203 38 9MB
German Pages 233 [244] Year 1968
Heinz Heimsoeth · Transzendentale Dialektik
Heinz Heimsoeth
Transzendentale Dialektik Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft
Dritter Teil: Das Ideal der reinen Vernunft; die spekulativen Beweisarten vom Dasein Gottes; dialektischer Schein und Leitideen der Forschung
196 9
Walter de Gruyter & Co. • Berlin vormals G. J. Göschen'sche Verlagsbuchhandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp.
Archiv-Nr. 36 57 681
© 1968 by Walter d e Gruyter Sc Co., vormals G . J. Göschen'sehe V e r l a g s b u c h h a n d l u n g — J. G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung — G e o r g R e i m e r — Karl J. T r ü b n e r — Veit & C o m p . , Berlin 30, G e n t h i n e r Str. 13 (Printed in G e r m a n y ) Alle Rechte, inbesondere das der Übersetzung in f r e m d e Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch o d e r Teile daraus auf p h o t o m e c h a n i schem W e g e ( P h o t o k o p i e , Mikrokopie, X e r o k o p i e ) zu vervielfältigen. Satz und D r u c k : Paul Funk, Berlin 30
INHALT
Der Transzendentalen Dialektik zweites Buch. Drittes Hauptstück: Das Ideal der reinen Vernunft (S. 383—461 Β 595—461) 409 Erster Abschnitt: Von dem Ideal überhaupt (S. 383—385 Β 595—599)
413
Zweiter Abschnitt: Von dem transzendentalen Ideal (S. 385—392 Β 599—611)
419
Dritter Abschnitt: Von den Beweisgründen der spekulativen Vernunft, auf das Dasein eines höchsten Wesens zu schließen (S. 392—397 Β 611—619) 459 Vierter Abschnitt: Von der Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises vom Dasein Gottes (S. 397—403 Β 620—630) 474 Fünfter Abschnitt: Von der Unmöglichkeit eines kosmologischen Beweises vom Dasein Gottes (S. 403—413 Β 631—648) 486 Sechster Abschnitt: Von der Unmöglichkeit des physikotheologischen Beweises (S. 413—419 Β 648—658) 511 Siebenter Abschnitt: Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft (S. 420—426 Β 659—670) 531
Anhang zur transzendentalen Dialektik (S. 426—461 Β 670—732) · · · • 546 Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft (S. 426—442 Β 670—696) 548 Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft (S. 442—461 Β 697—732) 602
Der Transzendentalen Dialektik zweites Buch Drittes Hauptstück
Dieses Hauptstück hat zum Kernthema die Vernunftmetaphysik in Ausrichtung auf ihr höchstes Ziel, auf den eigentlichen „Endzweck" ihrer Forschungen, also ihres Bestrebens, menschliche Erkenntnis zu „erweitern" — als welches nun, im Überschritt audi noch über die beiden großen Themen: „Seele" und „Welt", das höchste Wesen (ens summum) oder auch das Wesen aller Wesen (ens entium) genannt wird, gemäß der großen Überlieferung. In der Sprache des religiösen Lebens steht der Name „Gott" dafür; und die darauf ausgerichtete Metaphysik heißt (seit Aristoteles) Theologie: als philosophische Wissenschaft rein aus der Vernunft „rationale Theologie". In der Anmerkung zum „System der transzendentalen Ideen", welche Kant in der zweiten Auflage dem Text beigefügt hat (260 a Β 395 a) heißt es, in der Reihenfolge, welche nun schon dem Kontext der Zweiten Kritik nahesteht: „Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit...". „Alles, womit sich diese Wissenschaft sonst beschäftigt (sc.: „Metaphysik der Natur" oder auch „Metaphysik der Sitten"), dient ihr bloß zum Mittel, um zu diesen Ideen und ihrer Realität zu gelangen." In unserem jetzigen Zusammenhang, dem einer transzendental-dialektischen „Bearbeitung" der Thematik, welche ja vor einer synthetisch-systematischen Ausführung als Kritik und Propädeutik „notwendig vorher gehen muß", ist die angemessene Ordnung (Kant nennt sie: die analytische) diejenige, welche von „der Seelenlehre zur Weltlehre und von da bis zur Erkenntnis Gottes" fortgeht. Sofern Metaphysik „aus reiner Vernunft" schlechthin den Anspruch auf Einsicht in die Realität des Übersinnlichen erhob und erhebt, würde sie „Theologie, Moral, und durch beider Verbindung, Religion, mithin die höchsten Zwecke unseres Daseins, bloß vom 1 Heimsoeth, Transzendentale Dialektik III
410
(S. 383 Β 595)
spekulativen Vernunftvermögen und sonst von nichts anderem abhängig machen." Eben darauf geht jetzt die Prüfung 1 . Die hier nun also zum Thema stehende dritte Vernunftidee wird als „Das Ideal der reinen Vernunft" bezeichnet, — welche Begriffsfassung als Titel über dem ganzen dritten Hauptstück steht, also auch über den von der „Unmöglichkeit" spekulativer Gottesbeweise handelnden Abschnitten2. Mit der positiven Ausarbeitung dieses „Ideal"-Gedankens, auch 1
2
Vgl. unseren Kommentar S. 69 f. — Zum „Wesen aller Wesen" als dem „Gegenstand der Theologie" vgl. vorläufig 258 Β 391/2 und, aus Späterem in unserm Werke: Übergang von der „transzendentalen Welterkenntnis", welche die „gesamte Natur" (Totalität des Seienden in Raum und Zeit, die Sinnenwelt) umgreift, zu dem Zusammenhang eben dieser „mit einem Wesen über der Natur, d. i. die transzendentale Gotteserkenntnis". 546 Β 874. — Es mag hier beigefügt werden, daß Kants Bemühungen um philosophische Theologie von der Frühschrift „Nova dilucidatio" (1755, Propositio VII) und von der „vorkritischen" Schrift über den „Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" (1762/3) bis zum Ende seines Schaffens (Op. postumum Convolut 1) reicht. In der Preisschrift „Über die Fortschritte der M e t a p h y s i k . . . " (Fragmente von 1793/4) wird die Theologie-Aufgabe der Metaphysik als die Vollendung ihres Weges bezeichnet, als das dritte abschließende „Stadium" (im Sachsinne) derselben, „mit allen Erkenntnissen a priori, die darauf führen und sie notwendig machen". Ausdrücklich wird da auch noch gesagt, daß hier der eigentliche Zwedc „der ganzen Transzendental-Philosophie" (wie sie eben die Kritik der reinen Vernunft erarbeitet) liege — Propädeutik zur „eigentlichen Metaphysik". Vgl. X X 272/3, 281, 295; 259, 260 f., 267 f. Siehe auch Kants Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, hrsg. Pölitz 1817 und 1830, S. 4 ff.: Theologia ectypa, wobei Vernunft zugleich „völlig ihre Grenzen anzeigen kann." — Man kann die ganze Ästhetik und Analytik unseres Werkes samt ihren abschließenden Teilen als Vorarbeit für Kants philosophische Theologie und Theologiekritik lesen, beginnend mit der Unterscheidung analytischer und synthetischer („Erweiterungs"-)Urteile und der grundsätzlichen These, daß alle Begriffe ohne Anschauung „leer" sind. — Zum „Einsichts"-Anspruch überlieferter „spekulativer" Metaphysik-Theologie vgl. noch Kants eigene Aussage in der vorkritischen Schrift: „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie..." von 1763. Da heißt es noch: „Die ersten Gründe der natürlichen Gottesgelahrtheit sind der größten philosophischen Evidenz fähig." II 296. Erste Vordeutung auf die neue Begriffsprägung 262 Β 398: den dialektischen Vernunflschluß auf ein Wesen aller Wesen „werde ich das Ideal der reinen Vernunft nennen". — Schon im § 9 der für die erste (Teil-)Konzeption des transzendentalen Idealismus maßgebenden Schrift von 1770 hatte Kant gesagt: das maximum perfectionis (in theoretischer Bedeutung: ens summum, Deus) vocatur nunc temporis ideale; — dies zunächst als das höchste principium cognoscendi (weiter dann als realiter existierender Entstehungsgrund aller Vollkommenheit überhaupt). II 396.
