Religion als kultureller Ordnungsrahmen in Platons Nomoi 3447114843, 9783447114844

In Platons letztem und umfangreichstem Werk Nomoi (Die Gesetze) diskutieren drei Gesprachspartner - ein Athenischer Frem

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German Pages 140 [148] Year 2020

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Inhalt
Vorwort
I. Einführung
II. Religion und Theologie in den Nomoi
III. Die Generalansprache
III.1 Der Kontext der Generalansprache
III.1.1 Der Untergang von Argos und Messene
III.1.2 Der Kronos-Mythos
III.2 Der erste Teil der Generalansprache
III.3 Der zweite Teil der Generalansprache
IV. Die Proömien
V. Die Neue Institutionenökonomik
V.1 Institutionelle Ebenen
V.2 Interne und externe Institutionen
V.3 Interpretationen einzelner Vorworte
V.3.1 Eheschließung
V.3.2 Aneignung von Schätzen
V.3.3 Testament
VI. Fazit und Ausblick
Literatur
Stellenregister
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Religion als kultureller Ordnungsrahmen in Platons Nomoi
 3447114843, 9783447114844

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Lauritz Noack

Religion als kultureller Ordnungsrahmen in Platons Nomoi

PHILIPPIKA

Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures 143

Harrassowitz Verlag

© 2020, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11484-4 ISBN E-Book: 978-3-447-39033-0

P H I L I P P I K A

Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures

Herausgegeben von /Edited by Joachim Hengstl, Elizabeth Irwin, Andrea Jördens, Torsten Mattern, Robert Rollinger, Kai Ruffing, Orell Witthuhn 143

2020

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2020, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11484-4 ISBN E-Book: 978-3-447-39033-0

Lauritz Noack

Religion als kultureller Ordnungsrahmen in Platons Nomoi

2020

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2020, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11484-4 ISBN E-Book: 978-3-447-39033-0

Bis Band 60: Philippika. Marburger altertumskundliche Abhandlungen. Förderung durch die Carl und Charlotte Schott-Stiftung an der Philipps-Universität Marburg

Bei diesem Werk handelt es sich um die leicht überarbeitete Dissertation, die am Fachbereich „Fremdsprachliche Philologien“ der Philipps-Universität Marburg eingereicht und am 7. Oktober 2019 verteidigt wurde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/ abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the internet at https://dnb.de/.

Informationen zum Verlagsprogramm finden Sie unter https://www.harrassowitz-verlag.de/ © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 1613-5628 eISSN 2701-8091 ISBN 978-3-447-11484-4 eISBN 978-3-447-39033-0

© 2020, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11484-4 ISBN E-Book: 978-3-447-39033-0

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII I. Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Religion und Theologie in den Nomoi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

III. Die Generalansprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

III.1 Der Kontext der Generalansprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1.1 Der Untergang von Argos und Messene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1.2 Der Kronos-Mythos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 19 24

III.2 Der erste Teil der Generalansprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Der zweite Teil der Generalansprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

IV. Die Proömien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

V. Die Neue Institutionenökonomik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

V.1

Institutionelle Ebenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

V.2

Interne und externe Institutionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

V.3

Interpretationen einzelner Vorworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.3.1 Eheschließung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.3.2 Aneignung von Schätzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.3.3 Testament. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90 90 101 111

VI. Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

Stellenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.3

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Vorwort Der vorliegende Band ist die leicht überarbeitete Fassung einer Abhandlung, die im September 2019 vom Fachbereich „Fremdsprachliche Philologien“ der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen wurde. Meiner Doktormutter Prof. Dr. Sabine Föllinger gebührt mein erster Dank. Durch ihre Begeisterung für die ökonomischen Fragen und Zusammenhänge in Platons Schriften hat sie mein Interesse für das Forschungsfeld geweckt und mit dem von ihr und Frau Prof. Dr. Evelyn Korn initiierten Forschungsprojekt „Wirtschaftliches Handeln bei Platon: Eine institutionenökonomische Analyse von Platons Idealstaatsvorstellungen“ (gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung) den idealen Rahmen für eine Dissertation geschaffen. Darüber hinaus hat sie meine Arbeit nicht nur mit Interesse, Fürsorge und großem Engagement begleitet, sondern auch – wenn nötig – mit sanftem Druck vorangetrieben. Frau Prof. Dr. Korn möchte ich sowohl für die Übernahme des Zweitgutachtens als auch für die produktiven und lehrreichen Diskussionen in den Gesprächsrunden unseres Forschungsprojekts danken (genauso wie Herrn Philipp Bösherz, der mir über diese Treffen hinaus in zahlreichen Gesprächen die ökonomische Perspektive nähergebracht hat). Den akribischen Korrekturlesern Felicia Bulang, Sven Meier, Julius Noack und Henrik Vollbracht möchte ich für ihre Hilfsbereitschaft herzlich danken. Dem Harrassowitz-Verlag danke ich für die ausgezeichnete Zusammenarbeit und den Herausgebern der Reihe „Philippika – Altertumswissenschaftliche Abhandlungen“ für die Aufnahme dieser Arbeit. Der Carl und Charlotte Schott-Stiftung an der Philipps-Universität Marburg sei für die Förderung in Form eines Druckkostenzuschusses gedankt. Schließlich möchte ich von Herzen meiner Frau danken – ohne ihre vielfältige Unterstützung, insbesondere gegen Ende bei der Bemeisterung nicht immer leichter Umstände (zwei davon eigentlich recht klein, aber doch gewaltig in ihrem Wirken), hätte ich die Feile nicht so gründlich anlegen und die Arbeit nicht in der gewünschten Form abschließen können. Marburg, August 2020 Lauritz Noack

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I. Einführung In den Nomoi, Platons letztem und umfangreichstem Werk, diskutieren drei Gesprächspartner – ein Athenischer Fremder, 1 ein Kreter namens Kleinias und ein Spartaner namens Megillos – die theoretischen Grundlagen einer Gesetzgebung und entwerfen auf dieser Basis eine Verfassung mitsamt ihren Gesetzen für eine neue Kolonie. 2 Die Gesetzgebung hat den besonderen Anspruch und Zuschnitt, dass die Bürger der neuen Kolonie ein nach philosophischen Kriterien glückliches Leben führen sollen. 3 Von philosophischen Kriterien kann man ungeachtet der Diskussionen darüber, welche Tiefe die philosophischen Aspekte erreichen, 4 deswegen sprechen, weil das glückliche Leben auch in den Nomoi an die Ausbildung der Tugend und die Transzendenz der menschlichen Natur geknüpft ist – Kriterien also, die ihrem Wesen nach zweifellos philosophischer Natur sind, auch wenn sie nicht dieselbe Ausprägung haben wie in anderen Dialogen. Das lässt sich jedoch darauf zurückführen, dass die Nomoi in erster Linie die Frage behandeln, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit auch philosophisch weder gebildete noch interessierte Menschen ein glückliches Leben im skizzierten Sinn führen können. 5 Die vorliegende Arbeit nimmt zwei Alleinstellungsmerkmale der Nomoi in den Blick, die mit dieser Zielsetzung in engem Zusammenhang stehen: Die Religion und das Instrument der Gesetzesvorworte. 1 Der Athenische Fremde ist die zentrale Figur und der entscheidende Takt- und Ideengeber der Unterhaltung. Aufgrund seiner Vertrautheit mit zentralen Ideen und Theorien der platonischen Dialoge ist er schon in der Antike oft als Sprachrohr Platons oder gar als maskierter Sokrates aufgefasst worden (s. Schöpsdau 1994, 106; auf daraus resultierende Probleme für die Interpretation komme ich auf S. 3f. zu sprechen). Für die Bezeichnung Athenischer Fremder gibt es zahlreiche Vermutungen (die ausführlichste Auseinandersetzung und Theorie bei Zuckert 2009, 51–146); am plausibelsten scheint mir die Erklärung von Schofield (2006, 75f.) zu sein, der darin aus verschiedenen Gründen eine Hommage an Solon erkennt (der Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass König Kroisos in Herodots Historien (1,30) den legendären athenischen Gesetzgeber Solon mit eben dieser Bezeichnung anspricht). 2 Das Thema der Unterhaltung wird von den Gesprächspartnern explizit in Ⅰ 625a6–7 (περί τε πολιτείας τὰ νῦν καὶ νόμων) und Ⅰ 641d9 (in umgekehrter Reihenfolge) genannt. Zum Szenario der Koloniegründung s. S. 24. 3 Am deutlichsten wird dieser Anspruch in Ⅴ 742e4–6 und Ⅴ 743c5–6 festgehalten; vgl. auch Ⅰ 631b5, Ⅲ 683b4, Ⅳ 718b4 und Ⅷ 828d10; vgl. den wichtigen Hinweis Ⅲ 693b5–c5, dass die Ziele der Gesetzgebung nicht immer auf dieselbe Weise formuliert sind, aber stets dasselbe meinen. Die Zielvorgabe auf individueller Ebene ist eingebettet in das Projekt der gesamten Gesetzgebung, Freundschaft, Einsicht und Freiheit in der Polis hervorzubringen (φιλία τε καὶ φρόνησις καὶ ἐλευϑερία, Ⅲ 693d8–e1 und Ⅲ 701d7–9 (vgl. auch Ⅲ 694b6). Unter Glück wird bei Platon der „objektive Sachverhalt“ eines „sinnvollen und gelingenden Lebens“ verstanden (Blößner 2007, 256). 4 Zu dieser Diskussion s. Anm. 24 und ausführlicher S. 69f. 5 Zu den Adressaten des Dialogs s. auch S. 18, Anm. 53.

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Einführung

Die Religion gehört deswegen zu den Besonderheiten, weil neben einer rationalen Theologie und einem Astralkult auch die Volksreligion eine erstaunlich prominente Rolle spielt. Der Begriff Volks- oder Polis-Religion umfasst ein Konglomerat von Mythen, göttlichen Mächten und Ritualen, das die religiösen Praktiken und Kulthandlungen einer Polis auf spezifische Weise geprägt und ausgestaltet hat. 6 In den Nomoi stößt man auf zahlreiche Phänomene der Volksreligion, 7 was oberflächlich betrachtet nicht nur deswegen erstaunlich ist, weil man es in einer Gesetzgebung eines Philosophen nicht unbedingt erwarten würde, 8 sondern auch, weil Platon in anderen Dialogen die Volksreligion und die hauptsächlich von den Dichtern Homer und Hesiod vermittelte Auffassung über die Götter heftig kritisieren lässt. 9 Es stellt sich daher die Frage, warum der Athenische Fremde die Volksreligion in seine Gesetzgebung integriert und ob ihr eine besondere Funktion oder Aufgabe zukommt. Die bisherigen Antworten der Forschung unterscheiden sich im Detail, 10 sind sich aber grundsätzlich über die Tendenz einig, dass Platon die Volksreligion um all jene Elemente bereinigt habe, die er in der Politeia kritisiert, um sie auf die 6 Den Begriff Volksreligion hat Nilsson (1967) in seinem Standardwerk zur antiken Religion gebraucht, um die „Rolle des Religiösen im praktischen Leben“ (1967, 790) zu bestimmen. Auch wenn Nilsson damit Phänomene wie z. B. Seher und Orakel, Magie und Unterweltsglaube erfasst hat, werde ich diesen Begriff in Anlehnung an das obige Zitat im Folgenden in allgemeiner und übergeordneter Weise verwenden, wenn die praktisch-alltägliche Sphäre des Religiösen bzw. die Auswirkungen der antiken Religion auf den Alltag der Menschen im Vordergrund steht. Der Begriff Polis-Religion wird vor allem seit dem Aufsatz von Sourvinou-Inwood (1990) gebraucht, um auf die spezifische Prägung und Verankerung der antiken Religion innerhalb der Polis aufmerksam zu machen (der Sachverhalt als solcher ist bereits bei Nilsson (1967, 708–721) klar erkannt). Zur besseren Unterscheidung kommt der Begriff Polis-Religion in spezifischer Weise dann zum Einsatz, um die konstitutiven Eigenschaften und die Abhängigkeit der Religion von der Polis zur Geltung zu bringen. In den Kapiteln Ⅱ und Ⅲ werde ich auf einige Aspekte der Volksreligion im Hinblick auf die Nomoi dezidiert eingehen. 7 Die Bedeutung der Religion in den Nomoi haben in umfassender Weise Reverdin (1945), Morrow (1960, 399–495) und Young (2016) untersucht. Kürzere Untersuchungen und Überblicksdarstellungen finden sich bei Dodds (1951, 207–224), Sandvoss (1971, 42–44), Morgan (1992, 242–244), Sharafat (1998, 132–143) und Burkert (2011, 493–498). 8 Dass diese Erwartung hauptsächlich neuzeitlichen Denkmustern anzulasten ist, zeigt Most (2003) in einem Beitrag zur Klärung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Religion in der griechischen Antike. Über Platons Umgang mit der Volksreligion gibt Morgan einmal ausführlich (1990, leider ohne Berücksichtigung der Nomoi) und überblicksartig (1992, mit Berücksichtigung der Nomoi) Aufschluss. 9 Der locus classicus ist Resp. Ⅱ 377a12–Ⅲ 392a2 und die implizite Kritik der konventionellen Frömmigkeit im Euthyphron. Zur Deutung der Politeia-Stelle und dem in diesem Zusammenhang wichtigen Begriff der Theologie ausführlich Bordt (2006, 43–54; 95–166). Man muss allerdings bedenken, dass sich die Kritik an der Volksreligion und der ihr zugeschriebenen Frömmigkeit auf bestimmte Aspekte richtet und keineswegs grundsätzlicher Natur ist; in den Dialogen wird immer wieder das besondere Verhältnis zwischen Sokrates und Apollon beschrieben, und auch in Platons Akademie waren Aspekte der Volksreligion selbstverständlicher Teil des Alltags (für die tiefen Verbindungen und Parallelen zwischen platonischer Philosophie und griechischer Religion s. Albert 1980). 10 Im nächsten Kapitel werde ich detaillierter auf den Stand der Forschung eingehen, sodass ich im folgenden Überblick nicht alle Teilaspekte mit Verweisen auf die Literatur versehe.

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Einführung

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se Weise den Prinzipien seiner eigenen Philosophie anzunähern. 11 Begründet wird diese These nicht nur mit der Übernahme, Reformation und Erfindung von Einrichtungen und Aspekten der Volksreligion, sondern vor allem mit dem umfassenden Asebie-Gesetz und der Einführung eines Apollon-Helios-Kults, der das Zentrum der Polis-Religion darstelle. Auf diese Weise habe Platon eine Brücke für die philosophisch nicht gebildeten Bürger geschlagen, um sie für seine Philosophie empfänglicher zu machen und ihnen die Befolgung seiner Gesetze zu erleichtern. Die Volksreligion sei deshalb ein substantieller Aspekt der Nomoi, dem eine fundamentale Bedeutung im Projekt der Gesetzgebung zukomme. Im nächsten Kapitel werde ich diese Position ausführlicher diskutieren und meine Einwände vorbringen, die ich an dieser Stelle kurz vorstellen möchte. Der erste Einwand ist methodischer Art: Fast alle bisherigen Interpreten dieser Zusammenhänge legen mindestens als problematisch zu bezeichnende hermeneutische und literaturtheoretische Prinzipien zugrunde. Zum einen setzen sie den Athenischen Fremden ohne Bedenken mit Sokrates oder Platon gleich und versuchen in der Regel zu zeigen, welche persönlichen Gründe Platon für die Übernahme der Volksreligion gehabt haben möge, und inwiefern dieser Sinneswandel vom philosophischen Standpunkt aus gerechtfertigt werden könnte. 12 Diese biographistischen Überlegungen sind nicht nur äußerst spekulativ, sondern tragen auch nichts zu einem besseren Textverständnis bei. 13 Auch wenn der Athenische Fremde eine gewisse Vertrautheit mit einigen Kerngedanken der platonischen Dialoge an den Tag legt und die Gesetzgebung als entscheidender Impulsgeber prägt, ist er dennoch eine dramatische Person und nicht identisch mit Platon. 14 Aus diesem Grund hat er auch keinerlei Anlass, etwaige Gründe für eine Übernahme oder Reformation der 11 Diese These findet sich mit unterschiedlichen Gewichtungen bei Dodds (1951, 219), Morrow (1960, 400; 444; 469; 495), Sharafat (1998, 133) und Young (2016, 148–215). Mit großem Nachdruck hat Sandvoss die Aufwertung und Erneuerung der Volksreligion in den Nomoi betont (Sandvoss 1971, 14; 19; 30). Leider verfällt Sandvoss immer wieder in einen geradezu schwärmerischen Ton, der ihn geradezu als Platons persönlichen Biograph und Anwalt erscheinen lässt (s. etwa 25, wo er die Aussage von Gott als dem Maß aller Dinge als Platons persönliches „religiöses Bekenntnis“ wertet, ohne das „das Ganze der platonischen Philosophie unvollendet geblieben“ wäre). Nichtsdestoweniger ist Sandvoss einer der wenigen, die sich um eine integrative Interpretation im Hinblick auf die religiösen Aspekte der platonischen Philosophie bemüht haben. 12 Am stärksten ist diese Tendenz, wie in der vorherigen Anmerkung ausgeführt, bei Sandvoss (1971). Bei älteren Werken zum Thema ist die mindestens implizite Identifikation von Athenischem Fremden mit Platon die Regel; bei Dodds (1951, 211) heißt es etwa: „The legislator’s position, however, is not identical with that of the common man. The common man wants to be happy; but Plato, who is legislating for him, wants him to be good.“ 13 Davon unberührt ist die Einschätzung, welcher Stellenwert den Nomoi im Platonischen Œuvre zukommt. Wenn man keine Konsequenzen für die Interpretation des Textes daraus zieht, kann man die Nomoi also durchaus als Platons „politisches Testament“ ansehen (Schöpsdau 1994, 131) und sich fragen, ob er sich in dem Athenischen Fremden zumindest zu einem gewissen Anteil wiedererkennen lassen wollte; in diesem Rahmen kann man sich um des Gedankenspiels willen fragen, unter welcher Bezeichnung er während seiner Zeit auf Sizilien bei den Einheimischen wohl bekannt gewesen sein dürfte. 14 Dieses sogenannte Prinzip der Platonischen Anonymität (s. Geiger 2017, 375f.) richtet sich gegen einen entwicklungsgeschichtlichen Interpretationsansatz (auch als „developmentalism“ bekannt),

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Einführung

Volksreligion aus platonischer Perspektive zu nennen. Zum anderen werden die Nomoi in den seltensten Fällen als ein eigenständiger Dialog mit eigenständigem Szenario und eigenständigem Argumentationsziel behandelt; die Versuchung ist offenbar zu groß, sie ohne Umschweife in Bezug vor allem zur Politeia zu setzen. Dass sich derlei Bezugnahmen nicht nur anbieten, sondern vom Athenischen Fremden auch nahegelegt zu werden scheinen, soll nicht bestritten werden. 15 Die voreilige Bezugnahme auf und Deutung durch andere Dialoge führt jedoch dazu, dass wichtige Passagen nicht in ihrem werkimmanenten Kontext gelesen und interpretiert werden. Auch wenn zum besseren Verständnis andere Dialoge durchaus herangezogen werden können, ja manchmal sogar müssen, 16 hat jeder Dialog als eigenständiges literarisches Kunstwerk zu gelten, dessen Szenario und Argumentationsgang oberste Priorität bei der Interpretation haben müssen. 17 Der zweite Einwand betrifft die Auswahl und Interpretation der Textstellen, die der These von der reformierten Volksreligion zugrunde gelegt wurden. Bisher wurden hauptsächlich die übergeordneten Rahmenbedingungen und strukturellen Einrichtungen der Polis-Religion in den Blick genommen, wie etwa die Anordnung des Stadtgebiets und die heiligen Bezirke, Standorte der Tempel, religiöse Ämter und Feste usw. Es ist unbestreitbar, dass diese strukturellen und organisatorischen Aspekte der Volksreligion in den Überlegungen der Gesprächspartner eine große Rolle spielen. Allerdings lässt sich die Konzentration auf diese Textstellen in zweierlei Hinsicht kritisieren: Zum einen wurde in der Forschung bisher nur selten kritisch überprüft, auf welche Weise diese Einrichtungen auch zur Umsetzung der gesetzgeberischen Ziele beitragen (s. Anm. 3); zum anderen wurde ein für die Rahmenbedingungen äußerst wichtiger Textabschnitt bisher größtenteils vernachlässigt: die sogenannte Generalansprache.

der u. a. von einer Sprachrohrtheorie und Entwicklung platonischer Lehrmeinungen ausgeht, s. Söder (2017, 28f.). Vgl. zu dieser Diskussion im Hinblick auf die Nomoi Horn (2013). 15 An zentraler Stelle wird die Gesetzgebung der Nomoi als zweitbeste Lösung bezeichnet und von einer optimalen Verfassung abgesetzt, die aller Wahrscheinlichkeit nach die Politeia darstellt (Ⅴ 739a3–e7); s. dazu Laks (1990, 212), Schöpsdau (1993, 139) und Föllinger (2016, 71). Zum Verhältnis der Nomoi zur Politeia in allgemeiner Hinsicht s. Schöpsdau (1994, 126–131); unter Berücksichtigung des Politikos und mit Fokus auf der politischen Philosophie s. Horn (2013). 16 Nämlich deshalb, weil derselbe oder ein sehr komplexer Sachverhalt in den Dialogen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird und sich ein möglichst vollständiges Bild nur ergibt, wenn man diese Behandlungen unter Berücksichtigung der jeweiligen Unterschiede zusammenführt. Söder (2017, 29) nennt diesen Ansatz das „systemperspektivisch-kontextuelle Interpretationsmodell“. Vgl. etwa die Bezugnahmen in dieser Arbeit auf andere Dialoge auf S. 21, Anm. 9 (Motiv der Selbstbeherrschung), auf S. 55, Anm. 107 (Modell der dreigeteilten Seele) und auf S. 70, Anm. 13 (Verhältnis Philosophie-Rhetorik bei Platon). 17 Zu diesen hermeneutischen Fragen der Platon-Interpretation s. Frede (1992), Blößner (2007, 251f.) und Söder (2017).

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Einführung

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Im Vierten Buch wendet sich der Athenische Fremde in einer langen Ansprache an die in Gedanken versammelten Siedler. 18 In dieser Ansprache, die das kulturelle 19 Fundament für das Zusammenleben in der neuen Kolonie legt, erhebt der Athenische Fremde das Prinzip von der Angleichung an Gott zur zentralen Maxime für die Bürger (Ⅳ 716b8– d4). Gott wird in diesem Abschnitt als das Maß aller Dinge verstanden; gottgleiches Verhalten wird dadurch mit maßvollem und tugendhaftem Verhalten gleichgesetzt. Wie besonders der zweite Teil der Ansprache im Detail ausführt, besteht die Tugend darin, dass die Bürger ihre Seele als wichtigstes Gut anerkennen; als Konsequenz sollen sie sich von der Fixierung auf materielle Güter, ihren Körper und ihre eigene Person befreien. Der kurze Textabschnitt innerhalb der Generalansprache, der die Angleichung an Gott behandelt, hat in der Forschung durchaus Beachtung erfahren 20 – doch hat man die Generalansprache bisher nicht zusammenhängend, in ihrem Kontext und vor allem unter Berücksichtigung literarischer Gesichtspunkte interpretiert. 21 Die Ansprache enthält eine geradezu verwirrende Mixtur aus verschiedenen theologisch-religiösen Elementen, zu denen auch der traditionelle Götterkult gehört, der auf diese Weise in einen direkten Zusammenhang mit der Angleichung an Gott gebracht wird. Dieser Durchmischung ist in der Forschung allerdings bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden, sodass ich in einer detaillierten Analyse dieser Passage mitsamt ihrem Kontext zeigen werde, dass es für dieses Nebeneinander gute Gründe gibt, die Aufschluss über das Verhältnis zwischen der Volksreligion und dem Prinzip der Angleichung an Gott gibt. Der zentrale Grund liegt in der Orientierung an den Adressaten: In der Generalansprache will der Athener die Bürger mit den in der neuen Kolonie gültigen Werten vertraut machen, wozu im Wesentlichen das Prinzip von der Angleichung an Gott gehört. Dabei gibt er sich größte Mühe, dieses Konzept nicht als etwas grundlegend Neues, sondern als etwas mehr oder weniger Bekanntes und Übliches erscheinen zu lassen – und zwar deshalb, weil sich die Gesetzgebung an den philosophisch nicht gebildeten Bürger 18 Die Ansprache wird von einem Exkurs unterbrochen und hat daher zwei Teile; der erste reicht von Ⅳ 715e7–718a6, der zweite von Ⅴ 726a1–734e2. 19 Der Begriff der Kultur hat ein sehr großes Bedeutungsspektrum und kann je nach Kontext die verschiedenartigsten Phänomene erfassen; in dieser Arbeit liegt der Verwendung des Begriffs eine ökonomische Perspektive zugrunde, mit der in sehr allgemeiner Weise der Bereich sämtlicher Verhaltensweisen gemeint ist, die nicht durch die natürlichen Rahmenbedingungen bestimmt sind und einer formalen Gesetzgebung nur eingeschränkt oder gar nicht unterliegen (z. B. Religion oder Sprache), s. Kap. V.1 und das Zitat zur kulturellen Ebene auf S. 80. 20 Hoffmann (1996, 301–303), Wilke (1997, 31–33), Sharafat (1998, 164–171), Lavecchia (2006, 161– 165), Armstrong (2004, 179–182), Young (2016, 156–161). Von einigen wird die These vertreten, dass insbesondere die Angleichung an Gott ein wichtiger, wenn nicht sogar der zentrale Aspekt der platonischen Reformbemühungen im Hinblick auf die Polis-Religion darstellt, z. B. Morrow (1960, 469), Trampedach (1994, 228), Schöpsdau (2011, 372) und Young (2016, 156–169). 21 Unter literarischen Gesichtspunkten verstehe ich nicht nur, wie oben bereits ausgeführt, die Behandlung jedes platonischen Dialogs als eines eigenständigen Kunstwerks, sondern insbesondere auch die Konsequenz daraus, dass die Äußerungen einer Dialogfigur Ausdruck ihrer Persönlichkeit und Resultat ihrer individuellen Argumentationsziele sind, wozu insbesondere die rhetorische Gestaltung gehört.

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Einführung

richtet, der ihre Sinnhaftigkeit auch nachvollziehen können soll. Das anspruchsvolle und voraussetzungsreiche Konzept der Angleichung an Gott wäre ohne die Berücksichtigung der Adressaten und den Versuch einer entsprechenden Vermittlung eine zu große Herausforderung und Hürde. Der Athenische Fremde greift daher auf die Bekanntheit und Vertrautheit verschiedener Elemente von Religiosität und Frömmigkeit zurück – wozu in besonderer Weise die Volksreligion gehört – und schwächt die Neuartigkeit des Konzepts der Angleichung an Gott dadurch auf signifikante Weise ab. Indem er sich die Omnipräsenz und Geltung religiöser Vorstellungen zunutze macht, kann er seiner eigenen Konzeption eine größere Legitimität verschaffen und auf eine breite Akzeptanz der Bürger hoffen. Die durch religiöse Denkmuster geprägte Geisteshaltung kann er dadurch auch leichter in eine Richtung lenken, die die Bürger für die Ziele der Gesetzgebung empfänglich stimmt. Die Ansprache schafft einen übergeordneten kulturellen Rahmen, der den Bürgern als verbindliche Sinnstiftung dient, die bestimmte Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften ohne den Umweg einer ausführlichen Argumentation im gemeinsamen Wertesystem der Gesellschaft als erstrebens- und nachahmenswert erscheinen lässt. Zu diesen Elementen gehört auch die Volksreligion, die demnach durchaus ein wichtiger Bestandteil für den Gesetzgeber ist, um seine Absichten und Ziele umzusetzen – aber eben nur ein Element neben vielen anderen. Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die These von der reformierten und philosophisch fundierten Volksreligion zwar durchaus plausibel erscheint, ihre Rolle in diesem entscheidenden Abschnitt aber stark darauf hindeutet, dass ihr der Athenische Fremde keine allzu große Bedeutung beimisst. Im Zentrum der Ansprache stehen philosophische Konzepte wie die göttliche Vernunft und die Angleichung an Gott, für die es in der Volksreligion keine Entsprechung gibt. Die entscheidende Frage ist, wie diese Angleichung bewerkstelligt werden soll. Damit sind wir nun bei dem dritten und letzten Einwand gegen die These von der reformierten und aufgewerteten Volksreligion angelangt: Denn um diese Frage zu beantworten und sich der tatsächlichen Bedeutung der Volksreligion im Hinblick auf die Ziele der Gesetzgebung anzunähern, reicht es nicht aus, die Einrichtungen und strukturellen Rahmenbedingungen in den Blick zu nehmen. Stattdessen sollte man das zweite Alleinstellungsmerkmal der Nomoi berücksichtigen, das in diesem Zusammenhang wichtigen Aufschluss bietet: die Gesetzesvorworte. Ein wesentliches Merkmal der Gesetzgebung ist der Wunsch des Athenischen Fremden, dass die Bürger die Gesetze nicht nur aus Angst vor Bestrafung befolgen. Zu diesem Zweck ersinnt der Athener das Instrument der Vorworte, die er wichtigen Gesetzen voranstellen möchte, um die Bürger von den Gesetzen zu überzeugen. Um den Stellenwert der Volksreligion im alltäglichen Handeln der Bürger und im Hinblick auf die Ziele der Gesetzgebung differenzierter bewerten zu können, müsste man den Blick also auch darauf richten, auf welche Weise der Gesetzgeber in den Vorworten auf die Volksreligion zurückgreift und diese bei der Überzeugung der Bürger mitwirkt. Vor dem Hintergrund der Generalansprache kann man das Ziel der Vorworte dahingehend bestimmen, dass sie den Bürgern das übergeordnete und allgemeine Ziel von der

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Angleichung an Gott in konkreter Weise veranschaulichen sollen. 22 Bereits ein flüchtiger Blick auf die zahlreichen Vorworte zeigt, dass der Athener zu diesem Zweck vielfältige Mittel einsetzt: Er droht, ermahnt, muntert auf, schüchtert ein, zeigt Nachsicht und Verständnis für die Schwächen der menschlichen Natur – und bisweilen setzt er auch die Volksreligion für seine Zwecke ein, indem er seinen Forderungen z. B. durch Verweise auf Sagen oder religiöse Autoritäten (wie dem Orakel von Delphi) eine normative Kraft zu verleihen sucht. Aufgrund dieser Bandbreite hat sich die Forschung lange Zeit an der Frage aufgerieben, 23 ob die Vorworte die Bürger auf argumentativ-rationale oder manipulativ-emotionale Weise überzeugen sollen. Eingebettet war diese Frage in die größere Debatte, ob in den Nomoi ein ernsthaftes philosophisches Anliegen verfolgt oder nur rhetorische Überrumpelung praktiziert wird. 24 Doch unabhängig von den unterschiedlichen Mitteln, die der Athenische Fremde in den Vorworten zur Anwendung bringt, legt die enge Verbindung von Generalansprache und Vorworten noch einen weiteren Ansatz nahe, um den groß angelegten Versuch, die Bürger von der Sinnhaftigkeit und den Zielen der Gesetzgebung zu überzeugen, besser zu verstehen. Die Gesetzesvorworte sind kompositorisch und strukturell mit der Generalansprache verbunden: Nicht nur findet sich der Exkurs, in dem der Athenische Fremde auf die Erfindung der Vorworte als Instrument seiner Gesetzgebung eingeht, innerhalb dieser Ansprache (Ⅳ 718b5–724b5), 25 sondern die Generalansprache selbst dient als Prototyp dieser Innovation. 26 Wenn man jedoch die wesentliche Aufgabe der Generalansprache darin sieht, der Gesetzgebung einen übergeordneten kulturellen Rahmen zu verleihen, kann man zwischen ihr und den Vorworten eine neue Verbindung herstellen – und zwar indem man untersucht, inwiefern sich die einzelnen Vorworte auf die Ansprache beziehen und sich diesen Rahmen zunutze machen. Während die Ansprache nämlich Werte und Prinzipien vorschreibt, betreffen die Vorworte stets bestimmte Aspekte des alltäglichen Lebens und illustrieren mit konkreten Beispielen die allgemeinen Vorschriften der Ansprache. Im Hinblick auf die Überzeugungskraft der Vorworte ist also entscheidend, dass sie einerseits die Ausführungen der Ansprache voraussetzen und auf ih22 Die Proömien fügen sich damit harmonisch in das Konzept einer philosophischen Rhetorik ein; Morrow (1953, 239; 242) hat als Erster auf diesen Zusammenhang zwischen den Proömien und der platonischen Konzeption einer philosophischen Rhetorik aufmerksam gemacht; s. dazu Kap. IV. 23 Einen guten Überblick zu der kontroversen Interpretation der Vorworte bieten Schöpsdau (2003, 225) und ausführlich Buccioni (2007); in Kap. Ⅳ werde ich ebenfalls dazu Stellung nehmen. 24 Leider hat Görgemanns (1960), dem doch eigentlich daran gelegen war, die philosophischen Aspekte und Bemühungen der Nomoi differenziert zu bewerten, diesen vor allem durch die Arbeit von Müller (1951) in Gang gebrachten Streit eher noch befördert als gehemmt (dazu Hentschke 1971, 265). Einen guten Überblick zu den verschiedenen Einschätzungen der philosophischen Tiefe der Nomoi geben Lisi (2001) und Horn (2013), s. auch die Ausführungen auf S. 69f. 25 Zur Verflechtung von Exkurs und Generalansprache s. ausführlich Görgemanns (1960, 30–49) und Schöpsdau (2003, 225–228). 26 Dieser paradigmatische Charakter der Generalansprache wird allerdings erst durch Äußerungen im Exkurs deutlich (Ⅳ 719a4, Ⅳ 719e4 und Ⅳ 723a4–7). In der Behandlung der Generalansprache in Kap. Ⅲ werde ich dieses Wissen bei der Interpretation daher nicht voraussetzen, sondern der Komposition der Nomoi gemäß erst in Kap. Ⅳ zu den Vorworten berücksichtigen.

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nen aufbauen, diese aber andererseits erweitern und mit konkreten Beispielen veranschaulichen. Durch dieses Wechselverhältnis können die Vorworte dem Bürger den größeren Zusammenhang einer alltäglichen und bedeutungslos scheinenden Handlung vor Augen führen und ihn mit der Frage konfrontieren, ob er mit seiner im Begriff stehenden Handlung den allgemeinen Empfehlungen und Vorgaben entspricht. Die Herausforderung für eine Interpretation der Vorworte besteht also einerseits darin, die spezifischen Methoden zu analysieren, mit Hilfe derer der Gesetzgeber die Bürger überzeugen will, andererseits den übergeordneten Zusammenhang nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Arbeit erprobt einen relativ neuen Ansatz, 27 um dieses komplexe Phänomen besser verstehen zu können: die Neue Institutionenökonomik (NIÖ). 28 Die NIÖ analysiert menschliches Verhalten unter dem Einfluss von Regeln und Sanktionen, wobei zwischen formalen und informellen Regeln unterschieden wird; formelle Regeln sind z. B. Gesetze oder Spielregeln, informelle Regeln etwa Bräuche oder Konventionen, die sich in der Regel ohne aktive Steuerung oder Formalisierung im Lauf der Zeit entwickelt haben. 29 Über diese Unterscheidung hinaus wurde zur weiteren Differenzierung der unterschiedlichen Institutionen ein begriffliches Instrumentarium entwickelt, das auch als Grundlage für die Analyse der Regeln in den Nomoi dienen kann. 30 Schließlich berücksichtigt die NIÖ die Tatsache, dass Institutionen in einem bestimmten Lebensbereich immer eingebettet und abhängig sind von übergeordneten Rahmenbedingungen – insbesondere von kulturellen Bedingungen und Umständen, wie auch die Religion sie darstellt. 31 Die NIÖ bietet damit einen äußerst geeigneten Rahmen an, um nicht nur die Wirkungsweise der Vorworte für sich selbst, sondern auch deren Bezogenheit auf den kulturellen Rahmen besser zu verstehen. Die Anwendung der NIÖ in Bezug auf einige ausgewählte Proömien hilft darüber hinaus dabei, die in der Forschung lange Zeit bestehende Dichotomie zwischen Philosophie und Rhetorik zu entschärfen; entscheidend ist bei dieser Perspektive 27 Für die Altertumswissenschaft hat North (1990) diesen Ansatz als sehr fruchtbar erwiesen und damit den Weg für zahlreiche Nachfolger geebnet. Föllinger (2016) hat den Ansatz der NIÖ zur Grundlage gemacht, um zu einem differenzierteren Verständnis der platonischen Überlegungen zu Wirtschaft und Politik zu gelangen und damit im Bereich der Klassischen Philologie Pionierarbeit geleistet (s. auch Föllinger/Korn 2016). 28 Es gibt mehrere gute Einführungen in die NIÖ; für diejenigen, die mit den Ansätzen und Methoden der Wirtschaftswissenschaften nicht vertraut sind, sind Voigt (2009) und Erlei u. a. (2016) wahrscheinlich die zugänglichsten, da viele andere Einführungen schnell in den Bereich ökonomischer Modellbildung auf Basis mathematischer und statistischer Berechnungen übergehen. Für ein grundsätzliches Verständnis derzeitiger wirtschaftswissenschaftlicher Prämissen sind im Bereich der Ökonomie Kirchgässner (2013) und im Bereich der Politischen Ökonomie Dehling/Schubert (2011) empfehlenswert. 29 Föllinger (2016, 93–109) hat bereits gezeigt, dass auch der Athenische Fremde dieser Unterscheidung zwischen formalen und informellen Regeln große Bedeutung in der Gesetzgebung beimisst, s. S. 82f. zu den „ungeschriebenen Satzungen“. 30 Das begriffliche Instrumentarium zur Differenzierung verschiedener Typen von Institutionen haben Kiwit/Voigt (1995) ausgearbeitet (s. auch Voigt 2009, 28–33). 31 Auf diese Hierarchie der verschiedenen Ebenen von Institutionen werde ich in Kap. Ⅴ näher eingehen.

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nicht die Frage, ob in den Proömien rationale oder emotionale Mittel eingesetzt werden, sondern dass die Bürger die in ihnen enthaltenen Erwägungen internalisieren sollen. Auf welche Weise das geschieht, ist für den Athenischen Fremden nach eigener Auskunft zweitrangig; 32 ihm kommt es vor allem auf den Prozess der Internalisierung an, weil das langfristige Ziel ist, dass die Bürger aus sich selbst heraus das Richtige tun. Die Perspektive der NIÖ erlaubt es, diesen Anspruch und Fokus mit Nachdruck hervorzuheben. Die vorliegende Arbeit möchte nicht nur in literaturwissenschaftlicher und philosophischer Hinsicht ein differenzierteres Verständnis zentraler Aspekte der Nomoi zu Tage fördern und ihren Zusammenhang mit Platons anderen Werken unter Beweis stellen, sondern auch in systematischer Hinsicht den Zugang zu den Nomoi durch eine neue Perspektive erweitern und ihre Anschlussfähigkeit an gegenwärtige Theorien und Diskurse erweisen.

32 Die Zweitrangigkeit der Mittel ergibt sich daraus, dass der Gesetzgeber durch seinen Anspruch auf Erziehung der Bevölkerung in Konkurrenz zu den Dichtern tritt und daher bei der Wahl der Überzeugungsmittel den Dichtern nicht nachstehen darf, s. Kap. IV.

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II. Religion und Theologie in den Nomoi Es liegt auf der Hand und ist folglich mehrmals unterstrichen worden, dass der Athenische Fremde direkt mit dem ersten Wort der Nomoi auf die besondere Rolle der Religion aufmerksam macht (Ⅰ 624a1–2): 1 ϑεὸς ἤ τις ἀνϑρώπων ὑμῖν, ὦ ξένοι, εἴληφε τὴν αἰτίαν τῆς τῶν νόμων διαϑέσεως; 2 Ist es ein Gott oder irgendein Mensch, ihr Gastfreunde, der bei euch als Urheber eurer Gesetzgebung gilt? 3 Doch verdient nicht nur das erste Wort ϑεός („Gott“, theós) besondere Aufmerksamkeit, sondern auch die übrigen Teile dieses ersten Satzes: die zwar naheliegende und dennoch markante Gegenüberstellung zwischen Gott und Mensch sowie die Anordnung der Gesetze. Diese Trias erweist sich angesichts der folgenden Zwölf Bücher und der in ihnen verhandelten Fragen nach der Stellung des Menschen im Kosmos, seinem Verhältnis zu göttlichen Mächten und nach Quelle, Autorität und Beitrag von Gesetzen im Hinblick auf ein glückliches Leben geradezu als Brennspiegel, weil das heikle Spannungsverhältnis von Gott, Mensch und Gesetzgebung stets im Hintergrund steht. Welche Rolle spielt welches Element, und in welchem Verhältnis steht es zu den jeweils anderen? Wer die Nomoi gelesen hat und an den Anfang zurückkehrt, kann die emphatische Antwort von Kleinias als sehr kurz gefasste Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis lesen: Mit Nachdruck setzt auch er Gott an den Anfang seiner Erwiderung und nennt ihn nach einem Vokativ direkt noch einmal (Ⅰ 624a3), als ob er damit bestätigend andeuten wollte, dass Gott in diesem Werk tatsächlich eine besondere Bedeutung zukommt. Die Religion spielt in unterschiedlicher Hinsicht eine besondere Rolle in den Nomoi. Zum einen finden sich komplexe theologische Erörterungen, die im Kern aus dem Zehnten Buch bestehen, in dem der Athenische Fremde mit teilweise komplexen Argumenten zu beweisen versucht, dass es Götter gibt, diese unbestechlich sind und für die Menschen 1 Bei Young (2016, 1, Anm. 1) findet sich eine umfangreiche Auflistung mit Verweisen auf die Literatur. Lavecchia äußert sich besonders pointiert dazu (2006, 158): „La prima parola del dialogo […] rispecchia la cifra e il nucleo delle Leggi.“; vgl. auch Friedländer (1960, 362), Trampedach (1994, 225) und Schofield (2006, 283 und 310). 2 Der griechische Text folgt der Ausgabe von John Burnet, Oxford 1955 (unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. 1907). 3 Die Übersetzungen sind von Klaus Schöpsdau aus der von Gunther Eigler herausgegebenen PlatonAusgabe (2005); dort hat sich Schöpsdau eine „schlichte und möglichst exakte Wiedergabe des Platonischen Originals“ zum Ziel gesetzt (IX), wohingegen bei der sogenannten Akademie-Ausgabe die Lesbarkeit im Zentrum steht (Schöpsdau 1994, 5).

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sorgen. Zum anderen spielt aber auch die Volksreligion eine erstaunlich große Rolle. 4 Die Forschung zur Volksreligion in den Nomoi hat sich bisher vor allem folgenden Aspekten gewidmet: Was ist das historische Vorbild für die religiösen Vorschriften in den Nomoi, auf welche Weise geht der Athenische Fremde über diese Konventionen hinaus und inwiefern hat Platon als Philosoph versucht, die Volksreligion von den als schädlich kritisierten Aspekten zu befreien und sie seinen eigenen Vorstellungen einer philosophisch fundierten Volksreligion anzugleichen? 5 Die wichtigsten Arbeiten zu diesen und verwandten Fragen kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Als Gesetzgeber habe sich Platon 6 zwar notwendigerweise an bekannte Formen der religiösen Verehrung anschließen müssen, 7 aber keineswegs nur deshalb, weil er aufgrund der alltagsbestimmenden Bedeutung der Polis-Religion gar keine andere Möglichkeit gehabt hätte. Aufgrund der Schwächung der konventionellen Polis-Religion im 4. Jh. hätte er sogar darauf bauen können, dass sie von ganz alleine verschwindet. 8 Er habe sich also ganz bewusst dafür entschieden sie beizubehalten, allerdings mit dem Ziel, sie von den schädlichen Aspekten zu „reinigen“ 9 und ihre in seinen Augen wesentlichen Ziele mit seinen philosophischen Zielen zu verbinden: 10 The religion of Plato’s state is the religion of his people, as seen through the eyes of a philosopher capable of penetrating below its attendant mythology, and its sometimes archaic rites and customs, to the profound and benificent sentiments that supported it. (Morrow 1960, 469) Zum einen orientiere sich der Gesetzgeber also in einem sehr großen Ausmaß an der vor allem athenischen Tradition und Konvention, wenn es um die religiösen Vorschriften 4 Zu den wesentlichen Aspekten der Volksreligion s. S. 2 mit Anm. 6 mit Hinweisen zur Begriffsverwendung und Verweisen auf die Literatur. Auf den S. 46–53 diskutiere ich ausführlich die Ausprägung und den Stellenwert der Volksreligion in den Nomoi. 5 Mit den historischen Vorbildern haben sich vor allem Reverdin (1954) und Morrow (1960) beschäftigt. Sowohl Dodds (1951) als auch Morrow (1960) sind der Frage nachgegangen, auf welche Weise Platon die Polis-Religion transformiert habe. Young (2016) übernimmt diesen Ansatz und führt ihn fort (s. das Zitat unten in Anm. 10). 6 In der Einführung (S. 3) habe ich auf die hermeneutischen Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, die mit der Gleichsetzung von Athenischem Fremden und Platon einhergehen. 7 Morrow 1960, 444. 8 Morrow 1960, 495. 9 Bei den Beschreibungen, auf welche Weise Platon die Polis-Religion reformiert habe, findet sich diese Terminologie relativ häufig, s. z. B. Morrow 1960, 400: „It is not a new religion that Plato proposes for his state, but the old religion, purified of its unwitting errors, and illuminated by a more penetrating conception of the meaning of religious worship.“ Vgl. auch Nilsson (1950, 6), Sharafat (1998, 150) und Dodds (1951, 219). 10 Bündig hierzu Sharafat (1998, 133): „Wo Platon allerdings Elemente der Volksreligion übernimmt, füllt er die alten Formen mit dem neuen Inhalt platonischer Werte.“ Vgl. Young (2016, 161): „In the Laws, Plato does not repudiate traditional Greek religion as a whole, but rather carefully selects and adapts traditional elements so as to preserve the semblance of conventional cult practice, even as he seeks to radically transform its basic theological tenets in order to bring it more in line with his own theology of νοῦς.“

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und Praktiken geht. Zum anderen sei aber der Anspruch und der Wunsch nach Reinigung und Reformation der Polis-Religion an vielen Aspekten zu beobachten. In der Forschung gibt es unterschiedliche Gewichtungen, welche Elemente der Religion in Magnesia die stärksten Anzeichen dieses Reformwillens aufweisen. Die prominente Einschätzung von Dodds verläuft auf zwei Ebenen. Auf übergeordneter Ebene macht Dodds vier Prinzipien aus, nach denen Platon sich bei der Reformation der Religion gerichtet habe und die für eine gänzlich neuartige Religion sprächen. 11 Neben dem Asebie-Gesetz (1), das die logische Begründung wichtiger Grundannahmen der Religion liefert, der Gesetzgebung (2), die diese Grundannahmen im Gesetz verankert, und der Erziehung (3), die diese Grundannahmen als vorgeschriebene Unterrichtsinhalte vermittelt, nimmt er als viertes Element den sozialen Aspekt der Religion in den Blick: He [Plato, LN] would give it [religious faith, LN] a social foundation by promoting an intimate union of religious and civic life at all levels as we should phrase it, a union of Church and State. (Dodds 1951, 219) Unabhängig von der Frage, ob Dodds mit seiner Formulierung falsche Vorstellungen auf die antike Lebenswelt projiziert, hat dieser Aspekt zweifelsohne den stärksten Bezugspunkt zur herkömmlichen Polis-Religion. Die entscheidende platonische Ergänzung sei die zum Kult erhobene Verehrung der Himmelskörper, die in dem gemeinsamen Kult von Apollon und Helios ihren Ausdruck finde. 12 Diese Verbindung zeuge vom Wunsch, die alte Polis-Religion mit einem philosophischen Fundament zu versehen und dadurch die Trennung zwischen gewöhnlichem Volk und den Philosophen aufzuheben: This joint cult – in place of the expected cult of Zeus – expresses the union of old and new, Apollo standing for the traditionalism of the masses, and Helios for the new „natural religion“ of the philosophers; it is Plato’s last desperate attempt to build a bridge between the intellectuals and the people, and thereby save the unity of Greek belief and of Greek culture. (Dodds 1951, 221) Nach Meinung von Dodds erklärt die Ausrichtung am gewöhnlichen Bürger das breite religiöse Spektrum in den Nomoi am besten: Mit der Übernahme und Reform der PolisReligion spreche Platon den gewöhnlichen Bürger an, und die Verehrung der Gestirne schlage die Brücke zu den Philosophen, die eine abstraktere Frömmigkeit entwickelt haben und mit den Polis-Göttern als verehrungswürdigen Gestalten nichts anfangen können. Schöpsdau hat unterstrichen, dass sich diese Formen der Frömmigkeit nicht ausschließen, sondern einander ergänzen und einen fließenden Übergang ermöglichen: Dieser traditionelle Kult wird durch die Theologie des 10. Buches nicht entwertet, sondern wird in einen größeren Zusammenhang gestellt, der von den traditionellen 11 Dodds 1951, 219. 12 Zur Bedeutung des Apollon-Helios-Kult s. auch Morrow (1960, 447) und Young (2016, 155).

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Göttern über die Gestirngötter bis zur Vernunft (νοῦς) als der obersten Gottheit emporreicht, die die Ursache des Guten und der kosmischen Ordnung ist […]. Dem abstrakteren Gottesbegriff entspricht eine sublimere Frömmigkeit. (Schöpsdau 2011, 372) Der angesprochene größere Zusammenhang ist die Tatsache, dass das Asebie-Gesetz und die übrigen religiösen Vorschriften nicht losgelöst vom alltäglichen Leben sind, sondern eine Komponente beinhalten und stark machen, die in der gewöhnlichen Polis-Religion eine höchst untergeordnete Rolle gespielt hat: Die der Moral und richtigen Lebensführung. 13 Auf diese moralische Komponente führt Schöpsdau den spezifisch platonischen Ansatz zur Integration der reformierten Polis-Religion in die Gesetzgebung Magnesias zurück: Die naheliegende Begründung, daß Magnesia wie jede klassische Polis nicht nur eine politische, sondern auch eine kultische Gemeinschaft bildet, die für die Asebievergehen ihrer Mitglieder mitbüßt (910b6), bleibt hinter dem spezifisch platonischen Ansatz zurück, der einen tieferen Zusammenhang zwischen Götterglauben, Moral, Glück und Gesetzgebung, herstellt […]. (Schöpsdau 2011, 369) Für diesen Zusammenhang sei die Bestimmung der Götter nach platonischen Kriterien essentiell: Götter sind ausschließlich Ursprung des Guten, sind unwandelbar und sorgen sich um die Menschen. 14 Die Götter sind damit nicht mehr wie früher nur graduell von den Menschen unterschiedene Wesen, die sich zwar durch Kraft, Schönheit und Glück vor den Menschen auszeichneten, aber nichtsdestoweniger handfeste Defizite hatten. 15 Sie sind kategorisch anderer, besserer Natur und eignen sich dadurch als Maßstab und Vorbild. Dadurch verschiebt sich die Art und Weise fundamental, in der sich Menschen den Göttern zuwenden: Die Frömmigkeit besteht nicht mehr im formellen Erfüllen religiöser Riten oder gar in magischen Praktiken, sondern ist eine moralische und intellektuelle Haltung. Wer die Götter in der rechten Weise ehren will, muß ihnen durch ein gerechtes und besonnenes, von der Vernunft gesteuertes Leben ähnlich zu werden trachten. (Schöpsdau 2011, 372) 13 S. z. B. Most 2003, 309: „The religions of Greece and Rome, in contrast, did certainly prescribe in considerable detail the ritual rules according to which piety to the gods, the heroes and the dead was to be expressed, but left radically underdetermined the question of the proper modes of moral behaviour. Indeed, in the traditional myths they provided examples of divine conduct which no human could take as a model without disastrous consequences […].“ 14 Diese Kriterien werden im Zweiten Buch der Politeia anhand der Frage entwickelt, wie die Dichter Gott in ihren Werken darstellen müssen (Resp. Ⅱ 379a5–383c7); s. dazu ausführlich Bordt (2006, 95–144). 15 Dazu gehören vor allem die Abhängigkeit von Opfergaben und die Empfindlichkeit gegenüber Kränkungen, Beleidigungen oder Vernachlässigung (Most 2003, 302).

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Auch Morrow hat auf diese Wende und ihre Bedeutung aufmerksam gemacht; die Beibehaltung der rituellen Handlungen entpuppt sich vor diesem Hintergrund als eine formelle Hommage: But into this time-honored ritual he [Plato, LN] intends to infuse a deeper conception of the meaning of worship, not as an exchange of services between gods and men, but as fellowship in which the human worshipper models himself after the divinity he worships. In becoming like God the worshipper is rendering his greatest homage. (Morrow 1960, 469) Doch obwohl Morrow und Schöpsdau in der Angleichung an Gott das wesentliche Element der Aus- und Stoßrichtung der Religion in den Nomoi gesehen haben – immerhin das Zentrum des moralischen Aspekts der Religion und Ursache für den tieferen Zusammenhang –, haben weder sie noch andere Forscher mit ähnlichen Positionen die in diesem Zusammenhang entscheidende Generalansprache ausreichend berücksichtigt und geprüft, ob sich ihre Thesen mit dieser wichtigen Passage in Einklang bringen lassen. So überzeugend die Argumente der These auf den ersten Blick scheinen, wonach Platon der alltäglichen Religiosität ein philosophisches Fundament zu verleihen versucht habe, kann sie – abgesehen von hermeneutischen Problemen – aufgrund einer mangelnden Überprüfung am konkreten Text nur den Status einer Behauptung beanspruchen. Bevor wir uns der Generalansprache im Detail widmen, wollen wir nach einem kurzen Blick auf die entsprechende Passage erst ihren weiteren Kontext beleuchten und vor diesem Hintergrund auf die Bedeutung der Ansprache im Hinblick auf die Religion eingehen.

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III. Die Generalansprache

III.1 Der Kontext der Generalansprache Nachdem sich der Athenische Fremde in den ersten drei Büchern mit Kleinias und Megillos – dem Lakedaimonier und dritten Gesprächspartner – über einige wesentliche Aspekte der Gesetzgebung verständigt hat, wendet er sich am Ende des Vierten Buchs das erste Mal in einer Ansprache an die Siedler, die er in Gedanken vor sich versammelt. 1 In dieser Ansprache will er die Bürger der neuen Kolonie mit den in Magnesia geltenden Werten vertraut machen. Von fundamentaler Bedeutung ist die transzendentale Orientierung der Gesetzgebung: Allem übergeordnet ist der Gott (Ⅳ 715e7–716a2). Die Ansprache kulminiert in der Aufforderung, sich Gott anzugleichen: Wer glücklich sein wolle, müsse sich Gott als dem Maß aller Dinge (Ⅳ 716c4–5) angleichen und dadurch selbst maßvoll und besonnen werden (Ⅳ 716c6–d4). Die Angleichung an Gott ist ein Motiv, das sich in ähnlicher Form bereits in der frühgriechischen Literatur findet 2 und in den platonischen Dialogen eine zentrale Rolle spielt 3 – dort allerdings immer im Zusammenhang mit der Ideentheorie oder dem Bild des wahren Philosophen. 4 An diesen Stellen wird nahegelegt, dass die Angleichung an Gott das höchste Ziel der Philosophie ist; trotz einzelner

1 Die Ansprache wird von einem Exkurs unterbrochen und hat daher zwei Teile; der erste reicht von Ⅳ 715e7–718a6, der zweite von Ⅴ 726a1–734e2. 2 Die Geschichte des Motivs und die platonische Anverwandlung hat Roloff (1970) untersucht. Die entscheidende platonische Modifikation ist die Verknüpfung des Motivs mit der Tugend, wodurch die Angleichung an Gott – früher seltenes Geschenk der Götter und aus eigener Kraft unerreichbar – nicht nur eine Möglichkeit, sondern sogar zur Aufgabe für jeden wird. 3 Die loci classici sind Symp. 207e–209e; Theait. 176b–c; Resp. 611d–e; Phaid. 81a–84b; Phaidr. 245c–249a; Tim. 41d–47c, 90a–d. 4 Viele Beiträge zur Angleichung an Gott konzentrieren sich auf die genannten Passagen und berücksichtigen die Nomoi nicht oder erwähnen sie nur am Rande, z. B. Sedley (1999) und Pradeau (2012). Merkwürdig ist allerdings, dass auch einige Beiträge, die sich mit der Angleichung an Gott im Mittel- und Neuplatonismus befassen, auf die Stelle in den Nomoi überhaupt nicht eingehen (Gerson 2004, Baltzly 2004, Tarrant 2007), obwohl sie zu jener Zeit eine der am meisten zitierten Stellen aus den Nomoi war (dazu Dillon 2001, 246–248). Wo die Stelle berücksichtigt wird, ist sie zum Teil erstaunlichen Vorurteilen ausgesetzt; das eindrücklichste Beispiel stammt ausgerechnet von Julia Annas, die zwar eine ausgezeichnete Kennerin der Thematik ist, aber die literarische Dimension der Nomoi überhaupt nicht berücksichtigt und daher zu einer oberflächlichen Abqualifizierung der entsprechenden Passage gelangt (Annas 1999, 58): „There is much that is disappointing about this passage.“

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Die Generalansprache

Schwerpunktsetzungen kann man die Deutungen dahingehend zusammenfassen, dass die Angleichung an Gott den Kern und das Ziel platonischer Philosophie darstelle: 5 Die Transzendierung des Menschlichen bzw. die ὁμοίωσις ϑεῷ erweist sich als das sinntragende τέλος, dem sich die ethische sowie die erkenntnismäßige Dimension des platonischen Philosophiebegriffs zuwenden. (Lavecchia 2005, 328) Allerdings ist es problematisch, dieses Verständnis von der Angleichung an Gott kurzerhand auf die Nomoi anzuwenden. In den Nomoi stehen nämlich nicht der Philosoph, sondern der normale, philosophisch nicht interessierte Bürger und dessen Erziehung im Fokus 6 – und an diesen richtet der Athenische Fremde seine Ansprache. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass sich die vorliegende Stelle mit den Passagen aus den anderen Dialogen ohne Weiteres in Einklang bringen lässt. Darüber hinaus lässt der Athenische Fremde dem Motiv von der Angleichung an Gott die Behauptung folgen, dass der beste Weg, ein glückliches Leben zu erreichen, der Umgang mit den Göttern in Form traditioneller Kulthandlungen darstelle (Ⅳ 716d4–e2), sodass platonische Philosophie und Polis-Religion auf engstem Raum aufeinandertreffen. Doch obwohl die Ansprache von fundamentaler Bedeutung für die Gesetzgebung ist und gerade im Hinblick auf die Rolle der Polis-Religion einigen Aufschluss geben könnte, ist die Rede bisher nicht umfassend untersucht worden: 7 Entweder werden die Nomoi nicht als eigenständiger Dialog mit einem spezifischen Darstellungsziel anerkannt, oder die Stelle wird nicht als Teil eines komplexen Gefüges, sondern isoliert betrachtet, sodass Hinweise für die Deutung durch den Kontext ignoriert werden; oder der performative Charakter der Ansprache wird nicht in der Deutung berücksichtigt, sodass gar nicht in Frage gestellt wird, ob der Athenische Fremde seine Ausführungen womöglich von seinem Publikum abhängig macht und unter der Oberfläche etwas anderes meint als der Wortlaut suggeriert. Im Folgenden soll die Stelle daher unter Berücksichtigung ihrer literarischen Aspekte gedeutet werden. 8 Zu diesen Aspekten gehört insbesondere der Kontext: Die Ansprache steht nicht für sich allein, sondern hängt von den Überlegungen der vorhergehenden Bücher ab und nimmt auf diese Bezug. In diesem Fall reicht der Bezug bis ins Erste Buch zurück: Die Ansprache folgt unmittelbar auf den Kronos-Mythos im Vierten Buch, der wiederum aus der Diskussion 5 In der Platon-Forschung des 20. Jh. ist das von wenigen Ausnahmen abgesehen völlig in Vergessenheit geraten; Sedley (1999) und Annas (1999) kommt das Verdienst zu, diese in der antiken PlatonRezeption völlig selbstverständliche Position in Erinnerung gerufen zu haben. 6 Das deutlichste Indiz dafür ist die Diskussion um die Zusammensetzung der Bevölkerung; implizit ist es durch den gesamten Zuschnitt der Gesetzgebung offenkundig. Jaeger (1959, 324) nennt es gerade einen „Hauptreiz“ der Nomoi, dass sie die Elementarbildung der breiten Bevölkerung in den Blick nehmen. Einzig die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung (Ⅻ 968a7) zeichnen sich durch eine höhere und philosophische Bildung aus, vgl. Anm. 39 auf S. 34. Weitere Diskussionen um die dialoginternen Adressaten bei Görgemanns (1960, 69–71), Yunis (1996, 216) und Young (2016, 41–50). 7 Die Ausnahme ist Young (2016), der alle genannten Aspekte bei seiner Interpretation berücksichtigt und daher in den späteren Ausführungen häufiger Bezugspunkt sein wird. 8 Zu den hermeneutischen Prinzipien der Arbeit s. S. 3f.

