Platons Nachlass: Zur philosophischen Dimension der Nomoi 9783495808092, 9783495486825


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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Kapitel 1: Das Problem der Nomoi
Kapitel 2: Der Anfang des Nomoi-Gesprächs
Kapitel 3: Die Nomoi als politisches Werk
Kapitel 4: Die veränderte Paideia
Kapitel 5: Der Rationalitätsansatz in der Politeia
Kapitel 6: Emotionalität und Spiritualität in den Nomoi
Kapitel 7: Der Gottesbeweis im X. Buch
Kapitel 8: Modifizierte Rationalität am Ende des Nomoi-Gesprächs
Abschluss: Platons Nachlass
Literaturverzeichnis
A. Platon- und Aristotelesausgaben
B. Sekundärliteratur
Stellenverzeichnis
Namenverzeichnis
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Platons Nachlass: Zur philosophischen Dimension der Nomoi
 9783495808092, 9783495486825

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Helmut Mai

Platons Nachlass Zur philosophischen Dimension der Nomoi

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495808092

.

B

Helmut Mai Platons Nachlass

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Die vorliegende Untersuchung unternimmt es, im Durchgang durch Platons Nomoi einen Wandel im Rationalitätsverständnis bei Platon offenzulegen. Dieser vollzieht sich im Hintergrund der Veränderungen der politischen Theorie Platons, die dieses Werk auch dokumentiert und die vorrangig die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich ziehen. In eingehenden Textanalysen, die die dialogische Situation und den in der Fiktion vorgestellten Status der Nomoi immer mitberücksichtigen, wird die besondere Stellung der musisch-religiösen Paideia in den Nomoi herausgearbeitet. Ihre veränderte Rolle wird in der Gegenüberstellung mit dem ausgeprägt intellektuellen Rationalitätsansatz in Buch VI und VII der Politeia bestätigt. Die Ausdeutung des so genannten Marionettengleichnisses, die Analyse des Gottesbeweises im X. Buch und die Untersuchung des Erziehungskonzepts der Mitglieder der »Nächtlichen Versammlung« erweisen vollends die Hochstellung der musisch-religiösen Paideia und den dadurch implizierten veränderten Rationalitätsbegriff bei Platon. Es ergibt sich so das Bild einer im Vergleich zur Politeia-Konzeption modifizierten Rationalität, einer aus Sensibilität, Intellektualität und Spiritualität konstituierten Vernünftigkeit, die nach den Vorstellungen des alten Platon die gemäße Weise ist, die Vollrealität unter den Bedingungen der menschlichen Schwäche zu erkennen und sich in und an ihr dauerhaft richtig zu orientieren.

Der Autor: Helmut Mai, geb. 1969 in Hadamar. Studium der Philosophie und Mathematik in Heidelberg. 2003 Promotion in Halle an der Saale. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Philosophischen Seminaren der Universitäten Heidelberg, Halle-Wittenberg und Mainz. 2004 FritzWinter-Preis.

https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Helmut Mai

Platons Nachlass Zur philosophischen Dimension der Nomoi

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48682-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80809-2

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Kapitel 1: Das Problem der Nomoi

. . . . . . . . . . . . . . . .

9

Kapitel 2: Der Anfang des Nomoi-Gesprächs . . . . . . . . . . . .

30

Kapitel 3: Die Nomoi als politisches Werk . . . . . . . . . . . . .

49

Kapitel 4: Die veränderte Paideia . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

Kapitel 5: Der Rationalitätsansatz in der Politeia

. . . . . . . . . . 102

Kapitel 6: Emotionalität und Spiritualität in den Nomoi

. . . . . . . 122

Kapitel 7: Der Gottesbeweis im X. Buch . . . . . . . . . . . . . .

152

Kapitel 8: Modifizierte Rationalität am Ende des Nomoi-Gesprächs . .

184

Abschluss: Platons Nachlass

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211

Stellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namenverzeichnis

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Vorwort

Die vorliegende Untersuchung ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die ich im Herbst 2013 am Fachbereich 05 »Philosophie und Philologie« der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eingereicht habe. Zuallererst möchte ich meiner lieben Frau, Dr. Gabi Mai, meinen tief empfundenen Dank aussprechen. Sie hat mich in jeder erdenklichen Hinsicht unterstützt und ohne sie wäre diese Arbeit niemals zustande gekommen. Eine Anbahnung der Gedanken, die in dieser Arbeit feste Gestalt gewonnen haben, fand im Heidelberger Kolloquium von Prof. Wolfgang Wieland statt. Insbesondere von Herrn Dr. Franz Josef Burk, einem mittlerweile leider verstorbenen väterlichen Freund, habe ich wichtige Fingerzeige erhalten. Viel verdankt diese Arbeit auch dem Hallenser Oberseminar von Prof. Rainer Enskat, in dem ich u. a. ausführlich Gelegenheit erhielt, mein Verständnis von Teilen des X. Buches der Nomoi weiter zu erproben. Die freundliche Aufnahme und wichtige Unterstützung meines Projekts durch Prof. Klaus-Dieter Eichler (Mainz) hat die schließliche Ausführung und Vollendung des lange schon Herangereiften ermöglicht. In den herzlichen Dank an alle genannten Personen möchte ich auch Herrn Lukas Trabert und sein Team für die überaus vertrauensvolle Zusammenarbeit mit einschließen. Gewidmet ist diese Arbeit meiner Mutter Elisabeth Mai, geb. Weyer (1940–1981). Mainz am Rhein, im September 2014

Helmut Mai

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Kapitel 1: Das Problem der Nomoi

Seit etwa 200 Jahren nimmt die philologische und philosophische Forschung Platons Nomoi zum Problem. Es waren die Forschungen Friedrich Asts, die eine Tradition von Arbeiten begründet haben, die die Nomoi in ihrem philosophischen Wert herabwürdigen und z. T. sogar für unecht erklären 1. Diese Marginalisierung der Nomoi, wenn es um ihren philosophischen Gehalt geht, scheint bis heute von der überwiegenden Mehrheit der Forscher mehr oder weniger mitgemacht zu werden. Daran ändert auch nichts die an sich sehr erfreuliche Tatsache, dass sich seit Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Nomoi-Forschung weltweit intensiviert hat, sodass die lange Zeit zu Recht erhobene Klage, die Nomoi würden von der Forschung vernachlässigt, so nicht mehr aufrecht erhalten werden kann 2. Die Nomoi-Forschung, bei der der Natur der Sache gemäß die Philologen einen fühVgl. Ast 1816, 384–392. Für eine Athetese der Nomoi haben sich danach ebenfalls der junge Eduard Zeller, Walter Bröcker und in jüngerer Zeit Victorino Tejera ausgesprochen. Auch G. Müller tendiert im Nachwort zur 2. Auflage seiner Nomoi-Monographie zu dieser Lösung. Karsten Kenklies hält sich in der Entscheidung zu dieser Frage bewusst zurück, was durch den Umstand, dass er primär als Pädagoge und nicht als Platon-Forscher die Nomoi analysiert, erklärlich ist. Bekanntlich hat Eduard Zeller sein Urteil unter dem Druck der Evidenz durch das aristotelische Zeugnis später revidiert. Vgl. Zeller 1839, 117–135, Bröcker 1964, 10, Tejera 1984, 139–152, Müller 1968, 210, Kenklies 2007, 16 f., Schöpsdau 1994, 142 Anm. 103. Für die philologische Forschung hat August Boeckh mit seiner Studie »Commentaria in Platonis qui fertur Minoem eiusdemque priores libros de Legibus«, Halle 1806, Pionierarbeit geleistet. Vgl. Görgemanns 1960, 1–5. Bereits Schleiermacher, bei dem Boeckh in Halle hörte, bezeichnet die Nomoi als »Nebenwerk«. Vgl. Schleiermacher 1996, 68 f. 2 Diesen »Aufschwung« in der Nomoi-Forschung bezeugen Bobonich 1991 u. 1996, Saunders 1991 u. 2000, Nightingale 1993, Schöpsdau 1994, Laks 2000. Aus dem Jahrzehnt davor sind besonders die thematisch-philosophisch orientierte Einführung von Stalley 1983 und die Edition der – allerdings noch aus den 60er Jahren stammenden – Vorlesungen von Georg Picht, die mit einer Einführung von Wolfgang Wieland versehen sind, zu nennen. Vgl. Picht 1990. Grundlegend für das Verständnis der heutigen 1

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1 · Das Problem der Nomoi

renden Part übernehmen, hat im abgelaufenen Jahrzehnt die Nomoi in aller Ausführlichkeit zum Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit gemacht. Zwei deutliche Belege dafür sind der 2003 erschienene Sammelband des VI. Symposium Platonicum der International Plato Society und ganz besonders der nun abgeschlossene dreibändige Nomoi-Kommentar von Klaus Schöpsdau, der ein unverzichtbares Hilfsmittel für die detaillierte Textarbeit an den Nomoi darstellt und den alten Kommentar von England ersetzt 3. In den Details können die Nomoi nun als weitgehend gut erforscht gelten und ebenso in der Blickrichtung, die die Nomoi als abschließenden Teil der politischen Philosophie Platons sieht, die durch die Dialoge Politeia, Politikos und Nomoi aufgespannt wird. Gerade jüngste Arbeiten haben zur weiteren Etablierung der Nomoi als dem zweiten großen Werk Platons zur politischen Philosophie neben der Politeia beigetragen 4. Wenn trotzdem hier davon die Rede ist, dass die in einer langen Tradition stehende philosophische Marginalisierung der Nomoi weiterhin Bestand hat, dann ist damit gemeint, dass von einem grundsätzlich philosophischen Standpunkt aus die Aussagen der Nomoi nicht wirklich als gleichwertig, geschweige denn höherwertig zu den Aussagen der Politeia oder anderer Dialoge der mittleren und späten Periode erachtet werden 5. Eigentlich platonische Philosophie und mit gewissen Abstrichen dann auch eigentliche Philosophie überhaupt findet sich nicht in den Nomoi,– so könnte man die Ansicht formulieren, die bewusst oder unbewusst die philologisch-philosophische Beschäftigung mit diesem Dialog leitet. »Wer Platons Philosophie als Philosoph sucht, der kann sich die Mühe sparen, die dieses schwere Werk dem Leser bereitet«. So hat bekanntlich Wilamowitz diese immer noch wirksame Ansicht formuliert, dass es sich bei den Nomoi um ein vom harten philosophischen Standpunkt aus minderwertiges Werk handelt 6. Forschungssituation bleiben die Arbeiten von G. Müller 1968 (1. Aufl. 1951), Görgemanns 1960 u. Morrow 1960. 3 Vgl. Scolnikov/Brisson 2003, Schöpsdau 1994, 2003, 2011 und England 1921. Als weitere Belege für die in der Nomoi-Forschung derzeit vorhandene Dynamik können Bordt 2006, Kenklies 2007, Mayhew 2008, Bobonich 2010 u. Horn 2013 dienen. 4 Vgl. Bobonich 2002, Lee 2002, Zehnpfennig 2008, Ricken 2008, 239–248. 5 Das gilt natürlich auch in ihrer Relation zur so genannten »Ungeschriebenen Lehre« Platons, auf die wir hier nicht näher eingehen werden. Vgl. aber den Abschluss der vorliegenden Untersuchung. 6 Wilamowitz 1919, I 648. Auch die in den letzten Jahren am stärksten beachtete Monographie zu den Nomoi, Christopher Bobonichs »Plato’s Utopia Recast« (2002), die grö-

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1 · Das Problem der Nomoi

Dass man sich bis heute bei dieser Ansicht beruhigen konnte, dazu hat die auch international stark beachtete Arbeit von Herwig Görgemanns enorm viel beigetragen 7. Görgemanns arbeitet darin die These, dass es sich bei den Nomoi um eine populäre Schrift handelt, die sich an ein unphilosophisches Publikum wendet, um so den ethischen Wertvorstellungen Platons Geltung zu verschaffen, umfassend und mit hoher philologischer Kompetenz aus 8. Die Besinnung auf den literarischen Charakter der Nomoi, den Görgemanns unter Verweis auf eine Textstelle aus dem VII. Buch (811b–812a) zumindest in Teilen als Schulbuchcharakter bestimmt, und den zugehörigen Adressatenkreis sollen klar machen, dass die Nomoi »kein philosophisches Werk im eigentlichen Sinne« sind 9. Diese eingängigen Analysen von Görgemanns, die davon ausgehen, dass Platon in den Nomoi von vornherein ein anderes, nicht eigentlich philosophisches Niveau der Überlegungen wählt, bieten jedem Nomoi-Forscher eine scheinbar sichere Zuflucht, der zunächst einmal davon ausgeht, dass Platon in seinem umfangreichsten und sehr wahrscheinlich letzten Werk 10 seine Philosophie auf dem Boden des bisher Erreichten noch einmal einen Schritt weiter bringen will, und dann mit dieser Annahme auf massive Probleme stößt. Und in der Tat lässt sich die Arbeit von Görgemanns als Antwort auf die in der Monographie von Gerhard Müller 9 Jahre zuvor in aller Radikalität herausgestellte These von der Fremdheit der Nomoi im ßere Revisionen und Veränderungen in der politischen Theorie der Nomoi im Vergleich zur Politeia herausarbeitet, erhebt nicht den Anspruch einer grundsätzlichen philosophischen Gleichwertigkeit zwischen Politeia und Nomoi. Bobonich setzt die Unterscheidung zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen als feste Größe voraus und entwickelt auf dieser Basis seine These von einer optimistischeren Betrachtung der ethischen Kapazitäten der Nicht-Philosophen in den Nomoi im Vergleich zur Politeia, vgl. 10–13, 479. Wollte man sich dieser Unterscheidung überhaupt bedienen, dann müsste man eher sagen, dass in den Nomoi eine pessimistischere Betrachtung der Philosophen vorwaltet. Wir werden im Verlauf der Untersuchung sehen, dass es angemessener ist, von einem für alle Menschen geltenden Rationalitätskonzept zu sprechen, das Platon in den Nomoi entwickelt. Was Philosophie ist und was nicht, das setzt Platon in den Nomoi nicht von vornherein voraus, sondern nimmt die Frage erneut in Angriff. 7 Vgl. Görgemanns 1960. Zur internationalen Wirkung dieser Arbeit vgl. Ostwald 1962, Stalley 1983, 9 f. u. 192, Nightingale 1993, Bobonich 1996, 253 Anm. 9. 8 Vgl. Görgemanns 1960, 4, 22, 56, 61 f., 69–71, 80 f., 85, 91, 100, 104–110 u. passim. 9 Görgemanns 1960, 56. Zur »Schulbuchthese« vgl. 7–17, 29, 102. Sie ist von Picht kritisiert worden. Vgl. Picht 1990, 31–38. 10 Grundlegende Informationen zu Datierung und Herausgabe der Nomoi gibt Schöpsdau 1994, 135–143.

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1 · Das Problem der Nomoi

Vergleich zum übrigen platonischen Oeuvre verstehen. Müller konstatiert eine »konstitutionelle Gebrochenheit« des Werkes, die sich nicht einfach durch geeignete Zusatzannahmen beheben lässt, sondern auf eine gedankliche Unklarheit zurückgeht, die »im Wesen sitzt« 11. Seine eindringlichen Analysen führen ihn in die »Aporie«: »Wie sollen wir begreifen, dass der Meister des Denkens ein so schwaches, verworrenes und mangelhaftes Werk geschaffen habe, in dem das helle Licht der platonischen Vernunft getrübt scheint?« 12. Die Schärfe des Urteils über das Werk und die Tatsache, dass G. Müller in der 2. Auflage seiner Monographie wieder mit der Radikallösung der Athetese der Nomoi spielte 13, die zuvor schon Ast und der junge Eduard Zeller, in deren Tradition er steht, angeraten hatten, waren – zumal nach dem Erscheinen der Arbeit von Görgemanns – nicht dazu geeignet, die NomoiForschung für seinen detailliert ausgearbeiteten Aporie-Befund zu interessieren. Man muss aber bedenken, dass die Konstatierung einer Aporie die Möglichkeit eröffnet, diese Aporie unter der Entwicklung eines ganz neuen, bisher so nicht in Betracht gezogenen Gesichtspunkts aufzulösen 14. Auch wenn man den Ansatz von Görgemanns als eine mögliche Auflösung der von G. Müller in Bezug auf die Nomoi ausgearbeiteten Aporie ansehen kann, so bleibt durch die Forschung G. Müllers die Aufgabe weiterhin bestehen, die Aporie in einer Weise aufzulösen, die die Nomoi in ihrem philosophischen Anspruch ernst nimmt und sie nicht von vornherein aus der Reihe der philosophisch vollwertigen Beiträge Platons herausnimmt. Genau das wird in der vorliegenden Untersuchung versucht durch die These, dass sich in Platons Nomoi ein modifiziertes Verständnis von Rationalität Bahn bricht. Die philosophische Marginalisierung der Nomoi beruft sich freilich auf Gründe, die im Text der Nomoi selber liegen. Auf diesen Text mit Überlänge müssen letztlich alle Argumente für und wider eine philosophische Relevanz dieses Werkes zurückbezogen werden. In diesem Punkt haben die Philologen einen strukturellen Vorteil gegenüber den Philosophen, was ihre Forschungsdominanz in der Nomoi-Forschung

Müller 1968, 185. Ich zitiere nach der 2. Aufl. des Werkes, die 1. Aufl. ist 1951 erschienen. 12 Müller 1968, 188. 13 Vgl. Müller 1968, 210. 14 Vgl. Aristoteles EN VII 4, 1146b 7 f. 11

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1 · Das Problem der Nomoi

mit erklärt. Denn die komplette Lektüre der Nomoi muss für einen Graezisten nicht eigens motiviert werden. Im Gegenteil. Allein aufgrund der Aussicht, seinen altgriechischen Wortschatz substanziell zu erweitern, wird sich der angehende Philologe diesem Pensum der Nomoi-Lektüre unterziehen wollen, selbst wenn er keinerlei philosophische Ambitionen hegt. In Wahrheit wird nicht nur der Philologe, sondern der Altertumskundler ganz allgemein ein Standard-Interesse am kompletten Nomoi-Text haben. Denn es ist uns kein weiterer Text überliefert, der in dieser Ausführlichkeit und Konkretion das Leben der griechischen Polis darstellt und so gleichsam Einblicke in den konkreten Polis-Alltag liefert, selbst wenn man die gewisse Verfremdung mit einberechnet, die durch die Überformung dieses Polis-Alltages durch Platons Normvorstellungen mit ins Spiel kommt 15. Die philologisch-altertumskundliche Beschäftigung mit dem kompletten NomoiText braucht nicht motiviert zu werden, die philosophische dagegen sehr wohl. Das, was ganz klar gegen eine philosophische Beschäftigung mit den Nomoi zu sprechen scheint, ist bereits der Titel dieser Schrift: Nomoi – Gesetze. Und dieser Titel ist nicht unberechtigt. Denn im Text der Nomoi ist ein Gesetzeskodex enthalten. Zwar ist von einem Entwurf einer Gesetzgebung für die noch zu gründende Kolonie Magnesia die Rede 16, aber es werden aus dem Mund des das Gespräch leitenden Atheners über weite Strecken bereits peinlich genau ausgearbeitete Einzelgesetze dargeboten, etwa in Buch IX zum Strafrecht oder in Buch XI zum Erbrecht 17. Das sind trockene und korrekt formulierte Texte, über die zu verfügen für die antike Rechtsgeschichte von unschätzbarem Wert ist. Eberhard Ruschenbusch hat sich die Mühe gemacht, das altgriechische Gesetzbuch, das in den Nomoi enthalten ist, gleichVgl. Burkert 1977, 489. Laks 2000, 268 bringt es folgendermaßen auf den Punkt: »One could on the basis of the Laws write a study on ›daily life in the Platonic city‹«. 16 Vgl. 702d, 734e, 768c, 934c. Vgl. auch Schöpsdau 1994, 518 z. St. 701c4–702e2. Die in der Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (= Schöpsdau 1977) erschienene Übersetzung von Klaus Schöpsdau und Hieronymus Müller, die wir hier, wenn nicht anders vermerkt, zugrunde legen, übersetzt 702d systasis mit »Entwurf«, was im Blick auf die anderen Stellen und den Kontext ganz richtig ist. Es sei hier noch einmal daran erinnert, dass es keine Schleiermacher-Übersetzung der Nomoi ins Deutsche gibt. Seit Abschluss des Schöpsdau-Kommentars 2011 liegt wieder eine aktuelle deutsche Gesamtübersetzung der Nomoi vor. Im Folgenden beziehen sich Stellenangaben ohne Werkstitel auf die Nomoi. 17 Vgl. 865a–874d, 922a–926d. 15

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1 · Das Problem der Nomoi

sam herauszudestillieren und gesondert zu veröffentlichen. Herausgekommen ist dabei ein erstaunlich schmaler Band 18. Ein Grund dafür wird uns noch beschäftigen, aber es sei jetzt schon an die scheinbar selbstverständliche Tatsache erinnert, dass die Nomoi ein Dialog und kein Gesetzbuch sind, obwohl sich aus ihnen – wie etwa Ruschenbusch zeigt – ein Gesetzbuch abstrahieren lässt. Ich werde im Folgenden den Dialogcharakter dieses Werkes verteidigen und ich halte ihn auch für wesentlich, um die noch herauszuarbeitende philosophische Intention der Nomoi einzusehen. Aber ich gebe gleich zu Beginn zu, dass Platon im Grunde die Möglichkeiten des Dialogs sprengt, wenn er den Athener im Laufe des Gesprächs ein ganzes Gesetzbuch in der entsprechenden Terminologie mehr oder weniger druckreif entwickeln lässt. Anders als bei hochanspruchsvollen rein philosophischen Gedankengängen ist das Extemporieren derart technischer Texte in dieser Genauigkeit und in diesem Umfang selbst für einen erfahrenen Juristen nicht mehr vorstellbar. Dass wir diese Texte im Dialog Nomoi finden, ist sicherlich dem Willen Platons geschuldet, dieses schriftlich vorliegende Gesetzesmaterial in das Gespräch mit einzubringen. Was aber hat die Formulierung und Präsentation von Gesetzen mit Philosophie zu tun? In dieser Frage lassen sich wohl die ersten Bedenken gegen einen hohen philosophischen Stellenwert der Nomoi zusammenfassen. Die Philosophie als Grundwissenschaft mag weite Bereiche des Wissens abdecken, aber auch sie hat Grenzen. Um die Bedenken pointiert zu formulieren, können wir uns für den Augenblick einmal an der mittelalterlichen Einteilung des Wissens orientieren. Während die drei »oberen« Fakultäten an der mittelalterlichen Universität von der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin gebildet wurden, bildete die Philosophie die »untere« 4. Fakultät. Wechselt Platon – anachronistisch formuliert – mit den Nomoi also die Fakultät und wird Jurist? In der Tat sind die Nomoi ohne eine umfangreiche Beschäftigung Platons mit bereits vorhandenem Gesetzesmaterial nicht denkbar. Die große Studie von Glenn Morrow hat gezeigt, dass es vor allem das attische Recht ist, das den historischen Hintergrund für den Nomoi-Entwurf abgibt 19. Man hat daher auch davon Vgl. Ruschenbusch 2001. Die Gesetzestexte finden sich zweisprachig in 68 Paragraphen auf den Seiten 26–55. Vgl. auch England 1921, 1. 19 Vgl. Morrow 1960, 5 f., 74–92, 592. Vgl. auch Ruschenbusch 2001, 7 f.: »Doch trotz aller Schwierigkeiten beim Vergleich steht heute fest, daß Platon bei der Abfassung der 18

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1 · Das Problem der Nomoi

gesprochen, dass Platon als Folge seines Jura-Studiums in den Nomoi die Mentalität eines Juristen an den Tag legt 20. Aber eine solche Formulierung wäre irreführend, wenn man nicht zugleich darauf aufmerksam machte, dass die juristische Enge und Korrektheit, die wir in den Nomoi finden, die Kehrseite einer freien Weite der Besinnung ist, die auch und sogar primär in ihnen praktiziert wird. Es ist die Ebene der »metalegislativen Reflexion« – wie André Laks sehr gut und sehr treffend gesagt hat 21 –, die in den Nomoi einen sehr großen Raum einnimmt. Diese in den Nomoi praktizierte »meta-legislative Reflexion« ist das Einfallstor für die Philosophie in diesem Werk und es ist vorderhand nicht klar, welche Art von Philosophie das ist. Gewiss ist es nicht falsch, hier zunächst an prinzipielle juristische und rechtsphilosophische Fragen zu denken, wie sie Platon im so genannten Strafrechtsexkurs des IX. Buches zur theoretischen Begründung des Strafrechts vor dem Hintergrund der sokratischen These von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns behandelt 22. Aber der Bereich der »meta-legislativen Reflexion« reicht in den Nomoi weiter. Er führt, um es wieder anachronistisch zu formulieren, aus dem Bereich der juristischen Fakultät hinaus. Ganz allgemein wird in den Nomoi die Möglichkeit »meta-legislativer Reflexion« durch die Innovation der Nomoi, die so genannten Proömien geboten. Es ist daher kein Wunder, dass gerade in den philosophisch orientierten Nomoi-Forschungen dieser Innovation besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird 23. Auch wir wollen jetzt die Passage aus dem IV. Buch, in der die Proömien eingeführt werden, sowie eine damit eng zusammenhängende Passage aus dem IX. Buch einer genaueren Analyse unterziehen, um unsere Überlegungen weiter voran zu treiben. Innerhalb der für die Nomoi insgesamt zentralen Ansprache an die Siedler leitet der Athener seine vorher bereits kurz angeklungene Vorstellung von einem Überredungselement in den Gesetzen folgendermaßen ein: »Soll nun der von uns mit der Gesetzgebung Betraute

Gesetze dem positiven Recht gefolgt ist, und zwar in der Hauptsache dem Recht Athens: Von insgesamt 68 Gesetzen haben 64 ein Gegenstück im athenischen Recht, 59 mit Sicherheit und weitere 5 in aller Wahrscheinlichkeit.« 20 Vgl. Gernet 1955, 46. 21 Vgl. Laks 2000, 266. 22 857b–864e. 23 Vgl. Bobonich 1999, 380 u. 1996, 264 f., Laks 2000, 285–290, Annas 2010.

