzügen örtlich vereinigen und nicht genug damit, wird man zur Ergänzung der so gewonnenen Freigebiete auch noch Flächen vorsehen müssen, die keinem besonderen Großstadtzweck dienen, sondern die ihrem bisherigen Beruf als agrarisch benutztes Land weiter erhalten bleiben sollen. Erst dann, wenn man alle diese einzelnen Elemente zusammenaddiert, wird man Flächen in Händen haben, mit denen man die Gesamtform des Stadtkörpers im erst angedeuteten Sinne gleichsam modellieren kann. Besonders wichtig ist bei diesen Überlegungen die nach heutigen Gesetzen noch nicht in vollem Maße gesicherte Möglichkeit, Forste und Ackerland dauernd ihrer bisherigen Benutzung zu erhalten. Sobald das in größerem Umfang möglich ist, wird sich vielfach ganz von selber ein Prozeß einstellen, der für die Gesundung der Großstadt von entscheidender Wichtigkeit werden kann: aus dem Ackerland wird sich Gemüseland entwickeln. Der agrarisch benutzte Boden wird kleiner aufgeteilt und immer hochwertiger bestellt, und so bildet sich an festen Stellen jenes Kleingartenland, das gegenwärtig, wo es meist nur provisorisch die noch nicht bebauten Flächen der Großstadt ergriffen hat, durch jede Regung der weiterwachsenden Stadt mit trauriger Unerbittlichkeit vertrieben wird. Auch wenn eine Stadt bestrebt ist, in ausgiebiger Weise Streifen von Dauerpachtgärten mit ihren Grünanlagen zu verbinden, wird sie dem Bedürfnis, das hier vorliegt, nicht gerecht werden können. Eine Lösung dieser Frage wird erst vorstellbar, wenn es gelingt, im Privatbesitz verbleibendes Freiland organisch mit dem Baugebilde der künftigen Großstadt zu verschränken. Wenn die meisten unserer großen Städte gegenwärtig ihr lebhaftes Vergrößerungsbedürfhis mit städtebaulichen Gesichtspunkten begründen, so ist es nicht, wie vielfach angenommen wird, der verderbliche Ehrgeiz, die Häufung der Menschen immer noch mehr zu steigern, sondern der Umstand, daß dieses Streben nach einem anderen Verhältnis von Bauland zu Freiland und nach einer anderen Form für den Ausklang der werdenden Stadt in die Natur herein

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nur durchgeführt werden kann, wenn weite Dispositionsgebiete zur einheitlichen Beeinflussung zur Verfügung stehen. Ist diese Sonderung von Freiflächen und Bauflächen eine erste grundsätzliche Anordnung, von der ein Gestalter bei der Frage der Aufteilung des Bodens ausgehen muß, so ist nun als zweites eine grundsätzliche Sonderung innerhalb der Bauflächen nicht minder wichtig. Wohnen und Arbeiten war in den harmonisch wirkenden Städten früherer Zeiten eng miteinander verbunden. Aus dieser Verbindung entsprang vielfach das eigentliche Wesen und der Reiz baulicher Anlagen. Wenn der Charakter der heutigen Stadt so ganz anders geworden ist als der älterer Städte — selbst wo der Größenunterschied gar nicht so besonders ins Gewicht fallt, — so liegt das in erster Linie daran, daß es im Wesen unserer wirtschaftlichen Entwicklung beruht, Arbeiten und Wohnen tunlichst trennen zu müssen. Der Übergangszustand, in dem sich die Trennung in Form eines willkürlichen Durcheinanders zu vollziehen begann, bildet eine der schlimmsten Wunden am Körper der heutigen Großstadt, eine Wunde, die alle Kunst städtebaulichen Arzttums nie zum Heilen bringen kann. Erst der kranke Zustand brachte allmählich die Erkenntnis, daß hier ein Problem vorliegt, das nicht von Fall zu Fall, sondern nur planmäßig gelöst werden kann. Eine Sonderung von Wohngegend und Arbeitsgegend ist erforderlich, damit das Wohnen nicht durch die Nebenerscheinungen der Arbeit belästigt wird. Das ist der erste rohe Gesichtspunkt; in Wahrheit muß man sagen: damit beide zu ihrem Rechte kommen. Gegenüber den Arbeitsstätten der reinen Industrie wird diese Scheidung eine möglichst radikale sein müssen. Der Gestalter wird deutlich abgegrenzte Industriegebiete beim Aufteilen des Bodens einer Stadt auszusondern suchen. Er wird dabei nicht frei sein, sondern sein Tun wird bestimmt durch die Gegebenheiten zweier Grundforderungen. Das Gebiet muß so liegen, daß die vorherrschenden Winde die Ausdünstungen der Industriewerke möglichst von den Siedlungen abtreiben, und es muß so liegen, daß es möglichst vorteilhaften Anschluß an die maßgebenden Verkehrsmittel des Ortes besitzt; an die Güterbeförderung der Bahn oder an die Anlagen der Wasserwege — wenn möglich zugleich an beide. Vielleicht wird dieses Prinzip reinlicher Scheidung, das sich bezüglich Wohngegend und der Gegend industrieller Arbeit als W u n s c h bereits durchgesetzt haben dürfte, sich auch bezüglich derjenigen Bezirke immer mehr durchsetzen, die der Arbeit dienen, die sich ohne Werkstatt nur im Rahmen von Büros abspielt: der Geschäftsgegend. Möglichste Konzentrierung der Geschäftsgegend ist nicht nur für die Abwicklung des Arbeitslebens, sondern mindestens ebensosehr für die Entwicklung des Wohnwesens etwas Heilsames. Das wilde Herüberwuchern eines Geschäftsviertels in Wohngegenden erzeugt innerlich und vor allem auch äußerlich recht üble Erscheinungen. Aber nicht nur das, die planmäßige Konzentrierung erleichtert die schwierige Frage des Verkehrs zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. So wird neben der Absonderung der Industriegebiete auch die Absonderung der Geschäftsgebiete für den Gestalter ein immer bedeutsameres Ziel sein. Als dritter Gesichtspunkt für diese Aufteilung des Stadtgebietes im Großen ist der Verkehrsgesichtspunkt zu nennen. Wenn man Dinge, die in Wahrheit alle ineinander überfließen, numerieren muß, könnte man ihn auch den ersten nennen,

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denn bei allen realen Erwägungen über die Art, wie das Baugelände sich gestalten soll oder gar wie Arbeits- und Wohngelände ineinander eingreifen, stehen natürlich die großen allgemeinen Fragen der Verkehrszusammenhänge als richtunggebend im Vordergrund. Ja, sie pflegen in gewisser Hinsicht mächtiger zu sein als der schöpferische Wille des Gestalters, weil ihre Bedingungen vielfach in Dingen verankert sind, die ganz wo anders liegen als im Rahmen der betreffenden Stätte, in der sich die Folgen geltend machen. Man wird deshalb vieles auf diesem Gebiet zu den Gegebenheiten zählen müssen, mit denen man bei seiner Aufteilung zu rechnen hat, ob es einem nun behagt oder nicht. Vieles, aber doch nicht alles. Zwar sind Eisenbahnlinien und große historische Verkehrsstraßen meist unveränderliche Elemente, aber sie bedürfen in der Regel, wenn man das Bild der Zukunft entrollt, wesentlicher Ergänzungen. Je willkürlicher gerade diese beiden Dinge — der Wagenweg und der Schienenweg — bislang in ihrem gegenseitigen Verhältnis behandelt zu sein pflegen, um so nötiger ist es, durch diese Ergänzungen System in die Sache zu bringen. Immer mehr müssen wir Autoweg und Schienenstrang als sich ergänzende Mittel betrachten und behandeln und müssen die großen Ausfallstraßen aus dem Häusermeer der Stadt so anlegen, daß sie dem Fernverkehr im weitesten Sinne auf kreuzungsfreien Bahnen gewachsen sind. Dabei gilt es, auch künftigen Ansprüchen und Mitteln des Verkehrs Rechnung zu tragen; denn eine der elementaren Grundforderungen einer guten Stadtaufteilung ist diese, die großen gliedernden Verkehrsträger so zusammenzulegen, daß das eigentliche Siedlungsfleisch möglichst wenig zerfetzt wird. Das wird dazu führen, in solchen Gebieten, wo man die Dinge noch frei in der Hand hat, etwas Ahnliches vorzusehen wie das, was man im Ruhrkohlenbezirk »Verkehrsbänder« genannt hat, Streifen, auf denen die Entwicklung künftiger Verkehrsmittel vorbehalten bleibt. Man sieht, auch hier kommt es heraus auf eine systematische Gliederung des Bodens für Zwecke, die vorausschauender Vorsorge bedürfen. Und wenn wir schließlich nach dem allgemeinen Gesichtspunkt suchen, der für all das angedeutete Tun maßgebend ist, so ist es eben der: vorausschauende Vorsorge, nicht für das Einzelne, das niemand im voraus binden kann und darf, — aber für das Große, das gewisser Bindungen bedarf, wenn es nicht der Willkür und dem Zufall überlassen werden soll. Denn die im ersten Augenblick vielleicht unerwartete Tatsache muß man sich klar machen: diese großen Gesichtspunkte klarer Sonderungen und organischer Struktur, die man, wenn man sie einmal erkannt hat, zu den Selbstverständlichkeiten unserer Lebensordnung rechnen wird, k ö n n e n nicht nur von den Kleinigkeiten unserer willkürlichen Tagesentwicklung totgemacht werden, sondern werden ganz gewiß dieses Schicksal erleben, wenn man ihnen nicht ganz bestimmte Sicherungen schafft. Wenn man früher Vorsorge für die Zukunft trieb, dann suchte man irgendein Stück einer bereits begonnenen Entwicklung, soweit man es unmittelbar zu überblicken vermochte, festzulegen. Je mehr das geschah, um so fühlbarer wurde der Mangel an Zusammenhängen. Was technisch gut war, war vielleicht wohnungspolitisch unerwünscht, was wohnungspolitisch gut war, war vielleicht wirtschaftlich bedenklich, was wirtschaftlich gut war, machte vielleicht verkehrspolitisch Schwierig-