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Der Kontext der Generalansprache

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über die künftige Verfassung im Dritten Buch hervorgegangen ist, in der wiederholt auf Diskussionen im Ersten Buch zurückgegriffen wird. Im Folgenden werden wir diesen Weg nachzeichnen und damit die Grundlage für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Generalansprache legen.

III.1.1 Der Untergang von Argos und Messene Im Dritten Buch widmet sich der Athenische Fremde im Rahmen einer historischen Erörterung über den Ursprung, Erhalt und Verfall von Staaten der Frage, welche Verfassung die neue Kolonie haben solle. Obwohl die Voraussetzungen für ein langes Bestehen der drei größten und bedeutendsten Königreiche der Vergangenheit Argos, Messene und Sparta durchaus günstig gewesen seien, sind Argos und Messene untergegangen; der Athenische Fremde und die Gesprächspartner sind sich darin einig, dass die Kenntnis der Ursachen davon für den Entwurf neuer Gesetze oder Verfassungen sehr hilfreich sein dürfte (Ⅲ 686b6–c3, Ⅲ 702a7–b1). Der Athenische Fremde beginnt seine Diagnose mit der Bemerkung, dass der Untergang zumindest nicht auf mangelnde militärische Stärke zurückzuführen sei – im Gegenteil: Angesichts der vereinten Heeresmacht dreier Königreiche hätte man meinen können, dass den Hellenen ein hervorragendes Gut zugefallen wäre, das die Basis für einen glücklichen Fortbestand und viele bewundernswerte Taten hätte darstellen können (Ⅲ 686c7–e1). Mit einer solchen Heeresmacht hätten sie mit Leichtigkeit ihre eigene Freiheit erhalten und über alle anderen Menschen herrschen können, ja sie hätten nach Belieben tun und lassen können, was immer ihnen in den Sinn gekommen wäre (Ⅲ 687a2–b2). Mit dieser Bemerkung setzt der Athenische Fremde seine Kritik aus dem Ersten Buch fort, die er selbst in Ⅲ 688a1–b4 zusammenfasst: Die Einrichtungen des Gesetzes und der Verfassung dürften nicht einseitig auf den Krieg ausgerichtet sein, weil das zur Folge hätte, dass nur eine einzige und nicht alle vier Tugenden gefördert würden. Die Erinnerung daran ist im aktuellen Zusammenhang deshalb wichtig, weil die Diskussion im Ersten Buch die Perspektive vorgibt, aus der auch der Untergang von Argos und Messene in den Blick genommen werden muss: Der Untergang sei nicht unzureichender Tapferkeit oder mangelnder Beherrschung des Kriegshandwerks zuzuschreiben, sondern der Unwissenheit der Könige in den wichtigsten menschlichen Angelegenheiten (Ⅲ 688c2–d1). Um welche Unwissenheit es sich dabei handelt, erklärt der Athenische Fremde kurz darauf selbst (Ⅲ 689a5–c3): τὴν ὅταν τῴ τι δόξαν καλὸν ἢ ἀγαϑὸν εἶναι μὴ φιλῇ τοῦτο ἀλλὰ μισῇ, τὸ δὲ πονηρὸν καὶ ἄδικον δοκοῦν εἶναι φιλῇ τε καὶ ἀσπάζηται. ταύτην τὴν διαφωνίαν λύπης τε καὶ ἡδονῆς πρὸς τὴν κατὰ λόγον δόξαν ἀμαϑίαν φημὶ εἶναι τὴν ἐσχάτην, μεγίστην δέ, ὅτι τοῦ πλήϑους ἐστὶ τῆς ψυχῆς: τὸ γὰρ λυπούμενον καὶ ἡδόμενον αὐτῆς ὅπερ δῆμός τε καὶ πλῆϑος πόλεώς ἐστιν. ὅταν οὖν ἐπιστήμαις ἢ δόξαις ἢ λόγῳ ἐναντιῶται, τοῖς φύσει ἀρχικοῖς, ἡ ψυχή, τοῦτο ἄνοιαν προσαγορεύω, πόλεώς τε, ὅταν ἄρχουσιν καὶ νόμοις

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Die Generalansprache

μὴ πείϑηται τὸ πλῆϑος, ταὐτόν, καὶ δὴ καὶ ἑνὸς ἀνδρός, ὁπόταν καλοὶ ἐν ψυχῇ λόγοι ἐνόντες μηδὲν ποιῶσιν πλέον ἀλλὰ δὴ τούτοις πᾶν τοὐναντίον, ταύτας πάσας ἀμαϑίας τὰς πλημμελεστάτας ἔγωγ᾽ ἂν ϑείην πόλεώς τε καὶ ἑνὸς ἑκάστου τῶν πολιτῶν, ἀλλ᾽ οὐ τὰς τῶν δημιουργῶν, εἰ ἄρα μου καταμανϑάνετε, ὦ ξένοι, ὃ λέγω. Wenn einer etwas, obwohl es ihm schön oder gut scheint, nicht liebt, sondern haßt, das aber, was ihm schlecht und ungerecht erscheint, liebt und werthält, so nenne ich diesen Mißklang zwischen Schmerz oder Lust und der vernunftgemäßen Meinung die äußerste Unwissenheit und zugleich die größte, weil sie die Hauptmasse der Seele betrifft; denn der Teil von ihr, der Schmerz und Lust empfindet, entspricht dem Volke und der großen Masse im Staat. Wenn sich also die Seele dem Wissen oder den Meinungen oder der Vernunft widersetzt, die von Natur zur Herrschaft berufen sind, so nenne ich das Unvernunft; ebenso beim Staat, wenn die große Masse den Herrschenden und den Gesetzen nicht gehorcht; und so auch bei einem einzelnen Menschen, wenn die seiner Seele innewohnenden schönen Grundsätze nichts weiter ausrichten, sondern gerade das Gegenteil davon bewirken: alle diese Arten von Unwissenheit möchte ich als den schrillsten Mißklang betrachten, sowohl beim Staat wie bei jedem einzelnen seiner Bürger, nicht aber die der Handwerker, wenn ihr begreift, meine Freunde, was ich damit sagen will. Mit dieser Bestimmung der Unwissenheit werden wir erneut an die Diskussion erinnert, die das Erste Buch bestimmt hat: Bereits zu Beginn hatte der Athenische Fremde festgehalten, dass eine Betrachtung von Gesetzen im Kern eine Betrachtung der Lust- und Schmerzgefühle darstellt (Ⅰ 636d5–e3): […] νόμων δὲ πέρι διασκοπουμένων ἀνϑρώπων ὀλίγου πᾶσά ἐστιν ἡ σκέψις περί τε τὰς ἡδονὰς καὶ τὰς λύπας ἔν τε πόλεσιν καὶ ἐν ἰδίοις ἤϑεσιν: δύο γὰρ αὗται πηγαὶ μεϑεῖνται φύσει ῥεῖν, ὧν ὁ μὲν ἀρυτόμενος ὅϑεν τε δεῖ καὶ ὁπότε καὶ ὁπόσον εὐδαιμονεῖ, καὶ πόλις ὁμοίως καὶ ἰδιώτης καὶ ζῷον ἅπαν, ὁ δ᾽ ἀνεπιστημόνως ἅμα καὶ ἐκτὸς τῶν καιρῶν τἀναντία ἂν ἐκείνῳ ζῴη. Wenn Menschen aber über Gesetze eine Untersuchung anstellen, dann gilt fast die ganze Untersuchung den Lust- und Schmerzgefühlen in den Staaten wie in den Gemütern der einzelnen. Denn diese beiden Quellen läßt die Natur frei dahinströmen, und wer aus ihnen schöpft, wo und wann und soviel sich gehört, der ist glücklich, und zwar ein Staat ebenso wie ein einzelner Mensch und überhaupt jedes Lebewesen; wer das aber ohne Verstand und zur unrechten Zeit tut, dem dürfte wohl ein jenem entgegengesetztes Leben beschieden sein. Entscheidend an dieser Äußerung ist vor allem der implizite Hinweis auf die Notwendigkeit eines Maßes: Von Natur aus flössen diese beiden Quellen frei dahin, doch Glück sei nur demjenigen beschieden, der seine Lust- und Schmerzgefühle zu regulieren wisse. Im Verlauf des Ersten Buchs gibt sich der Athenische Fremde beachtliche Mühe, gegen die

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tapferkeitsfixierten Kleinias und Megillos die Bedeutung der Besonnenheit zu unterstreichen. Vor allem die Illustration der Formulierung „sich selbst beherrschen“ 9 durch das Marionettengleichnis (Ⅰ 644c1–645c6) soll verdeutlichen, dass jeder Mensch in seinem Handeln zwar stärker von seinen Lust- und Schmerzgefühlen bestimmt werde, ihm als Korrektiv aber der Logismos (die vernünftige Überlegung) gegeben sei, der als herrschende Instanz darüber entscheiden soll, welchen emotionalen Regungen nachzugeben dem Menschen erlaubt ist (Ⅰ 644d1–2) – und zwar im Hinblick auf die Tugend (Ⅰ 644e1–4). 10 Tugendhaftes Handeln bemisst sich demzufolge nach unserem Umgang mit unseren Lustund Schmerzgefühlen, denen der Logismos das Maß vorgeben soll. Wenn das Ergebnis dieser Reflexion zur gemeinsamen Überzeugung aller geworden sei, nenne man es Gesetz (Ⅰ 644d2–3) – womit der zugrunde liegende Anspruch der Gesetzgebung deutlich wird, dass das Gesetz nur maßvolle und damit tugendhafte Handlungen vorschreibt und maßlose Handlungen untersagt. Dieser Zusammenhang wird nun auch in der weiteren Diskussion um den Untergang von Argos und Messene hergestellt (Ⅲ 691a3–8): οὐκοῦν δῆλον ὡς πρῶτον τοῦτο οἱ τότε βασιλῆς ἔσχον, τὸ πλεονεκτεῖν τῶν τεϑέντων νόμων, καὶ ὃ λόγῳ τε καὶ ὅρκῳ ἐπῄνεσαν, οὐ συνεφώνησαν αὑτοῖς, ἀλλὰ ἡ διαφωνία, ὡς ἡμεῖς φαμεν, οὖσα ἀμαϑία μεγίστη, δοκοῦσα δὲ σοφία, πάντ᾽ ἐκεῖνα διὰ πλημμέλειαν καὶ ἀμουσίαν τὴν πικρὰν διέφϑειρεν; Ist es nun nicht klar, daß zuerst die damaligen Könige von dieser Krankheit befallen wurden, mehr zu verlangen, als die aufgestellten Gesetze erlaubten, und daß sie in dem, was sie durch Wort und Eid gutgeheißen hatten, nicht mit sich selbst übereinstimmten, sondern daß dieser Mißklang, der unserer Behauptung zufolge die größte Unwissenheit ist, aber für Weisheit gilt, jenes alles durch falsche Töne und schrille Dissonanz zugrunde gerichtet hat? Der Untergang von Messene und Argos ist also laut dem Athener auf die Unwissenheit der Könige zurückzuführen. 11 Diese Unwissenheit besteht darin, dass in den Seelen der 9 Diese aus der Politeia bekannte Formulierung bereitet der Athener bereits Ⅰ 626d1–2 vor; Kleinias präzisiert sie Ⅰ 626e2–4, bevor sie Ⅰ 644b6–7 als Ausgangspunkt für das Marionettengleichnis fungiert. Die Terminologie erinnert stark an die Behandlung der Besonnenheit in der Politeia (Ⅳ 430e6–9, Ⅳ 430e11–431b2; vgl. außerdem Ⅹ 603e3–604d11, wo Sokrates an einem Vater, der seinen Sohn verloren hat, eine maßvolle Reaktion illustriert). 10 Das Marionettengleichnis wird in der Forschung oftmals als Illustration einer akratischen Handlung verstanden, d. h. einer „unbeherrschten“ Handlung wider besseres Wissen: Jemand isst auch ein zweites Kuchenstück, obwohl er weiß, dass er es nicht tun sollte. Eine gute Übersicht zur Forschung gibt Wilburn (2012, 25f.); aufgrund der kompositorischen Stellung des Gleichnisses (dazu Schöpsdau 1986, 120) und der deutlichen Parallelen zur Diskussion der Besonnenheit in der Politeia (s. vorherige Anm.) glaube ich jedoch mit Wilburn (2012, 26), dass das Gleichnis „a much broader notion of selfrule (or lack of self-rule) as a state or condition of the soul“ illustriert (vgl. auch Mesch 2005). 11 Laut Schöpsdau ist die Analyse des Atheners in dem Bemühen um eine möglichst paradigmatische Darstellung sowohl im Hinblick auf die historischen Vorgänge als auch deren Ursachen „reichlich

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Die Generalansprache

Könige ein Missklang zwischen Affekten und Vernunft vorgelegen hat; konkret äußerte sich diese Unwissenheit darin, dass sie sich nicht an ihre eigenen Eide gehalten haben und die aufgestellten Gesetze gebrochen haben. Die Könige haben sich also mangelhafter Selbstbeherrschung schuldig gemacht, weil sie nicht der Vernunft, sondern ihren Affekten gefolgt sind. Das ist aber wiederum nicht verwunderlich, wie der Athenische Fremde kurz darauf selbst festhält (Ⅲ 691c5–d5): τί οὖν δή ποτε λέγομεν; ἆρά γε τὸ τοιόνδε, ὡς οὐκ ἔστ᾽, ὦ φίλοι ἄνδρες, ϑνητῆς ψυχῆς φύσις ἥτις ποτὲ δυνήσεται τὴν μεγίστην ἐν ἀνϑρώποις ἀρχὴν φέρειν νέα καὶ ἀνυπεύϑυνος, ὥστε μὴ τῆς μεγίστης νόσου ἀνοίας πληρωϑεῖσα αὑτῆς τὴν διάνοιαν, μῖσος ἔχειν πρὸς τῶν ἐγγύτατα φίλων, ὃ γενόμενον ταχὺ διέφϑειρεν αὐτὴν καὶ πᾶσαν τὴν δύναμιν ἠφάνισεν αὐτῆς; τοῦτ᾽ οὖν εὐλαβηϑῆναι γνόντας τὸ μέτριον μεγάλων νομοϑετῶν. Was meinen wir nun eigentlich damit? Doch wohl dies, ihr Freunde: daß keine sterbliche Seele eine solche Natur besitzt, daß sie fähig wäre, solange sie noch jung und keiner Verantwortung unterworfen ist, die höchste Herrscherstellung unter den Menschen zu ertragen, ohne in ihrem Denken von der größten Krankheit, der Unvernunft, durchdrungen zu werden und sich dadurch den Haß der nächsten Freunde zuzuziehen, was, einmal geschehen, sie sogleich zugrunde richtet und ihre ganze Macht dahinschwinden läßt. Dies durch Erkenntnis des rechten Maßes zu verhüten ist die Aufgabe großer Gesetzgeber. Das Machtstreben der damaligen Könige konnte deshalb ein solches Ausmaß annehmen, weil sie keinem Korrektiv unterworfen waren, sondern tun und lassen konnten, was sie wollten. Direkt im Anschluss zeigt der Athener am dritten und letzten Beispiel – worauf wir gleich noch zu sprechen kommen –, dass Sparta als einziges Königreich seine Macht erhalten konnte, weil seine Verfassung über genau diese Eigenschaften verfügte. Nicht nur die mehr theoretische Diskussion über den Stellenwert der Selbstbeherrschung im Ersten Buch, sondern auch die Überprüfung der dort gefundenen Erkenntnisse an den empirischen Tatsachen im Dritten Buch zeigt, dass der Erhalt eines Gemeinwesens nur dann möglich ist, wenn vor allem die Herrscher alle Tugenden ausbilden und ihnen gemäß handeln. Von besonderem Wert ist aber die Tugend der Besonnenheit, weil gerade sie den richtigen Umgang mit den Lust- und Schmerzgefühlen gewährleistet und die Harmonie zwischen Affekten und Vernunft herstellt. Erst in der eben zitierten Passage spricht der Athenischer Fremde mit aller Deutlichkeit aus, was sich bis zu diesem Zeitpunkt durch den Verweis auf die Diskussion um die Selbstbeherrschung im Ersten Buch

vage“ (1994, 394). Zum mutmaßlichen historischen Hintergrund s. Morrow (1960, 63–74) und Schöpsdau (1994, 394–397).

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nur indirekt gezeigt hat: 12 Das Wissen, das diese Harmonie gewähren kann und soll, ist das Wissen vom richtigen Maß im Umgang mit den Lust- und Schmerzgefühlen. Mit der Erkenntnis, dass die damaligen Könige von Argos und Messene dieses Wissen nicht hatten und damit den Untergang ihrer Königreiche herbeigeführt haben, ist das Ziel der historischen Betrachtung erreicht. Mit dem Wissen um die Ursachen des Niedergangs kann ein Gesetzgeber eine Verfassung so gestalten, 13 dass sie insbesondere den Herrschern Schranken auferlegt und ihnen ein Maß vermittelt (Ⅲ 691d4–5). Vom philosophischen Gesichtspunkt aus mag diese Untersuchung ein wenig enttäuschend sein, weil der Athenische Fremde keine neuen Argumente vorbringt, sondern seine These aus dem Ersten Buch lediglich geringfügig erweitert: Die Forderung, dass eine Verfassung die gesamte Tugend bei den Bürgern fördern müsse, wird um die Voraussetzung ergänzt, dass die Herrscher maßvoll und tugendhaft sein müssen. Doch ist dieser Abschnitt vor allem aus einem anderen Grund wichtig, und zwar mit Blick auf den literarischen Aspekt der Gesprächsdynamik. Das Gespräch zwischen dem Athenischen Fremden, Kleinias und Megillos ist von einer gewissen Spannung gekennzeichnet. 14 Einerseits sind Kleinias und Megillos sehr stolz auf ihre Vaterstädte und deren Gesetze, müssen aber andererseits immer wieder mit einigem Zähneknirschen der Kritik des Athenischen Fremden an der einseitigen Ausrichtung ihrer Gesetzgebungen Recht geben. So hat der Athenische Fremde Kleinias und Megillos im Ersten Buch zu der Einsicht geführt, dass eine Verfassung ihre Anordnungen nicht um des Krieges und der Tapferkeit, sondern um des Friedens und der gesamten Tugend willen treffen muss. 15 Mit dem Blick in die Vergangenheit kann er seiner These nun weitere Glaubwürdigkeit verleihen, indem er ihnen gezeigt hat, dass eine Ausrichtung an der gesamten Tugend zwei bedeutende Königreiche vor dem Niedergang bewahrt hätte. Sogar mehr als das: Im Gegensatz zu Argos und Messene konnte Sparta seine Macht behaupten, weil die Verfassung durch eine göttliche Fügung so geändert wurde, dass die Macht der Herrscher begrenzt wurde

12 Vgl. Krämer 1959, 217, der ebenfalls auf die Zusammenhänge mit den Erörterungen in den ersten Büchern hinweist und festhält: „[…] es könnte noch deutlicher gesagt werden, dass im Hinblick auf das Zusammenspiel von Emotionen und Vernunft das Maß der bestimmende Gedanke ist.“ 13 Kurz vor dem Kronos-Mythos, der die Wahl der Verfassung für die neue Kolonie einleitet, verweist der Athener auf diese historische Betrachtung (Ⅳ 713a9–b1) und bekräftigt damit die Absicht, ihre Ergebnisse bei der Entscheidung zu berücksichtigen. 14 Im Vergleich mit anderen Dialogen ist die Gesprächsdynamik in den Nomoi tatsächlich weniger ausgeprägt, sodass sie von vielen leider gänzlich vernachlässigt wird; s. dagegen Szlezák (2004, 44– 53) und De Brasi (voraussichtlich 2020). Nennenswerte Ausnahmen sind Hentschke (1971), Pangle (1988) und Young (2016), die in ihrer Interpretation die Gesprächsdynamik häufig berücksichtigen. 15 Ausgangspunkt für diese Auseinandersetzung ist die Einschätzung und Rechtfertigung des Kleinias, dass die kretische Gesetzgebung alle Bestimmungen mit Blick auf den Krieg getroffen und folglich die Tapferkeit ins Zentrum ihrer Anordnungen gestellt hat (Ⅰ 625c9–626b4). Auf behutsame und respektvolle Weise kann der Athener ihn und Megillos in mehreren Schritten davon überzeugen, dass ein Gesetzgeber in erster Hinsicht den Frieden suchen und die gesamte Tugend vermitteln muss (Ⅰ 627e3–628c1, Ⅰ 628d2–e1, Ⅰ 630b9–d1 und Ⅰ 630d9–a8).

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Die Generalansprache

und die Herrscher auf diese Weise maßvoller wurden (Ⅲ 691d5–692c7). 16 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt im dramatischen Geschehen hat dieser Aspekt noch keine allzu große Bedeutung – denn Kleinias wird seine Gesprächspartner erst am Ende des Dritten Buchs in seinen Auftrag einweihen, für Kreta eine neue Kolonie gründen und dafür gemeinsam mit Megillos und dem Athener eine Gesetzgebung entwerfen zu wollen. Im Rückblick wird jedoch deutlich, dass der Athener mit seiner Demonstration historischen und politischen Wissens einen weiteren Grundstein dafür gelegt hat, von Kleinias einer Beteiligung an seinem Projekt für würdig und fähig befunden zu werden. Wir werden uns nun dem Kronos-Mythos zuwenden, mit dem der Athener seiner These weiteres Gewicht zu verleihen versucht, indem er ihre Gültigkeit über den historisch-empirischen Beleg hinaus auch im mythischen Bereich erweisen will – und damit das Vertrauen seiner Gesprächspartner vollends gewinnen wird.

III.1.2 Der Kronos-Mythos Ausgehend von der historischen Untersuchung und der aus ihr gewonnenen Erkenntnis, dass maßvolle Herrscher ein zentrales Kriterium für den Bestand von Staaten sind, widmen sich die Gesprächspartner im Vierten Buch der Frage, welche Verfassung die neue Kolonie erhalten soll (Ⅳ 712b8–c1). In diesem Zusammenhang erzählt der Athenische Fremde den Mythos vom Goldenen Zeitalter unter Kronos, das die heute lebenden Menschen nach Möglichkeit nachahmen sollen (Ⅳ 713a6–714b1). Im Folgenden werde ich eine Zusammenfassung des Mythos geben und auf seine Funktion im Dialog eingehen, bevor ich den Mythos im Einzelnen mit Bezug auf ähnliche Mythen im Platonischen Werk interpretieren werde. In der Hauptsache soll der Mythos die Erkenntnis illustrieren, dass eine Verfassung und ihre Gesetze nicht der Erfüllung individueller Wünsche und Begierden, sondern dem Wohl aller dienen müssen (Ⅳ 715b2–4). Um zu verhindern, dass sich Einzelne in ihrem Wunsch nach Selbstbereicherung der Herrschaft bemächtigen, muss durch die Verfassung sichergestellt sein, dass auch die Machthaber selbst einer übergeordneten Macht unterworfen sind (Ⅳ 715b7–d6) – denn sie selbst sind nach Ansicht des Atheners aufgrund der Schwäche der menschlichen Natur nicht dazu in der Lage, längere Zeit zu herrschen, ohne von Unvernunft durchdrungen zu werden (Ⅲ 691c5–d5, zitiert auf S. 22). Diese übergeordnete Macht muss primär folgende Anforderung erfüllen, wie die Betrachtung 16 Den Anstoß zur Verfassungsreform hat dabei ein angenommener Gott gegeben, der aus einem einzigen Geschlecht ein königliches Zwillingspaar erwachsen ließ (Ⅲ 691a8–e1), wodurch die ursprünglich auf einen Menschen konzentrierte Macht auf zwei aufgeteilt wurde. Durch zusätzliche Schritte, bei denen zumindest teilweise ebenfalls göttliche Mitwirkung angenommen wird, wurde die „immer noch vor Übermut strotzende und leidenschaftlich erregte Regierung“ (ἔτι σπαργῶσαν καὶ ϑυμουμένην τὴν ἀρχὴν, Ⅲ 692a4) weiter gebändigt, sodass der Machtmissbrauch Einzelner beschränkt wurde.

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der früheren Königreiche Argos und Messene gezeigt hat: Sie muss den Machthabern ein Maß hinsichtlich ihrer Lust- und Schmerzgefühle vermitteln. Dazu muss sie notwendigerweise in zweifacher Hinsicht über die menschliche Sphäre hinausgehen: Zum einen muss sie über die Hauptmotivation des Menschen hinausgehen, nämlich seine Lust- und Schmerzgefühle; zum anderen muss sie auch über den Einzelmenschen hinausgehen, weil der Horizont eines einzelnen zu stark beschränkt ist, um zu erkennen, was einer Gesellschaft als Ganzer auf Dauer nützt (Ⅸ 875a1–c3). Wie das Marionettengleichnis schon angedeutet hat, ist die einzige dafür in Frage kommende Instanz die Vernunft, die dem Einzelnen ein Maß vermitteln kann, weil sie sich über die individuellen Belange erheben kann. 17 Für die Verfassung und die Gesetze der neuen Kolonie zieht der Athener am Ende des Mythos folgende Konsequenz (Ⅳ 713e3–714a8): λέγει δὴ καὶ νῦν οὗτος ὁ λόγος, ἀληϑείᾳ χρώμενος, ὡς ὅσων ἂν πόλεων μὴ ϑεὸς ἀλλά τις ἄρχῃ ϑνητός, οὐκ ἔστιν κακῶν αὐτοῖς οὐδὲ πόνων ἀνάφυξις: ἀλλὰ μιμεῖσϑαι δεῖν ἡμᾶς οἴεται πάσῃ μηχανῇ τὸν ἐπὶ τοῦ Κρόνου λεγόμενον βίον, καὶ ὅσον ἐν ἡμῖν ἀϑανασίας ἔνεστι, τούτῳ πειϑομένους δημοσίᾳ καὶ ἰδίᾳ τάς τ᾽ οἰκήσεις καὶ τὰς πόλεις διοικεῖν, τὴν τοῦ νοῦ διανομὴν ἐπονομάζοντας νόμον. Und so behauptet denn auch heute noch diese Sage und trifft damit die Wahrheit, daß es für alle Staaten, über die nicht ein Gott, sondern irgend so ein Sterblicher herrscht, kein Entrinnen vor Unheil und Leiden gibt; vielmehr müßten wir, meint sie, mit allen Mitteln die Lebensweise, die unter Kronos bestanden haben soll, nachahmen und dem, was an Unsterblichkeit in uns ist, folgend im öffentlichen wie im persönlichen Leben unsere Häuser und Staaten verwalten, indem wir die Verteilung der Vernunft als Gesetz bezeichnen. Weil die Vernunft im eben skizzierten Sinn übermenschlich und überindividuell ist, wird ihr ein göttlicher Status zugeschrieben; damit eignet sie sich als diejenige Macht, aus der Gesetze hervorgehen müssen, wenn sie das Wohl aller in gleicher Weise befördern sollen. 18 Doch ihr göttlicher Status hat noch eine weitere Konsequenz, die sowohl im Rahmen der Gesprächssituation als auch im Hinblick auf die Generalansprache von Bedeutung ist. Wir wenden uns dementsprechend nach dieser inhaltlichen Annäherung vorerst den literarischen Aspekten der Deutung zu. Wir sind am Ende der Diskussion über den Untergang von Argos und Messene bereits auf die Gesprächsdynamik im Dialog zu sprechen gekommen (s. S. 23f.). Es verwundert nicht, dass sich gerade in der wichtigen Klärung der Verfassung erneut eine gewisse Spannung bemerkbar macht. Zu Beginn der Diskussion werden vom Athenischen Fremden zum Missbehagen von Kleinias die Vorzüge einer Tyrannenherrschaft herausgestellt, die nicht nur einige Unstimmigkeiten (Ⅳ 709e6–712a7), sondern sogar äußerst seltene kritische Rückfragen von Kleinias hervorrufen, denen der Athener allerdings ausweicht 17 Vgl. Trampedach (1994, 225f.); s. auch das folgende Zitat und die Erläuterungen dazu. 18 Vgl. Trampedach (1994, 227) und Perkams (2013, 232f.).

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(vor allem Ⅳ 710c1–2 und Ⅳ 711c3–4). Kleinias wird nun langsam ungeduldig und will endlich mit der Gesetzgebung beginnen (Ⅳ 712b3). Auf die Frage jedoch, welche Verfassung die neue Kolonie erhalten soll, will sich erneut kein überzeugender Konsens finden: Megillos und Kleinias können nicht konkret benennen, welche Verfassung ihre Heimatstädte verwirklicht haben, und das Ganze droht sich weiter hinauszuzögern (Ⅳ 712b8–e8). An diesem Punkt lenkt der Athener jedoch ein und kann Kleinias mit einem konstruktiven Vorschlag wieder für sich gewinnen: Für die Namensfindung der Verfassung schlägt er vor, dass sie nach dem Namen des Gottes bezeichnet werden sollte, der über die Vernünftigen herrscht (Ⅳ 713a2–4). Kleinias ist sofort hellhörig und fragt: „Was ist das für ein Gott?“ 19 Dieser Bezug auf göttliche Mächte ist Kleinias zum einen durch den Beginn des Dialogs vertraut (s. S. 11), in dem die Gesetzgebungen Kretas und Spartas ebenfalls auf einen Gott zurückgeführt wurden, zum andern aber auch durch die Lobpreisung der spartanischen Verfassung, die laut dem Athenischen Fremden nur durch göttlichen Beistand gemäßigt werden konnte (s. S. 24 mit Anm. 16). Auf Kleinias’ Frage nach dem Gott erzählt der Athener zur Erklärung den Kronos-Mythos, dem man durch diese Gesprächseinbindung noch weitere Facetten abgewinnen kann. Der Mythos birgt eine in zweifacher Hinsicht legitimierende Funktion; zum einen soll er die Gesprächspartner von der neuartigen Verfassung überzeugen, zum andern dient er in Verbindung mit der Generalansprache als normative Sinnstiftung für die neue Kolonie. Zum ersten Punkt: Dem Athener schwebt eine Verfassung vor, die mit den konventionellen Verfassungstypen nicht viel gemein hat. Auch wenn das Beispiel der spartanischen Verfassung im Dritten Buch gezeigt hat, dass auch dort wichtige Einschnitte zu einer Mäßigung der Herrscher beigetragen haben, verschärft der Athenische Fremde die geplante Verfassung noch weiter: Einzig das aus der Vernunft abgeleitete Gesetz dürfe herrschen (Ⅳ 713e3–714a8), und als tüchtigster Bürger solle gelten, wer dem Gesetz am treuesten dient (Ⅳ 715b7–d6). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der traditionell-konservative Kleinias, der sich ja besonders im Hinblick auf Verfassungsfragen als kritisch erwiesen hat, mit einer gewissen Skepsis auf einen derartigen Verfassungsentwurf reagieren wird. Der Mythos an dieser Stelle ist deshalb ein sehr geschickter Zug, weil der Athener zum einen die Radikalität seiner neuen Verfassung im Mythos nur andeutet (Ⅳ 713e3–714a8) und die tatsächlichen Schlussfolgerungen erst später zieht (vor allem Ⅳ 715b7–d6). Zu diesem Zeitpunkt hat der Mythos aber seine Wirkung bereits entfaltet, nämlich Kleinias und Megillos zu zeigen, dass die geplante Verfassung in Wahrheit gar nichts Neues ist, sondern im Gegenteil sehr alt und durch die Anwendung unter Kronos sogar göttliche Legitimation besitzt. In dem Wissen, dass Kleinias die Autorität der Götter anerkennt, hat der Athener ein leichtes Spiel, seine Vorstellung von einer Verfassung zu entwickeln – und tatsächlich bekräftigt Kleinias noch vor den Schlussfolgerungen aus dem Mythos, dass man ihm unbedingt folgen müsse (Ⅳ 714b2). Nach der Bestätigung seiner These im historisch-empirischen Bereich (s. Kap. 1.1) hat der Athenische Fremde Kleinias nun durch einen Mythos vollends von seinem Entwurf einer Verfassung überzeugen können. 19 τίς δ᾽ ὁ ϑεός, Ⅳ 713a5.

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Der Kontext der Generalansprache

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Zum zweiten Punkt: Über die bekannten Gründungsmythen berühmter griechischer Poleis hinaus ist bekannt, dass auch bei Koloniegründungen Mythen eine normative und appellative Funktion für die Bewohner hatten. 20 Diese Funktion und Aufgabe hat, wie wir später im Detail sehen werden, die Generalansprache in den Nomoi – mit dem Kronos-Mythos bereitet der Athenische Fremde diese in wichtigen Aspekten jedoch bereits vor. Eben hat sich gezeigt, dass sich der Athenische Fremde den Götterglauben seiner Gesprächspartner zunutze macht, um seine Vision der künftigen Verfassung in Magnesia zu legitimieren. Mit Blick auf die späteren Bürger Magnesias verändert sich die Perspektive jedoch ganz entschieden: Wie das Asebie-Gesetz im Zehnten Buch zeigt, stellt die richtige Auffassung über die Götter das Fundament der Gesetzgebung dar, doch geht der Athenische Fremde mitnichten davon aus, dass die Bürger die erwartete Frömmigkeit und Scheu vor den Göttern an den Tag legen werden – andernfalls sähe er sich nicht gezwungen, mit großem Aufwand die Existenz, Fürsorge und Unbestechlichkeit der Götter zu beweisen. Der Kronos-Mythos bereitet die Generalansprache und die Darlegungen im Zehnten Buch in entscheidender Hinsicht vor, 21 da er eine Lebensweise vorführt, in der mit Selbstverständlichkeit von der Existenz und Fürsorge der Götter ausgegangen wird. Noch unabhängig von den Akzentsetzungen und Details steht vor Beginn der Gesetzgebung also ein Mythos, der den Bürgern die Götter und ihr positives Wirken auf die Menschheit als eine Selbstverständlichkeit darstellt. Ein Blick auf die geschilderten Verhältnisse im Mythos selbst und ein kurzer Vergleich mit ähnlichen Mythen bei Platon soll nun inhaltlichen Aufschluss bieten: Zum einen natürlich mit dem Kronos-Mythos im Politikos, zum anderen mit dem Prometheus-Mythos im Protagoras, der sich nicht nur aufgrund der ähnlichen Thematik, sondern auch aufgrund der Anspielung auf Protagoras (Ⅳ 713e5) aufdrängt. 22 Das wesentliche Element des Kronos-Mythos ist die Unterordnung des Menschen unter eine höhere Macht. Kronos habe in Anerkennung der Tatsache, dass Menschen nicht längere Zeit herrschen können, ohne von Übermut und Ungerechtigkeit erfüllt zu werden, den Menschen als Herrscher göttliche Wesen, sogenannte Daimones, übergeordnet (Ⅳ 713c5–d2) – genauso, wie auch Menschen nur sich selbst als geeignete Hüter von Tieren begreifen (Ⅳ 713d2–5). Die Herrschaft der Daimones bescherte den damaligen Menschen „Frieden und Ehrfurcht und gute Gesetze und des Rechtes Fülle“, 23 machte 20 Damit erweisen sich solche Mythen aus der Perspektive eines Gesetzgebers als sehr praktisch: In Ⅱ 663e5–9 erwähnt der Athener den Gründungsmythos von Theben und benutzt ihn als Beispiel dafür, dass man die Bürger von nahezu allem überzeugen kann (Ⅱ 663e9–664a7). An späterer Stelle zeige ich, wie diese Passage mit der Generalansprache und den Vorworten verknüpft ist (s. S. 62–64). 21 Vgl. Wilke (1997, 28). Im Rückblick hat die Erzählung über den Erhalt des spartanischen Königreichs (s. S. 24 mit Anm. 16) wiederum den Kronos-Mythos insofern vorbereitet, als auch dort ein Gott angenommen wird, der den ersten entscheidenden Schritt zur Verfassungsreform gegeben hat. 22 Die unterschiedlichen Darstellungen in Bezug auf die politische Teilnahme im vorliegenden Kronos-Mythos und im Prometheus-Mythos im Protagoras hat ausführlich Trampedach (1994, 177– 186 und besonders 226–228) kommentiert; van Harten (2003) vergleicht den Kronos-Mythos mit der Darstellung im Politikos. 23 εἰρήνην τε καὶ αἰδῶ καὶ εὐνομίαν καὶ ἀφϑονίαν δίκης, Ⅳ 713e1–2.

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Die Generalansprache

die Menschen frei von Zwietracht und damit auch glücklich (Ⅳ 713e2–3). Im Vergleich zum Prometheus-Mythos des Protagoras ist auffällig, dass die göttlichen Mächte im Kronos-Mythos den Menschen neben den günstigen Lebensumständen auch gute Gesetze schenkten – im Gegensatz zu den Göttern im Protagoras, die gerade die Ausformulierung der Gesetze und die Einigung auf einen für alle geltenden Nomos den Menschen überlassen: Die Götter haben den Menschen nicht übermittelt, was Gerechtigkeit ist, sondern nur die Fähigkeit, sich auf eine gemeinsame Bestimmung derselben, einen Nomos, einigen zu können. Sie garantieren die Möglichkeit einer Ordnung, füllen sie aber nicht aus. Damit gerät die Ordnung der Polis […] in die Verfügbarkeit der an ihr beteiligten Bürger. Zum politischen Diskurs gehört immer die Berufung auf die Gerechtigkeit, die Protagoras freilich nicht als Walten göttlich oder metaphysisch abgeleiteter Normen, sondern als gemeinsamen Kommunikationsrahmen faßt […]. (Trampedach 1994, 180) Die Konsequenz daraus scheint zu sein, dass sich die Menschen in der neuen Kolonie damit zufrieden geben sollen, im Wesentlichen Empfänger von Gesetzen zu sein, deren Inhalt nicht verhandelbar sei. Die Gesetze genießen göttliche Autorität und entstammen einer Sphäre, die den Menschen nicht zugänglich ist. 24 Die Ableitung der Gesetze aus der göttlichen Vernunft soll garantieren, dass die Gesetzgebung nicht den Vorteil Einzelner, sondern das Wohl aller fördert – und zwar deshalb, weil die göttliche Vernunft Ordnung und Gerechtigkeit garantiert. 25 Die Stellung des Bürgers und seine Aktivität in der Polis werden darüber hinaus durch einen Vergleich mit dem Kronos-Mythos im Politikos angedeutet. Die politische Aktivität der Bürger scheint im Mythos der Nomoi auf ein Minimum reduziert: Wenn äußere Mächte für Frieden sorgen und gute Gesetze geben, wäre nicht mehr viel Raum für politische Tätigkeit im Sinn einer athenischen Demokratie. Doch wie steht es mit der Philosophie? Im Kronos-Mythos des Politikos ist die Frage nicht eindeutig zu entscheiden, ob die Menschen unter Kronos philosophierten oder nicht – aber immerhin liegt die positive Beantwortung dieser Frage nahe. 26 In den Nomoi hingegen fehlt jeglicher Hinweis, ob die Menschen sich auch philosophisch betätigen; allerdings werden die Bürger als Empfänger einer externen Vernunft beschrieben, woraus van Harten (2003, 132) folgende Schlussfolgerung gezogen hat:

24 Trampedach 1994, 225. 25 Trampedach 1994, 227. Auch in dieser Hinsicht ist der Kronos-Mythos eine wichtige Vorbereitung für das Asebie-Gesetz im Zehnten Buch, weil vor allem der zweite Beweis auf der vernünftigen Ordnung des Kosmos aufbaut. 26 S. van Harten 2003, 131f.

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Der Kontext der Generalansprache

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It could seem, then, that Plato, in highlighting the presence and rule of external reason in the city, no longer deems it required for personal happiness that one is ruled by one’s own reason. [Hervorhebung im Original.] Auch van Harten versteht den Mythos also dahingehend, dass die Entwicklung und Anwendung der eigenen Vernunft durch die Bürger Magnesias weder notwendig noch erwünscht ist. 27 Auch Campos (2001, 43f.) gewinnt den Eindruck, dass es dem Gesetzgeber nicht auf die rationalen Fähigkeiten der Bürger ankommt, sondern einzig auf den Gehorsam gegenüber dem Gesetz. Der Kronos-Mythos scheint nach dieser Position eine Gesellschaft und Lebensform zu empfehlen, in der sich die Menschen weder politisch noch philosophisch betätigen, sondern ungeachtet ihrer geistigen Fähigkeiten einzig im Befolgen der Gesetze ihre Erfüllung finden sollen. Da hier weder Ort noch Raum für eine umfangreiche Bestimmung der politischen und philosophischen Dimensionen in Magnesia ist, 28 werde ich auf die Argumente nicht im Einzelnen eingehen, sondern die referierte Position mit einen übergeordneten Einwand zu entkräften versuchen und mich dann mit der allgemeinen Stoßrichtung dieser Position auseinandersetzen. Es ist ganz offensichtlich, dass von den geschilderten Verhältnissen im Mythos vorschnell auf die Verhältnisse in Magnesia geschlossen wird. Bei dem Mythos handelt es sich um eine modellhafte und ideale Illustration, d. h. man sollte bei der Interpretation nicht vergessen, was der Mythos eigentlich zum Ausdruck bringen will. Der Ausgangspunkt war die Frage nach der Verfassung und den Herrschern (Ⅳ 712b8–c1), zu deren Klärung der Athener mit dem Mythos beitragen möchte (Ⅳ 713a6–7). Folglich ist es als problematisch zu betrachten, Aspekte bei der Interpretation in den Vordergrund zu stellen, die in diesem Zusammenhang irrelevant sind; die Lebensform und Aktivitäten der Bürger werden im Mythos deswegen nicht thematisiert, weil sie die Verfassung und die Herrscher nicht oder nur bedingt betreffen. Man kann die Kritik an dem Umfang politischer Betätigungsmöglichkeiten der Magneten zwar verstehen, 29 weil das politische Leben in Magnesia anders strukturiert ist als in der athenischen Demokratie mit ihren von allen Bürgern getragenen Aushandlungspro27 Vgl. auch Mayhew (2010, 200), der auf das etymologische Spiel im Kratylos hinweist: „Now according to the Cratylus, the name “Kronos” comes from koros (a rare form of “pure”) and nous, and thus means “pure reason” (396b). If this is the meaning of “Kronos” in the Myth of Kronos, then according to this myth, the rule of Kronos was a happy time for humans because they were ruled by a god who was or embodied or possessed pure reason.“ 28 Die dringlichste – man könnte auch sagen: einzige – Aufgabe des Bürgers besteht darin, „to preserve the good order of the city as a whole and to make it his own“ (τὸν κοινὸν τῆς πόλεως κόσμον σῴζων καὶ κτώμενος, Ⅷ 846d5–6; ich habe die Übersetzung von Griffith (2016) gewählt, weil er κτώμενος sehr prägnant wiedergibt). Dazu gehört vor allem, für die „allseitige Vollkommenheit des Leibes und der Seele“ zu sorgen (τὴν τοῦ σώματος πάντως καὶ ψυχῆς εἰς ἀρετῆς ἐπιμέλειαν, Ⅶ 807c7–8). Das verwirklichen sie nach Ansicht des Atheners durch die Teilnahme an religiösen, musischen, sportlichen und militärischen Veranstaltungen, s. Sauvé Meyer (2013, 212–214). 29 Trampedach 1994, 242: „Die Beamten, die Platon einsetzt, regieren nicht, sondern verwalten bloß.“ Vgl. allerdings Perkams (2013), der insbesondere den höheren Beamten und Kontrollinstanzen eine wichtige Funktion zuschreibt.

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Die Generalansprache

zessen. Andererseits sollte das angesichts der besonderen Zielsetzung der Gesetzgebung auch nicht verwundern: Die Gesetze versuchen primär, das Glück, die Freiheit und den Frieden der Bürger zu sichern (s. Anm. 3 auf S. 1), und erachten dafür die Ausbildung und Ausübung der gesamten Tugend für notwendig. Mit diesem Ziel deckt sich auch die Bestimmung des Politikers etwa im Gorgias, wo Sokrates es auf die Formulierung herunterbricht, dass nur derjenige ein Politiker genannt zu werden verdient, der seine Bürger besser zu machen imstande ist. 30 In Anbetracht des schlechten Zeugnisses, das Sokrates vor dem Hintergrund dieser Bestimmung führenden Politikern wie etwa Perikles ausstellt, 31 ist es also nicht erstaunlich, dass eine Beurteilung des politischen Lebens in Magnesia aus athenischer Perspektive schlecht ausfällt. Die eigentliche Pointe des Kronos-Mythos offenbart sich erst, wenn man sich auf die Perspektive einlässt, die der Athenische Fremde und seine Gesprächspartner in den Nomoi vorgeben. Mit der Herrschaft des Kronos ist das Goldene Zeitalter verknüpft, das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass den Menschen die zum Überleben notwendigen Güter von ganz allein gewährt werden. Auch in der Version des Atheners ist das der Startpunkt für den Mythos: Die Menschen hätten ein glückliches Leben geführt, in dem ihnen alles überreichlich und von selbst dargeboten wurde (Ⅳ 713c2–4). Doch schnell stellt sich heraus, dass der Athener nicht im Sinn hat, was ursprünglich damit gemeint war, nämlich vor allem Nahrung, sondern die politische Organisation unter der Herrschaft von Kronos und den von ihm eingesetzten Daimones (Ⅳ 713d5–e3). Es geht ihm vorrangig darum, dass die Unfähigkeit des Menschen zum eigenverantwortlichen Herrschen von Kronos erkannt und gebändigt wurde. Das gute Leben im Goldenen Zeitalter besteht nach dem Athener darin, dass die Menschen in Frieden lebten und dabei über Scham, gute Gesetze und Rechtsempfinden verfügten (Ⅳ 713e1–2). Der zentrale Punkt ist also, dass die Menschen ein glückliches Leben führen, wenn die politischen Umstände eine gerechte Herrschaft ermöglichen. Wenn man nun die Frage nach der Philosophie stellen will, obwohl sie der Mythos nicht behandelt, sollte man Folgendes berücksichtigen: Der Ausgangspunkt für die politische Philosophie im sokratisch-platonischen Sinn ist die Kritik an denjenigen Zuständen, die ein glückliches Leben in einer Gemeinschaft gefährden oder gar verunmöglichen. Dementsprechend ist es gar nicht verwunderlich, dass von einer politischen oder philosophischen Tätigkeit keine Rede ist. Denn wenn die Verfassung und Gesetzgebung den Bürgern ein glückliches – und das heißt bei Sokrates und Platon immer auch ein tugendhaftes (vgl. Anm. 3 auf S. 1) – Leben ermöglichen, wäre eine philosophische Kritik hinfällig. Nun könnte man wiederum einwenden, dass gerade unter solchen Umständen die Gelegenheit wäre, sein Leben vollständig den philosophischen Studien zu widmen und die Erkenntnis der Ideen anzustreben – doch erstens hat auch dieser Aspekt nichts mehr mit der Intention des Mythos zu tun, und zweitens wäre ein solcher Ausblick im Zusammenhang der Nomoi mit ihrem Fokus auf den philosophisch nicht gebildeten Menschen überflüssig.

30 Gorg. 513e5–514a3, 515a1–b4, 515c2–3. 31 Gorg. 515c4–516d6.

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Der Kontext der Generalansprache

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Wir wollen uns also lieber fragen, welche Konsequenzen sich im Hinblick auf die Verfassung und die Herrscher aus dem Mythos ergeben (Ⅳ 715b7–d6): λέγεται δὲ τοῦδ᾽ ἕνεκα ταῦϑ᾽ ἡμῖν, ὡς ἡμεῖς τῇ σῇ πόλει ἀρχὰς οὔϑ᾽ ὅτι πλούσιός ἐστίν τις δώσομεν, οὔϑ᾽ ὅτι τῶν τοιούτων ἄλλο οὐδὲν κεκτημένος, ἰσχὺν ἢ μέγεϑος ἤ τι γένος‧ ὃς δ᾽ ἂν τοῖς τεϑεῖσι νόμοις εὐπειϑέστατός τε ᾖ καὶ νικᾷ ταύτην τὴν νίκην ἐν τῇ πόλει, τούτῳ φαμὲν καὶ τὴν τῶν ϑεῶν ὑπηρεσίαν δοτέον εἶναι [...]. τοὺς δ᾽ ἄρχοντας λεγομένους νῦν ὑπηρέτας τοῖς νόμοις ἐκάλεσα οὔτι καινοτομίας ὀνομάτων ἕνεκα, ἀλλ᾽ ἡγοῦμαι παντὸς μᾶλλον εἶναι παρὰ τοῦτο σωτηρίαν τε πόλει καὶ τοὐναντίον. ἐν ᾗ μὲν γὰρ ἂν ἀρχόμενος ᾖ καὶ ἄκυρος νόμος, φϑορὰν ὁρῶ τῇ τοιαύτῃ ἑτοίμην οὖσαν‧ ἐν ᾗ δὲ ἂν δεσπότης τῶν ἀρχόντων, οἱ δὲ ἄρχοντες δοῦλοι τοῦ νόμου, σωτηρίαν καὶ πάντα ὅσα ϑεοὶ πόλεσιν ἔδοσαν ἀγαϑὰ γιγνόμενα καϑορῶ. Diese Bemerkungen machen wir deshalb, damit wir in deinem Staat die Herrschaft nicht deswegen jemandem übertragen, weil er reich ist, noch weil er sonst etwas dieser Art besitzt, wie Kraft oder Größe oder edle Herkunft; sondern wer den gegebenen Gesetzen am willigsten gehorcht und darin den Sieg im Staat davonträgt, dem, behaupten wir, muß man auch den Dienst an den Göttern anvertrauen […]. Die Leute aber, die heutzutage ‚Herrscher‘ genannt werden, habe ich Diener der Gesetze genannt, nicht um neue Ausdrücke zu prägen, sondern ich glaube, mehr als von allem andern hängt davon für einen Staat seine Erhaltung und das Gegenteil ab. Denn einem Staat, in welchem das Gesetz geknechtet und machtlos ist, einem solchen sehe ich den Untergang bevorstehen. In welchem es aber Gebieter über die Herrschenden und die Herrschenden Sklaven des Gesetzes sind, dem Staat sehe ich Fortbestand und alle Güter zuteil werden, welche die Götter je Staaten verliehen haben. Auch in der Untersuchung über den Untergang von Argos und Messene hat sich ergeben, dass die wichtigste Voraussetzung für den Bestand einer Verfassung die Machtbeschränkung und Besonnenheit der Herrscher ist (s. S. 21–23). Diese Forderung ist daher auch die zentrale Konsequenz, die sich aus der Schilderung des Mythos für die Verfassung Magnesias ergibt. Darüber hinaus bestimmt der Athener die Begriffe des Herrschers und Herrschens neu: Im Gegensatz zum landläufigen Verständnis – dass der Stärkere über den Schwächeren zu seinem eigenen Nutzen und Vorteil herrsche –, wird Herrschaft nun in einer erstaunlichen Umbewertung als sein Gegenteil begriffen: Das freiwillige Dienen und Sich-Beherrschen-Lassen durch das Gesetz, 32 das aus der göttlichen Vernunft abgeleitet wird (s. Zitat auf S. 25). Führt man sich allerdings die oben geäußerte These vor Augen, dass der Mythos nicht nur gegenüber den Gesprächspartnern, sondern auch gegenüber den neuen Bürgern die Gesetzgebung legitimieren soll, mag diese Neubewertung merkwürdig erscheinen – denn 32 Vgl. die Definition in Ⅰ 643e2–6, wodurch sich ein vollkommener Staatsbürger auszeichne: „[…] der Gerechtigkeit gemäß zu herrschen und sich beherrschen zu lassen“ (ἄρχειν τε καὶ ἄρχεσϑαι ἐπιστάμενον μετὰ δίκης).

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Die Generalansprache

wenn ein Herrscher keine Macht mehr hat, dürfte es nicht allzu reizvoll sein, die Position des Herrschers anzustreben. In der zitierten Bemerkung des Atheners lassen sich allerdings drei Mittel ausmachen, mit denen er diese Wendung dennoch attraktiv erscheinen lässt: 1.) Die so verstandene Herrschaft steht allen Bürgern offen, nicht nur denjenigen, die besonders stark oder mächtig oder adlig sind. Jeder Bürger, der sich gehorsam gegenüber den Gesetzen zeigt, kommt als höchster Beamter potentiell in Frage. Eine so verstandene Herrschaft erhöht damit die Gleichheit und Einheit unter den Bürgern in signifikanter Weise. 2.) Mit der Formulierung, dass derjenige, der den Gesetzen am willigsten gehorcht, den Sieg im Staat davontragen wird, macht der Athenische Fremde aus dem nüchternen Gesetzesgehorsam einen Wettkampf, in dem sich alle Bürger untereinander messen sollen. 33 3.) Der wichtigste Punkt ist jedoch der zuletzt angesprochene, der den Faden des Kronos-Mythos weiterspinnt: Im Goldenen Zeitalter empfangen die Menschen Frieden und Gerechtigkeit automatisch, und der Athenische Fremde stellt einer Verfassung, in der das Gesetz herrscht, nicht nur den Fortbestand, sondern auch alle göttlichen Güter in Aussicht (Ⅳ 715d3–6). Mit diesen göttlichen Gütern wird an die Diskussion im Ersten Buch erinnert, in dem der Athener zwischen menschlichen und göttlichen Gütern unterschieden hatte, die eine Verfassung ihren Bürgern zukommen lassen müsse, um sie glücklich zu machen (Ⅰ 631b3–d1). 34 Durch das Versprechen also, dass den Bürgern jene Güter zuteil werden, auf Basis derer sie ein glückliches Leben führen werden, versucht der Athenische Fremde neben Kleinias und Megillos auch die Bürger von der geplanten Verfassung überzeugen. Allerdings ist der Mythos ein Ideal, das nur cum grano salis auf die Lebenswirklichkeit übertragen werden kann; die entscheidende Voraussetzung ist nämlich, dass die Bürger die Gesetze auch befolgen müssen. Sie selbst müssen also ihren Teil zu einem glücklichen Leben beisteuern und empfangen die göttlichen Güter nicht automatisch. Nach diesem Blick auf den Kontext haben wir nun eine Grundlage für eine fundierte Auseinandersetzung mit der Generalansprache: Das Leitmotiv der ersten Bücher ist die These des Atheners, dass die wichtigste Voraussetzung für den Erwerb der Tugend die Vermittlung eines Maßes ist. Dieses Maß darf nicht individuellen Interessen entspringen und dienen, sondern muss das Wohl aller im Blick haben. Die geplante Gesetzgebung wird dieser Anforderung gerecht, weil sie in der göttlichen Vernunft verankert ist. Damit ist eine essentielle Bedingung für das Gelingen der Gesetzgebung erfüllt – allerdings ist das in der Praxis noch ohne großen Wert. Der Athenische Fremde muss nämlich sicherstellen, dass die Bürger die Autorität des Gesetzes auch anerkennen und die Gesetze befolgen. Genau diese beiden Aspekte werden sich als Leitmotive bei der Interpretation der Generalansprache und der Vorworte erweisen.

33 Deshalb spielen Lob und Tadel auch eine enorm wichtige Rolle in der Gesetzgebung (s. Laks 1999 und Föllinger 2016, 95 und Anm. 396). Vgl. auch Anm. 121 auf S. 60 zum übergeordneten Wettkampf um die Tugend. 34 Bei den vier göttlichen Gütern handelt es sich um die (leicht modifizierten) Tugenden Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Einsicht.

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Der erste Teil der Generalansprache

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III.2 Der erste Teil der Generalansprache Nach einem kurzen Wortwechsel schließt die Generalansprache mehr oder weniger nahtlos an den Schlusskommentar des Kronos-Mythos an – doch mit einer wichtigen Änderung in der Darstellungsform. Das Format der Ansprache markiert einen wichtigen Einschnitt im Dialog, der bisher nur selten bei der Interpretation berücksichtigt wurde. 35 An dieser Stelle wendet sich der Athenische Fremde das erste Mal direkt und explizit an die künftigen Siedler, die er in Gedanken vor sich versammelt. Durch diese aktive Hinwendung zu den Adressaten und der damit einhergehenden Adressatenorientierung verändern sich die Parameter für die Interpretation signifikant. Wenn es dem Athenischen Fremden ausschließlich darum ginge, „das geistige Fundament für sämtliche Gesetze zu legen“, 36 hätte er das wie bisher im Dialog mit Kleinias und Megillos tun können. Stattdessen wendet er sich direkt an die Bürger – und die einfachste Erklärung dafür ist, dass ihm die direkte Rede als das beste und geeignete Mittel zum Erreichen seiner Ziele erscheint. Bei der Interpretation wird uns daher interessieren, welche Ziele das sind und inwiefern das Format der Ansprache ihm dabei behilflich ist. Aufgrund der Länge der Ansprache werde ich abschnittsweise vorgehen; folgendermaßen hebt der Athener an (Ⅳ 715e7–716a2): „Ἄνδρες“ τοίνυν φῶμεν πρὸς αὐτούς, „ὁ μὲν δὴ ϑεός, ὥσπερ καὶ ὁ παλαιὸς λόγος, ἀρχήν τε καὶ τελευτὴν καὶ μέσα τῶν ὄντων ἁπάντων ἔχων, εὐϑείᾳ περαίνει κατὰ φύσιν περιπορευόμενος· „Ihr Männer“, wollen wir also zu ihnen sagen, „der Gott, der, wie auch das alte Wort besagt, Anfang und Ende und die Mitte alles dessen, was ist, in Händen hat, geht auf geradem Wege zum Ziel, indem er der Natur gemäß kreisend seine Bahn zieht […].“ Schon der Beginn dieser Ansprache ist in vielerlei Hinsicht interessant und bedeutsam. Zum einen wird auch hier die Gegenüberstellung der menschlichen mit der göttlichen 35 Young ist der einzige, dessen Interpretation der Ansprache maßgeblich von der Anerkennung ihrer Form bestimmt wird (2016, 158; 160); er führt die These von Dodds (1951, 221) weiter, wonach der Athenische Fremde eine Brücke zwischen Philosophen und normalen Bürgern schlagen wolle (s. S. 13); Young zufolge verfolgt der Athener mit seiner Ansprache das Ziel, sowohl den Philosophen als auch den normalen Bürgern eine Theologie anzubieten, auf deren Grundlage sie in unterschiedlicher Weise eine Angleichung an Gott erreichen können (Young 2016, 166–169). Im Folgenden werde ich mich häufiger mit den Thesen Youngs auseinandersetzen, weil er einer der wenigen ist, die sich im Rahmen der Polis-Religion auch intensiv mit der Generalansprache und der Angleichung an Gott befassen. 36 Bordt 2013, 210; inhaltlich ist das zwar richtig, lässt aber den performativen Zusammenhang völlig außer Acht. Auch bei Mayhew (2010, 200) und Pangle (1988, 443f.) wird dieser besondere Aspekt nicht deutlich. Schöpsdau (2003, 199) geht zwar auf die Funktion der Ansprache ein, äußert sich aber ebenfalls nicht zum Wechsel der Darstellung.