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1 · Das Problem der Nomoi

überhaupt nichts Derartiges am Beginn seiner Gesetzgebung vorausschicken, sondern sogleich verkünden, was man tun soll und was nicht, und sich nach Androhung der Strafe einem anderen Gesetz zuwenden, ohne ein einziges Wort der Aufmunterung und Überredung (paramythias de kai peithous) seinen gesetzlichen Anordnungen hinzuzufügen?« (719e–720a) 24. Die Idee, die an dieser Stelle des Gesprächs ins Spiel kommt, ist die, dass dem herkömmlichen Gesetz, das schematisch aus Befehl und Strafandrohung besteht, noch ein persuasives Element vorgeschaltet werden soll, das den Bürger zur Befolgung der Gesetzesanordnung aufmuntern und überreden soll, sodass es erst gar nicht zu einem Gesetzesverstoß kommt und der eigentliche Gesetzestext gewissermaßen überflüssig wird. Das persuasive Element und das herkömmliche, drohende Gesetz bilden so – wie es in einer vorläufigen Formulierung heißt – ein »doppeltes« Gesetz, das aus den Elementen Überredung und Gewalt (peithô kai bia) besteht 25. Diese Formulierung wird aber wenig später im Gespräch an einer Stelle, die dialogtechnisch aufs Höchste unterstrichen ist, korrigiert: Es handelt sich in Wahrheit um Gesetz und Vorrede (prooimion) zum Gesetz 26. Das persuasive Element ist die Vorrede, das Proömium zum Gesetz, das gleich einem musikalischen Präludium auf das, was kommt, angemessen einstimmen soll. Das Proömium hat die Funktion, die Akzeptanz der folgenden Anordnung beim Bürger vorzubereiten, indem es Wohlwollen (eumeneia) und Lernbereitschaft (eumatheia) beim Adressaten des Gesetzgebers hervorrufen soll 27. Nach der Einführung der Idee des Proömiums, die in seinem Bewusstsein durch göttliche Mithilfe zustande gekommen ist 28, fordert der Athener allgemeine und spezielle Proömien für die Gesetze 29. Dieser Forderung kommt die dann folgende Nomoi-Gesetzgebung im Großen und Ganzen nach, wobei zu berücksichtigen ist, dass das Proömiengebot für »kleine« Gesetze nicht verpflichtend ist 30. Die Ansprache an die Siedler wird dann in dem neuen Bewusstsein

24 25 26 27 28 29 30

Vgl. 718a–b. Vgl. 722b. Vgl. 722c–e und Schöpsdau 2003, 224. Vgl. 723a. kata theon tina, 722c6. Vgl. 723b. Vgl. 723c–d.

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1 · Das Problem der Nomoi

fortgesetzt, dass es sich nun um eine allgemeine Vorrede zur Gesetzgebung handelt 31. Insofern bei dieser Einführung des Proömiums in den Nomoi der Aspekt der Überredung (peithô) die Führung übernimmt, haben sich starke Zweifel an der philosophischen Valenz der Proömien angeschlossen, die insbesondere von Görgemanns ausgearbeitet worden sind 32. Denn der Peitho-Charakter der Proömien scheint diese von Platon wahrscheinlich neu geschaffene literarische Gattung des Gesetzesproömiums auf die Seite der Rhetorik und damit in einen Gegensatz zur wissenschaftlichen Philosophie zu bringen. Hinzu kommt der durch den musikalischen Vergleich, der auf die musikalische Bedeutung von Proömium (Vorspiel) und Nomos (Lied) anspielt 33, nahe gelegte Gedanke, dass hier an Stimmungen und Gefühle appelliert werden soll, um so ein gesetzeskonformes Verhalten zu erwirken. So kann der Eindruck entstehen, als verfolge Platon in den Nomoi anders als in seinen sonstigen Dialogen das Projekt einer manipulativen Rhetorik im Dienste der Durchsetzung seiner rigorosen legislativen Vorstellungen. Diese an ihren Peitho-Charakter anknüpfende philosophische Abwertung der Proömien macht die Voraussetzung, dass Rhetorik und Überredung in einem klaren Gegensatz zu rationaler Philosophie stehen. Dies muss allerdings keineswegs der Fall sein 34. Es ist der Arztvergleich, mit dem der Athener gleich bei der Einführung des Proömiums im IV. Buch diese falsche Vorstellung von einem rein manipulativen Redestück korrigiert und auf den er im IX. Buch noch einmal zurückkommt. Im unmittelbaren Anschluss an die oben im Wortlaut zitierte Stelle, in der als Alternative zur bisherigen Gesetzgebung eine um ein persuasives Element erweiterte Gesetzgebung in Sicht kommt, stellt der Athener einen Ärztevergleich an 35. Der Vergleich rekurriert auf zwei Arten von Ärzten: Dem freien Arzt wird der Sklaven-Arzt, der Vgl. 723d–e. Vgl. Görgemanns 1960, 49–51. 33 Anspielungen auf die musikalische Bedeutung von nomos finden sich 700b, 722d–e, 734e, 775b, 799e. Vgl. Schöpsdau 2003, 247 z. St. 722d3-e1. 34 Darauf hat Christopher Bobonich hingewiesen, der sich dafür stark macht, dass in den Nomoi das Programm einer »rational persuation« verfolgt wird, vgl. Bobonich 1999, 374–394. Ich stimme ihm grundsätzlich zu. Allerdings bleibt die Frage, was genau hier »rational« heißt, vgl. ebd. 387 Anm. 46. 35 Vgl. 720a–e. 31 32

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zunächst als »Arztgehilfe« eingeführt wird, gegenüber gestellt. Freier Arzt und Sklaven-Arzt werden genau genommen nicht durch ihren gesellschaftlichen Stand oder den gesellschaftlichen Stand ihrer Patientenschaft definiert, obwohl der faktische Zustand der antiken ZweiKlassen-Medizin den Hintergrund für den Vergleich abgibt, sondern durch ihr Wissen. Entscheidend ist, dass die Sklaven-Ärzte ohne jede Begründung verordnen: »und kein einziger von solchen Ärzten pflegt auch nur irgendeine Begründung (logon) für die jeweilige Krankheit eines Sklaven zu geben oder sich geben zu lassen, sondern er verordnet ihm das, was ihm aufgrund seiner Erfahrung (ex empeirias) gut scheint, als wüsste er genau Bescheid, eigenmächtig wie ein Tyrann« (720c). Die Sklaven-Ärzte behandeln aufgrund von Erfahrung ohne eine begründende Diagnose. Das heißt nicht, dass sie nicht erfolgreich behandeln würden. Aber dieses Tun stellt noch keine eigentliche Wissenschaft dar, die erst dort beginnt, wo die theoretische Begründungsebene betreten wird. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der Wissensstufe der Erfahrung (empeiria) und der Wissensstufe der Kunst (technê), den Aristoteles im ersten Metaphysikbuch herausgearbeitet hat und den Platon hier im Arztvergleich vorweggenommen hat 36. Der freie Arzt nämlich hat aufgrund seines freien Blicks auf das Wesen der Sache (physis), aufgrund seines offenen Nachforschens und Hinhörens auf das, was der Patient und seine Freunde ihm sagen, einen Zugang zur Begründungsebene. Er kann dem Patienten seine Krankheit erklären und ihn so im Gespräch von den notwendigen Therapiemaßnahmen überzeugen. Im IX. Buch wird dieser Arztvergleich aus dem IV. Buch, in dem die Praxis des freien Arztes und die Praxis des Sklavenarztes separiert voneinander beschrieben werden, weitergeführt dadurch, dass sich der Athener die Situation vorstellt, in der ein Sklavenarzt einen freien Arzt direkt in seiner Sprechstunde beobachtet: »wenn einmal einer der Ärzte, welche die Heilkunst rein empirisch und ohne theoretische Grundlage betreiben, auf einen freien Arzt träfe, der sich mit einem freien Kranken unterhält (dialegomenon) und sich dabei beinahe philosophischer Argumente bedient (tou philosophein engys chrômenon men tois logois), und die Krankheit bei der Wurzel (ex archês) packt, indem er auf die allgemeine Natur des Körpers zurückgeht, so würde jener gleich 36

Vgl. Aristoteles Met. A 1, 981a 2–30.

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in lautes Gelächter ausbrechen und keine anderen Reden vorbringen als die, welche in diesem Fall die meisten der sogenannten Ärzte schnell bei der Hand haben; er würde nämlich sagen: ›Du Tor, du behandelst ja nicht den Kranken, sondern belehrst ihn geradezu (paideueis), als müßte er ein Arzt, nicht aber gesund werden!‹« (857c–e). Wenn wir den Arztvergleich im Hinblick auf die Frage nach der philosophischen Valenz der Proömien in den Nomoi auswerten, dann ist es ganz klar die Begründungsfunktion der Proömien, die durch ihn herausgestrichen wird. Proömien geben bzw. versuchen Begründungen für die Gesetze bzw. Gesetzeskomplexe zu geben, denen sie vorgeschaltet sind 37. Die Rhetorik des Arztes im Gespräch mit seinem Patienten ist eine in der Sache fundierte Rhetorik, die zum Ausgangspunkt den wahren Zustand des Patienten hat und von dort her ihre Gründe empfängt. Der Arztvergleich macht also klar, dass die Ebene der Proömien in den Nomoi grundsätzlich die Ebene eines begründenden Denkens ist. Insofern weite Teile der Nomoi den Status von Proömien haben, was auch den von Ruschenbusch erhobenen Befund eines relativ schmalen reinen Gesetzeskodex erklärt, ist dieses begründende Denken in den Nomoi in erheblicher Quantität vorhanden. Die Streitfrage nach der Qualität dieses begründenden Denkens läuft in nuce auf die Frage hinaus, wie die im letzten Zitat vorfindliche Formulierung von den »beinahe philosophischen Argumenten«, denen sich der freie Arzt bedient, auf die Proömien zu übertragen ist. Man hat in Bezug auf die Nomoi geltend gemacht, dass in ihnen das Wort philosophia nicht vorkomme und dass mit dem Wort auch die Sache fehle 38. An unserer Stelle kommt immerhin das zugehörige Verb philosophein vor 39. Aber zugegebenermaßen lässt sich die Formulierung von den »beinahe philosophischen Argumenten« so verstehen, dass trotz der Annäherung der Status des eigentlichen Philosophierens gerade nicht erreicht wird und so in den Proömien auch nicht Philosophie im eigentlichen Sinne stattfindet, sondern allenfalls ein abgeschwächtes Philosophieren. Diese Deutung der Stelle scheint mir allerdings nicht zwingend zu sein 40. Denn denkbar ist auch, dass hier in

Vgl. Wieland 1982, 33 f. Vgl. Müller 1968, 13 und Morrow 1960, 573. 39 Vgl. auch 967c. 40 Wäre sie es, so zöge von nun an dieses abgeschwächte Philosophieren unsere Aufmerksamkeit auf sich. 37 38

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vorsichtiger Weise das entscheidende Stichwort genannt wird, unter dem das Proömien-Projekt einzuordnen ist. Auch die sich in unmittelbarer Nähe befindlichen Ausdrücke dialegomenon und ex archês verstärken den Eindruck, dass mit diesem Projekt ein prinzipiell philosophischer Zugang intendiert ist. Das freie Sprechen des Arztes mit dem Patienten über die Gründe seines Zustandes, das einen prinzipiellen Zugang darstellt, wird an unserer Stelle indirekt durch die spöttische Reaktion des Sklavenarztes benannt: »Du Tor, du behandelst ja nicht den Kranken, sondern belehrst ihn geradezu (paideueis), als müßte er ein Arzt, nicht aber gesund werden« (857e) 41. Die Offenlegung der theoretischen Hintergründe der Behandlung gegenüber dem Patienten, die im Grunde einer Arztausbildung gleichkommt, wird hier durch das Verb paideuein ausgedrückt. Es ist der Terminus der paideia, unter den dann auch das Proömien-Projekt eingeordnet wird. Das macht der Athener auf die Nachfrage des Kreters Kleinias hin, ob der Sklavenarzt denn nicht recht habe mit seiner Bemerkung, deutlich: »Vielleicht, zumal wenn er daneben auch noch bedächte, dass jeder, der über Gesetze so spricht, wie wir es jetzt tun, die Bürger belehrt und erzieht (paideuei), nicht aber ihnen Gesetze gibt (nomothetei)« (857e). Trotz der großen Wertschätzung, die der Begriff der Paideia im Allgemeinen genießt, scheint die Unterordnung des Proömien-Projekts unter diesen Begriff, dieses Projekt philosophisch eher herabzustufen. Die deutsche Übersetzung »Erziehung« vermag nicht recht zu vermitteln, was im Kontext unserer Stelle mit Paideia gemeint ist: Eine Besinnung auf die Hintergründe der Gesetzgebung, die die Ebene des Prinzipiellen erreicht 42. Diese Besinnung wird im Dialog dadurch ermöglicht, dass kein akuter Handlungszwang, sofort Gesetze geben zu müssen, besteht, »als ob dies nicht auch noch morgen möglich wäre« (858b). Zwar gibt es den konkreten Auftrag an Kleinias, zusammen mit neun anderen Männern eine Gesetzgebung für eine neu zu gründende Kolonie auszuarbeiten 43, aber bis dahin ist noch genügend Zeit. Diese Dialogsituation ermöglicht den von Laks beobachteten wiederholten

Denkbar ist auch, dass die Formulierung von den »beinahe philosophischen Argumenten« die Bewusstseinsstufe des Sklaven-Arztes repräsentiert. Dann wäre keineswegs ausgeschlossen, dass es sich hier um tatsächliche philosophische Argumente handeln soll. 42 Zum Zusammenhang von paideia und Prinzipienwissen vgl. Aristoteles Met. IV 4. 43 Vgl. 702b–d. 41

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Aufschub der eigentlich legislativen Arbeit zugunsten grundlegender Überlegungen 44. Das wird auch durch das Bild der Bauleute ausgedrückt, die in Ruhe erst einmal Baumaterial zusammentragen, aus dem sie dann nachher auswählen. Nicht zufällig ist an dieser Stelle zweimal von scholê, Muße, die Rede, dem Signalwort bei Platon und Aristoteles, um die für die theoretisch-philosophische Einstellung unerlässliche Ausgangssituation zu bezeichnen 45. So kann der Athener etwas später sagen: »Denn wir werden ja erst Gesetzgeber und sind es noch nicht; aber vielleicht werden wir es bald« (859c). Der Nomoi-Dialog ist kein Gesetzbuch. Neben der Statuierungsphase gibt es in ihm eine Explorationsphase, die nie abgeschlossen wird. Das erklärt das in diesem Werk vorfindliche Ineinander von förmlicher, teils peinlich genauer Gesetzgebung und Weite der grundsätzlichen Überlegung. Welche philosophische Qualität diese Weite der grundsätzlichen Überlegung hat, muss in jedem Einzelfall entschieden werden 46. Die grundsätzlichen Äußerungen dazu, die wir im Dialog finden, berechtigen aber m. E. noch nicht zu dem Schluss, dass hier ein nur minderwertiges Philosophieren stattfindet. Auch eine andere Formulierung, die wir im IV. Buch finden, scheint dies zu bestätigen. Es war bereits davon die Rede, dass die Einführung des Proömien-Gedankens in den Nomoi dialogtechnisch auf ganz besondere Weise unterstrichen wird. Die drei Gesprächsteilnehmer – der Athener, der Kreter Kleinias und der Spartaner Megillos – haben nämlich zur Mittagszeit einen Rastplatz erreicht. Der Athener sagt in diesem Zusammenhang: »Denn seit wir über die Gesetze zu sprechen begonnen haben, ist aus dem frühen Morgen bereits Mittag geworden, und wir sind zu diesem wunderschönen Ruheplätzchen gelangt, ohne von etwas anderem als von Gesetzen zu sprechen (peri nomôn dialegomenoi); Gesetze aber vorzutragen, damit scheinen wir eben erst den Anfang zu machen; alles Vorhergehende war für uns nur eine einleitende Vorrede (prooimia) zu den Gesetzen« (722c–d). Die Rede ist hier von dem bisherigen Gespräch der Drei, also dem, was wir vom I. Buch der Nomoi an bis zu dieser Stelle im IV. Buch finden. Diese bisherigen Gesprächsentwicklungen werden hier als Vgl. Laks 2000, 263 u. 288. Vgl. 858b–c. Zur philosophischen Bedeutung von scholê vgl. Theät. 172c–d und Aristoteles Met. A 1, 981b 20–25. 46 Vgl. Schöpsdau 2003, 223 f. und Stalley 1994, 171–173. 44 45

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Proömien zu den noch kommenden Gesetzen eingestuft 47. Unmittelbar zuvor werden diese selben Gesprächsentwicklungen als ein »Sprechen von Gesetzen« bezeichnet und hier benutzt der Athener das Wort dialegesthai; er hätte aber auch, wie der Anfang der Passage zeigt, nur das neutrale legein verwenden können. Dass die Proömien hier in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem dialegesthai, das seit der Politeia die Kerntätigkeit des Philosophen bezeichnet, gebracht werden, scheint mir ein gezielter Hinweis Platons auf ihre hohe philosophische Valenz zu sein. Natürlich lässt sich das Wort dialegesthai rein umgangssprachlich verstehen. Aber für jeden Dialog Platons nach der Politeia gilt, dass wir auch die hohe philosophische Bedeutung, die das Wort seitdem hat, mit einkalkulieren müssen. Nun sind wir aber durch Aristoteles in der glücklichen Lage, sicher zu wissen, dass die Nomoi nach der Politeia geschrieben worden sind 48. Die hier herausgegriffene Formulierung des peri nomôn dialegesthai könnte als die im Text der Nomoi nachweisbare altgriechische Urformulierung für das, was Laks sehr treffend »meta-legislative Reflexion« genannt hat, gelten. Die Nomoi dokumentieren Gesetze, aber sie dokumentieren auch und zuvor schon ein Nachdenken über Gesetze. Es ist vorderhand nicht klar, was alles auf dieser metalegislativen Ebene zu Tage gefördert werden kann. Meine These ist, dass sich auf dieser metalegislativen Ebene ein Wandel im Verständnis von Rationalität bei Platon ablesen lässt. Allerdings führt uns das Stichwort dialegesthai und der aus ihm gebildete Terminus Dialektik auch wieder zu den Standard-Vorwürfen gegen die Qualität der auf dieser Metaebene geäußerten Überlegungen. Dass man die in den Nomoi entwickelten Überlegungen für zweitklassig oder unphilosophisch hält, wird immer auch mit dem Fehlen von Erörterungen zur Ideenlehre begründet, die nach der Lehre der Politeia Kernaufgabe des Dialektikers sind. Bekanntlich fehlen derartige Erörterungen in den Nomoi jedoch nicht ganz, sondern auf sie wird an prominenter Stelle am Ende des ganzen Werks im Stile eines frühsokratischen Dialogs, der um die Frage nach der Einheit und Vielheit

Gemäß 734e lässt sich in einem noch weiteren Sinne das in den Büchern I-V stattfindende Gespräch bis zum Ende der Rede an die Siedler als Proömium verstehen, vgl. Schöpsdau 1994, 99. 48 Vgl. Aristoteles Pol. B 6, 1264b 26 f. 47

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der Tugend dreht, hingewiesen 49. Da es hier um die Lehrstoffe geht, die die Mitglieder des Kollegiums der Nächtlichen Versammlung, das für die Erhaltung des Nomoi-Staates Sorge tragen soll, zu beherrschen haben 50, kann der Vorwurf nicht gut zutreffen, Platon habe dem Programm des dialektischen Philosophierens, das in der Politeia ausgearbeitet worden ist und in den sokratischen Frühdialogen seine Wurzeln hat, in den Nomoi seine hohe Wertschätzung versagt. In der Tat finden sich in den Nomoi gerade zu Anfang, aber auch zwischendurch immer wieder einmal sokratisch anmutende Passagen, in denen der Athener im Stile eines Sokrates argumentiert und die die Frage nach dem Verhältnis, in dem dieser unbenannte Athener zur Sokratesfigur steht, aufwerfen 51. In dem Bemühen um eine philosophische Rehabilitierung der Nomoi ist auch auf die Beziehung des Sokratisch-Elenktischen auf die für die Nomoi so charakteristischen Proömien hingewiesen worden: »the Socratic model of a dialectic conversation constitutes the horizon within which the theory of the legislative preamble must be situated« 52. Insofern allerdings das Richtmaß für diese insbesondere von Christopher Bobonich durchgeführten Versuche, das platonische Proömium vor dem Hintergrund der sokratischen philosophischen Praxis zu deuten, der aktuell durchgeführte kritische Elenchos ist, von dem das Proömium allenfalls eine gute Nachahmung sein kann, bleibt auch von hieraus der Eindruck einer gewissen Zweitklassigkeit der Überlegungen in den Nomoi zurück 53. Die Zweitklassigkeit der Überlegungen in den Nomoi gerade gegenüber dem Politeia-Entwurf scheint aus einer wichtigen Passage aus