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keiten, — und wie bei alledem die Gesichtspunkte architektonischer Harmonie zu ihrem Rechte kommen sollten, blieb eigentlich immer dem Zufall überlassen. Kurz, man kann all den unabhängig voneinander fließenden und gegeneinander spielenden Kräften einer Stadt nur gerecht werden, wenn man schon von langer Hand Dispositionen schafft, welche die Interessensphären, die im Großen nicht miteinander kollidieren dürfen, voneinander sondern, und dann eine Stelle schafft, die im einzelnen die Bahnen all der verschiedenen Willenskräfte, die sich in einer Stadt durchkreuzen, mit diesen Grundzügen in Einklang zu bringen sucht. Das ist der Sinn der Einrichtungen des heutigen Städtebaues. Das Ziel aber, auf das sich diese Tätigkeit zunächst einmal richtet, ist eine wohldurchdachte höhere Ordnung in den großen Zusammenhängen der Dispositionen des Grund und Bodens. Wir sahen, wie die erste Etappe dieser Entwicklung von der ästhetischen Betrachtung von Platz und Straße zur sozial-wirtschaftlichen Betrachtimg von Bauplatz und Baublock führte, wie die Aufteilung eines Stückes Boden in Systeme von Baublöcken zur Aufteilung des Gesamt-Bodens einer Stadt nach den großen Gesichtspunkten von Freiflächen und Bauflächen und ihren zahlreichen Unterfragen weiterleitete. Damit war der eingeschlagene Gedankengang aber nicht zu Ende. Er konnte nicht Halt machen an den zufalligen Grenzen einer Stadt, so sehr auch deren zentrale Interessen den Maßstab für alle Fragen abgeben. Diese Stadt mit allen ihren Ansprüchen und Problemen ist eingebunden in ein Netz viel weiter reichender Kräfteströme. Sie ist Teil einer Landschaft, eines Flußlaufes, großer weitreichender Verkehrszusammenhänge. Sie ist Untertan den Beziehungen zu Bodenschätzen, zu anderen Wirtschaftszentren, zu Naturschönheiten. Kurz, je lebendiger ein großes Gemeinwesen selbst ist, um so lebendiger sind die Beziehungen zu dem Stück Welt, in das es eingebettet ist. Diese Beziehungen müssen entwickelt, gewahrt, umgestaltet werden, wenn man sich nicht willenlos und tatenlos jenem sinnlosen Durcheinander ergeben will, das unserer Zeit seinen vernichtenden Stempel aufzudrücken sucht. Nicht die sinnvolle städtebauliche Planung des Gesamtkörpers der Stadt allein genügt, die städtebauliche Planung muß von viel weitergreifenden Zusammenhängen ausgehen, wenn sie die Nervenstränge des Lebens wirklich ganz erfassen will: L a n d e s p l a n u n g ist das Wort für die Verwirklichung dieser Erkenntnis geworden. Das Wort bedeutet die Forderimg, daß die planvolle Disposition großer Lebenszusammenhänge sich über die Gemeinwesen hinaus auf ganze Lebensräume erstrecken muß. Die Zusammenhänge des Stückes Welt, in das eine Großstadt gebettet ist, bedürfen einer planvollen Ordnung. Das ist neben vielem anderen die Vorbedingung für die Verwirklichung des Gedankens, der gegenwärtig besonders populär ist, des Gedankens der Dezentralisation der Großstadt durch Abspalten neuer kleinerer in sich geschlossener Lebenszentren. Dieser verlockende Gedanke setzt voraus, daß die A r b e i t s s t ä t t e n der Großstadt dezentralisiert werden können, was bei Städten, die in ihren maßgebenden Arbeitsstätten durch Wasserläufe geographisch gebunden sind, nur in beschränktem Maße möglich ist. Aber auch wo es theoretisch keine solche Hemmungen gibt, liegt es auf der Hand, daß eine praktische Durchführung nur in Betracht kommt, wenn städtebauliche Planung systematisch über die Bezirke einer großen Stadt

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ins Land herauszugreifen vermag. Landesplanung ist deshalb erste Vorbedingung aller Dezentralisationsbestrebungen. Es ist leicht erkennbar, daß dieser Gedankengang schließlich einmündet in die Forderung, nicht nur die städtebaulichen Interessen der Gemeinden ganzer Landkreise, sondern auch die Planungen ganzer Länder miteinander zu verknüpfen. Kurz, wir stoßen mit innerer Notwendigkeit auf den Gedanken einer städtebaulichen Rahmentätigkeit des Reiches, in die sich dann Zone für Zone die weiteren städtebaulichen Arbeiten einfügen, um so unser ganzes Heimatland vor der zerstörenden Willkür einer planlosen Entwicklung zu schützen. Vielleicht wird die Zeit kommen, wo man diese Arbeit als die vornehmste und fruchtbarste aller Kulturarbeiten erkennen wird. Manche Zeichen, vor allem der neue Entwurf eines preußischen Städtebau-Gesetzes, lassen erkennen, daß man beginnt, auf die Stimmen zu hören, die auf diese Probleme aufmerksam machen. Es handelt sich um einen Vorgang, den Otto March »die mächtigste Kulturbewegung unserer Zeit« genannt hat, es ist das Erwachen unseres stumpf oder resigniert gewordenen kulturellen Gewissens. Die Etappen dieses Erwachens, die wir verfolgt haben, kann man in drei Schlagworte zusammenfassen: von Raumästhetik kamen wir zur Bodenpolitik; diese letzte Wendimg zur Landesplanung kann man mit städtebaulicher Geopolitik bezeichnen. Wenn in diesem Zusammenhang von Geopolitik als letztem Inhalt des modernen Städtebaus die Rede ist, nehme ich mit vollem Bewußtsein einen Begriff, der eine neuzeitliche Bewegung kennzeichnet, die bekanntlich weit über die Grenzen dessen herausgreift, was wir »Städtebau« nennen. Diese Bewegung sucht den Erscheinungen unseres Erdballs gegenüber statt der politisch-historischen Form der Betrachtung, die vielfach für die Fragen lebendiger Weiterentwicklung brüchig wird, die wirtschafte geographische Form der Betrachtung in den Vordergrund zu stellen, die für die Fragen lebendiger Weiterentwicklung die natürlichere Norm geben kann. Geographie gegen Geschichte, das bedeutet richtig betrachtet nichts anderes als den Versuch einer Rückkehr zur Natur. »Geopolitik« ein neuer Gesichtspunkt für die Ordnung der in tiefste Verwirrung geratenen Dinge der großen Menschenhaufen, die wir die Völker dieser Erde nennen, »Geopolitik« der neue Gesichtspunkt für jene Einzelfragen, welche den Schicksalsrahmen der kleinen Menschenhaufen bilden, welche die Lebensverhältnisse in Städten und Städtekomplexen zusammen geführt hat. Aus einem Zusammenwirken der geographischen und wirtschaftlichen Betrachtungsweise ergibt sich die »Politik«. Sie ergibt sich aus dem Boden und seinen Verhältnissen und ist schließlich nichts anderes als im weitesten Sinne gefaßte Bodenpolitik. Die natürlichen Bedingungen der Bodenverhältnisse geben den Rahmen: das Ziel aber ist noch nicht erreicht, wenn die Dinge innerhalb dieses Rahmens rationell geordnet werden, sie müssen diese Gegebenheiten schöpferisch ausnutzen. Eine schöpferische Behandlung des Bodens, das ist in der Entwicklung der letzten 50 Jahre das Ziel des Städtebaues geworden. Damit stoßen wir auf den Teil städtebaulicher Betätigung, den man nicht durch das Entrollen von Begriffen, sondern nur an Beispielen erklären kann, wo wir also bei unserer Betrachtung Halt machen müssen.

FRIEDRICH FALKE LANDWIRTSCHAFT Die Landwirtschaftswissenschaft ist noch ein verhältnismäßig junger Zweig am großen und ehrwürdigen Baume der Gesamtwissenschaften. Am 26. Oktober 1926 waren 100 Jahre verflossen, seitdem Albrecht Daniel Thaer die Augen geschlossen hatte, den die deutsche Landwirtschaft als ihren großen Reformator und den Begründer ihrer Wissenschaft verehrt. Die erste Pflegestätte fand die junge Wissenschaft unter Thaers Leitung in der Königlichen Akademie des Landbaues in Möglin in der Mark (1806), der in der Folgezeit 10 weitere, mit einem größeren Gute verbundene Akademien als selbständige, in sich geschlossene Lehr- und Forschungsanstalten folgten. Etwa ein halbes Jahrhundert waren diese Akademien die Träger der Landwirtschaftswissenschaft und ihrer weiteren Entwicklung; sie haben diese Aufgabe entschieden zu erfüllen vermocht, wenn auch Justus von Liebig ihnen in der ihm eigenen und schroffen Art Rückständigkeit vorzuwerfen versuchte. Da aber die Naturwissenschaften um die Mitte des vorigen Jahrhunderts einen ungeahnten Aufschwung nahmen und diese Fortschritte ebenso wie diejenigen der Volkswirtschaftslehre für die Landwirtschaftswissenschaft von größter Bedeutung waren, erschien es für das weitere Gedeihen der jungen aufstrebenden Landwirtschaftswissenschaft nicht mehr zweckmäßig, daß ihre Pflegstätten in ihrer Abgeschlossenheit verblieben, sondern eine Verbindung mit den Forschungsstätten der ihr verwandten Wissenschaften suchten. Es erfolgte daher in der Folgezeit ihre Auflösung bis auf Hohenheim, Poppelsdorf und Berlin, die zu landwirtschaftlichen Hochschulen sich entwickelten. An ihre Stelle traten landwirtschaftliche Universitätsinstitute. Das erste derartige Institut wurde 1863 von Julius Kühn in Halle ins Leben gerufen und dadurch zugleich das landwirtschaftliche Universitätsstudium begründet. Die landwirtschaftlichen Institute wie die erwähnten Hochschulen sind der gewaltigen Entwicklung der Landwirtschaftswissenschaft entsprechend im Laufe der letzten 50 Jahre gefolgt und bilden mit ihrem sehr ausgedehnten Lehr- und Forschungsapparat das eine Hauptwerkzeug für die landwirtschaftliche Erkenntnis. Das andere ist in den landwirtschaftlichen Versuchs- und Forschungsanstalten gegeben, die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts in großer Zahl entstanden sind. Die erste Versuchsstation wurde 1851 in Möckern bei Leipzig errichtet, zur Zeit sind etwa 100 Anstalten vorhanden. Alle haben die Aufgabe, auf die Landwirtschaft bezügliche Fragen wissenschaftlich zu bearbeiten, wobei in neuerer Zeit eine starke Spezialisierung in den verschiedenen Arbeitsgebieten zutage tritt. Daneben wirkt die biologische Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft, der neben der Erforschung der Grundlagen auch die gesetzliche Regelung des Pflanzenschutzes obliegt, und ferner die große für das Gebiet der Landwirtschaft geschaffene Einrichtung des Kaiser-Wilhelm-Instituts in Dahlem. Die landwirtschaftliche Forschung folgte zunächst den von Thaer gewiesenen Wegen, die in betriebswirtschaftlicher Hinsicht zuerst in Deutschland den Begriff von Produktionskosten, Rohertrag und Reinertrag klarzulegen und den Wert der