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Die Generalansprache

Sphäre deutlich, 37 zum andern scheint sich der Athenische Fremde selbst als der Vermittler zwischen diesen beiden Sphären empfehlen zu wollen: Zwischen der Anrede „Ihr Männer“ und der eingeschobenen Unterbrechung ist das nächste Wort in der wörtlichen Rede „der Gott“ (ὁ ϑεός, ho theós); durch diese ins Auge fallende Kontrastierung wird dem Adressaten das Göttliche als Bezugsrahmen unmittelbar vor Augen geführt. Die Botschaft, gerade vor dem Hintergrund des Kronos-Mythos, ist evident: In Magnesia ist der Mensch ohne Bezugnahme auf den Gott nicht denkbar. Inmitten dieser Bezugspunkte steht der Athenische Fremde: In φῶμεν (phómen) sind zwar der Konzession halber auch Kleinias und Megillos mitgemeint, aber als dem Wortführer und Sprecher kommt dem Athener das größte Gewicht zu. Diese Anordnung legt die Vermutung nahe, dass sich der Athenische Fremde als Vermittler zwischen den Siedlern und dem Gott versteht. Schon im Marionettengleichnis (s. S. 21) hatte er angedeutet, dass der Staat bestimmte Erkenntnisse entweder von den Göttern oder „von eben dem, der dies erkannt hat, übernehmen […] muß“ (Ⅰ 645b6–7). 38 Der Beginn der Ansprache lässt kaum Zweifel daran bestehen, dass er sich selbst als diesen jemand begreift: Er ist es, der im Gegensatz zu den übrigen Menschen über Einsichten göttlicher Art verfügt und deshalb als Vermittler zwischen der menschlichen und göttlichen Sphäre fungieren kann. 39 Diese Stelle lässt außerdem den Schluss zu, dass der Athenische Fremde mit dem unpersönlichen Gesetzgeber gleichzusetzen ist, der im Lauf der Nomoi oftmals als eigentlicher Urheber der Gesetze vorgeschoben wird. So offensichtlich die Gleichsetzung durch diese Stelle ist, so sinnvoll ist trotzdem der Versuch der Distanzierung, wie Nightingale (1993, 284) zeigt: The Athenian, of course, must speak for the ideal lawgiver (who is, after all, only a fictional presence), but he tries to avoid identifying himself with this figure. He behaves instead as though he were reporting what this wise lawgiver would propose. […] By deflecting the authorship of the laws away from the Athenian, Plato makes his lawcode appear objective, impersonal, and timeless. Es ist also ein schmaler Grat, auf dem der Athenische Fremde wandelt: Einerseits darf er nicht den Eindruck erwecken, selbst der Urheber der Gesetze zu sein, weil sie dann als ein menschliches und damit fallibles Produkt zu gelten hätten, andererseits kann er den Siedlern auch nicht weiszumachen versuchen, die Gesetze wären vom Himmel gefallen oder 37 Das Gleiche gilt auch für den Kronos-Mythos, vgl. S. 27 mit Anm. 21. 38 πόλιν δὲ ἢ παρὰ ϑεῶν τινος ἢ παρὰ τούτου τοῦ γνόντος ταῦτα λόγον παραλαβοῦσαν; vgl. auch Ⅳ 709c8, wo der Athenische Fremde als die erste Voraussetzung für ein glücklich verwaltetes Land einen Gesetzgeber nennt, „der an der Wahrheit festhält“ (τὸν νομοϑέτην ἀληϑείας ἐχόμενον). 39 Zur Legitimation des Atheners als Gesetzgeber aufgrund seiner Erfahrung und seines überlegenen Wissens s. Szlezák (2004, 45f.). Vgl. auch Yunis (1996, 230): „Plato’s lawgiver speaks virtually as the mouthpiece of god, and thus represents divine authority [...]“. Auch die höheren Beamten wie die Gesetzeswächter, die Euthynen und besonders die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung zeichnen sich durch eine besondere Bildung aus und können damit den hohen Anspruch der Gesetze zur Förderung der Tugend und des Wohles aller sicherstellen, s. Szlezák (2004, 44–53), Perkams (2013, 238–245) und Föllinger (2016, 89–93).

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Der erste Teil der Generalansprache

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stammten von einem mysteriösen idealen Gesetzgeber. Er selbst muss also mit seiner Person den idealen Gesetzgeber vertreten und den Eindruck erwecken, über Erkenntnisse zu verfügen, die über die eines gewöhnlichen Menschen hinausgehen. 40 Die Erklärung dieser Vorgehensweise dürfte aber weniger auf eine Anmaßung des Athenischen Fremden, sondern auf den Versuch zurückzuführen sein, dem Gesetz und dem Gesetzgeber eine größtmögliche Autorität zu verleihen, damit die Bürger die Gesetze eher befolgen. Schon die ersten Worte der Ansprache bewirken also sehr viel: Zum einen wird den Siedlern von Beginn an der Bezug der Gesetzgebung zum Göttlichen vor Augen geführt, zum anderen führt sich der Athenische Fremde unter der Hand selbst als der Vermittler zwischen der menschlichen und göttlichen Sphäre ein. Die göttliche Sphäre hat nun aber eine andere Prägung als noch im Kronos-Mythos. Der Bruch ist am deutlichsten daran zu erkennen, dass die Erzählung eines WeltalterMythos, wie man ihn nach der Schilderung eines Goldenen Zeitalters hätte erwarten können, nicht fortgeführt wird. Stattdessen wird nun in einer astronomisch-theologisch anmutenden Erörterung die höchste Gottheit der Polis beschrieben; als diese höchste Macht wird aber nicht Zeus, sondern eine namenlose und unpersönliche Gottheit genannt. 41 Diese Gottheit erhält die dunklen Beschreibungen, dass sie Anfang, Mitte und Ende aller Dinge in den Händen halte und auf geradem Weg zum Ziel gehe, indem sie der Natur gemäß kreisend ihre Bahn ziehe. Ein eindeutiges Vorbild für diese Konzeption einer höchsten Gottheit kennt die griechische Mythologie, Literatur oder Philosophie nicht, und auch ihre Deutung ist alles andere als evident. 42 Von den verschiedenen Erklärungen halte ich die Identifikation der Gottheit mit Kronos bzw. mit der göttlichen Vernunft (νοῦς, noús), die Kronos im Mythos vertritt, an dieser Stelle für am plausibelsten. 43 Unter Berücksichtigung von Passagen aus dem Timaios und dem Zehnten Buch der Nomoi sieht Bordt in der Kreisbewegung eine Illustration der göttlichen Vernunft (2006, 181): 44 Die Bewegung, die der Gott am Himmel vollzieht, wäre demzufolge ein Ausdruck und Abbild der an sich nicht sichtbaren Vernunft. Wenn die Gesetze […] in einem Gott den Ursprung haben, dann kann das sinnvollerweise nicht bedeuten, daß sie in der Bewegung der Himmelskörper ihren Ursprung haben, sondern daß sie in der Vernunft ihren Ursprung haben, die in der kosmischen Ordnung des Himmels sichtbar wird.

40 Diese Aufgabe hat Sokrates dem Philosophen bereits in der Politeia indirekt auferlegt (Ⅵ 500c9–d6). 41 Vgl. Pangle (1988, 444) und Young (2016, 159f.). 42 Mayhew (2010, 200) spricht von „cryptic opening words“, Bordt (2013, 211) nennt den Anfang der Rede „ausgesprochen voraussetzungsreich“. Die zahlreichen Anspielungen und diversen Vorlagen – vor allem orphisches Gedankengut und Hesiod – dieser Passage erklären Schöpsdau (2003, 208f.), Mayhew (2010, 200f.) und Bordt (2013, 211–213). 43 Morrow (1953, 155f.; 528), Young (2016, 82; 88; 148f.; 157), Bordt (2016, 180f.) und Schofield (2006, 310f.). 44 Vgl. auch Young (2016, 160f.), der zu derselben Schlussfolgerung gelangt.

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Die Generalansprache

Es darf allerdings angezweifelt werden, dass auch der normale Bürger diese Zusammenhänge herzustellen in der Lage ist. Der Athener dürfte es jedoch, so meine These, genau darauf abgesehen haben: Seine Vorgehensweise besteht nämlich offenbar darin, neuartige und aus der griechischen Tradition bekannte Elemente zu vermischen: Dass der Gott Anfang, Mitte und Ende in den Händen hält, ist eine Anspielung auf orphisches Gedankengut, das auf diese Weise das Walten des Zeus beschreibt. 45 Schenkt man einer Bemerkung des Sokrates in der Politeia Glauben, 46 so ist die Orphik zu seiner Zeit weit verbreitet, sodass man auch von einer Bekanntschaft in weiteren Teilen der Bevölkerung ausgehen kann. 47 Doch auch ohne die Verknüpfung zu orphischem Gedankengut kann man annehmen, dass der normale Bürger bei einer Gottheit, der die höchste Funktion und Macht zugeschrieben wird, an den Göttervater Zeus gedacht haben dürfte. 48 Die Kreisbewegung der Gottheit hingegen war für die meisten mit Sicherheit etwas Rätselhaftes: Der Athenische Fremde bezieht sich hier auf die kosmologischen Überlegungen zu den Planetenlaufbahnen, die für den durchschnittlichen Griechen des 5./4. Jh. eine intellektuelle Überforderung dargestellt haben dürften. 49 Allerdings sorgt er mit nur einem Wort auch in diesem Zusammenhang für eine gewisse Vertrautheit: Das Wort εὐϑείᾳ (eutheía, Ⅳ 716a1) spielt nämlich sehr wahrscheinlich auf den Zeus aus Hesiods bekanntem Lehrgedicht Werke und Tage an 50 und signalisiert, dass die Aktivität dieser Gottheit darauf ausgerichtet ist, die Ordnung und das Gute in der Welt zu bewahren. 51 Einerseits scheint der Athener es also darauf abgesehen zu haben, dass die Bürger den Gott intuitiv mit Zeus assoziieren, andererseits ist ihm in gleicher Weise daran gelegen, dem Gott keine eindeutige und fassbare Identität zu verleihen. Mit seinem Vorgehen offenbart der Athener die Zwickmühle, in der er sich befindet: Einerseits muss er deutlich machen, dass die Gesetzgebung durchaus andere Ziele verfolgt als bisherige Gesetzgebungen, andererseits darf er die Siedler mit der Neuartigkeit auch nicht überfordern. 52 Das erreicht er dadurch, dass er zwar neue Elemente einführt, sie aber sofort mit bekannten Elementen mischt und damit die Waage hält zwischen Innovation und Tradition: Durch die Unbestimmtheit stellt diese Gottheit somit durchaus etwas Neuartiges dar, andererseits weckt die Charakterisierung dieses Gottes aber zumin45 Vgl. Morrow (1953, 437 und Anm. 130), Schöpsdau (2003, 208f.), Mayhew (2010, 200f.). 46 Resp. Ⅱ 364b5–365a3; die Theorie der Seelenwanderung, die für die Orphiker bezeugt ist, hat Platon inspiriert und rezipiert (zahlreiche Stellen bei Sharafat 1998, 144 Anm. 26). 47 Zur Verbreitung orphischen Gedankenguts im 5. Jh. s. Burkert (2011, 440–445). 48 Morrow (1953, 437), Young (2016, 158–160). 49 Diese Überlegungen sind allerdings auch für das Zehnte Buch von großer Bedeutung und werden auch deshalb bereits an dieser Stelle eingeführt, vgl. Bordt (2013, 211–213). 50 Vgl. Hesiod, Erga, 9 und 36. 51 Schon ein antiker Scholiast hat εὐϑείᾳ (eutheía) mit κατὰ δίκην (katá díken, „auf gerechte Weise“) paraphrasiert, womit die ethische Dimension deutlich wird (Schöpsdau 2003, 208f.). 52 Vgl. Young (2016, 154): „On the other hand, if Magnesia’s civil religion is to provide the citizens with a unique civic and religious identity, then the precise configuration of its cults […] would have to be structured in such a way as to make Magnesia’s civil religion different from those of other Greek city‐states.“

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Der erste Teil der Generalansprache

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dest Assoziationen an Zeus und macht dem gewöhnlichen Bürger die Akzeptanz damit leichter. Deshalb ist auch das Format der Ansprache so wichtig: Innerhalb einer solchen Ansprache sind theologische Feinheiten weder erwartbar noch ausschlaggebend – entscheidend ist vielmehr der Eindruck, der im Augenblick des Zuhörens beim Adressaten hervorgerufen wird. 53 Angesichts dieser Beobachtungen kann ich schon an dieser Stelle meine These zur Intention der Ansprache formulieren: Dem Athenischen Fremden geht es in ihr nicht um die Vermittlung theologischer Details (ihnen ist das gesamte Zehnte Buch gewidmet), sondern darum, den einzelnen Gesetzen einen übergeordneten Bezugsrahmen in Form eines moralisch-kulturellen Fundaments zu verleihen. Zu diesem Zweck muss für die Bürger kein theologisch ausgefeiltes System erkennbar sein, und es schadet auch nicht, dass die genaue Bedeutung der Beschreibungen unklar bleibt – im Gegenteil: Die Wirkung auf den Zuhörer soll sich vielmehr aus dem Verkündigungscharakter der Ansprache ergeben. Yunis vergleicht den Stil der Ansprache mit einer Predigt, 54 deren Kennzeichen die „authoritative proclamation“ 55 und der „grand style“ seien. 56 Yunis fasst diese Eigenschaften zusammen und schätzt die Wirkung der Ansprache folgendermaßen ein (Yunis 1996, 232f.): In most of the preambles of the Laws the lawgiver uses the two stylistic techniques just described: he proclaims the message and uses the vehement, unadorned style to overwhelm the auditor. Does the attempt at grandeur fall flat? […] Addressing these citizens directly, Plato amasses a rhetorical force that the intended audience would be hard pressed to resist. Dem Athenischen Fremden ist daran gelegen, bei den Bürgern eine Überzeugung herzustellen, die für das Befolgen der Gesetze und für ein gutes Leben im Sinne des Atheners 53 Bordt (2013, 213) erklärt die mangelnde Klarheit damit, dass die Adressaten keine Philosophen sind und daher mit „explizit philosophisch-theologischen Überlegungen überfordert wären“; das ist zwar richtig, vernachlässigt aber das Format und Ziel der Ansprache. 54 Yunis 1996, 229: „The best way to describe what Plato does in the preambles is to say that the law­ giver preaches to the citizens [...].“ Vgl. Buccioni (2007, 268), die den Versuch kritisch beurteilt, die Rhetorik des Gesetzgebers mit Hilfe der „admittedly anachronistic notion of rhetoric as ‚preaching‘“ zu erklären. 55 Yunis 1996, 231: „With regard to content, the message that is preached in this radical way is essentially mere assertion; no form of ratiocination, however dilute or disguised, need accompany the message. Yet proclamation differs from assertion and can have a persuasive power far beyond assertion. […] In this scheme the speaker’s rhetorical task is to act as herald, to imbue the message with the appropriate authority.“ 56 Yunis 1996, 231: „The grand style is solemn, dignified, dense, and asymmetrical; it strives for vehemence and passion while addressing the most important subjects.“ Angesichts dieser Charakterisierungen möchte ich anmerken, dass ich den Vergleich mit einer Predigt im Hinblick auf die Generalansprache für äußerst zutreffend halte, weil sich der autoritäre Charakter und die Stilhöhe hier auf einzigartige Weise verbinden; auf die anderen Vorworte trifft der Vergleich meines Erachtens jedoch weniger zu.

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Die Generalansprache

förderlich ist. Die Bürger sollen daher aus dem Anfang der Rede keine theologischen und philosophischen Implikationen ableiten, sondern folgende Geisteshaltung entwickeln: 1) Der Mensch ist nicht auf sich allein gestellt, sondern einer göttlichen Instanz untergeordnet. 57 2) Diese Gottheit existiert nicht nur einfach, sondern überwacht und kontrolliert das Entstehen (den Anfang), die Existenz (die Mitte) und den Untergang (das Ende) aller Dinge. 58 Das Wort εὐϑύς (euthús, Ⅳ 716a1) deutet darüber hinaus an, dass die Gottheit die Ungerechten strafen und das Gute in der Welt durchsetzen wird (s. Anm. 51 auf S. 36). 59 Bei all diesen Überzeugungen ist ein Detailwissen nicht notwendig. Entscheidend ist, dass die Bürger in dem Gefühl leben sollen, dass die Welt im Ganzen wie ihre Existenz im Einzelnen nur in Abhängigkeit von und in Bezug auf eine göttliche Macht denkbar ist. Mit dem Beginn der Generalansprache bestätigt sich der Eindruck des ersten Satzes der Nomoi, dass das Projekt der Gesetzgebung von einem Weltbild abhängt, in dem nicht der Mensch, sondern der Gott im Zentrum steht (s. S. 11 mit Anm. 1). Im Hinblick auf die Vermittlung dieses Weltbildes hat Schofield den Begriff der Ideologie ins Spiel gebracht (Schofield 2006, 282): Taken as a purely descriptive term, however, it does express something Plato evidently thought it [sic] essential to build into his account of how a harmonious society might be made to work. What I have in mind is ideology as a highly articu­ lated system of widely and deeply held beliefs and cultural values that is strongly influential on behaviour. Die Ansprache kann meines Erachtens als Zentrum dieses übergeordneten Bezugsrahmens verstanden werden. 60 Im weiteren Verlauf werden zusätzlich zu dem allgemeinen Gefühl der Unterordnung weitere kulturelle Werte vermittelt, die das individuelle Verhalten in eine bestimmte Richtung lenken sollen. Der Athener setzt die Ansprache folgendermaßen fort (Ⅳ 716a2–b5):

57 Vgl. Hentschke (1971, 273): „Notwendig ist die Anerkennung der Maßgeblichkeit des Gottes [...], d. i. daß er im Weltgesetz die umfassende Gewalt besitzt […] und daher auch für den Menschen der Herr ist, von dem allein Glückseligkeit abhängt […].“ (Ausgelassen sind lediglich die Stellenangaben.) 58 Dieser Interpretation liegen Mayhews Überlegungen zugrunde (2010, 201f.), was es mit der Äußerung auf sich hat, dass Gott Anfang, Mitte und Ende in den Händen hält (Mayhew ist jedoch nur an der theologischen Dimension interessiert und fragt nicht nach den Konsequenzen für die Adressaten). 59 Unter Berücksichtigung des Timaios und des Zehnten Buchs der Nomoi gelangt Bordt (2013, 214– 216) zu der Interpretation, dass die kreisförmige Bewegung der Gottheit eine objektive und unbeeinflussbare Ordnung andeutet. Damit wiese der Gott alle Eigenschaften gemäß der Theologie des Zehnten Buchs der Nomoi auf: Sie ist zeitlich und ontologisch primär, sie sorgt für die Aufrechterhaltung einer Ordnung, in der Menschen ein glückliches Leben führen und sie ist gegenüber Versuchen der Beeinflussung immun. 60 Vgl. auch Schofield 2006, 314, wo er das religiöse Konzept als „integrated and overarching ideology“ bezeichnet; die Ansprache beschreibt er er als „solemn religious rhetoric conveying ethical imperatives buttressed by theology“ (2006, 311).

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τῷ δὲ ἀεὶ συνέπεται δίκη τῶν ἀπολειπομένων τοῦ ϑείου νόμου τιμωρός, ἧς ὁ μὲν εὐδαιμονήσειν μέλλων ἐχόμενος συνέπεται ταπεινὸς καὶ κεκοσμημένος, ὁ δέ τις ἐξαρϑεὶς ὑπὸ μεγαλαυχίας, ἢ χρήμασιν ἐπαιρόμενος ἢ τιμαῖς, ἢ καὶ σώματος εὐμορφίᾳ ἅμα νεότητι καὶ ἀνοίᾳ φλέγεται τὴν ψυχὴν μεϑ’ ὕβρεως, ὡς οὔτε ἄρχοντος οὔτε τινὸς ἡγεμόνος δεόμενος, ἀλλὰ καὶ ἄλλοις ἱκανὸς ὢν ἡγεῖσϑαι, καταλείπεται ἔρημος ϑεοῦ, καταλειφϑεὶς δὲ καὶ ἔτι ἄλλους τοιούτους προσλαβὼν σκιρτᾷ ταράττων πάντα ἅμα, καὶ πολλοῖς τισιν ἔδοξεν εἶναί τις, μετὰ δὲ χρόνον οὐ πολὺν ὑποσχὼν τιμωρίαν οὐ μεμπτὴν τῇ δίκῃ ἑαυτόν τε καὶ οἶκον καὶ πόλιν ἄρδην ἀνάστατον ἐποίησεν. […] und ihm folgt dabei stets die Gerechtigkeit nach als Rächerin für diejenigen, die hinter dem göttlichen Gesetz zurückbleiben. An diese schließt sich an, wer glücklich sein will, und folgt ihr in Demut und Bescheidenheit; wer sich aber in stolzem Dünkel erhebt, weil er stolz auf Reichtum ist oder auf Ehren oder auf körperliche Wohlgestalt verbunden mit Jugend und Unvernunft, und so in seiner Seele in Übermut entbrennt, als bedürfe er weder eines Herrschers noch eines Führers, sondern als sei er sogar imstande, andere zu führen, der bleibt, von Gott verlassen, allein zurück, und indem er in seiner Verlassenheit noch andere seinesgleichen an sich zieht, springt er herum und bringt dabei alles in Verwirrung, und gar vielen gilt er wirklich als jemand; doch nach gar nicht langer Zeit zahlt er der Gerechtigkeit eine nicht zu verachtende Strafe und richtet sich selbst und sein Hauswesen und den Staat völlig zugrunde. Nachdem der Athener zu Beginn seiner Rede das Verhältnis des Menschen zur göttlichen Sphäre beschrieben hat, geht es nun um Prinzipien der Lebensführung und charakterliche Eigenschaften der Bürger. Das Prinzip folgt dem Muster im ersten Abschnitt: Mit dem Verweis auf die personifizierte Dike greift der Athener auf ein bekanntes Element zurück, 61 das er jedoch in bedeutsamer Hinsicht erneuert: Wer glücklich sein wolle, müsse sich Dike in Demut und Bescheidenheit anschließen. Im Gegensatz zur üblichen pejorativen Verwendungsweise 62 hat das Wort ταπεινός (tapeinós, Ⅳ 716a4) hier eindeutig eine positive Konnotation: Denn derjenige, der sich Dike in dieser Haltung anschließt, ebnet den Weg für ein glückliches Leben. Dike dient außerdem dem Zweck, den im Anfang der Rede nur durch das Wort εὐϑύς (euthús, Ⅳ 716a1) angedeuteten Punkt zu erhärten, 61 Dike ist eine der beliebtesten Personifikationen der griechischen Literatur (s. Schöpsdau 2003, 209); in diesem Zusammenhang ist die erneute Anspielung auf Hesiod wahrscheinlich, der sie einmal als Wächterin der sozialen Ordnung (Theogonie, 902) und einmal als Gehilfin des Zeus beschreibt (Erga, 255–261). Dieses letztere Bild von Dike als derjenigen, die Zeus die Ungerechtigkeiten der Menschen anzeigt, hat eine besondere Verbreitung erfahren (s. Schöpsdau 2003, 209). 62 Dodds 1951, 215; vgl. Schöpsdau (2003, 209), der durch diesen Kontrast eine Steigerung der Erhabenheit Dikes sieht. Die geforderte Haltung fügt sich allerdings auch ohne diese vermutete Funktion in das Welt- und Menschenbild der Nomoi, in dem zum einen die Schwäche der menschlichen Natur (Ⅲ 691c5–d5, s. S. 22) und zum anderen die Bedingtheit und Bedeutungslosigkeit der menschlichen Existenz angesichts des Kosmos und der göttlichen Mächte herausgestellt wird (Ⅳ 708e1–d9 und Ⅶ 803b3–804c1).

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Die Generalansprache

dass göttliche Mächte gerechtes Handeln belohnen und ungerechtes Handeln bestrafen. 63 Was damit gemeint ist, wird zuerst an demjenigen illustriert, der sich Dike nicht anschließt: Wer sich in stolzem Dünkel erhebe und meint, keines Herrschers zu bedürfen, oder gar der Ansicht ist, andere führen zu können, der bleibe von Gott verlassen allein zurück und richte darüber hinaus auch noch die Gemeinschaft zugrunde. 64 Wodurch sich demgegenüber derjenige auszeichnet, der in Demut und Bescheidenheit Dike folgt, bleibt zunächst unklar; erst ein kleines Zwischenstück leitet dazu über (Ⅳ 716b5–9): [ΑΘ.] πρὸς ταῦτ’ οὖν οὕτω διατεταγμένα τί χρὴ δρᾶν ἢ διανοεῖσϑαι καὶ τί μὴ τὸν ἔμφρονα; [ΚΛ.] Δῆλον δὴ τοῦτό γε· ὡς τῶν συνακολουϑησόντων ἐσόμενον τῷ ϑεῷ δεῖ διανοηϑῆναι πάντα ἄνδρα. [Ath.] Was soll also angesichts dieser Ordnung der Dinge der Verständige tun oder denken und was nicht? [Kl.] Offenbar doch dies: daß er unter denen ist, die dem Gotte folgen, darauf muß jedermann bedacht sein. An dieser Stelle wird erneut das Motiv von der Angleichung an Gott angedeutet, das den nächsten Abschnitt und die Ansprache des Atheners insgesamt bestimmt. Interessant und bedeutsam ist, dass Kleinias derjenige ist, der die Schlussfolgerung aus den bisherigen Ausführungen zieht, man müsse dem Gott folgen. 65 Wir werden gleich noch sehen, 63 Damit wird das in der griechischen Literatur viel behandelte Problem angesprochen, wieso ungerechte Menschen ein scheinbar glückliches Leben führen können, obwohl sie doch offensichtlich gegen die Ordnung des Zeus verstoßen (dazu Bordt 2006, 106–109). Auch wenn es hier dem Kontext und Format entsprechend nicht systematisch behandelt wird, stellt der Athenische Fremde am Ende dieses Abschnitts den Gerechten Genugtuung und den Ungerechten Bestrafung in Aussicht – im Gegensatz zu früheren Behandlungen dieser Thematik aber mit einer bemerkenswerten Neuerung: Die Bestrafung der Ungerechten erfolgt bereits „nach gar nicht langer Zeit“ (μετὰ δὲ χρόνον οὐ πολὺν, 716b3) und nicht erst bei den Nachfahren des Übeltäters (wie bei Solon oder Aischylos, s. Bordt 2006, 107f.). 64 Hier kann man sehen, dass der Athenische Fremde auch stark in sozialen Dimensionen denkt: Nicht nur wird dem Einzelnen der Anreiz gegeben, selbst gerecht zu handeln, sondern auch die Abneigung gegen alle Ungerechten eingeflößt, indem dessen Gefahr für die Gemeinschaft explizit gemacht wird. 65 Pangle (1988, 444) bemerkt dazu, dass Kleinias die Aufmerksamkeit zurück auf den Gott lenkt, obwohl man von ihm eher eine Fortführung des Dike-Motivs hätte erwarten können; ich halte es allerdings für wahrscheinlich, dass sich Kleinias mit „dem Gott“ (τῷ ϑεῷ, Ⅳ 716b9) in generischer Weise auf die göttliche Dike bezieht oder aber das Doppelgespann von namenloser Gottheit und der sie begleitenden Dike meint. Auch Young bemerkt dieses dialogische Zwischenstück und stützt damit seine Interpretation (s. Anm. 35 auf S. 33), dass in der Ansprache eine zweifache Theologie vermittelt wird: Indem Kleinias als Stellvertreter der gewöhnlichen Bürger die Angleichung an Gott

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warum das ein wichtiger Hinweis des Textes ist. Der Athener führt seine Ansprache fort (Ⅳ 716c1–6): Τίς οὖν δὴ πρᾶξις φίλη καὶ ἀκόλουϑος ϑεῷ; μία, καὶ ἕνα λόγον ἔχουσα ἀρχαῖον, ὅτι τῷ μὲν ὁμοίῳ τὸ ὅμοιον ὄντι μετρίῳ φίλον ἂν εἴη, τὰ δ’ ἄμετρα οὔτε ἀλλήλοις οὔτε τοῖς ἐμμέτροις. ὁ δὴ ϑεὸς ἡμῖν πάντων χρημάτων μέτρον ἂν εἴη μάλιστα, καὶ πολὺ μᾶλλον ἤ πού τις, ὥς φασιν, ἄνϑρωπος· Welches Tun ist nun dem Gotte lieb und folgt ihm nach? Nur eines, das auch einen einzigen alten Spruch auf seiner Seite hat, daß nämlich das Ähnliche dem Ähnlichen, wenn es Maß hält, lieb ist, das Maßlose aber weder untereinander noch dem Maßvollen. Die Gottheit dürfte nun für uns am ehesten das Maß aller Dinge sein, und dies weit mehr als etwa, wie manche sagen, irgend so ein Mensch. Dieser Abschnitt stellt das Herzstück der Ansprache dar. Von allen, die sich mit dieser Stelle befassen, wird die zentrale Bedeutung der Angleichung an Gott nicht nur für die Ansprache, sondern für die gesamte Gesetzgebung hervorgehoben; exemplarisch sei Lavecchia zitiert (2006, 162): 66 Nel corso del dialogo questa ὁμοίωσις si rivela come la fonte che alimenta la scrittura delle Leggi […]. Die zentrale Frage des Abschnitts ist, wie man Gott hier verstehen soll. Die meisten Interpreten setzen die Gottheit mit der Gottheit am Anfang der Ansprache gleich und kommen daher zu ähnlichen Schlussfolgerungen: 67 Versteht man unter Gott auch hier die göttliche Vernunft, besteht die Angleichung darin, so vernünftig und in der Folge so gerecht wie möglich zu werden; damit wäre die Angleichung hier identisch mit der Angleichung an Gott in anderen Dialogen, wo sie entweder durch die Schau der Ideen und oder durch die Ausbildung der Tugend und die dadurch hergestellte Ordnung der Seele erreicht werden soll. 68 als Aufgabe bezeichnet, werde signalisiert, dass es sowohl für den Bürger als auch für den Philosophen eine Angleichung an Gott gibt (Young 2016, 167). 66 Vgl. auch Krämer (1959, 196f. und 206); Sandvoss (1971, 48f.); Hoffmann (1993, 303); Wilke (1997, 29; allgemein zur Bedeutung der Ansprache). 67 Zwei Ausnahmen stellen Sandvoss (1971, 32–38) und Bordt (2006, 214–237) dar; während Sandvoss zu dem Schluss kommt, dass in den Nomoi eine neuartige Konzeption entworfen wird, die sich von anderen Darstellungen in den platonischen Dialogen unterscheidet, zeigt Bordt überzeugend auf, dass sich die Konzeption in den Nomoi durchaus in Einklang mit anderen Stellen bringen lässt, wenn man die jeweiligen Szenarien der Dialoge berücksichtigt. 68 Auch wenn natürlich manche Interpreten bestimmte Aspekte stärker betonen, wird doch bei den meisten deutlich, dass sich Ordnung, Tugend und Vernunft mehr oder weniger gegenseitig bedingen und nicht streng voneinander getrennt werden können (Hoffmann 1996, 304–306; Wilke 1997, 32f.; Sharafat 1998, 164–171; Lavecchia 2005, 327); bei Bordt (2017, 260) wird besonders deutlich,

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Die Generalansprache

In der Einleitung dieses Kapitels hatte ich jedoch bereits darauf hingewiesen, dass ein solches Verständnis angesichts der gravierenden Unterschiede der Dialoge sehr unwahrscheinlich ist. Die Formulierung des Athenischen Fremden deutet ebenfalls darauf hin, dass in diesem Zusammenhang nur ein bestimmter Aspekt fokussiert wird, der dieser Gottheit in besonderer Weise zukommt. Die Ausgangsfrage ist, welches Verhalten dem Gott nachfolgt und ihm lieb ist (Ⅳ 716c1); anders gewendet lautet die Frage: Durch welches Verhalten zeichnet sich der Gott aus, das ich nachahmen muss, um dem Gott zu gefallen? Die Antwort darauf gibt der Athener selbst: Für uns dürfte der Gott am ehesten das Maß aller Dinge sein. 69 Als dem Maß schlechthin ist dem Gott also maßvolles Verhalten lieb. 70 In formaler Hinsicht ist die Darstellung interessant, die einen formallogischen Charakter aufweist: These 1: These 2: These 3:

Der Mensch muss sich Gott angleichen. Eine Angleichung erfolgt über Ähnlichkeit. Gott ist das Maß.

Schluss:

Der Mensch gleicht sich Gott an, indem er maßvoll ist.

Von den Thesen, über deren inhaltliche Richtigkeit man zweifellos unendliche Diskussionen führen könnte, ist die erste insofern problematisch, als sie keine positive, sondern eine normative Aussage darstellt. Aus diesem Grund ist die Beobachtung wichtig, dass es Kleinias war, der die Schlussfolgerung aus dem Anfang der Ansprache gezogen hat, man müsse dem Gott folgen. 71 Auch wenn der Athener aus diesem vagen Bild ohne weitere dass die unterschiedlichen Aspekte als Folge „einer den gesamten Kosmos umfassenden Ordnung der Vernunft“ verstanden werden können (255). Roloff (1970, 200) fasst die unterschiedlichen Aspekte der Angleichung an Gott folgendermaßen zusammen: „Wird das Göttliche als persönliches Wesen und sein hervorstechendstes Merkmal als unfehlbare Gerechtigkeit bestimmt, so besteht die Angleichung an Gott darin, selber so gerecht wie möglich zu werden; wird das Göttliche hingegen als die Gesamtheit der Ideen bestimmt, so vollzieht sich die Angleichung in dem als Umgang mit den Ideen bezeichneten Bemühen um Erkenntnis.“ 69 Mit dieser Bestimmung wendet sich der Athenische Fremde offensichtlich gegen den sogenannten homo-mensura-Satz des Protagoras, wonach der Mensch das Maß aller Dinge sei. Einen guten Forschungsüberblick zu den unterschiedlichen Verständnismöglichkeiten dieses Satzes gibt Huss (1996); zur Auseinandersetzung Platons mit Protagoras s. Trampedach (1994, 176–202 und 215–232). 70 Als Voraussetzung für die Nachahmung verweist der Athenische Fremde auf das Prinzip, dass das Ähnliche dem Ähnlichen, nur sofern es maßvoll ist, lieb ist; diese Formulierung (φίλον ἄν εἴη, Ⅳ 716c3) ist jedoch anfällig für Missverständnisse. Das Ähnliche als abstrakte Größe kann ja nichts gutheißen wie eine Person, die ein ihr entsprechendes Verhalten gutheißt. Es bedeutet vielmehr, dass aus der Nachahmung eines Verhaltens nur dann etwas Gutes hervorgehen kann, wenn das nachgeahmte Verhalten in sich maßvoll ist. Das ist jedoch in diesem Fall eindeutig gewährleistet: Indem Gott als Maß verstanden wird, fallen die prinzipielle Voraussetzung und inhaltliche Bestimmung der Nachahmung zusammen. 71 τῶν συνακολουϑησόντων […] τῷ ϑεῷ, Ⅳ 716b8–9.

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Rückversicherung bei Kleinias das konkrete Motiv von der Angleichung an Gott macht, kann man zumindest von einer gewissen Übereinstimmung sprechen; 72 damit entgeht der Athener dem möglichen Vorwurf, seinen Gesprächspartnern eine normative Aussage als Ausgangsthese für sein Argument untergeschoben zu haben. Für unseren Zusammenhang sind nun weder die formalen Details noch die inhaltliche Prüfung der Thesen entscheidend, sondern die Erkenntnis, dass diese eine der wenigen Passagen der Nomoi ist, die dem formalen Anspruch eines philosophischen Arguments genügen. Die Überzeugungsstrategie des Atheners erweist sich damit als sehr vielschichtig: Er verlässt sich nicht auf jene Aspekte, die der Ansprache den Charakter einer Predigt verleihen, sondern setzt auch auf die Wirkung eines formalen Arguments, das den Bürgern den Kern der Ansprache auf objektiv-wissenschaftliche Weise beweisen soll. Zwei Eigenheiten an der Formulierung des zentralen Satzes sind jedoch auffällig: Zum einen der Optativ, zum anderen der Dativ (Ⅳ 716c4–5): ὁ δὴ ϑεὸς ἡμῖν πάντων χρημάτων μέτρον ἂν εἴη μάλιστα […]. Der Gott ist nicht schlechthin das Maß für jeden, sagt der Athener, sondern er dürfte es für uns am ehesten sein. Es ist vor allem das unscheinbare ἡμῖν (hemín), das an den Kontext der Rede erinnert: Der Athener versetzt sich in die Lage der Adressaten und fragt sich gemeinsam mit ihnen und den Gesprächspartnern, was die abstrakte Gottheit vom Anfang der Rede nun für uns ist, wie sie sich uns darstellt, wie eine Angleichung an jene Gottheit für uns aussehen kann. Auch in diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass Kleinias den Schluss gezogen hat, man müsse dem Gott folgen (s. S. 40f. mit Anm. 65). Dadurch wird zum einen signalisiert, dass diese Erkenntnis nicht den Philosophen vorbehalten, sondern jedem möglich ist, der die Diskussion auf engagierte Weise verfolgt. Zum anderen stützt es die Interpretation, dass der Athener eine Angleichung an Gott für den normalen Bürger beschreibt: Indem Kleinias als Stellvertreter dieser Gruppe das entscheidende Stichwort gibt, ist es wahrscheinlich, dass sich der Athener in seinen Ausführungen auf Kleinias und dessen Erfahrungshorizont bezieht. Vor dem Hintergrund des Kap. III.1 kann man das Verständnis von Gott in Bezug auf die Menschen als Maß leicht verstehen: Das Maß, um das es dem Athenischen Fremden in den Nomoi geht, bezieht sich auf Lust und Schmerz als den entscheidenden motivationalen Faktoren menschlichen Handelns. Quelle eines Maßes kann nur die Gottheit sein, weil sie anders als die Menschen nicht an diese Emotionen gebunden ist, wie ex negativo am Ende der Generalansprache deutlich wird (Ⅴ 732d8–e7): νῦν οὖν δὴ περὶ μὲν ἐπιτηδευμάτων, οἷα χρὴ ἐπιτηδεύειν, καὶ περὶ αὐτοῦ ἑκάστου, ποῖόν τινα χρεὼν εἶναι, λέλεκται σχεδὸν ὅσα ϑεῖά ἐστι, τὰ δὲ ἀνϑρώπινα νῦν ἡμῖν οὐκ 72 Diese auch als Homologie bezeichnete Übereinstimmung zwischen den Gesprächspartnern ist ein konstitutiver Bestandteil des dialektischen Gesprächs, s. Geiger 2017, 381; die Stelle ist damit ein weiterer Beleg dafür, dass auch die Nomoi zumindest in Teilen die typischen Prinzipien platonischer Dialoggestaltung erkennen lassen, vgl. S. 23 mit Anm. 14.

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Die Generalansprache

εἴρηται, δεῖ δέ: ἀνϑρώποις γὰρ διαλεγόμεϑα ἀλλ᾽ οὐ ϑεοῖς. ἔστιν δὴ φύσει ἀνϑρώπειον μάλιστα ἡδοναὶ καὶ λῦπαι καὶ ἐπιϑυμίαι, ἐξ ὧν ἀνάγκη τὸ ϑνητὸν πᾶν ζῷον ἀτεχνῶς οἷον ἐξηρτῆσϑαί τε καὶ ἐκκρεμάμενον εἶναι σπουδαῖς ταῖς μεγίσταις […]. Über die Bestrebungen also, denen man sich hingeben muß, und über jeden selbst, wie er beschaffen sein soll, ist nun so ziemlich alles gesagt, was göttlich ist; das Menschliche aber haben wir jetzt noch nicht vorgetragen, müssen es aber; denn mit Menschen sprechen wir und nicht mit Göttern. Etwas wesenhaft Menschliches sind nun vor allem Lust und Schmerz und Begierden, an die mit Notwendigkeit jedes sterbliche Wesen geradezu wie festgebunden und aufgehängt ist mit seinen ernstesten Bestrebungen. Das heißt nicht, dass der Gottheit diese Gefühle fremd sind: Später im Gespräch (mit Bezug auf die Angleichung an Gott) wird ihre Gemütsverfassung als „heiter“ beschrieben; 73 sie befindet sich in einem Zustand der „Mitte“, in dem sie weder der Lust nachjagt noch den Schmerz flieht (Ⅶ 792c8–d4): ὁ μὲν γὰρ ἐμὸς δὴ λόγος οὔϑ᾽ ἡδονάς φησι δεῖν διώκειν τὸν ὀρϑὸν βίον οὔτ᾽ αὖ τὸ παράπαν φεύγειν τὰς λύπας, ἀλλ᾽ αὐτὸ ἀσπάζεσϑαι τὸ μέσον, ὃ νυνδὴ προσεῖπον ὡς ἵλεων ὀνομάσας, ἣν δὴ διάϑεσιν καὶ ϑεοῦ κατά τινα μαντείας φήμην εὐστόχως πάντες προσ​α γορεύομεν. Meine Behauptung lautet nämlich, daß ein richtiges Leben weder der Lust nachjagen noch den Schmerz völlig fliehen darf, sondern eben die rechte Mitte vorziehen muß, die ich gerade als heiter bezeichnet habe, eine Gemütsverfassung, die wir ja alle einer Art Seherspruch zufolge auch der Gottheit ganz zutreffend beilegen. Die Gottheit, könnte man sagen, ist die größte Autorität im Umgang mit Lust- und Schmerzgefühlen: Sie kann am besten beurteilen, welche Lust- und Schmerzgefühle maßvoll sind, weil sie sich in einem dauerhaft harmonischen Zustand befindet, in dem sie ausschließlich maßvolle Empfindungen hat. 74 Sie erschöpft sich zwar nicht darin, für die Menschen als Maß zu fungieren – aber es ist diejenige Eigenschaft, die ihnen auf greifbare Weise zum Vorbild dienen kann. 75 Alle Eigenschaften, wie sie für den Gott zu Beginn der Ansprache beschrieben worden sind, können gewöhnliche Menschen niemals annehmen. Der Prozess der Angleichung, wie er im vorliegenden Abschnitt beschrieben wird, 73 Das griechische Wort ist ἵλεως („gnädig“) und ein häufig genutztes Attribut Gottes oder des göttlichen Bereichs bei Platon, vgl. Phaidr. 257a7 oder Euthy. 273e6. Auch in den Nomoi kommt es mehrere Male vor, vgl. Ⅳ 712b5, Ⅴ 747e5 und Ⅺ 923b7 (diese Stelle wird auf S. 118 behandelt). 74 In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Gottheit von der im Philebos geschilderten, der Zustände von Lust und Schmerz gänzlich fremd sind (33b8–9); s. dazu Schöpsdau (2003, 515f.) und Prauscello (2013, 256 Anm. 5). 75 Vgl. Young (2016, 168) und Pangle (1988, 444), die die Bestimmung des Maßes und Bedeutung der Besonnenheit in ihrer Interpretation ebenfalls stark machen.

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beschränkt sich daher auf diesen Aspekt: Die Menschen sollen versuchen, so maßvoll zu werden, wie es ihnen möglich ist. Es ist also nicht verwunderlich, wenn der Athenische Fremde als Bestimmung gottgefälligen Handelns folgert (Ⅳ 716c6–d4): τὸν οὖν τῷ τοιούτῳ προσφιλῆ γενησόμενον, εἰς δύναμιν ὅτι μάλιστα καὶ αὐτὸν τοιοῦτον ἀναγκαῖον γίγνεσϑαι, καὶ κατὰ τοῦτον δὴ τὸν λόγον ὁ μὲν σώφρων ἡμῶν ϑεῷ φίλος, ὅμοιος γάρ, ὁ δὲ μὴ σώφρων ἀνόμοιός τε καὶ διάφορος καὶ ἄδικος, καὶ τὰ ἄλλ’ οὕτως κατὰ τὸν αὐτὸν λόγον ἔχει. Wer also einem solchen Wesen lieb und teuer werden will, der muß notwendig, soweit er es vermag, möglichst selber zu einem solchen werden, und so ist nach diesem Grundsatz der Besonnene unter uns dem Gotte lieb, denn er ist ihm ähnlich; der Unbesonnene dagegen ist ihm unähnlich und ihm feind und ungerecht und so auch alles übrige nach demselben Grundsatz. Die letzte zu klärende Frage ist, wie die Angleichung zu bewerkstelligen ist und ob es einen Abschluss der Angleichung gibt. Wie wird der Bürger also besonnen? Die Antwort darauf findet sich bereits zu Beginn der Ansprache: Dort wird Dike als die Rächerin derjenigen beschrieben, die hinter dem göttlichen Gesetz zurückbleiben. 76 Dike erscheint in diesem Bild zwar als Personifikation des Rechts, aber sie straft und belohnt nicht nur metaphorisch, sondern ganz konkret: Dike steht für die Gesetze, die aus der göttlichen Vernunft abgeleitet sind und damit selbst göttlichen Status beanspruchen können. 77 Die Strafe der Verbrecher besteht in den jeweiligen Sanktionen des Gesetzes – die Belohnung in der Vermittlung des Maßes: Denn die Menschen werden besonnen und dem Gott ähnlich (Ⅳ 716c6–d1), indem sie die Gesetze befolgen, die maßvoll sind, weil sie von Gott abgeleitet sind, der das Maß aller Dinge ist; damit legen sie wiederum die Grundlage für ein glückliches Leben (Ⅳ 716a3–4). Der Ziel- und Endpunkt der Angleichung besteht darin, dass die Bürger durch die dauerhafte Befolgung der Gesetze eine habitualisierte Besonnenheit erreichen, dank der sie den Anweisungen des Gesetzes ohne Schwierigkeiten und Widerstand Folge leisten. Weil normale Menschen Lust und Schmerz aber so stark verhaftet sind, werden sie das zum einen nicht immer und zum anderen nicht in neuen oder ungewohnten Situationen erreichen, die vom Gesetz nicht abgedeckt sind. Der Philosoph hingegen, der über eine „wahrhafte und freie“ Vernunft verfügt, kann für sich selbst Gesetze hervorbringen und ist daher auf eine äußere Ordnung nicht angewiesen (Ⅸ 875c3–d1). 76 τῷ δὲ ἀεὶ συνέπεται δίκη τῶν ἀπολειπομένων τοῦ ϑείου νόμου τιμωρός, Ⅳ 716a2–3. 77 Hierin liegt eine Parallele zum Kronos-Mythos: Kronos und der Gott in der Ansprache sorgen beide auf je unterschiedliche, aber doch ähnliche Weise für die Rahmenbedingungen, unter denen ein glückliches Leben möglich ist; beide fungieren zwar als Garant einer ewigen und unumstößlichen Ordnung, in die sich die Menschen einfügen müssen, um glücklich zu sein. In beiden Fällen sorgen sie aber nicht selbst für die konkrete Durchsetzung dieser Ordnung: Kronos setzt Daimones als Könige über die Menschen ein (s. S. 27f.), und der Gott in der Ansprache überträgt Dike die Belohnung der Gerechten und die Bestrafung der Ungerechten.

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Die Generalansprache

Die so verstandene Angleichung an Gott, wie sie in der Ansprache des Atheners dargelegt wird, stellt für die Kolonisten zweifellos etwas Neuartiges dar, womit sie nichts werden anfangen können. Direkt im Anschluss lässt er jedoch etwas folgen, was jedem Griechen des 4. Jh. v. Chr. wohlvertraut ist (Ⅳ 716d4–e2): νοήσωμεν δὴ τούτοις ἑπόμενον εἶναι τὸν τοιόνδε λόγον, ἁπάντων κάλλιστον καὶ ἀληϑέστατον οἶμαι λόγων, ὡς τῷ μὲν ἀγαϑῷ ϑύειν καὶ προσομιλεῖν ἀεὶ τοῖς ϑεοῖς εὐχαῖς καὶ ἀναϑήμασιν καὶ συμπάσῃ ϑεραπείᾳ ϑεῶν κάλλιστον καὶ ἄριστον καὶ ἀνυσιμώτατον πρὸς τὸν εὐδαίμονα βίον καὶ δὴ καὶ διαφερόντως πρέπον, τῷ δὲ κακῷ τούτων τἀναντία πέφυκεν. Wir wollen aber bedenken, daß sich daran folgender Satz schließt, der schönste und wahrste, meine ich, von allen Sätzen: daß für einen guten Menschen das Opfern und der ständige Verkehr mit den Göttern durch Gebete, Weihgeschenke und alle Formen der Gottesverehrung das schönste und beste und wirksamste Mittel zu einem glücklichen Leben und ihm daher auch ganz besonders angemessen ist, für den Schlechten aber das Gegenteil davon. Damit treffen unmittelbar auf die theologisch-philosophischen Reflexionen die üblichen Formen der griechischen Götterverehrung, wie sie im Kult seit Jahrhunderten üblich waren: Mit starkem Kontrast stehen sich an dieser Stelle Philosophie und Volksreligion gegenüber. Für mich ist dieses Aufeinandertreffen eine weitere und die bisher eindrücklichste Bestätigung für die These, dass der Athener in seiner Ansprache auf neuartige Aspekte der Gesetzgebung solche folgen lässt, die den Bürgern durch Tradition und Konvention vertraut sind, um sie dadurch leichter für die Ziele der Gesetzgebung einnehmen zu können. Auch in diesem Fall versucht er die Bürger durch den Verweis auf die Einrichtungen der Volksreligion abzulenken und den Eindruck zu erwecken, die Angleichung an Gott wäre mehr oder weniger dasselbe wie das, was die Bürger ohnehin jeden Tag in ihrem Umgang mit den Göttern tun. Young hingegen ist genau gegenteiliger Ansicht; er sieht in dieser Stelle die Bestätigung für seine These, 78 dass die Volksreligion der Pfad ist, der dem normalen Bürger eine Angleichung an Gott ermöglicht (Young 2016, 169): Thus, the political demiurge, I argue, helps the non-philosopher to become habituated toward virtue by instituting a civil religion that will promote moderation and justice through frequent participation in religious rituals and ceremonies. […] Thus, whereas the philosopher becomes like god by reflecting upon the order and operation of divine νοῦς in the cosmos and by imitating νοῦς’ activity as an efficient cause of order in the world, the non‐philosopher follows god – and therefore becomes moderate – by engaging in religious practices (sacrifice, prayer, votive offerings, etc.). 78 S. auch die Anm. 7 auf S. 18 und Anm. 35 auf S. 33; für seine These zur Polis-Religion als Instrument zur Angleichung an Gott für den normalen Bürger s. auch Young 2016, 166.

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Kurz darauf konkretisiert Young seine These dahingehend, dass die Volksreligion „an elaboration of Delphi’s moral and religious teachings“ sei, 79 die dem Bürger eine Angleichung an Gott ermöglichen soll (Young 2016, 181): What I suggest is that in the Laws Plato sought to connect his non‐philosophical conception of ὁμοίωσις ϑεῷ to the moral and religious teachings of Delphi in order to give it the support of tradition […]. Im Folgenden werde ich mich ausführlicher mit dieser These beschäftigen und sie mit zwei Argumenten angreifen. Zum einen kann man auf einer allgemeinen Ebene feststellen, dass die konventionellen Formen der griechischen Götterverehrung 80 in den Nomoi recht oberflächlich behandelt werden. Der Athenische Fremde führt zwar durchaus die eine oder andere Innovation im Rahmen der Volksreligion ein und nimmt damit Einfluss auf die religiöse Praxis. 81 Allerdings werden nicht nur die vom Athenischen Fremden selbst angesprochenen Formen vom Umgang mit den Göttern, nämlich Tieropfer, Gabenopfer und Gebete, sondern auch die anderen für die griechische Religion elementaren Rituale wie die Prozession in den Nomoi oftmals nur erwähnt, aber nicht im Detail ausgearbeitet. 82 Stattdessen lässt sich häufig bei den für die Volksreligion wesentlichen Aspekten beobachten, dass der Athener immer dort, wo man aufgrund der seiner vielfältigen und minutiösen Regulierungen in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Miteinanders auch in religiösen Fragen eine entsprechende Regulierung erwartet, entweder auf die Beibehaltung der Tradition verweist oder die Aufgabe an andere delegiert oder die Details bewusst offen lässt. 83 Dagegen könnte man einwenden, dass der Athenische Fremde im 79 Young 2016, 184. 80 S. dazu Nilsson (1967, 132–157) und Burkert (2011, 91–189). 81 Die hervorstechendsten Neuerungen sind zum einen die zwölf Phylen, denen jeweils eine Gottheit zugelost wird, der zu Ehren jeden Monat ein Fest veranstaltet wird (Ⅵ 745d2–e2); zum anderen der magnesische Festkalender, der für jeden Tag im Jahr ein Opfer vorsieht (Ⅷ 828a7–d5); zu Details dieser Besonderheiten s. Schöpsdau (2011, 169–172); allgemein und ausführlich zur „Religious Legislation“ Young (2016, 195–206). 82 Eine Ausnahme stellen die Regelungen zu den Chören und Gesängen dar (Ⅶ 800b4–802a5), die allerdings Teil der gesetzlichen Bestimmungen zu den musischen Künsten insgesamt sind (weil Gebete und Göttergesänge als Gattungen der Musik begriffen werden, Ⅲ 700a7–c1). Die musischen Künste sind deswegen Gegenstand umfassender und detaillierter Regulierung, weil sie starken Einfluss auf die Charakterbildung haben, s. dazu Büttner (2000, 233–240). Zur Bedeutung der Chöre s. Prauscello (2013). 83 Ich gebe hier nur einige Beispiele: Bei den Landzuweisungen an die Götter sagt der Athener explizit, dass hinsichtlich der Götter und Heiligtümer niemand an dem zu rütteln wagen solle, „was Sprüche von Delphi oder Dodona oder vom Ammon oder sonst irgendwelche alten Aussprüche geraten haben“ (Ⅴ 738c1–2, ὅσα ἐκ Δελφῶν ἢ Δωδώνης ἢ παρ᾽ Ἄμμωνος ἤ τινες ἔπεισαν παλαιοὶ λόγοι); bei der Organisation der Götterfeste in Ⅷ 828a7–d5 wird an die Gruppe aus Priestern, Auslegern und Gesetzeswächtern delegiert, wie ein Opfer durchzuführen und welchen Göttern zu opfern ist; auch wenn sich der Athener zur Durchführung der monatlichen Feste etwas ausführlicher äußert (Ⅷ 828b7–c5), bleibt nicht nur unklar, wie die täglichen Opfer ablaufen sollen, sondern auch, was der Unterschied zwischen den täglichen und monatlichen Festen ist.

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Zusammenhang mit der Organisation der Götterfeste gleich zweimal festhält, 84 dass die Details von späteren Gesetzgebern oder entsprechenden Beamten festgelegt werden sollen. 85 Dieses vermeintliche Gegenargument ist aber nicht schlagkräftig: Wenn der traditionelle Umgang mit den Göttern in den Nomoi tatsächlich eine so herausragende Bedeutung hätte, hätte gerade der Athenische Fremde, der in den Nomoi jedes noch so winzige Detail reguliert, einen derart wichtigen Aspekt keinem späteren Gesetzgeber überlassen, sondern selbst übernommen. Das Gleiche gilt in noch stärkerem Maße für Youngs eben zitierte These: Das delphische Orakel und mit ihm assoziiertes Gedankengut finden sich zwar in den Nomoi, 86 aber wenn der Athenische Fremde darin tatsächlich das Fundament für die Polis-Religion und eine populäre Angleichung an Gott gesehen hätte, hätte er das mit großer Wahrscheinlichkeit deutlicher zum Ausdruck gebracht. Das gewichtigste Argument ist jedoch, dass sich der Athenische Fremde auch zu etwaigen Konsequenzen der Volksreligion für das alltägliche Leben nur selten äußert: Die einzige Ausnahme ist die soziale Funktion, die er den Festen und gemeinsamen Mahlzeiten zuschreibt. Sie besteht darin, dass sich die Bürger bei solchen Zusammenkünften kennenlernen können und einer dem anderen bekannt ist (Ⅴ 738e1–5); abgesehen von einer Wiederholung dieser Begründung (Ⅵ 771d5–e1) ist das die einzige praktische Konsequenz der Volksreligion, die sich am Text zweifelsfrei belegen lässt. Young (2016, 196) hingegen äußert die These, dass der Umgang mit den Göttern nicht nur auf direkte Weise zum Glück der Bürger beitrage, sondern sie auch zu besseren Bürgern mache; in den Stellen, die er als Belege anführt, ist davon zwar ungefähr die Rede, 87 aber an keiner Stelle erfährt der Leser Details, auf welche Weise diese Effekte erreicht werden sollen. Youngs Interpretation, wonach die Bürger bei den Festen, Chören und Wettkämpfen an Nachahmungen der Götter teilnähmen, die „worthy models of virtue“ seien (Young 2016, 197), ist spekulativ und ihrerseits erklärungsbedürftig – denn inwiefern die olympischen Götter Vorbilder der Tugend sein sollen, wird an keiner Stelle im Text erklärt. 88 Insgesamt muss man daher festhalten, dass sich für die Thesen von einer signifikanten Aufwertung traditioneller Formen der Götterverehrung oder von der Neu-

84 Die erste Stelle ist Ⅵ 772a4–b1, wo der Athenische Fremde zum ersten Mal und in allgemeiner Hinsicht auf die Organisation der Götterfeste zu sprechen kommt; die zweite Stelle ist Ⅷ 828a7–d5, wo er mit Ausnahme der Opferfeste stärker ins Detail geht. 85 In Ⅵ 772a6–b5 räumt der Athenische Fremde ein, dass nicht alle Einzelheiten in einem ersten Entwurf festgelegt werden können; in Ⅶ 803e1–b4 gibt er unter Angabe eines Homer-Zitats seiner Hoffnung Ausdruck, dass die bisherigen Ausführungen zu den Götterfesten ausreichen und die Nachkommen das Übrige mit Hilfe der Götter selbst herausfinden mögen. 86 Young (2016, 179–184) äußert sich kurz zur Bedeutung Delphis in Griechenland und für Platon, bevor er die wichtigsten Stellen aus den Nomoi diskutiert. 87 Ⅴ 716d4–2, Ⅵ 771c7–e1, Ⅹ 885b4–6; ein direkter Zusammenhang zwischen Umgang mit den Göttern und Glück der Bürger wird nur in der ersten Stelle hergestellt, s. dazu jedoch meine Interpretation dieser Stelle auf S. 52; an den anderen beiden Stellen basiert der Zusammenhang auf Interpretation. 88 Das wäre jedoch angesichts der Tatsache, dass die olympischen Götter gerade nicht als Vorbilder in moralischer Hinsicht dienen können (vgl. Anm. 13 auf S. 14), dringend erforderlich.