Vgl. 963a–966b, bes. 965c. Vgl. 965b–966b. Die »Nächtliche Versammlung« wird erstmals 951d–952b erwähnt und beschrieben. 961a–c eröffnet der Athener seinen Mitunterrednern dann die eigentliche Bestimmung dieser Versammlung, die in der Erhaltung des Nomoi-Staats liegt. Vgl. Kapitel 8 dieser Untersuchung. 51 Vgl. 626b–628a und Schöpsdau 1994, 159 f. z. St. 626b5–627c2. Vgl. auch Bobonich 1996, 250. Weitere »sokratische« Passagen: 639a–640d u. 686b–688e, vgl. Schöpsdau 1994, 213 u. 405. Die Ähnlichkeit des Atheners mit Sokrates geht bis in die Anredeund Partikelwahl. Die Frage des Verhältnisses zwischen dem Athener und Sokrates werden wir weiter unten erörtern. 52 Laks 2000, 289. 53 Vgl. Bobonich 1996, 262 f., der die Aufmerksamkeit besonders auf den »imaginierten Dialog« im X. Buch lenkt. Auf das Phänomen der »fingierten Dialoge« in den Nomoi hat bereits Zeller 1839, 79 ff. hingewiesen. 49 50

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dem V. Buch der Nomoi sogar eigens hervorzugehen 54. Wir werden durch sie daran erinnert, dass in den Nomoi nicht nur von juridischen Gesetzen, sondern auch von konstitutiven Gesetzen die Rede ist. Demgemäß heißt es auch schon zu Beginn des Gespräches im I. Buch, dass »über Staatsverfassung und Gesetze« (peri te politeias kai nomôn) gesprochen werden soll 55. An unserer Stelle wird nun vom Athener die beste Staatsverfassung als diejenige bestimmt, in der alle alles gemeinsam haben und jeglicher Privatbesitz abgeschafft ist. In diesem Zusammenhang tauchen die aus der Politeia bekannten Forderungen der Frauen- und Kindergemeinschaft wieder auf. Über das aktuelle Vorhaben dagegen urteilt der Athener: »Derjenige Staat aber, dessen Gründung wir jetzt in Angriff genommen haben, dürfte wohl, wenn er verwirklicht würde, der Unsterblichkeit am nächsten kommen und dem Wert nach den zweiten Rang einnehmen; den dritten aber werden wir danach, so Gott will, vollenden« (739e) 56. Man kann diese Stelle als Beleg dafür lesen, dass das Politeia-Konzept dem Nomoi-Konzept an sich überlegen ist und dass mithin auch die »Philosophie« der Nomoi nur zweitrangig ist. Aber einmal erheben sich Zweifel daran, ob Platon an dieser Stelle mit der besten Verfassung überhaupt das Politeia-Konzept gemeint hat 57. Besonders aber ist zu bedenken, dass die stärkere Vgl. 739a–740a. Vgl. 625a. 641d wird das Thema in umgekehrter Reihenfolge noch einmal genannt. 56 Die Rede von einem »dritten« Staat lässt sich mit Bezug auf den Unterschied von Nomoi-Entwurf und konkreter Realisierung dieses Entwurfs erklären. Zunächst einmal handelt es sich bei den Nomoi um ein theoretisches Konzept. Vgl. 702e und Schöpsdau 1994, 309–312. 57 Die starke Ähnlichkeit der Ausführungen 739b–d mit Resp. 461e–462e und insbesondere die Erwähnung der Frauen- und Kindergemeinschaft scheinen dafür zu sprechen, dass mit dem ersten Staat der Politeia-Entwurf gemeint ist. Dafür argumentiert auch Schöpsdau 1994, 312 f. unter Zurückweisung des Gegenarguments, dass sich der in Nomoi 739c–d geforderte Kommunismus anders als in der Politeia auf die ganze Polis bezieht. Man beachte aber, dass die Forderung nach größtmöglicher Einheit im Staat, die so weit geht, dass sogar eine einheitliche Emotionalität hergestellt werden soll, eine abstrakte Forderung ist, der man sich auf verschiedene Weise nähern kann. Man kann an dieser Einheitsforderung festhalten, selbst wenn man das in der Politeia entwickelte konkrete Konzept der Philosophenherrschaft für nicht mehr zielführend hält. In der Tat scheint die Nomoi-Konzeption für die Herstellung der geforderten emotionalen Einheit mit ihrem Schwerpunkt auf konkreten staatlichen und religiösen Festivitäten geeigneter zu sein als die Politeia-Konzeption. Die konkrete Forderung nach Aufhebung des Privateigentums und nach Frauen- und Kindergemeinschaft schließt freilich aus, die Nomoi-Konzeption für diesen ersten Staat zu halten. Daher scheint mir mit diesem 54 55

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Berücksichtigung der menschlichen Wirklichkeit, die man im NomoiKonzept zu Recht sieht und die man für seine Zweitrangigkeit verantwortlich macht, bereits für sich genommen einen philosophischen Akt der Realitätserfassung darstellt, der über Entwürfe, die diese Realität noch nicht erfasst haben, hinausgeht. An dieser Stelle ist es angebracht, auf einen in den Proömien wiederholt vorgebrachten Grund von philosophischer Tragweite hinzuweisen, der den Charakter der Gesetzgebung in den Nomoi bestimmt: Der Sachverhalt der menschlichen Schwäche. An verschiedenen Stellen wird in den Proömien die Diagnose eines prinzipiell schwachen Menschen gegeben, der mit unumschränkten Befugnissen überfordert wäre und sich niemals rein von sich aus voll und ganz unter Kontrolle hat 58. Diese Diagnose einer geheimnisvollen menschlichen Schwäche wird ihrerseits nicht mehr weiter begründet. Sie stellt aber die Grundlage für die Konzeption eines Gesetzes-Staates in den Nomoi dar, in der jeder ohne Ausnahme unter dem Gesetz steht und grundsätzlich immer für seine Amtsführung rechenschaftspflichtig ist; im Speziellen liefert sie den Grund dafür, wieso es überhaupt dazu kommt, dass Menschen straffällig werden. Natürlich ist der starke Einbezug der menschlichen Realität, wie er in der Lehre von der menschlichen Schwäche grundlegend zum Ausdruck kommt, der Nomoi-Forschung nicht verborgen geblieben. Die Berücksichtigung des »menschlichen Faktors« dient nicht nur zur Erklärung der Veränderung in der politischen Philosophie Platons seit der Politeia. Auf sie wird auch verwiesen, um plausibel zu machen, dass in den Nomoi ein neues anthropologisches Denken am Werk ist, das bereits die Brücke zu den Forschungen des Aristoteles schlägt 59. Der philosophische Ertrag der Nomoi scheint daher auf den Feldern der politischen Philosophie und (philosophischen) Anthropologie zu suchen zu sein. Eine derartige philosophische Kanalisierung der in den Nomoi herausgestellten menschlichen Realität scheint mir allerdings noch nicht die volle philosophische Tragweite dieses Sachverhalts zu erfassen. Der in den Nomoi erhobene Befund einer prinzipiellen menschlichen Schwäche gibt Anlass zur Frage, ob aufgrund dieses Befundes ersten Staat weder die Politeia-Konzeption noch – was ohnehin klar ist – die NomoiKonzeption gemeint sein zu können. Es ist dann in der Tat ein Staat für »Götter und Göttersöhne« (739d). 58 Vgl. 713c, 874e–875d, 947e; 691c–d bezieht diese allgemeine Schwäche auf die junge Herrschernatur. 59 Vgl. Laks 2000, 275 und Sharafat 1998.

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nicht auch Modifikationen im Verständnis von menschlicher Rationalität nötig sind, ob mithin die Konzeption einer starken, rein intellektuellen Rationalität – wie sie der Politeia entnommen werden kann – unverändert Bestand haben kann. Im Folgenden werde ich mich daher auf die Suche nach einer gesamtphilosophischen Aussage der Nomoi analog zu der gesamtphilosophischen Aussage, die die Politeia bietet, begeben. Derartige grundlegende philosophische Aussagen wurden den Nomoi auch deswegen nicht zugetraut, weil man immer wieder darauf verwiesen hat, dass es »unphilosophische« Gesprächspartner sind, mit denen der Athener sich dort unterhält 60. Gewiss ist richtig, dass man dem Kreter Kleinias und dem Spartaner Megillos kein PhilosophieStudium unterstellen kann. Aber die Beobachtung des Gesprächsverlaufs gibt keinen Anlass zur Vermutung, dass es sich bei ihnen nicht um kluge und selbstbewusste Gesprächsteilnehmer handelte, die sich in ihren Äußerungen keinen Zwang auferlegen und nur da zustimmen, wo es ihnen richtig erscheint. Gerade der Anfang des Gesprächs, in dem es im Stile eines frühsokratischen Dialogs zu einer kleinen Gesprächskrise kommt, die der Athener aber mit großem Geschick meistert, zeigt, dass wir es hier durchaus mit eigenständigen und selbst denkenden Persönlichkeiten zu tun haben 61. Der Athener erweist sich im Laufe des Gesprächs als eine Person von ganz außerordentlichem intellektuellen und philosophischen Rang. Das wird auch von den beiden Dorern anerkannt und mündet schließlich in der freundschaftlichen Bitte um Mithilfe bei der bevorstehenden Koloniegründung 62. Aber das außerordentliche philosophische Format des Atheners führt zu keinem Zeitpunkt dazu, dass Kleinias und Megillos sich vom Athener bevormunden ließen. Dazu passt es auch, dass die beiden Dorer alte Männer sind, ebenso wie der Athener, ihm allerdings im Alter noch etwas voraus 63. Die erstaunliche Tatsache, dass es trotz der Herkunfts-Gegensätze unter diesen Bedingungen zu einem derart eingehenden Gespräch kommt, wird im Gespräch dadurch verständlich gemacht, dass sowohl Megillos als auch Kleinias aufgrund ihrer persönlichen Famili-

Vgl. etwa Görgemanns 1960, 74–81; eine Ausnahme macht Kenklies 2007, 31, der nur »graduelle« und nicht »prinzipielle« intellektuelle Unterschiede sieht. 61 Vgl. 628e–629a. 62 Vgl. 969c–d. 63 Vgl. 892d. 60

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engeschichte eine besondere Beziehung zu Athen haben. Daher herrscht bei beiden ein »Wohlwollen« für Athen und die Athener, das der Athener durch keine noch so kluge Gesprächsbemerkung von selbst herstellen könnte 64. Man kann daher sagen, dass bei dieser Konstellation günstige Bedingungen für einen philosophisch profunden Diskurs bestehen, unter der Voraussetzung, dass philosophische Profundität und dialektische Virtuosität nicht gleichgesetzt werden. In der Tat ist es aufgrund des Alters der Gesprächsteilnehmer unwahrscheinlich und nicht gut möglich, dass hier in Form von analytischer Begriffsdialektik philosophiert wird, wie in den einschlägigen Teilen des Parmenides oder Sophistes, in denen dann auch folgerichtig junge Leute den Part des Antwortenden übernehmen. Aber solange man es für möglich hält, dass grundsätzliche und in einer freien Atmosphäre angestrengte Überlegungen von klugen und lebenserfahrenen Menschen unter Führung eines ganz außerordentlichen Philosophen auch dann philosophisch Bedeutsames erbringen können, wenn sie keiner strengen dialektischen Form genügen, darf man die Nomoi nicht von vornherein aus der Reihe der Werke mit philosophischer Relevanz ausschließen. Dazu kommt, dass die Nomoi sehr wohl auch einen Teil zu bieten haben, der Anspruch auf eine strenge und in Teilen dialektische Argumentation zu machen scheint und unter den Proömien der Nomoi das Proömium ist, dem man seine mögliche philosophische Relevanz gleich ansieht. Gemeint ist natürlich das Proömium zu den so genannten Asebie-Gesetzen im X. Buch der Nomoi, in dem sich – im platonischen Oeuvre einmalig – ein Gottesbeweis findet 65. Man spricht in diesem Zusammenhang üblicherweise von der Theologie der Nomoi. Diese Bezeichnung ist der Sache nach ganz richtig. Aber sie darf nicht zur Verdeckung der der Tatsache führen, dass hier auch für die Philosophie eine entscheidende Problematik verhandelt wird, insofern hier die Argumentation mit den Mitteln der Vernunft versucht wird. Mit dem Hinweis auf den im X. Buch der Nomoi geführten Gottesbeweis treten wir in einen philosophisch äußerst heiklen Problemkreis ein, der sich in den Nomoi in aller Ausführlichkeit eröffnet und Vgl. 642b–643a. Die Schilderung des Megillos gibt einen Hinweis auf seinen unabhängigen Charakter: Schon als Kind verteidigt er in Sparta Athen gegen die Mehrheitsmeinung. 65 Vgl. 885b–907d. 64

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der unter den Oberbegriff der Religiosität gebracht werden kann. Auch hier kann ein Blick auf die Proömien weiterhelfen. Denn im Kontrast zur theoretischen Konzeption der Proömien finden sich in der aktuellen Ausführung Reden, die man als Exhorten oder Predigten bezeichnen könnte und die vor dem Hintergrund einer religiösen Realität, die sich zunächst in einer polytheistischen Götterwelt geltend macht, zu einem bestimmten gesetzeskonformen Verhalten ermahnen 66. Diese durchgängig religiöse Haltung, die in den Nomoi immer wieder artikuliert wird, die ihren Polis-Entwurf durchherrscht, sodass die Nomoi eine Basis-Lektüre für den Religionswissenschaftler des Altertums sind, und die zuvor schon dadurch gezeigt wird, dass die Grundsituation des Gesprächs ein religiöser Gang hinauf zur Zeusgrotte auf dem Ida-Gebirge in Kreta ist 67, stellt vielleicht die größte Herausforderung dar für denjenigen, der diesem Werk einen grundlegenden philosophischen Sinn abgewinnen will. Denn zum einen ist die heutige philosophische Situation natürlich von dem kantischen Verdikt der prinzipiellen Unmöglichkeit rationaler Gottesbeweise geprägt; mehr aber noch scheint das zu gelten, was Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes formuliert hat: »Die Philosophie aber muss sich hüten, erbaulich sein zu wollen« 68. Die Nomoi hüten sich aber keineswegs davor, erbaulich sein zu wollen, auch wenn das gewiss nicht alles ist, was wir in diesem Werk finden. Es ist der Verdacht, dass in den Nomoi nicht eigentlich philosophisch gedacht wird, sondern dass in diesem Werk von der Linie des reinen philosophischen Denkens, das Platon selbst zum ersten Mal voll entwickelt hat, gravierend abgewichen wird, der das grundlegende phiSo schreibt Wilamowitz 1919, I 681: »Dann aber wirken die Gesetzeswächter durch die Ermahnung, durch die Predigt, man kann es gar nicht anders treffend bezeichnen, und Platon selbst wird oft genug zum Prediger, indem er die Gesetze oder auch die Vorschriften der Sitte begründet und erläutert, ihnen Vorreden vorausschickt, wie er sich ausdrückt, über deren Notwendigkeit er sich so weit verbreitet, daß man sieht, welchen Wert er ihnen beimaß. Gleich da, wo er zur Gesetzgebung übergeht, steht eine solche Predigt …«. Gemeint ist die Passage 716c–718b. Als weitere Beispiele können 870a–871a, 879b–880a gelten. Vgl. auch Stalley 1983, 43 u. Laks 2000, 289 f. 67 Vgl. 625b. Zeller 1839, 71 f. schreibt: »Besonders ist aber hier der Rolle Erwähnung zu thun, welche die Götter in unserer Schrift spielen, indem nicht nur außerordentlich häufig und mit besonderer Feierlichkeit ihrer erwähnt wird (s. o.), sondern auch sie selbst in den Gang des Gesprächs eingreifen«. Vgl. Reverdin 1945, Morrow 1960, 399 ff. 68 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Jubiläumsausgabe hrsg. v. H. Glockner, Bd. 2, Stuttgart 1951, S. 17. 66

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losophische Problem der Nomoi formuliert. Wenn man unter dieser Voraussetzung an der Autorschaft Platons für diese Schrift festhält, dann scheinen sich nur eine Altersschwäche Platons (G. Müller) oder sein Wille über eine populäre Darstellung eine ethische Breitenwirkung zu erzielen (Görgemanns) als Erklärungsalternativen für die Schrift so, wie sie ist, anzubieten 69. Es könnte aber auch sein, dass diese gravierenden Abweichungen etwas mit einer neuen, veränderten Konzeption Platons von recht verstandener Rationalität zu tun haben. Dieser Hypothese wollen wir im Folgenden nachgehen. Doch zunächst ist es nötig, die politische und verfassungsrechtliche Dimension dieses Werkes zu besprechen.

Man kann heute davon ausgehen, dass die philosophischen Probleme, die die Schrift aufwirft, nicht auf Eingriffe des Herausgebers Philipp von Opus zurückzuführen sind. Vgl. Schöpsdau 1994, 141. Die Probleme, die durch die Unfertigkeit der Schrift bei Platons Tod bestehen, betreffen nicht das Philosophisch-Grundsätzliche. Vgl. Schöpsdau 1994, 136 Anm. 81. Eine Sonderstellung nimmt Wilamowitz ein. Er hält klar an Platon als Autor der Nomoi fest und führt die Probleme auf eine Zwiespältigkeit in Platons Psyche zurück, vgl. Wilamowitz 1919, I 688. Sowohl G. Müller als auch Görgemanns konnten sich auf seine an treffenden Beobachtungen reiche, aber im philosophischen Urteil sich zurückhaltende Interpretation berufen. Vgl. Müller 1968, 9 f., Görgemanns 1960, 4 Anm. 2.

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Kapitel 2: Der Anfang des Nomoi-Gesprächs

Die politische Dimension der Nomoi ist ganz offenkundig. Der Inhalt des Gesprächs wird – wie bereits erwähnt – von den Gesprächsteilnehmern selbst als über »Staatsverfassung und Gesetze« handelnd bestimmt. Das wird auch durch die traditionelle Charakterisierung dieses Werkes als politikos reflektiert. Wir wollen in diesem und dem nächsten Kapitel den politischen Gehalt der Nomoi in seinen Grundzügen exponieren und evaluieren. Den Anfang soll dabei vorbereitend in diesem Kapitel eine Analyse des Gesprächsbeginns bis zum Entwurf einer Mustergesetzgebung machen (625a–633a). Das hat den Vorteil, dass wir auf diese Weise auch einen Eindruck von dem im I. Buch jedenfalls noch recht lebhaften Dialoggeschehen bekommen 1. Wir übergehen hier zunächst den allerersten Anfang des Gesprächs 2 und wollen dort in die Untersuchung eintreten, wo der Athener dem Kreter Kleinias und dem Spartaner Megillos eben jenen Vorschlag unterbreitet, über »Staatsverfassung und Gesetze« zu reden (625a ff.). Wir erfahren vom Athener, dass sich das ganze Geschehen in Kreta auf einer Wanderung von Knossos zur Zeusgrotte abspielt. Der lange Weg der drei alten Männer hinauf zur Zeusgrotte findet um den Tag der Sommersonnenwende herum in großer Hitze statt. Am Ende des Nomoi-Gesprächs werden die Drei noch nicht bei der Grotte angekommen sein 3. Es ist eine Bemerkung wert, dass der Vorschlag des Atheners bei seinen beiden Weggefährten zunächst auf gar keine Resonanz stößt. Vgl. dazu auch Gigon 1954 u. Schöpsdau 1994, 155–190. 624a. Vgl. dazu Kapitel 6 dieser Untersuchung. 3 Vgl. 683c, 969c–d. Zur Szenerie des Gesprächs vgl. Schöpsdau 1994, 102–105. Zur Deutung des Abbruchs des Dialoges, bevor die Zeusgrotte erreicht ist, vgl. Schöpsdau 1994, 104 und Kenklies 2007, 369. Eine eigene Deutung dieses interessanten Umstandes gebe ich in Kapitel 6 dieser Untersuchung. 1 2

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Während der Spartaner Megillos passend zu seiner Herkunft erst einmal gar nichts sagt, geht der einheimische Kreter Kleinias auf die Partien der Äußerung des Atheners ein, die die zu erwartende Schönheit der Natur betreffen und die er aus eigener Erfahrung bestätigen kann (625b–c). Kleinias und Megillos wehren sich dann zwar nicht gegen den Vorschlag des Gastes aus Athen, aber ihre Begeisterung dafür, auf diesem Weg über Politik reden zu sollen, scheint sich am Anfang doch sehr in Grenzen zu halten. Im Hintergrund ist hier sicherlich das Wissen um das hohe Konfliktpotential, das ein solches Gesprächsthema in sich birgt und das sich auch in dem nun beginnenden Gespräch bald zeigt, wirksam. Der Athener beginnt das politische Gespräch mit einer Nachfrage nach einigen Spezialitäten der kretischen Gesetzgebung (625c). Es geht um die gesetzlich vorgeschriebenen gemeinsamen Mahlzeiten, die so genannten Syssitien, die Leibesübungen und die Art der Bewaffnung. Was ist der Sinn dieser gesetzlichen Bestimmungen in Kreta? Nachdem Kleinias diese Frage des Atheners, die genau genommen drei Fragen beinhaltet, zunächst beginnt kleinteilig zu beantworten 4, indem er die vorgeschriebene Laufgymnastik und leichte Bewaffnung mit der kretischen Topographie erklärt, holt er – sicherlich motiviert durch das spezielle Institut der leichten Bewaffnung – zu einer Generalthese über den letzten Zweck der kretischen Gesetzgebung aus: »Das alles nun ist bei uns auf den Krieg ausgerichtet, und der Gesetzgeber hat, wie mir scheint, alles im Hinblick darauf angeordnet« (625d–e). Diese Kriegshypothese bietet auch eine sich aus der kretischen Topographie nicht ergebende Erklärung für die gemeinsamen Mahlzeiten, die die Sicherheit während der Nahrungsaufnahme im Felde garantieren sollen. Kleinias baut in seiner ersten großen Einlassung diese Theorie noch weiter aus: »Damit hat er (sc. der kretische Gesetzgeber) also, scheint mir, das Urteil über den Unverstand der meisten Menschen gesprochen, die nämlich nicht begreifen, dass stets ein lebenslanger Krieg aller gegen alle Staaten besteht […] Denn was die meisten Menschen Frieden nennen, das sei ein bloßes Wort; in Wirklichkeit befänden sich

Die Unterteilung der Erklärung von Kleinias in eine kausale und in eine final-teleologische, wie sie Schöpsdau macht, ist der Sache nach richtig, entspricht aber nicht der Bewusstseinsstufe des Kleinias, der nach einer ersten Einzelerklärung sehr schnell induktiv zum generellen Grund der kretischen Gesetzgebung kommen will. Vgl. Schöpsdau 1994, 156 f.