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Arbeit zu erfassen suchten, für die Produktionslehre aber eine Anwendung der damaligen, in den Naturwissenschaften erforschten Gesetze auf die Landwirtschaft zu gewinnen sich bemühten. Bis zu Thaers Zeiten hatte man nur unbestimmte Vermutungen über das Leben der Pflanze und ihre Nahrung. Tull hatte die fein zerteilte Erde als Nahrung der Pflanzen bezeichnet, Wallerius Boden, Wasser und Luft. Die Entdeckung der Zersetzung der Kohlensäure der Luft in der Pflanze entwickelte die Kohlenstofftheorie (Saussure), wonach nur der Kohlenstoff in Betracht kam. Thaer fügte hieran die sogenannte Humustheorie, nach der als die wesentliche Pflanzennahrung der im Boden vorhandene Humus, der sich beim Verwesen organischer Substanz bildet, angesehen wurde. Als wertbestimmend für die Pflanzenkultur galt der Humusgehalt des Bodens, diesen in seinem Bestände zu erhalten, als die zu lösende Aufgabe, der man entsprochen zu haben meinte, wenn zwischen der Erschöpfung durch die Ernten und dem Ersatz durch Stalldünger, Brache und Dreesch ein Gleichgewicht hergestellt war. Die Lehre von der Statik beschäftigte sich mit hierauf bezüglichen Berechnungen, suchte für jede Pflanze einen Erschöpfungsgrad und demgemäß auch einen Stalldüngerbedarf zu ermitteln. Beide Lehren führten zu einer Betriebsweise, die den Namen Stallmistwirtschaft verdient, weil Stalldünger der Angelpunkt war, um den sich alles drehte. Man erkannte aber bald, daß auf diesem Wege allein das Ziel der angemessenen Ernährung der Kulturpflanzen nicht erreicht werden konnte, da die Viehhaltung noch wenig lohnend war, der Düngerbedarf sie zur Notwendigkeit machte, was ihr die Bezeichnung eines notwendigen Übels eintrug. In dieser Verlegenheit kamen die Naturwissenschaften der Landwirtschaft zur Hilfe, die andere, völlig umwälzende Auffassungen zur Geltung brachten. Zunächst war es freilich nur die Stickstofftheorie, die der Humustheorie mehr ergänzend zur Seite trat, als sie bestritt. Nachdem der Stickstoff als Hauptbestandteil der eigentlich nährenden Pflanzenteile (Proteinkörper) erkannt worden war, glaubte man in ihm das wesentlichste Nahrungsmittel der Pflanzen gefunden zu haben und gelangte dahin, das Kriterium der Wirksamkeit und Bedeutung eines Düngestoffes in seinem Stickstoffgehalt zu suchen. Durch Sprengel begründet, fand diese Richtung hauptsächlich in Boussingault, Stöckhardt, Wolf, Mulder, Lawes und Gilbert u. a. begeisterte Anhänger und gab die erste Anregung zur Anwendung künstlicher Düngstoffe: des Guanos, der Ölkuchen, der gemahlenen Knochen, der Ammoniak- und Salpetersalze. Der Stickstofftheorie folgte die durch Justus von Liebigs Lehre (Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie) veranlaßte Mineralstofftheorie. Indem er sich auf die inzwischen gewonnene Erkenntnis von der Ernährung der Pflanzen und von dem Kreislauf des Kohlenstoffs und Stickstoffs stützt, die er deswegen für normale Ernten als genügend vorhanden erachtet, betont er hauptsächlich den Wert der mineralischen Bestandteile der Pflanzen, die letztere lediglich aus dem Boden beziehen können und die bei dem nicht ausreichenden Ersatz durch den Stalldünger einem »Raubbau« anheimfallen. Wesentlich war seine Erkenntnis, daß alle Stoffe, die durch die chemische Untersuchung in den Pflanzen nachgewiesen wurden, auch im Boden als Nahrung vorhanden sein müßten. Kein Stoff darf fehlen, wenn die Pflanze gedeihen soll; jeder fehlende macht die anderen

Landwirtschaft

wirkungslos, der in geringstem Maße vorhandene Stoff ist bestimmend für die Höhe der Ernte (Gesetz vom Minimum). Er irrte jedoch, wenn er annahm, daß es hierbei im wesentlichen nur auf die Aschenbestandteile der Pflanze, insbesondere Kali, Phosphorsäure, Kalk ankomme und der Ersatz dieser durch die Ernten den Bodenbestandteilen entnommenen Stoffe allein oberstes Gesetz zur Erhaltung der Fruchtbarkeit der Böden sei. Durch die fortgeschrittene Erkenntnis der Gesetze der Pflanzenernährung und der komplizierten Vorgänge im Boden, an denen nicht nur chemische, sondern auch physikalische Prozesse und die Tätigkeit von niederen und höheren Organismen (Mikroorganismen, Kultur- und Unkrautpflanzen, im Boden lebende Tiere) ihren Anteil haben, wissen wir heute, daß die Auffassungen Liebigs zu einseitig chemische waren. Trotzdem müssen wir seinen Forschungen und Lehren höchste Anerkennung zollen, da sie bahnbrechend waren und die Wege für die heute geltenden Anschauungen bereitet haben. Der Lehre Liebigs vom Ersatz ist heute diejenige des Umsatzes der Bodennährstoffe gefolgt, nach der man zur Erzielung größtmöglicher Ernten ein möglichst hohes Maß aller wirksamen durch die Pflanzenwurzeln aufnehmbaren Nährstoffe und der sonstigen Wachstumsfaktoren im Boden zu schaffen sucht, sei es, daß man durch Bodenbearbeitung oder durch besondere Auswahl der Düngemittel eine umfangreiche Aufschließung der Bodenbestandteile erstrebt, sei es, daß man durch natürliche und künstliche Düngemittel die Zufuhr von Nährstoffen zu steigern sucht. Diese Bestrebungen haben auf der einen Seite zu einer gesteigerten Anwendung der Kunstdünger geführt, wobei der Nachweis der Rentabilität regulierend wirkt. Auf der anderen Seite hat man das Problem der chemischen Bodenanalyse zur Feststellung des Düngerbedürfnisses des Bodens zu lösen gesucht, um die verfügbare Menge von aufnehmbaren Nährstoffen zu erkennen und ihre Ergänzung bis zu dem durch die einzelnen Pflanzen in Höchsternten umsetzbaren Umfange vornehmen zu können. Zu schönen Erfolgen nach dieser Richtung haben sowohl die Entwicklung einer verfeinerten Feldversuchstechnik in Verbindung mit Versuchsdüngung, als auch die Methoden von Neubauer und von Mitscherlich geführt. Während Neubauer mit seiner Keimpflanzenmethode die ausnutzbaren Mengen des Kali und der Phosphorsäure im Boden nachweist, verwendet Mitscherlich die Ernteergebnisse des Vegetationsversuches, um nach dem von ihm aufgestellten Wirkungsgesetz der Wachstumsfaktoren unter Benutz\mg eines konstanten Wirkungswertes für jeden einzelnen Nährstoff das Nährstoffbedürfnis an Stickstoff, Kali und Phosphorsäure zur Hervorbringung einer Vollernte zu errechnen. Das erwähnte Wirkungsgesetz stellt gleichzeitig neue Gesetzmäßigkeiten der Pflanzenernährung auf, deren Richtigkeit allerdings noch etwas umstritten ist. Große Bedeutung hat in neuerer Zeit die Aufklärung der Bodenreaktions- und Aziditätsfrage gewonnen, besonders durch Kappen. Durch die Aziditätsforschungen sind große Fortschritte im Hinblick auf die Befriedigung des Kalkbedürfnisses der Böden gemacht worden. Auch die Kohlensäure als Pflanzennährstoff hat neuerdings wieder Beachtung erfahren, da die Versorgung der Pflanzen damit aus der Luft nicht immer ausreichend erscheint. Es ergaben sich dabei wieder Anklänge an die alte Humustheorie, da die Quelle für gesteigerte Kohlensäurezufuhr nur der Humus sein kann. Eine epochemachende Entdeckung war die der Stickstoffer31 Festschrift Schmidt-Ott