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orientierung mit dem Ziel der Angleichung an Gott kaum belastbare Hinweise im Text finden lassen. Zum anderen hat auch ein anderer für die Volksreligion zentraler Aspekt nicht die Bedeutung, die ihm zugeschrieben wurde: die Polis-Gottheit. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Athenische Fremde die traditionelle Welt des Mythos nach der Schilderung des Goldenen Zeitalters unter Kronos verlassen hat und stattdessen eine namenlose und unpersönliche Gottheit zum zentralen Bezugspunkt der Bürger erhebt. Neben den obigen Überlegungen ist diese Innovation aber auch und gerade im Hinblick auf die traditionell sehr hohe Bedeutung der jeweiligen Polis-Gottheiten bedeutsam. Jede Polis verfügte über eine spezifische Gottheit, mit der sie sich in besonderer Weise verbunden fühlte, ja mit der sie sich sogar identifizierte: The connection between the city and her god is so close that it is no overstatement to say that they are identical. The deity represents and personifies the city, actually is the city when this is conceived as a religious entity. (Solmsen 1942, 6) In der Forschung wurde in dem Gespann von Apollon und Helios die zentrale PolisGottheit Magnesias gesehen, in deren Kult die Verehrung der Himmelskörper ihren Ausdruck finde (s. S. 13). Dieser Kult wird im Zusammenhang mit der Wahl und den Funktionen der Euthynen, den höchsten Beamten Magnesias, 89 erwähnt (Ⅻ 945e4–946a1): κατ᾽ ἐνιαυτὸν ἕκαστον μετὰ τροπὰς ἡλίου τὰς ἐκ ϑέρους εἰς χειμῶνα συνιέναι χρεὼν πᾶσαν τὴν πόλιν εἰς Ἡλίου κοινὸν καὶ Ἀπόλλωνος τέμενος, τῷ ϑεῷ ἀποφανουμένους ἄνδρας αὑτῶν τρεῖς […]. Jedes Jahr, sobald sich die Sonne vom Sommer nach der Winterseite gewandt hat, soll die gesamte Bürgerschaft in einem gemeinsamen Weihbezirk des Helios und des Apollon zusammenkommen, um dem Gott drei Männer aus ihrer Mitte namhaft zu machen […]. Der angesprochene Weihbezirk wird an dieser Stelle im Zwölften Buch das erste Mal erwähnt. Angesichts der zugeschriebenen zentralen Bedeutung hätte man seine Einführung jedoch wesentlich früher und in einem entsprechenden Zusammenhang erwartet, wofür es ohne Zweifel reichlich Gelegenheit gegeben hätte: etwa im Rahmen der Landzuweisung an die Götter (Ⅴ 738b2–e8), oder bei der Zwölfteilung der Stadt und der Anordnung von Heiligtümern der Hestia, des Zeus und der Athene (Ⅴ 745b3–e6), oder aber bei der Behandlung der sakralen Ämter (Ⅵ 759a1–760a5). Auch im weiteren Zusammenhang mit dem Amt der Euthynen ist keine übergeordnete Bedeutung dieses sogenannten Kults 89 Die Aufgabe der Euthynen besteht in der Überwachung und etwaigen Sanktionierung anderer Beamter in Magnesia; zu ihrem Vorbild in Athen und ihrer Umgestaltung durch den Athenischen Fremden s. Morrow (1960, 219–222) und Schöpsdau (2011, 534f.); zu weiteren Details ihrer Funktion und Aufgabe s. Perkams (2013, 236–238).

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erkennbar, weil sich der Athenische Fremde mit wenigen Bemerkungen organisatorischer Natur zufriedengibt. In den Zwölf Büchern der Nomoi wird der Zusammenschluss von Helios und Apollon lediglich fünfmal erwähnt, und das ausschließlich im Zusammenhang mit dem Amt der Euthynen im Zwölften Buch. Aus dieser Textbasis zu schlussfolgern, dass es sich um den „most important cult in Magnesia’s civil religion“ handelt, 90 der als „natural bridge between the common citizen’s ideas of divinity and those of the intellectuals“ fungiert 91 und damit eine „union of traditional religion and natural religion“ darstellt, 92 halte ich für sehr gewagt. Von der Bedeutung der Polis-Gottheit, wie sie im folgenden Zitat von Solmsen (1942, 9) deutlich wird, ist der Apollon-Helios-Kult weit entfernt: Worship of the city goddess pervades all phases of the political life of classical Athens. Athena was felt to be present in every enterprise or activity of the city, her favor and aid were sought on every occasion of importance, and it was the primary concern of the State that the gods receive their due in sacrifices, processions, feasts, and the like. Diese Beobachtungen sprechen dafür, dass der Apollon-Helios-Kult nicht mehr als das ist, was der Text auch nahelegt: Eine Einrichtung, die die Bedeutung des Euthynen-Amts unterstreicht und ihren jeweiligen Würdenträgern Hochachtung und Ehrerbietung zusichern soll. Abgesehen von diesen strukturell-quantitativen Überlegungen spricht jedoch ein weiteres Argument gegen die These von Apollon-Helios als Polis-Gottheit – ein ganz triviales zwar, aber gewichtiges: Magnesia hat bereits eine Polis-Gottheit, und zwar den namenlosen Gott, den der Athener in der Generalansprache – dem hierfür angemessensten Ort 93 – eingeführt hat. In der Analyse der Ansprache hat sich ergeben, dass der Athener diese Gottheit auf eine Weise zu vermitteln versucht, die den Bürgern eine Akzeptanz im Rahmen der traditionellen Volksreligion ermöglichen soll. Dadurch kann der Athener die Gesetzgebung nicht nur leichter legitimieren, sondern sich auch den Konformitätsdruck zunutze machen, der eine natürliche Folge des starken Zusammengehörigkeitsgefühls einer Kultgemeinschaft war; 94 nur wer an den gemeinsamen Ritualen und Festen teilnahm,

90 91 92 93

Young 2016, 211. Young 2016, 212. Ebd. Einen ähnlichen Stellenwert könnte nur das Vorwort zum Asebie-Gesetz im Zehnten Buch beanspruchen, das von Kleinias als das „schönste und beste Vorwort“ bezeichnet wird, da es die Existenz und Güte der Götter beweist (Ⅹ 887b5–c2) – doch auch dort ist vom Apollon-Helios-Kult keine Rede. 94 Dazu Nilsson (1950, 13f.): „Ein jeder war den Göttern Verehrung schuldig und hatte die Forderungen, die sie stellten, zu erfüllen; denn Vergehen dagegen wurden nicht nur am Fehlenden selbst, sondern auch an Geschlecht und Staat gerächt. […] Den Pflichten des Kultes gegenüber den Göttern nicht nachzukommen, war ein Verbrechen […].“

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wurde auch als Teil der Gemeinschaft anerkannt. 95 Der entscheidende Unterschied zwischen der Konzeption des Atheners und der traditionellen Volksreligion ist jedoch, dass sich dieses Gefühl in erster Linie nicht über gemeinsame Rituale einstellt, 96 sondern durch die Bemühung aller, ein besonnenes und tugendhaftes Leben zu führen; in Magnesia handelt es sich demnach weniger um eine Kult- als um eine Tugendgemeinschaft. Was bleibt also von der Volksreligion in Magnesia und wie kann man ihr Verhältnis zur Werteordnung beschreiben, die in der Ansprache entfaltet wird? Ohne Frage sorgt sie in organisatorischen Aspekten des Zusammenlebens für Struktur, z. B. im Hinblick auf die Anordnung der Stadt und durch die Feste. Darüber hinaus zeugt auch die kritische Auseinandersetzung des Atheners mit bekannten Mythen davon, dass er vertraute Elemente der Volksreligion in die Gesetzgebung zu integrieren sucht. 97 Im Rahmen der Ansprache hat die Volksreligion jedoch weder originellen noch konstruktiven, sondern nur unterstützenden Anteil. Ihre Funktion besteht wesentlich darin, dem Athener den Rahmen zur Verfügung zu stellen, mit dessen Hilfe er seine Werteordnung vermitteln kann. Diese Ordnung ist zwar begrifflich ebenfalls religiös geprägt, weil sie die göttliche Vernunft zur Grundlage hat, zielt aber darauf ab, den Bürger zu einem tugendhaften Leben zu motivieren. Auf diese Weise verbindet sich die Form der Volks- mit dem Inhalt der Vernunftreligion: Das Ideal vom tugendhaften Leben soll jeden Lebensbereich durchdringen und das alltägliche Leben so bestimmen, wie es für die Volksreligion typisch war. Aus diesem Grund halte ich es für sinnvoll, von der Religion in den Nomoi als einem kulturellen Ordnungsrahmen zu sprechen: Mit ihr ist keine Einführung und Durchsetzung religiöser Praktiken im Sinne der Volksreligion verbunden, sondern eine normative Sinnstiftung mit philosophischem Fundament; weil diese Sinnstiftung mit der herkömmlichen Volksreligion inhaltlich nichts gemein hat, sondern die Lebensführung und das gesellschaftliche Miteinander betrifft, kann sie daher allgemeiner als kultureller Ordnungsrahmen verstanden werden. Vor diesem Hintergrund will ich noch einmal auf die Äußerung aus der Ansprache zurückkommen, mit der die konventionellen Formen der Gottesverehrung in direkten Zusammenhang mit der Angleichung an Gott gestellt werden (716d4–e2 auf S. 46). Auch wenn dort der Eindruck erweckt wird, es seien die traditionellen Götter der PolisReligion gemeint, denke ich, dass der Athener unter der Oberfläche etwas anderes im Sinn hat: Es handele sich um den „schönsten und wahrsten“ Satz von allen, 98 dass für 95 Vgl. Most (2003, 303) und Sourvinou-Inwood (1990, 304). 96 Zur Bedeutung des Rituals, insbesondere seines einigenden und identitätsstiftenden Charakters, s. Bremmer (1996, 9), Most (2003, 303) und Burkert (2011, 91); mit Fokus auf die Nomoi s. Morgan (1992, 243). 97 Einige Beispiele: In Ⅱ 636c7–d5 werden die Kreter dafür kritisiert, dass sie den Ganymed-Mythos zur Rechtfertigung der Päderastie anführen; in Ⅱ 672b3–8 wird der Mythos kritisiert, wonach Dionysos Wein und Tanz im Rahmen einer Racheaktion erfunden habe; in Ⅻ 941b3–c2 wird bestritten, dass ein Sohn des Zeus jemals etwas gestohlen hätte und Diebe ihre Taten demnach nicht durch Verweis auf solche Mythen rechtfertigen können. Diese Korrekturen betreffen auch die HomerRezeption, s. dazu Young (2016, 177f.). 98 τὸν τοιόνδε λόγον, ἁπάντων κάλλιστον καὶ ἀληϑέστατον οἶμαι λόγων, Ⅳ 716d4–6.

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Die Generalansprache

den „tugendhaften Menschen“ 99 der Verkehr mit den Göttern das „schönste, beste und wirksamste Mittel zu einem glücklichen Leben“ 100 sei. Die emphatischen Superlative im Zusammenhang mit dem Stichwort des glücklichen Lebens legen die Vermutung nahe, dass es hier um mehr als um Anordnungen für die religiöse Praxis geht. Ein weiterer Hinweis stützt diese These: Es ist die Qualifizierung des „wirksamsten“ Mittels, die auch in der Politeia an einer der zentralen Passagen – der Beschreibung und Bestimmung der Idee des Guten – vorgenommen wird: Nachdem Sokrates das Höhlengleichnis als letztes der drei Gleichnisse ausgeführt hat, die die Idee des Guten veranschaulichen sollen, versucht er es seinem Gesprächspartner zu erklären; fortwährend wird dort die menschliche der göttlichen Ebene gegenüber gestellt. Dann geht es um die entscheidende Frage, wie der Mensch zu einer göttlichen Erkenntnis und Schau der Ideen fähig sei; Sokrates ist der Ansicht, dass jeder Mensch die dazu nötigen Voraussetzungen von Natur aus erfüllt, aber langsam und mit der gesamten Seele dem Bereich des Werdens abgeführt werden müsse (Resp. Ⅶ 518c4–d1). In diesem Zusammenhang spricht Sokrates von der Kunst der Umlenkung, mit Hilfe derer das Vermögen, mit dem ein jeder begreift, „am wirksamsten“ 101 umgewendet werden kann. Aufgrund der Tatsache, dass der Superlativ ἀνυσιμώτατα (anusimótata) in Platons Schriften nur an diesen beiden Stellen vorkommt, halte ich einen Zufall für sehr unwahrscheinlich. In beiden Stellen geht es um dasjenige Mittel, mit dem eine Annäherung an die göttliche Sphäre möglich wird und wodurch der Mensch zu einem glücklicheren Leben befähigt wird. Dieses Mittel ist die Vernunft, die jedem Menschen innewohnt und über die er mit der göttlichen Vernunft verbunden ist. In der Politeia lernt der Philosoph, sich durch Ausbildung und Übung eines Tages dem Bereich der Ideen zuzuwenden und sich auf diese Weise der göttlichen Vernunft anzugleichen. Für den durchschnittlichen Bürger der Nomoi ist dieser Weg nicht denkbar; er ist dem menschlichen Leben mit seinen vielfältigen Freuden und Verlockungen zu verhaftet, als dass er dem Bereich des Werdens gänzlich abgeführt werden könnte (Ⅴ 732d8–e7). Weil er seine Vernunft nicht vollständig ausbildet, ist er auf eine externe Instanz angewiesen – und diese Instanz ist, wie wir bereits gesehen haben, das Gesetz, das aus der göttlichen Vernunft abgeleitet ist. Der Bürger wird maßvoll und vernünftig, indem er die Gesetze befolgt – und nicht durch die Teilnahme an religiösen Ritualen. Folglich halte ich es für wahrscheinlich, dass die Götter in Ⅳ 716d4–e2 nicht die traditionellen Götter sind, sondern – wie auch vorher in der Ansprache – die göttliche Vernunft und die göttlichen Gesetze gemeint sind. Daraus ergibt sich zwar die Schwierigkeit, wie man die erwähnten Opfer und Weihegeschenke auf die göttliche Vernunft und die Gesetze beziehen soll; wenn man aber unter den Göttern wirklich die Polis-Götter versteht, ergibt sich meines Erachtens ein viel größeres Problem, weil dieses Verständnis einen heftigen Kontrast zum Beginn der Rede erzeugt. 102 99 100 101 102

τῷ μὲν ἀγαϑῷ, Ⅳ 716d6. κάλλιστον καὶ ἄριστον καὶ ἀνυσιμώτατον πρὸς τὸν εὐδαίμονα βίον, Ⅳ 716d8–e1. ῥᾷστά τε καὶ ἀνυσιμώτατα, Ⅶ 518d4. Von diesem Problem zeugt der Kommentar Schöpsdaus zur Stelle (Schöpsdau 2003, 212): Zuerst spricht er davon, dass die „herkömmliche religiöse Praxis“ nicht nur gerechtfertigt, sondern ihr

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Der zweite Teil der Generalansprache

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Im weiteren Verlauf der Ansprache geht es um das Verhältnis der Menschen zu weiteren ihm übergeordneten Mächten. Auch hier wird das Bemühen des Atheners sichtbar, das Neue an der Gesetzgebung durch vertraute Elemente abzumildern. Friedländer (1960) etwa hat darauf hingewiesen, dass die Reihen- und Rangfolge der geschuldeten Verehrung, wie sie im Folgenden dargestellt wird (Ⅳ 717a7–718a6), gänzlich der griechischen Tradition entsprach: 103 An oberster Stelle stehen die olympischen Götter, dann die Schutzgottheiten der Stadt und die chthonischen Gottheiten; dann kommen die Daimones und die Heroen. Danach kommen die Ahnen und Eltern, denen in Griechenland traditionellerweise eine fast gottgleiche Ehrerbietung entgegengebracht wurde. 104 Mit dieser Reihenfolge versucht der Athenische Fremde den Bürgern demnach das Gefühl zu vermitteln, dass sich die Gesetzgebung der neuen Kolonie und die in ihr geltenden Werte kaum von anderen Poleis unterscheiden. Es ist kein Zufall, dass der Athener ausgerechnet an dieser Stelle seine Ansprache unterbricht, um in einem Exkurs das Instrument der Vorworte als dasjenige Mittel einzuführen, mit dem die Bürger für die Gesetze empfänglich gemacht werden sollen; die Ansprache wird erst nach acht Stephanus-Seiten zu Beginn des Fünften Buches fortgesetzt. Um die Generalansprache im Kontext zu sehen, wird im folgenden Kapitel dieser zweite Teil untersucht; erst danach werde ich den Exkurs zu den Vorworten und in diesem Zusammenhang auch die Komposition der gesamten Ansprache behandeln.

III.3 Der zweite Teil der Generalansprache Der zweite Teil der Ansprache des Athenischen Fremden erstreckt sich von Ⅴ 726a1– 734e2 und beinhaltet folgende Themen: In Ⅴ 726a1–729b1 geht es um die Priorität der Seele gegenüber körperlichen und materiellen Gütern; von Ⅴ 729b1–730a9 werden die Pflichten gegenüber verschiedenen Gruppen von Mitbürgern geklärt; im Abschnitt Ⅴ 730b1–731d5 findet sich eine Reflexion über notwendige persönliche Eigenschaften, die in die harsche Kritik der Selbstliebe als dem größten Übel mündet (Ⅴ 731d6–732b4); der letzte Teil von Ⅴ 732b5–734e2 beinhaltet eine Diskussion der richtigen Lebensform, die den Bürgern eine maßvolle und tugendhafte Lebensform empfiehlt. Danach beginnen der Athenische Fremde und seine Gesprächspartner die Gesetzgebung im eigentlichen Sinn, indem sie die ersten Regelungen zur Aufteilung und Besiedlung des Landes erlassogar ein „tieferer Sinn“ verliehen werde; im Anschluss ist jedoch zu lesen, dass „der Umgang mit dem Göttlichen als dem Maß“ die Bürger maßvoll mache. Schöpsdau versteht unter den Göttern also ebenfalls das Göttliche, spricht aber zu Beginn von der herkömmlichen religiösen Praxis – beides zugleich geht aber nicht, weil es sich ohne Zweifel um verschiedene Ebenen des Göttlichen handelt. 103 S. Friedländer 1960, 397 und Anm. 70 auf S. 511 mit weiteren Verweisen. 104 Vgl. jedoch Schofield (2006, 312), der überspitzt von einem „gerontocratically flavoured paternalism“ an dieser Stelle spricht und ihn als eine Besonderheit der Nomoi verbucht.

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Die Generalansprache

sen. Für den vorliegenden Zusammenhang sind von den Teilen der Ansprache besonders die Priorität der Seele und die Kritik der Selbstliebe von Bedeutung. Für die Teilung der Ansprache in zwei Teile gibt es verschiedene Gründe; auf die methodischen und performativen komme ich im Kapitel zu den Vorworten zu sprechen. Der offensichtlichste Grund ist inhaltlicher Art; in seiner abschließenden Aufmunterung am Ende des ersten Teils der Ansprache sagt der Athener nämlich (Ⅳ 718a3–7): ταῦτ᾽ ἂν ποιοῦντες καὶ κατὰ ταῦτα ζῶντες ἑκάστοτε ἕκαστοι τὴν ἀξίαν ἂν παρὰ ϑεῶν καὶ ὅσοι κρείττονες ἡμῶν κομιζοίμεϑα, ἐν ἐλπίσιν ἀγαϑαῖς διάγοντες τὸ πλεῖστον τοῦ βίου. Wenn wir das tun und nach solchen Grundsätzen leben, dann werden wir wohl alle allezeit von den Göttern und von denen, die mächtiger sind als wir, den verdienten Lohn empfangen, indem wir unter frohen Hoffnungen den größten Teil des Lebens verbringen. Es handelt sich also im ersten Teil um die Beziehung der Menschen zu jenen, die über ihm stehen und von denen er abhängig ist: Götter, Dämonen, Heroen und Vorfahren (tot wie lebend). Im zweiten Teil der Ansprache geht es hingegen um Verhältnisse auf menschlicher Ebene. Wie der Athenische Fremde diese Verhältnisse zu regulieren sucht, wird uns im Folgenden genauer beschäftigen. Zu Beginn des Fünften Buchs erinnert der Athenische Fremde kurz an den ersten Teil der Ansprache und stellt damit den Zusammenhang für die Adressaten her (Ⅴ 726a1–2); im Vordergrund steht der Optativ ἀκούοι (akoúoi), der als erstes Wort den Satz beherrscht und die Adressaten zwar zurückhaltender als ein Imperativ, aber dennoch bestimmt dazu auffordert, aufmerksam den folgenden Ausführungen zuzuhören. Unmittelbar danach eröffnet der Athener den Siedlern den Kern seiner zweiten Ansprache (Ⅴ 726a2–3): πάντων γὰρ τῶν αὑτοῦ κτημάτων μετὰ ϑεοὺς ψυχὴ ϑειότατον, οἰκειότατον ὄν. Denn von allen Besitztümern, die man hat, ist nach den Göttern die Seele das göttlichste, da sie der allereigenste Besitz ist. Dieser Satz mutet in seiner Kürze kryptisch an, ist aber in seiner Bedeutung für die Gesetzgebung kaum zu überschätzen. 105 Im Folgenden werde ich mich hauptsächlich auf die Funktion dieser Äußerung im Kontext der Ansprache konzentrieren. 106 Auf den ersten Blick löst diese Fokussierung auf die Seele eine gewisse Verwunderung aus – hat doch der 105 Vgl. Hentschke (1971, 270), die ebenfalls auf die besondere Bedeutung dieses Satzes hingewiesen hat. 106 Schöpsdau geht in seiner Kommentierung (2003, 251–254) auf den performativen Kontext nicht ein; dafür finden sich wertvolle Sacherklärungen und Hinweise zur Struktur des gesamten Abschnitts.

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Der zweite Teil der Generalansprache

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Athenische Fremde bis zu diesem Zeitpunkt mit völliger Selbstverständlichkeit verschiedene Aspekte der Seele angesprochen und es offensichtlich nicht für nötig befunden, auch nur einen dieser Aspekte tiefer gehend zu diskutieren. 107 Der Grund dafür ist der performative Kontext: Im Gespräch mit Kleinias und Megillos hat sich bereits sehr früh herausgestellt, dass die beiden zwar keine ausgebildeten Philosophen sind, aber mit gewissen Konzepten durchaus vertraut sind; 108 dazu gehört auch das philosophische Verständnis der Seele als dem Zentrum der geistigen und emotionalen Regungen des Menschen und ihrer Bedeutung für die Ausbildung der Tugend. 109 Vor diesem Hintergrund fällt es ihnen nicht schwer einzusehen, dass die Anerkennung und Wertschätzung der Seele die Voraussetzung für ein besonnenes und maßvolles Verhalten ist – doch kann der Athener dieses Verständnis nicht bei allen Bürgern voraussetzen, sondern muss erst eine gemeinsame Grundlage schaffen. 110 In dem Abschnitt, in dem die angemessene Wertschätzung der Seele von den Bürgern eingefordert wird, lassen sich zwei Gedankenlinien ausmachen: Zum einen, dass der Seele nach den Göttern unmittelbar der zweite Rang unter den Dingen zukommt, denen die Menschen ihre Ehre erweisen müssen; im Anschluss an den ersten Teil der Ansprache wird dabei der Eindruck zu erwecken versucht, dass der Seele eine geradezu religiöse Verehrung zukommen muss. 111 Die zweite Linie, auf die der Athener noch größere Sorgfalt anwendet und auf die wir uns im Folgenden konzentrieren werden, versucht den Bürgern die Einsicht zu vermitteln, dass die Seele den ureigensten und daher

107 Einige Beispiele: In Ⅰ 632a2–7 ist von der Seele als dem Ort die Rede, in dem die unterschiedlichen Gemütsverfassungen ausgelöst werden; in Ⅰ 643c8–d4 und Ⅱ 653a5–c4 wird die Seele als das eigentliche Objekt aller Erziehungsbemühungen hervorgehoben; in Ⅰ 650b6–9 sagt der Athener, dass die „Erkenntnis der natürlichen Anlagen und Verfassungen der Seele“ eines der nützlichsten Hilfsmittel der Staatskunst sein dürfte; in Ⅲ 689a5–b2 und später im Strafrechtsexkurs (Ⅸ 863b2–e4) wird darüber hinaus auch die Dreiteilung der Seele vorausgesetzt, wie sie in der Politeia entfaltet wird (zur Debatte darüber, ob sich das Konzept der Seelenteile auch in den Nomoi findet, s. Saunders 1962; Büttner 2000, 117–121; Mesch 2005, 103; Brisson 2012, Wilburn 2013, Fossheim 2013, 90–93); in Ⅲ 697a10–b6 wird dem oben behandelten Abschnitt (Ⅴ 726a2–3) sogar vorgegriffen, weil bereits dort gefordert wird, dass der Seele die größte Verehrung zukommen müsse. 108 Neben den Stellen aus der vorherigen Anmerkung geht das insbesondere aus der Diskussion der Selbstbeherrschung im Ersten Buch hervor (s. S. 20f.). 109 Bei Homer hat das Wort psyche noch „keinerlei Verbindung mit den psychologischen Aspekten einer Person“ (Bremmer 2009, 497), sondern verweist insbesondere in Kombination mit dem Wort aion auf die Quelle der Lebenskraft (Bremmer 2009, 498f.). In archaischer Zeit wird das Bedeutungsspektrum jedoch allmählich erweitert, sodass die Seele „eine zunehmend wichtige Rolle in Psychologie und Kosmologie“ eingenommen hat (Bremmer 2009, 503). 110 Auch wenn im 4. Jh. v. Chr. der Zusammenhang zwischen psyche und den psychischen Aspekten einer Person allgemeine Verbreitung erfahren hat und insbesondere die Gegenüberstellung von Körper und Seele zum Topos geworden ist (Bremmer 2009, 504), bezieht man sich in der Regel auf bestimmte Gesichtspunkte (z. B. auf tugendhaftes Verhalten, s. Dover 1974, 166). Ein ganzheitliches und philosophisches Konzept der Seele, wie es Platon in seinen Dialogen entfalten lässt, bedarf daher der Vermittlung. 111 Zum göttlichen Status der Seele Schöpsdau (2003, 251f.), der auch auf weitere Stellen im Platonischen Werk verweist.

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Die Generalansprache

wichtigsten Besitz des Menschen darstellt. Im Folgenden wollen wir uns anschauen, wie der Athener zu diesem Zweck vorgeht. Der erste Schritt besteht darin, dass die Seele zu den „Besitztümern“ des Menschen gezählt wird (κτήματα, ktémata, Ⅴ 726a2). Das zugrunde liegende Verb κτάομαι (ktáomai) bedeutet ganz allgemein „sich etw. verschaffen“, „erwerben“ und dann erst in den Perfektstämmen „besitzen“; 112 die Hauptbedeutung von κτήμα (ktéma) ist auf „Besitz“ in einem materiellen und gegenständlichen Sinn beschränkt. 113 Indem der Athener nun die Seele als ktéma bezeichnet, wird die Seele in gewisser Weise nicht nur materialisiert, sondern auch objektiviert. So lässt der Athener die Seele, etwas Geistig-Konzeptuelles, zu einem (be-)greifbaren Gegenstand werden, über den man verbindliche Aussagen treffen und zu dem man sich in ein bestimmtes Verhältnis setzen kann. Es ist dabei nicht verwunderlich, dass Platon die Idee von der Seele als ktéma ausgerechnet in den Nomoi ausarbeitet: 114 Gerade der philosophisch nicht gebildete Bürger dürfte mit den theoretischen Überlegungen über die Seele seine Schwierigkeiten haben; der Gedanke, das philosophische Konzept der Seele zu einem konkreten und fassbaren Besitzstück zu machen, kommt dem normalen Menschen sehr entgegen und passt daher sehr gut in die Nomoi. Der zweite Schritt besteht darin, das Verhältnis der Bürger zu ihrer Seele näher zu bestimmen. Die Formulierung des Atheners könnte knapper kaum sein: ψυχὴ ϑειότατον, οἰκειότατον ὄν (Ⅴ 726a3) – die Seele ist das Göttlichste, da es das Eigenste, oder freier: der Inbegriff des Eigenen ist. Der Athenische Fremde wendet hier dieselbe Strategie wie auch bei der Verwendung von ktéma an: Er setzt die Seele in Verbindung zu einem Begriff, mit dem jeder Grieche nicht nur unmittelbar etwas anfangen kann, sondern zu dem er ein uneingeschränkt positives Verhältnis hat, und zwar zu seinem οἶκος (oíkos). Der oíkos ist das Haus und Zuhause, und mit dem davon abgeleiteten οἰκεῖος (oikeíos) wird alles das bezeichnet, was sich auf das Zuhause bezieht: Nicht nur das oder die Gebäude, sondern auch und vor allem die Familie, aber auch das Gesinde und der eigene Besitz. Damit steht oikeíos auf einer semantischen Ebene mit ktéma, was den Effekt und die Überzeugungskraft steigert. Die Seele ist dadurch nichts Vages und Abstraktes, nur den Philosophen als Gegenstand ihrer Reflexionen Vorbehaltenes, sondern betrifft einen jeden Menschen in unmittelbarer Weise: Sie verdient äußerste Aufmerksamkeit, weil sie der Ausgangspunkt des Menschen für alle seine weiteren Verhältnisse und Unternehmungen ist. Einerseits wird die Seele den 112 LSJ (s. v.) geben in der Primärbedeutung „procure for oneself“, „get“ und „acquire“ an; im Perfekt und Plusquamperfekt „to have acquired, i. e. possess, hold“. 113 LSJ (s. v.) sprechen allgemein von „anything gotten“, „piece of property“ und „possession“. Auch in der freieren Verwendung (vor allem im Plural), mit der es sich auf „Vieh“, „Sklaven“, „Erbe“ oder „Reichtum“ beziehen kann, geht es über diese Begrenzung nicht hinaus. 114 Im Dialog Ion gebraucht Sokrates den Begriff κτήμα (ktéma) ebenfalls metaphorisch und bezieht ihn auf die Vernunft. Er beschreibt dort die Fähigkeiten des Dichters, die er aber erst dann abrufen kann, wenn die Vernunft nicht mehr in ihm wohne (534b3–6); im darauf folgenden Satz greift Sokrates mit τὸ κτήμα die Vernunft wieder auf (534b6–7): „Denn solange er diesen Besitz noch festhält, ist jeder Mensch unfähig zu dichten oder Orakel zu sprechen.“ Aufgrund des Kontexts ist aber relativ offensichtlich, dass Sokrates die Vernunft nur in ironischer Weise verunglimpft, indem er sich mit ktéma auf sie bezieht.

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Bürgern also nahegebracht, indem sie zu ihren Besitztümern gezählt wird, andererseits wird ihr Vorrang gegenüber allen übrigen Besitztümern in aller Deutlichkeit herausgestellt. Die Bestimmung der Seele als göttlichstes und eigenstes Besitzstück bringt den Sachverhalt von der Priorität der Seele pointiert und konzentriert auf den Punkt. Allerdings fällt auch hier die defizitäre Begründung auf. Beim ersten Schritt, nämlich der Bezeichnung der Seele als ktéma, handelt es sich lediglich um eine Metapher, die sich ohne Probleme erschließen lässt: Denn ungeachtet der Frage, was man genau darunter versteht, ist für einen Griechen des 4. Jh. zumindest völlig unstrittig, dass jeder Mensch eine Seele hat – und was einem gehört, kann problemlos als ktéma bezeichnet werden. Der zweite Schritt ist jedoch problematisch: Denn mit keinem Wort wird begründet, warum die Seele das eigenste und nach den Göttern das göttlichste Besitzstück sein soll. Ganz leicht könnte man dagegen halten, dass man den eigenen Körper nicht nur besser sieht und spürt, sondern dass die Organe des Körpers den Menschen überhaupt erst in Kontakt mit seiner Außenwelt treten lassen, mithin der Körper weit mehr als die unsichtbare Seele als der eigenste Besitz bezeichnet zu werden verdiente. Warum die Seele außerdem nach den Göttern das göttlichste Besitzstück sein soll, wird ebenfalls nicht begründet – zumindest nicht an dieser Stelle. Erst im Zehnten Buch beweist der Athenische Fremde im Vorwort zum Asebie-Gesetz nicht nur die ontologische und zeitliche Priorität der Seele gegenüber der Materie (Ⅹ 888d7–896d9), sondern erwähnt auch die Verwandtschaft des Menschen mit Gott (Ⅹ 899d6–8). 115 Das heißt, dass der Athener die Priorität der Seele auch in der Ansprache durchaus hätte begründen können, sich aber dagegen entschieden hat. Die Gründe dafür sind meines Erachtens der Modus der Ansprache und die starke Adressatenorientierung. Das Asebie-Vorwort hat einen beschränkten Adressatenkreis: Der Athener richtet sich darin hauptsächlich an jene, die mit den materialistischen Thesen der Naturphilosophen und Sophisten sympathisieren; 116 die Generalansprache jedoch richtet sich an alle Bürger gleichermaßen. Daraus wird ersichtlich, dass der Athener es zumindest in diesem Fall nicht für notwendig hält, dass alle Bürger das vom Gesetzgeber für richtig erklärte Verhalten auch vollständig begründen können müssen. Wie besonders der erste Teil der Ansprache gezeigt hat, ergibt sich die erwünschte Geisteshaltung nicht durch die skeptische Prüfung und kritische Aneignung von Argumenten, sondern durch die spontane Akzeptanz und Übernahme übergeordneter Ideen und Prinzipien, die durch rhetorisch-stilistische Unterstützung vermittelt werden. Ausschlaggebend ist also, dass den Bürgern prägnante und griffige Wendungen präsentiert werden, die ihnen unmittelbar einleuchten. Die wichtigste Botschaft aus dem ersten Teil der Ansprache ist zweifellos, dass Gott das Maß aller Dinge ist; im zweiten Teil ist es die Formel von der Seele als dem eigensten und göttlichsten ktéma. Die fehlenden Begründungen kompensiert der Athener auf zweierlei Weise: Zum einen, indem er die Seele in den materiellen Bereich überführt und sie als wichtigstes Besitzstück ausgibt – und da man sich um seinen oí115 Der Mensch ist mit Gott verwandt, weil seine Vernunft Anteil an der göttlichen Vernunft hat, s. z. B. Resp. Ⅹ 611e2 und Phaid. 80b1–3; s. dazu Lavecchia 2005, 333–335. 116 Das geht vor allem aus Ⅹ 886b10–e5 und Ⅹ 888e4–6 hervor; der allgemeine Vorwurf der Asebie findet sich in Ⅹ 885b4–9.

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Die Generalansprache

kos kümmern muss, erübrigt sich die Frage, ob man sich um die Seele kümmern muss. Zum anderen, indem er die Seele als göttlichstes Gut bezeichnet – denn nach dem ersten Teil der Ansprache, in dem die Macht und das Wirken Gottes eindrücklich beschrieben wurde, ergibt sich auch der Wert der Seele durch die Charakterisierung als göttlich automatisch. Der Athenische Fremde stellt damit eine starke und geschickte Adressatenorientierung unter Beweis, die an dieser Stelle von besonderer Wichtigkeit ist: Denn die angemessene Wertschätzung der Seele ist die unerlässliche Voraussetzung für das Gelingen des gesetzgeberischen Projekts. Im Folgenden wollen wir uns damit beschäftigen, worin die angemessene Wertschätzung der Seele besteht. Der Athenische Fremde geht auch hier in mehreren Schritten vor. Zunächst rechnet er offenbar damit, dass sich die Zuhörer unter der Wertschätzung der Seele etwas ganz anderes vorstellen als er (Ⅴ 727a2–3): τιμᾷ δ’ ὡς ἔπος εἰπεῖν ἡμῶν οὐδεὶς ὀρϑῶς, δοκεῖ δέ […]. Es ehrt sie [die Seele, LN] aber fast kein einziger von uns, muß man sagen, in der rechten Weise, sondern meint dies bloß […]. Bemerkenswert ist an dieser Formulierung, dass sich der Athenische Fremde in die Gruppe derjenigen, die die Seele nicht auf die richtige Weise ehren, einbezieht, und durch diese Zugehörigkeit den negativen Effekt des implizierten Vorwurfs abschwächt. Dadurch ist es keine autoritäre und herablassende Ermahnung, sondern der in der Regel viel sanfter aufgenommene Hinweis oder Rat eines Menschen auf Augenhöhe. Es folgen viele Beispiele, die die falsche Wertschätzung der meisten Menschen illustrieren (Ⅴ 727a3–728a5). 117 Kurz darauf kommt er auf die Wertschätzung des Körpers und materieller Dinge zu sprechen: Dem Körper kommt lediglich der dritte Rang und materiellen Gütern der letzte Rang unter den Ehren zu (Ⅴ 728d3–729b1). Bei beiden Aspekten bemüht er sich allerdings, die Einschnitte nicht allzu hart erscheinen zu lassen: Man müsse seinen Körper und seinen Besitz keineswegs gänzlich vernachlässigen, um glücklich zu leben – man müsse lediglich die gesunde Mitte wählen: Ein ganz durchschnittlicher und in seinen Funktionen nicht beeinträchtigter Körper sei deswegen der beste, weil er die Seele nicht negativ beeinflusse (Ⅴ 728e2–5); ein moderater Besitz sei der beste, weil er zwar Schmeichler fernhalte, aber das eigene Wohl garantiere (Ⅴ 729a4–b1). 118 Doch zusätzlich zu diesen Beispielen gibt der Athener dem Bürger eine ganz einfache Formel an die Hand (Ⅴ 728a5–b2): 117 Eine genauere Differenzierung und Diskussion der Beispiele, die für unseren Zusammenhang nicht entscheidend sind, finden sich bei Hentschke (1971, 270–272) und Schöpsdau (2003, 253f.). Hentschke (1970, 270) erklärt die negative Aussage überzeugend folgendermaßen: „Die Form der negativen Aussage ist gewählt, weil das, was man nicht soll, gerade das ist, was die meisten Menschen tun (727a2–7).“ 118 Insbesondere die Regulierung des Besitzes ist eines der Kernanliegen des Atheners, weil das Streben nach Mehr eine der Hauptgefährdungen des menschlichen Glücks darstellt. Wir werden uns an späterer Stelle noch detailliert mit dieser Gefahr und den Bemühungen des Atheners zur Bekämpfung beschäftigen (s. S. 87–90).

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ὡς δὲ εἰπεῖν συλλήβδην, ὃς ἅπερ ἂν νομοϑέτης αἰσχρὰ εἶναι καὶ κακὰ διαριϑμούμενος τάττῃ καὶ τοὐναντίον ἀγαϑὰ καὶ καλά, τῶν μὲν ἀπέχεσϑαι μὴ ἐϑέλῃ πάσῃ μηχανῇ, τὰ δὲ ἐπιτηδεύειν σύμπασαν κατὰ δύναμιν, οὐκ οἶδεν ἐν τούτοις πᾶσιν πᾶς ἄνϑρωπος ψυχὴν ϑειότατον ὂν ἀτιμότατα καὶ κακοσχημονέστατα διατιϑείς. Um es in einem Wort zusammenzufassen: wer von dem, was ein Gesetzgeber als schimpflich und schlecht aufzählt und festsetzt und umgekehrt als gut und schön, nicht jenes auf jede Weise zu meiden und dieses mit aller Kraft zu üben bereit ist, ein solcher Mensch weiß allemal nicht, daß er in all diesen Fällen seine Seele, die doch das Göttlichste ist, in den ehrlosesten und schmachvollsten Zustand versetzt. Inhaltlich bleibt auch an dieser Stelle offen, worin die angemessene Wertschätzung der Seele besteht – durch die vorherige Illustration falscher Verhaltensweisen wird sie zwar ex negativo in einigen Fällen angedeutet, aber eine Liste mit konkreten positiven Beispielen lässt der Athener nicht folgen. Stattdessen führt er das Gesetz als allgemeine Richtschnur an und erinnert damit an die Schlussfolgerungen aus dem Kronos-Mythos, in denen die Bedeutung des Gesetzes und der Gesetzestreue für den Bestand der Verfassung und für das Gemeinwohl betont wurde (s. S. 31f.). Indem er den Bürgern den Stellenwert der Seele vor Augen geführt hat, kann er beides miteinander verknüpfen und sie eindrücklich zur Gesetzestreue auffordern, weil sie andernfalls ihre Seele missachten und in einen schlechten Zustand versetzen. Umgekehrt heißt das für den Bürger aber auch: Sofern er sich an die Gesetze hält, erweist er sich als jemand, der die Seele auf angemessene Weise ehrt. Das liegt daran, dass die Gesetze so gestaltet sind, dass sie die dargelegte Hierarchie der Wertschätzung berücksichtigen: Indem der Bürger die Gesetze befolgt, wird er seinen Besitz und seinen Körper weniger ehren als die Seele, weil die Gesetze als Verteilung der Vernunft nur Verhaltensweisen einfordern, die dieser Rangordnung entsprechen. Wie ernst es dem Athener mit dieser Forderung ist und welche Konsequenzen sie mit sich bringt, zeigt ein weiterer Abschnitt aus dem zweiten Teil der Ansprache, den wir uns als Letztes anschauen wollen. Kurz vor dem Ende der Ansprache zieht der Athener eine Art Fazit der bisherigen Vorschriften und kommt auf das „größte von allen Übeln“ zu sprechen (Ⅴ 731d6). Es halte sich überaus hartnäckig, weil jeder Mensch Nachsicht mit sich selbst habe und daher gar kein Interesse verspüre, dem Übel zu entrinnen – die Rede ist von der Selbstliebe (Ⅴ 731e1–3): τοῦτο δ’ ἔστιν ὃ λέγουσιν ὡς φίλος αὑτῷ πᾶς ἄνϑρωπος φύσει τέ ἐστιν καὶ ὀρϑῶς ἔχει τὸ δεῖν εἶναι τοιοῦτον. Es ist das, was man mit der Behauptung meint, daß jeder Mensch von Natur sich selbst lieb und wert ist und daß es in der Ordnung ist, daß er so sein muß. Die übergroße Selbstliebe führe dazu, dass man das Gerechte, Gute und Schöne nicht objektiv beurteilen kann – oder wie der Athener es ausdrückt: dass man „blind“ werde für das, was man liebt (τυφλοῦται, Ⅴ 731e5). Aufgrund der subjektiven Perspektive

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Die Generalansprache

erscheine nur das als gerecht, gut und schön, was einem selbst zum Vorteil gereiche (Ⅴ 731e5–732a1) – dabei dürfe, wer ein bedeutender Mann werden wolle, ausschließlich das Gerechte lieben (Ⅴ 732a2–a4). Diese Passage knüpft am deutlichsten an den ersten Teil der Ansprache an und beleuchtet das Verhältnis der beiden Teile der Ansprache: Dort wurde den Bürgern die Angleichung an Gott zur Aufgabe gemacht – mit der Erklärung, dass die Gefolgschaft des Gottes durch maßvolles Verhalten das sicherste Mittel sei, um glücklich zu leben. Die Passage im zweiten Teil der Ansprache liefert in gewisser Weise und implizit die Begründung dafür, warum der Mensch nicht das Maß der Dinge sein kann: Weil er zu sehr sich selbst und den menschlichen Bedürfnissen verhaftet ist. Die Perspektive des Menschen ist natürlicherweise egoistisch, weil es im Wesen des Menschen begründet liegt, mit sich selbst nachsichtig zu sein und sich selbst alle Wünsche zu gewähren. Gerade im Hinblick auf die körperlichen und materiellen Bedürfnisse führt das automatisch zu Maßlosigkeit – der Mensch will immer mehr und verspürt keinerlei Anlass, seine Wünsche einzuschränken. 119 Daher war auch schon im ersten Teil die Forderung zu hören, dass der Mensch „demütig und bescheiden“ sein müsse (Ⅳ 716a4), und nicht stolz auf seinen Reichtum, seine Privilegien oder körperliche Wohlgestalt sein dürfe (Ⅳ 716a4–6), damit „seine Seele nicht in Übermut entbrennt“. 120 Erst der zweite Teil führt aus, welche fundamentale Rolle der Seele dabei zukommt: Die wichtigste Voraussetzung und der erste Schritt dafür ist, die Seele als wichtigstes Besitzstück anzuerkennen – erst dann kann man sein Streben nach äußeren Gütern einschränken. Die angemessene Wertschätzung der Seele, des Göttlichsten nach den Göttern, ist also die Bedingung für maßvolles Verhalten und die Angleichung an Gott. Mit dem zweiten Teil wird aber nicht nur die Generalansprache zu Ende geführt, sondern auch die kontextuelle Klammer der übergeordneten Frage nach der richtigen Verfassung in Magnesia geschlossen (s. S. 24). Der Athenische Fremde hatte zur ersten und wichtigsten Voraussetzung erklärt, dass die Verfassung nicht einzelne begünstigen dürfe, sondern das Wohl aller fördern müsse (ebd.). Der zweite Teil erklärt abschließend, warum eine Verfassung dieser Forderung gerecht wird, wenn sie in der Vernunft verankert ist und jeder Bürger die Aufgabe hat, selbst so vernünftig wie möglich zu werden. Wenn sich der Mensch von seinem Streben nach äußeren Gütern weitgehend freimacht und stattdessen seine Seele auf die richtige Weise ehrt, hat das nämlich langfristig automatisch zur Folge, dass das Wohl aller gefördert wird – und zwar deswegen, weil es keinen Wettkampf um diejenigen Güter gibt, die ihrer Natur nach begrenzt sind und nicht allen Mitgliedern der Gemeinschaft in gleichem Anteil zukommen können (Grund und Boden, Besitz, Macht). Stattdessen führt der Athener einen Wettkampf um die Tugend ein, 121 bei dem es nur Gewinner gibt: Wenn alle danach streben, so gerecht, tapfer, besonnen und vernünftig 119 Auf dieses Phänomen komme ich später noch ausführlicher zu sprechen, s. S. 87. 120 φλέγεται τὴν ψυχὴν μεϑ’ ὕβρεως, Ⅳ 716a7. 121 Diesen Wettkampf um die Tugend ruft der Athener im zweiten Teil der Ansprache aus (Ⅴ 731a2– b3) und stellt ihn in direkten Zusammenhang mit der Anerkennung der Seele als dem wertvollsten Gut (Ⅴ 731c5–6).

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wie möglich zu werden, profitieren alle davon. 122 Die Voraussetzung und Grundlage für diesen Wettkampf ist die Anerkennung der Seele als dem wichtigsten Besitzstück, weil dadurch eine Geringschätzung körperlich-materieller Begierden die Folge ist. Über ihre Bedeutung für das Gelingen der Gesetzgebung hinaus begründet die Wertschätzung der Seele also die charakteristische Andersartigkeit der Verfassung Magnesias; keine andere Verfassung hatte versucht, in diesem Ausmaß das Verhältnis des Menschen zu sich selbst zu regulieren. 123 Aus diesem Grund legt der Athener seiner Ansprache so große Bedeutung bei und wendet sich in zwei voneinander getrennten, aber kunstvoll aufeinander abgestimmten Teilen an die Siedler und versucht sie mit aller Kraft von der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit dieser Werteordnung zu überzeugen. Mit Blick auf den Ausgangspunkt – den weiteren Kontext der Ansprache – wollen wir die wichtigsten Ergebnisse der Analyse zusammenfassen und auf die ursprüngliche Fragestellung zur Stellung der Religion eingehen. Aus der Schlussfolgerung, die der Athener aus dem Kronos-Mythos gezogen hatte (S. 31f.), hatten sich zwei Aufgaben ergeben: Zum einen dem Gesetz die größtmögliche Autorität und Achtung zu verleihen, zum anderen die Bürger zur Gesetzestreue zu motivieren. In der Detailanalyse haben wir gesehen, auf welche Weise der Athener diese Ziele zu erreichen sucht. Von übergeordneter Bedeutung ist die große und in feierlichem Ernst vorgetragene Erzählung vom übernatürlichen Ordnungsgefüge; ihr kommt der Status eines Gründungsmythos zu, weil sie die gemeinsamen Werte und damit das kulturellmoralische Fundament der Polis legt. Die Rede zeugt von einer ausgeprägten Adressatenorientierung, die sich zuerst darin zeigt, dass der Athener in dem Wissen um die Neuartigkeit seiner Gesetzgebung die erwartete Verunsicherung und Skepsis durch Rückbindung an Traditionen abzumildern versucht. Zur Beschreibung der vom Gott begründeten und überwachten Ordnung verwendet er dunkle Formulierungen, die bei genauerer Prüfung offen und vage bleiben, die aber die Phantasie der Zuhörer – im Positiven wie im Negativen – anregen und aufgrund des religiösen Kontextes eine normative Kraft ausüben sollen. Des Weiteren zeigt sich das Gespür für die Zuhörer an der Vereinfachung philosophischer Konzepte, die in anderen Dialogen weitaus komplexer sind. Ein besonders eindrückliches Beispiel für den Versuch einer adressatengerechten Vermittlung ist im zweiten Teil der Ansprache zu beobachten: Bevor dort die Verehrung der Seele eingefordert wird, stellt der Athener zuerst auf der begrifflichen Ebene die Anschlussfähigkeit seiner Ausführungen für die Gedankenwelt der Bürger sicher, indem er die Seele als wichtigstes Besitzstück ausweist und damit das philosophische Konzept in die objektivmaterielle Welt überführt. 122 Auch diese Theorie, die sehr viel komplexer in der Politeia entwickelt wird (dazu Blößner 2007, 261), bricht der Athenische Fremde in den Nomoi herunter, um sie den philosophisch nicht gebildeten Adressaten leichter vermitteln zu können. 123 Vgl. Trampedach 1994, 156: „Mit der Einheit der Polis nimmt Platon ein traditionelles Motiv griechischen Denkens auf, geht dabei aber insofern über seine Vorgänger hinaus, als er das Problem nicht primär auf der politisch-instrumentellen Ebene ansiedelt, sondern […] die Seele (ψυχή) des Einzelnen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht.“ Vgl. auch Hentschke 1971, 264.

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Die Generalansprache

Innerhalb dieser rhetorischen Strategie lassen sich einzelne Mittel ausmachen, mit denen der Athener die Bürger für die Gesetzgebung einzunehmen versucht: Eindrücklich werden diejenigen gewarnt und eingeschüchtert, die sich widersetzen wollen – aufgemuntert und als selig gepriesen hingegen diejenigen, die bereitwillig folgen. Trotz des Verkündigungscharakters der Ansprache setzt der Athener auch Argumente ein; die Formel von Gott als dem Maß aller Dinge wird sogar in einer schlussfolgernden Argumentation zu legitimieren versucht. Anzumerken ist jedoch, dass die begründenden Passagen insofern defizitär sind, als die Begründungen häufig erst an anderer Stelle in den Nomoi gegeben und zentrale Begriffe inhaltlich nicht geklärt werden. Was auf den ersten Blick als Mangel erscheint, entspringt jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit dem Kalkül des Atheners, die Adressaten im Rahmen der Ansprache nicht mit ausgefeilten und komplexen Argumenten zu überfordern; die daraus resultierende Oberflächlichkeit nimmt er in Kauf, um der Ansprache eine größere Prägnanz und suggestive Kraft zu verleihen. Im Hinblick auf die Volksreligion lässt sich festhalten, dass sie zwar über die gesamte Ansprache hinweg präsent ist, ihr inhaltlicher Beitrag für das Ziel der Ansprache aber als gering einzuschätzen ist. Am deutlichsten wird das daran sichtbar, dass die zentrale Polis-Gottheit eine abstrakte Größe ist und gerade nicht vom Apollon-Helios-Gespann ausgefüllt wird, dem in der Forschung oftmals eine große Bedeutung zugeschrieben wurde. Die zahlreichen Aspekte, die auf bekannte Elemente der mythischen Welt oder Alltagsreligiosität verweisen, haben keinen unmittelbaren inhaltlichen Wert, sondern lediglich eine dienende Funktion: Der Athenische Fremde macht sich die religiöse Tradition und Konvention zunutze, indem er seinen Überzeugungsmitteln teilweise einen religiösheiligen Anstrich und damit eine normative Komponente verleiht. Das zu vermittelnde Anliegen jedoch – die Transzendenz der menschlichen Natur auf der Grundlage einer angemessenen Wertschätzung der Seele – ist ein philosophisches Konzept, zu dem die Volksreligion keinen eigenständigen und direkten Beitrag leistet. Das ist insofern wenig überraschend, als die Sorge um die Seele ein moralischer Sachverhalt ist, und die Volksreligion – wie wir bereits gesehen haben – den moralischen Bereich so gut wie gar nicht berührt hat. Wenn es dem Athenischen Fremden allerdings um eine substantielle Reformation der Volksreligion ernst gewesen wäre, hätte man ein stärkeres Bemühen gerade in der Generalansprache erwarten können. Ohne Übertreibung kann man daher festhalten, dass die Generalansprache eine Schlüsselstelle in den Nomoi ist, deren Interpretation weite Teile der Nomoi betrifft. Auf diese Bedeutung der Generalansprache deutet rückblickend bereits eine Stelle aus dem Zweiten Buch hin. Dort geht es um die Frage, ob ein Gesetzgeber, „der nur ein bisschen was taugt“ (Ⅱ 663d6), 124 nicht alle Mittel anwenden sollte, um die Bürger von der Identität von gerechtem und lustvollem Leben zu überzeugen. Der Athener ist der Meinung, dass der Gesetzgeber den Bürgern diese Lehre auch dann vermitteln müsste, wenn sie gar 124 Ich zitiere die ganze Äußerung Ⅱ 663d6–e2: νομοϑέτης δὲ οὗ τι καὶ σμικρὸν ὄφελος, εἰ καὶ μὴ τοῦτο ἦν οὕτως ἔχον, ὡς καὶ νῦν αὐτὸ ᾕρηχ᾽ ὁ λόγος ἔχειν, εἴπερ τι καὶ ἄλλο ἐτόλμησεν ἂν ἐπ᾽ ἀγαϑῷ ψεύδεσϑαι πρὸς τοὺς νέους, ἔστιν ὅτι τούτου ψεῦδος λυσιτελέστερον ἂν ἐψεύσατό ποτε καὶ δυνάμενον μᾶλλον ποιεῖν μὴ βίᾳ ἀλλ᾽ ἑκόντας πάντας πάντα τὰ δίκαια;

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Der zweite Teil der Generalansprache

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nicht wahr wäre, und rechtfertigt damit die Lüge – zumindest dann, wenn sie dazu beiträgt, dass „alle alles, was gerecht ist, nicht aus Zwang, sondern freiwillig tun“ (Ⅱ 663e1– 2). Dem skeptischen Kleinias illustriert er mit dem Mythos von der Gründung Thebens, dass man die Menschen sogar glauben machen könne, dass einstmals schwer bewaffnete Männer aus Drachenzähnen hervorwuchsen (Ⅱ 663e8–9). Diesen Mythos nimmt er als Ausgangspunkt für seine weiteren Überlegungen (Ⅱ 663e9–664a8): καίτοι μέγα γ᾽ ἐστὶ νομοϑέτῃ παράδειγμα τοῦ πείσειν ὅτι ἂν ἐπιχειρῇ τις πείϑειν τὰς τῶν νέων ψυχάς, ὥστε οὐδὲν ἄλλο αὐτὸν δεῖ σκοποῦντα ἀνευρίσκειν ἢ τί πείσας μέγιστον ἀγαϑὸν ἐργάσαιτο ἂν πόλιν, τούτου δὲ πέρι πᾶσαν μηχανὴν εὑρίσκειν ὅντινά ποτε τρόπον ἡ τοιαύτη συνοικία πᾶσα περὶ τούτων ἓν καὶ ταὐτὸν ὅτι μάλιστα φϑέγγοιτ᾽ ἀεὶ διὰ βίου παντὸς ἔν τε ᾠδαῖς καὶ μύϑοις καὶ λόγοις. Und so ist denn das für einen Gesetzgeber ein bedeutsames Beispiel dafür, daß man die Seelen der jungen Leute von allem überzeugen kann, was man ihnen nur immer einreden will; daher braucht er nichts anderes zu erforschen und herauszufinden als dies: was er den Staat glauben machen muß, um ihm die größte Wohltat zu erweisen. Zu diesem Zweck muß er alle erdenklichen Mittel und Wege ausfindig machen, wie eine solche Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit hierüber möglichst immer ein und dieselbe Ansicht die ganze Lebenszeit hindurch äußern könnte in Liedern, Sagen und Reden. In dieser Textstelle sind die zentralen Anliegen und damit verbundenen Herausforderungen für den Athenischen Fremden gebündelt: Vor dem Hintergrund des übergeordneten Ziels (das gerechte und gute Leben) wird verhandelt, mit welchen Mitteln und welcher Methodik dieses Ziel zu erreichen ist. Ausgehend von Popper hat die Stelle eine intensive Behandlung mit dem Fokus auf der legitimierten Lüge und Staatspropaganda erfahren. 125 Doch gerade vor dem Hintergrund der Generalansprache sollte man einen anderen Aspekt stärker betonen. Von zentraler Bedeutung ist die Betonung der einen Sache, auf die es dem Gesetzgeber ankommen muss. Die Übersetzung von Schöpsdau ist griffig, lässt aber den doppelten Bezug des Pronomens τί (tí) unter den Tisch fallen, das sowohl Objekt zu πείσας (peísas) als auch zu μέγιστον ἀγαϑὸν (mégiston agathón) ist. Wörtlich müsste es daher etwas umständlich lauten: Der Gesetzgeber muss herausfinden, womit er der Stadt – unter der Voraussetzung, dass er die Seelen der jungen Leute davon überzeugen kann – die größte Wohltat erweisen dürfte. Der Zusammenhang zwischen dieser Stelle und der Ansprache ist folgender: Im Zweiten Buch unterstreicht der Athenische Fremde seine Zuversicht hinsichtlich der Möglichkeit, die gesamte Bevölkerung etwas glauben zu machen, indem er 125 Die Einschätzungen zu dieser Passage variieren; Morrow (1960, 557 Anm. 30) und Schöpsdau (2003, 304f.) halten sie nicht für bedenklich, weil es sich gerade nicht um eine Lüge handelt; Baima (2016, 121 und Anm. 11) hingegen betont, dass der Athener auch dann lügen würde, wenn es nicht wahr wäre. Vgl. auch Schofield (2006, 288), der Parallelen zum sogenannten Metall-Mythos in der Politeia zieht.