(S. 383 Β 595)
411
seiner Vorbezüge und Bedeutung für andere Weisen und Zusammenhänge des Vernunftgebrauchs, sowie mit der Kritik „dogmatischer" Einsichts- und Erweisansprüche verbindet sich in diesem dritten Hauptstück, ähnlich wie im zweiten, die positive und auf künftige Aufgaben der theoretischen Philosophie (vor allem der Naturphilosophie) vorweisende Lehre vom regulativen Gebrauch eben dieses Ideals. Dieselbe ist dem letzten (siebenten) Abschnitt noch miteingefügt, welcher unter dem Titel: „Kritik aller spekulativen Theologie" steht — bezeichnet noch als abschließenden Anhang3. Dieser in zwei Unterabschnitte geteilte Anhang handelt faktisch nicht nur vom regulativen Gebrauch der Dritten Idee, sondern — wie auch der Plural in der Überschrift anzeigt — von solcher Art Wahrheitssinn und Aufgabenstellung aller Ideen der Vernunft. Man muß diesen ganzen „Anhang" auch als Fortsetzung dessen lesen, was in den Abschnitten 8 und 9 des zweiten Hauptstücks dargelegt wurde 4 . Da dieser Anhang zur ganzen Dialektik im übrigen auch dem Umfange nach der gesamten Kritik dogmatischer Theologie aus reiner Vernunft, samt Einführung und Ausarbeitung des „Ideal"-Begriffs, mehr als gleichkommt, so tut man gut, sich über die Druckeinteilung der bisherigen Ausgaben gleichsam hinwegzusetzen5. Bevor wir in den Textzusammenhang eintreten, soll kurz zurückgegriffen werden auf die Formulierungen der Vorverweise beim ersten Aufrollen des gesamten Dialektik-Themas. „Drei Klassen" von Vernunftbegriffen wurden unterschieden im „System"-Entwurf des ersten Buches: wobei deren letzte die absolute Einheit der Bedingungen „aller Gegenstände des Denkens überhaupt" enthalten sollte". Vorher schon war vom Aufsteigen in „dialektischen Schlüssen" zu demjenigen Vernunftbegriff die Rede, welcher den Grund zu „allen 3
4 5
6
1*
Audi der Analytik war, als Absdiluß, ein „Anhang" angefügt worden (214/5 bis 233, Β 316—349), dort aber als ein Stüde rückblickender Kritik an metaphysisch-dogmatischen („Reflexions"-)Begriffen. 348/9—381, Β 536—592/3. In einer neuesten Ausgabe der Kritik, bes. von I. Heidemann, ist das durch eigene Druckanordnung geschehen. Gegenstände (Dinge) „überhaupt" stehen immer gegenüber der Besonderung oder Einschränkung auf Dinge der raumzeitlidien Erfahrung, also auf Erscheinungsgegenstände; das bloße „Denken" aber, auf Noumena gerichtet, steht gegenüber allem immer ansdiauungsbedingten Erkennen, dessen oberste (synthetische) Grundsätze die Analytik systematisch herausarbeitete. Vgl. 358 Β 391; Kommentar S. 65/6, 66/7.
412
(S. 383 Β 59$)
Dingen überhaupt" bedeuten soll, während ja die vorangegangene, die „Welt"-Idee, nur auf die absolute Einheit alles „Mannigfaltigen des Objekts in der Erscheinung" ging7. Auch wurde die dritte Ideenart (oder Idee) zugeordnet der „disjunktiven" Synthesis der Teile in einem „System"; dabei war auch vom „Aggregat" der „Glieder" der Einteilung die Rede (hinweisend doch also auf eine durchgängig gefügt-geordnete Ganzheit), — so, daß nichts weiter erforderlich sei, um die Einteilung eines Begriffs „zu vollenden" 8 . Entsprechend zielt eben die „dritte Art vernünftiger Schlüsse" („Form des disjunktiven Vernunftschlusses") auf den „höchsten" unter allen Vernunftbegriffen: gedacht als absolute synthetisch-systematische Einheit aller Bedingungen der „Möglichkeit" der Dinge überhaupt 9 . Endlich dann noch ein Rückblick, der nur den „Ideal"-Titel betrifft. Bei der Neueinführung bzw. Umprägung des altehrwürdigen Terminus: Idee, zwecks Herausarbeitung der spezifischen Fundamentalbegriffe unserer Vernunft i. e. Sinne (gegenüber allen „Stammbegriffen" des „Verstandes", welche der Analytik zugehören und dort dann zu synthetischen Einsichten und Erklärungen im Felde möglicher Erfahrung führen konnten), schickte Kant den über solche „transzendentale Ideen" und deren Systemordnung handelnden Kernabschnitten eine kurze Betrachtung voraus, welche „Von den Ideen überhaupt" sprach; sie enthielt jenen für das Verständnis seiner Intention so wichtigen Rückbezug auf die Ideenlehre Piatos. Dort war des näheren, von Ideen „des vollkom7
257/8 Β 391.