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nährung der Leguminosen durch Hellriegel und Wilfarth, gleichbedeutend für die Frage der Fruchtfolge, wie für die Wirkung der von Schultz-Lupitz besonders geforderten Gründüngung. Im Zusammenhang hiermit steht die Entdeckung des ersten Leguminosen-Impfstoffes des Nitragins durch Hiltner. Nachdem in den sechziger Jahren Heiden seine klassischen Untersuchungen über den Stalldünger ausgeführt hatte, trat eine Zeitlang dieForschungstätigkeit über diesen Dünger gegenüber den künstlichen Düngerstoffen zurück, bis angeregt durch Soxhlet, der die getrennte Aufbewahrung und Anwendung von Kot und Harn als die zutreffendste Konservierungsmethode gekennzeichnet hatte, in den letzten Jahrzehnten diese Frage erneute Aufmerksamkeit fand und in der neuesten Zeit durch das Verfahren der Heißvergärung ganz neue beachtenswerte Wege gewiesen wurden. Eine wichtige Rolle beim Anbau der Früchte hat von jeher der Kampf gegen das Unkraut gespielt, der in der Erforschung der Lebensweise der wichtigsten Unkräuter seinen Ausdruck gefunden hat; insbesonders haben die Untersuchungen von Wehsarg nach dieser Richtung recht gründlich Aufklärung geschaffen. Große praktische Erfolge hatte in neuester Zeit die Anwendung chemischer Mittel, mit denen heute fast alle Unkräuter bis auf die unterirdisch kriechenden, teils sogar diese, bekämpft werden können. Die Bekämpfung der Krankheiten unserer Kulturgewächse hat dank intensivster Forschung gewaltige Fortschritte gemacht. Bedeutendes leisteten Julius Kühn, Brefeld, Frank Hiltner u. a.; Kühns Arbeiten sind heute noch von größter Bedeutung. In die letzten Jahrzehnte fallen die großen Fortschritte der Krankheitsbekämpfung, insbesondere durch Beizung mit chemischen Mitteln, Bekämpfungsmethoden, an deren Vervollkommnung weiter gearbeitet wird. Neuerdings beginnt die Immunitätszüchtung der bisherigen Art der Krankheitsbekämpfung den Rang streitig zu machen. Enges Zusammenarbeiten zwischen Pflanzenzüchtung und Pathologie hat sich als unerläßlich erwiesen, ein Beweis dafür, daß eine starke Spezialisierung auf rein pathologischem Gebiet unrichtig ist. Das Abbauproblem der Kartoffeln konnte im Laufe der Jahrzehnte wesentlich aufgeklärt werden, wenngleich in dieser Hinsicht die Zukunft noch viel Arbeit fordert. Verhältnismäßig wenig wurde bisher gegen die Bodenschädlinge (Bodenmüdigkeit) erreicht, so daß hier noch sehr wichtige Fragen der Lösung harren. Das außerordentliche Interesse, das man seit dem Auftreten Liebigs den Düngungsfragen zuwendete, hat eine gewisse Einseitigkeit in der Erforschung der Grundbedingungen des Pflanzenbaues hervorgebracht, da der Boden als Standort der Pflanzen vernachlässigt wurde, obwohl der alte Spruch: eine gute Bodenbearbeitung sei eine halbe Düngung, stets seine Berechtigung behalten hat. Der Grund einer gewissen Vernachlässigung liegt in der Schwierigkeit der Versuchsanstellung und in den störenden Einflüssen der nicht regulierbaren Witterung, so daß zur Zeit die Bodenbearbeitung noch mehr auf praktischer Erfahrung als wissenschaftlicher Erkenntnis fußt. Von einer systematischen wissenschaftlichen Untersuchung der Wirkung verschiedener Bodenbearbeitung auf den Boden und das Pflanzenwachstum sind wir daher noch weit entfernt. Immerhin hat bahnbrechend

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auf dem Gebiet der Bodenphysik Wollny gearbeitet. Im Zusammenhange hiermit stehen auch die Untersuchungen über die biologischen Vorgänge im Boden, denen wir einen tieferen Einblick in die Wirkung der Bodenbearbeitung, der Düngung und Nutzung des Bodens nach der bakteriologischen Seite verdanken: Verlauf der Düngerrotte, Kohlenstoffumsetzungen, Humus und Gare (Brache), Gründüngung, Stickstofiumsetzungen, Nitrifikation und Denitrifikation, Bodenreinigung und Bodenimpfung u. a. mehr. Alle diese Ergebnisse haben wesentlich zur Förderung der landwirtschaftlichen Bodenkunde beigetragen. Die Dünger- und Bodenbakteriologie bildet zusammen mit der Futter- und Molkereibakteriologie die landwirtschaftliche Bakteriologie, die in den letzten drei Jahrzehnten einen ganz außerordentlichen Aufschwung genommen hat (Winogradski, Löhnis u. a.). Neben der Bodenbakteriologie erfuhr die landwirtschaftliche Bodenkunde noch eine bedeutsame Erweiterung durch die Arbeiten über die Bodenkolloide (Ehrenberg, Wiegner, Ramann u. a.). Wandte man sich damit der Bodenchemie wieder in verstärktem Maße zu (Blanck), so wurden auch die physikalischen Bodengegebenheiten in ihren Beziehungen zu den klimatischen Bodeneinflüssen in jüngerer Zeit wieder in den Vordergrund gestellt. Doch wenden wir uns von dem Gebiete der Pflanzenernährung zu dem der Ernährung der Tiere. Bereits Albrecht Thaer war zur Durchführung einer nach festen Plänen arbeitenden Fütterungstechnik bestrebt, die Nährwirkung eines jeden Futtermittels zahlenmäßig zu erfassen, und Thaers Einsicht verdanken die Heuwerte ihre Entstehung. Da aber die chemische Forschung zu Thaers Zeiten noch nicht zur Erkenntnis des Wesens und der chemischen Zusammensetzung der Futterstoffe gelangt war, die Träger der Nährwirkung waren, so konnten die Heuwerte naturgemäß nur den Charakter von ungefähren Schätzungswerten, — wie wir aber heute wissen, sehr guten — für sich in Anspruch nehmen. Erst nachdem die Forschung von Liebig, Voit, Wolff und Henneberg und ihren Schulen das Wesen und den chemischen Charakter, der in den Futterstoffen enthaltenen Nährstoffe erkannt hatten, wurden die Erfolge herbeigeführt, die in den letzten 50 Jahren hinsichtlich der Erkenntnis des Baues und der Wirkungsweise der einzelnen Nährstoffe und der Futtermittel erzielt worden sind. Zunächst ging man auf breiter Grundlage dazu über, mit einer relativ einfachen Zerlegungsmethode, dem sogenannten Weender Verfahren, die Zusammensetzung der Futterstoffe zu erforschen, und man lernte auf diesem Wege nicht nur den Gehalt der verschiedenen Futtermittel an Rohnährstoffen kennen, sondern ermittelte auch durch eine besonders für diese Zwecke durchgeführte Versuchstechnik am lebenden Tier (Ausnützungs- und Verdauungsversuch) die Verdaulichkeit der einzelnen Nährstoffkomponenten. Indessen gibt die Ermittlung der Verdaulichkeit allein keinen Aufschluß über den wahren W i r kungswert (Nährwert, Produktionswert) eines Futtermittels; die Frage nach der Verwertung der verdaulichen Nährstoffe ist daher immer von neuem auf verschiedenen Wegen studiert worden, dabei lassen sich folgende Verfahren als wissenschaftlich wertvoll hervorheben. Die Feststellung des Stickstoffansatzes und -Umsatzes beim Fleischfresser (C. v. Voitsche Schule), die Ermittlung der Verwertung der Nährstoffe bei Arbeits31'

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leistung (E. v. Wolff, N. Zuntz), die Festsetzung des Kohlenstoffumsatzes und -ansatzes (Fettansatz: Voit, Pettenkofer, Henneberg, Gustav Kühn, Kellner, Armsby) und die Klarlegung der dabei sich abspielenden energetischen Verhältnisse (Rubner, Zuntz, Kellner, Armsby), endlich die Verwertung der Nährstoffe bei der Milchbildung. Ziehen wir nun die Forschungen in Betracht, die direkt landwirtschaftlich nutzbare Ziele ins Auge fassen, so müssen wir zunächst der Wölfischen Versuche mit dem Pferdedynamometer gedenken. Da der von Wolff benutzte Apparat nicht nur die Messung der von den Pferden geleisteten Arbeit ermöglichte, sondern auch eine feinere Dosierung derselben erlaubte, so konnte festgestellt werden, welche Arbeit nach Zulage der verschiedenen Nährstofiträger geleistet wurde. Wenn auch hierbei nur die Lebendgewichtsveränderungen der Pferde als Maßstab verwendet wurden und die in Nährstoffen enthaltene Nährwirkung nur zu ca. 33 % in Form von nutzbarer Arbeit in Erscheinung tritt, so haben diese Versuche doch gelehrt, wie hoch die Rationen zu bemessen sind, die wir arbeitenden Pferden reichen müssen. Die Ergebnisse der Wölfischen Versuche sind durch die Zuntzschen Respirationsversuche ganz wesentlich vertieft und in neuerer Zeit durch Arbeitsversuche (Nils Hansson, Ehrenberg) erweitert worden. Einen noch viel weitergehenden Aufschluß über die Verwertung der in den landwirtschaftlich genutzten Futterstoffen enthaltenen Nährstoffe haben die Versuche mit Hilfe von Respirationsapparaten gegeben, nachdem sich das von Pettenkofer konstruierte Modell als ganz besonders geeignet erwiesen hatte für Versuche mit großen Nutztieren (Ochsen, Pferden, Kühen). Durch die Untersuchungen Hennebergs, G. Kühns und Rubners vorbereitet, haben namentlich Kellner in Deutschland, Armsby in Amerika und Möllgaard in Dänemark der modernen rationellen Fütterung der landwirtschaftlichen Nutztiere die Wege geebnet und das von Thaer angestrebte Ziel, den Produktionswert eines jeden Futtermittels der Fütterung zugrunde zu legen, auf wissenschaftlicher Grundlage erreicht. In der Kellnerschen Stärkewertslehre ist — wissenschaftlich gut gegründet — die Thaersche Heuwertslehre neu erstanden. Fast gleichzeitig hat man in Dänemark und Schweden dasselbe Ziel durch Versuche mit Milchkühen zu erreichen versucht. Diese Versuche, die sich an die Namen von Fjord und Nils Hansson knüpfen, haben über die Gesetze der Milchbildung uns wertvollen Aufschluß gegeben, weil das Zahlenmaterial mit einer außerordentlich großen Anzahl von Tieren gewonnen wurde. In neuerer Zeit hat Möllgaard die Gesetzmäßigkeiten der Verwertung der Nährstoffe bei der Milchbildung auf Grund exakter Respirationsversuche herausgearbeitet. Wie schon seit langem durch physiologische Versuche erkannt wurde, üben die einzelnen Nährstoffe je nach ihrer Art und ihrem Aufbau auf die Qualität der Fleisch-, Fett- und Milchprodukte teils einen günstigen, teils einen ungünstigen Einfluß aus. Diese Frage ist zu wiederholten Malen zum Teil mit behördlicher Unterstützung in großem Umfange geprüft worden. Ferner ist man dem Einfluß nachgegangen, den Würzstoffe auf die Futteraufnahme, Verdaulichkeit, Stoffwechsel und Produktion ausüben. Diese Versuche, die in neuester Zeit noch durch die Ergebnisse der Vitaminforschung vertieft worden sind, haben uns über das