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Die Generalansprache

den Gründungsmythos Thebens als Beispiel angibt – und genau eine solche Erzählung entwirft er im Vierten und Fünften Buch nun für die Polis Magnesia mit der Generalansprache selbst. Damit stellt sie das erste und wichtigste Mittel dar, mit dem der Stadt die größte Wohltat erwiesen werden kann. Aus dem Kontext der Stelle im Zweiten Buch wird klar, dass diese Wohltat darin besteht, die Bürger für das gute und gerechte Leben einzunehmen – und durch die Generalansprache wird deutlich, dass dieses Ziel erreicht werden soll, indem der Gesellschaft ein gemeinsamer Wertehorizont vermittelt wird. Das kann allerdings nur dann funktionieren, wenn es dem Gesetzgeber gelingt, die Bürger davon wirklich zu überzeugen – weshalb es für den Erfolg der Ansprache entscheidend ist, ein möglichst breites Spektrum an Überzeugungsmethoden einzusetzen. Das griechische Wort dafür, das in der Textstelle gleich dreimal vorkommt, ist πείϑειν (peíthein), und kann je nach Kontext unterschiedliche Färbungen annehmen. Auf die Schwierigkeiten mit diesem Begriff werden wir im nächsten Kapitel zu den Vorworten eingehen, weil auch der Athenische Fremde erst in diesem Zusammenhang die Rolle der peithó thematisiert. Bevor wir uns im nächsten Kapitel mit den theoretischen Erwägungen des Atheners zu dem Instrument der Vorworte befassen, möchte ich als abschließenden Kommentar zur Wirkung der Generalansprache auf die Bürger einen mit Platons Werken sehr vertrauten Schriftsteller zu Wort kommen lassen. In seinem Roman „Geschichte des Agathon“ lässt Christoph Martin Wieland seinen Protagonisten den Einfluss und die Wirkung der Erziehung, die er im Tempel zu Delphi genossen hat, im Rückblick beschreiben: 126 „Wie willkommen ist uns in diesem Alter eine Philosophie, welche den Vorteil unsrer Wissensbegierde mit dieser Neigung zum Wunderbaren und dieser arbeitscheuen Flüchtigkeit, welche der Jugend eigen sind, vereiniget, welche alle unsre Fragen beantwortet, alle Rätsel erklärt, alle Aufgaben auflöset; […] ein System, welches die Schöpfung so unermeßlich macht, als ihr Urheber ist; welches uns in der anscheinenden Verwirrung der Natur eine majestätische Symmetrie, in der Regierung der moralischen Welt einen unveränderlichen Plan, in der unzählbaren Menge von Klassen und Geschlechtern der Wesen einen einzigen Staat, in den verwickelten Bewegungen aller Dinge einen allgemeinen Richtpunkt, in unsrer Seele einen künftigen Gott, in der Zerstörung unsers Körpers die Wiedereinsetzung in unsre ursprüngliche Vollkommenheit, und in dem nachtvollen Abgrund der Zukunft helle Aussichten in grenzenlose Wonne zeigt? Ein solches System ist zu schön an sich selbst, zu schmeichelhaft für unsern Stolz, unsern innersten Wünschen und wesentlichsten Trieben zu angemessen, als daß wir es in einem Alter, wo alles Große und Rührende so viel Macht über uns hat, nicht beim ersten Anblick wahr finden sollten. Vermutungen und Wünsche werden hier zu desto stärkern Beweisen, da wir in dem bloßen Anschauen der Natur zuviel Majestät, zuviel Geheimnisreiches und Göttliches zu sehen glauben, um besorgen zu können, daß wir jemals zugroß von ihr denken möchten. Es sei also genug, wenn ich sage, daß die Lehrsätze des 126 Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon. Hrsg. von Klaus Manger. Berlin 2010, 207–209.

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Der zweite Teil der Generalansprache

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Orpheus und des Pythagoras, von den Göttern, von der Natur, von unsrer Seele, von der Tugend, und von dem was das höchste Gut des Menschen ist, sich meines Gemüts so gänzlich bemeisterten, daß alle meine Begriffe nach diesem Urbilde gemodelt, alle meine Reizungen davon beseelt, und mein ganzes Betragen, so wie alle meine Entwürfe für die Zukunft, mit dem Plan eines nach diesen Grundsätzen abgemessenen Lebens, dessen Beurteilung mich unaufhörlich in mir selbst beschäftigte, übereinstimmig waren.“ Die Passage enthält zahlreiche Ideen und Konzepte, die dem Leser platonischer Dialoge immer wieder begegnen: Eine „majestätische Symmetrie“ der Natur und ein moralisches Maß, die auf die metaphysische Ordnung der Welt zurückzuführen sind; die Einheit der Polis, der Vorrang der Seele gegenüber dem Körper und die Angleichung an Gott („in unserer Seele einen künftigen Gott“) mit dem Ziel, den ursprünglichen Zustand der Seele wiederherzustellen. Mit Blick auf die Nomoi und die Generalansprache ist der Eindruck Agathons interessant, dass „Vermutungen und Wünsche“ durch die Macht der Phantasie zu „desto stärkern Beweisen“ werden; die vagen Beschreibungen und theologischen Anspielungen hätten also zumindest der ausgeprägten Einbildungskraft eines Agathon einige Impulse verliehen. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Faktor von Bedeutung, und zwar das Alter: Agathon betont, dass „alles Große und Rührende“ gerade in jungen Jahren eine ungeheure Macht ausübt – und sowohl Sokrates in der Politeia als auch der Athener legen großen Wert darauf, dass die Erziehung so früh wie möglich beginnen muss, weil die noch junge Seele äußeren Einwirkungen gegenüber besonders empfänglich und entsprechend formbar ist. 127 Schließlich vermittelt die lebhafte Schilderung Agathons den meines Erachtens gewünschten, zentralen Effekt der Ansprache sehr viel eindrücklicher als nüchterne Begriffe wie „kultureller Rahmen“ oder „Wertehorizont“: Der Athener würde sein Ziel ohne Zweifel als erreicht ansehen, wenn die Leitideen der Ansprache die Gemüter der Bürger in ähnlicher Weise bewegen und deren Bestrebungen gänzlich darauf ausrichten würden, ein Leben nach ihren Prinzipien zu führen.

127 Anzumerken ist zusätzlich, dass diese Feststellungen den Auftakt zu einem substantiellen Bereich markieren: Sie finden sich nämlich im Zusammenhang mit der erzieherischen Wirkung der Dichtung und der Musik und betreffen damit auch die wichtige Frage, wie über die Götter zu sprechen ist; in der Politeia sind Vorschriften für die Dichter die Folge (Ⅱ 377a4–b9), in den Nomoi die Einrichtung der Chöre und ihrer Gesänge (Ⅱ 653a5–c4).

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IV. Die Proömien Zur Überprüfung der These, dass die Volksreligion in den Nomoi substantiell aufgewertet wird und eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung der Gesetzgebung spielt (Kap. II), habe ich in einem ersten Schritt die in diesem Zusammenhang wichtige, aber in der Forschung häufig vernachlässigte Generalansprache mitsamt ihrem Kontext untersucht; dabei hat sich gezeigt, dass das wesentliche Ziel der Gesetzgebung auf individueller Ebene die Vermittlung eines Maßes ist (Kap. III.1). Die Volksreligion leistet zu diesem Zweck keinen unmittelbaren Beitrag; stattdessen entfaltet der Athener in der Generalansprache einen Wertehorizont philosophischer Natur, der von der Einbettung in eine theologisch-mythologische Erzählung profitiert, weil er auf religiös geprägte Vorstellungen und Normen zurückgreifen kann (Kap. III.2 und III.3). Nachdem die Rolle der Volksreligion damit in einem Textabschnitt untersucht wurde, der die übergeordneten Rahmenbedingungen betrifft, soll nun in einem zweiten Schritt dasjenige Instrument in den Nomoi untersucht werden, das die Bürger in konkreten Alltagssituationen dabei unterstützen soll, die Ziele der Gesetzgebung in die Tat umzusetzen: die Gesetzesvorworte. Diese Vorworte, die der Athener in dem Abschnitt zwischen den beiden Teilen der Ansprache entwickelt, sind aus zahlreichen Gründen eines der bedeutsamsten, wenn nicht sogar das bedeutsamste Element in den Nomoi überhaupt. 1 Im Folgenden werde ich die wesentlichen Inhalte dieses Exkurses kurz vorstellen, die gängigen Positionen der Forschung zu den Proömien kritisch diskutieren und ausgehend von meiner Kritik für einen neuen Zugang plädieren. Der Exkurs zu den Vorworten birgt zahlreiche Aspekte, die Anlass zu weitreichenden und tiefgründigen Diskussionen geben. Diese Diskussionen drehen sich um das Kernelement des Exkurses: die Idee des Athenischen Fremden, die Wirkung der Gewalt bzw. des Zwangs (βία, bía) abzumildern, den Gesetze durch ihre harsche Form und die Androhung von Strafe haben. 2 Stattdessen will der Athener wichtige Gesetze mit einer Vorrede einleiten (προοίμιον, prooímion), die den Bürger nicht mit Gewalt, sondern mit πειϑώ (peithó) zum freiwilligen Gesetzesgehorsam motiviert. 3 Dieses schillernde Wort bezeichnet – ganz allgemein – den Versuch einer Person, ihren Standpunkt oder Willen gegen1 Diese Einschätzung findet sich teilweise explizit, teilweise implizit bei Morrow (1953), Görgemanns (1960, 59), Jaeger (1959, 293), Bobonich (1991), Laks (1990, 222), Yunis (1996, 236), Mesch (2006, 63f.). Eine allgemeine Übersicht zur Literatur zu den Vorworten findet sich bei Schöpsdau (2003, 225). 2 Ⅳ 722b4–c4, Ⅳ 722e4–a4, dazu vor allem Laks (1999, 67f.) und Schofield (2006, 84–88). 3 Man sollte aus Gründen der Transparenz allerdings darauf hinweisen, dass von einem freiwilligen Gesetzesgehorsam im Exkurs nicht die Rede ist; er ergibt sich an dieser Stelle hauptsächlich aus dem konstruierten Gegensatz zwischen bía und peithó; in Ⅱ 663e1–2 erklärt der Athener es allerdings explizit als erstrebenswert, dass die Bürger das Gerechte nicht aus Zwang, sondern freiwillig tun (s. S. 62 mit Anm. 124, wo die Stelle zitiert wird).

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Die Proömien

über einer anderen durchzusetzen. 4 Dieses Ziel kann auf unterschiedliche Weise erreicht werden, sodass als Übersetzung sowohl „Überredung“ als auch „Überzeugung“ in Frage kommt; 5 während man mit Überzeugung in der Regel eine rational-argumentative Einflussnahme verbindet, stehen bei Überredung eher manipulative, suggestive oder emotionale Elemente im Vordergrund. Ein weiteres Element ist zweifelsohne das Verhältnis der beteiligten Personen zueinander: Handelt es sich um gleichberechtigte Gesprächspartner auf derselben Hierarchiestufe oder liegt ein Machtgefälle vor? In diesem Zusammenhang ist das Stichwort der Autorität von zentraler Bedeutung: 6 Versucht die Person, sich auf Basis seiner größeren Kompetenz oder Erfahrung durchzusetzen, oder setzt sie auf unlautere Mittel wie Einschüchterung, Drohgebärden und Sanktionen? Diese Ambiguität ist auch eines der zentralen Themen der Forschung; lange Zeit wurde sogar fast ausschließlich die Frage diskutiert, auf welche Weise die peithó der Vorworte nun wirke und welche Facetten dabei im Vordergrund stehen. 7 Im Kern sind es zwei Aspekte, die verantwortlich für die langanhaltende und intensive Debatte sind. Der erste hat mit der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit des Gesetzgebers und seinen Zielen zu tun: Denn je mehr das Pendel in Richtung Überredung ausschwingt, desto stärker schwindet der behauptete Gegensatz zwischen bía und peithó. Bei einer manipulativen Überredung könnte man schwerlich davon sprechen, dass jemand freiwillig die Forderungen des Gesetzgebers akzeptiert; stattdessen müsste man ehrlicherweise eingestehen, dass der Effekt bei Täuschung oder Einschüchterung eher eine Unterwerfung ist. 8 Genauso fragwürdig, ja geradezu scheinheilig erschiene außerdem der Anspruch des Atheners, den Bürgern Einsicht in den Sinn der Gesetze vermitteln zu wollen. 9 Mithin könnte man dem Athener 4 Vgl. Buchheim (1986, 224): „Was wir aufgrund eines Unterschiedes der inneren Methode auseinanderhalten müssen, faßt das Griechische mit Blick auf den gemeinsamen äußeren Effekt zusammen: πείϑειν heißt ‚jemanden zu etwas bringen‘, ‚zu etwas bewegen‘.“ 5 Auf diese Ambivalenz haben Bobonich (1991, 366) und mit Nachdruck Föllinger (2016, 83 mit Anm. 353 und 93) aufmerksam gemacht. Das Substantiv πειϑώ werde ich aufgrund dieser Ambivalenz unübersetzt lassen; den Vorgang, dass der Gesetzgeber mit peithó auf die Bürger einwirken möchte, ohne Bedeutungsunterschied mit „für die Gesetze einnehmen“ oder „zum Gesetzesgehorsam motivieren“ übersetzen. 6 Den Aspekt der Autorität haben besonders Nightingale (1993) und Yunis (1996) in ihren Interpretationen der Vorworte berücksichtigt. 7 Ein großes Problem in dieser Debatte ist allerdings, dass häufig nur die Äußerungen über die Vorworte und nicht die Vorworte selbst untersucht wurden, vgl. Yunis (1996, 228 Anm. 29): „Discussion of the preambles has too often failed to look at the preambles [...]“. Einen kurzen Überblick der Debatte gibt Lisi (2001, 17); ausführlich Buccioni (2007), die ausgehend von den gegensätzlichen Positionen einen Versuch zur Versöhnung und Synthese wagt. 8 Dementsprechend betont Schofield, dass die Gesetze unabhängig vom Versuch, die Bürger von ihnen zu überzeugen, Geltung haben (Schofield 2006, 85): „If they [the citizens, LN] don’t refrain [...], then willy nilly they will be punished as the law prescribes […].“ Vgl. auch Yunis (1996, 221), der eine etwas schwächere Position vertritt und Cohen (1993, 310 und 313), der im Gegensatz dazu die streitbare Position vertritt, dass das Gesetz von der Zustimmung der Bürger abhängt. S. zur Freiwilligkeit allerdings auch Anm. 3 auf S. 67. 9 Auch diese These (vgl. Anm. 3 auf S. 67) hat keinen eindeutigen Rückhalt im Text, sondern ergibt sich aus der Gegenüberstellung von bía und peithó, dem Vokabular (s. Anm. 22 auf S. 71 und Anm.

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in diesem Fall einen performativen Selbstwiderspruch vorwerfen: Seinem eigenen Anspruch nach will er Gewalt und Zwang vermeiden, würde sie aber unter dem Mantel der peithó dennoch ausüben. Mit einer negativen Bewertung des Gesetzgebers würde auch das gesamte Projekt der Gesetzgebung in ein schlechtes Licht gerückt werden. Buccioni (2007) hat folgerichtig die Vermutung geäußert, dass die Debatte in Wahrheit nicht so sehr die Rationalität der peithó an sich betreffe als vielmehr Zeugnis ablege von den „liberalist objections to the fundamentally communal nature of the Magnesian legislation and its underlying political position“ (Buccioni 2007, 281). Demnach hätten die Interpreten gar kein Problem „with the nature and power of the lawgiver’s psychagogy but with its presuppositions, content, and aims“ (ebd.). Ich halte diese Einschätzung für zutreffend und wichtig, denke aber – wie eben schon angedeutet –, dass ein anderer Aspekt die Auseinandersetzung um die Bewertung der peithó noch stärker befeuert hat. Es handelt sich um ein Problem, das eine unvoreingenommene Interpretation der Nomoi seit jeher behindert: Die Frage nach der philosophischen Tiefe der Nomoi und das damit zusammenhängende Verhältnis zwischen Philosophie und Rhetorik. 10 Die Proömien haben sich in der Forschung mit einiger Zuverlässigkeit als Gradmesser erwiesen: Wer der Ansicht war, dass die Vorworte rational-argumentativ vorgehen, sprach den Nomoi in der Regel einen höheren philosophischen Gehalt zu; 11 wer dagegen die emotional-manipulativen Aspekte hervorhob, wies den Nomoi eher den Rang einer rhetorischen Beein24 auf S. 72f.) und dem Arzt-Gleichnis (Ⅳ 720a2–e5, s. Anm. 23 und 24 auf S. 72). Der Großteil der Interpreten ist der Ansicht, dass die Vorworte die Bürger dazu befähigen sollen, aus einer gewissen Einsicht heraus das Richtige zu tun (dagegen z. B. Dodds (1951, 212) und Campos (2001, 46–48), die lediglich eine Konditionierung oder Habitualisierung der Bürger erkennen können). Ob es sich bei dieser Einsicht im platonischen System der Erkenntnisarten um eine Meinung (δόξα, doxa) oder echtes Wissen (ἐπιστήμη, epistéme) handelt, ist bei einer Tendenz zur Meinung umstritten: s. stellvertretend Görgemanns (1960, 57) zur Meinung, Hentschke (1971, 300) zu Wissen; Mesch (2003, 62) und Föllinger (2016, 118–122) legen den Fokus auf die vermittelnde Rolle der Rhetorik und betonen die Leistung der Vorworte, die Bürger zu vernunftgeleitetem Handeln zu motivieren (s. bes. Föllinger 2018). 10 Allgemein zum Spannungsfeld Philosophie und Rhetorik bei Platon s. Niehues-Pröbsting (1987, 13–19); im Hinblick auf die Nomoi stammt der differenzierteste Beitrag von Mesch (2003), vgl. auch Anm. 24 auf. S. 7. Der philosophische Gehalt der Nomoi wurde insbesondere deswegen für gering erachtet, weil die Dialektik als Methode zum Erreichen methodisch abgesicherter Erkenntnisse und deren Einsatz bei der Behandlung prinzipieller und fundamentaler Fragen (wie den Ideen) nicht zum Einsatz käme. Dagegen konnte Szlezák (1984, 72–78 und 2004, 44– 53) überzeugend zeigen, dass der Athener „ein relativ bescheidenes dialektisches Niveau mit voller Absicht nicht überschreitet“, weil es sowohl die Dialogpartner als auch das intendierte Publikum intellektuell überfordern würde (Szlezák 1984, 77f.). Szlezáks Ausführungen zur Durchführung der Diskussion im Zehnten Buch über die Seele (1984) und zu den Erörterungen über die Mitglieder und Aufgaben des Nächtlichen Rats (2004) lassen darüber hinaus deutlich erkennen, dass Platon sowohl an seinen Prinzipien philosophischer Wahrheitssuche als auch an den Voraussetzungen ihrer Vermittlung festgehalten hat. 11 Zu dieser Gruppe von Autoren gehören Morrow (1953), Bobonich (1991; 2002), Mesch (2003), Buccioni (2007) und Fossheim (2013).

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flussung ohne gehaltvolle philosophische Inhalte zu. 12 Ich halte diese Diskussionen, wie ich später darlegen werde, nicht für zielführend, will mich aber mit einigen Gedanken dennoch kurz in diese Diskussion einbringen. In der Forschung ist bereits darauf hingewiesen worden, dass eine Verortung der Vorworte im Spannungsverhältnis von Rhetorik, Dichtung und Philosophie nicht möglich ist, ohne die Ausführungen zu diesem Themenkomplex in anderen Dialogen zu berücksichtigen. 13 Vor allem der Exkurs im Theaitetos könnte im Hinblick auf die Frage, wann man von einer philosophischen Rhetorik sprechen kann, fruchtbar gemacht werden 14 und zeigen, dass die Vorworte diese Überlegungen in die Realität überführen und als angewandte Rhetorik fungieren. 15 Es sind drei Aspekte, die sich in dem Exkurs als Kennzeichen einer philosophischen Rhetorik zu erkennen geben: 1) Die Muße der Gesprächspartner, 2) die Verantwortung der Gesprächspartner nur sich selbst gegenüber, 3) der Fokus auf die Seele und mithin die Angleichung an Gott. 16 Die Generalansprache und die weiteren Ausführungen zu den Vorworten im Exkurs lassen deutlich erkennen, dass die Vorworte diese Voraussetzungen voll und ganz erfüllen. Das Gleiche gilt für die Anforderungen an philosophische Rhetorik, die im Phaidros formuliert werden: Auch diesen Kriterien werden die Vorworte gerecht. Nähme man abschließend noch die Kritik an schriftlich fixierten Gesetzen im Politikos hinzu, denen der Athenische Fremde mit seiner Kombination aus Vorwort und Gesetz begegnet, ließe sich ohne Probleme zeigen, dass die Vorworte nach platonischen Kriterien philosophischer nicht sein könnten. Doch dies im Detail zu zeigen, ginge nicht nur über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinaus, sondern hätte auch keinen weitreichenden Nutzen. Man hätte zwar gute Argumente, mit denen der philosophische Charakter der Nomoi stark gemacht werden könnte, aber im Hinblick auf die konkrete Interpretation einzelner Vorworte wäre leider nicht viel gewonnen. Es zeigt sich nämlich bei näherem Hinsehen, dass eine systematische Interpretation auch mit diesem breiten Hintergrund aufgrund der Vielfalt der Proömien

12 Hier sind Popper (1970, 192 mit Anm. 5), Versenyi (1961), Stalley (1994) und Campos (2001) zu nennen. Laks (1999, 70f.) nimmt insofern eine differenziertere Position ein, als er in den Arzt-Gleichnissen das „dialektische Modell“ erkennt, dem die Vorworte aber nicht entsprächen: Anspruch und Wirklichkeit gingen auseinander. 13 Bereits Morrow hat seine Interpretation der Vorworte durch Bezugnahme auf den Phaidros angereichert (1953, 237–242). Mesch (2003) hat die Dichotomie von Rhetorik und Philosophie ebenfalls entschieden abgelehnt und stattdessen betont, dass Philosophie auf rhetorische Vermittlung angewiesen ist, wenn sie politisch wirksam werden will (2003, 63f.). Auch Buccioni (2007) und Föllinger (2018) haben mit Verweisen auf den Phaidros und Politikos darauf aufmerksam gemacht, dass die bisherigen Deutungsversuche angesichts des komplexen Verhältnisses von Rhetorik und Philosophie bei Platon verkürzt sind. 14 Der Exkurs findet sich in 172b8–177c5. Die folgende Interpretationslinie basiert auf den Überlegungen von Niehues-Pröbsting (1987) zu Platons Rhetorikkritik und -verständnis, das er in Auseinandersetzung mit den Dialogen Theaitetos, Apologie, Gorgias und Phaidros erarbeitet hat. 15 Laks (1999, 64) hat es am prägnantesten formuliert: „Die Nomoi sind unter anderen [sic] eine Abhandlung über angewandte Rhetorik.“ 16 S. Niehues-Pröbsting 1987, 47–50.

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Die Proömien

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nicht möglich ist. 17 Das liegt nicht nur daran, dass sich schon die Einschätzung darüber unterscheidet, was als Proömium zu zählen ist, weil der Athener nicht alle Vorworte explizit als solche benennt; in vielen Fällen sind die Vorworte allerdings durch die Trennung von Vorüberlegungen und Gesetz deutlich erkennbar. 18 Es liegt vor allem daran, dass der Athenische Fremde selbst keine Notwendigkeit sieht, sich bestimmten formalen oder methodischen Zwängen zu unterwerfen. Einerseits äußert sich der Athener zur Vielfalt seiner Methoden an zwei Stellen ausdrücklich, 19 andererseits ergibt es sich auch, wenn man sich die Intention und Zielsetzung des Athenischen Fremden vor Augen führt, die er mit den Vorworten verfolgt. Schauen wir uns also einige zentrale Textstellen in diesem Zusammenhang an. Der Ausgangspunkt des Atheners ist der Wunsch, dass die Bürger ein tugendhaftes Leben führen (Ⅳ 718c8–10): βουλοίμην ἂν αὐτοὺς ὡς εὐπειϑεστάτους πρὸς ἀρετὴν εἶναι, καὶ δῆλον ὅτι πειράσεται τοῦτο ὁ νομοϑέτης ἐν ἁπάσῃ ποιεῖν τῇ νομοϑεσίᾳ. Ich wünschte, daß die Bürger möglichst willig zur Tugend sind, und offensichtlich wird dies der Gesetzgeber bei seiner gesamten Gesetzgebung zu erreichen suchen. Schon an dieser Stelle bereitet der Athener die Rolle der peithó vor, indem er die gewünschte Haltung der Bürger als εὐπειϑεστάτους (eupeithestátous) bezeichnet; die zitierte Übersetzung „möglichst willig“ ist eine Verkürzung: Wörtlich bedeutet es, dass die Bürger „möglichst empfänglich für Überzeugung/Überredung“ im Hinblick auf die Tugend sein sollen. 20 Direkt im Anschluss äußert der Athener die Vermutung, dass die Generalansprache genau diesen Zweck erfüllt: 21 Sie soll den Empfänger gegenüber den Ermahnungen des Gesetzgebers „sanfter“ und „wohlwollender“ und in der Folge auch „empfänglicher für Belehrungen“ stimmen. 22 Dieses Anliegen ist von zentraler Bedeu17 Die bisherigen Systematisierungsversuche, etwa von Laks (1996, 53f.) und Schöpsdau (2003, 223f.), bieten daher auch nur eine oberflächliche Orientierung und basieren nicht auf einer vom Athener selbst veranlassten Kategorisierung. 18 Die Auflistung von Yunis (1996, 227 Anm. 26) ist die sorgfältigste, weil er auch solche Passagen berücksichtigt, die bei einer späteren Überarbeitung durch einen nachfolgenden Gesetzgeber ohne größeren Aufwand in ein Vorwort ausgearbeitet werden könnten. 19 Die erste Stelle findet sich im Zweiten Buch (663e9–664a8), die andere Stelle im Neunten Buch (862d1–e1); im Folgenden werde ich auf diese Stellen noch zurückkommen. 20 So gibt es auch Griffith (2016, ad loc.) wieder: „I would want people to be as open to persuasion as possible where goodness is concerned.“ In der Akademie-Ausgabe übersetzt Schöpsdau (2003) ebenfalls prägnanter: „Ich möchte, daß die Bürger sich möglichst leicht zur Tugend überreden lassen […].“ 21 Diese und weitere Verweise innerhalb des Exkurses sind mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf die Ansprache zu beziehen, s. Schöpsdau (2003, 229) und Görgemanns (1960, 33 Anm. 2). 22 Die griechischen Begriffe sind ἡμερώτερόν (hemeróteron, „sanfter“, 718d4), εὐμενέστερον (eumenésteron, „wohlwollender“, 718d4) und εὐμαϑέστερον (eumathésteron, „empfänglicher für Belehrungen“, 718d6). Zu dieser Terminologie der Schulrhetorik s. Görgemanns (1960, 40–43) und Schöpsdau (2003, 228f.).

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tung, sodass der Athener auch kurz vor dem Ende des Exkurses den Sinn der Vorworte folgendermaßen zusammenfasst (Ⅳ 723a4–b2): ἵνα γὰρ εὐμενῶς, καὶ διὰ τὴν εὐμένειαν εὐμαϑέστερον, τὴν ἐπίταξιν, ὃ δή ἐστιν ὁ νόμος, δέξηται ᾧ τὸν νόμον ὁ νομοϑέτης λέγει, τούτου χάριν εἰρῆσϑαί μοι κατεφάνη πᾶς ὁ λόγος οὗτος, ὃν πείϑων εἶπεν ὁ λέγων: διὸ δὴ κατά γε τὸν ἐμὸν λόγον τοῦτ᾽ αὐτό, προοίμιον, ἀλλ᾽ οὐ λόγος ἂν ὀρϑῶς προσαγορεύοιτο εἶναι τοῦ νόμου. Denn damit derjenige, dem der Gesetzgeber das Gesetz verkündet, die Anordnung, die ja das Gesetz ist, wohlwollend und infolge dieses Wohlwollens mit größerer Lernbereitschaft aufnimmt, deswegen, so hat sich mir herausgestellt, ist diese ganze Rede von mir vorgetragen worden, die der Sprechende gehalten hat, um zu überreden. Darum dürfte sie meiner Ansicht nach richtigerweise eben als Vorrede, nicht aber als Rede des Gesetzes bezeichnet werden. Der Athener ist folglich darum bemüht, mit den Vorworten auf die Bürger dahingehend einzuwirken, dass sie den Forderungen des Gesetzes gegenüber positiv eingestellt sind; wie auch zu Beginn des Exkurses finden die Begriffe des Wohlwollens und der Lernbereitschaft Verwendung. Die Generalansprache ist also das erste und paradigmatische Beispiel dafür, wie sich der Athener eine Beeinflussung der Bürger durch peithó vorstellt. In der Behandlung der Generalansprache haben wir jedoch gesehen, dass dort Elemente Verwendung finden, die keinen Anspruch auf argumentativ-rationale Überzeugung erheben können, sondern den Empfänger teils recht offensichtlich auf suggestive oder gar manipulative Weise zu beeinflussen suchen. Macht sich der Athener also tatsächlich des Selbstwiderspruchs schuldig, indem er zwar behauptet, keine Gewalt anwenden zu wollen, sie letztlich aber unter dem Deckmantel der peithó doch einsetzt? Man kann diesen scheinbaren Widerspruch stark entkräften, wenn man einen Aspekt berücksichtigt, der zumindest in diesem Zusammenhang häufig vernachlässigt wird. Auch wenn die Gegenüberstellung von bía und peithó, das Arzt-Gleichnis 23 und das verwendete Vokabular 24 dafür sprechen, dass sich der Athenische Fremde eine Überzeugung 23 In diesem Gleichnis wird der Gesetzgeber mit einem freien Arzt verglichen, der mit seinem Patienten ein Gespräch über die Erkrankung führt und die Behandlung erst beginnt, wenn der Patient die vorgeschlagenen Schritte verstanden und akzeptiert hat. Zum Arzt-Gleichnis Wehrli (1951), Hentschke (1971, 298–301), Schöpsdau (2003, 222f.), Schofield (2006, 87f.), Föllinger (2016, 117f.) und Baima (2016, 118–120). An späterer Stelle greift der Athener dieses Gleichnis auf (Ⅸ 857c4– e6), s. die folgende Anm. 24 Insbesondere εὐμαϑέστερον (eumathésteron, „empfänglicher für Belehrungen“, Ⅳ 718d6), dessen Ursprung in μανϑάνω (mantháno, „lernen“) liegt, lässt an eine Belehrung denken, die (idealerweise) auf der Basis nachvollziehbarer Argumente erfolgt. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass im Arzt-Gleichnis explizit von einem solchen Lehr-Lern-Verhältnis gesprochen wird (Ⅳ 720d4–6); allerdings ist es voreilig, diese Beschreibungen ohne Weiteres auf die Vorworte selbst zu übertragen (wie es Bobonich 1991, 373 tut). Das Gleiche gilt für Formulierungen an späterer Stelle, an der das Vorgehen des Arztes so beschrieben wird, dass er sich beinahe philosophischer Argumente bediene

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auf rational-kognitiver Basis als Ziel setzt, legt sein Selbstverständnis etwas anderes nahe: Denn immerhin entwickelt er das Konzept der Vorworte explizit mit Blick auf und in Auseinandersetzung mit den Dichtern. 25 Im Exkurs selbst wird das an mehreren Stellen deutlich. Direkt im Anschluss an den eben zitierten Wunsch, die Bürger mögen so offen wie möglich für die peithó sein, bringt er das berühmte Hesiod-Zitat an, wonach die Götter vor den Weg der Tugend den Schweiß gesetzt hätten (Ⅳ 718e1–719a2). Schon durch dieses konkrete Beispiel wird deutlich, dass der Athener als Gesetzgeber auch auf die Dichtung zurückgreift, um seine Gedanken zu illustrieren. Im Anschluss daran fingiert er einen Dialog mit einem Dichter, der ihn aufgrund einer vagen Bestimmung kritisiert und dazu auffordert, seine Gesetze klar und eindeutig zu formulieren. Kleinias gibt dem Dichter zwar Recht (Ⅳ 719e6), aber der Athener erwidert auf diesen Vorwurf Folgendes (Ⅳ 719e7–720a2): πότερον οὖν ἡμῖν ὁ τεταγμένος ἐπὶ τοῖς νόμοις μηδὲν τοιοῦτον προαγορεύῃ ἐν ἀρχῇ τῶν νόμων, ἀλλ᾽ εὐϑὺς ὃ δεῖ ποιεῖν καὶ μὴ φράζῃ τε, καὶ ἐπαπειλήσας τὴν ζημίαν, ἐπ᾽ ἄλλον τρέπηται νόμον, παραμυϑίας δὲ καὶ πειϑοῦς τοῖς νομοϑετουμένοις μηδὲ ἓν προσδιδῷ; Soll nun der von uns mit der Gesetzgebung Betraute überhaupt nichts Derartiges am Beginn seiner Gesetze vorausschicken, sondern sogleich verkünden, was man tun soll und was nicht, und sich nach Androhung der Strafe einem anderen Gesetz zuwenden, ohne ein einziges Wort der Aufmunterung und Überredung seinen gesetzlichen Anordnungen hinzuzufügen? Einerseits erkennt der Athener den Vorwurf des Dichters an, indem er gar nicht bestreitet, dass der Gesetzgeber zur Klarheit und Eindeutigkeit verpflichtet ist. Andererseits macht er mit seiner Entgegnung auch deutlich, dass der Vorwurf des Dichters ins Leere läuft: Denn die vage Formulierung, die der Dichter kritisiert hat, entstammt der Generalansprache und ist daher nicht Teil eines Gesetzes, sondern eines Vorworts – und genau in diesen Vorworten nimmt der Athener für sich in Anspruch, auch Worte der Aufmunterung (παραμυϑία, 720a1) und peithó (ebd.) anzuwenden, wie es auch die Dichter tun. Der Athener versteht sich folglich als dichterischer Gesetzgeber, der zum Zweck der peithó auf dieselben Mittel zurückgreifen darf, die auch ein Dichter zur Beeinflussung und Lenkung des Publikums einsetzt. Dieses Selbstverständnis unterstreicht der (Ⅸ 857d2) und den Patienten mehr erziehe als behandle (Ⅸ 857d7); s. dazu Laks (1996, 52) und Bobonich (2000, 106–119). 25 Dieser Sachverhalt wird in der Forschung durchaus anerkannt (Schöpsdau 2003, 230–232; Hentschke 1971, 297–299) und völlig zurecht im Zusammenhang mit dem Siebten Buch gesehen; dort tritt der Athenische Fremde ganz bewusst und explizit in direkte Konkurrenz zu den Dichtern, indem er die Nomoi selbst als Schullektüre in der neuen Kolonie empfiehlt (Ⅶ 811c6–812a1 und Ⅶ 817b1– d8); allerdings wurde das Selbstverständnis des Atheners als Dichter für die Interpretation der Vorworte bisher kaum fruchtbar gemacht. Zum wesentlichen Unterschied der schriftstellerischen Tätigkeit von Dichter und Philosoph s. Büttner 2004, 62f.

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Athener kurz darauf, wenn er sich in der Manier eines πρῶτος εὑρετής (prótos heuretés) der Erfindung eines neuen literarischen Genres rühmt (Ⅳ 722c6–e7). 26 Dieses Selbstverständnis hat seinen Grund darin, wie der Athenische Fremde erst an späteren Stellen mit der größten Eindeutigkeit festhält, dass ein Gesetzgeber seiner Prägung dieselbe Funktion in der Gesellschaft übernehmen wie die Dichter: Sie erziehen die Bevölkerung (Ⅸ 857e3–5). Folglich kommt auch ihm die Aufgabe zu, den Bürgern den richtigen Rat über das Schöne, Gute und Gerechte zu erteilen (Ⅸ 858d6–9); eine Aufgabe, die er den Gesprächspartnern kurz darauf noch einmal prägnant vor Augen führt (Ⅸ 862d1–e1): ὅπως ὅτι τις ἂν ἀδικήσῃ μέγα ἢ σμικρόν, ὁ νόμος αὐτὸν διδάξει καὶ ἀναγκάσει τὸ παράπαν εἰς αὖϑις τὸ τοιοῦτον ἢ μηδέποτε ἑκόντα τολμῆσαι ποιεῖν ἢ διαφερόντως ἧττον πολύ, πρὸς τῇ τῆς βλάβης ἐκτίσει. ταῦτα εἴτε ἔργοις ἢ λόγοις, ἢ μεϑ᾽ ἡδονῶν ἢ λυπῶν, ἢ τιμῶν ἢ ἀτιμιῶν, καὶ χρημάτων ζημίας ἢ καὶ δώρων, ἢ καὶ τὸ παράπαν ᾧτινι τρόπῳ ποιήσει τις μισῆσαι μὲν τὴν ἀδικίαν, στέρξαι δὲ ἢ μὴ μισεῖν τὴν τοῦ δικαίου φύσιν, αὐτό ἐστιν τοῦτο ἔργον τῶν καλλίστων νόμων. Daß das Gesetz, mag nun einer ein großes oder ein kleines Unrecht begangen haben, den Täter belehrt und zwingt, künftig entweder überhaupt niemals wieder sich einer solchen Tat willentlich zu erdreisten oder zumindest beträchtlich weniger oft, und zwar zusätzlich zur Wiedergutmachung des Schadens. Ob dies nun jemand durch Taten oder Worte oder mit Hilfe von Lust und Schmerz oder von Ehren und Ehrenentzug oder durch Geldstrafen oder gar durch Geschenke oder auf welche Weise überhaupt auch immer es jemand erreicht, daß man die Ungerechtigkeit haßt und das wahrhaft Gerechte liebt oder wenigstens nicht haßt: genau dies ist jedenfalls die Aufgabe der schönsten Gesetze. Die Analyse der Generalansprache hat genau dieses breite Spektrum an Überzeugungsmitteln offenbart, mit deren Hilfe der Athener die Bürger für die Gesetze einzunehmen versucht. Das Ziel besteht darin, die Bürger in einen Zustand zu versetzen, in dem sie die Gesetze gerne befolgen. Die Methode zum Erreichen dieses Ziels ist die peithó, die dem Anschein nach in der Belehrung und Vermittlung von Einsichten besteht. Aufgrund des Selbstverständnisses als dichterischer Gesetzgeber entsteht jedoch ein durchaus problematisches Spannungsverhältnis zwischen peithó und bía. Nehmen wir ein Beispiel aus der Generalansprache zur Illustration: Der Athener prophezeit demjenigen, der der göttlichen Ordnung nicht zu folgen bereit ist, dass er von Göttern verlassen nicht nur sich selbst, sondern auch die gesamte Gemeinschaft zugrunde richten wird (Ⅳ 716a2–b5). Es wird keine konkrete Strafe benannt, sondern eine unheilvolle Zukunft heraufbeschworen, sodass man nicht unbedingt von Zwang oder Gewalt spräche. Von einem Argument 26 Die Anzeichen dafür sind der schöne Rastplatz, die Mittagsstunde und die göttliche Fügung (Ⅳ 722c6–7), s. Schöpsdau 2003, 224. Der Athener bestätigt diesen Eindruck an späterer Stelle, wenn er noch einmal auf das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Dichter eingeht und dem bisherigen Gespräch den Charakter einer Dichtung zuweist (Ⅶ 811c6–812a3).

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kann man aber genauso wenig sprechen; stattdessen muss man es eine Einschüchterung oder Drohung nennen, die die Willensbildung des Zuhörers zweifelsohne in beträchtlicher Weise beeinflusst. Doch wie will man dieses Verfahren und seinen Effekt bewerten? Als Vermittlung einer Einsicht auf rational-argumentativer Grundlage würde man es wahrscheinlich nicht bezeichnen – aber eine irrationale Manipulation ist es ebenfalls nicht, weil zumindest die Grundlage dieser Prophezeiung durchaus rational und damit einem jeden mit Argumenten vermittelbar ist: Nach Meinung des Athenischen Fremden handelt es sich um ungerechtes Verhalten, das auf eine kranke Seele schließen lässt (Ⅸ 862c6–9) – ein Zustand, der dem Menschen schadet und damit um jeden Preis zu vermeiden ist. Genauso schwierig lässt sich die Frage beantworten, ob man angesichts einer solchen Beeinflussung wirklich freiwillig und aus sich selbst heraus handelt. Ich will in diesen diffizilen Fragen keine abschließende Wertung vornehmen, sondern mit diesem Beispiel dafür plädieren, die Unterscheidung zwischen rationalen und irrationalen Überzeugungsmitteln nicht zu strapazieren und damit den Blick auf das Anliegen des Atheners zu verstellen. Stattdessen sollte man anerkennen, dass er sich aus transparenten und nachvollziehbaren Gründen in der Wahl seiner Überzeugungsmittel nicht einschränken will und die unzureichende Trennschärfe zwischen peithó und bía für ihn nichts mit einer Unterscheidung in lautere und anrüchige Methoden zu tun hat, sondern einzig mit der Frage, ob es ihm gelingt, so viele Bürger wie möglich für die Gesetze zu gewinnen. Bevor ich im folgenden Kapitel einen neuen Ansatz zur Interpretation der Proömien vorstelle, möchte ich die zahlreichen Aspekte der Ansprache und Vorworte in einer Synthese zusammenführen. Das Instrument der Vorworte resultiert aus dem Ziel der Gesetzgebung: Der Athener möchte, dass gewöhnliche Bürger ein tugendhaftes Leben führen; die Voraussetzung dafür ist, dass sie ihre Seele als wichtigstes Gut anerkennen, sie auf die richtige Weise wertschätzen und dadurch die Grundlage für eine Angleichung an Gott schaffen. Dieser Anspruch ist das spezifische Charakteristikum der Gesetzgebung, das auch durch die komplexe Komposition von Ansprache und Exkurs verdeutlicht wird. Ich möchte daher an dieser Stelle kurz auf die besondere Struktur der zweigeteilten Ansprache und des Exkurses eingehen. Am Ende des ersten Teils der Ansprache hatte der Athener eine Rang- und Reihenfolge der zu ehrenden Mächte angegeben; in dieser Reihe wurde zwar das Göttliche neu besetzt – in Magnesia stehen nicht die Polis-Götter, sondern die göttliche Vernunft an erster Stelle –, die Rangfolge an sich entsprach aber der griechischen Tradition. Erst im zweiten Teil der Ansprache klärt der Athener über die Grundlage und Voraussetzung der Angleichung an Gott auf, die in der Wertschätzung der Seele und Vernachlässigung körperlicher und materieller Begierden liegt. Die Seele ins Zentrum der gesetzgeberischen Bemühungen zu stellen und den Menschen zur Tugend zu erziehen, ist die entscheidende Innovation, die die Gesetzgebung Magnesias von anderen unterscheidet. Auf diese Sonderstellung macht der Athenische Fremde aufmerksam, indem er die Ansprache genau an der Stelle unterbricht, wo seine Gesetzgebung den Boden der Tradition gänzlich verlässt und neue Wege geht. Mit der Unterbrechung markiert er diesen Einschnitt nicht nur, sondern erzeugt außerdem eine gespannte Erwartungshal-

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tung auf den Fortgang der Rede. 27 Erst nach dem Exkurs löst der Athener diese Spannung im zweiten Teil der Ansprache mit dem gleichermaßen überraschenden wie bedeutsamen Satz auf, dass die Seele nach den Göttern das göttlichste und ureigenste Besitzstück ist (Ⅴ 726a2–3). Erst durch diesen Teil wird der komplexe Zusammenhang von Seele, Angleichung an Gott und Tugend vollständig sichtbar. Die Funktion der Vorworte besteht darin, die Bürger zum Gesetzesgehorsam zu motivieren. In der Generalansprache – dem ersten und paradigmatischen Vorwort der Gesetzgebung – kommen zu diesem Zweck sehr unterschiedliche Mittel zum Einsatz (von denen auch die Volksreligion eines ist). Diese Vielfalt ist zum einen auf den Anspruch der Erziehung zur Tugend und die damit einhergehende Legitimation dichterischer Mittel und zum anderen auf die Adressaten zurückzuführen. Der Athenische Fremde spricht die gesamte Bevölkerung an und hat es dementsprechend mit einem sehr heterogenen Publikum zu tun, das zum Großteil aus philosophisch nicht gebildeten Bürgern besteht. Angesichts dieser Adressatenvielfalt muss der Athenische Fremde unterschiedliche Methoden verwenden, um so viele Zuhörer wie möglich zu erreichen; eine Beschränkung auf komplexe Argumente würde einen beträchtlichen Anteil des Zielpublikums ausschließen und wäre daher nicht sinnvoll. 28 Über die Funktion der Motivation hinaus kommt der Generalansprache eine übergeordnete Bedeutung zu, weil in ihr das kulturell-moralische Fundament der Kolonie gelegt wird. Sie stellt das normative Zentrum der gesamten Gesetzgebung dar, an dem sich alle Einzelgesetze orientieren. Folglich bedarf man eines Zugangs, der ein differenziertes Verständnis sowohl der vielfältigen Methoden in den Vorworten, als auch deren Verhältnis zur Generalansprache ermöglicht. Im Anschluss an Föllinger (2016, 2018) und Föllinger/Korn (2016) möchte ich die Neue Institutionenökonomik als geeigneten Zugang für eine solche Interpretation fruchtbar machen.

27 Aller Wahrscheinlichkeit nach gilt diese Erwartungshaltung nur für den Leser der Nomoi, da eine tatsächliche Unterbrechung der Ansprache an die Siedler schwer vorstellbar ist. Diese Einschränkung ändert aber nichts an der Signalwirkung des Einschnitts. 28 Diesen Aspekt hat Föllinger (2016, 120f.) betont; ausgehend von dieser Erkenntnis hat Föllinger (2018) einzelne Vorworte unter dem Gesichtspunkt interpretiert, dass der Athener mit den Vorworten den divergierenden Zuhörern gerecht zu werden versucht, indem er bestimmte Menschentypen und entsprechende Charakterzüge annimmt, von denen er die im jeweiligen Vorwort zum Einsatz kommenden Überzeugungsmittel abhängig macht.

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V. Die Neue Institutionenökonomik Zu Beginn dieses neuen Abschnitts möchte ich nach den vielen Detailbeobachtungen der vorherigen Kapitel in groben Zügen das Szenario der Nomoi skizzieren. Durch dieses Vorgehen wird sich eine gewisse Redundanz ergeben, aber der Blick aufs Ganze ist sehr hilfreich, um vor diesem Hintergrund die Neue Institutionenökonomik (NIÖ) vorzustellen und ihre Anwendbarkeit für die Nomoi zu plausibilisieren. 1 Der Athenische Fremde will eine Gesetzgebung etablieren, durch deren Anwendung und Befolgung die Bürger seiner Überzeugung nach ein Glück erlangen werden, das ihnen andernfalls vorenthalten bliebe. Dafür sieht die Gesetzgebung allerdings zahlreiche Einschränkungen und/oder Verbote üblicher Verhaltensweisen vor, sodass der Athenische Fremde Mittel und Wege ersinnen muss, um die Bürger vom tatsächlichen Nutzen der Gesetze und Vorteil ihrer Befolgung zu überzeugen. Am effektivsten wäre eine direkte Beeinflussung der Lust- und Schmerzgefühle, weil sich Menschen in ihrem Handeln hauptsächlich danach richteten. 2 Genau dort setzt der Athener auch an, indem er unter Erziehung die richtige Bildung der Lust- und Schmerzgefühle versteht, „so daß man gleich von Anfang an bis zum Ende haßt, was man hassen, und liebt, was man lieben muß“. 3 Doch zum einen wird diese Erziehung erst den kommenden Generationen der Bevölkerung zuteil, zum anderen kann man nicht ausschließen, dass selbst Menschen mit hervorragender Erziehung eines Tages nicht doch ein Verbrechen begehen. 4 Der Athenische Fremde beschreitet in den Nomoi daher verschiedene Pfade, um die Ziele seiner Gesetzgebung zu erreichen. Im Rahmen meiner Überlegungen spielen dabei folgende Aspekte die entscheidende Rolle: Zum einen fußt die Gesetzgebung als ganze auf einer umfassenden Werteordnung, die der Athenische Fremde in der Generalansprache entfaltet und die jedem Bürger als geistiges Panorama vor Augen stehen soll. Zum anderen entwickelt der Athenische Fremde ein höchst differenziertes Regelwerk, das die Handlungen der Bürger bis in den privaten Bereich hinein regulieren soll. Dieses Regelwerk basiert auf dem Zusammenspiel von Regel und Sanktion und bietet dem Gesetzgeber zahlreiche Möglichkeiten; so kann er entweder bestimmte Verhaltensweisen von vornherein zu unterbinden suchen oder aber unerwünschte Handlungsalternativen durch Androhung von Sanktionen so unattraktiv gestalten, dass (mehr oder we1 Grundlegend für die Anwendung und den Wert der NIÖ für die Interpretation der Nomoi sind Föllinger (2016), Föllinger/Korn (2016) und Föllinger (2018). 2 Dieser Umstand wird schon ganz zu Beginn der Nomoi festgehalten (Ⅰ 636d5–e3, zitiert auf S. 20) und ausführlich in Ⅴ 732d8–734e2 diskutiert (vgl. auch Ⅱ 663a9–b6). 3 ὥστε μισεῖν μὲν ἃ χρὴ μισεῖν εὐϑὺς ἐξ ἀρχῆς μέχρι τέλους, στέργειν δὲ ἃ χρὴ στέργειν […], Ⅱ 653b7–c2. 4 Wie vom Athener an mehreren Stellen bei besonders schweren Verbrechen mit gewisser Resignation festgehalten wird, s. Ⅸ 872c7–d7 und Ⅸ 880d8–e3; vgl. auch Ⅸ 854e1–6.

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Die Neue Institutionenökonomik

niger) freiwillig eine andere vorgezogen wird. Die Sanktion ist das konventionelle Mittel, um die Bürger zum Einhalten der Gesetze zu bewegen – der Athenische Fremde hingegen stuft es als ein Element der Gewalt ein, das nach Möglichkeit nur die ultima ratio sein soll (s. S. 67 mit Anm. 2). Das Gesetz solle nicht wie ein despotischer Tyrann über die Bürger herrschen, sondern wie liebende Eltern über ihre Kinder (Ⅸ 859a1–6, s. S. 96f.). In erster Linie müsse das Gesetz daher versuchen, die Bürger von der Sinnhaftigkeit des Geforderten zu überzeugen und ihnen zur Einsicht zu verhelfen, dass sie sich mit bestimmten Verhaltensweisen eher schaden als sich besser zu stellen. Im letzten Kapitel haben wir gesehen, dass diesem Ziel in besonderer Weise die Proömien dienen; sie sollen dafür sorgen, dass die Bürger die Gesetze freiwillig befolgen, die in den Vorworten dargelegten Überlegungen verinnerlichen und der Gesetze eines Tages nicht mehr bedürfen. Wie verhält sich nun zu diesem Szenario die Neue Institutionenökonomik? Die NIÖ versucht menschliches Verhalten unter dem Einfluss von Institutionen zu analysieren und vorherzusagen; unter einer Institution wird das Zusammenspiel von Regel und Sanktion verstanden. 5 Dabei legt sie das Verhaltensmodell des homo oeconomicus zugrunde (mit bestimmten Modifizierungen), 6 in dem ähnlich wie in den Nomoi zugrunde gelegt wird, dass Menschen vor allem daran interessiert sind, ihren persönlichen Nutzen zu maximieren. Der Begriff des Nutzens ist dabei genauso unbestimmt und weit gefasst wie der Lustbegriff in den Nomoi: Es wird allgemein dasjenige darunter verstanden und subsumiert, was in den Augen eines Individuums für es selbst lust- bzw. nutzenmaximierend ist. 7 Für die ökonomische Verhaltensanalyse ist entscheidend, dass bei einer Verhaltensänderung nicht die individuellen Präferenzen verantwortlich gemacht werden, die zu der persönlichen Entscheidung führen, sondern die Restriktionen der Situation. 8 Wenn sich also ein Mensch an einer Eisdiele zehnmal nacheinander für ein Vanille-Eis entschieden hat, beim elften Mal aber Erdbeer-Eis vorzieht, dann wird der Ökonom (hauptsächlich) aus Gründen der besseren Analyse-Ergebnisse nicht annehmen, dass jener Mensch auf einmal kein Vanille-Eis mehr mag, sondern die Entscheidung auf Restriktionen der Situation zurückführen. 9 Die einfachste Lösung wäre etwa, dass an diesem Tag gar kein Vanille-Eis zur Auswahl stand; eine andere wäre, dass die an diesem Tag besonders hohe 5 Für den Begriff der Regel gibt es keine übereinstimmend als gültig anerkannte Definition; ich richte mich in der vorliegenden Arbeit nach den Überlegungen von North (1990, 3f.), Ostrom (1986, 5f.) und Voigt (2009, 26–28). 6 Für eine kompakte Einführung in die Annahmen dieses Modell s. Erlei u. a. (2016, 2-6); ausführlich Kirchgässner (2013). 7 Für eine ausführliche Diskussion des Nutzen-Begriffs der Ökonomie vor dem Hintergrund des platonischen Ansatzes s. Föllinger (2016, 49–62). Zum Vergleich zwischen dem Menschenbild der Nomoi und dem Verhaltensmodell des homo oeconomicus s. Müller (2019) und Bösherz (2019). 8 Erlei u. a. (2016, 4). 9 Dazu Erlei u. a. (2016, 4): „Eine Wissenschaft, deren Ziel es ist, die Wirkung (der Veränderung) relevanter Restriktionen und damit Kosten auf menschliches Verhalten zu analysieren, sollte – wenn nicht gute Gründe dagegen sprechen – davon ausgehen, dass Präferenzänderungen nicht der Auslöser für Verhaltensänderungen sind.“

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Institutionelle Ebenen

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Temperatur den Wunsch nach einem Fruchteis haben entstehen lassen. Neben diesen beiden ließen sich zahllose weitere Möglichkeiten ersinnen, womit das Problem deutlich wird: Weil man aus der Beobachter-Perspektive niemals wissen kann, welche subjektive Überlegung zu einer Entscheidung geführt hat, nimmt der Ökonom die objektive(re)n Restriktionen einer Situation zur Grundlage der Analyse. Denn unabhängig von einer Entscheidung gegen eine Gewohnheit oder Regel kann man durchaus annehmen, dass sich – wie in diesem Fall – an der grundsätzlichen Bevorzugung von Vanille-Eis gegenüber Erdbeer-Eis nichts geändert hat. Aufgrund der verfügbaren Daten wird eine Prognose für den nächsten Besuch an der Eisdiele wieder das Vanille-Eis als die wahrscheinliche Wahl vorhersagen. Bei alledem ist zu berücksichtigen, dass die Ökonomie nicht am Verhalten eines konkreten Menschen, sondern an Trends und Wahrscheinlichkeiten interessiert ist. Es geht nicht um eine verlässliche oder geradezu garantierte Verhaltensvorhersage, sondern um eine Einschätzung dessen, wie sich ein durchschnittlicher Mensch unter den gegebenen Umständen und vor dem Hintergrund der verfügbaren Daten entscheiden wird. 10 Auf der Grundlage dieses Verhaltensmodells versucht die NIÖ zu erklären, inwiefern Regeln und Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Regeln den Handlungsraum eines Individuums beeinflussen und bestimmte Entscheidungen dadurch attraktiver und andere weniger attraktiv machen. Regeln werden dabei ebenfalls so allgemein wie möglich als diejenigen Vorschriften verstanden, deren Kenntnis bei allen Mitgliedern der Gesellschaft vorausgesetzt sind und die dabei helfen, das alltägliche Miteinander zu strukturieren. Eine in der Ökonomie häufig gestellte Frage ist z. B., wann Individuen bereit sind, sich auf größere Handelsgeschäfte mit einem kaum bekannten Geschäftspartner einzulassen; die NIÖ kann sehr gut erklären, dass die Bereitschaft unter folgenden Voraussetzungen am größten ist: 1) Wenn es präzise Regeln zur Durchführung des Geschäfts und Sanktionen für den Fall gibt, dass sich einer von beiden nicht an die Abmachungen hält; 2) wenn die Beteiligten diese Regeln und Sanktionen kennen und 3) wenn sicher gestellt ist, dass die Sanktionen auch durchgesetzt werden. Bevor wir uns im Detail mit den begrifflichen Feinheiten und Differenzierungen von Institutionen befassen, wollen wir uns noch mit einem übergeordneten Aspekt der Institutionenanalyse befassen.

V.1

Institutionelle Ebenen

Menschliche Interaktionen finden in zahlreichen Bereichen des alltäglichen Lebens statt. Je spezifischer der Bereich ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Institutionen in diesem Bereich beeinflusst sind von denen des übergeordneten Bereichs. Folgerichtig wurde darauf aufmerksam gemacht, 11 dass sich die ökonomische Analyse von Institutionen nicht 10 Vgl. Kirchgässner (2013, 19f.) und Erlei u. a. (2016, 5). 11 Mit Nachdruck hat Ostrom (1986, 7f.) die Berücksichtigung verschiedener Ebenen bei der Institutionenanalyse gefordert.