8
251 Β 379/80. Kommentar S. 46/7. — Im § 11 der Analytik war die Kategorie der Gemeinschaft mit der logischen Form eines disjunktiven Urteils in Korrespondenz gebracht worden, wobei es zur Erläuterung hieß, in allen disjunktiven U r teilen werde „die Sphäre (die Menge alles dessen, was unter ihm enthalten ist) als ein Ganzes in Teile (die untergeordneten Begriffe) geteilt vorgestellt", und zwar „als einander k o o r d i n i e r t , . . . so daß sie einander . . . wechselseitig, als in einem Aggregat, bestimmen (wenn ein Glied der Einteilung gesetzt wird, alle übrigen ausgeschlossen werden, und so u m g e k e h r t ) . . . " . In der dann folgenden Beziehung solcher Ganzheits-Gemeinschaft disjunktiver Glieder auf das Naturb z w . Weltthema der „Wechselwirkung" wird diese Art Verknüpfung noch ausdrücklich abgehoben von dem Verhältnis des „Weltschöpfers mit der Welt", als welche nicht ein Ganzes miteinander ausmachen. Damit ist schon auf unser jetziges Thema vorgedeutet. 96/7 Β 112/3.
• 262 Β 398; 259 Β 392/3. Kommentar S. 76/7 f., 71/2. Es geht hier also um D e n k barkeit und Möglichkeitsbedingungen für Seiendes überhaupt, in Abhebung v o n aller durch die Kriterien der Modalitätsgrundsätze erkenntnismäßig fixierbaren Möglichkeitsbedingungen im Rahmen der Erscheinungswelt.
(S. 383 Β
413
595)
mensten seiner Art" aus, so etwa der Idee des Menschseins (welche der Mensch „sogar selbst als das Urbild seiner Handlungen in der Seele" trage), auch von „Ideen im höchsten Verstände" die Rede, als welche — nach vermuteter Platonischer Auffassung — je einzeln, „durchgängig bestimmt", ursprüngliche Ursache der Dinge seien (also: Möglich&eiisbedingungen ihrer Wirklichkeit!), wobei „nur das Ganze ihrer Verbindung im Weltall einzig und allein jener Idee völlig adäquat sei"; eben dieses Ganze der Verbindung wird dann noch eine „architektonische Verknüpfung nach Zwecken" genannt10. Man muß sich auch für unser jetziges Idee-Thema (das „Ideal") jenen zur Um- und Neubildung bestimmten Rückbezug Kants auf Platonisches stets gegenwärtig halten. — Nun, ganz analog zu jener Vorausbetrachtung von „Ideen überhaupt", verfährt Kant jetzt bei der Neueinführung des Titelbegriffs zum dritten Hauptstück:
Erster Abschnitt: Von dem Ideal überhaupt Daß alle Ideen, als Begriffe von unbedingter Totalität, Begriffe von je einem Maximum, niemals „in concreto dargestellt werden" können (ganz anders als die Verstandesbegriffe in ihrem anschaulidi-empirischen Gebrauch!), daß sie un-bestimmt nach dem Gehalte sind und immer bleiben müssen, bei aller Eindeutigkeit der Intention — das war schon in der Einleitung zur Dialektik und in deren Erstem Buch ausführlich dargelegt worden. Einer durch bloße Vernunft gedachten systematisch-vollständigen Einheit kann man sich faktisch immer nur zu „nähern" suchen, auf Wegen diskursiven Verstehens von Gegebenem und einer zuordnenden Aufreihung von Teilhaftem und Verhältnissen11. Nun, eben dieses Spannungs- und 10 11
248/9 Β 374/5. Vgl. besonders 254 Β 383/4: Niemals kann der Begriff eines Maximum in concreto kongruent gegeben werden. — Die jetzige Rückverweisung („oben gesehen") geht natürlich auf die Analytik, speziell auf das „Restriktions"-Ergebnis der transzendentalen Deduktion und etwa noch auf den Abschluß-Abschnitt über Phänomena und Noumena. — Zur „Anwendung" der Kategorien auf Anschauungen, also zur „Darstellung" in concreto vgl. bes. nodi die ersten Seiten des Schematismus-Kapitels 133/4 f. Β 176 f. Unter „Gegenstand" sind dabei natürlich auch alle „Verhältnisse" (sei es der Subordination, etwa kausaler Art, sei es der Zusammenordnung zu Aggregat-Ganzen) mitbefaßt, welche ja immer nur unvollständig uns bekannt und überschaubar werden können.
414
(S. 383 Β 59ί)
Transzendenzverhältnis zwischen dem in der Idee Gemeinten (und notwendig Gedachten) und allem gegenständlich Faßbaren, synthetisch Verständlichen nimmt offenbar („scheint") eine äußerste Form da an, wo es um absolute Einheit der Möglichkeitsbedingungen von allem überhaupt (Bedingung für alles, was da ist und was etwa noch sein kann) geht. Bei der Idee von „Welt" konnte und kann noch die Frage auftauchen, ob es wohl mehrere Welten gibt, geben könnte (sie wurde ja seit der Antike immer wieder, auch von Kant noch, in Überlegung gezogen); nur wenn man sich, wie das der ganze Kosmologie-Absdinitt unseres Werkes tut, grundsätzlich auf raumzeitliche Welt allein (Ein Raum, Eine Zeit) bezieht, ist der Singular schon gleichsam vorgegeben. Daß aber „Seele" ein primär pluralistisches Thema ist (erst in kosmologischen Spekulationen kommt wohl auch der Begriff von Einer Weltseele immer wieder auf), das versteht sich von selbst. Die Idee dagegen eines Urgrundes aller „möglichen Dinge" (entia) — möglicher und wirklicher Welten, möglicher „Wesen" (so etwa von „vernünftigen Wesen überhaupt") — geht sinngemäß auf ein einzel-seiendes Ens entium; — wir können, in der nach Kant sich auskristallisierenden Terminologie auch sagen: auf das Absolute. Die Idee von „Gott" in diesem Sinne (im Sinne auch des Sprachgebrauchs der Religion, welcher Kant sich zugehörig weiß: des Monotheismus!) geht, ganz anders als die von „Seele" oder die von „Welt", auf ein Seiendes in individuo. Und dies zwar auf ein solches, das (anders als die beiden anderen Hauptideen) nicht von Gegebenem aus, ansetzend bei Erscheinungsdaten, konzipiert wird, sondern: alles mögliche Gegebene noch überspringend, für Seiendes „an sich und überhaupt" den Grund, die erste und oberste Möglichkeitsbedingung schlechthin bedeuten soll. Die Leitidee der spekulativen Metaphysik-Theologie, höchste Idee der auf Erkenntnis drängenden Vernunft, ist die eines Ens realissimum oder auch des „All der Realität" (worüber später); es geht da um ein „Ding", welches rein durch sich selbst, aus sich allein „bestimmbar" („oder gar bestimmt", im bloßen Begriffe schon, mit zugehörigen Folgeerwägungen) sein soll, — während doch alles, was sonst ist oder sein kann, in seiner Existenz und Wesensart zu anderem in Bezügen steht und mit durch es, zumeist durch Vielerlei, erkannt wird. Jedenfalls: sofern dieses Oberste und Erste bestimmbar und bestimmt ist, kann es allein in maximalen Eigenschaften oder