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Maß der den Futtermitteln innewohnenden spezifischen Wirkung Aufschluß gebracht. Die Bedeutung der naturgemäßen Ernährung der Tiere ist dabei in das rechte Licht gerückt und hat den Bestrebungen recht gegeben, die schon immer auf die Bedeutung der naturgemäßen Aufzucht und Haltung der Tiere hingewiesen haben. Die Erforschung des Einflusses der Ernährung auf der Weide und die Bedeutung der Grünlandwirtschafit überhaupt und, damit Hand in Hand gehend, die Erzeugung des wirtschaftseigenen Futters haben durch die Arbeiten Falkes in Deutschland und Elofsons in Schweden fördernd gewirkt, in einer Zeit, in der der Aufwand für die Fütterung im umgekehrten Verhältnis zu den niederen Preisen für die tierischen Produkte stand. Überblicken wir die Forschungsergebnisse der letzten 50 Jahre, so ergibt sich, daß sie uns tief in das Wesen der Futtermittel und ihrer Verwertung und Ausnutzung durch die landwirtschaftlichen Nutztiere geführt haben. Und noch bleibt viel zu tun übrig. Die Weender Untersuchungsmethode bei Berücksichtigung der Eiweiß- und Kohlehydrathchemie verlangt noch Verbesserung. Ferner muß noch mehr die Überzeugung Platz greifen, daß der einfache Verdauungsversuch nur über die Verdaulichkeit Aufschluß geben kann und die Berechnung von Produktionswerten (Stärkewerten) auf Grund solcher Ausnutzungsversuche zu Trugschlüssen Veranlassung gibt. Die statistische Methode mit möglichst vielen Tieren und der Respirationsversuch weisen hier die Wege. Schließlich zwingt die Erkenntnis, die Fütterungstechnik in erster Linie auch wirtschaftlich zu gestalten, zu Untersuchungsaufgaben, an deren Lösung die schwer um ihre Existenz ringende Landwirtschaft heute mehr denn je ein Interesse hat. Für die Landwirtschaft sind dann weiterhin von einschneidender Bedeutung alle jene Probleme, deren Lösung es ihr ermöglicht, die Züchtung von Nutztieren und -pflanzen systematisch so zu beeinflussen, daß den immer höher werdenden Ansprüchen menschlicher Bedarfsdeckung Rechnung getragen werden kann. Haben ein Darwin und Haeckel den Schleier ewiger Naturgeheimnisse gelüftet, so ist es doch erst ein Ergebnis der letzten 50 Jahre, dem sorglich die Natur verwaltenden Landwirt Erkenntnisse an Hand gegeben zu haben, die ihm seine große Aufgabe der volkswirtschaftlichen Versorgung mit Nahrungsmitteln erleichterten. Bis um die Jahrhundertwende stand die Tierzüchtung wie die Pflanzenzüchtung noch unter dem Einfluß der Konstanztheorie und der Theorie von der Individualpotenz, die sich lange Zeit gegenseitig scharf bekämpft hatten. Man stand unter dem Eindruck von »Gesetzen«, die nur Hypothesen sein konnten, welche die Vorstellung von den Vererbungsvorgängen zu vermitteln suchten. Über die Pangenesistheorie Darwins, welche zwar schon die Vorstellung in sich barg, daß die einzelnen Eigenschaften des Organismus an bestimmte Anlagenträger im Keim gebunden sei, gelangte man zur Lehre von der Kontinuität des Keimplasmas (Weismann) und damit bereits zu fester umrissenen Prinzipien desVererbungsvorganges. Die experimentelle Vererbungslehre, an ihrer Spitze ihr klassischer Vertreter, der Kopenhagener Pflanzenphysiologe W. Johannsen, konnte in einer Reihe hervorragender Arbeiten sodann den Beweis erbringen, daß unsere »Arten« aus einer ganzen Anzahl verschiedener »reiner Linien« bestehen, die keimplasmatisch bedingt, innerhalb derselben keine weitere Zuchtwahl mehr ermöglichen lassen und die Zuchtwahl selbst als

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Isolierung eines bereits im Gemisch des züchterischen Ausgangsmaterials vorhandenen Typs erkennen lassen. Mit der Wiederentdeckung des Mendelismus durch den holländischen Botaniker de Vries und den Wiener Pflanzenzüchter von Tschermak erfuhr unsere züchterische Erkenntnis um die Jahrhundertwende einen weiteren gewaltigen Aufschwung. Die durch diese Lehre geschaffene Klarheit brachte außerordentlich großen Nutzen, namentlich für die Kreuzungszüchtung, wenn auch die praktische Ausnutzungsmöglichkeit derselben vielleicht zu Anfang zu sehr überschätzt worden war. Immerhin aber wurde in intensivster Forschung auf dem Gebiete des Mendelismus, unterstützt durch cytologische und serologische Forschungen, die Erblichkeitslehre so ausgebaut, daß viele, meist noch unklare Verhältnisse heute gänzlich durchsichtig sind und im Neu-Mendelismus einer systematischen praktischen Inangriffnahme zugeführt werden konnten. Eine Unzahl von Namen ist an das große Erkenntnisringen, das bis dahin niemals Unterbrechung fand, geknüpft; neben den schon genannten seien nur einige wenige herausgegriffen wie Correns, Battson, Shull, Baur, Fischer, Towers, Morgans, Kämmerer usw., um das erfolggekrönte Schaffen auf diesem Gebiete zu vergegenwärtigen. Gestützt auf eine Unzahl mühevoller, exakter Untersuchungen und Versuche, wie sie den Arbeiten eines Hertwig, Boveri, Herbst, Haecker zu danken sind, findet dieses Schaffen seine Fortsetzung auf den verschiedensten der einschlägige Gebiete. Und eine lange Reihe von Namen ist es, welche die Erkenntnisse der Genannten hinaustrugen in die grüne Praxis und mit ihrer reichen Empirie der Wissenschaft neues Material immer wieder zur Verfügung stellen konnten. So sind mit dem Aufstieg der deutschen Getreidezüchtung in den letzten fünf Jahrzehnten vor allem Namen verknüpft wie Rimpau, Schianstedt, von Lochow, Petkus, Steiger-Leutewitz, Heine-Hadmersleben u. a. m. In der Kartoffelzüchtung Richter und Paulsen, in der Rübenzüchtung die Träger des Namens Kleinwanzleben, von Arnim-Criewen (Runkelrüben), Meyer-Friedrichswerth und KirscheTrautzschen, wie schließlich eine Reihe wissenschaftlich-praktischer Institute. Von letzteren seien genannt die Biologische Reichsanstalt Dahlem, verdient durch ihre Erfahrungen auf dem Gebiete der Pathologie und Sortensystematik, die KaiserWilhelm-Akademie in Dahmsdorf-Müncheberg, sowie die ganze Reihe von Universitäts- und Hochschulinstituten, durch deren Arbeiten gerade in jüngster Zeit die Fragen der Immunitätszüchtung — es sei nur erinnert an die gelungene Züchtung krebsfester Kartoffelsorten — weittragende Lösungen gefunden haben. Mit allen züchterischen Maßnahmen haben die Erträge des Pflanzenbaues scheinbar ihre Höchstgrenze erreicht. Die reinen Linien sind in unseren landwirtschaftlichen Kulturpflanzen so gut wie isoliert. Wie weit die neuesten Versuche der Kreuzungen (vor allem ist hier Baur hervorzuheben) uns zu mehr oder weniger neuen, noch ertragreicheren Sorten führen werden, darf mit einigem, wenn auch nicht allzu großem Optimismus abgewartet werden. Verhältnismäßig neu ist auch die wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiete der Abstammung der Kulturpflanzen mittelst serologischer und cytologischer Untersuchungen, ferner die systematische Bearbeitung der Kulturpflanzensorten zum Zwecke des Eigentumsschutzes für die sortenschaffenden Züchter. Im Zusammenhange hiermit stehen die neuzeitlichen Arbeiten der Sortenregisterkom-

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mission des Reichsernährungsministeriums für Landwirtschaft, die auf Beseitigung aller nicht selbständigen Sorten und auf Aufhebung des Sortenwirrwarrs, wie auf Verringerung der Sortenzahl hinauslaufen. Endlich sei auch noch die Samenkunde erwähnt, die ihre größte Förderung durch Nobbe, Hiltner und Wittmack erfuhr und die große Fortschritte in der Saatgutreinigung und Sortierung, sowie die Schaffung gesunder Verhältnisse im Samenhandel zur Folge hatte. — Die Lösung der Wasserhaushaltsfrage der Kulturpflanzen verdankt von Seelhorst insbesondere eine erfolgreiche Bearbeitung, sie wurde neuerdings durch die Anwelkmethode Zades sehr erfolgreich weiter gefördert. Tiefeinschneidend waren aber auch die Ergebnisse züchterischer Forschungsarbeit auf die Organisation und Gestaltung tierzüchterischer Praxis. Stammbaumforschung und planmäßige Aufstellung von Ahnentafeln erlangten — aufbauend mit den sich immer mehr klärenden züchterischen Forschungsergebnissen — unter der Führung von Graf Lehndorff und Dr. de Chapeaurouge seit 1890 immer mehr Geltung. Der Nachweis der Abstammung der Zuchttiere wurde die Grundlage für das Herdbuchwesen und den Ausbau der zahlreichen Züchtervereinigungen. Damit wieder konnten allgemeine Leistungsprüfungen eingebürgert werden, die in den Milchkontrollvereinen ihre verbreitetste Organisation gefunden haben. Feststellung von Zucht-, Aufzucht-, Woll- und Fleischleistung wie der Konstanz von Vielgeburten in der Schafzucht, Gründung von Schweineleistungskontrollringen, Geflügelzuchtvereinen und zahlreiche ähnliche Maßnahmen ließen auf allen Gebieten die deutsche Tierzucht einen kaum jemals geahnten Aufschwung nehmen. Hier noch Namen nennen zu wollen, würde zu weit führen. Und doch muß noch einmal der Forschung gedacht werden, soweit sie für die Praxis in allerjüngster Zeit die Richtung abermals wies. Die starke Betonung der Zucht auf Leistung führte rasch zu der Erkenntnis, daß ein dauernder Zuchterfolg nur in Verbindung mit einer guten Konstitution gesichert werden könne. Dieses Streben nach einer möglichst einwandfreien Beurteilung der Konstitution und damit des Leistungsvermögens muß die Bemühungen rechtfertigen, die morphologischen Merkmale richtig zu deuten, weiterhin aber auch Merkmale physiologischer Art für die Beurteilung der Konstitution heranzuziehen. Nach der morphologisch-anatomischen Seite hin verdienen da vor allem noch die Forschungen von U. Duerst Erwähnung. Andere Forscher suchten die Zellgröße zum Maßstab der Konstitution zu machen, und zwar wählte v. d. Malsburg hierzu die quergestreifte Muskelfaser aus. Den von ihm gezogenen Schlüssen liegt eine gewisse Berechtigung zugrunde, sie sind aber auch von anderer Seite Angriffen ausgesetzt gewesen. In den letzten 10 Jahren wendete sich das Interesse der BlutbeschafFenheit zu, hier trat R. Goetze 1924 mit einer Abhandlung »Züchterisch-biologische Studien über die Blutausrüstung der landwirtschaftlichen Haustiere« zuerst hervor. Seitdem sind neben zahlreichen anderen Arbeiten eine Reihe von Forschungen über die etwaigen Beziehungen zwischen BlutbeschafFenheit und Konstitution entstanden. Man kann bei einem Überblick über das, was auf dem riesenhaften Gesamtgebiete der Züchtung in dem verflossenen Zeitabschnitt von nur 50 Jahren erreicht