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von Natur alle Staaten mit allen ständig in einem Krieg ohne Kriegserklärung« (625e–626a) 5. Schließlich beendet er seine Ausführungen damit, dass er auf die vermutete Intention des kretischen Gesetzgebers hinweist, dass alles andere nichts nütze, »weder Besitztümer noch Einrichtungen, wenn man nicht im Krieg die Oberhand gewinne, während dagegen alle Güter der Besiegten den Siegern anheimfielen« (626b). Das Gespräch der drei Alten beginnt nicht langsam und gemächlich, sondern mit einem Paukenschlag. Gefragt nach dem Grund von Detailregelungen der kretischen Gesetzgebung gibt Kleinias an, dies sei – wie überhaupt für alles in der kretischen Gesetzgebung – der Krieg bzw. der Sieg im Krieg. Seine Überlegungen gehen von einem dauernden Krieg aller Staaten gegen alle aus. Krieg herrscht Kleinias zufolge immer; entweder erklärt oder unerklärt, und dieser letzte Zustand wird von den meisten Menschen als Zustand des Friedens verkannt. Kleinias nimmt als Einheimischer auf die Frage des Ausländers kein Blatt vor den Mund und sagt, was er denkt und wie es seiner Ansicht nach »in Wirklichkeit« ist. Sein erster großer Auftritt mit dem Anspruch, die Realität illusionslos zu benennen, hat Ähnlichkeit mit den entsprechenden Auftritten von Kallikles und Thrasymachos im Gorgias und in der Politeia 6. Aber die Tatsache, dass es sich um die Äußerung eines Alten handelt, verleiht der Kriegshypothese von Kleinias besonderes Gewicht. Die Nomoi insgesamt können als Versuch Platons angesehen werden, eine echte Alternative zu dieser hier gleich zu Beginn von Kleinias offen vorgetragenen Sichtweise sub specie belli zu etablieren. Unabhängig von der Frage, ob Platon dieser Versuch gelingt, ist klar, dass diese alternative Sichtweise sub specie pacis keine pazifistische Sichtweise ist, wie aus vielen Stellen der Nomoi deutlich hervorgeht 7. Die geäußerte Kriegshypothese des Kleinias hat eine Konsequenz, die unausgesprochen bleibt. Wäre sie zutreffend, dann wären hier drei Angehörige von miteinander im Krieg befindlichen Staaten gemeinsam unterwegs. Die Gesprächssituation des tatsächlich gemeinsam miteinander gegangenen Pilgerwegs steht daher in einer Spannung zur Kleinias referiert hier in indirekter Rede die Intention des kretischen Gesetzgebers und er macht vorher durch die Einschübe »scheint mir« deutlich, dass es sich um die Intention des Gesetzgebers seiner Meinung nach handelt. Sein ganzes weiteres Verhalten zeigt aber, dass er fest von der Richtigkeit dieser Meinung ausgeht. Vgl. Nightingale 1993, 283 Anm. 22. 6 Vgl. Gorg. 482c–486d, Resp. 336b ff. 7 Vgl. z. B. 828d–832d, 753b, 806a–b (Wehrübungen für Frauen), 942a–d. 5

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Kriegshypothese von Kleinias. Im folgenden Gesprächsverlauf versucht der Athener dieser These explizit zu widersprechen. Er sieht sich dabei zunächst einem dorischen Bündnis gegenüber, da der Spartaner der geäußerten Kriegsthese ausdrücklich zustimmt (626c). Die Art der Aufnahme dieser These des Kleinias durch den Athener und seine ganze Herangehensweise beim Versuch, diese These zu widerlegen, erinnern unweigerlich an das elenktische Vorgehen des Sokrates in den Frühdialogen. Dass in die Figur des Atheners Anteile der Sokratesfigur eingeflossen sind, ist von daher auch aufgrund weiterer Stellen in den Nomoi unstrittig 8. Nachdem der Athener Kleinias für seine Ausführungen gelobt hat, möchte er von ihm einen Punkt »noch deutlicher« erklärt bekommen (626b). Er lässt sich von ihm bestätigen, dass sich seinen Ausführungen eine »Definition« eines gut eingerichteten Staates entnehmen lässt. Der gut eingerichtete Staat ist ein Staat, der so eingerichtet ist, dass er im Krieg die anderen Staaten besiegt 9. Der daran anschließende Versuch des Atheners, die mit dieser Definition verbundene Kriegsthese zu widerlegen, trägt – wie bereits vorausgeschickt – die Züge eines sokratisch-elenktischen Vorgehens, indem in einem anagogischen Verfahren diese These vom Staat auf das Dorf (kômê), vom Dorf auf das Haus (oikia) und vom Haus auf den Mann (anêr) zurückgeführt wird. Schließlich sagt der Athener: »Soll aber einer auch gegen sich selbst wie ein Feind gegen einen Feind gesinnt sein? Oder was sagen wir nunmehr?« (626d). Diese Frage nutzt Kleinias zu einer zweiten etwas Vgl. Kapitel 1 Anm. 51. Die Frage der Praktikabilität dieser Definition wird im Gespräch nicht explizit erörtert. Wie muss man einen Staat einrichten, dass man sicherstellt, dass er im Krieg die anderen Staaten besiegt? Kann man so etwas angesichts der geschichtlichen Erfahrung wechselnden Kriegsglücks, über die auch die drei Gesprächspartner der Nomoi verfügen (vgl. 638a), überhaupt sicherstellen? Aber auch die hier angebrachtere Formulierung, um die angegebene Definition praktikabel zu machen, nämlich einen Staat so einrichten, dass sehr wahrscheinlich ist, dass er im Krieg die anderen Staaten besiegt, lässt die entscheidende Frage, was genau man dafür tun muss, offen. Denn extreme Militarisierung und betont militärisches Auftreten im zivilen Leben einer Gesellschaft in Friedenszeiten bieten, wie ebenfalls die Geschichte zeigt, keine sichere Gewähr für den Sieg im Krieg. Am Ende könnte es sogar die betonte Kultivierung des zivilen Lebens sein, die unter Beibehaltung der militärischen Wehrkraft die beste Aussicht für einen Sieg in einem militärischen Ernstfall bietet. Dann würde die aufgeworfene Frage durch die Nomoi-Konzeption implizit beantwortet. Vgl. dazu auch die in diese Richtung zielende Leichenrede des Perikles (Thuk. 2, 35–46).

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längeren Einlassung. Sein selbstbewusstes Lob des Atheners wegen dieser Zurückführung zeigt, dass er sich dem Gast aus Athen keineswegs unterlegen fühlt 10. Wichtiger noch ist, dass Kleinias die Zurückführung des Atheners als willkommene Hilfe ansieht, um jetzt das genau zu formulieren, was er von Anfang an mit seiner Kriegsthese gemeint hat: Es herrscht nicht nur Krieg aller Staaten gegen alle, sondern auch aller Individuen gegen alle, ja jedes Individuum liegt mit sich selbst im Krieg (626d–e). In ihrer an dieser Stelle offen gelegten Radikalität übertrifft die Kriegsthese des Kleinias sogar die bekannte neuzeitliche Lehre von Hobbes, der von einem bellum omnium contra omnes spricht 11. So rückt der Sieg im Krieg gegen sich selbst für einen Moment in das Zentrum der Aufmerksamkeit des Gesprächs. Es deutet sich hier erstmalig die überragende Bedeutung des Themas der Selbstbeherrschung (sôphrosynê) in den Überlegungen der Nomoi an 12. Die Umkehrung des beim Individuum für einen Moment zum Halten gekommenen Gedankengangs durch den Athener setzt bei der Beobachtung an, dass Individuen sich selbst beherrschen oder auch nicht. Lässt sich das sich selbst Überlegen-Sein bzw. sich selbst Unterlegen-Sein eines Individuums auch auf die Gemeinschaftsgebilde Haus, Dorf und Staat zurück übertragen? Auch diese Frage ist ganz nach dem Sinn von Kleinias und der Athener erhält eine kleine Belobigung (627a). Kleinias bejaht die Übertragbarkeit und erläutert sie im Falle des Staates: Der Staat, in dem die Besseren die Masse und die Schlechteren besiegen, ist sich selbst überlegen; andernfalls ist er sich selbst unterlegen. Die eine aristokratische Gesinnung verratende Erläuterung des Kleinias rechnet nicht mit der Möglichkeit des Auseinandertretens von physischer Überlegenheit und moralischer Überlegenheit. Mit genau dieser Möglichkeit rechnet der Athener in seiner Entgegnung. Er macht eine Situation vorstellig, in der sich viele der insgesamt als miteinander verwandt (syngeneis) angesehenen Bürger eines Staates in

Aus der Sicht, die sich aus der im Gespräch vorgestellten Situation ergibt, ist es der Athener, der sich vor den beiden Dorern im Nomoi-Gespräch zunächst und die ganze Wegstrecke über als ernstzunehmender und vernünftiger Gesprächspartner zu beweisen und zu bewähren hat; es gilt nicht das Umgekehrte. 11 Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan (1651), Teil 1, Kap. 13. 12 Auf sie hat m. E. sehr zu Recht mit besonderem Nachdruck Stalley 1983, 5 f. im Rahmen einer Analyse des Gesamtzusammenhangs der Bücher I und II der Nomoi hingewiesen. 10

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ungerechter Absicht zusammentun und die wenigen Gerechten kraft ihrer physischen Überlegenheit besiegen und versklaven. Ein solcher Staat müsste als sich selbst unterlegen und schlecht angesehen werden (627b). Der Gesichtspunkt der Verwandtschaft wird dann vom Athener intensiviert durch die analoge Vorstellung einer Familie mit vielen Söhnen, von denen gemäß einer gewissen Wahrscheinlichkeit die meisten ungerecht und nur eine Minderheit gerecht wären (627c). Die paradox anmutende Rede, dass dieses Haus, wenn die schlechten Brüder siegen, als sich selbst unterlegen bezeichnet werden könnte und umgekehrt, wird von allen Mitunterrednern ohne Untersuchung als irrelevant in Bezug auf die eigentliche Sachfrage abgetan, die darin besteht, über die »Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit von Gesetzen« (627d) zu handeln. Die emphatische Zustimmung des Kleinias und besonders das Miteinstimmen des Megillos zeigen, dass nach der anfänglichen Reserve alle drei Mitunterredner an einem Punkt angelangt sind, an dem sie für die vorgeschlagene Thematik ein echtes Interesse aufbringen und gleichsam begonnen haben Feuer zu fangen. Durch diese Situation wird das, was nun kommt, nämlich die gedankliche Einführung einer Richterfigur, die über die unterschiedlichen Brüder richten soll, besonders unterstrichen. Der Athener stellt zunächst zwei mögliche Richtertypen zur Regelung des vorgestellten Familienstreits zur Auswahl (627d–e). Der 1. Richter beseitigt die schlechten Brüder und befiehlt den Besseren, über sich selbst zu herrschen. Der 2. Richter bewirkt auch, dass die anständigen Brüder herrschen, aber er lässt die Schlechten am Leben und bewirkt, dass sie sich freiwillig beherrschen lassen. Bevor der Athener diese beiden Alternativen endgültig zur Auswahl stellt, kommt ihm noch die kühne Idee eines 3. Richters: Der 3. Richter, falls es ihn gibt, würde die zerstrittene Familie aussöhnen, niemanden aus dem Weg räumen und allen für die Zukunft Gesetze geben, dass sie Freunde bleiben (627e–628a) 13. Der Widerlegungsversuch des Atheners erreicht im unmittelbar darauf folgenden kurzen Wortwechsel zwischen Kleinias und ihm seinen ersten Höhepunkt: »Weitaus besser wäre wohl ein solcher Richter und Gesetzgeber« – »Und doch würde er gerade das Gegenteil von Krieg im Auge haben, wenn er ihnen seine Gesetze gibt« – »Das ist freilich wahr« (628a). Die visionäre Figur des 3. Richters, der Kleinias hier den Vorzug gibt und die bei ihren Bestimmungen nicht den Krieg als letzten Ori13

Vgl. 875c–d.

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entierungspunkt im Auge hat, basiert auf der Grundvoraussetzung der familiären Verbundenheit zwischen den Menschen. Innerhalb seiner Familie will keiner im Krieg leben. Die Grundsituation wird hier nicht als Kriegssituation aufgefasst. Der 3. Richter wird dieser Grundsituation dadurch voll gerecht, dass er zum einen die Aussöhnung zwischen den zerstrittenen Brüdern bewirkt, zum anderen als Gesetzgeber dafür Sorge trägt, dass sie ihrer natürlichen Situation gemäß auch in Zukunft Freunde bleiben. Die Übertragung dieses Gedankens auf die Staatssituation war durch die Annahme einer Verwandtschaft (syngeneia) unter den Bürgern vorbereitet worden. Der Athener kann diesen Gedanken auf der Staatsebene aber nur dadurch geltend machen, dass er Kleinias eine Prioritätensetzung abringt, die nicht zwingend ist: Der Ordner des Staates soll seine Regelungen mehr im Blick auf den Bürgerkrieg (stasis) treffen als auf den auswärtigen Krieg. Nimmt man den Bürgerkrieg prioritär in den Blick, dann lässt sich analog zur Situation des 3. Richters argumentieren. Den Vorzug verdient dann der Wunsch, »dass durch Aussöhnung Freundschaft und Friede entsteht« (628b). Der Zielpunkt, das Beste, um dessentwillen ein solcher Gesetzgeber all seine gesetzlichen Anordnungen trifft, ist nicht der Krieg, sondern – so der Athener in seinem ersten abschließenden Fazit, das der Ausgangsthese von Kleinias widerspricht, – »gegenseitiger Friede und Freundschaft« (628c). In einem medizinischen Bild vergleicht der Athener den Gesetzgeber, der seinen Blick auf den auswärtigen Krieg fixiert hält, mit jemandem, der den Zustand des in der Krise befindlichen und nach ärztlichem Eingriff gerade genesen sollenden menschlichen Leibes für den besten hält und dabei die ganze Dimension des gesunden Leibes außer Acht lässt 14. Die Grundorientierung des wirklichen »Staatsmanns« (politikos) und »Gesetzgebers im strengen Sinn« (nomothetês akribês) muss dagegen die Orientierung am Frieden sein. Er trifft »lieDie Stelle ist problematisch. Das medizinische Bild ist genau genommen auf die Überwindung einer Stasis-Krise, also auf die Bürgerkriegssituation zu beziehen. Daher sagt Gigon 1954, 217, dass die Mahnung an den Staatsmann »mit dem Arztgleichnis nichts zu tun« hat. Der Gesichtspunkt »Überwindung einer Krise« lässt sich aber auch auf die Situation des auswärtigen Krieges anwenden. Insofern trifft das medizinische Bild auch die Situation des auswärtigen Krieges, was wohl die Intention der Stelle ab 628d4 ist. Schöpsdau 1994, 167 sieht den Bezug zum medizinischen Bild in einer zweifachen Vernachlässigung des Besten, die der, der nur auf den auswärtigen Krieg schaut, begeht: 1. Er verkennt, dass die Sicherung von Frieden und Eintracht im Innern das Beste ist. 2. Er verkennt, dass überhaupt Friede das Beste ist.

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ber die kriegerischen Anordnungen um des Friedens als die friedlichen um des Krieges willen« (628d–e) 15. Der vom Athener hier vorgetragene Gegenentwurf einer anderen Politik und eines anderen Denkens, das unter der Zielperspektive des Friedens steht, darf als die gültige Absichtserklärung Platons genommen werden, unter welcher Priorität sein von ihm dann konstruierter Nomoi-Staat steht. Ob diese Prioritätensetzung dann in der konkreten Ausarbeitung durchgehalten wird, ist eine noch zu erörternde Frage. Klar ist aber, dass die Orientierung am Frieden bei Platon keineswegs Entmilitarisierung bedeutet 16. Der Nomoi-Staat ist ein wehrhafter, ja sogar extrem wehrhafter Staat. Aber sein Hauptaugenmerk richtet er auf die Kultivierung des zivilen Lebens in Friedenszeiten und die Tätigkeiten, in denen das gemeinschaftliche und individuelle Leben des Menschen ihre eigentliche Erfüllung finden. Auch in diesem Zusammenhang ist es das Stichwort der paideia, das von großer Wichtigkeit wird 17. Kleinias zeigt sich nicht ganz unbeeindruckt von den Ausführungen des Atheners, er lässt aber keinen Zweifel daran, dass er weiterhin fest von der Richtigkeit seiner These, die er nun auch auf die spartanische Gesetzgebung ausweitet, ausgeht: »Diese Behauptung scheint zwar irgendwie richtig zu sein, Fremder; doch sollte es mich wundern, wenn die gesetzlichen Einrichtungen bei uns und auch die in Lakedaimon nicht all ihr Bemühen auf letzteren (sc. den Krieg) gerichtet hätten« (628e). Tatsächlich erscheint die Argumentation des Atheners anfechtbar. Wir hatten gesehen, dass seine Fokussierung des Gedankengangs auf den Bürgerkrieg, die die Übertragbarkeit des »familiären Arguments« gewährleistet, nicht zwingend ist. Das »familiäre Argument« würde erst dann seine volle Schlagkraft entfalten können, wenn eine universale Verwandtschaft aller Menschen untereinander angenommen werden würde. Eine solche Annahme wird von Platon aber nicht gemacht. Die Grenze der Polis markiert auch die Grenze der verwandtschaftlichen Zusammengehörigkeit. Bei diesen Voraussetzungen kann das Misstrauen in fremde Staaten grundsätzlich bestehen bleiben, Vgl. aber 803d. Dazu Schöpsdau 2003, 550 f. und unten Kapitel 6. Das hat Wilamowitz 1919, I zu folgender Bemerkung veranlasst: »Obgleich als Ziel des staatlichen Lebens der Frieden anerkannt ist, wird mit der Wehrpflicht so sehr ernst gemacht, dass Scharnhorst und König Wilhelm I ihre helle Freude haben könnten« (678). Vgl. Anm. 7 und 737d, 758a, 813e–814b. Vgl. auch Schöpsdau 2011, 172 f. 17 Vgl. 641c und 803d–804b. 15 16

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sodass eine Prioritätensetzung auf den auswärtigen Krieg eine nicht zwingend von der Hand zu weisende Option ist. Der Athener widerlegt die Kriegsthese des Kleinias in der ersten Diskussionsrunde nicht zwingend. Stattdessen widerspricht er Kleinias, indem er eine andere Grundsicht ins Spiel bringt, die er für grundlegender und besser hält. Wäre am Anfang des Gesprächs einzig nach dem Sinn der gemeinsamen Mahlzeiten gefragt worden, dann hätte man aus dieser hier vom Athener entworfenen Grundsicht heraus auch und unkonstruierter, als Kleinias es tut, antworten können, dass diese gemeinsamen Mahlzeiten dem Frieden und der freundschaftlichen Verbundenheit unter den Bürgern dienen sollen. Es hat sich nun im Gespräch eine Dissenssituation ergeben. Der Athener behauptet das Gegenteil von Kleinias’ Kriegsthese. Aber es kommt trotzdem zu keinem Streit oder gar Gesprächsabbruch. Geschickt beugt der Athener einer sich anbahnenden Gesprächskrise vor. Er besteht nicht auf der Richtigkeit seiner Behauptung. Durch seine erste Antwort »vielleicht« gibt er aber auch nicht Kleinias zuliebe das Gegenteil zu (629a). Vielmehr wird die Sache jetzt erst einmal offen gelassen. Auf der Gesprächsmetaebene bleibt der Athener im Einklang mit seiner These, indem er an sich selbst und seine Mitunterredner appelliert, jetzt nicht die Positionen kriegerisch verhärten zu lassen, sondern ruhig und friedlich weiter zu fragen. Als gemeinsame hypothetisch angesetzte Gesprächsgrundlage soll dabei weiterhin die von Kleinias vertretene Kriegsthese dienen. Zur weiteren Beruhigung trägt die Anknüpfung an ein Tyrtaios-Zitat bei, der von beiden Seiten als Autorität anerkannt wird (629a–b) 18. Wir erhalten hier eine Probe von der Fähigkeit des Atheners zu einer friedlichen Gesprächsführung trotz kontroverser Positionen und heikler Gesprächsthemen. Diese Fähigkeit bewährt sich über das ganze Nomoi-Gespräch hinweg. Auf ihrer Grundlage entwickelt sich im Gespräch so etwas wie eine Freundschaft zwischen den drei Gesprächsteilnehmern, die am Ende des Gesprächs in der gemeinsamen Bitte an den Athener manifest wird, an der Gesetzgebung der noch zu gründenden neuen kretischen Stadt mitzuwirken. Das dort auftauchende Motiv des Nicht-Loslassens ist unzweifelhaft eine Reminiszenz an die SokratesFigur 19. 18 19

Vgl. das ähnliche Vorgehen in Prot. 338e ff. mithilfe eines Simonides-Gedichtes. Vgl. 969c–d und Resp. 449b.

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Der Dichter Tyrtaios kann als geborener Athener 20 und späterer spartanischer Staatsbürger, dessen Verse dann in den Rang von Staatsdichtung erhoben wurden, zwischen allen drei Gesprächspartnern vermitteln. Auch Kleinias sind seine Verse, in denen die Tapferkeit im Krieg verherrlicht wird, bekannt. Der Athener entnimmt dem Tyrtaios-Gedicht, das er anführt, die Aussage, dass es vor allem darauf ankomme, sich im Krieg als der Beste zu erweisen (629b). Auf dieser Basis tritt er dann zusammen mit seinen beiden Mitunterrednern in ein fiktives Gespräch mit Tyrtaios ein. Im Lob derjenigen Männer, die sich im Krieg auszeichnen, sind sich alle 21 scheinbar einig. Aber der Athener wirft die Frage auf, ob es wirklich dieselben Männer sind, von denen sie reden (629c). An dieser Stelle kommt nun wieder die faktisch bereits längst eingeführte Unterscheidung zwischen Auswärtigem Krieg und Bürgerkrieg ins Spiel, deren entscheidende Wichtigkeit im Verlauf der ersten Diskussionsrunde wir dargelegt hatten; sie wird nun gleichsam offiziell eingeführt, indem der Athener Tyrtaios die Frage vorlegt, ob er auch klar zwischen zwei Arten (eidê dyo) von Krieg, die sich dann als der Bürgerkrieg und der Auswärtige Krieg herausstellen, unterscheide. An der bereits in der ersten Diskussionsrunde getroffenen Bewertung wird dabei festgehalten: Der Bürgerkrieg wird einhellig als »von allen Kriegen der schlimmste« angesehen, während der Auswärtige Krieg für »viel harmloser« gehalten wird (629d). Über die Gründe für diese Bewertung schweigt der Text. Man könnte zugunsten dieser Bewertung in einer historischen Überlegung auf die Bedingungen antiker Kriegsführung hinweisen und geltend machen, dass ein auswärtiger Feldzug ein abgrenzbares Ereignis darstellte, in das längst nicht – wie in einem Bürgerkrieg – alle Teile der Bevölkerung involviert waren. Aber spätestens durch die Kriege des 20. Jahrhunderts erwiese dieses Argument sich als historisch begrenzt und nicht universal gültig. Auch muss der Umstand, dass ein Bürgerkrieg unter antiken Bedingungen möglicherweise weit schrecklicher verlaufen konnte als ein Auswärtiger Krieg, nicht dazu führen, den Bürgerkrieg prioritär zu bewerten. Denn im Falle einer entscheidenden Niederlage in einem Auswärtigen Krieg kann der Möglichkeit nach die ganze Existenz der unterlegenen Staatsbevölkerung auf dem Spiel stehen. Im Gespräch wird angenommen, dass Tyrtaios in dieser Weise 20 21

So die historisch zweifelhafte Annahme im Dialog, vgl. Schöpsdau 1994, 170. Die fiktiv-realen Gesprächspartner und der fiktiv-fiktive Gesprächspartner Tyrtaios.