(S. 383 Β
596)
415
„Prädikaten" angesprochen, von der Vernunft bedacht werden: in Begriffsbestimmungen, welche als maximale und dazu noch in ihrer absoluten Vollständigkeit uns doch nie erreichbar sein können. Vom 3. Absatz an erläutert Kant, warum er diese Idee, diesen „höchsten" Begriff aller Metaphysik, „das Ideal" nennt (in Wahrheit steckt schon in der Neubenennung der Keim und Quellpunkt einer ganzen transzendentalkritischen Theorie). "Wiederum knüpft er an Plato an; und wieder stellt er, zur Einführung, eine Idee voran, welche nicht rein „spekulativ" ist, also nicht Prinzip für gegenständliches Erkennen, sondern — wie es im Plato-Rückblick hieß — „praktisch, d. i. auf Freiheit beruhend". Dort war das Grundbeispiel: „Begriffe der Tugend", welche wir ja, als „Muster" des Verhaltens vorgestellt, nicht aus Erfahrung schöpfen können 12 . Jetzt ist das erste Beispiel nicht eine solche Vielheit (gerecht, tapfer usw.), sondern ein einzelnes: Idee „des" vollkommensten Menschen, oder: „die Menschheit"13 in ihrer ganzen Vollkommenheit. Da geht es um die dem Menschen „wesentlichen Eigenschaften" in Richtung auf Sinn und mögliche Erfüllung seines Daseins. Natürlidi kann solche Vollkommenheit, Vollständigkeit der Sinnerfüllung nie in Erfahrung vorkommen, nie aus Erfahrungen entnommen werden; nur als Idee unserer reinen (praktischen) Vernunft kann sie uns „Muster" und „Maß" sein: als das in uns selbst angelegte und in uns selber aufzudeckende Sollens-„Urbild" tätigen Verhaltens. Nun, eben diese Idee vollkommenen Menschseins kann ja nur „ein einziges" meinen: eben den vollständigen Inbegriff aller positiven Eigenschaften (Tugendwerte), welche zum Einheitssinn menschlichen Daseins überhaupt gehören. Von sophen „Ideal" mit der — Idee
dieser Art war das Musterbild, welches die antiken Philo„in Gedanken" vor sich und alle stellen wollten: das des Weisen, — als einer menschlichen Persönlichkeit, die Idee der Weisheit „völlig kongruierend" zu denken wäre in individuo. Was aber „uns" (und also schon diesen Mora-
12
246/7 Β 371/2.
18
„Menschheit" muß man in solchen Überlegungen bei Kant nicht wie ein Kollektiv, auch nicht als Gattung verstehen, sondern als Menschsein. Vgl. etwa in der 2. Formel des kategorischen Imperativs: „Die M e n s d i h e i t . . . in deiner Person" und in der Person eines jeden anderen. IV 429.
416
(S. 384 Β 597)
listen der späteren Antike) ein Idealentwurf menschlich-endlicher Vernunft ist in unserem Sinnen über Lebenszwecke, Lebensgüter, — das galt, meint Kant, dem Plato als Idee und schöpferisches Urbild im göttlichen Verstände 14 : „einzelner" Gegenstand einer geistigen („intellektuellen") Anschauung, einzeln neben anderen ebenso einzelnen Urideen, welche je „das Vollkommenste" im Sinne eines teleologischen Maximum zu „einer jeden Art möglicher Wesen" sein sollten, und somit „Urgrund" sowie „Muster" aller Weltwesen: als der bloßen „Ectypa" (Nachbilder gleichsam), im Rahmen und Werdenszusammenhang dessen, was die Platoniker „Erscheinung" (Phänomena) nannten 15 . Kants („kritische") Position der menschlichendlichen Vernunft in ihrer Selbsterkenntnis will sich freilich nicht so weit „versteigen", Aussagen zu wagen über den Intellectus originarius selber und damit über das, was aus der höchsten Vernunft „ausfließe", daher dann auch noch unserer menschlichen Vernunft „zuteil geworden" sei16. Gewiß ist aber (das müssen wir, gerade in der Selbstprüfung dieses unseres „Vermögens", gegen alle Einwände der Empiristen, uns ein-„gestehen"), daß wir neben solchen Ideen wie „Seele" oder „Welt", samt ihren Teilideen, oder — im Felde der Freiheitswirksamkeit — von Tugenden sowie von sittlichrechtlicher Verfassung für Freiheitswesen17, auch „Ideale" (Plural) in uns haben. Im praktischen Bereiche sind das Urbilder in individuo, 14
Wir deuten hier nur kurz an, daß Kants Vorstellung von Plato in der Perspektive des späteren, insbesondere des christlichen Piatonismus (seit Augustin und wieder seit der Renaissance) stand — für welchen die „Ideen" archetypische Gedanken im schöpferischen intellectus Dei waren. Vgl. ζ. B. die von Pölitz hrsg. Metaphysikvorlesungen, im Abschnitt „Die natürliche Theologie": „Die Erkenntnisse des intellectus originarii sind nicht Begriffe, sondern Ideen"; „so sind in Gott Urbilder, Ideen". Wiederum: Unsere Erkenntnisse sind, „der Vollkommenheit nach", ein „Urbild im Kopfe, und das ist ein Ideal, wonach wir alles beurteilen."
15
Vgl. im ersten Plato-Passus: Nicht nur für Menschen und Vernunftwesen von sittlicher Bestimmung, „sondern auch in Ansehung der Natur selbst sieht Plato (Kant sagt: mit Recht!) deutliche Beweise ihres Ursprungs aus Ideen. Ein Gewächs, ein Tier, die regelmäßige Anordnung des W e l t b a u e s . . s o , „daß zwar kein einzelnes Geschöpf unter den einzelnen Bedingungen seines Daseins mit der Idee des Vollkommensten seiner Art kongruiere (so wenig wie der Mensch mit der Idee der M e n s c h h e i t . . . ) . . . " . 248 Β 374.
" 246 Β 370. " 247 Β 371 f.