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werden konnte, sagen, daß gerade die Entwicklung züchterischer Erkenntnis so gewaltig war in ihrer Bedeutung an sich wie in ihrer Auswertung für die gesamte Wirtschaft, daß sie jedem Vergleich mit den epochemachendsten Erfindungen auf anderen technischen Gebieten gewachsen erscheint. Wie aus den vorhergehenden Darlegungen hervorgeht, haben die Naturwissenschaften und die von ihnen auf die Landwirtschaft bezogenen Anwendungen einen ungeahnten Fortschritt der Leistungen der Landwirtschaft hervorgerufen. Die Lehre vom Betrieb des Landguts, die landwirtschaftliche Betriebslehre oder Wirtschaftslehre des Landbaues hatte deswegen gegenüber der Lehre von der Produktion sich nur im geringen Maße zu betätigen vermocht. Konnte man doch eine Zeitlang sogar der Anschauung begegnen, daß es sich für die Entwicklung der Landwirtschaftswissenschaft lediglich um angewandte Naturwissenschaft handelte. Waren durch Thaer und von Thünen schon die auch heute noch bedeutsamen Grundsteine für eine Lehre von der Landgutswirtschaft gelegt worden und wurde diese Auffassung in der Folgezeit auch weiter zu entwickeln versucht, so fallt die eigentliche Entwicklung der Betriebslehre doch erst in die letzten 4 bis 5 Jahrzehnte. Lag das zunächst daran, daß die rein naturwissenschaftliche Auffassung der Landwirtschaftswissenschaft die technischen Probleme des Landwirts in den Vordergrund stellte, so war es aber auch noch ein wichtiger anderer Grund, der für die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft des Landbaues hemmend wirken mußte. Dieser Grund war in der Tatsache zu erblicken, daß die Betriebslehre über nur geringes Untersuchungsmaterial zu verfügen hatte, welches eine konkrete, induktive Forschung ermöglichen konnte. So war man lange Zeit auf rein deduktive Forschertätigkeit angewiesen, bis es endlich — nicht zuletzt unter dem Druck wirtschaftlicher Not und unter den empfindlichen Auswirkungen der staatlichen Steuerunklarheit — gelang, die Betriebsverhältnisse der Landwirtschaft nach den verschiedensten maßgebenden Richtungen statistisch aufzuklären und zu durchleuchten. Dabei gab es allerdings eine Hemmung zu überwinden, die in einem äußerst lange dauernden und unfruchtbaren Methodenstreit zu erblicken war, der zwischen den Anhängern der beiden Methodenrichtungen bis nahezu zum Zeitpunkt des Krieges währte, trotzdem bis dahin schon immerhin, ein Fortschritt gegenüber der rein technisch-naturwissenschaftlichen Auffassung zu verzeichnen war. Waren Krämer, Pohl, v. d. Goltz und Aereboe die Träger der deduktiven Richtung, denen Abgrenzung, begriffliche Klarstellung und die Systematik der Wirtschaftslehre zu danken sind, so konnten auf Grund konkreter Untersuchungen an zahlenmäßig belegbarem Material vor allem durch Laur, Waterstradt und Ostermeyer die Fragen nach den tatsächlichen Betriebsverhältnissen weitgehend geklärt werden. Arbeiteten die Genannten vor allem auf dem Gebiet exakter Betriebs- und Rentabilitätserhebungen unter den verschiedensten Produktionsbedingungen der deutschen, schweizerischen und österreichischen Landwirtschaft, so war es vor allem Engelbrecht, der zu einer exakten Ermittlung der landwirtschaftlichen Betriebsverhältnisse hinsichtlich des Bodenanbaues und der Fruchtfolgeverhältnisse im Deutschen Reiche und im Auslande den Grundstein legte. Seine Lebensaufgabe fand ihre Fortsetzung in zahlreichen Arbeiten der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft und durch FalkeLeipzig und dessen Schule.

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Heute gliedert sich die Betriebslehre in eine ganze Reihe von Einzelgebieten, die verhältnismäßig rasch ausgebaut werden konnten, nachdem man in der Kombination der deduktiven und der vergleichend statistischen induktiven Untersuchungsmethoden eine Lösung gefunden hat, welche auch die notwendige Fühlung zu geographischen und historischen Untersuchungen und zur Empirie der Praxis nicht vermissen läßt. Die Lehre von den Produktionsbedingungen des Landgutes, seinen Betriebsmitteln, seiner Betriebsorganisation und Führung kann gegenwärtig auf einem reichen Material vielseitigster Forschungsergebnisse fruchtbringend aufgebaut werden. Standortslehre, Agrargeographie und Agrargeschichte lieferten hierzu bedeutsame Grundlagen, die nicht nur von Seite zahlreicher statistischer Ämter und Bearbeitungsstellen mit Erfolg zusammengetragen werden, sondern auch im internationalen landwirtschaftlichen Institut in Rom eine Stätte reger Förderung gefunden haben. Einen weitgehenden Ausbau konnte das landwirtschaftliche Rechnungswesen (landwirtschaftliche Buchführung, Kalkulation, Betriebskontrolle, Buchhaltungsstatistik und deren Auswertung) erfahren, und zahlreiche Buchstellen, teils privater, genossenschaftlicher und behördlicher Natur sind zu Stätten des privat- wie volkswirtschaftlich bedeutsamen Aufschlusses über die Betriebsgestaltung geworden. Man kann heute dabei im großen und ganzen zwei Richtungen der rechnerischen Betriebsanalyse in unseren Buchführungsinstituten unterscheiden, die sich teils an das schweizerische Muster Laurs, teils an die Schule des Leipziger Betriebslehrers Howard anlehnen. Von großer Tragweite wurde für betriebswirtschaftliche Erkenntnis und Praxis sodann der Ausbau eines weiteren wesentlichen Teilgebietes der Betriebslehre, der Ausbau des landwirtschaftlichen Schätzungswesens. Es ist vor allem das Verdienst Aereboes, der mit einer reichen Praxis bei den ritterschaftlichenKreditinstituten auf einem reichlichen Zahlenmaterial fußend hier bahnbrechend geworden ist. Als jüngste Zweige, die vor allem seit dem Kriege die besondere Aufmerksamkeit der Wissenschaft besitzen, dürfen nicht unerwähnt bleiben: Die Lehre vom landwirtschaftlichen Marktwesen und die Landarbeitslehre (Seedorf). Zum Ausbau beider hat vor allem der Druck der Nachkriegsverhältnisse den Anstoß gegeben. Die unübersehbare Mannigfaltigkeit der Markterscheinungen und die Unsicherheit der Preisgestaltung haben die Fragen der Absatzbedingungen und Preisursachen, denen die Landwirtschaft hilflos gegenüber steht, ganz besonders in den Vordergrund fachlicher Untersuchung gerückt. Durch Gründung von Konjunkturforschungsinstituten, Preisforschungsstellen und die Errichtung von einschlägigen Sonderinstituten an Hochschulen und Universitäten gehen auch diese Verhältnisse einer Klärung entgegen, die nicht nur vom Standpunkt der Landwirtschaft, sondern auch von dem einer gesunden wirtschaftlichen Reichspolitik eine hohe Bedeutung besitzt. Es ist vor allem dem Deutschen Landwirtschaftsrat zu danken, auf diesem Gebiete tiefgreifende Pionierarbeit geleistet zu haben. Die Gesichtspunkte des Landarbeitswesens bedurften ebenfalls unter den Nachkriegsverhältnissen einer eingehenderen Beachtung, als dies wissenschaftlich