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Die Neue Institutionenökonomik

allein auf die Wirkungsweise einer isolierten Regel konzentrieren dürfe, sondern berücksichtigen müsse, welche verschiedenen Ebenen es gibt, und wie das Zusammenspiel einer Regel auf verschiedenen Ebenen erst den Effekt bestimmt – also die Strukturierung einer Situation und damit den Handlungsraum eines Individuums. Wie man sich dieses Zusammenspiel von Institutionen auf verschiedenen Ebenen vorstellen soll, erklärt eine Übersicht von Erlei u. a. (2016, 22). Dort führt die Unterscheidung verschiedener Institutionen auch zu der Frage nach ihren Beziehungen untereinander, die sehr gut sichtbar werden, wenn man die verschiedenen Ebenen systematisiert und abstrahiert – ein Nebeneffekt ist die dabei ebenfalls zum Vorschein kommende Hierarchie der Ebenen (Erlei u. a. 2016, 21): Die dabei angewandte Systematik ist eine hierarchische Gliederung in dem Sinne, dass die Institutionen der jeweils äußeren Ebene die nächste, weiter innen liegende Ebene von Institutionen dominieren. Das bedeutet, dass die äußere Ebene die innere immer maßgeblich beeinflusst, die innere die äußere hingegen nicht in gleichem Maße. Damit werden Interdependenzen zwischen den Ebenen nicht ausgeschlossen, es wird aber ein Schwerpunkt der Wirkungsrichtung von außen nach innen unterstellt. Als äußerste Ebene werden Naturgesetze und das natürliche Ressourcenmaterial gesetzt; beides entzieht sich zwar der Regulierung durch Menschen, trotzdem beeinflusst es deren Handlungsraum. 12 Die zweite Ebene umfasst die Kultur; dazu heißt es (Erlei u. a. 2016, 23): Hierunter verstehen wir insbesondere die Vielzahl informeller Verhaltensregeln sowie die im jeweils betrachteten Kulturraum gesprochenen Sprachen, die vorherrschenden Religionen und die gemeinsame Geschichte. Alle diese (internen) Institutionen beeinflussen das Handeln der Individuen und unterscheiden sich zwischen den Kulturräumen mitunter erheblich. Diese Stelle verdient in dreierlei Hinsicht besondere Aufmerksamkeit: Grundlegend ist, dass die ökonomische Theorie und die antike Praxis der Religion eine elementare Bedeutung im Alltag zuschreiben, weil sie das Handeln der Menschen durch eine Beeinflussung ihrer Handlungsräume strukturiert. Eine theoretische Behandlung dieses Sachverhalts gibt es aus der Antike zwar nicht, aber die literarischen und archäologischen Zeugnisse lassen keinen Zweifel an der Tragweite und Omnipräsenz der Religion im Alltag aufkommen. 13 Bedeutsam ist im Hinblick auf die Nomoi als literarisches Werk jedoch, dass es sich 12 Dieser Tatsache ist sich der Athenische Fremde wohl bewusst: Als er sich bei Kleinias über die geographische Lage der geplanten Kolonie erkundigt, beklagt er die relative Nähe zum Meer, weil der dadurch verstärkte Handel schlechten Einfluss auf die Seelen der Bürger nehmen werde (Ⅳ 704a1–705b6). 13 Folgende Zitate bringen diese Omnipräsenz gut zum Ausdruck: „Die religiösen Handlungen begleiteten das Leben des Bürgers auf eine viel einschneidendere Weise und bei viel zahlreicheren Ge-

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Institutionelle Ebenen

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nicht lediglich um ein weiteres Zeugnis handelt, das die besondere Stellung der Religion deutlich werden lässt, sondern um die Konzeption eines Autors, der aufgrund seiner zum Teil substantiellen Kritik an der gewöhnlichen religiösen Praxis der damaligen Zeit seine innere Distanz unter Beweis stellt, der Religion aber nichtsdestoweniger eine bedeutende Rolle in seiner Gesetzgebung zuweist. Dem Athener geht es zwar darum, dass die Bürger die Seele als ihr wichtigstes Gut anerkennen und sich Gott durch besonnenes Verhalten angleichen, aber um diese Lehre zu vermitteln, macht er sich die religiösen Traditionen und Konventionen zunutze. Mit der Generalansprache legt der Athener also das terminologisch religiös geprägte Fundament der Kolonie. Aufgrund der hierarchischen Struktur der institutionellen Ebenen, wie sie im obigen Zitat von Erlei u. a. deutlich wird, ist die Bedeutung der Generalansprache und des von ihr ausgehenden Einflusses auf die kulturelle Ebene nicht zu überschätzen. Die dominante äußere Ebene der Kultur prägt alle Einzelregelungen auf untergeordneter institutioneller Ebene, weil die Einzelregelungen nicht losgelöst existieren können, sondern in ihrer Geltung auf die übergeordnete Ebene bezogen sind. 14 In Anwendung auf die Gesetzgebung heißt das ganz allgemein, dass der kulturelle Rahmen die Ausrichtung der Gesetze vorgibt. Die Hierarchie der Ebenen hat für den Gesetzgeber den Vorteil, dass er bei der Regulierung einer bestimmten Handlung den übergeordneten Zusammenhang vor Augen führen kann, indem er mit Stichwörtern oder Anspielungen auf den kulturellen Rahmen verweist (der hauptsächlich von der Generalansprache konstituiert wird), wodurch die einzelnen Gesetze eine zusätzliche normative Kraft erfahren. Es heißt aber auch, dass die Einzelgesetze die in der Ansprache notwendigerweise allgemein formulierten Werte durch spezifische Verhaltensvorschriften illustrieren und den kulturellen Rahmen damit ihrerseits konkretisieren. In der Einzelinterpretation werden wir diese Prozesse an ausgewählten Beispielen sichtbar machen. Der zweite Aspekt betrifft die Charakterisierung der Verhaltensregeln als „informell“, womit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass die in dieser Ebene vollzogenen Handlungen keinem Regelwerk (wie etwa Spielregeln) oder Gesetzen unterworfen werden, sondern von natürlichen Sozialisierungsprozessen innerhalb der jeweiligen Kultur und Erziehung bestimmt sind. Dazu können einerseits ganz triviale Phänomene zählen wie das Einander-Grüßen oder die als natürlich empfundene Distanz gegenüber einem Fremden, andererseits auch komplexe kulturell verankerte Konzepte wie Scham oder Ehrgeiz. Alle Verhaltensweisen, die mit solchen informellen Regeln zusammenhängen, haben Folgendes gemein: Sie werden erstens nicht planmäßig, sondern allein durch das Aufwachsen in einer bestimmten Umgebung anerzogen, und werden zweitens nicht vom Gesetz geahndet, sondern unwillkürlich durch Mitglieder der Gesellschaft sanktioniert – abhängig legenheiten, als wir uns vorstellen.“ (Nilsson 1950, 12, vgl. auch 15 zur lokalen Omnipräsenz); „In classical Greece everything – politics, ethics, science, painting, music, dance, drama, agriculture – had a religious character.“ (Morgan 1992, 228); „Kein Lebensbereich entbehrte eines religiösen Aspekts.“ (Bremmer 1996, 3). 14 Vgl. Krämer (1959, 196f.) in Bezug auf die Bestimmung von Gott als dem Maß aller Dinge in der Ansprache: „[…] da die Norm des göttlichen μέτρον, dem sich der Mensch in allen Stücken angleichen soll, an der Spitze des ganzen Prooimion steht, ist es klar, daß sie in alle einzelnen Bestimmungen hineinwirkt.“ Vgl. auch Sandvoss (1971, 42f.).

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davon, wie sehr sich ein Mitglied der Gesellschaft über das Verhalten eines anderen empört. Folgerichtig wird die kulturelle Entwicklung auch als „langfristiger evolutionärer Entwicklungsprozess verstanden“. 15 In den Nomoi heißen diese informellen Regeln „ungeschriebene Satzungen“ 16 und sind für das Gelingen der Gesetzgebung von enormer Bedeutung. 17 In den Nomoi nimmt die Betrachtung dieser Satzungen bei der frühkindlichen Erziehung ihren Ausgangspunkt: Im privaten Bereich und in den Familien geschähen zwar oberflächlich besehen viele unbedeutende Dinge (Ⅶ 788a5–6), die allerdings den Empfehlungen des Gesetzgebers oftmals zuwiderliefen und das Ziel einer einheitlichen Gesinnung der Bürger konterkarierten (Ⅶ 788a5–b3). Folglich steht der Gesetzgeber vor folgendem Problem (Ⅶ 788b4–c2): καὶ γὰρ διὰ σμικρότητα αὐτῶν καὶ πυκνότητα ἐπιζήμια τιϑέντα ποιεῖν νόμους ἀπρεπὲς ἅμα καὶ ἄσχημον, διαφϑείρει δὲ καὶ τοὺς γραφῇ τεϑέντας νόμους, ἐν τοῖς σμικροῖς καὶ πυκνοῖς ἐϑισϑέντων τῶν ἀνϑρώπων παρανομεῖν. ὥστε ἀπορία μὲν περὶ αὐτὰ νομοϑετεῖν, σιγᾶν δὲ ἀδύνατον. Denn einerseits ist es wegen ihrer Geringfügigkeit und Häufigkeit unangemessen und unwürdig zugleich, sie durch Erlaß von Gesetzen strafbar zu machen, andererseits aber untergraben sie sogar die schriftlich abgefaßten Gesetze, wenn sich die Menschen in den unbedeutenden und häufigen Fällen daran gewöhnen, die Gesetze zu übertreten. Daher ist es bedenklich, darüber Gesetze aufzustellen, davon zu schweigen aber unmöglich. Die Gesprächspartner sind sich darin einig, dass die Hoffnung auf ein festes und dauerhaftes Gemeinwesen „ohne eine richtige Regelung der persönlichen Lebensführung“ vergebens sei 18 und stimmen folglich darüber ein, in dem Bereich der frühkindlichen Erziehung wenigstens Empfehlungen 19 zu geben, die die Bürger jedoch wie Gesetze befolgen sollen (Ⅶ 790b4–6). Kurze Zeit später merken die Gesprächspartner allerdings, dass sich ihre Empfehlungen nicht nur auf diesen Bereich erstrecken, sondern weit darüber hinaus gehen und im Grunde nichts anderes sind als jene „ungeschriebenen Satzungen“, die identisch sind mit den „von den Vätern ererbten Gesetzen“. 20 Um ihre Bedeutung zu unterstreichen, werden 15 Erlei u. a. 2016, 23. Bekannt ist in diesem Zusammenhang die Wendung, dass Regeln des informellen Bereichs für gewöhnlich das „Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs“ darstellen. Zur Geschichte dieser Formulierung s. Voigt (2009, 28f.). 16 ἄγραφα νόμιμα, Ⅶ 793a10. 17 Für eine ausführlichere Behandlung dieser Thematik s. Föllinger (2016, 95–99). 18 ὅτι χωρὶς τῆς ἰδίας διοικήσεως ἐν ταῖς πόλεσιν ὀρθῆς γιγνομένης μάτην ἂν τὰ κοινά τις οἴοιτο ἕξειν τινὰ βεβαιότητα θέσεως νόμων, Ⅶ 790b2–4. 19 Im Griechischen steht ῥηϑεῖσιν (Ⅶ 790b5, wörtlich „das Gesagte“), das durch den Kontext aber eine eindeutig normative Färbung hat (Schöpsdau übersetzt mit „Vorschläge“, Griffith stärker mit „rules“). 20 πατρίους νόμους, Ⅶ 793a10–b2.

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Interne und externe Institutionen

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sie vom Athener metaphorisch die „festen Bänder einer jeden Staatsverfassung“ genannt 21 und mit den „Stützbalken“ der Zimmerleute verglichen. 22 Sie bilden die Mitte zwischen den bereits aufgestellten und künftigen Gesetzen (Ⅶ 793b6–7) und bedürfen daher der größten Aufmerksamkeit des Gesetzgebers – folglich solle man sich nicht wundern, „wenn zahlreiche und dabei scheinbar unbedeutende Bräuche und Gewohnheiten“ das Gesetzeswerk anschwellen ließen (Ⅶ 793d3–5). Die Gesetzgebung Magnesias zeichnet sich also dadurch aus, dass der Athenische Fremde ganz bewusst auch jene ungeschriebenen Gesetze so prägen und mitgestalten will, dass sie die Ziele der Gesetzgebung zu verwirklichen helfen. Der kulturelle Bereich, der also für gewöhnlich als nicht gesteuerter Entwicklungsprozess verstanden wird, erfährt in den Nomoi ganz unzweifelhaft eine Formalisierung, insofern bestimmte Verhaltensweisen reguliert und sanktioniert werden, die normalerweise keiner Kontrolle unterliegen. Auch hier ist die Generalansprache das erste und eindrückliche Beispiel, indem sie konkrete Verhaltensweisen eines jeden Bürgers gegenüber höheren Mächten, untereinander und gegenüber sich selbst einfordert. Die Aufgabe, die der Athener dem Gesetzgeber damit auferlegt, besteht folglich sowohl darin, „evolutionäre Prozesse zu initiieren“, als auch „die Evolution bestimmter Regeln und damit Verhaltensweisen zu steuern“ (Föllinger 2016, 95). Für diese Steuerung stehen dem Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, die wir im Folgenden aus der Perspektive der NIÖ betrachten wollen.

V.2 Interne und externe Institutionen Die NIÖ verfügt über ein begriffliches Instrumentarium, mit dem man die verschiedenen Arten von Regeln und ihre Wirkungsweise gut vergleichen kann. Grundsätzlich besteht eine Institution aus Regel und Sanktion. Die Regel wiederum kann ein Gebot oder Verbot aussprechen. Grundsätzlich dienen Regeln dem Zweck, wiederkehrende Situationen zu strukturieren, indem sie Ordnung herzustellen versuchen (North 1990, 6): The major role of institutions in a society is to reduce uncertainty by establishing a stable (but not necessarily efficient) structure to human interaction. 23 Diese Struktur hat wiederum zwei Ziele: Für den Beobachter erhöhen sie die Genauigkeit einer Vorhersage, für den Akteur verringern sie die sogenannte strategische Unsicherheit (Voigt 2009, 25):

21 δεσμοὶ γὰρ οὗτοι πάσης εἰσὶν πολιτείας, Ⅶ 793b4. 22 ἐρείσματα, Ⅶ 793c2. Föllinger (2016, 99) hat gezeigt, dass auch in der Begrifflichkeit augenfällige Parallelen zwischen den Nomoi und der Beschreibung durch die NIÖ bestehen. 23 Vgl. Ostrom (1986, 5). Einen Überblick zu den verschiedenen Definitionsversuchen für die Begriffe Institution und Regel gibt Voigt (2009, 26f.).

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Strategische Unsicherheit liegt immer dann vor, wenn das Ergebnis einer Handlung nicht nur von der eigenen Handlung, sondern auch von der Handlung mindestens eines weiteren Akteurs abhängt […]. Eine mögliche Konsequenz strategischer Unsicherheit ist, dass bestimmte Tauschhandlungen einfach nicht stattfinden. Noch allgemeiner lässt sich strategische Unsicherheit als der Zustand bezeichnen, in dem Akteure keinen Erwartungsnutzen kalkulieren können, weil sie die Konsequenzen der eigenen Handlungen angesichts der Handlungen anderer Beteiligter nicht einschätzen können (Voigt 2009, 23). Institutionen sorgen dafür, dass alle Beteiligten einer Situation die Folgen der unterschiedlichen Handlungen ungefähr einschätzen können – mit dem Ergebnis, dass eine geplante Interaktion ohne große Risiken stattfinden kann. Für die Analyse der Institutionen und einer genaueren Einschätzung ihres Einflusses hat Ostrom darauf hingewiesen, dass Institutionen nicht das Verhalten selbst, sondern nur die Struktur einer Situation betreffen, in der Handlungsalternativen zur Auswahl stehen (Ostrom 1986, 6): Instead of viewing rules as directly affecting behavior, I view rules as directly affecting the structure of a situation in which actions are selected. Rules rarely prescribe one and only one action or outcome. Diese Unterscheidung ist deswegen und insbesondere für unseren Kontext interessant, weil auch der Athenische Fremde die Möglichkeit einer direkten Beeinflussung unserer Präferenzen als kaum gegeben einschätzt. Es ist daher sinnvoller, über den Umweg der Restriktionen zu versuchen, das Verhalten der Bürger zu steuern. Je zahlreicher und zwingender die Restriktionen sind, desto leichter ist eine Vorhersage des Verhaltens möglich, ohne die individuellen Präferenzen berücksichtigen zu müssen (Zintl 1989, 61). Für eine differenzierte Analyse der Institutionen haben Kiwit/Voigt (1995) einen Vorschlag gemacht, der verschiedene Institutionstypen nach der Art ihrer Überwachung unterscheidet: Alle Institutionen, die nicht vom Staat überwacht und sanktioniert werden, sind demnach Institutionen interner Art; alle vom Staat überwachten heißen externe Institutionen. Diese grobe Unterscheidung wird je nach Art der Überwachung noch feiner differenziert; die Tabelle sei hier der Übersichtlichkeit halber vollständig wiedergegeben: Tabelle 1: Institutionstypen nach Kiwit/Voigt (1995, 124) und Voigt (2009, 31) Regel

Art der Überwachung

Institutionentyp

Beispiel

1. Konvention

Selbstüberwachung

Intern vom Typ 1

Grammatikalische Regeln der Sprache

2. Ethische Regel

Imperative Selbstbindung

Intern vom Typ 2

Dekalog, kategorischer Imperativ

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Interne und externe Institutionen Regel

Art der Überwachung

Institutionentyp

Beispiel

3. Sitte

Spontane Überwachung durch andere Akteure

Intern vom Typ 3

Gesellschaftliche Umgangsformen

4. Formelle private Regel

Geplante Überwachung durch andere Akteure

Intern vom Typ 4

Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft

5. Regel positiven Rechts

Organisierte staatliche Überwachung

Extern

Privat- und Strafrecht

Die erste Form der Überwachung ist eine Regel, die sich auch ohne Androhung einer Sanktion von alleine überwacht, weil sich ein Regelbrecher bei einem Regelbruch schlechter stellen würde. Das prominenteste Beispiel ist der Straßenverkehr: Wenn sich jemand nicht an die Straßenverkehrsregeln eines Landes hält und auf der falschen Seite fahren wollte, setzt er sich selbst einem Risiko aus, das er leicht vermeiden könnte, indem er sich an die Regeln hält. Die zweite Art ist der Selbstüberwachung ähnlich, weil auch hier die Akteure gewissermaßen sich selbst regulieren; sie richten sich in ihrer Entscheidung nicht nach einer etwaigen Sanktion oder der Kontrolle anderer, sondern folgen ihren eigenen Überzeugungen z. B. philosophischer oder religiöser Natur. Mancher Philosoph dürfte erstaunt oder gar empört sein, dass der kategorische Imperativ Kants auf derselben Stufe wie der Dekalog erscheint. Unbestreitbar besteht ein eklatanter Unterschied, ob ich lediglich dem Gebot einer wie auch immer gearteten Autorität Folge leiste oder in einem Prozess der selbstständigen Reflexion meine Handlungen daraufhin überprüfe, ob sie einem moralphilosophischen Prinzip entsprechen und entsprechende Konsequenzen zeitigen. Unabhängig von diesem Einwand besteht die Gemeinsamkeit aber darin, dass eine – wie auch immer verursachte – Überzeugung auch dann zur Befolgung einer Regel führt, „wenn es gegen das eng definierte Eigeninteresse verstößt“. 24 Ein lebensnahes Szenario ist der einsame Strandbesucher, der sich einer Getränkedose entledigen möchte: Eine Sanktionierung durch Mitmenschen oder Gesetz ist nicht zu befürchten, sodass er sich am leichtesten an Ort und Stelle der Dose entledigen könnte. Allein die Überzeugung, dass die Verunreinigung der Natur verwerflich ist, führt in diesem Fall zur Befolgung der (ungeschriebenen) Regel, dass Überreste wohl sortiert der Abfallentsorgung zugeführt werden. Blickt man allein auf das Ergebnis der Entscheidung, spielt es keine Rolle, aufgrund welcher Überzeugung sie getroffen wurde – sei es, weil man überzeugt ist, dass Gott es so will und/oder man andernfalls bestraft würde, sei es, dass man sich von seinen Mitmenschen Respekt für die Umwelt wünscht und selbst diesem Wunsch entsprechend handelt. Ent-

24 Voigt 2009, 28.

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scheidend ist, dass die Überzeugung eine „imperative Selbstbindung“ aufweist 25 und den Willen hervorruft, eine bestimmte Handlung zu vollziehen. Die weiteren Regeln sind dadurch gekennzeichnet, „dass sie ein explizites Sanktionshandeln anderer Akteure benötigen“. 26 Bei Regeln der dritten und vierten Art sind die Akteure Individuen oder Kollektive der Gemeinschaft, die spontan bzw. organisiert die Einhaltung der Regeln überwachen. Nur bei Regeln der fünften Art erfolgt die Überwachung und Sanktionierung durch den Staat. Aufgrund der vorherigen Ausführungen zum Szenario der Nomoi und den Zielen der Gesetzgebung kann man leicht sehen, dass die internen Institutionen für die Analyse der Nomoi einen besonderen Stellenwert haben. 27 Von den internen Institutionen wiederum hat die ethische Regel aus drei Gründen einen herausgehobenen Stellenwert: Erstens ist es das erklärte Ziel des Atheners, dass die Bürger freiwillig das Richtige tun und nicht dazu gezwungen werden müssen. Eine ethische Regel trägt am wahrscheinlichsten dazu bei, dass die Bürger aus eigener Überzeugung das Gesetz befolgen und nicht bloß, weil sie Angst vor der Strafe haben. Zweitens haben wir bereits gesehen, dass der Athener auch und gerade Einfluss auf informelle Regeln nehmen will – und gerade im privaten und kulturellen Bereich spielt die ethische Regel eine große Rolle. Der dritte Grund hängt mit der Art der Überzeugung zusammen: Es mag zwar, wie eben ausgeführt, im Ergebnis keinen Unterschied machen, aufgrund welcher Art von Überzeugung ich mich für eine bestimmte Handlung entscheide – aber die Art der Überzeugung hat durchaus mit der Frage zu tun, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich mich im Fall der Fälle für das Richtige, wenn auch in diesem Moment Unangenehmere entscheide. Föllinger betont daher das „kognitive Element“, das im Hinblick auf die ethische Regel in den Nomoi besonders zu beachten sei, weil die Selbstbindung „möglichst auf der Grundlage der Erkenntnis dessen, was gut und richtig ist, erfolgen sollte“. 28 Dieses kognitive Element basiert auf der Idee, dass „Überzeugungen, die auf einer autonomen und freien Entscheidung beruhen“, eine weitaus stabilere Institution zur Folge haben als andere Motivationen. 29 Der Athenische Fremde müsste demnach in besonderer Weise nicht nur um die Vermittlung des Wissens darüber bemüht sein, „warum bestimmte Handlungsweisen richtig sind“, 30 sondern auch für eine nachhaltige Internalisierung sorgen, damit die Bürger auf dieser für freiwilliges Handeln zentralen Grundlage ihre nachhaltigen Überzeugungen bilden können. Vor diesem Hintergrund will ich im Folgenden ausgewählte Vorworte aus der Perspektive der NIÖ untersuchen. Dabei wird zum einen die Hierarchie der institutionellen Ebenen im Fokus stehen; konkret werde ich analysieren, auf welche Weise die Vorworte auf die übergeordnete kulturelle Ebene Bezug nehmen. Meine These zum Verhältnis zwischen Generalansprache und Vorworten lässt sich im Hinblick auf die obigen Aus25 26 27 28 29 30

Ebd. Voigt 2009, 29. Ausführlich dazu das Kapitel „Institutionen in den Nomoi“ bei Föllinger (2016, 89–109). Föllinger 2016, 94f. Föllinger 2016, 102. Ebd.

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führungen wie folgt auf den Punkt bringen: Die Ansprache vermittelt die wichtigsten Grundlagen für gesetzeskonformes Verhalten, während die Vorworte diese Grundlagen in konkreten Situationen des alltäglichen Lebens illustrieren und den Bürgern eine Internalisierung dieses Wissens erleichtern sollen. Dabei – und das ist der zweite Aspekt der Analyse – spielen die jeweiligen Mittel eine zentrale Rolle, mit Hilfe derer der Athener eine Internalisierung bewirken und auf diese Weise nachhaltige Überzeugungen bei den Bürgern entstehen lassen will. Für die Analyse dieser Überzeugungsmittel habe ich bei der Generalansprache literarische, stilistische und philosophische Gesichtspunkte berücksichtigt; im Folgenden werde ich darüber hinaus auch das vorgestellte Instrumentarium der NIÖ verwenden. Aufgrund der Vielzahl der Vorworte werde ich mich auf einen bestimmten Bereich beschränken, der sich aus der bisherigen Untersuchung ergibt und sich in besonderer Weise anbietet. Im zweiten Teil der Generalansprache hat der Athenische Fremde deutlich gemacht, dass seine Vision nur dann verwirklicht werden kann, wenn die Bürger ihren materiellen Begierden Schranken auferlegen. Die griechische Sprache kennt für das Phänomen, dass Menschen immer mehr haben wollen, ein eigenes Wort: Pleonexia (πλεονεξία). 31 In den Nomoi spielt die Frage, wie man diesem Phänomen begegnen kann, eine eminente und für das Gelingen der Gesetzgebung entscheidende Rolle. In der Diskussion über eine für alle Bürger gerechte Landverteilung nennt der Athener den Verzicht auf Besitzstreben gar den „Grundpfeiler des Staates“ (Ⅴ 737a2–a7): εἰρήσϑω δή νυν ὅτι διὰ τοῦ μὴ φιλοχρηματεῖν μετὰ δίκης, ἄλλη δ᾽ οὐκ ἔστιν οὔτ᾽ εὐρεῖα οὔτε στενὴ τῆς τοιαύτης μηχανῆς διαφυγή: καὶ τοῦτο μὲν οἷον ἕρμα πόλεως ἡμῖν κείσϑω τὰ νῦν. Und so sei es denn gesagt, daß dies 32 nur durch Verzicht auf Geldgier, verbunden mit Gerechtigkeit, möglich ist; keinen andern Fluchtweg, weder einen breiten noch einen schmalen, gibt es als ein solches Mittel. Dies soll jetzt gleichsam als Grundpfeiler unseres Staates feststehen. Im Folgenden will ich die wichtigsten Maßnahmen kurz vorstellen, mit denen der Athener die Pleonexia zu bändigen versucht. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob er dem materiellen Streben längst nicht so kritisch gegenüber eingestellt ist wie Sokrates in der Politeia, der den Wächtern und Philosophen jeglichen materiellen Besitz untersagt. 33 Im 31 Zu Bedeutung und Bandbreite dieses Begriffs bei Platon s. ausführlich Vegetti (2004); mit besonderem Fokus auf die Politeia Schriefl (2013, 142–174) und auf die Nomoi Schriefl (2013, 220–237) und Föllinger (2016, 39–43). 32 Der Athenische Fremde bezieht sich hier auf die hypothetische Frage, mit welchen Schwierigkeiten ein Staatsmann konfrontiert wäre, wenn er in einem existierenden Staat die Besitzverhältnisse auf gerechte Weise anzugleichen suchte (Ⅴ 736c8–737a2); doch zum Glück sind die Gesprächspartner durch eine Koloniegründung dieser Schwierigkeiten enthoben (Ⅴ 736c5–8), und nur der Vollständigkeit halber bezieht er seine Äußerung zur Geldgier auch auf das fiktive Szenario. 33 Dazu ausführlich Schriefl (2013, 220–237) und Föllinger (2016, 71–79).

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Ersten Buch der Nomoi wird der Reichtum nämlich unter diejenigen menschlichen Güter gezählt, die zu einem glücklichen Leben notwendigerweise dazugehören. 34 Je häufiger sich der Athenische Fremde über den Reichtum äußert, desto klarer wird aber, dass er zwar den Begriff des Reichtums beibehält, ihn aber mit einer Bedeutung versieht, die mit den üblichen Assoziationen keine Übereinstimmung hat: In den Nomoi werden letztlich unter Reichtum lediglich die Mittel verstanden, mit denen alle notwendigen Bedürfnisse ohne Schwierigkeiten erfüllt werden können. 35 Der Athenische Fremde versucht demnach, ein neues Verständnis für das Konzept Reichtum einzuführen, das mit dem Programm seiner Gesetzgebung verträglich ist. Die entscheidende Grundlage dafür legen die Regelungen zum Landbesitz, Eigentum und zur Währung. Ausgangspunkt für diese Bestimmungen ist die Erkenntnis, dass das Fundament einer gerechten Gesellschaft die gleichmäßige Verteilung des Landes ist (Ⅴ 737a7–b9). Jeder Bürger erhält ein unveräußerliches Landlos, 36 das er als Gemeingut des gesamten Staats anzusehen hat (Ⅴ 740a2–4); dieses Landlos genießt als Teil der göttlichen Erde selbst göttlichen Status und muss daher mit größter Sorgfalt verwaltet werden. 37 Der Privatbesitz ist ebenfalls streng reglementiert und in vier Vermögensklassen unterteilt (Ⅴ 744a8–745b2): Die niedrigste Klasse entspricht dem Ertrag des Landloses und stellt die Armutsgrenze in Magnesia dar (kein Bürger darf weniger besitzen); die höchste Klasse beträgt den vierfachen Wert des Landloses (Ⅴ 754d6–755d2). 38 Der Besitz von Gold und Silber ist verboten; für den täglichen Zahlungsverkehr in Magnesia gibt es eine eigene Währung, die auswärts keinen Wert besitzt und bei Reisen in andere Teile Griechenlands oder Länder getauscht werden muss (Ⅴ 741e7–742c2).

34 Ⅰ 631b6–c5; allerdings handelt es sich um einen „nicht blinden, sondern scharf blickenden Reichtum“ (πλοῦτος οὐ τυφλὸς ἀλλ᾽ ὀξὺ βλέπων, Ⅰ 631c4–5); ausführlicher zur Stelle Schriefl 2013, 225–227. 35 S. Ⅲ 729a4–b1 und Ⅴ 742d2–743c4. Schriefl (2013, 11–14) konnte mit guten Argumenten und Verweisen auf aussagekräftige Textstellen zeigen, dass Reichtum bei Platon vor allem materiellen Wohlstand oder Überfluss bezeichnet; die Beispiele bei Dover (1974, 110–112) zeigen wiederum, dass Platons Auffassung dem allgemeinen Verständnis entsprach (die verbreitete Einschätzung z. B., dass Reichtum mit Hybris einhergeht, lässt vermuten, dass Reiche nicht gerade durch Bescheidenheit und Mäßigung aufgefallen sind). 36 Die genauen Modalitäten der Verteilung finden sich in Ⅴ 737e1–738b1 und Ⅴ 740b1–741e6; die Gleichheit der Landlose wird durch einen Abgleich von Qualität und Quantität des Bodens gewährleistet (Ⅴ 745c2–3); die Unveräußerlichkeit der Landlose wird in einmal im Gespräch mit Kleinias und Megillos (Ⅴ 740b1–5) und das zweite Mal in einer Ansprache an die Siedler (Ⅴ 741b1–5) gefordert. 37 Der besondere Status des Landloses und die Aufforderung zu verantwortungsbewusstem Umgang wird an mehreren Stellen ersichtlich (Ⅴ 740a5–7, Ⅴ 741b5–6, Ⅴ 741c1–2); Föllinger (2016, 136) beschreibt die zugrunde liegende Strategie des Atheners folgendermaßen: „Hier wird mit einer Selbstverpflichtung gearbeitet, die auf religiöse Bindung und politische Verantwortung des einzelnen setzt.“ 38 Zu den zahlreichen Fragen, die sich aus diesem System der Vermögensklassen ergeben (etwa nach dem genauen Wert des Landloses und nach der Bedeutung für den politischen Alltag), s. Schöpsdau (2003, 331–334).

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Beim bloßen Gedanken an diejenigen Menschen, die trotz dieser Maßnahmen der Geldgier unterliegen, überkommt den Athener eine Mischung aus Verachtung und Mitleid. Verachtung deswegen, weil solche Menschen alles täten, um den niedrigsten Formen der Lust Befriedigung zu verschaffen und somit von Tieren kaum zu unterscheiden seien (Ⅷ 831d1–e2). Diese Verachtung schlägt allerdings bei dem Gedanken an die persönlichen Konsequenzen in Mitleid um: Aufgrund ihrer Obsession seien diese Menschen dazu verdammt, in „ihrer Seele Hunger zu leiden“ und dadurch unglücklich zu sein. 39 Dieses Mitgefühl wird durch Reflexionen über das Wesen und die Genese der Geldliebe verstärkt: Zum einen hält der Athenische Fremde jeden Menschen für anfällig; niemand sei vor der Geldliebe gefeit, weil die Begierde nach Geld – um seiner selbst willen und als Mittel zur Befriedigung anderer Begierden – in der Seele eines jeden Menschen fest verankert sei. 40 Angesichts dieser Schwäche sei es umso gefährlicher, dass sowohl bei Barbaren als auch bei den Hellenen der Reichtum stets als das höchste Gut gelobt werde, sodass es nicht verwunderlich sei, dass viele Menschen dadurch korrumpiert werden (Ⅸ 870a1–b2). Zum anderen sei die Liebe nach Geld und Besitz insofern etwas Besonderes, als sie im Gegensatz zu den körperlichen Begierden keine natürliche Grenze besitze; sie erzeuge „zahllose Begierden nach unersättlichem und unbegrenztem Besitz“ (Ⅸ 870a4–5). Wer also einmal von dem Gedanken befallen sei, immer mehr besitzen zu müssen, werde dieses Ziel mit einer kompromisslosen Konsequenz verfolgen und könne sich kaum dagegen wehren. Es handelt sich bei der Liebe nach Reichtum also um ein hochansteckendes und brandgefährliches Virus, dem der Athener nach Kräften Einhalt zu gebieten versucht – doch wie wir eingangs gesehen haben, will er es nicht bekämpfen, sondern wagt den Versuch einer Modifikation: Denn auf herkömmliche Weise reich und gleichzeitig tugendhaft zu sein, ist zwar unmöglich, aber „auf gerechte und besonnene Weise“ reich und tugendhaft zu sein durchaus (Ⅴ 742e4–743c4). Neben den vorgestellten allgemeinen Regelungen zu diesem Zweck gesellen sich zahlreiche Einzelregelungen, von denen nicht wenige mit einem Vorwort versehen werden. Gerade weil der Athener diesem Komplex eine so hohe Bedeutung beimisst, sind die Vorworte in diesem Bereich besonders sorgfältig ausgearbeitet. Sie bieten daher eine hervorragende Grundlage, um in ihnen die Rolle der Volksreligion zu überprüfen. Anhand der Generalansprache konnte bereits gezeigt werden, dass ihr in den übergeordneten Rahmenbedingungen der Polis nicht die Rolle zukommt, die ihr in der Forschung zugeschrieben wird. Im folgenden Kapitel soll nun die Volksreligion in den Vorworten untersucht werden. Denn zum einen stellen die Vorworte die zentrale Innovation des Atheners dar, sodass sie der geeignete Ort für weitere Distinktionsmerkmale der Gesetzgebung wären. Zum anderen sind sie dasjenige Instrument, mit 39 πῶς μὲν οὖν αὐτοὺς οὐ λέγοιμ᾽ ἂν τὸ παράπαν δυστυχεῖς, οἷς γε ἀνάγκη διὰ βίου πεινῶσιν τὴν ψυχὴν ἀεὶ τὴν αὑτῶν διεξελθεῖν; Ⅷ 832a4–6. 40 Dass die Begierde nach Geld eine anthropologische Konstante ist, erweist Sokrates in der Politeia auf Basis des Modells der dreigeteilten Seele, s. dazu Schriefl (2013, 174–181); meines Erachtens sind die Argumente für eine Dreiteilung der Seele auch in den Nomoi überzeugend (vgl. Anm. 107 auf S. 55), sodass ich mit Schriefl auch für die Nomoi annehme, „dass die pleonektischen Triebe und Geldgier quasi zur Natur des in einer Gemeinschaft lebenden Menschen gehören und sich nicht eliminieren lassen“ (Schriefl 2013, 223).

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dem die Ziele der Gesetzgebung erreicht werden sollen: Sie sollen die Bürger für die Wertschätzung der Seele und damit für tugendhaftes Handeln sensibilisieren. Damit haben sie einen Anspruch, der der Volksreligion völlig fremd war (vgl. S. 14 mit Anm. 13). Wenn die Volksreligion also in den Vorworten eine nennenswerte und eigenständige Rolle spielt, könnte man tatsächlich von einer signifikanten Reformation sprechen.

V. 3 Interpretationen einzelner Vorworte V.3.1 Eheschließung Die Regelungen zur Eheschließung finden sich am Ende des Sechsten Buchs (Ⅵ 772d5– 774c2), kurz nach Beginn der eigentlichen Gesetzgebung. Im Exkurs zu den Proömien hatte der Athenische Fremde am Ehegesetz bereits den Unterschied zwischen einem einfachen und doppelten Gesetz illustriert (Ⅳ 720e10–721e6); dem Ehegesetz kommt deswegen eine besondere Bedeutung zu, weil die eheliche Vereinigung und Gemeinschaft „den Anfang der Entstehung von Staaten“ markiert (Ⅳ 721a3–4). Den Gesprächspartnern erscheint es daher folgerichtig, wenn das Ehegesetz am Beginn der Gesetzgebung steht und den Grundstein für eine richtige Entwicklung der Stadt legt (Ⅳ 721a6–7, Ⅵ 772e5–6). Der Unterschied zwischen dem Ehegesetz im Exkurs und dem Ehegesetz in der eigentlichen Gesetzgebung besteht darin, dass im Exkurs das Instrument der Proömien erst entwickelt wird (s. Kap. IV), wohingegen in der Gesetzgebung selbst diese Unterscheidung berücksichtigt ist und eine Trennung zwischen Vorwort und Gesetz vorliegt. Für die richtige Einordnung des Vorworts muss der Kontext des Ehegesetzes und dessen Ziel berücksichtigt werden. Der Ausgangspunkt für das Ehegesetz ist die Behandlung der Götterfeste, deren soziale Funktion darin besteht, dass sich die Bürger besser kennenlernen und untereinander anfreunden können. 41 Wenn nun bei solchen Gelegenheiten auch die jungen Menschen aufeinander aufmerksam werden und jemanden ausgemacht zu haben glauben, „der zum gemeinsamen Besitz und Erzeugen von Kindern geeignet“ sein könnte (Ⅵ 772d6–7), müssen sie die gesetzliche Vorschrift beachten, dass sie spätestens bis zum 35. Lebensjahr heiraten sollen (Ⅵ 772e1–2). Doch vor dem Gesetz sollen sie in Form eines Vorworts darüber belehrt werden, wie sie das „Geeignete und Passende“ zu suchen haben, 42 womit der geeignete und richtige Partner für die Heirat gemeint ist. Nachdem Kleinias bestätigt hat, dass Zeit und Ort für das erste Vorwort der eigentlichen Gesetzgebung gut gewählt sind, beginnt der Athener folgendermaßen (Ⅵ 772e7–773a7): ὦ παῖ, τοίνυν φῶμεν ἀγαϑῶν πατέρων φύντι, τοὺς παρὰ τοῖς ἔμφροσιν εὐδόξους γάμους χρὴ γαμεῖν, οἵ σοι παραινοῖεν ἂν μὴ φεύγειν τὸν τῶν πενήτων μηδὲ τὸν τῶν πλουσίων διώκειν διαφερόντως γάμον, ἀλλ᾽ ἐὰν τἆλλα ἰσάζῃ, τὸν ὑποδεέστερον ἀεὶ τιμῶντα εἰς 41 Ⅵ 771d6–e1, s. auch S. 48 zum Stellenwert der sozialen Funktion der Volksreligion. 42 τὸ πρέπον καὶ τὸ ἁρμόττον, Ⅵ 772e6.

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τὴν κοινωνίαν συνιέναι. τῇ τε γὰρ πόλει σύμφορον ἂν εἴη ταύτῃ ταῖς τε συνιούσαις ἑστίαις: τὸ γὰρ ὁμαλὸν καὶ σύμμετρον ἀκράτου μυρίον διαφέρει πρὸς ἀρετήν. „Lieber Sohn“, wollen wir also zu dem Sprößling guter Eltern sagen, „du mußt eine Ehe schließen, die bei den Verständigen Beifall findet; diese werden dir wohl raten, einer Ehe mit Armen nicht aus dem Wege zu gehen und einer Heirat mit Reichen nicht besonders nachzujagen, sondern, falls im übrigen Gleichheit besteht, immer die ärmlichere Partie vorzuziehen, wenn du eine Verbindung eingehst. Denn so wird es sowohl für den Staat als auch für die sich zusammenschließenden Haushalte das beste sein; denn das Gleichartige und Ebenmäßige ist für die Tugend unendlich förderlicher als das Maßlose.“ In diesem Abschnitt sind drei Aspekte von Interesse und Bedeutung, die vor dem Hintergrund der ersten Kapitel nicht besonders überraschend sind: Zuerst empfiehlt der Athenische Fremde, bei der Partnerwahl nicht dem eigenen Urteil zu folgen, sondern den Rat derjenigen anzunehmen, die als „verständig“ gelten (ἔμφροσιν, Ⅵ 772e7). Weiterhin unterstellt er, dass für viele Menschen bei der Heirat finanzielle Erwägungen eine nicht unerhebliche Rolle spielen und versucht, diese Tendenz in ihr Gegenteil zu verkehren: Statt der finanziell aussichtsreichen solle man lieber die „ärmlichere Partie vorziehen“ (Ⅵ 773a4–5). Der dritte und entscheidende Gesichtspunkt sollte sein, dass man durch die Ehe nicht sich selbst besser zu stellen sucht, sondern dass es den zusammenschließenden Familien und als Folge davon auch dem Staat insgesamt nützt (Ⅵ 773a5–6). Dem Staat nützt das „Gleichartige und Ebenmäßige“ in besonderer Weise, 43 weil es einen größeren Beitrag zur Tugend leistet (Ⅵ 773a6–7). Als entscheidend kann dieser Aspekt gelten, weil der Athener ihn kurz darauf noch einmal betont (Ⅵ 773b5–6): τὸν γὰρ τῇ πόλει δεῖ συμφέροντα μνηστεύειν γάμον ἕκαστον, οὐ τὸν ἥδιστον αὑτῷ. Jeder muß die Ehe eingehen, die dem Staat nützt, und nicht die, die ihm selbst am meisten behagt. Die drei leitenden Aspekte in dieser Passage sind also: Das persönliche Urteil soll nicht als Maßstab dienen; Reichtum ist nicht entscheidend; die Interessen des Staates müssen den Interessen des Individuums übergeordnet werden. Der Athenische Fremde ist sich darüber im Klaren, dass diese Vorschrift den natürlichen Neigungen der meisten Menschen widerspricht, und führt dafür die empirische Beobachtung an, dass sich ein jeder von Natur aus zu dem hingezogen fühlt, der ihm am ähnlichsten ist (Ⅵ 773b6–7). Man könnte daher erwarten, dass der Athenische Fremde in seinem Vorwort sehr gute Überzeugungsmittel aufwendet, um die Bürger zu einem Verhalten zu bewegen, das den natürlichen Vorlieben und Gewohnheiten widerspricht. Wenn man unter Überzeugungsmittel aller43 τὸ γὰρ ὁμαλὸν καὶ σύμμετρον ἀκράτου μυρίον διαφέρει πρὸς ἀρετήν, Ⅵ 773a6-7.

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dings eine argumentative Begründung der Forderungen versteht, wird man enttäuscht: 44 In diesem Sinn wird im Vorwort nämlich gar nichts begründet. Im Folgenden wollen wir untersuchen, auf welche Weise der Athenische Fremde stattdessen verfährt, um die Regel zu implementieren. Das Vorwort beginnt mit dem Ratschlag, eine Ehe zu schließen, die bei den „Verständigen“ angesehen ist. Offenbar traut der Athener dem Urteil eines heiratswilligen Jünglings nicht die Weitsicht zu, selbst eine vernünftige Entscheidung zu treffen – und das bedeutet in diesem Fall, wie der Athener selbst sagt: Eine Entscheidung zu treffen, die dem Staat nützt (Ⅵ 773b5–6). Erstaunlicherweise wird dafür aber keine Begründung gegeben; erklärt wird nur, dass eine Verbindung von Armen mit Reichen dem Staat und den Familien mehr nütze als eine Verbindung von Reichen mit Reichen (Ⅵ 773a5–6), weil das Gleichartige und Ebenmäßige „für die Tugend unendlich förderlicher als das Maßlose“ ist. Mit diesem Kausalsatz am Ende des vorletzten Zitats unternimmt der Athener zwar einen schwachen Versuch der Begründung, aber bei näherem Hinsehen handelt es sich dabei höchstens um eine normative Behauptung, die hauptsächlich durch die positive Konnotation des Begriffs Tugend (ἀρετή, areté) überzeugen soll. Stünde das Vorwort für sich alleine, könnte man nämlich nicht nur das Ziel, sondern auch den Weg dahin bestreiten: So könnte man durchaus Einwände gegen die Behauptung vorbringen, dass die Tugend ein vorausgesetztes Gut und dass „das Gleichartige und Ebenmäßige“ tatsächlich förderlicher für die Tugend ist als das Maßlose. Begründet wird also weder die Unmündigkeit des jungen Bürgers noch die Forderung, dass eine Ehe in erster Linie dem Staat nützen muss. Für den Adressaten der Rede dürfte das nicht gerade zufriedenstellend sein: Nicht nur wird ihm die eigene Urteilsfähigkeit aberkannt, er bekommt auch nicht einmal eine Begründung dafür. Hier kommt die schon mehrmals angesprochene Bezogenheit der Einzelregelungen auf den übergeordneten kulturellen Rahmen zum Tragen: Es ist zwar richtig, dass der Athener an dieser Stelle keine Begründung liefert, aber nicht etwa deshalb, weil er eine Begründung für überflüssig hielte und blinden Gehorsam einfordern wollte, sondern weil er sie bereits an anderer, prominenter Stelle gegeben hat. Zentrale Gedanken und Ideen in diesem Vorwort sind nämlich nur dann nachvollziehbar, wenn man frühere Passagen der Nomoi hinzuzieht. In Bezug auf den ersten Aspekt ist es schwer einzusehen, warum der Athener sogar einräumt, dass jeder von Natur aus nach dem strebe, der ihm am ähnlichsten ist (Ⅵ 773b6–7), dem Jüngling in dieser Situation die eigene Entscheidung aber nichtsdestoweniger abspricht. Mit diesem Satz wird allerdings auf einen ganz ähnlichen Gedanken mit ähnlichen Formulierungen an früherer Stelle aufmerksam gemacht, nämlich auf die Kritik der Selbstliebe im zweiten Teil der Ansprache (Ⅴ 731e5–732a1, s. S. 59f.). Der Athener 44 Wenn auch nicht in Bezug auf dieses Vorwort, so hat Stalley (1994, 171f.) die zum Teil schlechte bzw. gar nicht vorhandene Begründung des Atheners für seine Forderungen im Gesetz zur Eheschließung kritisiert. Ihm wurde sowohl von Schofield (2006, 321) als auch von Buccioni (2007, 281 Anm. 75) entschieden widersprochen; beide haben darauf hingewiesen, dass für das Verständnis der Forderungen nicht nur das Gesetz selbst, sondern auch die übergeordneten Rahmenbedingungen der Gesetzgebung berücksichtigt werden müssen.

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hatte die Selbstliebe heftig kritisiert, weil sie die Menschen blind mache und den Blick auf das Gerechte, Gute und Schöne verstelle – stattdessen habe man nur Augen für das Seine. Wenn man sich nun zu Menschen hingezogen fühlt, die einem selbst ähnlich sind, stellt man damit seine Ich-Bezogenheit unter Beweis – und wie der Athener in der Ansprache erklärt hat, führt das dazu, dass man sich für eine objektive Einschätzung der Folgen dieses Verhaltens nicht interessiert. Diese egozentrische Perspektive ist der Grund dafür, dass man seinem eigenen Urteil nicht trauen sollte und sich bei einer Entscheidung im vorliegenden Zusammenhang an die Empfehlungen der Verständigen halten sollte. Erst der Rückbezug auf die Ansprache kann also die Skepsis des Atheners richtig verständlich machen, dem Bürger die Wahl seines Ehepartners nicht selbst zu überlassen. Verstärkt wird diese Vorsicht, weil es sich bei der Eheschließung – zumindest in den Augen des Atheners – bei vielen zumindest in Teilen auch um eine Entscheidung handelt, bei der finanzielle Gesichtspunkte eine Rolle spielen. 45 Auch hierbei hilft ein Blick zurück, und auch hier führt er zur Ansprache. In unmittelbarer Nähe zur Kritik der Selbstliebe gibt der Athener die Erklärung, warum man dem eigenen Urteil vor allem nicht bei Entscheidungen trauen sollte, die die gesamte Gemeinschaft betreffen: Weil es dem Einzelnen vor allem darum geht, seine materiellen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn aber alle ungezügelt der Pleonexia nachgeben, hat das nicht nur zur Folge, dass sich die Bürger untereinander in einem unaufhörlichen Wettkampf um die materiellen Güter befinden, sondern damit auch ihr langfristiges Glück konterkarieren. Damit ist indirekt auch begründet, warum es dem Staat mehr nützt, wenn sich Arm und Reich verbinden: Denn durch den Zusammenschluss von zwei reichen Familien würde man die soziale Ungerechtigkeit verschärfen und ein friedliches Miteinander verunmöglichen; die Wertschätzung der Seele als Maxime aller Bürger hat demnach auch eine starke politische Komponente. 46 Da sich der Jüngling nicht selbst trauen kann, weil ihn seine Natur zu Entscheidungen verleitet, 47 die dem Interesse des Staates zuwiderlaufen, soll er sich an die Verständigen wenden (ἔμφροσιν, Ⅵ 772e7). Auch dabei handelt es sich um eine Anspielung auf die Ansprache: Dem Urteil der Verständigen kann sich der Jüngling deshalb bedenkenlos anschließen, weil damit diejenigen gemeint sind, die den Ausführungen des Athenischen Fremden in der Generalansprache aufmerksam gefolgt sind und sie in die Tat umsetzen wollen. Nachdem dort beschrieben wurde (Ⅳ 716a4–b5), dass derjenige, der stolz auf 45 Zum historischen Hintergrund, insbesondere zur Rolle der Mitgift, s. Schöpsdau (2003, 457–459). 46 Vgl. Trampedach 1994, 171: „Nur weil die Menschen [...] dem Trieb zur Bereicherung folgen, reißt überhaupt eine Kluft zwischen Armen und Reichen auf. Platon will den Menschen oder zumindest einer politischen Elite die Pleonexia austreiben. Die Sozialtechnik dient zur Stabilisierung der psychischen Revolution.“ 47 Armstrong (2004, 179 Anm. 21) hat darauf hingewiesen, dass die menschliche Natur in den Nomoi in vielen Fällen mit der affektiv-emotionalen Seite der Seele gleichgesetzt oder auf sie reduziert wird (Ⅳ 713c5–8, Ⅴ 732e4–5, Ⅵ 782d10–783b1, Ⅸ 870a1–2, Ⅻ 947e7–8); dass sich der natürliche Zustand der Seele tatsächlich in keiner wünschenswerten Verfassung befindet, unterstreicht der Athener mit seinen Bemerkungen, dass sich der Mensch ohne Gesetze und Erziehung in keiner Hinsicht von den wildesten Tieren unterscheidet (Ⅸ 874e7–875a1, Ⅺ 935a3–7).

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Reichtum oder seinen Körper ist und an seine eigene Macht glaubt, alsbald von Gott verlassen erst sich selbst, dann sein Hauswesen und schließlich auch den Staat zugrunde richte, findet sich folgende kurze Dialogpartie zwischen dem Athener und Kleinias (Ⅳ 716b5–9): [Αθ.] πρὸς ταῦτ᾽ οὖν οὕτω διατεταγμένα τί χρὴ δρᾶν ἢ διανοεῖσϑαι καὶ τί μὴ τὸν ἔμφρονα; [KΛ.] δῆλον δὴ τοῦτό γε: ὡς τῶν συνακολουϑησόντων ἐσόμενον τῷ ϑεῷ δεῖ διανοηϑῆναι πάντα ἄνδρα. Ath.: Was soll also angesichts dieser Ordnung der Dinge der Verständige tun oder denken und was nicht? Kl.: Offenbar doch dies: daß er unter denen ist, die dem Gotte folgen, darauf muß jedermann bedacht sein. Derjenige, der sich für die Konsequenzen aus der skizzierten Ordnung interessiert, wird dort mit demselben Wort bezeichnet (τὸν ἔμφρονα, Ⅳ 716b7). Der Verständige ist daher offenbar jemand, der auch die darauf folgenden Ausführungen beherzigt und folglich als jemand angesehen werden kann, der die Angleichung an Gott in seinem Handeln zu berücksichtigen versucht. Der Jüngling kann sich an ihn wenden und wird von ihm die Forderung des Atheners im Vorwort bestätigt bekommen, dass für die Partnerwahl nicht der persönliche Wunsch und generell nicht die eigene Perspektive maßgeblich sein können – und zwar deshalb, weil die menschliche Perspektive nur den eigenen Vorteil sucht, die Gesetzgebung Magnesias aber das Ziel verfolgt, dass es nicht nur einigen wenigen, sondern allen in der Gemeinschaft so gut wie möglich geht. Dafür kann aber nur Gott als Maßstab dienen, weil nur die Orientierung an der göttlichen Vernunft das Wohl aller langfristig gewährleisten kann. Für keine der drei genannten Aspekte gibt der Athener also eine eigenständige Begründung im Vorwort, sondern verweist den Adressaten indirekt auf die Generalansprache. 48 Deren Ausführungen kann er bei den Bürgern als wohl bekannt voraussetzen: An späterer Stelle kommt er nämlich mit Kleinias und Megillos darin überein, dass das Gespräch zwischen ihnen eine hervorragende Schullektüre wäre, 49 weil es als „eine Darstellung des schönsten und besten Lebens“ 50 und damit als „die einzig wahre Tragödie“ angesehen werden kann. 51 Aufgrund des Umfangs der Nomoi kann und sollte man zwar nicht annehmen, dass die Bürger tatsächlich den gesamten Text kennen, aber insbesonde48 Das Vorwort vermittelt den Bürgern demnach kein echtes Wissen (epistéme), sondern nur eine Meinung (dóxa), s. Anm. 9 auf S. 68f. 49 Ⅶ 811c6–812a1 und Ⅶ 817b1–d8. 50 μίμησις τοῦ καλλίστου καὶ ἀρίστου βίου, Ⅶ 817b4. 51 ὄντως [...] τραγῳδίαν τὴν ἀληϑεστάτην, Ⅶ 817b5.

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re die Generalansprache und die Vorworte, auf deren Erfindung der Athener so stolz ist (s. S. 73f.) darf man als bekannt voraussetzen. 52 In der Generalansprache wird mit einer Ausführlichkeit – wie sie für ein Vorwort eines konkreten Gesetzes nicht möglich wäre – deutlich gemacht, dass das Gelingen der Gesetzgebung von dem Erreichen übergeordneter Ziele abhängig ist, sodass der Einzelne auf die Verwirklichung persönlicher Wünsche teilweise verzichten muss. Andererseits ist das nur ein scheinbarer Nachteil: Denn wie insbesondere in der Interpretation des Kronos-Mythos deutlich geworden ist, wird der Bürger durch die Befolgung der Gesetze der göttlichen Güter teilhaftig (s. S. 32). Für die meisten Menschen mag es zwar also ein Opfer darstellen, auf das gewohnte Maß an Selbstbestimmung verzichten zu müssen, aber – so der Trost des Gesetzgebers – auf diese Weise ehren sie ihre Seele auf angemessene Weise und legen damit die Grundlage eines tugendhaften und langfristig glücklichen Lebens. An zahlreichen Stellen in den Nomoi unterstreicht der Athenische Fremde jedoch, dass die menschliche Natur schwach ist und von sich aus nicht dazu neigt, den steilen Pfad der Tugend zu wählen. 53 Die Verweise auf die Generalansprache dienen daher nicht nur der Erklärung, sondern sollen dem Angesprochenen auch eine Mahnung sein, dem Besseren in sich zu folgen. 54 Mit dieser Mahnung ist auch ein Korrektiv der eigenen Unzulänglichkeit verbunden: In den ersten Büchern generell, aber konkret und konzentriert in der Generalansprache wird den Bürgern illustriert, wozu der Mensch in der Lage sein kann, wenn er nur den Willen dazu aufbringt. Die Verweise auf die Ansprache dienen mithin auch der Motivation, indem sie zusätzlich zur diagnostizierten Schwäche der menschlichen Natur den Impuls geben, dem geschilderten Vorbild zu folgen – und dadurch die menschliche Natur zu transzendieren und sich Gott anzugleichen. Der Athenische Fremde macht sich also die Hierarchie und die damit einhergehende Abhängigkeit spezifischer Institutionen von übergeordneten Ebenen in vielfacher Weise zunutze, um in Fragen der konkreten Lebensführung die leitenden Perspektiven der Gesetzgebung geltend zu machen – denn irgendwann wird sich jeder Bürger Gedanken um die Heirat und damit auch um die Partnerwahl zu machen haben. Umgekehrt werden die allgemein gehaltenen Überlegungen und Forderungen in der Ansprache durch das Vorwort ergänzt und konkretisiert: Die Seele angemessen zu ehren heißt im Hinblick auf die Eheschließung, die eigene, vor allem von finanziellen Gesichtspunkten bestimmte Wahl aufzugeben und stattdessen eine Verbindung einzugehen, die dem Staat nützt, indem sie Maß und Tugend fördert. Nachdem wir zuerst die Wechselwirkung von konkreter Institution und kulturellem Rahmen in den Blick genommen haben, soll nun die Art der Institution untersucht wer52 Vgl. Schöpsdau (1994, 134). 53 Die prominenteste Stelle befindet sich zu Beginn des Exkurses zu den Proömien in Ⅳ 718d7–e1, auf die der Athener auch die berühmte Stelle aus Hesiods Werken und Tagen folgen lässt (V. 287– 292), wonach die Götter vor den langen und steilen Pfad der Tugend den Schweiß gesetzt haben (Ⅳ 718e1–719a2). 54 Diese Formulierung begegnet im Vorwort zur Aneignung von Schätzen (s. S. 105f.) und verweist auf die Leitung der Vernunft (s. Anm. 75 auf S. 106).

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den. Das Vorwort versucht die Bürger so zu beeinflussen, dass sie das in den Augen des Gesetzgebers Richtige freiwillig tun – und zwar ohne Androhung von Gewalt in Form einer vom Gesetz festgelegten Strafe. 55 Das Vorwort arbeitet dem Anspruch nach allein mit den Mitteln der Überzeugung/Überredung (peithó) und verzichtet dabei auf Gewalt (bía). Der Athenische Fremde benennt die Art und Weise der peithó sogar selbst: Kurz vor den Ausführungen zum Gesetz, das auf das Vorwort folgt, bezeichnet er das Vorwort als eine „Aufmunterung“ (παραμυϑία, Ⅵ 773e5). Worin diese Aufmunterung besteht, ist eben bereits im Zusammenhang mit der Wechselwirkung der unterschiedlichen institutionellen Ebenen besprochen worden: Sie besteht wesentlich darin, die zentralen Werte der Gesetzgebung in Erinnerung zu rufen und dadurch zu zeigen, wie sich jemand in dieser konkreten Situation verhalten muss, um jenen Werten gerecht zu werden. Die Quelle der Regel ist also der Gesetzgeber, der ein bestimmtes Verhalten für richtig erklärt und einfordert. Die Überwachung der Regel wird dem Bürger selbst überlassen, da im Vorwort keine explizit vorgesehene Sanktionierung durch andere festgehalten wird. Nach der Unterscheidung von Kiwit/Voigt (s. die Tabelle auf S. 84f.) handelt es sich also um eine ethische Regel. Ein Kennzeichen der ethischen Regel ist, dass sie das Kosten-Nutzen-Kalkül außer Kraft setzt und dafür sorgt, dass man Dinge zu tun bereit ist, die dem eng definierten Eigeninteresse zuwiderlaufen. 56 Die zentrale Frage ist nun: Auf welche Weise implementiert der Gesetzgeber diese Regel und sorgt dafür, dass die Bürger die Regel internalisieren und folglich freiwillig befolgen? Zwei Aspekte spielen dabei eine Rolle, deren erster die Haltung des Gesetzgebers ist. Sie ist von zwei Momenten geprägt und trägt in positiver Weise dazu bei, dass die Regel vom Adressaten angenommen wird: Einerseits zeigt der Athener Verständnis, indem er das erwartete Verhalten als natürlich einschätzt und damit einräumt, dass die Überwindung dieser Neigung eine gewisse Kraft erfordert (Ⅵ 773b6–7). Auch wenn es nicht möglich ist, dieses Verhalten eindeutig und objektiv zu qualifizieren, kann man zumindest vermuten, dass der Adressat dieses Verständnis seiner Lage zu schätzen wissen dürfte. Der Gesetzgeber würde damit eine Haltung des Adressaten hervorrufen, in der er das Kommende wohlwollend aufnimmt – einer der zentralen Effekte, die die Vorworte erreichen sollen (s. S. 71 mit Anm. 22). Andererseits besteht kein Zweifel daran, dass seine Handlungsempfehlung trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten unbedingt zu befolgen ist. Dieses ambivalente Auftreten lässt sich durch die Berücksichtigung einer anderen Passage erklären. Im Neunten Buch diskutieren die drei Gesprächspartner theoretische Grundlagen des Strafrechts (Ⅸ 857b4–864c9). In diesem Zusammenhang kommt der Athener auf die Vorworte zu sprechen, deren Einsatz und Ziel, die Bürger zu erziehen, er rechtfertigt und bekräftigt (Ⅸ 857e3–5). Nachdem er sich dafür stark gemacht hat, dass der Gesetzgeber genauso wie der Dichter die Pflicht haben sollte, nicht nur über das Schöne, Gute und Gerechte Rat zu erteilen, sondern die Bürger auch darüber zu belehren habe, wie diese 55 Bestraft werden lediglich jene, die sich ganz der Heirat verweigern und damit den Fortbestand der Gemeinschaft gefährden (Ⅵ 773e5–774c2). 56 Voigt 2009, 28.