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zwei Sorten von Krieg unterscheidet. Daraufhin kann ihm der Athener die Frage stellen, welche Situation er in seinen Gedichten vor Augen gehabt hat. Unter Hinweis auf eine ganz eindeutige Stelle aus seinen Gedichten kann er ihm die Frage vorlegen, dass es doch wohl die in einem auswärtigen Krieg tapfer kämpfenden Männer sind, auf die sich sein Lob bezieht (629d–e). Über Kleinias lässt er dies Tyrtaios bestätigen 22. Dagegen setzt nun der Athener folgende Behauptung, die er auch im Namen seiner Mitunterredner trifft: »Wir aber behaupten, obwohl dies treffliche Männer sind, dass diejenigen sogar noch viel trefflicher sind, die sich in dem größten Krieg als die Vortrefflichsten hervortun« (629e–630a) 23. Derjenige, der sich in dem »größten Krieg« – gemäß dem ganzen Kontext der Stelle muss hier der Bürgerkrieg gemeint sein – hervortut, wird vom Athener nach einem Wort des Dichters Theognis als der treue Mann (pistos anêr) bezeichnet (630a). Diese dichterische und vorphilosophische Charakterisierung wird dann vom Athener philosophisch ausbuchstabiert: Die im treuen Verhalten im Bürgerkrieg implizit beschlossenen Tugenden werden nun eigens benannt: Mit Gerechtigkeit, Besonnenheit, Einsicht und Tapferkeit kommt nun das Quartett der Kardinaltugenden und damit die gesamte Tugend (sympasa aretê) in den Blick (630a–b) 24. Der treue Mann im Bürgerkrieg benötigt die gesamte Tugend, der Kämpfer im auswärtigen Krieg lediglich die Tapferkeit. Der Athener weist in diesem Zusammenhang auf die Erfahrung der mannigfaltigen moralischen Defekte, die sich bei Söldner-Charakteren finden lassen, hin (630b). Die Fokussierung auf die Bürgerkriegssituation hatte in der ersten Diskussionsrunde die Orientierung hin auf den Frieden mit erbracht. Nun bewirkt Das Mittel des fiktiven Dialogs ermöglicht ein indirektes Gespräch zwischen den realen Gesprächspartnern. Der Athener und Kleinias unterhalten sich miteinander, stehen aber zugleich als Teilnehmer des fiktiven Dialogs auf der selben Seite. Die Gefahr einer polemischen Eskalation, die bei einer direkten Ansprache und Befragung sehr schnell gegeben sein kann, wird dadurch verringert. 23 Ich verwende hier die Übersetzung, die Schöpsdau 1994, 16 gibt, da in ihr lexikalisch richtig agathos mit »trefflich« und nicht mit »tapfer« übersetzt wird. 24 Es fällt auf, dass hier im Unterschied zum Kardinaltugendsystem der Politeia von phronêsis (Einsicht) und nicht von sophia (Weisheit) die Rede ist. Bekanntlich wird die phronêsis dann zu einem Zentralbegriff der Ethik des Aristoteles. Hier ist eine (von Platon so nicht intendierte) Beeinflussung von Aristoteles durch die Nomoi wahrscheinlich. Auf diese Beeinflussung hat generell schon Dirlmeier 1956, 281, 298–303 u. 601 in seinem EN-Kommentar hingewiesen. Vgl. Schöpsdau 1994, 182 f. und Kapitel 6. 22

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sie, dass die Tugend in ihrer Gesamtheit in den Blick der Diskussionspartner kommt. Folgerichtig kommt der Athener nun zum Hauptzweck seiner mit der zuletzt zitierten Behauptung begonnenen Rede, indem er vom fiktiven Gespräch wieder in das reale hinüber gleitet: »Wohin zielt denn nun diese Rede und was will sie uns mit dieser Feststellung deutlich machen? Offenbar doch dies: dass mehr als jeder andere auch der hiesige von Zeus unterwiesene Gesetzgeber und überhaupt jeder, der nur ein bisschen etwas taugt, sein Augenmerk stets auf nichts anderes als vor allem auf die höchste Tugend richten wird, wenn er seine Gesetze erlässt« (630b–c). Mit dieser »höchsten Tugend« (megistê aretê) ist, da sie mit der »Treue in Gefahren«, von der Theognis gesprochen hatte, gleichgesetzt wird, die gesamte Tugend gemeint; sie wird dann auch vom Athener aus dem Stegreif und ohne terminologische Festlegung »vollkommene Gerechtigkeit« (dikaiosynê telea) genannt (630c). Entscheidend ist, dass beim Blick auf diese Gesamttugend, an der sich laut Athener jeder Gesetzgeber zu orientieren hat, ein Gesichtspunkt die Führung hat, der jedenfalls nicht die Tapferkeit ist. Diese nimmt in der Bewertung des Atheners unter den Kardinaltugenden nur den 4. Rang ein. Mit dieser Bewertung provoziert der Athener bei Kleinias eine empörte Reaktion: »Aber damit, Fremder, verstoßen wir ja unseren Gesetzgeber unter die allerletzten Gesetzgeber!« (630d). Auch diese Gefahrenstelle im Dialog meistert der Athener geschickt, indem er Kleinias darauf hinweist, dass mit diesen Äußerungen nicht der kretische Gesetzgeber degradiert wird, sondern sie, die Gesprächspartner selbst, wenn sie – wie bisher geschehen – der kretischen und spartanischen Gesetzgebung die Kriegshypothese unterstellen. Statt eines durchaus im Bereich des Möglichen gewesenen Gesprächsabbruchs zeigt sich nun im Gespräch bei Kleinias eine gewisse Bereitschaft und Offenheit, den alternativen Vorstellungen des Atheners über die Intentionen des kretischen Gesetzgebers Gehör zu schenken: »Aber wie hätten wir uns da ausdrücken sollen?« (630d). Der Athener ergreift nun die sich ihm bietende Gelegenheit, seine grundsätzlichen Vorstellungen zur Gesetzgebung darzulegen, indem er zugleich auch den bisherigen Gesprächsverlauf resümiert. Beim Ausgang von einer göttlichen Gesetzgebung 25 ist es nicht angängig, davon 25

Gemäß der plausiblen Konjektur von Schöpsdau 1994, 178 z. St. 630d9–e1. Zu er-

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zu reden, dass der Gesetzgeber nur auf einen Teil der Tugend und noch dazu auf den schlechtesten schaut. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der Gesetzgeber auf die gesamte Tugend blickt (630d–e). Kleinias hatte es nach Ansicht des Atheners – im Gegensatz zur gängigen Spezialistenpraxis – »im Prinzip« richtig gemacht bei seiner Antwort, indem er von der Tugend als Orientierungsmaßstab ausgegangen war. Nur dass er eben mit seiner Kriegsthese nur auf einen Teil der Tugend – die Tapferkeit – fixiert war 26, der darüber hinaus auch noch als der rangmäßig niedrigste Teil zu bewerten ist. Diese nach seiner Meinung nicht mehr richtige Verengung und Fehlorientierung innerhalb eines grundsätzlich richtigen Ansatzes stellt der Athener Kleinias als Grund für seinen Widerspruch und die ganze nachfolgende Diskussion dar (631a). Auch damit erweist sich der Athener als Inhaber eines überaus geschickten Berichtigungswissens. Seine Kritik an Kleinias ist eingebettet in ein grundsätzliches und schwerer wiegendes Lob für seine Äußerungen. Kleinias ist nun vollends gewonnen. Das beweist seine Antwort auf die Frage, die der Athener ihm nach dieser höflichen Manöverkritik vorlegt: »Nach welcher Einteilung also hätte ich nun gewünscht, dass du noch weitergesprochen und ich dir zugehört hätte? Willst du, dass ich es dir sage?« – »Unbedingt« (631a–b). Der Athener hat nun freie Bahn, seine Vorstellungen von einer grundsätzlich richtigen Gesetzgebung im Umriss umfassend zu entwickeln, und der nun folgende so genannte Musterentwurf einer Gesetzgebung (631b–632b) gibt uns Gelegenheit zu einem Überblick über die in den Nomoi entwickelte Gesetzgebung. Zuvor aber heben wir noch ein Problem hervor, dass sich aus der Reflexion über den bisherigen Gang des Gesprächs ergibt. Das Problem besteht in der relativen Unbestimmtheit der Rede von der Orientierung an der gesamten Tugend. Wenn wir die gesamte Tugend im Einklang mit dem Text als das Quartett der Kardinaltugenden auffassen, dann ist zunächst die Frage, woran genau und woran leitend man sich dabei orientiert. Die Kriegsthese des Kleinias ließe sich nämlich auch mit dem Argument verteidigen, dass der Gesetzgeber bei einer solchen Intention sehr wohl auch die gesamte Tugend im Auge habe, nur dass eben die Tapferkeit in

innern ist hier an den überlieferten Nebentitel der Nomoi: peri nomothesias (Über Gesetzgebung). Vgl. Schöpsdau 1994, 93. 26 Vgl. dazu Schöpsdau 1994, 179 z. St. 631a2–4.

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seinem Tugendquartett die Leitposition inne hätte. Betrachten wir die bisherige Entwicklung des Gesprächs, dann ist für Platon eine solche Position auch aus einem anderen Grund als dem, dass er die Rangfolge der Tugenden anders festlegt, ausgeschlossen. Denn die erste Grundaussage, die Platon über die Grundorientierung des Gesetzgebers trifft, ist die, dass er sich am Frieden orientieren soll. Erst danach kommt die zweite Grundaussage, dass er sich an der gesamten Tugend orientieren soll. Diese beiden, zunächst verschiedenen Aussagen gilt es zusammenzubringen. Die Friedensaussage, obwohl sie im weiteren Verlauf des Gesprächs keine dominierende Rolle spielt, muss unter ständiger Berücksichtigung bleiben. Sie dient dazu, die relativ unbestimmte Rede von der Orientierung an der gesamten Tugend weiter zu bestimmen, und hält für jetzt eine Deutung der Gesamttugend unter Führung der kriegerischen Tapferkeit fern. Wir werden im weiteren Verlauf der Untersuchung nach zusätzlichen Faktoren Ausschau halten, die die Rede von der Orientierung an der gesamten Tugend weiter determinieren und schauen, wie diese im Einklang mit dem Friedensfaktor stehen. Für den Moment möge es genügen, auf diese zu wenig beachtete 27 duale Orientierung des Gesetzgebers, die am Anfang der Nomoi angesetzt wird, hinzuweisen. Der Athener trägt nun vor, wie er gewünscht hätte, dass Kleinias spricht. Zunächst geht es wieder um den richtigen Zielbereich, den der Gesetzgeber im Auge haben muss. Die Gesetze der Kreter seien »richtig«, weil sie diejenigen, die sie anwenden, glücklich machen, indem sie ihnen alle Güter (panta tagatha) verschaffen (631b) 28. Für die duale Gütertafel, die der Athener daraufhin vorstellt und die einen Unterschied zwischen menschlichen bzw. kleineren Gütern und göttlichen bzw. größeren Gütern vorsieht, gilt, dass alles vom Erwerb der göttlichen Güter abhängt. Die menschlichen Güter können dauerhaft nicht isoliert erworben werden, sondern nur gleichsam im Paket mit den göttlichen Gütern. Deren Erwerb garantiert freilich auch, dass sich die menschlichen Güter einstellen. In der Reihenfolge ihrer Wertigkeit zählt der Athener Gesundheit, Kenklies 2007, 62 f. spricht von einer »Logik des Friedens«, die er dann aber im Primat der Stabilität fundiert sieht. 28 Zur Konzeption des »richtigen Gesetzes« vgl. Schöpsdau 1994, 120 f. Glück ist eine notwendige Folge, aber nicht das direkte Ziel der Gesetzgebung. Die nachfolgende Gütertafel und hier zuerst die göttlichen Güter sind der Zielbereich der intentio recta des Gesetzgebers. 27

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Schönheit, Körperkraft und Reichtum als die vier menschlichen Güter auf (631c). Der an sich ambivalente Reichtum gibt dann Gelegenheit, zu den göttlichen Gütern überzuleiten. Denn als Gut kann nur der mit Einsicht (phronêsis) verwendete Reichtum angesehen werden. Es ist die Einsicht (Phronesis), die an der ersten Stelle innerhalb des Quadrupels der göttlichen Güter steht. Es ist nicht die merkwürdig additiv aufgebaute Gerechtigkeit, die ihr an zweiter Stelle folgt, und schon gar nicht die völlig im Einklang mit den bisherigen Erörterungen an die vierte Stelle gesetzte Tapferkeit. An die zweite Stelle unter den göttlichen Gütern setzt der Athener »die mit Vernunft verbundene besonnene Haltung der Seele« (631c) und statuiert damit die besondere Stellung der Besonnenheit (sôphrosynê) innerhalb der Nomoi, die sich ganz zu Beginn des Gesprächs bereits angekündigt hatte. Das Gewicht, das diese Stelle besitzt, erhöht sich dadurch noch einmal, dass in der eigenartigen Formulierung, mit der die Tugend der Besonnenheit hier umschrieben wird, einer der beiden Letztbegriffe der Nomoi zum allerersten Mal innerhalb des Gesprächs erwähnt wird: die Rede ist von einer »mit Vernunft (meta nou) verbundenen besonnenen Haltung der Seele«; die Vernunft, der Nous, taucht hier zum ersten Mal auf. Seine zentrale Rolle innerhalb der Nomoi wird dann vom Athener gleich im übernächsten Satz, in dem er die Ziele-Hierarchie des Gesetzgebers offen legt, eigens ausgesprochen: »Hierauf muss er (sc. der Gesetzgeber) den Bürgern einschärfen, dass auch die andern ihnen gegebenen Verordnungen auf diese Güter hinzielen und dass von diesen die menschlichen Güter auf die göttlichen, die göttlichen insgesamt aber auf die Vernunft als Führerin (ton hêgemona noun) hinblicken« (631d) 29. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass die hier zitierte Äußerung des Atheners als die erste Ankündigung des Proömienprogramms der vernünftigen Begründung und Einsichtigmachung der Gesetze gelten kann, mit dessen Problematisierung wir in Kapitel 1 unsere Untersuchung begonnen hatten 30. So sind es Vernunft und vernünftige Besonnenheit die eine Leitstellung im Entwurf der Nomoi einnehmen. Natürlich ist es auch die Gerechtigkeit, die notwendigerweise einen wichtigen Orientierungspunkt für den Gesetzgeber abgeZur Frage des Verhältnisses von Nous und Phronesis vgl. Schöpsdau 1994, 187 z. St. 631d5. Wichtig ist die Betonung des Nous als universalem, vom Menschen unabhängigen Bezugspunkt in den Nomoi. 30 Vgl. Schöpsdau 1994, 185 z. St. 631d2–632d7. 29

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ben muss. Aber im Vergleich zu ihrer Stellung in der Politeia tritt diese Kardinaltugend in ihrer Bedeutung in den Nomoi zurück 31. So merkwürdig das für den unbefangenen Hörer klingen mag, aber die Nomoi handeln nicht in erster Linie über die Gerechtigkeit. Diesem Befund korrespondiert der vom Athener dann nach seinen grundsätzlichen Feststellungen gegebene Umriss eines detaillierten Gesetzgebungsprogramms. Denn es ist auffällig, dass in diesem Umriss, der uns einen Vorblick auf die verschiedenen Gesetzgebungskomplexe der Nomoi erlaubt, eine besondere Aufmerksamkeit auf der allgegenwärtigen Emotionalität und Affektivität des Menschen liegt. Bei der vom Athener nun gegebenen Anordnung der Gesetzgebungsbereiche ist eine Überlagerung zweier Ordnungsgesichtspunkte festzustellen. Einmal ist es der Lauf eines Menschenlebens von der Wiege bis zur Bahre, de jure aber nicht mit der faktischen Geburt, sondern mit der Eheschließung der Eltern beginnend, der hier eine Richtlinie abgibt. Zum anderen ist eine gewisse Orientierung an den Kardinaltugenden zu beobachten 32. Das ganze menschliche Leben von der Hochzeit der Eltern und der Geburt des Nachkömmlings über seine Kindheit und Jugend bis zu seinem Greisenalter und schließlichen Tod untersteht der Aufsicht des Gesetzgebers (631d–e). Dem entspricht die Reihenfolge der Gesetzgebung im engeren Sinne in den Nomoi. Sie beginnt bei den Ehegesetzen im VI. Buch (772d ff.) und endet mit den Bestattungsvorschriften im XII. Buch (958c ff.). Wie bereits erwähnt richtet der Gesetzgeber dabei ein besonderes Augenmerk auf die Lenkung der Emotionalität des Menschen: »und indem er bei allen Formen ihres Zusammenlebens ihre Schmerz- und Lustgefühle, ihre Begierden und die Neigungen all ihrer Leidenschaften beobachtet und überwacht, muss er sie durch die Gesetze selbst nach Gebühr tadeln und loben« (631e–632a). Das Programm einer Normierung der zunächst nur naturwüchsig vorhandenen Emotionalität erstreckt sich auf alle Lebenslagen, insbesondere emotional herausgehobene Glücks- und Unglückslagen: »[…] bei alledem muss er (sc. der Gesetzgeber) darlegen und abgrenzen, was an der Gemütsverfassung eines jeden schön ist und

Vgl. Schöpsdau 1994, 184 f. z. St. 631c7–8. Dennoch finden sich wichtige Stellen in den Nomoi zur Gerechtigkeitsproblematik, vgl. 744a–745b u. 757c–d zur Einrichtung der 4 Vermögensklassen und dem Konzept von Gerechtigkeit im Sinne von »geometrischer« Gleichheit. 32 Vgl. Schöpsdau 1994, 186. 31

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was nicht« (632a–b). Es sind einmal die Bestimmungen zur Erziehung in Buch VII der Nomoi, denen dieser Passus aus der Rede des Atheners korrespondiert, auch weil die dortigen Bestimmungen zur Erziehung mit der Normierung nicht gleich eine strafrechtliche Sanktionierung verbinden 33. Zum anderen wird hier aber auch auf die mit dem Stichwort der Affekte (pathêmata 632a7) aufs Engste verbundene Strafrechtsgesetzgebung in Buch IX vorausgewiesen 34. Nach diesem Großkomplex der dem vernünftigen Umgang mit der Emotionalität zugeordneten Gesetzgebung kommt dann die mit der Tugend der Gerechtigkeit assoziierte Gesetzgebung zur Sprache (632b). Der Gesetzgeber muss auch für die Regulierung und gegebenenfalls Bestrafung der wirtschaftlichen Tätigkeiten des Menschen, seines Finanzgebarens sowie der gegenseitigen Rechtsgeschäfte sorgen. Die diesbezüglichen Bestimmungen finden sich dann hauptsächlich im XI. und XII. Buch der Nomoi. Der Athener beschließt seinen Musterentwurf dann folgendermaßen: »Hat er das erkannt, so wird der Gesetzgeber über das alles Wächter (phylakas) setzen, von denen die einen von der Einsicht und die anderen von der wahren Meinung geleitet werden, damit die Vernunft (ho nous), wenn sie dies alles zu einem Ganzen verbunden hat, es als der Besonnenheit und Gerechtigkeit dienlich erweist, nicht aber dem Reichtum und der Ehrliebe« (632c). Auch der Nomoi-Staat ist ein Staat mit Wächtern. Dem Missbrauch von Gesetzen kann nur durch Menschen begegnet werden, die diesem Missbrauch entgegentreten. Die abschließende Bemerkung des Atheners weist voraus auf Amtsträger im Nomoi-Staat, die dem Gesetzesmissbrauch von Amts wegen entgegentreten. Ob mit den hier genannten »Wächtern« auf die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung oder die Institution der Gesetzeswächter angespielt ist, ist nicht ganz klar 35. In jedem Fall weist diese Bemerkung auf den ganzen Bereich von institutionellen Amtsträgern im Nomoi-Entwurf hin, von dem besonders im VI. Buch die Vgl. 788a–c und 822e–823a. Anders als Schöpsdau 1994, 186 sehe ich den Passus 631e3–632b1 als Einheit an, die dann noch differenziert werden kann. Der leitende Gesichtspunkt ist hier der regulierende Umgang mit der menschlichen Emotionalität und Affektivität. Dem korrespondiert die von Schöpsdau gemachte Beobachtung, dass sich seinen Abschnitten a) und b) die Tugenden der Besonnenheit und Tapferkeit nicht exakt zuordnen lassen. Auf diesem gesamten Bereich scheint eine »Großbesonnenheit« zu operieren, die auch durch den weiteren Verlauf von Buch I angedeutet wird. Vgl. Schöpsdau 1994, 193–195. 35 Vgl. 752d–755b und Schöpsdau 1994, 188 f. z. St. 632c4–6. 33 34

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Rede ist und dessen Bestimmungen dem eigentlichen Gesetzeskodex vorgeschaltet sind. Wir werden im nächsten Kapitel auf diesen, die politisch-verfassungstheoretische Dimension der Nomoi prägenden Bereich näher eingehen. Der Athener hat nun vorgetragen, wie er sich gewünscht hätte, dass Kleinias über Intention und Aufbau der kretischen Gesetzgebung spricht. Bei der zuweilen bemerkten umständlichen und scheinbar steifen Feierlichkeit des Nomoi-Stils, die mit dem Altersstil Goethes verglichen worden ist 36, ist es doch interessant, auf diese dialogtechnische Einfädelung des Musterentwurfs durch den Athener zu achten. Denn sie stellt eine gelungene Verbindung von Höflichkeit und Humor dar. Nach Beendigung seiner Rede macht der Athener klar, dass er sich auch von Megillos eine solche Rede in Bezug auf die spartanische Verfassung gewünscht hätte (632d). Die Einbindung von Megillos in das Gespräch gelingt. Nachdem Kleinias signalisiert, sich der weiteren Führung des Gesprächs durch den Athener überlassen zu wollen, die einen Neustart der Untersuchung bei den auf die Tapferkeit abzielenden gesetzlichen Einrichtungen vorsieht (632d–e), ergibt sich folgender Abschluss der ersten Gesprächsphase durch Megillos und den Athener: »Ein schöner Vorschlag; und so versuche denn zuerst diesen Lobredner des Zeus zu prüfen.« – »Das will ich versuchen, und zugleich auch dich und mich; denn diese Untersuchung geht uns gemeinsam an« (633a). Die anfänglich beobachtete 2:1-Konstellation zwischen Kleinias und Megillos auf der einen und dem Athener auf der anderen Seite gilt so nicht mehr. Stattdessen macht sich der Athener ganz im Stile des Sokrates für eine 3:0-Konstellation stark, in der alle ein gemeinsames kooperatives Interesse verfolgen 37. Trotz weiterer Gefährdungen bleibt diese Konstellation von nun an die Basis für das weitere Gespräch, an dem sich Megillos gleich im Anschluss für alle sichtbar aktiv beteiligt 38.

Vgl. Wilamowitz 1919, I 697. Vgl. Men. 75d und Wieland 1982, 80. 38 Vgl. für den Rest von Buch I 633a–d, 634b–c, 636a–639d, 642b–d, 644d. Nightingale 1993, 294 f. verteidigt zu Recht die Wertschätzung des Kleinias als philosophischem Gesprächspartner. Ihre Abqualifizierung des Megillos als nicht wirklich lernfähig aufgrund seiner »minimal participation in the discussion throughout the dialogue« ist allein schon aufgrund der Bemerkungen von Megillos am Schluss der Nomoi 969c–d nicht haltbar. 36 37

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Für das Verständnis des politischen Gehalts der Nomoi können wir aus dieser vorbereitenden Analyse des Gesprächsbeginns, in der sich die Authentizität des Gesprächsgeschehens und die echt sokratischen Anteile an der Figur des Atheners erwiesen haben, zusammenfassend dies entnehmen: Im Blickpunkt des Gesetzgebers muss die gesamte Tugend stehen. Die Rede von der gesamten Tugend ist als Quartett der Kardinaltugenden allerdings relativ unbestimmt. Entscheidend vorbestimmt wird diese Rede durch die erste Grundaussage Platons von der Friedensorientierung des Gesetzgebers. Die Leitbestimmung für diese Rede erfolgt durch die Behauptung, der Gesetzgeber habe sich an der Vernunft (nous) als Führerin zu orientieren. In besonderer Weise mitbestimmt wird diese Rede durch den hohen Stellenwert, den Platon der vernünftigen Besonnenheit zubilligt. In sie fließen – wie der weitere Verlauf von Buch I zeigt – auch noch Anteile einer »friedlichen« Tapferkeit als Standhaftigkeit gegen Versuchungen ein 39. So vorbereitet können wir nun daran gehen, die politische Philosophie der Nomoi in ihren Grundzügen vorzustellen und zu bewerten, um dadurch den Weg frei zu machen für unsere Hauptabsicht, die auf den Nachweis eines Wandels im Rationalitätsverständnis bei Platon geht.