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bis dahin möglich war. Die Erscheinungen der Landflucht und die immer schwieriger werdende Aufbringung befriedigender Löhne, die zu den Betriebsmittel- und Produktenpreisen in arges Mißverhältnis gedrängt wurden, zwang zu Untersuchungen, die geeignet erscheinen konnten, hier Erleuchtung zu schaffen. Heute besitzen wir in Bornim und Pommritz eigene Arbeitsinstitute, die alle Fragen der Arbeitsorganisation und -technik, wie des Entlohnungswesens sowie die ökonomischen Probleme der Maschinenarbeit zu klären die Aufgabe haben. Unter den Hilfswissenschaften, deren sich die Landwirtschaft bedient, seien nur das Landmaschinenwesen und die Kulturtechnik erwähnt. Nach Jahrtausende währender, kaum merklicher Entwicklung der landwirtschaftlichen Geräte setzten um die Wende des 18. Jahrhunderts, vor allem durch die Förderung des maschinellen Gedankens durch Albrecht Thaer, auch in der Landwirtschaft jene Wandlungen ein, die die Maschine zu einem wirklich wesentlichen Hilfsmittel des Betriebes machten. Rationelle Maschinenverwendung setzt planmäßige Einordnung der Arbeitsmittel in dem gesamten Betrieb voraus. Aber auch in der technischen Entwicklung der Landmaschinen müssen sich naturgemäß all die naturwissenschaftlichen und allgemein technischen Fortschritte und Entwicklungsstadien wiederspiegeln, die zur modernen Maschine überhaupt geführt haben. Der Ersatz des Holzes als Baustoff durch Eisen und Stahl, die Kunst der Formgebung und Bearbeitung, also das Gießen, Legieren, Vergüten, Pressen, Schleifen, Härten usw., die konstruktive Durchbildung, die Normung und rationelle Fabrikation — von moderner Herstellung der Lager und Einzelteile bis zur Bandmontage der ganzen Maschinen — finden im Maschinenbau der letzten 50 Jahre ihre entsprechende Auswirkung. Die Entwicklung des Landmaschinenwesens steht seither im Zeichen des Überganges vom Hand- und Tierbetrieb zum Kraftbetrieb. Wind- und Wasserkraftanlagen, die Dampfmaschine, vor allem aber der Verbrennungsmotor und der Elektromotor sind für die Landwirtschaft der letzten 50 Jahre umwälzend geworden. So haben denn Ölmotoren in vielen Zehntausenden und Elektromotoren in rund einer Million Exemplaren in die deutsche Landwirtschaft Eingang gefunden und haben insbesondere den Hofbetrieb und teilweise den Feldbetrieb umgestaltet, während allerdings das dem Energiebedarf nach größte Gebiet der Bodenbearbeitung vom Motor zwar ebenfalls, aber doch nicht annähernd so stark beeinflußt werden konnte. Da nun zwischen Kraftmaschine und eigentlicher landwirtschaftlicher Arbeitsmaschine eine innige Wechselbeziehung und Wechselwirkung besteht, so mußte namentlich die Ausbildung der letzteren durch Fortschritte des Kraftmaschinenbaues weitgehend berührt werden. Es kann sich hier nur darum handeln, unter Verzicht auf Darstellung des Umfanges und des schier verwirrenden Formenreichtums die Art und den Grundcharakter dieser Entwicklung an einigen Beispielen zu verdeutlichen. Eine typische und überaus bemerkenswerte Entwicklungsreihe dieser Art stellt der Haken zur Bodenbearbeitung dar. Wir finden ihn als Hacke verschiedenster Gestalt für Handbetrieb und andererseits als Zoche und Grubber für tierischen Zug. Durch Zufügung von allerlei Nebenelementen entstand der »Pflugkörper«,

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und neuerdings zeigt sich wiederum der bloße Haken, der Nebenteile wieder entkleidet, als rotierendes Fräswerkzeug der Motorbodenfrisen. Eine weitere Reihe dieser Art beginnt mit den Tennen zum Ausreiben des Korns und führt über Dreschtrommel und Dreschkorb zu den vollendetsten Dreschmaschinen weitgehendster Energieersparnis. Eine charakteristische Reihe bilden weiter die Häckselmaschinen, nicht so sehr bezüglich der Umgestaltung des eigentlichen Werkzeugmessers als seiner Aufhängung, Führung und der Organe für Zuführung und Abführung des Schneidgutes. Die moderne Häckselanlage mit mechanischer Zuführung und vielleicht pneumatischer Abführung des Strohes und Häcksels, mit magnetischer Auslesung von Fremdkörpern und mit Absieb- und Entstaubungsvorrichtungen steht am Ende dieser Entwicklung. Auch die Reihe: Sälaken, Breitsämaschinen, Drillmaschine wird mittlerweile fortgeführt durch die neuerdings intensiver betriebene Verbesserung von Pflanzmaschinen für Getreide- und Rübenstecklinge sowie von Kartoffellegemaschinen. Bekannt ist die Verdrängung von Sichel und Sense durch die nach dem Prinzip des Scherenschnittes arbeitende Grasmähmaschine und Getreidemähmaschine mit Selbstablage oder mit Garbenbindung. Die neueste Stufe in dieser Reihe bildet der Mähdrescher, ein motorisch gezogenes und durch einen zweiten Motor angetriebenes Maschinenaggregat, durch das während der Fahrt übers Feld das Getreide gemäht und gleichzeitig gedroschen und eingesackt wird. Es versteht sich, daß hiermit nicht nur eine neue und höchst eigenartige Maschine geschaffen worden ist, sondern eine völlige Umwandlung der uns geläufigen Verfahren des Schneidens, Einlagerns und Ausdreschens des Getreides gegeben ist. Vielleicht kann unter geeigneten natürlichen Verhältnissen dadurch der gesamte Getreideanbau ganzer Bezirke auf durchaus veränderte Basis gestellt werden, so daß sich Rückwirkungen bis auf die bauliche Gestaltung der Gehöfte und auf die Wahl der Fruchtfolge und des Wirtschaftssystems ergeben könnten. Um wenigstens ein Beispiel neuer und in rascher Verbreitung befindlicher Maschinenarten für die Tierhaltung zu nennen, mag der Melkmaschinen Erwähnung getan werden, die namentlich iit bäuerlichen Betrieben in wenigen Jahren in solchem Maße Eingang gefunden haben, daß sie sich in manchen Gegenden und Ortschaften bereits fast in jedem Bauerngehöft vorfinden. Die hier nur in ganz wenigen Beispielen angedeutete Entwicklung ist keineswegs abgeschlossen oder im Abflauen begriffen, sondern im Gegenteil als der Anfang einer gewaltigen Umstellung anzusehen, die insbesondere auf dem Gebiete der Bodenbearbeitung in immer greifbarere Nähe gerückt ist. Ähnliche Entwicklung wie das landwirtschaftliche Maschinenwesen konnte auch die landwirtschaftliche K u l t u r t e c h n i k i n den letzten Jahrzehnten verzeichnen, deren Erkenntnisse durch Ent- und Bewässerung, durch die Kultivierung von Moorflächen, — die unvergänglich mit dem Namen Rimpau verbunden ist—, durch Separationen, Schaffung von Regenanlagen und andere bodenverbessernde Maßnahmen, ihren Segen in die deutsche Wirtschaft trug. Die Statistik des preußischen Staates konnte 1925 berichten: 4120 Ent-, Bewässerungs- und Flußregulierungsgenossenschaften mit rund 1 320 000 ha Beteiligungsgebiet, 472Bodenverbesserungs-

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genossenschaften mit zusammen 170000 ha, 1892 Drainungsgenossenschaften mit 407 000 ha, 685 Deichverbände mit 1 540 000 ha, 82 Unterhaltungsgenossenschaften mit 27 000 ha, insgesamt 7250 Genossenschaften mit 3 460 000 ha Beteiligungsgebiet und 596 000 000 RM. Gesamtanschlagskosten. Die vorstehenden Darlegungen zeigen, daß die junge Landwirtschaftswissenschaft im Laufe des letzten Jahrhunderts, vor allem aber während der letzten 50 Jahre, eine ganz ungeahnte Entwicklung genommen hat. Der deutsche Landwirt, dem die Pflege des deutschen Bodens anvertraut ist, muß, gestützt auf unermüdlichen Fleiß und unbeugsamen Willen zum Schaffen, Brot für die wachsende Bevölkerung schaffen. Das Ziel der zureichenden Volksernährung aus der eigenen Scholle des Heimatbodens ist von ihm in den letzten 5 Jahrzehnten mit größter Energie verfolgt worden; es zu erreichen, muß die unerläßliche Aufgabe der Zukunft sein. Möge die fortschreitende Wissenschaft ihm die hierzu erforderliche Erkenntnis bringen.

ERNST MÜNCH FORSTWISSENSCHAFT Die forstwissenschaftliche Lehre und Forschung wird in Deutschland an sechs Hochschulen betrieben (drei Universitäten: Gießen, München, Freiburg, der Technischen Hochschule Dresden, an die die früher selbständige Forstliche Hochschule Tharandt als Abteilung angegliedert ist, und zwei selbständigen Forstlichen Hochschulen: Eberswalde und Münden). Als Forschungsanstalten, vorwiegend für unmittelbare Zwecke der Praxis, bestehen daneben — zum Teil organisch mit Hochschulen verbunden — Forstliche Versuchsanstalten. Diese Hochschulen sind meist so organisiert, daß die naturwissenschaftlichen Grundfacher, Botanik, Zoologie, Bodenkunde, Chemie und zum Teil auch die Wirtschaftswissenschaften von den eigentlichen Produktions- und Betriebswissenschaften abgetrennt und eigenen Instituten übertragen sind. Dadurch ist sowohl der notwendige Zusammenhang mit den allgemeinen Grundwissenschaften, als auch eine selbständige spezialisierte Entwicklung der Forstwissenschaft entsprechend ihrer Eigenart am besten gewährleistet. Zahlreiche Fachvereine, voran der Deutsche Forstverein unter Führung von Wappes, beteiligen sich in zunehmendem Grade an der Klärung technischer und wirtschaftlicher Fragen. In der forstlichen P r o d u k t i o n s l e h r e ist der vergangene Zeitabschnitt gekennzeichnet durch das Streben, auf den Fortschritten der allgemeinen Biologie aufbauend, über die überkommenen, örtlich gebundenen empirischen Regeln hinaus zu einer naturwissenschaftlich begründeten Theorie und damit zu allgemein gültigen Gesetzen zu gelangen. Auf dem Gebiet des W a l d b a u e s war die Forschung deshalb vor allem auf die n a t ü r l i c h e n L e b e n s b e d i n g u n g e n des W a l d e s gerichtet. Man strebte nach einem n a t u r g e m ä ß e n W a l d a u f b a u , von dem man sich namentlich auch eine Milderung der bedeutenden S c h ä d e n versprechen konnte, die in den künstlich, zum Teil auch naturwidrig begründeten Beständen durch Schnee- und Windschäden, Insekten und Pilzangriffe sowie durch Bodenentartungen verursacht wurden. Während R. Hartig u. a. im Anschluß an die bedeutenden Fortschritte von Th. Hartig die P h y s i o l o g i e der W a l d b ä u m e förderten, baute Gayer auf den Erfahrungen der Praxis auf. Die Frucht seiner mit großem Erfolge propagierten Gedanken war das F e m e l s c h l a g v e r f a h r e n mit seinen später hinzugekommenen Abänderungen, die alle auf naturgemäße Bestandsbildung abzielten, um die Gesundheit und Widerstandsfähigkeit des Naturwaldes mit den Vorzügen des Kulturwaldes zu vereinigen. Der Erforschung der naturgesetzlichen Grundlagen des Waldbaues diente auch die Einführung der Methoden und Ergebnisse der ö k o l o g i s c h e n P f l a n z e n g e o g r a p h i e nach dem Vorgang von Borggreve und Mayr. Wenn dieser Forschungsrichtung auch Übertreibungen und Fehlschlüsse nicht erspart blieben, wie sie namentlich in der sogenannten D a u e r w a l d b e w e g u n g und in einseitigen, zu unrecht verallgemeinerten Waldbausystemen hervortraten,