(S. 384 Β 597)
417
welche da bestimmt sind, all unser faktisches Tun und Verhalten zu „beurteilen" und prägend zu regulieren in Richtung auf ein möglichst vollkommenes Leben und Wirken. „Der Weise" kann und muß uns Urbild sein für „durchgängige Bestimmung" (tätige Selbst-Bestimmung!) unseres je eigenen Einzeldaseins; wir finden dieses Archetypon in der selbsteigenen Vernunft, — wie ein Verhalten „des göttlichen Menschen in uns18." Ideale von solcher Art sind offenbar, obgleich nie realisiert, also nie der Erfahrung zu entnehmen, nicht bloße „Hirn"-Gespinste, nichts willkürlich Erdachtes und Erdichtetes, sondern sie werden mit Notwendigkeit, aus der Vernunft, entworfen. Sie gründen im Wesen der praktisch-regulativen Kraft und Aufgabe jedes durch Freiheit tätigen Wesens: immer schon findet der Mensch, wo er nur irgendwie auf seine eigene Daseinsmöglichkeit und die der andern reflektiert, sich ausgerichtet auf ein „höchstes Gut" — auf eine Lebensfülle und -Vollkommenheit, welche gegenüber allen „Mängeln des Unvollständigen" (fehlenden Tugenden etwa oder Gemeinschaftsordnungen) immer auch einen höchsten „Grad" (Wertmaximum) bedeuten will. Das Ideal bleibt immer dem empirisch je Erreichten und Erreichbaren überlegen — und ist doch eben sinnhaft-notwendiges Richtmaß für Beurteilung und alles strebende Bemühen. Der Mensch, wie er auch sei und sich verhalte, ist immer eingeschränktes Wesen; seine Natur wie seine Daseinssituation in der Welt ist bestimmt durch „natürliche Schranken" (limitationes); die Einschränkungen tun jedem noch so ideal Entworfenen und Gewollten „kontinuierlich Abbruch". Da gibt es keine Möglichkeit des Sprungs in eine Lebensweise der Vollständigkeit-Vollkommenheit hinein. Das Ideal wird stets, wie es im letzten Absatz unseres Abschnitts heißt, als „transzendent" gedacht. 18
Kant denkt beim Thema des Lebens-„Ideals" immer auch und zuletzt an den „Heiligen des Evangelii"; Heiligkeit des Willens ist das Ziel, nach dem die Menschen immer streben sollen. VI 161. In der Ethik-Vorlesung (hrsg. P. Menzer 1924) geht der Abschnitt: Die moralischen Systemata der Alten (S. 7—13) von den „Ideal"-Entwürfen der Kyniker, des Epikur und der Stoiker weiter zum „Ideal des Christen", welches unter der Idee der Heiligkeit steht, und w o eben das Muster in individuo „der Christ" ist: „Urbild von der sittlichen Vollkommenheit, welches heilig ist durch die göttliche Beihilfe." — Abgewehrt wird dabei das Platonische Ideal (d. h. dasjenige neuplatonischer Deificatio) als „mystisch"-„phantastisdies", sofern in soldier Vorstellung „der Mensdi sich in unmittelbarer Gemeinschaft mit dem höchsten Wesen" sehen wollte.
418
(S. 384 Β 598)
Solches Vernunftideal muß etwas in sich selbst „bestimmtes" sein, so weit es auch von der empirischen Realität entfernt ist; nur dann kann es seinerseits zur bestimmenden „Regel" (ebenso der „Beurteilung" wie der „Befolgung" 19 ) dienen und damit fruchtbar werden für vernunfthafte Daseinsgestaltung in planvollem Eingreifen auf Lebens- und Gesellschaftsverhältnisse. Ausdrücklich hebt Kant diese rationale Sinnbestimmtheit des „Vernunft"-Ideals ab (vorletzter Absatz) gegen unsere „Ideal"-Bildungen im Bereich der künstlerischen Phantasie und der ästhetischen („Geschmacks"-) Beurteilung: ein erster Vorgriff Kants auf die spezifische Ideal-Lehre im Rahmen seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft 20 . Auch diese Ideale bedeuten „Muster", welche in ihrer Vollständigkeit-Vollkommenheit nie durchaus erreichbar sind, gerade dadurch aber auch immer auf weitere Möglichkeiten empirischer Darstellung weisen. Im Gegensatz zu allen Weisen des „Vernunft"-Ideals aber können sie eben nicht bestimmte Regeln, etwa Schemata, für die Gestaltung und Bewertung hergeben; hier gibt es kein begrifflich fixierbares Richtmaß. Das Ideal von dieser Art wird immer erst und, immer wieder neu, durch künstlerische Bildungskraft (Genie) geschaffen; es ist „Geschöpf" der Einbildungskraft, nicht reiner Vernunft. Ein jeder muß, so heißt es später, in der dritten Kritik, „das höchste Muster und Urbild des Geschmacks in sich selbst hervorbringen" und von daher „selbst den Geschmack von jedermann beurteilen 21 ." Von den bestimmten Idealbegriffen der Vernunft her angesehen, sind die „ästhetischen" Leit10
Die angeführte Ethikvorlesung, welche zeitlich unserem Texte nahesteht, unterscheidet — unter dem Titel: Vom Principio der Moralität — dessen Bedeutung als „Principium der Dijudication der Verbindlichkeit" von seiner Geltung als „Principium der Exekution oder Leistung der Verbindlichkeit". S. 44, vgl. 14.
20
D a ß Kants Idealbegriff, konzipiert im Jahrhundert Winckelmanns und seines Proklos-Platonismus, immer auch Bezüge auf ästhetische Leitbegriffe hat, soll hier nodi eben miterwähnt werden. In der Kritik der Urteilskraft handelt der § 17 Vom Ideale der Schönheit („Ideal der Einbildungskraft"); auch hier hebt sich dieser Begriff heraus aus einer allgemeinen Lehre von ästhetischen „Ideen". V 231—235/6. Für die Genesis des Terminus in Kants Herausbildung des transzendentalen Idealismus (Entwicklungszeit vor 1770 und 1781) kann die ästhetische Wort- und Begriffsbedeutung sehr wohl eine Rolle gespielt haben. Das Entscheidende ist, auf allen Feldern, der Ausgang vom endlich-bedingten, strebendsuchenden und -tätigen Menschengeist, der seinerseits Urbilder, aus eigenen Anlagen und Impulsen, entwirft und sich vorhält.
11
V 232.
(S. 385 Β 599/600)
419
bilder „Ideale der Sinnlichkeit" (Aisthesis)22. Aber „nur uneigentlich" kann man so sprechen: weil doch eben die Beurteilung (und ebenso die Produktion) auf diesem Felde auch wieder, auf eine eigene Art, Allgemeingeltung verlangt — Kernthema der Geschmackskritik —, was ja auch schon im Begriff von „Muster"-Bildungen der Künstler liegt. Daß diese Art Musterbildungen nur den Charakter von „Monogramm"-Andeutungen für vielfältige Sinnbezüge und -zusammenhänge haben kann, oder von „Schattenbildern" dessen, was dem Künstler in seinem „Kopfe" vorschwebt, einer lehrend-weitergebenden Mitteilung wie bei Vernunftgedanken aller Art sich entziehend — das ist in unserem Text schon Vorandeutung für später im § 17 der Kritik der Urteilskraft Entfaltetes, wo denn ja auch vom „Mittel" (Mittleren) der ästhetischen „Normalidee" im „Ideal"-bild etwa der Maler, auch der Physiognomen, näher die Rede ist23.