39

Vgl. 633c ff.

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Kapitel 3: Die Nomoi als politisches Werk

Fragt man nach dem Verhältnis, in dem die zwei großen Entwürfe Platons zur politischen Philosophie, die er in der Politeia und den Nomoi vorgelegt hat, zueinander stehen, so ist es zweifellos richtig, darauf zu verweisen, dass in den Nomoi anders als in der Politeia der Gedanke der Gesetzesherrschaft eine überragende Stellung einnimmt. In einer allerersten Näherung lässt sich der Nomoi-Staat als ein Gesetzes-Staat beschreiben, während in der Politeia ein Erziehungs-Staat entwickelt wird, in dem insbesondere auf die Ausbildung der zukünftigen Herrscher der allergrößte Wert gelegt wird. Diese nur einer allerersten Orientierung dienende plakative Gegenüberstellung von Politeia- und Nomoi-Konzept ist freilich differenzierungsbedürftig. Schon Morrow hat darauf aufmerksam gemacht, dass im Politeia-Entwurf Gesetze keineswegs abwesend sind 1. Auch der Politeia-Staat ist ein Staat mit Gesetzen. Morrow sieht auch in der Politeia eine Herrschaft der Gesetze installiert, allerdings sind die Philosophenherrscher »nur« moralisch und nicht streng legal an diese Gesetze gebunden, was ihnen die Möglichkeit lässt, sich gegebenenfalls ungestraft über sie hinweg zu setzen 2. Umgekehrt ist – wie wir noch sehen werden – der Nomoi-Staat auch ein Erziehungsstaat, sogar ein Erziehungsstaat sui generis 3. Diese in der angedeuteten Weise differenzierungsbedürftige plakative Unterscheidung von Gesetzesstaat hie und Erziehungsstaat da hat aber insofern ihre Richtigkeit, insofern sie auf die überragende Stellung des Gesetzes in den Nomoi und die Überfülle an gesetzlichen Detailregelungen in diesem Werk, die durch Vgl. Morrow 1960, 578 und die dort angegebenen Stellen. Vgl. auch Schöpsdau 1994, 129 u. Ricken 2008, 243. 2 Vgl. Morrow 1960, 582. 3 Darauf weist allein schon das umfangreiche Kapitel hin, das Werner Jaeger den Nomoi in seiner »Paideia« gewidmet hat, vgl. Jaeger 1947, 289–344 u. 436–455. Vgl. auch Kenklies 2007. 1

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keine noch so gute Erziehung überflüssig gemacht werden können, ausgeht 4. Im Blick auf den in den Nomoi dokumentierten und realisierten Willen Platons, die Staatsangelegenheiten umfassend bis ins Detail genau gesetzlich zu regeln, kann man mit Recht von einer »Politisierung« der politischen Philosophie Platons sprechen, die dort vor sich geht 5. Insofern im Rahmen des Nomoi-Entwurfs auch eine Fülle von Verfassungsinstitutionen konkret ausgearbeitet und teils in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt werden, wobei auch Prozedural- und Verfahrensfragen nicht ausgespart bleiben, könnte man auch von einer »Politologisierung« der politischen Philosophie Platons sprechen. Dieser Ebene der konstitutiven Gesetzgebung wollen wir uns in diesem Kapitel zunächst zuwenden. Als Ausgangsbasis soll dabei die Passage aus dem IV. Buch dienen, in der der Primat der Gesetzesherrschaft auf dem Wege der Frage nach der Verfassung, die der zu gründenden neuen Kolonie zugrunde gelegt werden soll, entwickelt wird (712b–715d). Am Ende des III. Buches hatte das Nomoi-Gespräch eine neue, überraschende Wende genommen. Als Reaktion auf eine Frage des Atheners nach einem Test (elenchos 702b) für die bisher angestrengten Überlegungen zur Staatsverwaltung hatte Kleinias seine beiden Mitunterredner ins Vertrauen gezogen und ihnen eröffnet, dass er zusammen mit neun weiteren Männern zu einer Gründungskommission gehöre, die im Auftrag der Stadt Knossos und im Oberauftrag des größten Teils von Kreta die Gründung einer neuen kretischen Kolonie durch Ausarbeitung eines rein im Blick auf das Beste zu erstellenden Gesetzeswerkes vorbereiten solle (702b–c). Daher schlägt er seinen beiden Weggefährten nun vor, im Gespräch ab ovo einen Staat zu entwerfen. Denn dies hätte den doppelten Nutzen des gesuchten Testlaufs einerseits und der konkreten Hilfestellung für die Aufgabe, mit der er betraut sei, andererseits (702d). Berücksichtigt man den Anfang des Gesprächs, dann ist die Antwort, die der Athener auf diese Eröffnung des Kleinias gibt, mehr als nur eine im damaligen Griechenland übliche sprichwörtliche Zustimmung 6. »Das ist gewiss keine Kriegserklärung, Kleinias« (702d). Indem Kleinias seine beiden ausländischen Weg4 5 6

Vgl. Resp. 425a–427a. So Laks 2000, 268. Vgl. Schöpsdau 1994, 520 z. St. 702d6.

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gefährten in einer staatspolitischen Angelegenheit Kretas derart ins Vertrauen zieht, steht er in einem performativen Widerspruch zu der von ihm anfänglich geäußerten Kriegsthese, von deren Standpunkt aus sich ein derartiges Verhalten strikt verbieten würde. Der Entwurf eines neu zu gründenden Staates nimmt dann im IV. Buch seinen Lauf, indem zunächst die äußeren Gegebenheiten und weitere Bedingungen und Vorfragen im Zusammenhang der Gründung geklärt werden 7. Im Kontext dieser Erörterungen kommt es dann zur Frage, welche Verfassung (politeia) die Neugründung erhalten soll: »Aber was für eine Verfassung gedenken wir überhaupt unserem Staat zu geben?« (712b–c), so der Athener. Die Verfassung (politeia) ist hier im Einklang mit den Bestimmungen des Aristoteles als das den Gesetzen Vorgeordnete anzusehen, das regelt, wer im Staat herrscht und mit Rücksicht auf das die Gesetze (nomoi) zu geben sind 8. Freilich lassen sich auch die Bestimmungen zur Verfassung als konstitutive Gesetze – wie etwa im deutschen Grundgesetz – auffassen, sodass der Begriff der Verfassung unter den Begriff der Gesetze fallen kann, was den Titel Nomoi trotz der in diesem Werk gegebenen Verfassungsbestimmungen rechtfertigt 9. Der Athener erhält auf die von ihm aufgeworfene Verfassungsfrage eine Antwort von Kleinias, die leichte Gesprächsspannungen verrät. Denn Kleinias ist sich wohl nicht sicher, ob diese Frage nicht eine Einführung der Tyrannis, von der neben Demokratie, Oligarchie und Königtum unmittelbar zuvor die Rede war 10, als zugrunde zu legende Verfassung vorbereiten soll. Gegen die Tyrannis hatte Kleinias zuvor im Gespräch klare Vorbehalte signalisiert, während der Athener diese Staatsform unter bestimmten Zusatzbedingungen als hervorragende Ausgangsbasis für die schnellstmögliche Reform eines Staatswesens hin zu einer optimalen Verfassung dargestellt hatte 11. Der weitere Verlauf des Gesprächs zeigt dann, dass diese in seiner Reaktion angedeuteVgl. 704a–712b und Schöpsdau 2003, 137 f. Vgl. Aristoteles Pol. 1289a 13 ff. und Schöpsdau 1994, 93 Anm. 2. Im Gegensatz zu Schöpsdau halte ich auch das mit den Regierungsämtern befasste Buch VI für einen Teil der Verfassungstheorie der Nomoi. 9 Vgl. 734e: nomous politeias. Auch Laks 2000, 278 spricht von den »›constitutional laws‹ of Book VI«. Schütrumpf 2013, 191 f. bezeichnet die Verfassungsgesetze als »ordnende Gesetze« im Gegensatz zu den »korrigierenden Gesetzen«. 10 Vgl. 710d–e. 11 Vgl. 710b–c u. 711a–c. 7 8

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te Befürchtung von Kleinias unbegründet ist, weil die Frage des Atheners auf etwas anderes zielt, als auf eine Entscheidung für einen der herkömmlichen Verfassungstypen. Der begrenzte Wert dieses Schemas von 5 – es kommt noch die Aristokratie hinzu – Verfassungstypen wird gleich darauf deutlich, als der Athener die beiden anderen auffordert, ihre Heimatverfassung einem dieser Verfassungstypen zuzuordnen (712c). Denn Megillos, der als der Ältere 12 es übernimmt, zuerst zu antworten, kann seine Heimatverfassung nicht mit Bestimmtheit einem Verfassungstyp zuordnen. Sein lautes Nachdenken über diese Frage macht vielmehr deutlich, dass die spartanische Verfassung Merkmale von fast allen dieser Verfassungstypen aufweist (712d–e). Ebenso ergeht es Kleinias. Auch er bekennt seine Verlegenheit (aporô 712e) in dieser Frage. Nach Meinung des Atheners offenbaren diese Zuordnungsprobleme gerade die Echtheit und Güte der spartanischen und knosischen Verfassung: »Ihr besitzt eben, meine Besten, wirklich Verfassungen; die aber, die wir eben aufgezählt haben, sind keine Verfassungen, sondern Einrichtungen von Staaten, die von bestimmten Teilen ihrer selbst beherrscht werden und deren Sklaven sind, und jede wird nach der Macht des jeweils Herrschenden benannt« (712e–713a). Würde man die 5 herkömmlichen Verfassungstypen in aller Striktheit und Abstraktion in die Wirklichkeit umsetzen, bedeutete dies eine Parteien- bzw. Einzelherrschaft, die ihre eigenen und nur ihre eigenen Interessen ohne Rücksicht auf die Interessen der Beherrschten verfolgen würde. Eine solche Partikularherrschaft ist der Athener nicht bereit, eine wirkliche Verfassung zu nennen 13. Sie widerspricht der Allgemeinwohl-Orientierung, die der Athener wenig später für eine Verfassung verbindlich fordert: »Dies sind zweifellos, behaupten wir jetzt, keine Verfassungen, noch sind das richtige Gesetze, die nicht zum allgemeinen Wohl des ganzen Staates gegeben wurden« (715b). Daher lässt sich eine Pseudo-Verfassung gerade daran erkennen, dass man sie ganz eindeutig einem »Verfassungs«-Typ zuordnen Unter den drei Alten ist Megillos also der Älteste, danach kommt Kleinias und dann der Athener. Diese Information birgt eine weitere Facette der Dialogkomposition Platons. Entgegen der üblichen Außenwahrnehmung kommt Megillos in der Gesprächssituation durch sein Alter der höchste Rang zu. Auch seine geringeren Gesprächsanteile lassen sich mit seinem Status als Ältester in Verbindung bringen. Die Konzeption der Megillos-Figur als Ältester spricht gegen die in der Literatur gelegentlich geäußerte Geringschätzung dieser Figur. 13 Vgl. auch 832b–c. 12

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kann. Eine notwendige Bedingung für eine echte Verfassung ist dann, dass man diese Verfassung mindestens zweien der herkömmlichen Verfassungstypen zuordnen kann, so, wie das bei der spartanischen Verfassung beispielhaft der Fall war. Auch von hier aus ergibt sich der Gedanke einer »gemischten« Verfassung, den Platon bereits in den Erörterungen des III. Buches zum Prinzip erhoben hatte 14. Dort war im Kontext der geschichtlichen Vertiefung der Verfassungsproblematik bereits eine grundsätzliche Aussage zur »Schwäche« des Menschen getroffen worden 15. Sie war dort auf die junge Herrschernatur bezogen worden. Ihr gemäß kann keine Menschenseele jung unumschränkte Macht aushalten ohne »überzuschnappen« 16. Die Aufgabe großer Gesetzgeber ist es, dies durch die Erkenntnis des rechten Maßes zu verhüten. Dies geschah in Sparta durch glückliche Umstände ausgelöst durch das Eingreifen eines »Gottes« (691d). Das Zwillingskönigtum, die Gerousia und das Ephorat haben in Sparta eine gegenseitige Beschränkung der Macht durch die Herrschenden bewirkt und so zu einer gemischten Verfassung geführt, die das rechte Maß bewahrte (691d– 692a). Dieser Gedanke einer »gemischten«, mittleren Verfassung wird im VI. Buch dann auch für die zu gründende Kolonie mit Namen Magnesia klar formuliert: »Eine so durchgeführte Wahl dürfte wohl die Mitte einhalten zwischen einer monarchischen und einer demokratischen Verfassung, zwischen denen ja die Verfassung stets die Mitte halten muss« (756e–757a). Es ist nicht ganz klar, wie sich die Mischung, die die Verfassung Magnesias tatsächlich darstellt, am besten angeben lässt: Ob als Mischung zwischen Monarchie und Demokratie oder zwischen Aristokratie bzw. Oligarchie und Demokratie 17. Gewöhnlich orientiert man sich mit Morrow an der aus dem Menexenos genommenen Formulierung zur Beschreibung der Verfassung AltAthens: »Herrschaft der Besten mit Einwilligung der Volksmenge« (Mx. 238d) 18. Wie auch immer diese Frage letztlich zu lösen ist, – die im Kontext unserer Ausgangsstelle (712b–715d) gestellte Verfassungsfrage des Atheners intendiert gar nicht eine an sich korrekte Antwort Vgl. dazu Morrow 1960, 521–543; Schöpsdau 1994, 122 f.; Laks 2000, 278–281. Vgl. 691c–d. 16 Vgl. 691d: Der unumschränkte Herrscher wird von der größten Krankheit, der Anoia, befallen. 17 Vgl. Aristoteles Pol. 1265b 28 u. Morrow 1960, 525–530. 18 Vgl. Morrow 1960, 229. Laks 2000, 281 hält die Verfahren in den Nomoi tatsächlich für demokratischer, als es diese traditionelle Formel vermuten lässt. 14 15

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dieses Typs, die genau angibt, um welche Art von mittlerer Verfassung es sich nun handeln soll. Die Frage läuft vielmehr auf eine noch grundsätzlichere Bestimmung von Verfassung hinaus. Diese fundamentale Intention der hier gestellten Verfassungsfrage zeigt sich im letzten Satz der Reaktion des Atheners auf die Verlegenheit seiner Mitunterredner, den wir noch nicht mitgeteilt haben, und der sich daran anschließenden Rückfrage des Kleinias: »Man müsste aber, wenn man den 19 Staat nach einer solchen Macht benennen soll, ihn nach dem Namen des Gottes benennen, der in Wahrheit über die herrscht, welche die rechte Vernunft besitzen.« – »Wer ist dieser Gott?« (713a). Die Rückfrage des Kleinias bleibt offen und wird im ganzen Dialog nicht beantwortet 20. Gleichwohl bekommen wir durch diese Passage und das auf sie folgende Gesprächsstück entscheidende Hinweise zur Bestimmung jener Herrschermacht geliefert, die einer wahren Verfassung zugrunde liegt und nach der der zu entwerfende Staat der Magneten benannt werden müsste. Die vom Athener hier ins Spiel gebrachte Idee, den wahrhaft verfassten Staat nach dem Namen des Gottes zu benennen, der über die herrscht, die Vernunft (nous) besitzen, greift die aus dem I. Buch bekannte Grundorientierung der Nomoi-Gesetzgebung wieder auf. Dort war – wie wir gesehen hatten – die Orientierung an der Vernunft (nous) zur letzten Zielperspektive für den Gesetzgeber erklärt worden. Es ist klar, dass der Gott, der über die herrscht, die Vernunft besitzen, selber vernünftig sein muss, ja sogar die Vernunft in ganz außerordentlicher Weise verkörpern muss. Von daher ist die von einigen Interpreten 21 verwendete Bezeichnung »Noo-kratie« für die Verfassung Magnesias, die der Absicht nach eine Vernunftherrschaft darstellen soll, voll berechtigt. Aber auch die Bezeichnung »Theo-kratie« ist im Hinblick darauf, dass der Athener die Herrschermacht als einen Verbessernder Eingriff meinerseits: tên polin (713a3). Anders Schöpsdau 2003, 186 u. 182 z. St. 713a2–4: Er hält Nomos für den Namen des Gottes, der über die mit Vernunft herrscht. Dagegen spricht: 1. Dass dies nirgends ausdrücklich gesagt wird, obwohl man das gerade im Anschluss an die Einführung des Prinzips der Gesetzesherrschaft doch erwarten sollte. 2. Dass die Rede von einem Gott »Nomos« ungewöhnlich ist und später so nirgends auftaucht. 3. Dass im Blick auf 897b eher eine Deifizierung des Nous, also die Rede von einem Gott »Nous« in Frage käme, zumal da 4. der Nomos als ein »Erzeugnis des Nous« (vgl. 890d) eine gegenüber dem Nous untergeordnete, bestenfalls gleichgeordnete Stellung hat. Die einfachste Lesart der Stelle scheint mir die zu sein, dass hier nach dem persönlichen Namen eines Vernunftgottes gefragt wird, der dann nirgends genannt wird. Vgl. dazu weiter Kapitel 7. 21 Vgl. Hentschke 1971, 274 und Laks 2000, 271, 281 Anm. 31. 19 20

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Gott bezeichnet, der über die herrscht, die Vernunft besitzen, denkbar 22; zumal diese Alternative den Unterschied zwischen der Vernunft und einem Vernunft-Gott, der im Text gemacht wird, im Bewusstsein hält. Zu diesen bereits an dieser Stelle feststehenden Bestimmungen der wahren Verfassung kommt durch die darauffolgenden Erörterungen noch eine dritte hinzu, die dann zur charakteristischsten Bezeichnung wird: Der Nomoi-Staat muss eine Gesetzesherrschaft, eine »Nomo-kratie« 23 sein. Das Theorem der Gesetzesherrschaft wird vom Athener unter Rückgriff auf einen Mythos von der urzeitlichen Herrschaft unter Kronos entwickelt 24. Die heutigen besten Verfassungen seien ein Abbild dieser sagenhaften Kronos-Herrschaft. Ausgangspunkt dieser Sage ist die bereits mehrfach angesprochene prinzipielle Schwäche der menschlichen Natur, die an unserer Stelle in voller Allgemeinheit ausgesagt wird: »Weil nämlich Kronos erkannte, dass, wie wir dargelegt haben, keine einzige menschliche Natur fähig ist, in eigener Machtvollkommenheit alle menschlichen Angelegenheiten zu verwalten und dabei nicht von Übermut und Ungerechtigkeit erfüllt zu werden […]« (713c). Aufgrund dieser Korruptheit der menschlichen Natur habe Kronos bessere Wesen als es die Menschen sind – die Dämonen (713d) – zu Herrschern über die Menschen eingesetzt, die wie Hirten für die Menschen sorgten und sie so – u. a. durch einen Zustand des Friedens (713e) – glücklich gemacht hätten. Die aus diesem Mythos zu ziehende Grundlehre formuliert der Athener dann wie folgt: »Und so behauptet denn auch heute noch diese Sage und trifft damit die Wahrheit, dass es für alle Staaten, über die nicht ein Gott, sondern irgend so ein Sterblicher herrscht, kein Entrinnen vor Unheil und Leiden gibt; vielmehr müssten wir, meint sie, mit allen Mitteln die Lebensweise, die unter Kronos bestanden haben soll, nachahmen und dem, was an UnsterbSo etwa Wilamowitz 1919, I 662. Der Hinweis von Schöpsdau 2003, 182 z. St. 713a2– 4 zur Begründung, dass die Bezeichnung »Theokratie« dem Kontext am wenigsten gerecht wird, weist auf einen kleinen Sprung im Gedankengang des Atheners hin: Von der Herrschermacht zum Namen der Herrschermacht. Orientiert man sich an der Herrschermacht, dann ist auch aufgrund von 713e5 die Bezeichnung »Theokratie« gerechtfertigt. Dass der Athener den kleinen Sprung zum Namen der Herrschermacht macht, ist ein klares Indiz, dass seine Intention auf einen personalen Gott zielt. 23 Zur Verwendung dieser Bezeichnung vgl. etwa G. Müller 1968, 161 u. Görgemanns 1960, 30. Schöpsdau 2003, 182 z. St. 713a2–4 hält sie für die bereits an dieser Stelle intendierte. 24 Vgl. 713a–714b. 22

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lichkeit in uns ist, folgend im öffentlichen wie im persönlichen Leben unsere Häuser und Staaten verwalten, indem wir die Verteilung der Vernunft als Gesetz bezeichnen« (713e–714a) 25. Mit der Schlussformulierung »indem wir die Verteilung der Vernunft als Gesetz bezeichnen« (tên tou nou dianomên eponomazontas nomon 714a), die im Original einen in der Übersetzung unmöglich so wiedergebbaren sprachlichen Zusammenhang zwischen Verteilung der Vernunft und Gesetz herstellt, wobei auch noch der Gedanke des Weidens durch einen Hirten mitschwingt 26, führt der Athener das für die Nomoi so charakteristische Prinzip der Gesetzesherrschaft ein. Dieses Prinzip wird dann in der Folge vom Athener deutlich ausgesprochen: »Diese Bemerkungen machen wir deshalb, damit wir in deinem Staat die Herrschaft nicht deswegen jemandem übertragen, weil er reich ist, noch weil er sonst etwas dieser Art besitzt, wie Kraft oder Größe oder edle Herkunft; sondern wer den gegebenen Gesetzen am willigsten gehorcht und darin den Sieg im Staat davonträgt, dem, behaupten wir, muss man auch den Dienst an den Göttern anvertrauen […] Die Leute aber, die heutzutage ›Herrscher‹ genannt werden, habe ich Diener der Gesetze genannt, nicht um neue Ausdrücke zu prägen, sondern ich glaube, mehr als von allem andern hängt davon für einen Staat seine Erhaltung und das Gegenteil ab. Denn einem Staat, in welchem das Gesetz geknechtet und machtlos ist, einem solchen sehe ich den Untergang bevorstehen. In welchem es aber Gebieter über die Herrschenden und die Herrschenden Sklaven des Gesetzes sind, dem Staat sehe ich Fortbestand und alle Güter zuteil werden, welche die Götter je Staaten verliehen haben« (715b–d) 27. Die Frage nach der wahren Verfassung hat die Gesprächspartner zum Prinzip der Gesetzesherrschaft geführt 28. Das Gesetz ist die Instanz, die über den Herrschenden steht Auffallend ist die enge, aber konträre Entsprechung (Gott vs. Mensch) des 1. Teils dieser Stelle zur Zentralstelle der Politeia Resp. 473c–d. Vgl. Schöpsdau 2003, 192 z. St. 713e4–6, der aufgrund seiner Deutung jedoch keinen Kontrast sieht. Vgl. auch Müller 1968, 161. 26 Vgl. Schöpsdau 2003, 192 f. z. St. 714a1–2. Mitteilenswert scheint mir der Nachahmungsversuch von G. Müller 1968, 161: Das Gesetz [ist] das »Geistgesetzte«. 27 Zur Formulierung »Dienst an den Göttern«, die man im Sinne von »Regierungsamt« verstehen kann, vgl. Schöpsdau 2003, 197 f. z. St. 715c3–4. 28 Die Begriffe nomoi und politeia fordern sich daher wechselseitig. Im Zusammenhang seiner komplexen Überlegungen zum Verhältnis von Politeia und Nomoi hat Laks seine Aufmerksamkeit auch auf das Verhältnis der griechischen Titelwörter politeia und nomoi gelegt. Der Begriff der politeia wird bei Platon seiner Ansicht nach mit Blick auf das 25