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so verdanken wir ihr doch manchen neuen Einblick in das Zusammenwirken der im Walde wirksamen organischen und anorganischen Kräfte, namentlich in die Wechselwirkungen zwischen Bestand und Standort. Hand in Hand mit diesen Bestrebungen ging der Ausbau der forstlichen Standortslehre durch Ebermayer, Ramann und Vater auf klimatologischer und bodenkundlicher Grundlage. In der Bodenkunde machte namentlich die Erforschung der Nährsalzversorgung der Bäume (Nobbe), sodann der natürlichen Humusformen und ihrer Einwirkung auf den Mineralboden und das Baumwachstum sowie ihre Abhängigkeit vom Bestand und Standort bemerkenswerte Fortschritte. Die Wohlfahrtswirkungen des Waldes, sein Einfluß auf das Klima und den Wasserhaushalt des Landes sowie das Klima des Waldinnern wurden näher untersucht. Die Untersuchungen darüber sind noch nicht abgeschlossen, doch ist die hohe Bedeutung des Waldes für die Wasserführung der Quellen, die Verhütung von Bodenabschwemmung im Gebirge und vor Überschwemmungen schon klar zu ersehen. Noch in den Beginn der Epoche fällt die wissenschaftliche Begründung des forstlichen Pflanzenschutzes gegen Pilzkrankheiten und tierische Schädlinge. Auf botanischer Seite leisteten hier R. Hartig und v. Tubeuf, auf zoologischer Seite Ratzeburg, Altum und Nitsche vorbildliche, höchst erfolgreiche Arbeit, so daß die forstliche Pathologie und Insektenkunde in der angewandten Biologie längere Zeit die Führung hatten. Diese Forschungen, die sich auch auf die Zersetzungserscheinungen und die Konservierung des gefällten Holzes erstreckten, gaben der Praxis die Mittel in die Hand, die früher sehr bedeutenden Ausfalle durch Holzpilze und andere Krankheiten auf ein erträgliches Maß zu beschränken und auch eine Reihe tierischer Schädlinge wirksam zu bekämpfen. Der Forstschutz wird in letzter Zeit durch die Bekämpfung schädlicher Insekten mit Giftstaub vom Flugzeug aus erfolgreich ausgebaut, ein bedeutender Fortschritt, der von der deutschen Forstwirtschaft ausging und jetzt im Pflanzenschutz aller Länder bei allen möglichen Kulturpflanzen eine große Rolle spielt. Eine sehr umfangreiche Arbeit wurde der Erforschung des Zuwachsganges der Bestände mit dem Ziel der Aufstellung von Ertragstafeln gewidmet. Die Ertragstafelforschung, die in der Hauptsache in jahrzehntelanger Beobachtung des Zuwachses auf Probeflächen bestand, hatte mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen und ist noch nicht abgeschlossen. Als ein Ergebnis derselben von allgemein biologischer Bedeutung ist die mathematische Fassung der W u c h s gesetze durch R. Weber zu nennen, die später auch in der allgemeinen Botanik bei anderen Pflanzen in ähnlicher Form wiedergefunden worden ist. Langwierige Versuchsarbeiten dieser Art (Schwappach u. a.) erforderte auch die Klärung der Durchforstungsfrage, der in der ganzen Periode größte Beachtung geschenkt wurde. Es ergab sich, daß der Gesamtzuwachs auf der Flächeneinheit von der Stammzahl in weiten Grenzen ziemlich unabhängig ist, indem einer geringeren Stammzahl ein entsprechend stärkerer Zuwachs des Einzelstammes gegenübersteht. Jedenfalls ist es zulässig und aus finanziellen Gründen auch geboten, wesentlich stärker, als man es früher wagte, bei den Durchforstungen in den Hauptbestand einzugreifen. Damit wird auch eine planmäßige Vorratspflege

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durch Begünstigung der wertvollsten Stämme ermöglicht. Die Verstärkung und Verfeinerung der Durchforstungen, die auf Grund dieser Ergebnisse allenthalben einsetzten, haben die Walderträge sehr fühlbar gehoben und vielfach auch zu einer Verbesserung der Bestandsqualität geführt, die den Ausfall an Abtriebserträgen, der infolge der Verminderung der Vorratsmenge durch die starken Durchforstungen zu erwarten ist, zum Teil auszugleichen verspricht. Ergebnisse von allgemein wissenschaftlicher und größter forstlicher Bedeutung brachte die Erforschung der S t a n d o r t s r a s s e n der Waldbäume, die in Deutschland durch Kienitz und Schott gefördert wurde und noch in vollem Gange ist. Es fand sich, daß jede Baumart mit größerem Verbreitungsgebiet erblich verschiedene p h y s i o l o g i s c h e V a r i e t ä t e n ausgebildet hat, die dem örtlichen Klima aufs feinste angepaßt sind und deshalb auf wesentlich verschiedenem Standort nicht angebaut werden dürfen. Die im letzten Jahrzehnt ausgebaute Organisation der forstlichen S a a t g u t a n e r k e n n u n g sucht diese Ergebnisse in die Praxis zu übertragen und die empfindlichen Schäden, wie sie früher infolge der wahllosen Verwendung von Handelssamen verursacht wurden, künftig zu vermeiden. Versuche zur künstlichen H o c h z ü c h t u n g sind im Gange, bieten aber wegen der langsamen Entwicklung der Waldbäume große, zum Teil kaum überwindliche Schwierigkeiten. Umfangreiche Anbauversuche mit a u s l ä n d i s c h e n H o l z a r t e n hatten bisher nur beschränkten Erfolg, da die natürlichen Standortsansprüche zu wenig bekannt waren, und auf die Klimarassen noch nicht genug Rücksicht genommen werden konnte. Immerhin verdanken wir diesen Bestrebungen eine gewisse Bereicherung unserer Gehölzflora in der betrachteten Periode, hauptsächlich durch die Einführung der sehr erfolgversprechenden Douglastanne. Auf dem Gebiet der H o l z t e c h n o l o g i e wurde die Kenntnis der mechanischen und chemischen Holzeigenschaften und ihre Abhängigkeit von Standort und Erziehung gefördert. Zum Abschluß sind diese schwierigen Arbeiten jedoch noch nicht gediehen. In der forstlichen B e t r i e b s l e h r e war die wissenschaftliche Entwicklung wesentlich bedingt durch die Änderung der allgemeinen wirtschaftlichen Bedingungen der Forstwirtschaft, besonders durch die Entwicklung des Verkehrswesens bis zum Weltholzhandel. Der frühere V e r s o r g u n g s w a l d , dessen Aufgabe die nachhaltige Versorgung der näheren Umgebung mit unentbehrlichen Forstprodukten bestand, wobei finanzielle Erwägungen zurücktreten mußten, wurde zum W i r t s c h a f t s w a l d , von dem eine angemessene Geldrente verlangt wird. Die durch diese Entwicklung bedingte, durch Preßler u. a. begründete und von Judeich in die Forsteinrichtungslehre übertragene B o d e n r e i n e r t r a g s l e h r e wurde im verflossenen Zeitabschnitt nach allen Richtungen ausgebaut und bis in die neueste Zeit leidenschaftlich umstritten. Theoretisch wurden dabei diese sehr verwickelten und schwierigen Streitfragen im wesentlichen geklärt, in der Praxis wurde jedoch die Reinertragslehre wenigstens in ihren letzten Folgerungen von keiner der deutschen Staatsforstverwaltungen durchgeführt, von manchen wurde sie lange Zeit auch grundsätzlich abgelehnt. Trotzdem übten die Grundgedanken der Lehre in der besonders durch Martin vertretenen gemäßigten Form großen Einfluß auf die gesamte Forstwirtschaft aus. Die wichtigste Forderung der Rein-

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ertragslehre, mit geringstem Aufwand an Holzvorratskapital die höchstmögliche Verzinsung des Aufwandes zu erzielen, führte in Verbindung mit der fortschreitenden Erforschung der Zuwachsgesetze zur Aufnutzung zuwachsarmer Althölzer und zu verstärkten Durchforstungen. Der Begriff der N a c h h a l t i g k e i t erfuhr in Theorie und Praxis eine grundsätzliche Wandlung in der Richtung, daß die Gleichmäßigkeit des Waldertrages weniger durch strenge Aufrechterhaltung des Holzvorratskapitals und Beschränkung der Nutzung als durch Erhöhung der Produktionskraft des Bodens und des Bestandes erstrebt wird. In dieser Richtung entwickelte sich auch die F o r s t e i n r i c h t u n g s l e h r e , die auch durch Fortschritte in der G e o d ä s i e , besonders mit der P h o t o g r a m m e t r i e vom Flugzeug aus, eine viel versprechende Bereicherung erfuhr. Bestrebungen zur Verfeinerung der B i l a n z i e r u n g auf Grund des Reinertragsgedankens sind noch im Gange. Wesentliche Fortschritte verspricht auch die A r b e i t s w i s s e n s c h a f t , die in letzter Zeit auch in der Forstwissenschaft gepflegt wurde. Auf dem Gebiet der F o r s t p o l i t i k machten Endres u. a. die Verflechtung der Forstwirtschaft mit der gesamten Volks- und Weltwirtschaft, der staatlichen Zoll-, Finanz- und Verkehrspolitik u. a. zum Gegenstand eingehender Untersuchungen, deren Ergebnisse auch der politischen Vertretung der Forstwirtschaft zur Grundlage dienen. Auch die Arbeiterfrage erfuhr zunehmende Berücksichtigung in der Praxis und wissenschaftliche Durcharbeitung. Bei aller Anerkennung der wissenschaftlichen Leistungen, die in der Forstwissenschaft mit bescheidenen Mitteln bisher erzielt wurden und wesentlich dazu beigetragen haben, die forstliche Produktion sehr bedeutend zu steigern, ist doch nicht zu verkennen, daß wichtige Aufgaben noch ungelöst blieben und gelöst werden müssen, wenn die Forstwirtschaft aus ihrer jetzigen Notlage kommen soll. Das gilt sowohl für die Erforschung der natürlichen Bedingungen des Waldwachstums als namentlich für die Holzforschung und Holzverwendung sowie den Ausbau der Betriebslehre.