Zweiter Abschnitt: Von dem transzendentalen
Ideal
Der Untertitel dieses für das ganze dritte Hauptstück grundlegenden Abschnitts nennt die Ideal-Idee der reinen theoretischen Vernunft auch: Prototypon transzendentale — was Kant (im 10. Absatz) übersetzt als „Urbild" aller Dinge für die Vernunft, in welchem 22
23
Vgl. Kants Anmerkung zum Begriff „Ästhetik" als f ü r Geschmackskritik und Lehre von den schönen Künsten eingeführten Terminus zu Beginn der transzendentalen Ästhetik (50/1 a Β 35 a), sowie die Ausführungen über die „Zweideutigkeit in dem Ausdrucke einer ästhetischen Vorstellungsart" im VIII. Abschnitt der Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. X X 222. Wir können uns hier, wo Kant ja nur ganz andeutungsweise und bloß zur Absetzung des Vernunftideals vom damals gängig gewordenen Begriffswort aus der Kunstsphäre spricht, mit diesem Hinweis auf Kants spätere Ausführungen dazu begnügen — zumal Kants Lehre vom Ideal der Schönheit ein eigenes, recht kompliziertes Sinngefüge ist. — Die Metapher „Monogramm" verwendet K a n t auch sonst gern, schon im Rahmen des theoretischen Vernunftgebrauchs. So in unserem Werke, bei Einführung des Analytikbegriffs vom „Schema" der bestimmenden Urteilskraft (das Ideal der Einbildungskraft gehört der „reflektierenden" Urteilskraft zu); da heißt es, zum Unterschied vom anschaulich-bestimmten „Bilde" sei das Sdiema „ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori". 136 Β 181. Ferner heißt es im „Architektonik"-Abschnitt der Methodenlehre bezüglich der teleologischen Ganzheit-Einheit einer Wissenschaft von der Vernunft: es müsse da etwas herausgebildet werden, „dessen Schema den Umriß (monogramma) und die Einteilung des Ganzen in G l i e d e r . . . " enthalte. 539 Β 861/2.
420
(S. 385 Β 599/600)
der „Stoff zu ihrer Möglichkeit" gedacht wird, in absoluter Allheit und Vollständigkeit 24 . Wenn an der gleichen Stelle dem Einen Urbild (Urbegriff: in der und für die Vernunft) gegenüber die Dinge bzw. Dingbegriffe als bloße Ectypa bezeichnet werden, welche „unendlich weit" zurückbleiben hinter jenem, dann verweist das schon terminologisch auf den alten Gegenbegriff: Archetypon — verstanden als den ontologisch-ideenmächtigen Urquell aller Dinge, wie ihn Kant vor allem als metaphysische Grundlehre Piatos angesehen hat25. 24
Im § 12 der Analytik, wo Kant auf die „Transzendentalphilosophie der Alten" (die Lehren der „Scholastiker" von den Transzendentalien) zurückdenkt, heißt es, daß jene Trias: unum verum bonum, transzendental-Zogiscfc verstanden, nämlich als „Erfordernisse und Kriterien aller Erkenntnis der Dinge überhaupt", auf die drei Kategorien der Quantität zurückweisen; — nur daß jene Denker der Schule diese, „weldie eigentlich material, als zur Möglichkeit der Dinge selbst gehörig, genommen werden müßten, in der Tat nur in formaler Bedeutung als zur logischen Forderung in Ansehung jeder Erkenntnis gehörig brauchten" — dabei aber dann auch „diese Kriterien des Denkens (sc.: des Denkens überhaupt, Denkens der Möglichkeit der Dinge selbst!) unbehutsamerweise zu Eigenschaften der Dinge an sich selbst machten" (zu „vermeintlich transzendentalen" — im Sinne von ontologischen — „Prädikaten der Dinge"). Die Einheit ist hier, sagt Kant, „qualitative Einheit": Einheit der Zusammenfassung des Mannigfaltigen im Begriffe; die Wahrheit gehe auf die „Folgen": „Je mehr wahre Folgen aus einem gegebenen Begriffe, desto mehr Kennzeichen seiner objektiven Realität" — was man „die qualitative Vielheit der Merkmale, die zu einem Begriffe als einem gemeinschaftlichen Grunde gehören..., nennen" könne. (Man denke jetzt in unserem Zusammenhang an unseren etwaigen Begriff von Gott und eben zunächst an den Begriff vom Ideal d. r. V.); die Vollkommenheit aber (perfectio noumenon) besteht für Kant, rein transzendental-logisch genommen (d. h. im Rahmen der Kritik der reinen theoretischen Vernunft und ihrer „Erfordernisse"!), darin: daß „diese Vielheit zusammen auf die Einheit des Begriffs zurückführt und zu diesem und keinem anderen (!) völlig zusammenstimmt, welches man die qualitative Vollständigkeit (Totalität) nennen kann." 97 f., Β 113 f. Man wird, schon von dieser rückgreifenden Stelle aus, darauf achten müssen, wo der Vollkommenheitsbegriff bei Kant primär oder auch ausschließlich die Bedeutung der Vollständigkeit (des Mannigfaltigen, im materialen, inhaltlichen Sinne qualitativer Wirklichkeits- und Möglichkeitsdaten) hat, — und wo das „bonum" im Sinne des Vollkommen-Guten in das Thema rückt, wie etwa (noch im Rahmen unserer Kritik, in der Methodenlehre) beim „Ideal des höchsten Gutes" (summum bonum), als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft. 522/3 ff. Β 832/3 ff.