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und so die natürliche Schwäche des Menschen reguliert, nicht vollkommen Herr über sich sein zu können. Aber zuvor hatte die Verfassungsfrage auf andere Prinzipien hingedeutet, die eine wahre Verfassung konstituieren: Vernunftherrschaft und Gottesherrschaft. Vernunftherrschaft, Gottesherrschaft und Gesetzesherrschaft werden in den Nomoi eng miteinander verknüpft. Es ist eine sehr wichtige Frage, wie die Verbindung dieser drei Herrschaften genau aussieht. Die Charakterisierung des Gesetzes als »Verteilung der Vernunft« (714a) berechtigt dazu, das Gesetz einmal als Erzeugnis der Vernunft, zum anderen als verkörperte, objektivierte Vernunft anzusehen 29. Das stimmt auch überein mit einer Äußerung des Atheners aus dem I. Buch, in der das Gesetz als eine »vernünftige Überlegung« (logismos) bestimmt wird, die zur »gemeinsamen Überzeugung (dogma) eines Staates geworden ist« (644d). Die in den Nomoi vorfindliche äußerst enge Verknüpfung von Vernunft und Gesetz macht eine Voraussetzung, deren Problematik nirgends diskutiert wird, die aber für das ganze Projekt zu einer Belastung wird: Jedes Gesetz ist ein vernünftiges Gesetz (und als solches nicht angreifbar). Zwar spricht Platon von »richtigen« Gesetzen im Unterschied zu Gesetzen, die diesen Namen eigentlich nicht verdienen 30. Aber er geht davon aus, dass die Gesetze, die er formuliert, alle »richtig« sind. Wir werden weiter unten sehen, dass das nicht zutrifft. Unabhängig vom Inhalt fällt auf, dass die Nomoi im Gegensatz zur Politeia enorme Mühe auf die Ausarbeitung des konkreten Details aufwenden. Zu Recht hat man daher auf die Verbindung hingewiesen, in der die Nomoi zum Dialog Timaios in dieser Hinsicht stehen 31. Die in normative Kriterium der Zustimmung bzw. des Konsenses bestimmt. Das In-den-Vordergrund-Treten dieses Kriteriums in den Nomoi würde die außerordentlichen Bemühungen um Zustimmung, die sich dort finden, aber auch den potentiellen Konflikt mit dem Kompetenzanspruch, erklären. Vgl. Laks 1996, 46–48 u. Laks 1990, 211 f., 218. Mir scheint Laks geht zu weit, wenn er den Konsensus zum Kriterium für eine wahre Verfassung erhebt. Die Stelle 832b–c, auf die er sich bezieht, hebt auf die Freiwilligkeit ab. Diese aber ist eine Konsequenz aus der Vernünftigkeit, Rechtlichkeit und Allgemeinwohl-Orientierung der Verfassung. Faktisch kann der Konsens auch bei einer vernünftigen und damit wahren Verfassung immer auch einmal ausbleiben. Eine wahre Verfassung zeichnet sich durch ein aus der Vernünftigkeit abgeleitetes Bemühen um Konsens aus, nicht durch einen faktisch immer bestehenden Konsens. 29 Vgl. Schöpsdau 2003, 187. 30 Vgl. 631b, 715b; Schöpsdau 1994, 120 f. und Schöpsdau 2003, 197. 31 Vgl. Morrow 1960, 10, 591; Laks 1990, 209–211, 226–228. Bei der sowohl von Mor-

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den Nomoi zu beobachtende »emphasis upon the concrete« 32 hat auch das zur Folge, was wir zu Beginn des Kapitels die »Politologisierung« der politischen Philosophie Platons genannt hatten. Denn Platon arbeitet vornehmlich im VI. Buch einen ganzen Apparat von Verfassungsinstitutionen konkret aus. Einerseits zeigt dieser Apparat von Verfassungsinstitutionen, dass der Nomoi-Entwurf klar in der historisch gewachsenen, damaligen politischen Wirklichkeit Griechenlands und insbesondere Athens steht, andererseits transzendiert Platon wohl mit einigen Institutionen, insbesondere der »Nächtlichen Versammlung« diese historischen Vorgaben 33. Zum besseren Verständnis seiner konstitutiven Gesetzgebung wollen wir uns nun die Ausarbeitung der besonders wichtigen Verfassungsinstitutionen der Gesetzeswächter, des Aufsehers über die Erziehung und der Euthynen näher anschauen. Die alles überragende Institution der Nächtlichen Versammlung, die sich in der Hauptsache aus Personen aus dem zuvor genannten Institutionenkreis zusammensetzt, soll erst später eine nähere Thematisierung erfahren. Zu Beginn des VI. Buches lebt der Nomoi-Dialog, der im V. Buch ruhte, wieder neu auf. Der Athener kommt auf die Frage der Einsetzung von Beamten (archôn katastaseis 751a) für den Staat zu sprechen. Die Einsetzung von Ämtern und Amtsträgern, bei denen die genauen Verfahren ihrer Einsetzung von Wichtigkeit werden, ist der erste Schritt bei der Einrichtung eines Staates. Ihm schließt sich gemäß dem aus der damaligen Praxis genommenen Verständnis, das der Athener hier wiedergibt, als zweiter Schritt die Zuweisung von entsprechenden Gesetzen für die einzelnen Behörden an (751a–b) 34. Gesetze im engeren Sinne sind daher Gesetze für die schon eingerichteten und vorhandenen Ämter und Amtsträger. Aber in einem weiteren Sinne lassen sich auch die hier gegebenen, die Verfassung mitkonstituierenden Bestimmungen zur Ämtereinsetzung bzw. Ämterwahl als Gesetze row als auch von Laks verwendeten Analogie zwischen dem Gesetzgeber der Nomoi und dem Demiurgen des Timaios ist zu beachten, dass sie zunächst einmal nicht gilt. Der Nomoi-Gesetzgeber ist eine menschliche Instanz, der Timaios-Demiurg eine göttliche, vgl. 853c. 32 Morrow 1960, 10. 33 Vgl. Schöpsdau 1994, 113; Morrow 1960, 514 hält die »Nächtliche Versammlung« für »one of Plato’s most striking inventions«. Als Vorbild vermutet er die platonische Akademie, vgl. Morrow 1960, 509. 34 Vgl. 735a und Schöpsdau 2003, 360 z. St. 751a4-b2.

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verstehen 35. Trotz der Fokussierung der Nomoi-Verfassung auf das Gesetz kommt der Beamtenwahl eine große Bedeutung zu, wie der Athener gleich klar macht. Denn das Gesetz braucht geeignete Amtsträger, die in der Lage und willens sind, es richtig anzuwenden. Untaugliche Amtsträger dagegen können auch dem gesetzlich gut verfassten Staat die allerschwersten Schäden zufügen (751b–c). Aus dieser Überlegung heraus entwickelt der Athener das Anfangsproblem für die beabsichtigte Koloniegründung, das darin besteht, dass frisch zusammengekommene, sich unbekannte Menschen ohne entsprechende Erziehung und Gesittung Amtsträger wählen sollen, die für das Amt wirklich geeignet sind (751c–d). Die Lösung für dieses Anfangsproblem sieht der Athener in der für eine Übergangsfrist gewährten beistehenden Begleitung der Kolonie durch die Mutterstadt Knossos, die auf einer der Eltern-Kind-Beziehung vergleichbaren emotionalen Bindung basiert 36. Daher sei Knossos in der Pflicht, mit für eine möglichst optimale Einsetzung der »ersten Beamten« (752d) zu sorgen. »Bei den anderen Ämtern macht dies freilich geringere Mühe; die Gesetzeswächter aber müsst ihr unbedingt als erste mit aller Sorgfalt wählen« (752d–e), so der Athener. Allein aufgrund dieser Einführung ist klar, dass es sich bei den Gesetzeswächtern um eine grundlegende Institution des Nomoi-Verfassungsstaates handeln muss. Der Grad der vom Athener gewünschten Involviertheit der Mutterstadt Knossos beim Gründungsprojekt wird vor allem bei der außerordentlichen Erstwahl 37 der Gesetzeswächter deutlich: 19 Gesetzeswächter sollen aus den Reihen der Siedler kommen, aber 18 Gesetzeswächter aus Knossos, die notfalls mit »maßvoller Gewalt« zur Beteiligung gezwungen werden sollen (752e–753a). Nach den Vorstellungen des Atheners sollen auch Kleinias selbst und die übrigen neun Mitglieder der Gründungskommission zu den ersten Mitgliedern des Gesetzeswächtergremiums gehören (753a–b). Kleinias soll also selbst Kolonist werden und in seinem Alter sein bisheriges Leben in Knossos aufgeben. An dieser Gesprächsstelle, an der sich kein Widerspruch von Seiten des Kleinias regt, offenbart sich eine stille existenzielle Dynamik des Dialoges. Eine

35 Vgl. 734e: nomous politeias. Wilamowitz 1919, II 397 tilgt im Blick auf das herkömmliche Verständnis (»Es folgen gar keine Gesetze, sondern Grundsätze für die Verfassung«) nomous. 36 Vgl. 752c, 754a–c. 37 Vgl. Schöpsdau 2003, 367 z. St. 752d2–754d4.

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Nachfrage von Kleinias macht klar, dass er allein und nicht auch noch seine beiden Weggefährten nach Magnesia gehen sollen (753a). Im Vergleich zum Gesprächsanfang hat sich nun eine neue Dreierkonstellation mit Kleinias auf der einen Seite und dem Athener und Megillos auf der anderen Seite ergeben. Die Wahl der Erst-Gesetzeswächter findet unter einmaligen, so nicht wieder vorkommenden Bedingungen statt. Nach einer angemessenen Übergangszeit, in der sich die Kolonisten in den Geist der neuen Sitten eingewöhnt haben sollen 38, findet dann wieder unter maßgeblicher Beteiligung von Knossos eine diesmal genau geregelte Wahl der 37 Gesetzeswächter statt. Die Wahlkommission soll aus 100 der ältesten und besten Kolonisten und 100 Knosiern bestehen, die nach Erledigung ihrer Aufgabe wieder nach Knossos zurückkehren sollen, womit die Phase der eigentlichen Eigenständigkeit der Kolonie beginnt (754c–d). 753b–d legt der Athener die Wahlprozedur zur Wahl der 37 Gesetzeswächter dar, die ein charakteristisches erstes Beispiel für die von nun an verfügten politischen und juristischen Prozeduren darstellt, die gewährleisten sollen, dass im Nomoi-Staat alles seine Richtigkeit hat. Bei der Gesetzeswächter-Wahl handelt es sich um eine Wahl in drei Wahlgängen. Wahlberechtigt sind alle Wehrfähigen und Gedienten, was die Wertschätzung der Wehrhaftigkeit im Nomoi-Staat trotz der anfänglich angesetzten Friedensperspektive unterstreicht. Zum Wahllokal wird das ehrwürdigste Heiligtum im Staat bestimmt. Der Wahlvorgang ist daher zugleich ein religiöser Akt, indem der Wahlberechtigte sein Stimmtäfelchen zum Altar »des Gottes« (753c) bringt. Die Wahl ist nicht geheim, denn der Wählende soll nicht nur den Namen seines favorisierten Kandidaten, sondern auch seinen eigenen Namen auf das Stimmtäfelchen schreiben. Dies führt zur Möglichkeit der öffentlichen Anprangerung des Wahlvorschlags durch jeden, der will, durch Übertragung des Stimmtäfelchens auf die Agora innerhalb einer Frist von 30 Tagen. Auf die 300, auf die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen entfielen, wird im zweiten Wahlgang dasselbe Verfahren noch einmal angewendet. Unter den übrig bleibenden 100 mit den meisten Stimmen wird dann im dritten Wahlgang noch einmal ausgewählt. Der entscheidende dritte Wahlgang wird dann noch mit einer Vgl. 752c, 753b; Schöpsdau 2003, 367–371 erläutert die Schwierigkeiten der Deutung der Stelle.

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zusätzlichen religiösen Handlung, dem Hindurchgehen durch zerstückelte Opfertiere, verbunden. Die 37 Personen mit den meisten Stimmen werden dann nach einer »Prüfung« (753d), der »Dokimasie« durch den Wahlausschuss, die dann für alle Ämterbesetzungen verbindlich durchgeführt wird 39, zu Gesetzeswächtern ernannt. Trotz der Detailliertheit der Bestimmungen zur Gesetzeswächterwahl ergeben sich hier wie auch bei späteren Prozeduralvorschriften Schwierigkeiten 40. Das sind Schwierigkeiten, die Platon entweder nicht thematisieren wollte oder auch übersehen hat. Denn erst ein Praxislauf bringt alle möglichen Unbestimmtheiten und Unstimmigkeiten einer ausgedachten Prozedur unweigerlich ans Tageslicht. Die Verfahrensregeln zur Gesetzeswächterwahl wie auch die weiteren Verfahrensregeln sind zweifelsohne für die Praxis gedacht. Sie sind aber in der hier in den Nomoi präsentierten Gestalt mehr im Sinne eines Prototyps als im Sinne eines bereits ganz ausgereiften Modells zu verstehen. Die hohe Bedeutung des Amtes eines Gesetzeswächters, die sich bereits im Namen zeigt, spiegelt sich auch im Wahlverfahren wider. Die Tatsache, dass die Gesetzeswächter in drei Wahlgängen gewählt werden, dass sie durch ein reines Wahlverfahren und nicht, wie im Nomoi-Staat in der Regel üblich, durch eine Kombination von Wahlund Losverfahren gewählt werden 41, dass ihre Wahl im ehrwürdigsten Heiligtum zusammen mit sakralen Akten stattfindet, unterstreicht ihre grundlegende Rolle. Damit in Einklang steht auch die Bestimmung zum Mindestalter von 50 Jahren für die Gesetzeswächter 42. Mit 70 sollen sie aus dem Amt ausscheiden, sodass ihre Amtszeit maximal 20 Jahre beträgt 43. Der Athener nennt drei Aufgabenbereiche der Gesetzeswächter 44. Es ist vor allem die sich bereits aus dem Namen ergebende erste Aufgabe der Überwachung der Gesetze, die den Gesetzeswächtern umfassende Kompetenzen im Rahmen des Nomoi-Staates zusichert 45. In späteren Behördenbestimmungen wird dementspreVgl. 755d u. Schöpsdau 2003, 358, 360. Vgl. Schöpsdau 2003, 373, 432, Schöpsdau 2011, 538. 41 Vgl. dazu Schöpsdau 2003, 354–356. 42 In auffallender Entsprechung zu Resp. 540a–b: Mit 50 schauen die designierten Regenten die Idee des Guten und können als Philosophenherrscher volle Regierungsverantwortung übernehmen. 43 Vgl. 755a–b. 44 Vgl. 754d–755b. 45 Vgl. Schöpsdau 2003, 363 f. 39 40

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chend häufig auf die Mitwirkung oder das alleinige Entscheidungsrecht der Gesetzeswächter bei der Entscheidung verwiesen 46. Die allermeisten Ämter im Nomoi-Staat werden kollegial besetzt. Nur ganz wenige dagegen mit einer einzigen Person 47. Zu ihnen gehört das Amt, das der Athener als das »von den höchsten Ämtern im Staat weitaus […] wichtigste« (765e) charakterisiert: Der Aufseher über die gesamte Erziehung der Knaben und Mädchen. Mit der Einrichtung dieses Amtes, auf das der Athener gegen Ende der verfassungsrechtlichen Bestimmungen des VI. Buches (765d–766c) zu sprechen kommt, wird die auch in den Nomoi geltende überragende Wichtigkeit der Erziehung (Paideia) verfassungsrechtlich objektiviert. Der Aufseher über die gesamte Erziehung muss mindestens 50 Jahre alt sein und legitime Kinder – am besten beiderlei Geschlechts – haben. Bevor der Athener das Verfahren seiner Wahl angibt, schaltet er noch eine aufschlussreiche inhaltliche Überlegung ein, die begründen soll, warum der Erziehung im Staat oberste Priorität zuzukommen hat. Das ist ein Beispiel für die Nomoi-typische, scheinbar mühelose Kombination von Besinnung und Formalität. Kern dieser Überlegung ist eine Aussage über den Menschen: »Der Mensch ist, wie wir meinen, ein zahmes Wesen« (765e–766a). Wird dieses sein zahmes Wesen durch Erziehung richtig kultiviert, dann besteht gute Aussicht – eine glückliche Naturanlage mit vorausgesetzt –, dass er zum »göttlichsten und zahmsten Lebewesen« (766a) wird. Sonst aber besteht die Gefahr, dass er zum »wildesten« (ebd.) aller Lebewesen wird. Durch die an dieser Stelle getroffenen Äußerungen zum Wesen des Menschen, die die Wichtigkeit der Erziehung begründen sollen, wird die ganz zu Beginn des Gesprächs entwickelte »Friedensthese« des Atheners ergänzt. Denn der Ausrichtung des Gesetzgebers auf den Frieden korrespondiert das an sich zahme Wesen des Menschen. Zugleich wird auch die faktische Ausrichtung von Verfassungen auf den Krieg durch eine falsche Erziehung erklärt, die den Menschen zum »wildesten« Lebewesen macht. In jedem Fall kommt so der Erziehung für die Frage, wohin Staaten mit ihren Verfassungen letztlich tendieren, ob zum Krieg oder zum Frieden, eine ausschlaggebende Rolle zu. Vgl. ebd. Schöpsdau 2003, 351–353 gibt eine kurze Übersicht über die Nomoi-Beamten samt Verfassungsschema (in Schöpsdau 2011, 659 berichtigt). Vgl. auch Schöpsdau 1994, 113–121.

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Der Aufseher über die gesamte Erziehung soll nach Meinung des Atheners der in jeder Hinsicht »Beste« (766a) unter den Bürgern sein. Mit folgendem Wahlverfahren soll dieser Beste ermittelt werden 48: Die Wahl erfolgt geheim im Apollontempel durch alle Beamten außer den Ratsbeamten und den Prytanen. Zur Wahl stehen ausschließlich die Gesetzeswächter. Die Beamten sollen den Gesetzeswächter wählen, den sie für am geeignetsten halten, das Erziehungswesen zu leiten. Wer die meisten Stimmen erhält, der soll nach der Dokimasie durch die Beamten, von der die konkurrierenden Gesetzeswächter ausgeschlossen sind, für 5 Jahre zum Aufseher über die gesamte Erziehung ernannt werden. Eine Möglichkeit der Wiederwahl ist ausgeschlossen. Während die Wahl des Aufsehers über die gesamte Erziehung eine Wahl zweiter Stufe im Nomoi-Staat darstellt, insofern nur die Beamten außer den Ratsbeamten und Prytanen wahlberechtigt sind und lediglich die Gesetzeswächter passives Wahlrecht genießen, ist die Wahl der Euthynen wieder eine Wahl auf der Grundstufe. Jeder Bürger ist hier aufgerufen, den Mann zu wählen, den er »in jeder Hinsicht für den Besten hält – sich selbst ausgenommen – und der mindestens 50 Jahre alt ist« (946a). Die enorm wichtige Verfassungsinstitution der Euthynen wird erst im XII. Buch der Nomoi vom Athener vorgestellt 49. Bereits mit dem XI. Buch beginnend zeigt sich im XII. Buch ein gewisser Druck bei Platon, das gesetzliche Restprogramm noch durchzubringen, um dann noch einmal ab 960 im Gespräch ganz grundsätzlich werden zu können. Dies bedingt ein starkes Zurücktreten des Dialogischen im XI. und XII. Buch 50. Durch die Erwähnung eines Euthynen (945a) im Zusammenhang eines Militärvergehens kurz zuvor motiviert, macht sich der Athener daran, das Euthynen-Amt relativ ausführlich vor Augen zu führen. Dieser Passus, insbesondere die erbauliche Beschreibung des Staatsaktes der Bestattungsfeierlichkeiten für die Euthynen, die sich ihres Amtes als würdig erwiesen haben, gehört in die Reihe der zahlreichen Höhepunkte des Nomoi-Gesprächs 51. Die Einrichtung des Euthynen-Amtes ist der institutionelle Ausdruck der grundlegenden Einsicht der Nomoi von der Schwäche des Vgl. 766b–c. Vgl. 945b–948b. 50 931e–960c spricht einzig der Athener; lediglich 951c meldet sich Kleinias mit einer Frage zu Wort. 51 Vgl. 946e–947e. Eine kleine Auswahl solcher Stellen gibt Laks 2000, 266 Anm. 14. Vgl. auch 266 f. 48 49

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Menschen, die sich politisch darin zeigt, dass ein nicht rechenschaftspflichtiger (anhypeuthynos 691c–d) Amtsträger sein Amt für egoistische Zwecke missbrauchen wird. Es sind die Euthynen, die im NomoiStaat die Befugnis haben, von jedem Amtsträger Rechenschaft über seine Amtsführung – die so genannte Euthyna – fordern zu können 52. Der Euthyne ist daher derjenige Prüfer der Beamten, der – wie der Athener in Anspielung auf den Wortsinn von Euthyne sagt – »es wieder gerade richtet, falls einer von ihnen irgendetwas Krummes tut« (945b) 53. Der Euthyne ist also ein »Richter« im übergeordneten, das richtige Gesetz wiederherstellenden Sinne, ohne dass er das gewöhnliche Richterwesen, das im Nomoi-Staat in 3 Instanzen existiert 54, überflüssig machen soll. Im Gegenteil ist es das Verfassungsinstitut der »Auserlesenen Richter« 55, dem der Euthyne bei Einsprüchen von Beamten gegen sein Urteil unterworfen ist (946d). Es liegt in der Logik des Nomoi-Staates, dass auch bei den Euthynen, die als Männer »von gleichsam göttlicher Art« (945c) beschrieben werden und die »auf jeden Fall bewundernswert in jeder Tugend sein« sollen (945e), mit der Möglichkeit ihrer Korruptheit gerechnet werden muss. Für diesen Fall sieht der Athener ein aus den Gesetzeswächtern, den Amtskollegen des beschuldigten Euthynen und den Auserlesenen Richtern zusammengesetztes Sondertribunal vor, das über eine förmlich einzureichende Anklage gegen den Euthynen zu entscheiden hat 56. Im ersten Jahr sind 12 Euthynen zu ernennen. Dann in jedem Jahr 3 weitere. Die Altersgrenze für das Amt beträgt 75 Jahre (946c). Ähnlich wie bei den Gesetzeswächtern beschreibt der Athener das Wahlverfahren nicht für den Erstfall, sondern für die sich jährlich regulär wiederholenden Fälle ab dem zweiten Jahr 57. Es ist folgende besondere Verfahrenstechnik bei der Wahl der Euthynen anzuwenden 58: Jedes Jahr nach der Sommersonnenwende soll die gesamte Bürgerschaft in einem Weihbezirk des Helios und Apollon zusammenkommen, um Vgl. 774b, 881e, 761e. Vgl. auch Schöpsdau 2003, 360. Übersetzung nach Schöpsdau 2011, 133. 54 Vgl. 766d–768e. 55 Das sind die Richter der 3. Instanz, vgl. 938b, 948a, 855c–d, 767c–e, 768b–c. Vgl. dazu Schöpsdau 2003, 431–433. Auch die »Auserlesenen Richter« sind – wie alle Richter – rechenschaftspflichtig. Vgl. 761e, 767e. 56 Vgl. 947e–948b. 57 Vgl. Schöpsdau 2011, 539 z. St. 946c2–5. 58 Vgl. 945e–946d. 52 53