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beschaffen seien (Ⅸ 858a6–9), fragt er sich, in welcher Haltung man die Gesetze abfassen sollte (Ⅸ 859a1–6): οὕτω διανοώμεϑα περὶ νόμων δεῖν γραφῆς γίγνεσϑαι ταῖς πόλεσιν, ἐν πατρός τε καὶ μητρὸς σχήμασι φιλούντων τε καὶ νοῦν ἐχόντων φαίνεσϑαι τὰ γεγραμμένα, ἢ κατὰ τύραννον καὶ δεσπότην τάξαντα καὶ ἀπειλήσαντα γράψαντα ἐν τοίχοις ἀπηλλάχϑαι; Wir wollen nun überlegen, wie bei der Abfassung von Gesetzen für die Staaten zu verfahren ist: sollen die geschriebenen Gesetze 57 in der Haltung liebevoller und verständiger Väter und Mütter auftreten, oder sollen sie etwa nach Art eines Tyrannen und Gewaltherrschers Befehle und Drohungen ausstoßen und wenn sie diese an die Wände geschrieben haben, mit der Sache fertig sein? Die Gratwanderung des Atheners, Verständnis für die Situation des Jünglings zu zeigen und trotzdem auf seiner Forderung zu bestehen, ist mit großer Wahrscheinlichkeit auf sein Verständnis als „liebevoller Vater“ zurückzuführen: Der Vater ist aufgrund des natürlichen Machtgefüges in der Lage, seine Autorität geltend zu machen und vom Kind Dinge zu verlangen, die für es selbst in diesem Moment oftmals nicht erstrebenswert sind. Das Kind ist damit zwar nicht immer glücklich, will dem Vater und seinen Ansprüchen aber gerecht werden und fügt sich aus Angst vor Zurückweisung – dass der Vater dabei grundsätzlich Verständnis hat, macht es ihm aber wenigstens ein bisschen leichter, weil es sich verstanden und respektiert fühlt. Die Haltung des Athenischen Fremden, der mit der natürlichen Autorität eines Vaters als Gesetzgeber auftritt, dürfte daher dazu beitragen, dass die Regel vom Adressaten wohlwollend auf- und angenommen wird. 58 Der zweite Aspekt, der die Regel stärkt, wird an späterer Stelle im Vorwort offenbar, wenn der Athener seine Entscheidung rechtfertigt, die Vorgaben zur Partnerwahl nur im Rahmen einer Aufmunterung zu vermitteln und sie nicht in die Form eines Gesetzes zu pressen – das wäre nicht nur lächerlich, sondern würde auch bei vielen Menschen Unmut erregen (Ⅵ 773c3–8). Stattdessen solle man „einen jeden durch beschwörende Zauber57 Man könnte hier einwenden, dass sich diese Passage nicht zur Erklärung eignet, weil es hier um „geschriebene Gesetze“ geht und das Vorwort zur Eheschließung am Ende des Vorworts einem geschriebenen Gesetz explizit gegenüber gestellt wird (Ⅵ 773e3–4). Allerdings geht es dort um die Gegenüberstellung von peithó (die in einem Vorwort zur Geltung kommt) und Gewalt (die primär durch die Strafe des Gesetzes ausgeübt wird), wohingegen an der Stelle im Neunten Buch die (schriftlichen) Werke des Gesetzgebers den schriftlichen Werken anderer Schriftsteller gegenüber gestellt werden (Ⅸ 858c6–d4). Die Vorworte sind aber ebenfalls Werke des Gesetzgebers und daher in die Überlegungen des obigen Zitats eingeschlossen. 58 Weitere Beispiele für diese Haltung stellen das Vorwort zum Testament (s. S. 116 mit Anm. 105), das Vorwort zum Kleinhandel und das Vorwort zum Tempelraub dar; im zweitgenannten hebt der Athener die ursprünglich und eigentlich ehrbaren Absichten der Händler hervor und bringt den Adressaten des Vorworts damit große Sympathie entgegen (Ⅺ 918a6–d2); im letztgenannten relativiert er die Verantwortung des Tempelräubers, indem er dessen Tat auf eine Verfehlung eines Vorfahren zurückführt (Ⅸ 854b1–5).

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worte“ (Ⅵ 773d6) zur Befolgung dieser Empfehlung animieren. Das griechische Wort für diese Zauberworte ist ἐπῳδή (epodé), das ursprünglich gewisse Formeln zur Besprechung, Beschwörung oder Bezauberung – oftmals im Zusammenhang mit magischen Praktiken – bezeichnete. 59 Schon vor Platon wurde es aber auch für begnadete Redner verwendet, die größere Mengen mit ihren Reden bezaubern und für sich einnehmen konnten. 60 Bei Platon tritt neben der überzeugenden Kraft des Wortes das spezifische, von gegenseitigem Wohlwollen und Interesse geprägte Verhältnis der Gesprächspartner in den Vordergrund. 61 Darüber hinaus verfolgt die Epode das konkrete Ziel, die Seele des Adressaten zu reinigen und zu ordnen, indem sie Besonnenheit erzeugt. 62 Es ist daher kein Wunder, dass dieses Konzept im Charmides, der die Besonnenheit thematisiert, und in den Nomoi eine zentrale Rolle spielt. 63 In den Nomoi wird die Epode dahingehend ausgeweitet, dass jegliche Reden, Erzählungen und Gesänge im Zusammenhang mit der Erziehung als ἐπωδή bezeichnet werden können. 64 Im vorliegenden Zusammenhang könnte zweierlei gemeint sein: Entweder versteht der Athener das Vorwort selbst als Epode, mit denen man die Bürger zu überzeugen versuchen soll, oder die Bemerkung könnte als Aufforderung für künftige Gesetzgeber verstanden werden, die Inhalte dieses Vorworts musikalisch verarbeiten zu lassen und dafür zu sorgen, dass alle Bürger damit vertraut gemacht werden. 65 Wenn die Forderungen des Vorworts auf diese Weise der gesamten Bevölkerung vorgesungen werden, kann man sich leicht vorstellen, dass diese Form der Vermittlung die Internalisierung nachhaltig unterstützen wird. Oben wurde im Zusammenhang mit der Klassifizierung dieses Vorworts als ethischer Regel festgehalten, dass die Überwachung der Regel in erster Hinsicht dem Bürger selbst überlassen wird, weil in diesem Fall bei Zuwiderhandlung keine Strafe durch das Gesetz vorgesehen ist. Nun kann man trotz der eben herausgearbeiteten Faktoren, die der Regel eine gewisse Stärke verleihen, die Frage stellen: Warum sollte der Jüngling überhaupt den Forderungen des Vorworts entsprechen, wenn er ohnehin keine Bestrafung zu befürch-

59 S. Laín-Eltralgo (1958, 300) und Schöpsdau (1994, 288) für Verwendungsbeispiele in der antiken Literatur seit Homer. 60 S. Laín-Eltralgo (1958, 301–303). 61 Eine erfolgreiche Epode hängt wesentlich von der Haltung der Gesprächspartner ab: Der Empfänger muss sich öffnen und seine Seele darreichen, damit der Sprecher seine Epode deren Charakter und Verfassung anpassen kann, s. Laín-Eltralgo (1958, 311). 62 Laín-Eltralgo (1958, 305; 308; 320). 63 Laín-Eltralgo (1958, 299). 64 Insbesondere sind damit Formen der peithó gemeint (vgl. Ⅵ 773b6, Ⅷ 837e6, Ⅹ 903b1); damit sind nicht nur die Vorworte als Spielarten der Epode zu verstehen (anders Bobonich 1991, 374), sondern insbesondere die Musik (Ⅱ 660d4–e5, Ⅱ 664b3–5, Ⅱ 665c2–7). 65 Zur Epode im Zusammenhang mit den Drei Chören, die der Bevölkerung vom Gesetzgeber legitimierte Lieder vorsingen, s. Prauscello (2013). Büttner (2004, 51) warnt davor, die große Bedeutung von Hymnen und Enkomien zu unterschätzen; Burkert (2011, 162) weist daraufhin, dass es stets ein Bedürfnis nach neuen Liedern gab, das die hochangesehene Gattung der Chorlyrik begründet hat. Auch der Athenische Fremde fordert in Ⅱ 665c2–c7, dass die Lieder in großer Vielfalt und Abwechslung dargeboten werden sollen.

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ten hat? In Teilen antwortet der Text direkt auf diese Frage, in Teilen trägt die bisherige Interpretation zur Antwort bei. Auch wenn in diesem Fall keine Bestrafung durch das Gesetz erfolgt, heißt das nicht, dass dem Gesetzgeber gar keine Form der Sanktionierung zur Verfügung stünde. Der Athenische Fremde empfiehlt, die Bürger mit Hilfe von Tadel (δι᾽ ὀνείδους, di oneídous) von falschem Verhalten abzuhalten (Ⅵ 773d5–e4). Sobald sich also abzeichnet, dass ein Jüngling den Empfehlungen und „Zaubergesängen“ widersteht und tatsächlich jemanden heiraten will, der lediglich seinen eigenen Vorstellungen von Nutzenmaximierung entspricht, soll er mit Tadel und Ermahnungen davon abgehalten werden. Auch wenn sich der Athener hier nicht im Detail äußert, liegt aufgrund ähnlicher Formulierungen die Vermutung nahe, dass damit an verschiedene Maßnahmen gedacht ist, die vor allem mit sozialem Druck arbeiten. Der soziale Druck hängt mit dem „Wettbewerb um die Tugend“ zusammen, den der Athenische Fremde ausruft – und zwar ebenfalls im zweiten Teil der Ansprache (Ⅴ 731a2–5): φιλονικείτω δὲ ἡμῖν πᾶς πρὸς ἀρετὴν ἀφϑόνως. ὁ μὲν γὰρ τοιοῦτος τὰς πόλεις αὔξει, ἁμιλλώμενος μὲν αὐτός, τοὺς ἄλλους δὲ οὐ κολούων διαβολαῖς […]. Jeder soll bei uns nach dem Sieg in der Tugend trachten, doch ohne Mißgunst. Denn ein solcher Mann wird die Staaten fördern, indem er selber darum wetteifert und die andern nicht durch Verleumdungen herabsetzt. Jeder Bürger ist demnach dazu aufgerufen, das Verhalten der Mitmenschen aufmerksam zu verfolgen und bei Fehlverhalten aktiv zu werden. Die erste Stufe besteht darin, Fehlverhalten den entsprechenden Beamten oder Behörden zu melden; die zweite Stufe darin, selbst einzuschreiten und den fehlgeleiteten Bürger direkt zu sanktionieren. 66 Auch hier bricht sich der Wunsch des Atheners Bahn, den Arm des Gesetzes zu verlängern und dadurch in Bereiche vorzudringen, die normalerweise keine Formalisierung erfahren. 67 Was sich für den heutigen Leser wie eine geradezu institutionalisierte Form der Denunziation liest, ist für den Athener aber sogar Anlass, die höchsten Ehren in Magnesia zu verleihen (Ⅳ 730d1–7): τίμιος μὲν δὴ καὶ ὁ μηδὲν ἀδικῶν, ὁ δὲ μηδ᾽ ἐπιτρέπων τοῖς ἀδικοῦσιν ἀδικεῖν πλέον ἢ διπλασίας τιμῆς ἄξιος ἐκείνου: ὁ μὲν γὰρ ἑνός, ὁ δὲ πολλῶν ἀντάξιος ἑτέρων, μηνύων τὴν τῶν ἄλλων τοῖς ἄρχουσιν ἀδικίαν. ὁ δὲ καὶ συγκολάζων εἰς δύναμιν τοῖς ἄρχουσιν, ὁ μέγας ἀνὴρ ἐν πόλει καὶ τέλειος, οὗτος ἀναγορευέσϑω νικηφόρος ἀρετῇ. 66 Das genaue Prozedere unterscheidet sich von Gesetz zu Gesetz; mal wird sogar die Unterlassung einer Anzeige oder Sanktionierung von Mitbürgern sanktioniert (Ⅴ 742b3–c2), mal müssen die Bürger die Gesetzeswächter informieren, wenn sie einen Mitbürger nicht zum gewünschten Verhalten motivieren konnten (Ⅵ 784c2–d1). 67 Föllinger (2016, 104) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die „kulturellen Codes bewußt“ gesteuert werden sollen.

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Ehre verdient gewiß auch, wer kein Unrecht tut; wer aber denen, die Unrecht tun wollen, dies nicht einmal gestattet, der ist mehr als doppelt so großer Ehre wie jener andere wert; denn jener wiegt nur einen, dieser dagegen viele andere auf, wenn er das Unrecht anderer den Obrigkeiten anzeigt; und wer gar der Obrigkeit bei der Bestrafung nach Kräften hilft, der soll als der große und vollkommene Mann im Staat ausgerufen werden, der in der Tugend den Sieg davonträgt. Auch wenn die Empfehlung des Atheners im Vorwort vage bleibt, den Jüngling mit Hilfe von Tadel oder Vorwurf von falschem Verhalten abzuhalten, kann durch die allgemeine Bedeutung der gegenseitigen Kontrolle der Bürger durchaus angenommen werden, dass sie eine Empfehlung für die Bürger darstellt. Folglich hat bei der Regel für die Partnerwahl nicht nur das betroffene Individuum selbst die Regel zu überwachen, sondern auch die anderen Bürger. Damit erhält dieses Vorwort über den Typ der ethischen Regel hinaus auch den Aspekt der Sitte (Typ 3, s. S. 84f.). Neben den im Vorwort selbst genannten Maßnahmen zur Sanktionierung kann auch der Bezug auf die Generalansprache fruchtbar gemacht werden. Bisher haben uns einerseits die strukturellen und andererseits die inhaltlich positiven Konsequenzen der Bezugnahmen auf die Ansprache interessiert. Im Hinblick auf die Sanktionen und die Frage, warum sich ein Bürger den Wünschen des Gesetzgebers beugen sollte, lässt sich aber noch ein weiterer wichtiger Aspekt herausarbeiten. In der Diskussion der Frage, wie bedeutend der Apollon-Helios-Kult in Magnesia ist, haben wir gesehen, dass die Polis-Gottheit deswegen eine so zentrale Rolle in der Volksreligion eingenommen hat, weil sie der Polis eine gemeinsame Identität gestiftet hat (S. 49f.). In Magnesia ist diese Polis-Gottheit die in der Ansprache beschriebene namenlose Gottheit (S. 35f. und 50–53), der sich jeder Bürger durch besonnenes Verhalten angleichen soll (S. 41f.). Eine natürliche Folge dieser identitätsstiftenden Funktion ist der enorme Konformitätsdruck: Wer als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft gelten will, sollte sich an der gemeinsamen Verehrung der Gottheit beteiligen und sich an die gemeinsamen Werte halten – und dazu gehören insbesondere die Wertschätzung der Seele, die in diesem Zusammenhang in einer Partnerwahl besteht, die dem Staat nützt. Die Bezugnahmen auf die Ansprache stellen somit eine indirekte Sanktionierung dar, indem sie dem Jüngling implizit mit einem Ausschluss aus der Gemeinschaft drohen, sofern er die gemeinsamen Werte nicht teilt und ehrt. Sie zeigen darüber hinaus, wie der in der Ansprache entfaltete Ordnungsrahmen das gesellschaftliche Miteinander prägt, indem er in die Bestimmungen und Vorgaben spezifischer Lebensbereiche hineinwirkt. Trotz dieser ganz unterschiedlichen Versuche, die den jungen Mann zum wünschenswerten Verhalten motivieren sollen, könnte er sich mangels einer direkten und unmittelbaren Sanktion relativ leicht für eine Heirat nach seinen Vorstellungen entscheiden. Allerdings würde der Gesetzgeber das nicht ermöglichen, wenn er nicht auch für diesen Fall Vorsorge getroffen hätte: Die Freiheit des Bürgers in dieser Angelegenheit wird durch die Beschneidung der Freiheit in eng verwandten Bereichen kompensiert, um negative Konsequenzen so gering wie möglich zu halten. So mag der Jüngling seinem Drang folgen, seinen Reichtum durch Heirat zu mehren, aber bei der Verwirklichung seiner Wünsche

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wird er nichtsdestoweniger Abstriche machen müssen: Denn nicht nur das Vermögen insgesamt wird durch die Regulierung der vier Vermögensklassen begrenzt (s. S. 88), sondern auch die Höhe der Mitgift: In der ersten Erwähnung der Mitgift ist der Athener zwar noch so rigoros, dass er die Mitgift sogar gänzlich verbieten will (Ⅴ 742c2–3), aber offenbar sieht er selbst ein, dass es sich dabei um eine kaum durchzusetzende Regel handelt. Bei der zweiten Behandlung der Mitgift direkt im Anschluss an das Gesetz zur Eheschließung räumt er daher eine Mitgift ein, deren Höhe an die jeweilige Vermögensklasse gekoppelt ist (Ⅵ 774c2–e2). Durch diese Beschränkungen ist der Trade-Off des Jünglings sehr hoch: Für die Verfolgung seiner eigenen Wünsche nimmt er nicht nur in Kauf, durch die Maßnahmen des sozialen Drucks in der Gemeinschaft weniger anerkannt zu sein, sondern durch die Beschränkungen kann er seine Wünsche nicht einmal im gewünschten Ausmaß verwirklichen. Auf diese Weise hat der Gesetzgeber den Handlungsspielraum so gestaltet, dass die von ihm unerwünschte Verhaltensweise so unattraktiv ist, dass der Betroffene von vornherein lieber gleich der Empfehlung folgen dürfte.

V.3.2 Aneignung von Schätzen Nachdem im Zehnten Buch mit dem Asebiegesetz Straftaten gegen die Götter und damit gegen das religiöse Fundament Magnesias behandelt wurden, will sich der Athener im Elften Buch mit einer angemessenen Regelung der „gegenseitigen Rechtsgeschäfte“ (συμβόλαια, Ⅺ 913a1) befassen. Unter diesen Regelungen findet sich auch das nächste Vorwort, das wir untersuchen wollen: Es gibt Vorschriften für den möglichen Fund eines Schatzes. Das mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen – schließlich dürfte man dem Auffinden eines Schatzes im alltäglichen Leben gemeinhin keine allzu große Bedeutung zuschreiben. Es ist jedoch offensichtlich, dass der Athenische Fremde diesen Sachverhalt sehr ernst nimmt: Er entwirft nicht nur ein Vorwort, 68 sondern stellt es darüber hinaus an den Anfang dieses Themengebiets und damit auch an den Anfang des Elften Buchs, womit es eine äußerst prominente Stellung erhält. Der Grund dafür ist – wie wir später noch im Detail sehen werden –, dass der Athener das Vorwort in einem umfänglicheren Sinn verstanden wissen will: Der Schatz steht lediglich als Symbol für großen und unverhofften Reichtum, 69 sodass sich das Vorwort nicht nur auf die Möglichkeit eines 68 In der Erörterung zu den Vorworten im Vierten Buch hatte der Athener darauf hingewiesen, dass es zwar möglich, aber nicht richtig wäre, allen Gesetzen ein Vorwort voranzustellen (Ⅳ 723c1–8); stattdessen müsse der Gesetzgeber von Fall zu Fall entscheiden (Ⅳ 723c8–d4). Bereits durch diesen Hinweis wird deutlich, dass der Athenische Fremde in diesem Fall einen besonderen Bedarf sieht und sich daher für ein Vorwort entscheidet. Aufgrund fehlender Zeugnisse kann man nicht beurteilen, wie innovativ Platons ausführliche Behandlung dieser Thematik ist (Schöpsdau 2011, 460). 69 Heutzutage wäre das entsprechende Symbol wahrscheinlich der Lotto-Gewinn; aber zumindest in der Welt der Kinderbücher ist die Verbindung von Reichtum und Schatz noch präsent: Im Buch „Komm, wir finden einen Schatz“ von Janosch (1979) fragt der kleine Tiger zu Beginn: „Weißt du, was das größte Glück der Erde wäre? […] Reichtum.“ Nachdem sich der kleine Tiger und der kleine

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konkreten Schatzfundes bezieht, sondern allgemein auf die materielle Gier der Bürger abzielt. 70 Im ersten Schritt der Analyse soll auch hier sichtbar gemacht werden, inwiefern das Vorwort in übergeordnete Zusammenhänge eingebettet ist. Der erste Bezug wird durch den Athener nicht eigens herausgestellt, sondern ergibt sich auch hier durch eine inhaltliche Anspielung auf die Generalansprache: Bei den Negativbeispielen dafür, wie jemand seine Seele nur scheinbar ehrt, nennt der Athener auch folgende Verhaltensweise (Ⅴ 727e3–728a3): οὐδέ γε ὁπόταν χρήματά τις ἐρᾷ κτᾶσϑαι μὴ καλῶς, ἢ μὴ δυσχερῶς φέρῃ κτώμενος, δώροις ἄρα τιμᾷ τότε τὴν αὑτοῦ ψυχήν – παντὸς μὲν οὖν λείπει – τὸ γὰρ αὐτῆς τίμιον ἅμα καὶ καλὸν ἀποδίδοται σμικροῦ χρυσίου‧ Auch wenn jemand auf unschöne Weise Schätze zu erwerben begehrt oder bei ihrem Erwerb kein Unbehagen empfindet, so ehrt er nicht etwa durch Geschenke seine Seele – weit gefehlt vielmehr; denn das Ehrenwerte und Schöne an ihr gibt er für ein wenig Gold dahin […]. Es handelt sich dabei zwar um keine eindeutige Parallele, weil lediglich die Übersetzung von „Schätzen“ spricht und im Griechischen das allgemeinere χρήματα steht (chrémata, Ⅴ 727e3, hier „Geld“ oder „Besitztümer“). Dort bezieht sich der Athener also eindeutig auf jede Form materiellen Zuwachses, wohingegen unser Vorwort eine ganz konkrete Form in den Blick nimmt. In Analogie zu einem geläufigen Argumentationsschluss könnte man hier aber von einem exemplum a minore ad maius sprechen: Wenn selbst diese seltene und spezifische Möglichkeit auf Reichtum verurteilt wird, werden dadurch alle gewöhnlicheren und aussichtsreicheren Formen eingeschlossen. Auf diese Weise wird dem Bürger vor Augen geführt, dass in Magnesia das materielle Streben so geächtet ist, dass selbst eine so harmlos scheinende Form wie ein Schatzfund nicht geduldet wird. Das Vorwort ergänzt damit die Generalansprache und lässt sich als Konkretisierung und Exemplifizierung der allgemeinen Richtschnur lesen, nicht die äußeren Güter und auch nicht den Körper, sondern vorrangig die Seele zu ehren. Über diesen großen Zusammenhang hinaus erläutert der Athener auch den Kontext innerhalb des eigentlichen Gesetzeswerks. Als Grundsatz für die folgenden Gesetze der gegenseitigen Rechtsgeschäfte greift er auf einen bereits erteilten Grundsatz aus dem Zehnten Buch zurück, der den Gesetzen zum Strafrecht in religiöser Hinsicht vorangestellt war (Ⅹ 884a2–4): Τῶν ἀλλοτρίων μηδένα μηδὲν φέρειν μηδὲ ἄγειν, μηδ’ αὖ χρῆσϑαι μηδενὶ τῶν τοῦ πέλας, ἐὰν μὴ πείσῃ τὸν κεκτημένον· Bär ausmalen, was sie mit ihrem Geld alles kaufen könnten, schlussfolgert der kleine Tiger geradezu selbstverständlich: „Komm, wir finden einen Schatz.“ 70 Das Vorwort stellt damit eine weitere Behandlung der in den Nomoi so wichtigen Pleonexia-Thematik dar (zum Begriff s. S. 87f.)

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Von fremdem Eigentum soll niemand etwas forttragen oder wegführen; auch darf keiner irgend etwas vom Besitz seines Nachbarn benutzen, ohne dazu die Erlaubnis des Eigentümers erwirkt zu haben […]. Diese Vorschrift ist im Elften Buch folgendermaßen gestaltet (Ⅺ 913a3–5): Μήτε οὖν τις τῶν ἐμῶν χρημάτων ἅπτοιτο εἰς δύναμιν, μηδ’ αὖ κινήσειεν μηδὲ τὸ βραχύτατον ἐμὲ μηδαμῇ μηδαμῶς πείϑων· Niemand soll sich nach Möglichkeit an meinem Eigentum vergreifen und auch nicht das Geringste davon verrücken, ohne irgendwie meine Zustimmung dazu erlangt zu haben. Diese Prinzipien ähneln sich sowohl inhaltlich als auch stilistisch sehr stark: Es fallen nicht nur die durch μήτε (méte) und μηδέ (medé) 71 strukturierten Abschnitte, sondern auch der Hang zu phonetischer Ähnlichkeit durch Polyptata von μηδείς (medeís, „niemand“) auf. Interessant ist ebenfalls die Verwendung von πείϑειν (peíthein) in beiden Fällen, das in den Nomoi eine herausragende Bedeutung hat und in diesem Kontext die eher ungewöhnliche Bedeutung von „jmd. die Erlaubnis erteilen“ aufweist. 72 Auch durch diesen inhaltlichen und stilistischen Rückverweis auf die strengen Gesetze gegen Gottesfrevler wird deutlich gemacht, dass der Athener die Gesetze zum Eigentum allesamt als äußerst wichtig ansieht und es sich keineswegs um Banalitäten handelt. Nach der Verortung des Vorworts im näheren Umfeld des Gesetzeswerks und im übergeordneten Kontext der Gesetzgebung soll nun untersucht werden, welcher Institutionstyp vorliegt und auf welche Weise der Athener die Regel zu implementieren versucht. Im Gegensatz zum Vorwort zur Partnerwahl gibt der Athener dieses Mal keine Hinweise zur Form – wir sind also umso mehr auf eine genaue Lektüre und Interpretation angewiesen, sodass wir das Vorwort im Folgenden Stück für Stück analysieren wollen. Schauen wir uns den Beginn des Vorworts an (Ⅺ 913a6–8): ϑησαυρὸν δὴ λέγωμεν πρῶτον τῶν τοιούτων ὅν τις αὑτῷ καὶ τοῖς αὑτοῦ κειμήλιον ἔϑετο, μὴ τῶν ἐμῶν ὢν πατέρων·

71 Wörtlich wären beide Partikel mit „und nicht“ oder „weder … noch“ wiederzugeben; in der Übersetzung ist die Verneinung durch die Wiedergabe des griechischen Indefinitpronomens τις als „niemand“ ausgedrückt. 72 Vgl. Ⅷ 844e8f., wo es um das Ernten der „Edlen Traube“ bzw. der sogenannten „Edlen Feige“ geht, die man nur dann ernten dürfe, wenn der Baum auf eigenem Grund stehe; wenn der Baum auf fremdem Boden steht und jemand sie erntet, ohne dass er die Erlaubnis dazu eingeholt habe (μὴ πείσας), soll er – und auch das verbindet diese zwei Stellen miteinander – gemäß dem Grundsatz, dass nichts bewegt werden dürfe, was nicht selbst hinterlegt worden ist, bestraft werden.

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Als ersten Fall dieser Art wollen wir einen Schatz anführen, den jemand, der nicht zu meinen Vorfahren gehört, für sich und seine Nachkommen als kostbares Gut verwahrt hat. Die literarische Gestaltung zieht besondere Aufmerksamkeit auf sich: Als ein erstes Beispiel für Dinge, an denen man sich nicht vergreifen dürfe, soll ein Schatz dienen, den jemand für sich oder seine Nachkommen als ein Erbstück hinterlegt hat, der nicht zu meinen Vorfahren gehört. Hier wird im Nachsatz geradezu verstohlen die erste Person in den Satz hineingebracht, sodass sich der Leser auf einmal im Gespräch mit sich selbst wähnt. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, dass es sich gar nicht um ein abstraktes und unpersönliches, sondern durchaus konkretes Beispiel handelt, in dem ich selbst der Verantwortliche bin. Drei kurze Verbote reagieren auf diese Vorstellung – ebenfalls in der ersten Person, sodass der Subjektwechsel kein Zufall, sondern beabsichtigt sein dürfte (Ⅺ 913a8–b3): μήϑ’ εὑρεῖν ποτε ϑεοῖς εὐξαίμην μήϑ’ εὑρὼν κινήσαιμι, μηδ’ αὖ τοῖς λεγομένοις μάντεσιν ἀνακοινώσαιμι τοῖς ἁμῶς γέ πώς μοι συμβουλεύουσιν ἀνελεῖν τὴν γῇ παρακαταϑήκην. Niemals darf ich da zu den Göttern beten, daß ich ihn finden möge; und wenn ich ihn gefunden habe, darf ich ihn nicht von der Stelle bewegen noch mich mit den sogenannten Wahrsagern darüber besprechen, die mir wohl in jedem Fall raten würden, das der Erde Anvertraute wegzunehmen. Der Gesetzgeber kann natürlich nicht verhindern, dass jemand einen Schatz findet. Aber er kann die Einstellung der Bürger zu einem solchen Fund überprüfen und versuchen, sie in die gewünschte Richtung zu lenken. Durch die erste Person wird der Bürger in ein Gespräch mit sich selbst verwickelt und mit der Frage konfrontiert: „Habe ich etwa heimlich dafür gebetet, einen Schatz zu finden?“ Mit dem Vorwort setzt der Athener voraus, dass viele Bürger diese Frage bejahen würden, oder zumindest nichts gegen einen Schatz einzuwenden hätten – und genau diese Haltung soll in mehreren Schritten entweder unterbunden oder wenigstens korrigiert werden. Im ersten Schritt versucht der Gesetzgeber, den Wunsch nach einem Schatz gar nicht erst entstehen zu lassen: Der Bürger dürfe nicht dafür beten, den Schatz zu finden. Offenbar hält es der Gesetzgeber nicht für sehr wahrscheinlich, dass sich jemand daran halten wird, weil bereits der Nachsatz das Szenario fortführt und die Möglichkeit anspricht, dass der Bürger den Schatz gefunden hat. In diesem zweiten Schritt erlässt der Gesetzgeber zuerst ein kurzes Verbot (der Schatz dürfe nicht von der Stelle bewegt werden), das durch einen Zusatz ergänzt wird – offensichtlich für den Fall, dass sich der Adressat vom Verbot nicht abschrecken lässt, sondern nach wie vor dazu neigt, sich den Schatz anzueignen. Der Zusatz besteht in dem Verbot, sich mit den sogenannten Wahrsagern zu besprechen – denn nach Ansicht des Gesetzgebers würden diese ohnehin dazu raten, den Schatz zu heben. Der Athener hält es offenbar für wahrscheinlich, dass sich der Adressat von den Verboten nicht überzeugen lassen wird – und beugt auch dem angenommenen Versuch

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Interpretationen einzelner Vorworte

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vor, sich von einer anderen Instanz die Aneignung des Schatz legitimieren zu lassen. Erst im folgenden Schritt unternimmt der Athener den Versuch, über Verbote hinaus die Bürger inhaltlich davon zu überzeugen, dass sie mehr davon profitieren würden, wenn sie den Anweisungen des Gesetzgebers Folge leisten (Ⅺ 913b3–8): οὐ γάρ ποτε τοσοῦτον εἰς χρημάτων ὠφεληϑείην ἂν κτῆσιν ἀνελών, ὅσον εἰς ὄγκον πρὸς ἀρετὴν ψυχῆς καὶ τὸ δίκαιον ἐπιδιδοίην μὴ ἀνελόμενος, κτῆμα ἀντὶ κτήματος ἄμεινον ἐν ἀμείνονι κτησάμενος, δίκην ἐν τῇ ψυχῇ πλούτου προτιμήσας ἐν οὐσίᾳ κεκτῆσϑαι πρότερον· Denn was den Zuwachs an Geld betrifft, so hätte ich niemals einen so großen Gewinn davon, daß ich den Schatz höbe, wie ich an Tugend der Seele und an Gerechtigkeit zunehmen würde, wenn ich ihn nicht höbe; denn ich hätte mir dann statt des einen Besitztums ein anderes, besseres Besitztum in einem besseren Teil meiner selbst erworben, weil ich es vorzog, lieber Gerechtigkeit in der Seele als Reichtum unter meinen äußeren Gütern zu besitzen. Mit diesen Überlegungen löst der Gesetzgeber die Fokussierung auf den konkreten Schatz und stellt den größeren Zusammenhang vor Augen. Die Formulierung macht dabei deutlich, dass der Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt noch nicht davon ausgeht, den Adressaten überzeugt zu haben: Das ganze Satzgefüge ist im Irrealis und gibt dem Bürger das Gefühl, dass er selbst die zur Verfügung stehenden Alternativen abwägt. Gegenübergestellt wird der materielle dem geistigen Gewinn: Natürlich könnte ich den Schatz heben und mich über mein gewachsenes Vermögen freuen. Aber ist das tatsächlich so erstrebenswert, wo ich doch jetzt einsehe, dass ich stattdessen einen besseren Gewinn hätte davontragen können? Die Abwägung vollzieht dabei die Loslösung vom Konkreten zum Allgemeinen: Nicht nur dieses eine Mal, sondern „niemals“ (οὐ γάρ ποτε, Ⅺ 913b3–4) würde ich durch die Aneignung eines Schatzes in materieller Hinsicht so sehr profitieren wie ich an Würde und Gerechtigkeit gewönne, wenn ich den Schatz nicht höbe. Die Verallgemeinerung verdeutlicht, dass nicht die Größe des jeweiligen Schatzes entscheidend ist, sondern dass es sich um inkommensurable Güter handelt: In keinem Fall könnte ein materieller Gewinn der angemessenen Wertschätzung der Seele gleichkommen. Es geht dem Athenischen Fremden folglich darum, dem Bürger „in einem quantitativen Kalkül“ den Wert der Seele schmackhaft zu machen (Schöpsdau 2011, 460) und ihn für den kategorisch unterschiedlichen Wert äußerer und seelischer Güter zu sensibilisieren. Der oben skizzierte Zusammenhang zur Generalansprache wird an dieser Stelle vollends sichtbar: Die Seele muss allen anderen Gütern vorgezogen werden, und der mögliche Schatzfund ist eine Illustration aus dem alltäglichen Leben für diese abstrakte Forderung; entscheidend ist also weniger der Schatz an sich, sondern die grundsätzliche Haltung der Bürger zur Güterordnung in Magnesia.

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Die Priorität geistiger Güter wird in dem folgenden Satz geradezu gnomenhaft zusammengefasst (Ⅺ 913b6–7): κτῆμα ἀντὶ κτήματος ἄμεινον ἐν ἀμεί​νονι κτησάμενος. 73 Nicht nur die Kürze, sondern auch die stilistische Gestaltung sollen eine gute Memorierbarkeit ermöglichen. 74 Die Wortstellung kontrastiert den einen (materiellen) mit dem anderen (geistigen) „Besitz“, und „das Bessere“ (ἄμεινον) – die Tugend – ist so sehr in die Nähe des „besseren Teils“ (ἐν ἀμείνονι) gerückt, dass es geradezu als dessen spezifisches Charakteristikum verstanden werden kann. 75 Möglich ist diese prägnante Gegenüberstellung nur, weil der Athenische Fremde im zweiten Teil der Generalansprache die Seele des Menschen als dessen wichtigstes Besitzstück (κτῆμα, ktéma) eingeführt hatte (s. S. 54–57). Dadurch kann er an dieser Stelle mit einer äußerst griffigen Formulierung zum einen auf die Diskussion um die Selbstbeherrschung verweisen, die in den Nomoi seit dem Ersten Buch wiederholt geführt wird. 76 Zum anderen ist damit natürlich aber auch die übergeordnete Frage verbunden, was eine Gesetzgebung sinnvollerweise fördern muss, wenn ihr Ziel das Glück der Bürger ist. In Kapitel Ⅲ ist die Antwort auf diese Frage im Detail herausgearbeitet worden: Es ist der Erwerb der gesamten Tugend und insbesondere der Tugend der Besonnenheit, für den die angemessene Ehrung der Seele die unerlässliche Voraussetzung ist. Im Hinblick auf die Art und Weise der Implementierung der Regel begegnet uns hier dasselbe Phänomen wie im ersten untersuchten Vorwort: Die gedrängten Formulierungen können nicht als sachlich-argumentative Begründung gelten, weil sie keine Beweiskraft haben. 77 Zwar wird dem Bürger in Aussicht gestellt, dass er mit dem gewünschten Verhalten Tugend und Gerechtigkeit und damit etwas grundsätzlich Besseres als materiellen Wohlstand erwirbt, aber auch hier wird keine eigenständige Begründung geliefert, sondern mit den positiven Konnotationen der Begriffe Gerechtigkeit und Tugend gearbeitet. Es handelt sich damit eher um eine Erinnerung und Aufmunterung, sich an die Werteordnung Magnesias zu halten – wobei durch die offensichtlichen Anspielungen deutlich gemacht wird, wo diese Werteordnung im Detail entwickelt wird. Doch haben wir bereits gesehen, dass dem Athener die Methode nach eigener Auskunft gleichgültig ist – für ihn ist entscheidend, dass sich die Bürger seine Überzeugung zu eigen machen und der Werteordnung bereitwillig folgen. Das maßgebliche Mittel dafür ist bis zu diesem Punkt im Vorwort die schon angesprochene literarische Gestaltung: Am Ende dieses Abschnitts hat der Bürger das Gefühl gewonnen, dass er selbst es vorgezogen hat, „eher

73 „Ich hätte mir nämlich statt des einen Besitztums ein (anderes,) besseres Besitztum in einem besseren Teil (meiner selbst) erworben.“ 74 So wie es der Athenische Fremde für die Vorworte gefordert hatte, s. Ⅳ 723c1–d4. 75 Der „bessere Teil“ der Seele spielt sehr wahrscheinlich auf die Dreiteilung der Seele an (s. Anm. 107 auf S. 55); mit ihm ist derjenige Teil gemeint (das Logistikon), dem das Denken und die Kontrolle der anderen beiden Seelenteile zukommt. 76 Im Ersten Buch ist sie mit der Forderung des Kleinias angestoßen worden, dass sich der Mensch selbst besiegen müsse, s. S. 21 mit Anm. 9. 77 Auch in diesem Vorwort wird also nur ein Meinungswissen (dóxa) vermittelt, vgl. Anm. 9 auf S. 68f. und Anm. 48 auf S. 94.

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Gerechtigkeit in der Seele als Reichtum in materieller Hinsicht zu erwerben“. 78 Durch den Subjektwechsel und das damit initiierte Gespräch des Adressaten mit sich selbst kann der Gesetzgeber ein autoritäres Auftreten vermeiden und in den Hintergrund treten. Stattdessen ist der Bürger selbst in einem angeleiteten Reflexionsprozess zu der aus Sicht des Gesetzgebers richtigen Entscheidung geführt worden. Aus dieser Perspektive ist die defizitäre Begründung kein Manko mehr, sondern Zeichen einer geschickten rhetorischen Strategie. Die pointierten und normativen Formulierungen führen den Bürger zu dem Schluss, dass er sich für das Bessere entscheiden würde – und niemand wird hinterfragen, warum er das Bessere nicht auch tun sollte. Komplizierte Begründungszusammenhänge würden diesen unmittelbaren Effekt abschwächen und wären daher in diesem Zusammenhang nicht zielführend. Im Ergebnis handelt der Bürger nicht aus Zwang, sondern auf Basis eines extern vermittelten Wissens, das er verinnerlichen soll. Auch in diesem Vorwort steht also nicht die Erkenntnis als solche im Vordergrund, sondern ihre rhetorische Vermittlung mit dem Ziel, dass die Bürger situationsangemessen und im Sinne der Tugend handeln können. 79 Wie auch schon im vorherigen Vorwort dienen die Anspielungen insbesondere auf die Generalansprache nicht nur der Einbettung und Verankerung einer Einzelregelung, sondern fungieren auch als Verdeutlichung des übergeordneten kulturellen Rahmens. Das ist deswegen wichtig, weil auch bei dieser Regel keine Überwachung durch andere Akteure vorgesehen ist; bei dem Vorwort handelt es sich demnach ebenfalls um eine ethische Regel. Die Einhaltung der Regel, einen Schatz nicht zu heben, obliegt damit dem Bürger selbst. Das Vorwort gibt dabei aufschlussreiche Hinweise darauf, auf welcher Grundlage der Bürger die Regel nach Vorstellung des Atheners überwacht. Wir haben oben festgehalten, dass eine wissensbasierte Überzeugung die zuverlässigste Motivation darstellt, um sich für diejenige Handlungsalternative zu entscheiden, die zwar einen Verzicht auf eine gegenwärtige Freude bedeutet, dafür aber den Weg für ein langfristiges Glück ebnet (s. S. 86). Der Gesetzgeber sollte demnach darum bemüht sein, dem Bürger Wissen zu vermitteln, auf dessen Grundlage er frei entscheiden kann. Doch davon ist auch in diesem Vorwort nur in sehr eingeschränkter Weise etwas zu bemerken: Die rhetorische Strategie, die hier zur Anwendung kommt, spricht vielmehr dafür, dass der Athenische Fremde das kulturelle und ethische Fundament nicht für stark genug hält, dem Bürger in einer solchen Situation zur richtigen Entscheidung zu verhelfen – wäre es nämlich stark genug, wäre eine solche Strategie nicht nötig. Andererseits wäre es im Zusammenhang der Nomoi auch verfehlt, einen starken Wissensbegriff zugrundezulegen und eine Wissensvermittlung zu erwarten, die den Bürger in einen Philosophen verwandelt, der sich stets und zuverlässig richtig entscheidet. Stattdessen sollte die auch in diesem Vorwort offensichtliche Bemühung des Athenischen Fremden gewürdigt werden, nicht lediglich losgelöste Ver- und Gebote zu erteilen, sondern Handlungsempfehlungen, die zwar im Vorwort selbst nicht explizit begründet werden, aber in den großen Kontext der Gesetzgebung 78 δίκην ἐν τῇ ψυχῇ πλούτου προτιμήσας ἐν οὐσίᾳ κεκτῆσϑαι πρότερον, Ⅺ 913b7–8. 79 Diese Interpretation bestätigt damit die Einschätzung zur Rolle der Rhetorik in den Nomoi durch Mesch (2003) und Föllinger (2018), vgl. Anm. 9 auf S. 68f.

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eingebettet und auf sie bezogen sind. Die Erinnerung an die gemeinsamen Werte der Polis und die Verweise auf jene Stellen, an denen diese Werte entwickelt werden, sind dafür eine wichtige Unterstützung, weil der gewöhnliche Bürger aufgrund der Schwäche der menschlichen Natur 80 nicht dazu in der Lage ist, seine materiellen Begierden ohne fremde Hilfe zu kontrollieren. Gerade in einer konkreten Situation, in der man sich aktiv gegen diese Begierden entscheiden muss, bieten diese Verweise dem Bürger die Gelegenheit, den Sinn und Zweck der Regeln zu erkennen und sie erfolgreich anzuwenden. Insofern kann durchaus davon gesprochen werden, dass der Athenische Fremde großen Wert auf eine wissensbasierte Überzeugung legt – allerdings ist dieses Wissen nicht fest im Einzelnen verankert, sondern in der Gesetzgebung, sodass immer wieder darauf verwiesen werden muss. 81 Der Bürger hat durch diese Weise der Implementierung wenigstens die Möglichkeit, sein Wissen in einer konkreten Situation zu aktualisieren und durch die Befolgung der Gesetze richtiges Verhalten zu habitualisieren. Um den Bürger zum gewünschten Verhalten zu bewegen, greift der Athener auch in diesem Vorwort auf weitere Mittel zurück. Gerade im Zusammenhang mit den materiellen Begierden kann sich der Gesetzgeber nicht darauf verlassen, dass sich der Bürger allein durch eine ethische Abwägung vom richtigen Handeln überzeugen lässt, sodass er die Regel noch um zusätzliche Aspekte erweitert (Ⅺ 913b8–d3): ἐπὶ πολλοῖς γὰρ δὴ λεγόμενον εὖ τὸ μὴ κινεῖν τὰ ἀκίνητα καὶ περὶ τούτου λέγοιτ’ ἂν ὡς ἑνὸς ἐκείνων ὄντος. πείϑεσϑαι δὲ χρὴ καὶ τοῖς περὶ ταῦτα λεγομένοις μύϑοις, ὡς εἰς παίδων γενεὰν οὐ σύμφορα τὰ τοιαῦτα· ὃς δ’ ἂν παίδων τε ἀκηδὴς γένηται καί, τοῦ ϑέντος τὸν νόμον ἀμελήσας, ἃ μήτε αὐτὸς κατέϑετο μήτε αὖ πατέρων τις πατήρ, μὴ πείσας τὸν ϑέμενον ἀνέληται, κάλλιστον νόμων διαφϑείρων, ἁπλούστατον καὶ οὐδαμῇ ἀγεννοῦς ἀνδρὸς νομοϑέτημα, ὃς εἶπεν· Ἃ μὴ κατέϑου, μὴ ἀνέλῃ – τούτοιν τοῖν δυοῖν νομοϑέταιν καταφρονήσαντα καὶ ἀνελόμενον, οὔτι σμικρόν, ὃ μὴ κατέϑετο αὐτός, πλῆϑος δ’ ἔστιν ὅτε ϑησαυροῦ παμμέγεϑες, τί χρὴ πάσχειν; Denn der in vielen Fällen treffend angeführte Spruch, daß man das Unverrückbare nicht verrücken soll, gilt wohl auch hier, da dies einer von jenen Fällen ist. Auch soll man den hierüber erzählten Sagen glauben, daß so etwas für die Nachkommenschaft keinen Segen bringt. Wer aber nicht an seine Kinder denkt und ohne sich um den zu kümmern, der das Gesetz gab, etwas, das weder er selbst noch einer seiner Vorfahren niedergelegt hat, wegnimmt ohne die Zustimmung dessen, der es niedergelegt hat, und der dadurch das schönste Gesetz untergräbt, die so überaus einfache und von einem keineswegs unedlen Mann stammende Anordnung, der gesagt hat: Was du nicht niedergelegt hast, das nimm auch nicht weg! – wer 80 Zur Schwäche der menschlichen Natur s. die Erörterungen zur Notwendigkeit eines Maßes in Kap. III.1 und zur Pleonexia auf S. 87f. 81 Das ist deswegen unbedenklich, weil die Gesetzgeber durch ihre Ausbildung und ihr Expertenwissen die Verankerung des Gesetzes in der göttlichen Vernunft und damit die Förderung des Wohles aller sicherstellen, vgl. Anm. 39 auf S. 34.

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also diese beiden Gesetzgeber mißachtet und etwas wegnimmt, das er nicht selbst niedergelegt hat, und zwar keineswegs immer eine Kleinigkeit, sondern bisweilen einen sehr großen Schatz: was soll der erleiden? Beachtenswert ist der zweifache Wechsel: Der Athenische Fremde versucht nun, mit allgemeinen Grundsätzen religiöser und philosophischer Art sowie der Autorität des Gesetzgebers auf den Adressaten einzuwirken. Das Selbstgespräch des Bürgers ist damit beendet – und damit verbunden ist auch eine Änderung des Modus: War der Gesetzgeber im vorherigen Abschnitt darum bemüht, den Bürger aktiv in den Erkenntnisprozess einzubinden, kann man diesen Teil eher als einen Versuch der Einschüchterung betrachten. 82 Wie schon im vorherigen Abschnitt wird betont, dass diese einzelne Situation in einem größeren Zusammenhang steht und daher der Grundsatz gilt: τὸ μὴ κινεῖν τὰ ἀκίνητα. Diese Forderung, das Unbewegbare/Unantastbare nicht zu bewegen/anzutasten, kommt hier bereits das vierte Mal in den Nomoi vor, 83 was eine Verwendung als leicht einzuprägende allgemeine Verhaltensnorm nahe legt – allerdings mit dem Unterschied, dass diese Norm nicht das Ergebnis eigener Reflexion ist, sondern von außen mit dem Ziel vorgegeben wird, als ungeschriebenes Gesetz den gemeinsamen politischen Bezugsrahmen herzustellen. Bei diesem Prozess kommt der Maxime ihr religiöser Ursprung zugute, 84 der dem Bürger den übergeordneten Zusammenhang verdeutlicht: Wer Teil einer Gemeinschaft sein will, sollte auch deren gemeinsame Regeln befolgen. Der nächste Schritt operiert ebenfalls mit diesem gemeinsamen Bezugsrahmen, indem er auf die „sogenannten Mythen“ verweist, die solche Themen behandeln und erkennen lassen, dass ein solches Verhalten der eigenen Nachkommenschaft nicht zuträglich sei. Die Mythen sind kulturelles Allgemeingut und gerade in Magnesia integraler Bestandteil der Erziehung, 85 sodass sich der Gesetzgeber sicher sein kann, auch mit einer derart oberflächlichen und allgemeinen Anspielung entsprechende Beispiele wachzurufen. 86 82 Aus diesem Grund werden die Vorworte in der Forschung teilweise sehr kritisch gesehen, vgl. S. 69f. 83 Die vorherigen Stellen sind Ⅲ 684e1: Auf den Versuch eines Gesetzgebers, den Grundbesitz zu verändern und die Schulden zu tilgen (ἐάν τις ζητῇ γῆς τε κτῆσιν κινεῖν καὶ χρεῶν διάλυσιν) würde ihm jedermann diese Wendung entgegnen; Ⅴ 736d1: Derselbe Zusammenhang, erweitert um Verteilung des Eigentums; Ⅷ 843a1: s. Anm. 72 auf S. 103. 84 S. Schöpsdau (1994, 394) in Bezug auf Ⅲ 684e1: „Bei der sprichwörtlich gewordenen Formel handelt es sich ursprünglich um ein religiöses Verbot, das sich wohl auf Gräber oder Altäre bezog, die als ἀκίνητα galten […].“ 85 Im Vorwort zum Asebie-Gesetz unterstreicht der Athenische Fremde die Bedeutung der gemeinsamen Sagen, die Teil der ungeschriebenen Satzungen sind (s. S. 82f.); die Bürger sollen die Sagen von frühester Kindheit an von Ammen und Müttern erzählt bekommen und sie in den Opfern, Gebeten und Schauspielen erleben (Ⅹ 887c8–d7). Aufgrund dieser Bedeutung muss der Gesetzgeber darauf achten, dass die Sagen keine zweifelhaften Inhalte haben und muss sie ggf. richtigstellen oder korrigieren, vgl. Anm. 97 auf S. 51 für Beispiele. 86 Allerdings sind uns offenbar keine Mythen überliefert, in denen jemand durch die Aneignung eines Schatzes Schuld auf sich geladen hat, die erst die nachfolgende Generation gesühnt hat. Schöpsdau (2011, 460) fasst die Anspielung folglich auch allgemein auf: „Die Auffassung, daß die göttliche Strafe für Vergehen der Väter oft erst deren Kinder trifft, bezeugen z. B. Homer, Il. 4, 160–162;

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Eine zu konkrete Anspielung würde außerdem die individuelle Assoziation der Bürger untergraben: Je unbestimmter und offener solche Anspielungen sind, desto effektiver sind sie, weil sie dann leichter ein unangenehm diffuses Gefühl hervorrufen als eine konkrete Vorstellung, bei der sich womöglich herausstellt, dass sie eigentlich unzutreffend ist. Der Verweis auf die mythologischen Präzedenzfälle dient aber nur als Vorbereitung für den nächsten Schritt, der die suggestive Kraft erst gänzlich freisetzt: Der kurze Satz „Wer aber nicht an seine Kinder denkt“ 87 macht aus dem scheinbar harmlosen Vorhaben, einen gefundenen Schatz zu heben, ein gravierendes Delikt. Für gewöhnlich würde man wahrscheinlich niemandem vorwerfen, dass er durch die Aneignung eines Schatzes seine Kinder vernachlässigt – dem Athener gelingt aber genau das in zwei Schritten: Zuerst macht er aus einem konkreten Schatzfund erst die Hoffnung auf einen Schatz und dann allgemein die Bemühung um Reichtum; dann lässt er durch die Rückbindung an die Werteordnung Magnesias eben diese Bemühung als typisch für einen verwerflichen Menschen erscheinen, der den eigenen Gewinn sogar über das Wohl seiner Familie und der ganzen Gemeinschaft stellt. Auch die letzte Warnung dient dazu, den Druck auf den Bürger zu erhöhen: „Was du nicht niedergelegt hast, das nimm auch nicht weg!“ 88 Wieder handelt es sich um eine leicht einzuprägende Maxime, die dem hoch angesehenen Gesetzgeber Solon zugesprochen wurde, 89 sodass die Forderungen des Gesetzes durch dessen Autorität noch mehr Gewicht bekommen und damit sogar zwei Gesetzgeber im Spiel sind. 90 Nachdem auf individueller und gesellschaftlicher Ebene die möglichen Konsequenzen bei Ungehorsam ausgeführt worden sind, leitet der Athener noch im Vorwort zur Bestrafung über: Wenn ungeachtet dieser Erwägungen und Forderungen des Gesetzgebers jemand einen Schatz höbe, gleich ob klein oder groß, was solle der erleiden? Die prominente Position dieser Frage ganz am Schluss des Satzes nach Rekapitulation des ganzen Zusammenhangs könnte dabei die Hoffnung des Atheners ausdrücken, dass seine Überzeugungsstrategie erfolgreich war und die Ausformulierung der Strafen gar nicht mehr nötig sei. Tatsächlich überlässt er die Bestrafung dem Orakel von Delphi: Sobald die Straftat angezeigt worden ist, soll der Staat nach Delphi schicken und den Orakelspruch durchsetzen, was immer er fordere (Ⅺ 914a2–5). Die Einschaltung des Orakels dürfte aber weniger von einer besonderen Reverenz an Apoll oder die Institutionen der Volksreligion

87 88 89

90

Hesiod, Erga 230–235, 282–285, 321–326; Theognis 197–208; Solon Fr. 13, 25 ff. West; Belege aus den Rednern bietet Dover 1974, 260 ff.“ ὃς δ’ ἂν παίδων τε ἀκηδὴς γένηται, Ⅺ 913c3. Ἃ μὴ κατέϑου, μὴ ἀνέλῃ, Ⅺ 913c7–d1. S. Schöpsdau (2011, 228) für eine umfassende Diskussion über die Urheberschaft dieses Ausspruchs (im Zusammenhang mit dem ersten Auftreten dieser Formel in Ⅷ 844e5–845a1); Diogenes Laertios zitiert Platons verkürzte Wiedergabe vollständig und gibt als Urheber Solon an, wohingegen die Forschung mittlerweile die Ansicht vertritt, dass das Gesetz auf Charondas zurückgeht. Die Zuweisung ist allerdings nicht eindeutig (s. Schöpsdau 2011, 460); die beiden Gesetzgeber sind entweder Solon (als Urheber der letzten Maxime in 913c7–d1) und der Autor der Äußerung in 913b9 (τὸ μὴ κινεῖν τὰ ἀκίνητα) oder Solon und der Athenische Fremde als Gesetzgeber dieses Vorworts.

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überhaupt zeugen, sondern eher darauf zurückzuführen sein, dass ein Schatz Teil des heiligen Bodens ist (s. S. 88) und eine Aneignung folglich ein sakrales Delikt darstellt. 91 Wäre der Stellenwert der Volksreligion tatsächlich so hoch wie von einigen behauptet (s. Kap. II), hätte man gerade an dieser Stelle mehr als diese oberflächliche Bemerkung erwarten können – etwa indem der Athener eine besondere Ehrerbietung gegenüber den pythischen Weisungen einfordert oder eine Verbindung zum vermeintlich zentralen ApollonHelios-Kult zieht und dessen Bedeutung unterstreicht. Angesichts des sorgfältig ausgearbeiteten Vorworts ist es jedenfalls auffällig, dass die Aspekte der Volksreligion (Mythen und delphisches Orakel) nur einen geringen Anteil an der vielfältigen und komplexen Überzeugungsstrategie haben, deren eigentliche Kraft in der literarischen Gestaltung und Vergegenwärtigung des moralisch-kulturellen Fundaments der Polis liegt. Diese Vergegenwärtigung hat zwei Seiten, wie wir bereits im Vorwort zum Ehegesetz gesehen haben: Zum einen soll sie den Wunsch und Willen beim Bürger wecken, den Werten der Gemeinschaft gerecht zu werden; zum anderen kann sie auch erheblichen sozialen Druck auslösen. Durch diese indirekte Sanktion kann der potentielle Delinquent als rücksichtsloser Außenseiter der religiösen, kulturellen und politischen Gemeinschaft stigmatisiert werden – denn nur einem solchen könnten die gemeinsamen, ein friedvolles Miteinander in der Polis ermöglichenden Vorschriften gänzlich gleichgültig sein. Wer dagegen Teil der Gemeinschaft sein möchte, sollte sich besser fügen und den Anweisungen des Gesetzes Folge leisten. Die Gestaltung des Vorworts könnte darauf hindeuten, dass der Athener den ethischen Gesichtspunkten das größere Gewicht beimisst und die peithó vor allem mit ihrer Hilfe erzielen will – denn diese befinden sich im ersten und sorgfältiger ausgearbeiteten Teil des Vorworts. Für den Fall jedoch, dass sich der Bürger davon nicht überzeugen lässt, setzt er im zweiten Teil zusätzlich auf Einschüchterung durch Autoritäten.

V.3.3 Testament Das letzte Vorwort, das wir im Hinblick auf die Abhängigkeit konkreter Institutionen von der übergeordneten kulturellen Ebene und die Implementierung der Regel genauer untersuchen wollen, findet sich im Elften Buch und betrifft das Testamentrecht. 92 Um die Regelungen des Athenischen Fremden richtig einordnen zu können, muss man vor allem eines wissen: 93 Im frühesten Erbrecht Griechenlands gab es nur die sogenannte 91 Vgl. Schöpsdau (2011, 459f.). 92 Bevor Yunis (1996) die Eigenschaften einer Predigt an der Generalansprache ermittelt (s. S. 37), zitiert er das Vorwort zum Testament (229), dessen väterlichen Ton und autoritären Charakter er hervorhebt, ohne auf Details einzugehen; Föllinger geht in ihrer Untersuchung des Vorworts besonders auf die rhetorische Gestaltung ein, die dem Zweck diene, die Bürger wohlwollend zu stimmen (Föllinger 2018, 142–144). 93 Schöpsdau (2011, 481f.) informiert umfassend über die Details des positiven Rechts und gibt ausführliche Literaturhinweise.