25
Vgl. außer dem Plato-Rückbezug 248/9 Β 374/5 den später (456/7 Β 723) in unserem Werke folgenden Bezug der Ideal-Idee auf den „sehr natürlichen" (aber nicht dogmatisch zu verfestigenden) Gedanken einer „ihr korrespondierenden gesetzgebenden Vernunft (intellectus archetypus)", d. h. eines intelligenten Urwesens, welches aus schöpferischen Ideen allem Geschöpflichen die Formgesetze und Ganzheitsordnungen gibt, — als welche sie, die abgeleiteten „Dinge" oder
(S. 385 Β
5991600)
421
Während das erste Hauptstück der Dialektik zum Titel die „Paralogismen" der Seelenlehre hat und dann auch gleich, nach allgemeiner Einleitung zum Thema der Ideen und ihres Systems, mit der Aufreihung dieser „dialektischen Schlüsse" einsetzt, während auch, ganz entsprechend, das zweite Hauptstück nach Titel und Einsatz von der Antithetik der Vernunft im Weltthema handelt, so daß erst nach der ausführlichen Behandlung aller der Beweise und Gegenbeweise die „Auflösung" erfolgt — geht unser drittes Hauptstück erst im dritten Abschnitt zur Kritik der „Beweisgründe" vom Dasein Gottes und zur Herausstellung ihrer „Unmöglichkeit" (im bloß spekulativen Felde) über. Davor liegt eben unser weitausgreifender und umfänglicher (18 Absätze) zweiter Abschnitt, dessen Titel zugleich ja eben mit dem Gesamttitel des Hauptstücks übereinkommt: der positive transzendentallogische Leistungs- und Verweisungssinn der „höchsten" unter den Vernunftideen steht von Beginn an über allen Überlegungen und kritischen Einschränkungen. Bevor wir in das Thema dieses „Ideal"-Gedankens eintreten, sei kurz rückverwiesen auf die Vorweisungen zu Ende des zweiten Hauptstücks. Der LeitbegrifF des Vierten Widerstreits war: Idee des absolutnotwendigen Wesens, als unausweichliches Problem in der Vernunft gelegen, ihr aufgegeben, sofern ihr Ausgriff auf Totalität der Abhängigkeit der Erscheinungen, ihrem Dasein nach überhaupt, geht (siehe den Titel des ,,Auflösungs"-Abschnitts). Sofern die Überlegung streng im Rahmen der Kosmologie sich hält, muß unbestimmt bleiben, von welcher Art das notwendige Wesen (oder gar: die Urwesen!) sein kann: die Welt selbst — wobei wir mit Kant an die Stoa oder an Spinzoa denken können (aufs Religionsthema vorbezogen also an Pantheismus oder Spinozismus, was Kant unterschei„Wesen", nur Ectypa in ihren Möglichkeiten, dem Ideellen nur „mehr oder w e niger nahe kommen, dennodi jederzeit unendlich weit daran fehlen, es zu erreichen" (um mit den Erläuterungsworten zum Prototyp-Gedanken aus dem 10. Absatz unseres Zweiten Abschnitts zu sprechen). — Im § 9 der (gerade in unserer Sache jetzt noch „vorkritischen") Inaugural-Dissertation v o n 1770 hat Kant das maximum perfectionis, welches „in heutiger Zeit" Ideal genannt werde, als mensura communis quoad realitates eingeführt. D a heißt es weiter: in sensu theoretico est ens summum (dann erst, in sensu practico: Perfectio moralis — also das bonum im eigentlichen Sinn betreffend). Primär wird dann von dem ens entium als dem obersten principium cognoscendi gesprochen; dann auch, ontologisdi, v o m so Gedachten als ens realiter exsistens und principium fiendi aller Vollkommenheiten (in der Welt). II 396.
422
(S. 385 Β 5991600)
det) 2e , oder aber: etwas in der Welt („als ihr Teil") — wobei wir, wiederum im Sinne Kants, an altüberlieferte metaphysisch-religiöse Lehren von Weltseele oder Weltgeist zu denken haben oder auch an die kosmologische Metaphysik-Theologie vom Ersten Beweger, welche Kant immer auf Anaxagoras rückbezogen hat27 —, oder als der Welt „Ursache" (Erstes, oberstes „Glied" der Welt-„Reihe", wobei Kant audi immer an das „Systema emanationis" der Neupiatoniker aller Art gedacht hat)28. Dann aber heißt es in der „Schlußanmerkung", diese Art Ideen (gemeint ist außer der des absolutnot26
27
28
Metaphysikvorlesung hrsg. A. Kowalewski 1924, S. 618: „Vom Pantheismus ist der Spinozische eine besondere Art. Denn ich sage entweder: Alles ist Gott — das wäre Spinozistischer — oder: Das All ist Gott, dies wäre eigentlicher P a n theism . . . Pantheismus des Aggregats als viele Substanzen in Verknüpfung . . . " . Vgl. auch, was nun schon in unser „Ideal"-Thema hineinführt, S. 626: „Die reale Möglichkeit der Dinge stellen wir uns vor als von Gott a b g e l e i t e t . . . Der Begriff des entis realissimi stellt Gott als Aggregat vor, als Inbegriff — aber so geraten wir leicht auf den Spinozism." Vgl. audi X V I I 337 (Nr. 3907). „Der Beweis der Alten vom primo m o t o r e . . . aus der Unmöglichkeit, daß sich die Materie zuerst von sidi selbst habe bewegen können", wird in den Vorlesungen über die philosophische Religionslehre (hrsg. Pölitz) S. 20 und 27 auf „Anaxagoras und Sokrates" bezogen, was natürlich auf Piatos Phaidon zurückgeht. Hier und an allen anderen Stellen, wo Kant von dieser Art Urwesen (und immer auch in kosmo-i/>eo/og«c&ewj Sinne!) spricht, ist denn auch der Erste Beweger (Nus in der Welt!) der Urheber „von Zweckmäßigkeit, Ordnung und Schönheit". Die Aristotelische (Kosmo-)Theologie scheint nie so recht in Kants Gesichtskreis gekommen zu sein, jedenfalls nicht unter eben diesem Titel. N u r einmal (in den Metaphysik-Vorlesungen, Kowalewski S. 621) sagt er bei Einführung des argumentum e contingentia mundi: „so nannte es Aristoteles.. — Zur „Weltseele" vgl. etwa X V I I 337: ens extramundanum contra stoicos quia animam mundi contendebant; auch Kowalewski-Vorlesungen S. 622: „Gott kann nicht in der Welt, mithin auch nicht Seele der Welt sein". Vgl. z . B . X V I I 426 (Nr.4125) und 322 (Nr. 3877): „Causa substantiae per necessitatem naturae est emanativa"; Metaphysik-Vöries, hrsg. Pölitz S. 197: „Systema emanationis, wo die Welt zwar eine Wirkung von Gott ist, aber nach der Notwendigkeit seiner N a t u r , also eben so ewig und notwendig als Gott." — Zu unserer Anspielung auf mehrere „notwendige Wesen" vgl. etwa: X V I I I 424 (Nr. 6017) und 551 (Nr. 6284): „ . . . zweierlei entia originaria: Gott und die M a t e r i e . . . " (Demiurg!); „ . . . gemischte Ursache: Materie und Gott". — Es wird auch wohl auf Materie als angebliche concausa mali zurückgedacht ( X V I I I 502), was natürlich f ü r Kants Theologieaufgabe von besonderer Bedeutung ist; und in ähnliche Richtung weisen auch häufige Erwähnungen der Manichäer, etwa: zweierlei „gute oder böse Urwesen", die daraufhin betrachtet werden, wovon das Urwesen „die Ursache i s t . . . (Ob in der Welt, so viel als Gutes auf der einen Seite ist, auch so viel Böses auf der anderen Seite sei)." X V I I I 493. Vgl. auch X V I I I 542: „Viele Götter würden als notwendige Wesen nicht in commercio stehen. Manichäer." D a ß Überlegungen von dieser Art in die Kritikfassung und
(S. 38516 Β 600)
423
wendigen Wesens auch die Idee der Kausalität durch Freiheit!) seien „zwar transzendentale", aber doch noch kosmologisch: auf Sinnenwelt (und Dasein!) bezogen; Vernunft drängt aber weiter auf das gänzlich Transzendente, enthält Ideen, welche sich von allen Weltgegebenheiten „trennen" und „sich selbst Gegenstände machen" — deren etwaige objektive Realität „auf reinen Begriffen a priori" allein beruhen würde. Und schon taucht hier, vorweisend, der Singular des notwendigen Wesens auf: ein „bloß intelligibler Gegenstand", ein Ens („Ding"), welches „als ein durch seine unterscheidenden und inneren (!) Prädikate bestimmbares" — nicht also wie von außen, von Wirkungen und Folgen her — zu denken wäre. Den Schritt dahin „zu wagen" gibt der bisher besprochene Problembegriff vom oder von notwendigen Wesen nur die Veranlassung! Bei diesem neuen Schritt, dem ersten, den wir „außer der Sinnenwelt tun", hindenkend auf ein Ens extramundanum, geht es um etwas, „was an sich" (nicht aber für Welt!) notwendig ist. Und da müßten wir nun, sagt Kant noch, vom Vernunftgedanken des notwendigen Wesens anfangen (nicht: dahin „aufsteigen"!): was eben dann im dritten Hauptstück geschehen werde. Im „Ideal der reinen Vernunft" muß es dann also auch um ein absolutnotwendiges Wesen gehen — und zwar nicht erst in späteren Partien (etwa dem fünften Abschnitt, der den „kosmologischen" Beweis vom Dasein Gottes zum Thema hat), sondern sogleich in der grundsätzlichen Einführung des zweiten Abschnitts, dessen Titelbegriff und erster Verlauf das nicht vermuten läßt. Und zwar muß hier ein Absolutnotwendiges zur Diskussion stehen, das nicht für Existierendes den Grund abgeben soll, nicht für Erfahrbares, nicht für Erscheinungen im Ganzen, sondern — wie schon den Vorandeutungen in früheren Textstellen zu entnehmen war — für Möglichkeit und Denkbarkeit-Bestimmbarkeit der „Dinge überhaupt", — Vernunftgedanke und principium cognoscendi (zunächst) in diesem Sinne. Die beiden ersten Absätze des zweiten Abschnitts stellen zwei Grundsätze einander gegenüber und entgegen, welche bei allem Denken (und etwa Erkennen) von Dingen, welcher Art audi immer, maßgebend sind. Der eine spricht von den Begriffen rein als solchen, ihre Ideallehre mithineinspielen, kann schon der Passus im Dritten Abschnitt zeigen, wonach „ . . . bei allen Völkern durch ihre blindeste Vielgötterei doch einige Funken des Monotheismus durchschimmern." 396 Β 618.
424
(S. 38516 Β 600)
welche wir denkend bilden, der andere von den Dingen, von den Sachen, auf welche die Begriffe gehen, und von deren „Prädikaten": also dem, was ihnen jeweils in Urteilen zuzusprechen sein mag an Eigenschaften oder Fähigkeiten, die für sie charakteristisch sind. In beiden Fällen ist von „Möglichkeit" die Rede29. All unser denkendes Bemühen um das, was ist und sein mag, ist von „diskursivem" Charakter: d. h. eben, wir denken durch Begriffe („mithin auch durch lauter Prädikate" Prolegomena § 46); auch die allgemeinformalen Denkfunktionen, die wir seit Aristoteles Kategorien oder Prädikamente nennen, sind ja Prädikate. Jeder Begriff, für sidi genommen, ist nun aber nach der Grundlehre von Kants Analytik — als welche immer schon in ihren Feststellungen auch auf die Vernunftbegriffe als das Höchste unseres denkenden Erfragens abzielt — insofern unbestimmt, als er allein durch sich nicht Sachbedeutung objektiver Wahrheit garantieren kann. Was im bloßen Begriff (so etwa jetzt: im metaphysisch-theologischen Begriff von einem „höchsten Wesen") enthalten ist und etwa definitorisch entwickelt wird (in „analytischen Urteilen"), das kann in keinem Falle uns des „Gegenstandes", der Sache selbst versichern. Dies gilt nicht nur für denkendes Abzielen auf Wirklichkeit, sondern schon für Mögliches, für Möglichkeiten etwaiger Existenz. Nun, der für Begriffe überhaupt (Verstandes- wie Vernunftbegriffe) geltende allgemeinste Grundsatz, der Satz vom Widerspruch („Keinem Ding kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht") ist zwar ein höchst universales, aber doch „bloß negatives" Kriterium der Wahrheit — also kein „Bestimmungsgrund der Wahrheit unserer Erkenntnis" 30 ! Dies „oberste" Prinzip ist ein „bloß logisches" und 29
30
„Der höchste Begriff, von dem man eine Transzendental-Philosophie anzufangen pflegt, ist gemeiniglich die Einteilung in das Mögliche oder Unmögliche." 232 Β 346. Kant denkt dabei besonders an die von Leibniz herkommende Wolff-Tradition mit ihrer Prävalenz des Möglichkeitsbegriffs im Logisdi-Ontologischen. Die neue „Transzendentalphilosophie" hat eben damit, gerade und besonders im theologischen Thema, sich auseinanderzusetzen — wobei mit den Begriffen die Grundsätze unseres Denkens und Erkennens kritisch geprüft und anders unterschieden werden. Vgl. 141 ff. Β 189/90 f.: Von dem obersten Grundsatze aller analytischen Urteile. — Bei erneuter Hervorhebung der kritischen Unterscheidung zwischen „Denken" und „Erkennen" in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik tritt ein Vorhinweis auf unser jetziges Thema auf: 17 a Β X X V I a. — Zur Lehre von diesem Wesensunterschied innerhalb der menschlichen Vernunft vgl. besonders
(S. 385 Β 600)
425
nicht ein sachbestimmendes; logische Denkbarkeit — in widerspruchsfreiem Begriff — erweist nie schon „reale Möglichkeit"31. Das war ja besonders aktuell geworden bei den „Ideen"; man denke nur an das Beispiel der Kausalität durch Freiheit, deren Wirklichkeit, ja deren Möglichkeit für theoretische Vernunft unerweisbar bleibt, obgleich der Begriff davon sich der Vernunft sinngemäß aufdrängt und in sich keinen Widerspruch enthält (wohl aber zur Naturkausalität in einem ausschließenden Gegensatz zu stehen — scheint!). Kant faßt in unserem ersten Absatz den obersten Grundsatz aller analytischen Urteile, mit welchem das „System aller Grundsätze des reinen Verstandes" in der Analytik begann, bzw. den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, der auf jenem „beruhte", hier als „Grundsatz der Bestimmbarkeit"Sla. Das Bestimmbare, noch erst zu Bestimmende steht in Gegensatz-Korrelation zum Spontan-Bestimmenden des Denkvollzugs als solchen. Im Rahmen der Dialektik wurde das erstmals aktuell beim „Seele"-Thema: Unterscheidung, innerhalb unseres Selbst-Bewußtseins, des denkend-bestimmenden Selbst (transzendentale Apperzeption), welches notwendige Voraussetzung in allem Denken und Erkennen ist, aber als bloße einfache Denkform noch den § 2 2 (116/7 Β 146) und, im Schlußabschnitt der Analytik mit der Unterscheidung von Phänomena und Noumena, die Stellen I V 160/1 A 245 und 207/8 Β 304. al
Die Äe