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Intestat-Erbfolge, nach der ausschließlich die legitimen Söhne des Verstorbenen das Erbe antreten durften. 94 Allerdings wurde wahrscheinlich schon im 6. Jh. v. Chr. die TestatErbfolge eingeführt, die dem Vater einen deutlich größeren Spielraum bei der Verteilung seines Erbes ermöglichte, sofern folgende Bedingungen erfüllt waren: 1) Ein Erbeinsetzungstestament darf nur beim Fehlen leiblicher Söhne abgefaßt werden; 2) Adoptivsöhne dürfen nicht testieren; 3) Willensmängel seitens des Testierenden wie körperliche oder geistige Krankheit, Alter, Beeinflussung durch eine Frau, Zwang […] machen das Testament ungültig. (Schöpsdau 2011, 482) Nun könnte man zwar einwenden, dass zumindest die erste Bedingung diesen Spielraum durchaus nicht unerheblich einschränkt, aber nichtsdestoweniger tadelt der Athenische Fremde in seinem Vorwort die früheren Gesetzgeber dafür, dass sie zu weich gewesen seien (Ⅺ 922e1): Aus Angst vor dem Zorn und Starrsinn alter Menschen hätten sich die Gesetzgeber ihre Aufgabe zu leicht gemacht und es dem Erblasser ermöglicht, „ohne Einschränkung über sein Eigentum ganz nach Belieben zu verfügen“. 95 Doch auch wenn der Athener sichtlich unzufrieden mit der Nachlässigkeit früherer Gesetzgeber ist, offenbart sich als eigentliche und tiefere Ursache des Problems die Gesinnung der Menschen. Im Kern geht es also auch in diesem Vorwort darum, die Haltung und Einstellung der Bevölkerung zu einem bestimmten Sachverhalt ändern zu wollen. In diesem Fall ist das sogar besonders schwierig, weil sich Menschen kurz vor dem Tod in einem „unvernünftigen und gewissermaßen zerrütteten Zustand“ befänden. 96 Dieser Zustand hängt damit zusammen, dass man im hohen Alter darum bemüht sei, über alles selbst zu entscheiden (Ⅺ 922d1). Der Athener legt einem solchen Menschen folgende Rede in den Mund, die voller Aufregung vorzutragen gepflegt werde (Ⅺ 922d4–8): δεινόν γε, ὦ ϑεοί, φησίν, εἰ τὰ ἐμὰ ἐμοὶ μηδαμῶς ἐξέσται δοῦναί τε ὅτῳ ἂν ἐϑέλω καὶ μή, καὶ τῷ μὲν πλείω, τῷ δ᾽ ἐλάττονα, τῶν ὁπόσοι περὶ ἐμὲ φαῦλοι καὶ ὅσοι ἀγαϑοὶ γεγόνασιν φανερῶς, βασανισϑέντες ἱκανῶς ἐν νόσοις, οἱ δ᾽ ἐν γήρᾳ καὶ ἄλλαις παντοίαισι τύχαις. „Es ist doch schrecklich, ihr Götter“, ruft er aus, „wenn es mir nicht gestattet sein soll, das, was mir gehört, nach Belieben jemandem zu geben oder nicht und dem einen mehr, dem andern weniger, je nachdem sie sich mir gegenüber als schlecht oder als gut erzeigt haben, wofür sie mir ja hinlängliche Proben abgelegt haben bei Krankheiten, andere auch in meinem Alter und bei mancherlei sonstigen Schicksalsfügungen.“

94 Schöpsdau (2011, 482). 95 τὰ ἑαυτοῦ διατίϑεσϑαι ἁπλῶς ὅπως ἄν τις ἐϑέλῃ τὸ παράπαν, Ⅺ 922e5–923a1. 96 ἀνοήτως γὰρ δὴ καὶ διατεϑρυμμένως τινὰ τρόπον ἔχομεν οἱ πλεῖστοι, ὅταν ἤδη μέλλειν ἡγώμεϑα τελευτᾶν, Ⅺ 922c3–5.

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In diesem fingierten Ausruf wird das zentrale Problem deutlich, auf das der Athenische Fremde in den Nomoi unermüdlich aufmerksam macht und in dem er das entscheidende Hindernis für eine gerechte Gesellschaft sieht: Die Fixierung auf die eigene Person und die damit verbundene Konsequenz, die eigene Perspektive und vor allem den eigenen Vorteil zum Maß aller Dinge zu erheben. Nach Meinung des alten Mannes steht ausschließlich ihm selbst die Entscheidung darüber zu, wem er welchen Anteil seines Erbes zuteilen darf, weil nur er selbst auf Basis der erfahrenen Wohltaten respektive des erlittenen Unrechts durch seine Söhne eine Grundlage für diese Entscheidung habe. Die griechische Formulierung unterstreicht die Perspektive der ersten Person: Der Mann spricht nicht von Besitz (χρήματα, chrémata) oder Vermögen (οὐσία, ousía), sondern in gedrängter Form von τὰ ἐμά (tá emá, Ⅺ 922d4): „Das Meinige“ oder „das, was mir gehört“. Im Griechischen folgt unmittelbar darauf erneut die erste Person mit ἐμοί (emoí, ebd.); um diese Verstärkung auch im Deutschen nicht zu verlieren, sollte man besser übersetzen (Ⅺ 922d4–5): δεινόν γε, ὦ ϑεοί, φησίν, εἰ τὰ ἐμὰ ἐμοὶ μηδαμῶς ἐξέσται δοῦναί τε ὅτῳ ἂν ἐϑέλω καὶ μή […]. „Grausam ist es doch, ihr Götter“, ruft er aus, „wenn nicht mir das Meinige zu geben gestattet sein soll, wie und wem auch immer ich es geben will oder auch nicht […].“ Ohne die Berücksichtigung dieser stilistischen Feinheiten wird der Kontrast zur vorgeschlagenen Regelung in Magnesia verwischt – denn der Athenische Fremde hat sein Vorwort auf die Frage zugespitzt, wem das Testament eigentlich nützen soll, und dafür sollte im Vorfeld die ursprüngliche Regelung, die dem Testierenden größte Freiheit gelassen hat, so deutlich wie möglich herausgestellt werden. Im Gegensatz zur Regelung der früheren Gesetzgeber, die den zornigen Reden nachgegeben hätten, will der Athener eine „etwas wohlklingendere“ Antwort an die Betroffenen richten; im Griechischen steht ἐμμελέστερόν πως (emmelésterón pos, Ⅺ 923a2), das äußerst ambivalent ist – nicht nur in seiner Bedeutung, 97 sondern auch in seinem Bezug. Eine Variante wäre „etwas vernünftiger“, womit die Antwort des Atheners den Vergleich zur Regelung der früheren Gesetzgeber in den Vordergrund rückt; Schöpsdau scheint mit seiner Übersetzung „wohlklingender“ den Ausruf der alten Menschen kontrastieren zu wollen, die „mit Zorn“ gesprochen haben (Ⅺ 922d1). Ich halte es hingegen nicht für unwahrscheinlich, dass sich der Athener selbst zitiert und damit bereits den inhaltlichen Kern seines Vorworts andeutet: Im Sechsten Buch hatte er nämlich die Frage gestellt, welcher Besitz für die Bürger Magnesias am angemessensten sei (ἐμμελεστάτην οὐσίαν, Ⅵ 97 Die Grundbedeutung ist „harmonisch“ und leitet sich von μέλος (mélos) her, das „Lied“ oder „Melodie“ bedeutet (s. LSJ, s. v. ἐμμελής, I); das Harmonische bzw. Angemessene oder Maßvolle als dessen Ursache dient als vielfältige Metapher für Beschreibungen von Personen, Gegenständen und Verhältnissen (s. LSJ, s. v. ἐμμελής, II).

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776b5–6) – und mit der Verwendung eben dieses Wortes kann er subtil darauf hinweisen, dass er in seinem Vorwort eine Regelung vorschlagen wird, die um eine „maßvolle“ und damit „angemessene“ Verteilung des Besitzes bemüht ist. Doch kann man diese Ambivalenz, die in der griechischen Formulierung steckt, im Deutschen nicht wiedergeben, sondern muss sich für eine Variante entscheiden – und wenn man den Anfang des Vorworts liest, empfiehlt sich tatsächlich der Vorschlag von Schöpsdau (Ⅺ 923a2–5): ὦ φίλοι, φήσομεν, καὶ ἀτεχνῶς ἐφήμεροι, χαλεπὸν ὑμῖν ἐστιν γιγνώσκειν τὰ ὑμέτερ᾽ αὐτῶν χρήματα καὶ πρός γε ὑμᾶς αὐτούς, ὥσπερ καὶ τὸ τῆς Πυϑίας γράμμα φράζει, τὰ νῦν. „Liebe Freunde“, wollen wir sagen, „die ihr buchstäblich Eintagsgeschöpfe seid, euch fällt es in eurer jetzigen Lage schwer, euren eigenen Besitz recht zu erkennen und noch dazu euch selbst, wie dies auch die Inschrift der Pythia fordert.“ Auch hier fällt der Balanceakt des Athenischen Fremden auf, im Ton die richtige Mischung aus Freundlichkeit und Verbindlichkeit zu finden: Einerseits lässt er die Erkenntnisfähigkeit der Menschen im Hinblick auf ihren Besitz und sich selbst in keinem guten Licht erscheinen, andererseits entschuldigt er die Menschen im selben Atemzug dafür mit den erschwerten Umständen 98 – die er äußerst prominent am Ende des Satzes hervorhebt (τὰ νῦν, Ⅺ 923a5). Doch immerhin suggeriert die Betonung dieser Umstände, dass die Menschen grundsätzlich durchaus in der Lage wären, ihren Besitz und sich selbst zu erkennen – wenn sie nur ihre Überzeugungen fahren lassen könnten, dass sie selbst das Maß aller Dinge und dass Besitztümer das Wichtigste im Leben sind. Das Vorwort erweitert diese seit der Generalansprache bekannte Botschaft um eine weitere, besonders pointierte Variante. Wenden wir uns den Details dieses ersten Abschnitts zu. Das auffälligste Wort ist ohne Zweifel das poetische ἐφήμεροι (ephémeroi, Ⅺ 923a2), 99 das Schöpsdau treffend mit „Eintagsgeschöpfe“ wiedergibt. Diese in der Dichtung geläufige Vokabel bezeichnet ursprünglich Dinge, die entweder tagsüber geschehen oder nur einen Tag dauern. 100 In der Lyrik wird das Wort gerne benutzt, um auf die kurze Lebensspanne des Menschen hinzuweisen, 101 sodass mit dem Wort auch die Menschen an sich bezeichnet werden können. Mit der Verwendung an dieser Stelle dürfte der Athener allerdings noch weiter zielen und dafür eine Passage aus dem Gefesselten Prometheus als Vorbild gehabt haben. Dort wird nicht nur die kurze Lebensspanne des Menschen

98 Vgl. Föllinger (2018, 143), die diesen Aspekt ebenfalls hervorhebt, s. auch die folg. Anm. 99 Föllinger (2018, 143) interpretiert die Verwendung dieses poetischen Topos so, dass die individuelle Situation auf die Ebene allgemein menschlicher Sterblichkeit gehoben wird; dadurch werde verhindert, dass der Adressat das folgende Gesetz als Angriff auf seine eigene Person werte. 100 Beispiele hierfür wären etwa Homer, Odyssee 4, 223 oder Odyssee 21, 85. 101 Etwa Simonides, Fr. 1, 3–4, Theognis, 656 oder Pindar, Achte Pythische Ode, 95f.

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betont, sondern auch und gerade die daraus resultierende Schwäche und Unterlegenheit des Menschen gegenüber den Göttern (Aischylos, Der gefesselte Prometheus, 546–551): 102 [Xo.] εἰπὲ ποῦ τίς ἀλκά; τίς ἐφαμερίων ἄρηξις; οὐδ᾽ ἐδέρχϑης ὀλιγοδρανίαν ἄκικυν, ἰσόνειρον, αἷ τὸ φωτῶν ἀλαὸν γένος ἐμπεποδισμένον; οὔποτε τὰν Διὸς ἁρμονίαν ϑνατῶν παρεξίασι βουλαί. [Chor] Sprich, wo bleibt die Hilfe? Wer von den Eintagsgeschöpfen leistet Beistand? Sahest du nicht die kraftlose Ohnmacht, die so schwach wie ein Traum ist, die Ohnmacht, die das blinde Geschlecht der Sterblichen hemmt? Niemals werden die Wünsche der Menschen die von Zeus errichtete Ordnung verletzen!

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Unabhängig vom weiteren Kontext ist ganz deutlich, dass in dieser Äußerung des Chors die Hybris des Menschen kritisiert wird und implizit die Aufforderung ergeht, die Grenzen menschlicher Vermögen und Kräfte richtig einzuschätzen. Just diesen Aspekt führt der Athenische Fremde aus, indem er die Inschrift der Pythia ins Spiel bringt und damit der gewöhnlichen Erkenntnisweise der Menschen eine göttlich inspirierte gegenüberstellt. Mit der Aufforderung, sich selbst zu erkennen, ist zuallererst die Aufforderung verbunden zu erkennen, was man nicht ist – und genau diese Unterscheidung bereitet der Athener im zitierten Abschnitt bereits vor. Während der zornige Alte nur seinen Besitz im Sinn hat, den er so sehr an seine Person bindet, dass Besitz und Person eine Einheit zu bilden scheinen, 103 trennt der Athener sorgsam zwischen den materiellen Dingen und der Person. 104 In der Übersetzung könnte diese Trennung von Besitz und Person etwas deutlicher gemacht werden (Ⅺ 923a2–3): χαλεπὸν ὑμῖν ἐστιν γιγνώσκειν τὰ ὑμέτερ᾽ αὐτῶν χρήματα καὶ πρός γε ὑμᾶς αὐτούς […]. Euch fällt schwer zu erkennen, was Euer Besitz ist – und noch mehr, was Ihr selbst seid.

102 Der griechische Text folgt der Ausgabe von Denys Page: Aeschyli septem quae supersunt tragoediae, Oxford 1972; die deutsche Übersetzung stammt von Dietrich Ebener: Aischylos, Werke in einem Band, Berlin/Weimar 1976. 103 τὰ ἐμά ἐμοί, Ⅺ 922d4. 104 Materielle Dinge: τὰ ὑμέτερ᾽ αὐτῶν χρήματα, Ⅺ 923a2 – Person: πρός γε ὑμᾶς αὐτούς, Ⅺ 923a2–3.

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Wer jedoch nun hofft, der Athenische Fremde würde nach Anspielung auf die pythische Maxime Ausführungen folgen lassen, auf Basis derer die Angesprochenen sich selbst zu erkennen lernen, wird enttäuscht. Stattdessen macht er unmissverständlich klar, dass die Alten überhaupt keinen Anspruch auf ihren Besitz haben (Ⅺ 923a6–b1): ἔγωγ᾽ οὖν νομοϑέτης ὢν οὔϑ᾽ ὑμᾶς ὑμῶν αὐτῶν εἶναι τίϑημι οὔτε τὴν οὐσίαν ταύτην, σύμπαντος δὲ τοῦ γένους ὑμῶν τοῦ τε ἔμπροσϑεν καὶ τοῦ ἔπειτα ἐσομένου, καὶ ἔτι μᾶλλον τῆς πόλεως εἶναι τό τε γένος πᾶν καὶ τὴν οὐσίαν· Daher erkläre ich als Gesetzgeber, daß weder ihr euch selbst gehört noch diese eure Habe, sondern eurem ganzen Geschlecht, sowohl dem vergangenen als auch dem künftigen, und daß in noch höherem Maße das ganze Geschlecht und seine ganze Habe dem Staat gehört. War der Athenische Fremde vorher noch um eine gewisse Konzilianz bemüht, wirft er jetzt seine gesamte Autorität als Gesetzgeber in die Waagschale: ἔγωγ᾽ οὖν νομοϑέτης […] τίϑημι... – „Ich als Gesetzgeber […] setze daher fest…“ (Ⅺ 923a6). 105 Mit dieser starken Eröffnung kontrastiert der Gesetzgeber nicht nur die Schwäche der früheren Gesetzgeber, sondern macht darüber hinaus unmissverständlich deutlich, dass er in dieser Angelegenheit keinerlei Widerspruch duldet. In harschem Tonfall erklärt er darüber hinaus die Ansprüche der Alten auf eine selbstbestimmte Erbregelung für nichtig, indem er ihnen mit einer Handbewegung die Grundlage entzieht: „Weder Ihr selbst, noch Eure Habe gehört Euch“ (Ⅺ 923a6–7) – das hat natürlich zur Folge, dass sie auch keinerlei Anspruch geltend machen können. Stattdessen unterstreicht der Athener einerseits die Verbundenheit aller Menschen untereinander und andererseits ihre Abhängigkeit vom Staat. 106 Nichtsdestoweniger ist dieser Eingriff in die Selbstbestimmung der Bürger enorm – und doch muss man den Adressaten vor Augen haben. Das Vorwort fungiert nämlich als konkrete Antwort und ist an diejenigen Bürger Magnesias gerichtet, 107 die mit derselben Dreistigkeit wie die früheren alten Männer nach eigenem Ermessen testieren wollen. Dass der Athener seine Ansprache auf diese Adressaten zugeschnitten hat, kann man an dem apodiktischen „Ihr gehört nicht Euch selbst“ 108 erkennen, das sehr wahrscheinlich auf die Forderung „Mir das Meinige!“ der Alten antwortet. 109 Die Härte des Vorworts kann also durch die Vermutung entkräftet werden, dass der Athener den in seinen Augen vermessenen Vorwurf im selben Duktus zu erwidern sucht. 105 Vgl. Yunis (1996, 229), der wahrscheinlich wegen dieser Formulierung von einer „moral authority as unimpeachable and reliable as that of a ‚loving and intelligent‘ parent“ spricht. Vgl. zum Auftreten des Gesetzgebers als liebevoller Vater S. 96f. 106 Ein Motiv, das in den Nomoi ebenfalls häufig thematisiert wird, vgl. Ⅴ 740a2–b1; Ⅶ 804d4–6; Ⅸ 877d6–8. 107 ἀποκρινούμεϑα, „wir wollen antworten“, Ⅺ 923a3. 108 οὔϑ᾽ ὑμᾶς ὑμῶν αὐτῶν, Ⅺ 923a6. 109 τὰ ἐμά ἐμοί, Ⅺ 922d4.

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Zusätzlich dazu ist diese Härte in den Augen des Athenischen Fremden auch inhaltlich gerechtfertigt: In einem anderen Vorwort merkt er an, dass bestimmte Verbrechen in Magnesia aufgrund der guten Erziehung eigentlich gar nicht vorkommen dürften, aber einige Menschen einen so harten Kern haben, dass selbst die beste Erziehung ihn nicht erweichen könnte (Ⅸ 880d8–e3). Da es das zentrale Anliegen der Gesetzgebung Magnesias ist, den Menschen ihre Fixierung auf ihre eigene Person und auf materiellen Wohlstand auszutreiben, kann man die heftige Äußerung des Atheners vor diesem Hintergrund besser verstehen: Wenn Menschen trotz der Werteordnung Magnesias am Ende ihres Lebens solche Ansprüche erheben sollten, stellen sie damit unter Beweis, dass sie selbst keiner Erziehung zugänglich, die Bemühungen der Gesetzgebung erfolglos und die Hoffnungen des Athenischen Fremden eitel waren. Folglich könnte man den harschen Ton in Teilen auch auf eine gewisse Entrüstung oder Enttäuschung zurückführen. 110 Zusätzlich zu diesen Erwägungen kommentiert der Athenische Fremde direkt im Anschluss seine Intention und gibt damit zumindest implizit weitere Hinweise (Ⅺ 923b1–c2): καὶ οὕτω τούτων ἐχόντων, οὐκ, ἐάν τις ὑμᾶς ϑωπείαις ὑποδραμὼν ἐν νόσοις ἢ γήρᾳ σαλεύοντας παρὰ τὸ βέλτιστον διατίϑεσϑαι πείϑῃ, συγχωρήσομαι ἑκών, ὅτι δὲ τῇ πόλει τε ἄριστον πάσῃ καὶ γένει, πρὸς πᾶν τοῦτο βλέπων νομοϑετήσω, τὸ ἑνὸς ἑκάστου κατατιϑεὶς ἐν μοίραις ἐλάττοσι δικαίως. ὑμεῖς δὲ ἡμῖν ἵλεῴ τε καὶ εὐμενεῖς ὄντες πορεύοισϑε ᾗπερ κατὰ φύσιν νῦν πορεύεσϑε τὴν ἀνϑρωπίνην: ἡμῖν δὲ περὶ τῶν ἄλλων τῶν ὑμετέρων μελήσει, κηδομένοις ὅτι μάλιστα εἰς δύναμιν, οὐ τῶν μέν, τῶν δὲ οὔ. Und da dies so ist, so werde ich es niemals freiwillig zulassen, wenn euch jemand, sobald ihr durch Krankheiten oder im Alter aus dem Gleichgewicht geraten seid, mit Schmeicheleien bedrängt und euch überreden will, Verfügungen zu treffen, die dem Besten zuwiderlaufen; sondern was sowohl für den ganzen Staat als auch für die Familie das Beste ist, das allein werde ich ins Auge fassen bei meiner Gesetzgebung und den Interessen des einzelnen mit Recht weniger Gewicht beimessen. Ihr aber möget wohlwollenden und freundlichen Sinnes gegen uns den Weg gehen, den ihr jetzt der menschlichen Natur gemäß gehen müßt. Wir aber werden uns eurer sonstigen Angelegenheiten annehmen, indem wir uns darum nach bestem Vermögen kümmern, und zwar nicht etwa bloß um das eine und um das andere nicht. In einem Tonfall, der gegenüber dem Beginn des Vorworts erheblich versöhnlicher ist, rechtfertigt der Athenische Fremde seine Position und versucht den Adressaten in zwei Schritten zu überzeugen. Erstens indem er das auf den ersten Blick Negative als etwas Positives erscheinen lässt: Die Einschränkung der Entscheidungsfreiheit bewahrt den Bürger nämlich vor Übervorteilung und dient damit in Wahrheit seinem Schutz. 111 Zweitens in110 Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 88f. zu den gemischten Gefühlen des Athenischen Fremden, wenn er an die Macht und den Einfluss des Geldes denkt. 111 Diese Fürsorge des Gesetzgebers für die Bürger wird auch im letzten Satz unterstrichen (Ⅺ 923b8– c2): Es sei nun einmal seine Pflicht – wie er es bereits im Ersten Buch gegenüber Kleinias deutlich

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dem er an das übergeordnete Ziel der Gesetzgebung erinnert, nicht das Wohl einiger weniger, sondern aller Bürger fördern zu wollen; folglich müsse der Gesetzgeber die individuellen Interessen vernachlässigen und stattdessen das Beste für Familie und Staat im Blick haben. Mit einem abschließenden Hinweis auf die umfassende Fürsorge des Gesetzgebers will der Athener den Adressaten milde und wohlwollend stimmen, damit er am Ende seines Lebens sowohl im Frieden mit sich selbst als auch mit dem Gesetzgeber den letzten Weg antreten kann. In diesem Satz ist ein Wort enthalten, das an anderer Stelle bereits von großer Bedeutung war, und zwar ἵλεῴ (híleó, Ⅺ 923b7): In Ⅶ 792c8–d4 bezeichnete es die zentrale Eigenschaft der Gottheit: 112 ihren „heiteren“ Zustand, dank der sie keiner Lust nachjagt und keinen Schmerz völlig flieht. Doch obwohl das Wort in den Nomoi und in anderen Dialogen (s. Anm. 73 auf S. 44) eine Gottheit charakterisiert, ist es hier auf die Menschen bezogen. In der Politeia gibt es eine ganz ähnliche Stelle: Dort wird dem wahren Philosophen in Aussicht gestellt, nachdem er sein ganzes Leben lang frei von Ungerechtigkeit geblieben ist, „heiter“ aus dem Leben zu scheiden (Ⅵ 492e2). In den Nomoi hingegen wird es auf die Adressaten des Vorworts übertragen, die damit einen starken Anreiz erhalten: Wenn sie den Forderungen des Gesetzgebers nachkommen, werden sie jener Eigenschaft teilhaftig, die die Gottheit auszeichnet. Diese Stelle bestätigt damit die Interpretation, dass sich in den Nomoi auch die normalen Bürger Gott angleichen können. Das Vorwort zeugt von einer äußerst geschickten rhetorischen Gestaltung: Erstens spielt der Athener mit der Angst des Testierenden, aufgrund von Alter oder Krankheit das Beste nicht mehr selbst einschätzen zu können; angesichts einer Übervorteilung erweist sich das harte Gesetz in dieser Situation als wirksamer Schutz. Allerdings sind die Prämissen dieses Szenarios alles andere als ausgemacht: Womöglich erfreut sich der Testierende bis zu seinem Tod bester Gesundheit – und selbst wenn seine geistigen Fähigkeiten schwächer werden sollten, ist längst nicht gesagt, dass diese Schwäche tatsächlich auch jemand auszunutzen versucht. Doch indem der Athener ausschließlich dieses Szenario illustriert, macht er sich die verbreitete Sorge alter Menschen zunutze; in der Annahme, dass sie vor ihrer künftigen Schwäche oder einem etwaigen Erbschleicher große Angst haben und nicht in ihrem eigenen Interesse testieren könnten, versucht der Athener sie davon zu überzeugen, dass ihnen das Gesetz letztlich doch zum Vorteil gereicht. An diesem Beispiel lässt sich sehr gut beobachten, wie der Athener seine Ausführungen von der vermuteten Seelenverfassung und einem angenommenen Menschentyp abhängig macht. 113 Darüber hinaus setzt der Athener erneut stark normative, inhaltlich aber vage Begriffe ein; in diesem Fall warnt er die Alten davor, von Erbschleichern zu Verfügungen angestiftet zu werden, die dem Besten zuwiderliefen (Ⅺ 923b3), und behauptet für den Gesetzgeber den Anspruch, nur das Beste für Staat und Familie in den Blick zu nehmen gemacht hatte (Ⅰ 631d2–632d1) –, für den Bürger von dessen Geburt an bis zum Tod zu sorgen. Auch Föllinger (2018, 143) betont den Aspekt der Fürsorge. 112 Die Stelle wird auf S. 44f. zitiert und im Rahmen der Generalansprache interpretiert. 113 S. Föllinger (2018, 138): „Betrachtet man die Proömien näher, so kann man feststellen, daß sie, je nachdem welchem Gesetz sie vorgespannt sind, auf unterschiedliche Weise gestaltet und offensichtlich auf einen potentiellen je spezifischen Adressatenkreis zugeschnitten sind.“

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(Ⅺ 923b4–5). Eine Erläuterung, worin das Beste in diesen Fällen besteht, gibt der Athener jedoch nicht. Einerseits ist das rhetorisch sehr geschickt, weil dem Bürger dadurch die Möglichkeit zur Diskussion darüber, was wirklich das Beste für Staat, Familie und Individuum ist, von vornherein genommen wird; andererseits ist diese Kürze erneut sehr gut mit der Einbettung der Gesetze in den kulturellen Rahmen und die Abhängigkeit der Vorworte von der Generalansprache zu erklären. Wie auch in den bisher untersuchten Vorworten erfolgt die peithó nicht über eigenständige, sorgfältige argumentative Begründungen, sondern hauptsächlich über stilistisch-rhetorische Mittel, die sehr gut auf die angenommenen Adressaten abgestimmt sind. Alle problematischen Aspekte werden an anderer Stelle ausführlich diskutiert und zumindest teilweise begründet. Im Folgenden wollen wir diese Art und Weise der Implementierung anhand der Elemente in diesem Vorwort untersuchen, von denen der Athener die Bürger und unter ihnen besonders die Alten zu überzeugen versucht. Zu Beginn des Vorworts hält der Athener den Bürgern vor, dass sie weder sich selbst noch ihren Besitz richtig erkennen (Ⅺ 923a2–5). Dieser Vorwurf geht vor allem auf den zweiten Teil der Generalansprache zurück; dort hatte der Athener kritisiert, dass die Menschen ihre Seele nicht angemessen ehren und als wichtigstes Gut anerkennen, sondern sich nur um ihre körperlichen und materiellen Bedürfnisse kümmern (s. Kap. III.3). Auch die harsche Feststellung, dass die Menschen nicht sich selbst gehören, kann mit Verweis auf diese Stelle erklärt werden: Die Seele ist nämlich, obwohl sie das ureigenste Besitzstück ist, göttlicher Herkunft – es ist nach den Göttern das göttlichste Gut (s. S. 54–58). Die Anspielung auf die Maxime der Pythia im Vorwort trägt dieselbe Botschaft: Sich selbst erkennen heißt nichts anderes als die Seele als wichtigstes Besitzstück anzuerkennen und demgegenüber die irdischen Besitztümer zu vernachlässigen. Sobald sich der Adressat diese Botschaft vergegenwärtigt hat, kann er den Verzicht auf ein freies und selbstbestimmtes Testat besser verstehen: Wenn die materiellen Güter im Vergleich zur Seele bedeutungslos sind, verliert auch das krampfhafte Bemühen um ihre Vererbung seine Bedeutung. In diesem Zusammenhang wird auch erneut bestätigt, dass die Volksreligion zwar wichtige Unterstützungsarbeit leistet, indem sie die Forderungen des Gesetzes zu legitimieren hilft, aber inhaltlich keinen eigenständigen Beitrag leistet. Denn einerseits wird mit dem Verweis auf die Inschrift der Pythia (Ⅺ 923a5) das wichtigste Heiligtum des ApollonKults in Delphi ins Spiel gebracht, andererseits fehlt jegliche weitere Erklärung oder Ausführung, in welchem Zusammenhang diese höchst einflussreiche Maxime zum ApollonHelios-Kult stehen könnte, der in Magnesia eine so große Rolle spielen soll. Offensichtlich hätte es auch an dieser Stelle durchaus nahe gelegen, die Bedeutung des Apollon-HeliosKults zu unterstreichen und jene Maxime in irgendeiner Art und Weise in Beziehung zu ihm zu setzen – aber ihren tieferen Sinn erhält die Anspielung nur in Verbindung mit den philosophischen Reflexionen aus der Generalansprache. Wenn aber selbst so offensichtliche Parallelen gerade im Zusammenhang mit der Implementierung wichtiger Regeln vom Athener nicht genutzt werden, kann der Apollon-Helios-Kult so bedeutend nicht sein. Im zweiten Schritt weist der Athener den Anspruch auf ein freies Testament zurück und erklärt stattdessen, dass aller Besitz in Wahrheit nicht den einzelnen Bürgern, sondern dem gesamten Geschlecht und das Geschlecht wiederum dem Staat gehört (Ⅺ

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923a6–b1). Bei der Begründung für die Auswahl der zu untersuchenden Vorworte habe ich die zentralen Regelungen und ihre Begründungen für Besitz und Erwerb vorgestellt (s. S. 87–90); auch für den Bürger ist es an dieser Stelle in der Gesetzgebung keine Überraschung, dass in Magnesia der einzig nennenswerte Besitz das Landlos ist, das jedoch kein privater Besitz ist: Als Gemeingut des Staates ist es unveräußerlich und nur eine Leihgabe des Staates (s. S. 88 mit Anm. 36); folglich gehört dem Staat aller Besitz der Menschen, sodass man davon sprechen kann, dass das Geschlecht und seine Habe dem Staat gehören (s. Anm. 106 auf S. 116). Im Rahmen des Vorworts kann sich der Athener also auch in diesem Zusammenhang mit einer prägnanten Formulierung begnügen, weil die Regelung bereits bekannt ist und der Bürger nur dazu ermahnt werden muss, sie im Hinblick auf das Testament auch anzuwenden. Eine ausführliche Begründung wäre an dieser Stelle daher redundant und würde den Effekt einer kurzen und memorierbaren Ermahnung abschwächen. Schließlich macht der Athener die Fürsorge des Gesetzgebers stark und versucht den Bürgern zu vermitteln, dass das Gesetz in dem Bemühen, das Wohl aller zu fördern, die individuellen Interessen vernachlässigen muss und dass der Gesetzgeber am besten weiß, was das Beste für die Gesellschaft ist (Ⅺ 923b1–c2). Auch dieses Motiv ist dem Bürger wohlbekannt: Im Kronos-Mythos wurde vor dem Hintergrund der Überlegungen aus den ersten drei Büchern dargelegt, dass Menschen nur ihren eigenen Vorteil suchen und daher als Herrscher nicht geeignet sind (s. Kap. III.1); wenn das Wohl aller in gleicher Weise gefördert werden soll, muss der oberste Herrscher unparteiisch und immun gegenüber Lust und Schmerz sein; die Gesetze dürfen daher ausschließlich der göttlichen Vernunft als Richtschnur für die Aufstellung der Gesetze folgen (s. S. 25). Vor allem im ersten Teil der Generalansprache wird greifbar, dass die Gesetze ihre konkrete Form durch einen Gesetzgeber erhalten müssen, der sich durch besonderes Wissen auszeichnet und dessen Autorität deshalb anerkannt werden muss (s. S. 33–35); die an zahlreichen Stellen und auch hier zum Ausdruck gebrachte Fürsorge des Gesetzgebers soll bei den Bürgern für das dafür notwendige Vertrauen sorgen. Das Vorwort insgesamt kann als Erinnerung, Ermahnung und „Aufmunterung“ verstanden werden. 114 Im Hinblick auf das Instrumentarium der NIÖ stellt dieses Vorwort erneut eine ethische Regel dar, deren Einhaltung der Bürger selbst überwacht. Die Implementierung erfolgt dadurch, dass sich der Bürger den Zusammenhang dieser Regel mit dem kulturellen Ordnungsrahmen der Polis vor Augen führen und seine Haltung auf Übereinstimmung mit ihm überprüfen soll. Diese Vergegenwärtigung hat verschiedene Facetten: Zum einen soll der Bürger durch den Wunsch der Zugehörigkeit und den dadurch entstehenden sozialen Druck zur Befolgung der Regel motiviert werden. Zum anderen soll sie das Moment der persönlichen Einsicht unterstützen: Der Gehorsam gegenüber dem Gesetz wird nicht um seiner selbst willen eingefordert, sondern weil der Bürger dadurch seine Tugend ausbildet; damit legt er wiederum nicht nur die Grundlage für ein langfristig glückliches Leben, sondern qualifiziert sich auch für die wichtigsten 114 Der Athener bezeichnet es am Ende des Vorworts in Ⅺ 923c2 als τὰ παραμύϑια (wörtlich „das Aufmunternde“).

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Ämter in Magnesia (s. S. 31f.). Neben diesem Bezug auf die übergeordnete kulturelle Ebene wird die Implementierung der Regel durch eine stark adressatenorientierte Rhetorik unterstützt. Die peithó bezieht ihre Kraft aber erneut nicht aus einer ausführlichen und schlüssigen Argumentation, sondern aus prägnanten und geschickt auf die Adressaten zugeschnittenen Formulierungen.

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VI. Fazit und Ausblick Der Ausgangspunkt der Arbeit war die Feststellung, dass die bisherige Forschung der Volksreligion in den Nomoi einen sehr hohen Stellenwert zugeschrieben hat. Diese Einschätzung konnte darauf zurückgeführt werden, dass die Generalansprache in diesem Zusammenhang bisher nur selten berücksichtigt wurde und die Polis-Religion meistens nur in ihren strukturellen und organisatorischen Aspekten untersucht wurde, aber nicht im Hinblick darauf, ob und in welcher Weise sie bei der Umsetzung der gesetzgeberischen Visionen des Athenischen Fremden einen greifbaren Beitrag leistet. Die Generalansprache hat sich in der Interpretation als kulturell-moralisches Fundament für die neue Kolonie erwiesen. Das zentrale Ziel für die Bürger besteht darin, ihre Seele als ihr eigenstes und wichtigstes Gut anzuerkennen; nur unter dieser Voraussetzung ist eine Angleichung an Gott möglich. Die Gesetze und Vorworte helfen den Bürgern dabei: Weil die Gesetze aus der göttlichen Vernunft abgeleitet sind, vermitteln sie den Bürgern das richtige Maß. Allerdings fordern die Gesetze oftmals Verhaltensweisen ein, die den gewöhnlichen Interessen und Vorlieben normaler Menschen zuwiderlaufen. Aus diesem Grund ersinnt der Athenische Fremde das Mittel der Vorworte; ihnen kommt die enorm wichtige Aufgabe zu, die Bürger für die Ziele der Gesetze einzunehmen; das griechische Wort dafür ist peithó, das aufgrund seiner Ambivalenz für langanhaltende Diskussionen in der Forschung gesorgt hat. In der Generalansprache, die das erste und paradigmatische Vorwort der Gesetzgebung ist, konnte als übergeordnete Methodik eine ausgeprägte Adressatenorientierung festgestellt werden. Der Athenische Fremde ist überaus bedacht darauf, die Bürger mit der Neuartigkeit der Gesetzgebung nicht zu überfordern; aus diesem Grund knüpft er in vielerlei Hinsicht an die Tradition und Konvention an, wozu auch die Volksreligion gehört. Darüber hinaus lässt sich die Adressatenorientierung daran festmachen, dass der Athener philosophisch anspruchsvolle Konzepte für die Bürger vereinfacht und sie in ihre Gedankenwelt überträgt. Konkrete Überzeugungsmittel in der Ansprache sind Aufmunterung, Einschüchterung, Verweis auf Autoritäten und argumentierende Passagen; die darin enthaltenen Begründungen lassen bei genauer Prüfung zwar Fragen offen, versetzen den Bürger aber dennoch in die Lage, die jeweiligen Vorschriften wenigstens im Begründungszusammenhang der Gesetzgebung zu verstehen. Damit ist gemeint, dass ein gewünschtes Verhalten z. B. damit begründet wird, dass es tugendhaft ist; der normale Bürger weiß auf dieser Grundlage zwar nicht, was die Tugend ist, aber durch die Ansprache und wiederholten Bezugnahmen darauf weiß er zumindest, dass die Tugend ein zentraler Wert ist, den die Gesetzgebung von allen erwartet. Dieser Effekt scheint auf den ersten Blick dürftig zu sein. Vergleicht man den Sachverhalt allerdings mit einem heutigen Beispiel, wird der Mehrwert deutlich: In Deutschland etwa dürfte zwar der Großteil der Bevölkerung wissen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, aber die meisten

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Fazit und Ausblick

dürften genauso wenig wie die Magneten in der Lage sein, diesen zentralen Wert der Verfassung zu definieren. In Magnesia dürften allerdings mehr Bürger als in Deutschland wissen, dass bestimmte Handlungen deshalb vom Gesetz eingefordert werden, weil sie den höchsten Wert der Gesetzgebung verwirklichen. Der wichtigste und entscheidende Aspekt der Generalansprache besteht folglich darin, den Bürgern einen gemeinsamen Wertehorizont in Form einer sinnstiftenden Werteordnung zu vermitteln; die Bürger sollen auf die transzendentale Ausrichtung der Gesetzgebung eingeschworen werden und die Angleichung an Gott als verbindende Aufgabe begreifen. Auf diese Weise fungiert die Generalansprache als Ordnungsrahmen für die Gesetzgebung; alle weiteren Vorworte und Gesetze können einerseits auf sie zurückgreifen, um an die übergeordnete Zielsetzung zu erinnern, und ergänzen sie andererseits durch konkrete Beispiele des alltäglichen Lebens. Für eine Untersuchung und Analyse der Vorworte, insbesondere der peithó, ist deshalb ein Zugang notwendig, der beiden Aspekten der Vorworte gerecht wird: ihrer Bezugnahme auf den übergeordneten Rahmen einerseits, ihren spezifischen und konkreten Überzeugungsmitteln andererseits. Diesen Zugang gewährt die Neue Institutionenökonomik (NIÖ), die menschliches Handeln unter dem Einfluss von Regeln und Sanktionen analysiert und sich damit hervorragend auf das Szenario der Nomoi anwenden lässt. Aufgrund eines begrifflich neutralen Instrumentariums erlaubt sie es, die Vorworte und insbesondere den bisherigen Streit um rational-argumentative oder emotional-manipulative peithó aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Damit gibt sie nicht nur den Weg für eine unvoreingenommene Interpretation frei, sondern stellt außerdem eine wertvolle Ergänzung der philologischen und philosophischen Interpretation dar. Bei der Auswahl der Vorworte habe ich mich aufgrund ihrer Vielzahl auf einen Bereich beschränkt, der für den Athenischen Fremden im Zentrum seiner Bemühungen steht. Seine größte Herausforderung besteht darin, dem Bürger einen angemessen Umgang mit seinen körperlichen und vor allem materiellen Begierden zu vermitteln; aufgrund des natürlichen Antriebs, immer mehr besitzen zu wollen, erweist sich dieses Unterfangen allerdings als sehr schwierig. Neben diversen Regelungen, die den grundsätzlichen Umgang mit Besitz und Geld in vernünftige Bahnen lenken sollen, verfasst der Athener auch zahlreiche Vorworte in diesem Bereich, von denen drei zur vertieften Auseinandersetzung ausgewählt wurden. Die Analyse und Interpretation dieser Vorworte hat die These von der Generalansprache als übergeordnetem Bezugsrahmen bestätigt. In jedem Vorwort finden sich Bezugnahmen auf Gedanken und Sachverhalte aus der Ansprache, ohne die die Ausführungen in den Vorworten oftmals schwer verständlich wären und nur begrenzte Wirkung entfalten könnten. Dadurch erreicht der Athenische Fremde vier Dinge: Erstens führt er dem Adressaten des Vorworts den größeren Zusammenhang vor Augen und verdeutlicht ihm, dass jede Handlung, deren Konsequenzen unbedeutend erscheinen mögen, im Hinblick auf das langfristige Ziel eines glücklichen Lebens betrachtet werden muss. Die Bezugnahmen auf die Botschaften der Ansprache dienen damit als Erinnerung und Aufmunterung. Zweitens üben die Bezugnahmen auf den gemeinsamen Wertehorizont einen Anpassungsdruck der Bürger aus; durch den Wunsch, Teil der Tugendgemeinschaft sein zu

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Fazit und Ausblick

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wollen, befolgen sie die Forderungen des Gesetzgebers bereitwilliger. Drittens gewährleistet der Athener durch die Bezugnahmen einen angemessenen Umfang der Vorworte, die der Bürger memorieren und verinnerlichen können soll. Durch gezielte Stichworte kann der Athener auf die ausführlichen Darlegungen im Rahmen der Ansprache verweisen und vermeidet dadurch Redundanzen. Viertens erweist sich die daraus resultierende Kürze als sehr praktisch für die peithó: Griffige und prägnante Formulierungen wirken oftmals unmittelbar überzeugend, sodass eine kritische Prüfung der Äußerung ausbleibt. Neben diesen Gnomen, deren Wirkung durch die ausgeprägte Adressaten­orientierung noch verstärkt wird, treten wie auch in der Generalansprache weitere Überzeugungsmittel wie Aufmunterungen oder Einschüchterungen auf (häufig unter Einsatz von Autoritäten). Gelegentlich kommen auch argumentierende Passagen vor, denen aber die letzte Ebene der Begründung fehlt; ihre Kraft beziehen sie hauptsächlich aus der positiven Konnotation bestimmter Leitbegriffe wie der Tugend. Aus der Perspektive der NIÖ erweisen sich die untersuchten Vorworte als ethische Regel; sie verfolgen das Ziel, das Kosten-Nutzen-Kalkül außer Kraft zu setzen und die Bürger dazu aufzumuntern, Handlungen zu vollziehen, die ihrer (kurzfristigen) Nutzenmaximierung entgegenstehen. Die ethische Regel basiert auf dem Prinzip der Selbstüberwachung; ihre Einhaltung wird nicht durch andere Akteure oder den Staat überwacht, sondern vom Individuum selbst. Die unterschiedlichen Überzeugungsmittel können als Anreize verstanden werden, mit denen der Athener die Bürger in eine Reflexion über maßvolles und tugendhaftes Handeln verwickeln möchte. Er will sie nicht über die Angst vor Strafen um jeden Preis davon abhalten, das Falsche zu tun, sondern in die Lage versetzen, sich aus guten Gründen für das Richtige zu entscheiden. Auch im Hinblick auf die Volksreligion bestätigt sich das Bild, das sich aus der Interpretation der Generalansprache ergeben hat. Der Athenische Fremde bedient sich zwar manches Mal bei der Volksreligion, aber in diesen Fällen sind solche Anleihen nur ein Mittel neben vielen und stets Teil seiner rhetorischen Strategie. Der Athener kann voraussetzen, dass die Volksreligion bei seinen Adressaten einen gewissen Status genießt und kann sie deshalb für seine Zwecke nutzen. Wenn man aber bedenkt, dass die Proömien das zentrale Mittel sind, um die Bürger für die Gesetzgebung einzunehmen, ist es überraschend, dass sie weder in der Generalansprache noch in den Vorworten eine größere Rolle spielt. Angesichts dessen kann von einer Aufwertung oder Reformation der Volksreligion entgegen der weit verbreiteten Forschungsmeinung nicht gesprochen werden. Auch wenn die untersuchten Vorworte einem Bereich entstammen, der für den Athener nachweislich große Priorität hat – die Zähmung der Pleonexia –, und sie daher zu den wichtigsten Vorworten zu zählen sind, wäre eine Absicherung der Erkenntnisse durch die Analyse weiterer Vorworte sinnvoll. Dabei dürften insbesondere zu Fragen der Adressatenorientierung und rhetorischen Strategien, aber auch zur Rolle der Volksreligion noch viele Einsichten zu gewinnen sein. Allerdings hat die Beschränkung auf drei Vorworte in dieser Arbeit einen einfachen Grund: Eines der vorrangigen Erkenntnisinteressen war die Frage, inwiefern die Generalansprache als übergeordneter Bezugsrahmen für die weiteren Gesetze fungiert. Mit Hilfe der NIÖ konnte schon nach drei Beispielen gezeigt werden,

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Fazit und Ausblick

dass sich die Vorworte auf sehr ähnliche Weise auf die Ansprache beziehen, sodass sich bei weiteren Vorworten wahrscheinlich schnell Redundanzen von fraglichem Erkenntniswert ergeben hätten. Doch genauso wenig wie die Vorworte hinreichend untersucht sind, sind die Möglichkeiten der NIÖ ausgeschöpft; mit ihr könnte man nicht nur das interessante Zusammenspiel von Vorwort und Gesetz analysieren und damit dem einzigartigen Verhältnis zwischen informellen und formellen Regeln genauer auf den Grund gehen, sondern auch die formellen Gesetze auf ihre Institutionstypen hin überprüfen und feststellen, ob es je nach Lebensbereich bestimmte Tendenzen gibt.

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Literatur

Textausgaben, Übersetzungen und Kommentare Burnet, John (1951): Platonis Opera. Unveränderter Nachdruck der Erstauflage 1905. Oxford. Eigler, Gunther (Hg.) (2005): Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Achter Band: Gesetze. Bearbeitet von Klaus Schöpsdau. 4. Aufl. Darmstadt. Griffith, Tom (2016): Plato: The Laws. Cambridge/New York. Pangle, Thomas L. (1988): The Laws of Plato. Translated, with Notes and an Interpretive Essay. Chicago/London. Schöpsdau, Klaus (1994): Platon. Werke. Nomoi (Gesetze): Buch I–III. Übersetzung und Kommentar. Göttingen. Schöpsdau, Klaus (2003): Platon. Werke. Nomoi (Gesetze): Buch IV–VII. Übersetzung und Kommentar. Göttingen. Schöpsdau, Klaus (2011): Platon. Werke. Nomoi (Gesetze): Buch VIII–XII. Übersetzung und Kommentar. Göttingen.

Hilfsmittel LSJ = Liddell, Henry George/Scott, Robert/Jones, Henry Stuart (1961): A Greek English Lexicon. 9. Aufl. Oxford.

Sekundärliteratur Albert, Karl (1980): Griechische Religion und platonische Philosophie. Hamburg. Annas, Julia (1999): Platonic ethics, old and new. Ithaca (N. Y.). Armstrong, John M. (2004): After the ascent: Plato on becoming like God. In: Sedley, David (Hg.): Oxford Studies in Ancient Philosophy 26. Oxford. S. 171–183. Baima, Nicholas R. (2016): Persuasion, falsehood, and motivating reason in Plato’s Laws. In: History of Philosophy Quarterly 33 (2), S. 117–134. Baltzly, Dirk (2004): The virtues and „becoming like God“: Alcinous to Proclus. In: Sedley, David (Hg.): Oxford Studies in Ancient Philosophy 26. Oxford. S. 297–321.

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Literatur

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Stellenregister Nach den Stellen aus den Nomoi sind die weiteren Dialoge alphabetisch geordnet. Kursiv gedruckte Seitzenzahlen verweisen auf vollständig zitierte Stellen. Nomoi Buch I

Buch II

624a1–2 ▷ 11 625a6–7 ▷ 1 625c9–626b4 ▷ 23 626d1–2 ▷ 21 626e2–4 ▷ 21 627e3–628c1 ▷ 23 628d2–e1 ▷ 23 630b9–d1 ▷ 23 630d9–a8 ▷ 23 631b3–d1 ▷ 32 631b5 ▷ 1 631b6–c5 ▷ 88 631c4–5 ▷ 88 631d2–632d1 ▷ 118 632a2–7 ▷ 55 636c7–d5 ▷ 51 636d5–e3 ▷ 20, 77 641d9 ▷ 1 643c8–d4 ▷ 55 643e2–6 ▷ 31 644b6–7 ▷ 21 644c1–645c6 ▷ 21 644d1–2 ▷ 21 644d2–3 ▷ 21 644e1–4 ▷ 21 645b6–7 ▷ 34 650b6–9 ▷ 55

653a5–c4 ▷ 55, 65 660d4–e5 ▷ 98 663d6–e2 ▷ 62 663e5–9 ▷ 27 663e8–9 ▷ 63 663e9–664a7 ▷ 27 663e9–664a8 ▷ 63, 71 664b3–5 ▷ 98 665c2–7 ▷ 98 672b3–8 ▷ 51

Buch III

683b4 ▷ 1 686b6–c3 ▷ 19 686c7–e1 ▷ 19 687a2–b2 ▷ 19 688a1–b4 ▷ 19 688c2–d1 ▷ 19 689a5–b2 ▷ 55 689a5–c3 ▷ 19f. 691a3–8 ▷ 21 691a8–e1 ▷ 24 691c5–d5 ▷ 22, 24, 39 691d4–5 ▷ 23 691d5–692c7 ▷ 24 692a4 ▷ 24 693b5–c5 ▷ 1 693d8–e1 ▷ 1 694b6 ▷ 1 697a10–b6 ▷ 55 700a7–c1 ▷ 47

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Stellenregister

701d7–9 ▷ 1 702a7–b1 ▷ 19

Buch IV

704a1–705b6 ▷ 80 708e1–d9 ▷ 39 709c8 ▷ 34 709e6–712a7 ▷ 25 710c1–2 ▷ 26 711c3–4 ▷ 26 712b3 ▷ 26 712b5 ▷ 44 712b8–c1 ▷ 24, 29 712b8–e8 ▷ 26 713a2–4 ▷ 26 713a6–7 ▷ 29 713a6–714b1 ▷ 24 713a9–b1 ▷ 23 713c2–4 ▷ 30 713c5–8 ▷ 93 713c5–d2 ▷ 27 713d2–5 ▷ 27 713d5–e3 ▷ 30 713e1–2 ▷ 27, 30 713e2–3 ▷ 28 713e3–714a8 ▷ 25, 26 713e5 ▷ 27 714b2 ▷ 26 715b2–4 ▷ 24 715b7–d6 ▷ 24, 26, 31 715d3–6 ▷ 32 715e7–716a2 ▷ 17, 33 716a1 ▷ 36, 38, 39 716a2–b5 ▷ 38f., 74 716a3–4 ▷ 45 716a4 ▷ 39, 60 716a4–6 ▷ 60 716a4–b5 ▷ 93 716b3 ▷ 40 716b5–9 ▷ 40, 94 716b7 ▷ 94 716b8–9 ▷ 42

716b8–d4 ▷ 5 716b9 ▷ 40 716c1 ▷ 42 716c1–6 ▷ 41 716c3 ▷ 42 716c4–5 ▷ 17, 43 716c6–d1 ▷ 45 716c6–d4 ▷ 17, 45 716d4–6 ▷ 51 716d4–e2 ▷ 18, 46, 51, 52 716d6 ▷ 52 716d8–e1 ▷ 52 717a7–718a6 ▷ 53 718a3–7 ▷ 54 718b4 ▷ 1 718c8–10 ▷ 71 718d7–e1 ▷ 95 718e1–719a2 ▷ 73, 95 719e6 ▷ 73 719e7–720a2 ▷ 73 720a1 ▷ 73 720d4–6 ▷ 72 720e10–721e6 ▷ 90 721a3–4 ▷ 90 721a6–7 ▷ 90 722b4–c4 ▷ 67 722c6–7 ▷ 74 722c6–e7 ▷ 74 722e4–a4 ▷ 67 723c1–8 ▷ 101 723c8–d4 ▷ 101

Buch V

726a1–2 ▷ 54 726a1–729b1 ▷ 53 726a1–734e2 ▷ 5, 17 726a2 ▷ 56 726a2–3 ▷ 54, 55, 76 726a3 ▷ 56 727a2–3 ▷ 58 727a2–7 ▷ 58 727a3–728a5 ▷ 58

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Stellenregister 728a5–b2 ▷ 58f. 728d3–729b1 ▷ 58 728e2–5 ▷ 58 729a4–b1 ▷ 58, 88 729b1–730a9 ▷ 53 730b1–731d5 ▷ 53 730d1–7 ▷ 99f. 731a2–5 ▷ 99 731a2–b3 ▷ 60 731c5–6 ▷ 60 731d6 ▷ 59 731d6–732b4 ▷ 53 731e1–3 ▷ 59 731e5 ▷ 59 731e5–732a1 ▷ 60, 92 732a2–a4 ▷ 60 732b5–734e2 ▷ 53 732d8–734e2 ▷ 77 732d8–e7 ▷ 43f., 52 732e4–5 ▷ 93 736c5–8 ▷ 87 736c8–737a2 ▷ 87 737a7–b9 ▷ 88 737e1–738b1 ▷ 88 738b2–e8 ▷ 49 738c1–2 ▷ 47 738e1–5 ▷ 48 739a3–e7 ▷ 4 740a2–4 ▷ 88 740a2–b1 ▷ 116 740a5–7 ▷ 88 740b1–5 ▷ 88 740b1–741e6 ▷ 88 741b1–5 ▷ 88 741b5–6 ▷ 88 741c1–2 ▷ 88 741e7–742c2 ▷ 88 742b3–c2 ▷ 99 742c2–3 ▷ 101 742d2–743c4 ▷ 88 742e4–6 ▷ 1 742e4–743c4 ▷ 89 743c5–6 ▷ 1

744a8–745b2 ▷ 88 745b3–e6 ▷ 49 745c2–3 ▷ 88 745d2–e2 ▷ 47 747e5 ▷ 44

Buch VI

754d6–755d2 ▷ 88 759a1–760a5 ▷ 49 771c7–e1 ▷ 48 771d5–e1 ▷ 48 772a4–b1 ▷ 48 772a6–b5 ▷ 48 772d5–774c2 ▷ 90 772d6–7 ▷ 90 772e1–2 ▷ 90 772e5–6 ▷ 90 772e7 ▷ 91, 93 772e7–773a7 ▷ 90f. 773a4–5 ▷ 91 773a5–6 ▷ 91, 92 773a6–7 ▷ 91 773b5–6 ▷ 91, 92 773b6 ▷ 98 773b6–7 ▷ 91, 92, 96 773c3–8 ▷ 97 773d5–e4 ▷ 99 773d6 ▷ 98 773e3–4 ▷ 97 773e5 ▷ 96 773e5–774c2 ▷ 96 774c2–e2 ▷ 101 782d10–783b1 ▷ 93 784c2–d1 ▷ 99

Buch VII

788a5–b3 ▷ 82 788b4–c2 ▷ 82 790b4–6 ▷ 82 790b5 ▷ 82 792c8–d4 ▷ 44, 118

© 2020, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11484-4 ISBN E-Book: 978-3-447-39033-0

138

Stellenregister

793b6–7 ▷ 83 793d3–5 ▷ 83 800b4–802a5 ▷ 47 803b3–804c1 ▷ 39 803e1–b4 ▷ 48 804d4–6 ▷ 116 811c6–812a3 ▷ 74 817b1–d8 ▷ 94 817b4 ▷ 94 817b5 ▷ 94

Buch VIII

828a7–d5 ▷ 47, 48 828b7–c5 ▷ 47 828d10 ▷ 1 831d1–e2 ▷ 89 837e6 ▷ 98 844e5–845a1 ▷ 110

Buch IX

854b1–5 ▷ 97 854e1–6 ▷ 77 857b4–864c9 ▷ 96 857c4–e6 ▷ 72 857d2 ▷ 72f. 857d7 ▷ 73 857e3–5 ▷ 74, 96 858a6–9 ▷ 96f. 858c6–d4 ▷ 97 858d6–9 ▷ 74 859a1–6 ▷ 78, 97 862c6–9 ▷ 75 862d1–e1 ▷ 71, 74 863b2–e4 ▷ 55 870a1–2 ▷ 93 870a4–5 ▷ 89 872c7–d7 ▷ 77 874e7–875a1 ▷ 93 875a1–c3 ▷ 25 875c3–d1 ▷ 45 877d6–8 ▷ 116

880d8–e3 ▷ 77, 117

Buch X

885b4–6 ▷ 48 885b4–9 ▷ 57 886b10–e5 ▷ 57 887c8–d7 ▷ 109 888d7–896d9 ▷ 57 888e4–6 ▷ 57 899d6–8 ▷ 57 903b1 ▷ 98

Buch XI

913a1 ▷ 101 913a3–5 ▷ 103 913a6–8 ▷ 103f. 913a8–b3 ▷ 104 913b3–4 ▷ 105 913b3–8 ▷ 105 913b6–7 ▷ 106 913b7–8 ▷ 107 913b8–d3 ▷ 108f. 913c3 ▷ 110 913c7–d1 ▷ 110 914a2–5 ▷ 110 918a6–d2 ▷ 97 922d1 ▷ 112, 113 922d4–8 ▷ 112 923a5 ▷ 114, 119 923a6–7 ▷ 116 923b1–c2 ▷ 117, 120 923b3 ▷ 118 923b4–5 ▷ 118f. 923b7 ▷ 44, 118 923b8–c2 ▷ 117 935a3–7 ▷ 93

Buch XII

941b3–c2 ▷ 51 945e4–946a1 ▷ 49

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139

Stellenregister

Philebos

947e7–8 ▷ 93

33b8–9 ▷ 44

Euthydemos

Politeia

273e6 ▷ 44

Gorgias 513e5–514a3 ▷ 30 515a1–b4 ▷ 30 515c2–3 ▷ 30 515c4–516d6 ▷ 30

Ion 534b3–6 ▷ 56 534b6–7 ▷ 56

Phaidros

364b5–365a3 ▷ 36 377a12–III 392a2 ▷ 2 377a4–b9 ▷ 65 379a5–383c7 ▷ 14 430e11–431b2 ▷ 21 430e6–9 ▷ 21 500c9–d6 ▷ 35 518c4–d1 ▷ 52 518d4 ▷ 52 603e3–604d11 ▷ 21 611e2 ▷ 57

Theaitetos 172b8–177c5 ▷ 70

257a7 ▷ 44

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