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»dem Gott« (945e) drei Männer zu benennen, jeder den, den er, wie bereits zitiert, in jeder Hinsicht für den Besten hält – sich selbst ausgenommen – und der mindestens 50 Jahre alt ist. Bei gerader Anzahl der Nominierten ist die Hälfte, die die meisten Stimmen erhalten hat, auszuwählen. Bei ungerader Anzahl ist zunächst derjenige mit den wenigsten Stimmen wegzunehmen und dann wie oben zu verfahren. Bei gleicher Stimmenzahl werden die Jüngsten ausgeschieden. Das Verfahren wird so lange wiederholt, bis drei Kandidaten mit ungleicher Stimmenzahl übrig bleiben. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los über den 1., 2. und 3. Platz. Die Gewählten werden mit dem Ölzweig bekränzt und ihnen wird der Tugendpreis zuerkannt. Sie werden dem Apoll und dem Helios geweiht, haben ihren Amtssitz im Weihbezirk des Helios und Apoll und sind zugleich Priester dieser beiden Götter. Der Erste der jährlichen Wahlen ist in diesem Jahr Oberpriester. Sein Name ist das Maß der Zeitrechnung für die Polis 59. Die bisherigen Erörterungen zeigen, dass sich in den Nomoi für die politische Theorie grundlegend zukunftsfähige Lehren finden: Die Herrschaft der Gesetze, die Allgemeinwohl-Orientierung der Verfassung, das System der »gemischten« Verfassung und damit verbunden die gegenseitige Kontrolle 60 wichtiger Verfassungsorgane, die geregelten Verfahren der Ämterbesetzung,– all dies weist voraus in die neuzeitliche politische Theorie, wobei man hier besonders an Montesquieus berühmte Lehre von der Gewaltenteilung denken kann. Auch finden sich im Nomoi-Entwurf – wie etwa die Gesetzeswächter- und Euthynenwahl zeigen – klar demokratische Züge. Demokratie und Partizipation eines jeden Staatsbürgers am Gemeinwesen sind allerdings durch Regelungen von aristokratischer Art eingeschränkt. Daneben gilt es auch zu berücksichtigen, dass längst nicht alle Bewohner des Nomoi-Staats Staatsbürger sind, sondern die Bevölkerung dieses Staates sich aus Bürgern, Metöken, Fremden und – wie im antiken Griechenland üblich – Sklaven zusammensetzt 61. Vgl. 947a–b. Die letzte Bestimmung zur Zeitrechnung scheint der in 785a gegebenen Bestimmung, nach der sich die Zeitrechnung nach einem Gesetzeswächter richten müsste, zu widersprechen. Vgl. Schöpsdau 2003, 495 f. u. Schöpsdau 2011, 541 z. St. 60 Vgl. Schöpsdau 1994, 120. 61 Diese Bevölkerungsstruktur wird im Zusammenhang der ökonomischen Gesetzgebung, die Magnesia eindeutig als Agrarstaat konturiert, deutlich, vgl. 842b–850c. Vgl. auch Knoll 2013. 59

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Im Hinblick auf die Errungenschaften der Nomoi für die politische Theorie ist es verständlich, wenn man ihren Hauptbeitrag für die Philosophie in der politischen Philosophie sieht. Dementsprechend werden die Nomoi vornehmlich als abschließender Teil der durch die Dialoge Politeia – Politikos – Nomoi aufgespannten politischen Philosophie Platons unter Aufgabe oder Zurückstellung ihres möglicherweise darüber hinaus gehenden gesamtphilosophischen Anspruchs betrachtet. Auch wir wollen die Nomoi jetzt in dieser vielerörterten politischen Perspektive betrachten 62. Um die Entwicklung von der Politeia über den Politikos hin zu den Nomoi zu erklären, ist es zweckmäßig, diese Entwicklung als zwischen den beiden Polen der Einsicht des Philosophen und der Herrschaft der Gesetze verlaufend anzusehen. Je nach Betrachtungsweise ergibt sich für diese Entwicklung eine unitarische Sicht, die die Einheit der politischen Philosophie Platons betont und nur jeweils verschiedene Aspekte und Zugänge besonders herausgestellt sieht, oder eine nicht-unitarische Sicht, die – trotz des insgesamt platonischen Grundcharakters – annimmt, dass eine wirkliche Veränderung im Gange ist 63. Will man die Gemeinsamkeit der drei politischen Dialoge Platons auf eine Formel bringen, so scheint es mir zutreffend zu sein, von einem rationalen Politik-Ansatz zu sprechen, der durch sie verwirklicht werden soll. Dies bedeutet allerdings noch keine Entscheidung für die unitarische Option, da sich das Verständnis von Rationalität ändern kann und es

Vgl. dazu Morrow 1960, 582–590; Stalley 1983, 13–22; Schöpsdau 1994, 126–131; Laks 2000, 267–275; Bobonich 2008, 329–334; Ricken 2008, 239–248; Horn 2013a. 63 Obwohl die nicht-unitarische Sicht mehr dem common sense entspricht, scheint mir unter den Nomoi-Experten nur eine Minderheit dezidiert diese Sicht einzunehmen; vgl. Bobonich 2008, 329: »Something new is going on here […]«. Viele andere wie Morrow, Stalley, Schöpsdau und Laks vertreten in unterschiedlichsten Spielarten eine letztlich unitarische Sicht. Für die Entscheidung ausschlaggebend ist die Frage, ob die in 739a– 740a erwähnte erste Verfassung für die Politeia-Verfassung gehalten wird oder nicht. Bobonich 2008, 329 bestreitet, dass an dieser Stelle die Politeia-Verfassung gemeint ist unter Hinweis darauf, dass sich die dort geforderte Kinder- und Frauengemeinschaft auf die ganze Polis erstrecken soll. Vgl. dagegen Schöpsdau 2003, 312 f. Ich vertrete mit Bobonich eine nicht-unitarische Sicht, halte die Veränderungen bei Platon aber für so tiefgreifend, dass sie nicht nur auf die politische Philosophie beschränkt sind. Sie betreffen den Philosophie-Begriff insgesamt, so dass die herkömmliche Grenzziehung zwischen Philosoph und Nicht-Philosoph, an der Bobonich festhält, wenn er meint, dass es in den Nomoi nur um eine neue Wertschätzung der »ethical capacities of non-philosophers« (Bobonich 2002, 12) geht, so nicht mehr gilt. 62

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sich, wie ich glaube, bei Platon auch im Laufe dieser Entwicklung geändert hat. Trotz der Tatsache, dass der Politikos ein so nirgends mehr zu findendes philosophisches Sondergut bereithält 64, ist es doch zulässig, ihn auch als die mittlere Station auf dem Wege Platons von der Politeia zu den Nomoi zu interpretieren. Denn in ihm findet sich eine Rechtfertigung der faktischen Realität der Gesetzesherrschaft vor dem Hintergrund der Theorie des Wissens des königlichen Mannes 65. Das Beste ist die Macht des königlichen Mannes mit Einsicht (Pol. 294a). Das allgemeine Gesetz dagegen wird dem individuellen Einzelfall niemals voll gerecht (294a–c). Dennoch sind allgemeine Anweisungen nötig, weil für den Gesetzgeber ebenso wenig wie für den Lauftrainer eine durchgehende Individualbetreuung seines Schützlings möglich ist (294d– 295b). Auch für den Fall der Abwesenheit der sachkundigen Person, etwa eines Arztes, sind allgemeine Anweisungen sinnvoll und nötig. Aber es wäre lächerlich, wenn sich der Arzt bei seiner Rückkehr an diese Anordnungen halten müsste und nicht im Blick auf die neue Lage seine Anordnungen träfe (295b–295e). Maßgebend ist hier das Richtige in der jeweiligen Situation, das nur durch eine personale Instanz erfasst werden kann. Es ist die »substitutive« 66 Funktion des Gesetzes, die hier betont wird, die jedoch in den Nomoi keine entscheidende Rolle mehr spielt. Stattdessen steht dort der nicht mehr defizitäre, »rationale« Status des Gesetzes als Verkörperung der Vernunft im Vordergrund. Die Herrschaft des einsichtigen Mannes ist gemäß dem Politikos das Beste, aber dieser Mann kommt in der Realität nicht vor und wenn er vorkäme, würde er nicht anerkannt werden, da man ihm seine Ausnahmestellung nicht äußerlich ansehen kann (301d–e); daher wird im Politikos eine »zweite Fahrt« (300c), ein Gesetzesstaat, in dem die Gesetze strikt zu befolgen sind, gewählt. Das geht einher mit einer positiven Sicht auf die Gesetze als auf langer Erfahrung beruhend und durch verständige Beratschlagung zustande gekommen (300b). Diese common sense-Würdigung der Gesetze im Politikos hat dann bei Aristoteles eine weitere Aufnahme gefunden 67. Worauf Ricken 2008, 241 f. u. 244 zu Recht aufmerksam macht. Vgl. Pol. 291c–295e, 297b–301e. 66 So Laks 1996, 44 f. Nach Laks ist es der »epitaktische« Aspekt des Gesetzes, der dann in den Nomoi im Vordergrund steht und durch das Proömienprogramm eine Kritik erfährt. 67 Vgl. Aristoteles Pol. 1281a 42-b 7; Ricken 2008, 246–248. 64 65

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Aristoteles ist es auch, der durch seine ausführliche Kritik der politischen Konzeptionen der Politeia und der Nomoi im II. Buch seiner Politik die Basis für das Nomoi-Problem geschaffen hat. Denn an seinen unmissverständlichen Aussagen, die die Echtheit der Nomoi als ein von Platon geschriebenes Werk klar bezeugen, kommt kein NomoiForscher vorbei 68. Zugleich hat die Nomoi-Kritik des Aristoteles – wie wir sehen werden – aber auch zu einer Verengung der Sichtweise auf die Nomoi als rein politisches Werk beigetragen. Wir wenden uns also nun der in Politik B 6 vorgetragenen Kritik des Aristoteles an der Nomoi-Konzeption zu, der eine noch ausführlichere Kritik an der PoliteiaVerfassung in B 2–5 vorausgeht. Der Gegenstand ist auch deswegen interessant, weil es nur sehr wenige philosophische Klassiker gibt, bei denen wir davon ausgehen können, dass sie die Nomoi ernsthaft rezipiert haben 69. Aristoteles beginnt in B 6 seine Kritik an den Nomoi folgendermaßen: »Beinahe ähnlich verhält es sich mit den Gesetzen, die später geschrieben wurden. Also wird es auch besser sein, ein wenig die dort dargelegte Staatsverfassung zu betrachten« (1264b26–28) 70. Wir erhalten hier die wichtige Information, dass die Nomoi nach der – zuvor behandelten – Politeia geschrieben wurden. Zugleich macht Aristoteles schon seine unitarische Sichtweise auf die politische Philosophie Platons deutlich, die er dann wenig später noch deutlicher ausspricht: »Die Gesetze bestehen größtenteils nur aus Gesetzen, und wenig ist über die Staatsverfassung gesagt. Und wiewohl er diese den bestehenden Staaten allgemein verbindlicher machen will, führt er sie doch allmählich wieder zurück zur ursprünglichen Verfassung« (1265a1–4). Aristoteles Vgl. Aristoteles Pol. 1266b 5, 1271b 1. Neben Aristoteles gilt dies sicher auch noch für Nietzsche. Ein Desiderat ist eine Untersuchung, inwiefern Hegel die Nomoi rezipiert hat. Seine »Rechtsphilosophie« und der Gedankenkomplex »Objektiver Geist« könnten von den Nomoi beeinflusst sein. Auch eine Untersuchung seiner »Vorlesungen über die Philosophie der Religion« wäre in diesem Zusammenhang sinnvoll. Wir hätten dann die Situation einer inoffiziellen Beeinflussung Hegels durch die Nomoi trotz offizieller Geringschätzung. Diese zeigt sich – neben der Nichtbehandlung in den »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie« – vor allem an der Ablehnung der Nomoi durch den Hegel-Schüler Eduard Zeller unter Berufung auf die Prinzipien der hegelschen Philosophie, besonders des Fortschreitens im »reinen Begriff«. Bei Aristoteles gibt es neben der offiziellen Behandlung der Nomoi in der »Politik« eine inoffizielle Beeinflussung durch sie in der Ethik und Rhetorik, vgl. hierzu besonders Dirlmeier 1956. 70 Übersetzung von Franz F. Schwarz (Aristoteles, Politik, Stuttgart 1989). 68 69

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erkennt hier den »realistischeren« Charakter der Nomoi-Verfassung an und doch geht er – wahrscheinlich im Blick auf 739a–e – davon aus, dass ihr Bezugspunkt die alte Politeia-Verfassung ist. Dem korrespondiert, dass Aristoteles in B 2–5 auch eine realistische Betrachtungsweise für die Politeia-Verfassung anwendet 71. Die Vorschläge der Frauen-, Kinder- und Besitzgemeinschaft werden von Aristoteles völlig ernst genommen und im Detail auf ihre Schwierigkeiten und Widersprüchlichkeiten bei realer Umsetzung hin untersucht. Den durch die Abschaffung des »Super-Kommunismus« der Frauen-, Kinder- und Besitzgemeinschaft in den Nomoi sich ergebenden Unterschied gesteht Aristoteles zu, sonst ergibt sich seiner Ansicht nach außer bis auf Details dasselbe: »Denn abgesehen von der Gemeinschaft der Frauen und des Besitzes teilt er sonst beiden Staatsverfassungen dasselbe zu; dieselbe Erziehung nämlich und die Tatsache, dass sie fern von allen notwendigen Arbeiten leben; und ebenso steht es mit den Tischgenossenschaften. Er sagt nur, dass hier Tischgenossenschaften auch mit Frauen stattfinden müssten und dass sie dort tausend Waffen besitzen, hier aber eben fünftausend« (1265a4–10). Es ist eine umfangreiche und realistische Detailkritik, die sich daran anschließt und die sich auf die verschiedensten Inhalte der NomoiVerfassung erstreckt wie die Bestimmungen zur Tätigkeit der 5040 Landlos-Besitzer 72, zur Außenpolitik, zum Besitz und zur Geburtenpolitik. Am grundsätzlichsten sind hier noch die Erwägungen zur richtigen Benennung der Nomoi-Verfassung, in der Aristoteles eine Mischung aus Oligarchie und Demokratie sieht, die sich mehr zur Oligarchie neigt, u. a. weil die Mitglieder der oberen Klassen des 4 Vermögens-Klassen-Systems der Nomoi 73 in den politischen Gremien wie dem Rat tendenziell durch die festgelegten Wahlverfahren überrepräsentiert sind 74. Insgesamt bleibt die Kritik des Aristoteles im Umkreis Im Gegensatz zu der von Interpreten häufig vertretenen Ansicht, dass es sich hier um einen idealen Entwurf, einen »reinen Fall« handelt, der so gar nicht realisiert werden solle, sondern an dem man sich lediglich zu orientieren habe. Ein Problem bei dieser Betrachtungsweise ist, wie die Orientierung etwa an der Frauengemeinschaft, die nach Aristoteles die Tugend der Besonnenheit aufhebt (1263b 7–9), zu einem Staatsentwurf führen soll, der die Tugend der Besonnenheit so betont wie der Nomoi-Entwurf. 72 Vgl. 737e. 73 Vgl. 744a–745b. 74 Vgl. Aristoteles Pol. 1266a 5-b 25. Zur Nomoi-Kritik des Aristoteles vgl. Morrow 1960a, Saunders 1995, 126–135, Schütrumpf 1991, 216–237. 71

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der Verfassungsbestimmungen der Nomoi und sieht hier keinen echten Fortschritt gegenüber der Politeia-Konzeption. Schon gar nicht scheint Aristoteles in der Politik den Nomoi eine über die politische Philosophie hinausgehende philosophische Innovation zuzutrauen. Insbesondere ist es – wie zitiert – »dieselbe Erziehung« (1265a7), die er in Politeia und Nomoi am Werk sieht. Ich werde auf diesen m. E. entscheidenden Punkt, in dem ich das Urteil des Aristoteles für falsch halte, noch zurückkommen. Die zitierte Bemerkung des Aristoteles, dass die Nomoi »größtenteils nur aus Gesetzen« bestehen 75, kann uns noch einmal zurückführen zu der Frage aus Kapitel 1: Was hat die Formulierung von Gesetzen mit Philosophie zu tun? Während wir in Kapitel 1 den Fokus auf die den eigentlichen Gesetzestext vorbereitenden und dem Anspruch nach begründenden Überlegungen gelegt haben, in denen das im Zusammenhang der Formulierung von Gesetzen auftretende Philosophische zu finden sei, ist es auch möglich, in der Formulierung von Gesetzen selbst Philosophie zu sehen. Dann verwirklichen die Nomoi qua Gesetzgebung und nicht nur qua Vorüberlegungen bzw. Hintergrundüberlegungen zur Gesetzgebung Philosophie. Der Athener tritt in den Nomoi nicht nur als Besinnungsphilosoph auf, sondern auch als gesetzgeberischer Philosoph. Er ist – wie Paul Friedländer im Einklang mit unseren bisherigen Beobachtungen treffend bemerkt hat 76 – als Figur zwischen Sokrates und Solon einzuordnen. So tritt uns in den Nomoi auch Philosophie als Gesetzgebung entgegen 77. Diese gesetzgeberische Definitiv-Philosophie hat zur Legitimationsgrundlage das Wissen des Gesetzgebers, was richtig und was nicht richtig ist. Es ist der Anspruch einer im Wesentlichen richtig erkannten Wahrheit, den der Athener und im Hintergrund Platon mit jeder definitiven gesetzlichen Bestimmung erhebt, die er vom Heiratsgesetz angefangen formuliert 78. Dem Zur Problematik dieser Formulierung vgl. Morrow 1960a, 147 f. Schütrumpf 2013, 189 hält sie unter Hinweis auf die Berechnung von England 1921, 1 für unzutreffend. Vgl. Kapitel 1, Anm. 18. 76 Vgl. Friedländer 1930, 625. 77 Vgl. Jaeger 1947, 293 f. 78 Vgl. Bobonich 1996, 260. Nightingale 1993 arbeitet diesen autoritären und definitiven Zug der Nomoi in ihrer Interpretation besonders heraus, vgl. 284 f., 287, 290 f., 293, 295 f. Das geht einher mit der Auffassung der Nomoi als primär schriftliches Gebilde, vgl. 288 ff. 75

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korrespondiert, dass man das Wort »richtig« als ein heimliches Grundwort der Nomoi bezeichnen könnte 79. Nun wird in den Nomoi diese in den puren Gesetzesbestimmungen vorliegende Definitiv-Philosophie mit der sich in den Proömien zeigenden Besinnungsphilosophie eng verknüpft. Daher kann jeder Angriff auf die Philosophie in den Gesetzesbestimmungen auch als Angriff auf die diese Gesetzesbestimmungen vorbereitende Philosophie angesehen werden. Man kann die Proömien-Philosophie der Nomoi angreifen, indem man sie für sich betrachtet und für falsch oder fragwürdig zu erweisen sucht. Der wirksamste Angriff auf sie scheint aber der zu sein, der die Illegitimität der Gesetze, auf die diese Proömien-Philosophie vorbereiten soll, erweist. In der Tat sind – wie wir jetzt noch sehen werden – die eigentlichen Gesetze der Nomoi vom Heiratsgesetz angefangen größtenteils inakzeptabel, weil sie grundlegend gegen die Menschenwürde verstoßen. Das ist auch der Grund, warum die nicht nur in den Verfassungsbestimmungen, sondern zuvor schon in den eigentlichen Gesetzen inkorporierte politische Philosophie der Nomoi insgesamt gesehen abzulehnen ist. Aber die aus heutiger Sicht vollkommen unumgängliche Ablehnung des Nomoi-Gesetzeswerkes bedingt nicht die Ablehnung der Proömien-Philosophie der Nomoi. Die Proömien-Philosophie erfüllt zwar nicht die ihr zugedachte Begründungsleistung für die zumeist inakzeptablen Gesetze, aber sie kann rein für sich betrachtet von philosophischem Wert sein. Durch diese Abkopplung der sich in den Proömien und im Dialog insgesamt meldenden Philosophie von der Legitimitätsfrage der Gesetze, auf die die Proömien und der Dialog insgesamt fälschlicherweise hinführen sollten, wird der Weg frei für die Wahrnehmung der Botschaft einer modifizierten Rationalität, die in den Nomoi m. E. enthalten ist 80. Die Proömien selbst – um das in den Nomoi so tiefgehend verwendete Bild, das sich hier allerdings nicht mehr gleicht, zu benutzen – wären dann die eigentliche Melodie und nicht mehr das geringere Vorspiel zu etwas Bedeutenderem 81. Vgl. die Konzeption vom »richtigen Gesetz« und die Institution der es wieder »richtenden« Euthynen. Neben orthos wird diese Bezogenheit auf das Richtige durch euthys ausgedrückt. 80 Die wichtige Debatte zur Rationalität der Proömien mit Bobonich und Stalley als Hauptkontrahenten leidet an dieser fehlenden Abkopplung der Rationalitätsfrage in den Nomoi von der Legitimitätsfrage der Gesetze, vgl. Stalley 1994. 81 Vgl. Laks 1990, 223 f. An einigen Stellen scheint sich aber die Sicht, dass es sich bei den Proömien um die eigentliche Hauptsache handelt, anzudeuten. Dort heißt es: wer 79

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Die große Innovation der Nomoi – die Vorschaltung von Proömien vor die eigentlichen Gesetze – war im IV. Buch am Beispiel des Ehegesetzes eingeführt und erläutert worden. Wir wollen uns nun dem Inhalt des einfachen Ehegesetzes in Buch IV zuwenden, das in der Substanz unverändert in Buch VI (772d–774c) seine endgültige Ausgestaltung erfährt und dort den Beginn der eigentlichen Gesetzgebung markiert. Es lautet in seiner schlichten Probe-Fassung: »Heiraten soll einer, wenn er dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt ist; wo nicht, soll er durch eine Geldbuße und Ehrenentzug bestraft werden, und zwar durch Bußen in der und der Höhe und durch den Entzug der und der Ehren« (721b) 82. Die dann zur Vorbereitung dieses Gesetzes vorgebrachten Überlegungen zur Sehnsucht des Menschen nach Unsterblichkeit und der Möglichkeit, diese gattungsmäßig durch Heirat und Kinderzeugung zu erreichen, sind für sich betrachtet interessant und philosophisch beachtenswert 83. Aber sie vermögen ganz gewiss nicht dieses Heiratszwangsgesetz, das nicht nur mit empfindlichen Geldstrafen verbunden ist, sondern auch mit einer sozialen Ächtung durch die Gesellschaft, zu begründen 84. Denn dieser staatliche Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen verstößt gegen die Würde des Menschen. Insofern die Einsicht in die Würde des Menschen aber ein rationaler Akt der Vernunft ist, ist dieses Gesetz nicht vernünftig, es ist nicht »richtig« in dem von Platon selbst definierten Sinne und daher auch keiner vernünftigen Begründung fähig, selbst wenn die beigebrachten Überlegungen für sich genommen philosophisch wertvoll sind. Der Gesetzgebung der Nomoi fehlt ein dem 1. Satz des 1. Artikels des deutschen Grundgesetzes analoger Satz und vor allem die analoge Einsicht; das muss man, auch wenn es leicht und arrogant zu sein scheint, dies Platon aus dem immensen historischen Abstand heraus vorzuhalten, auf die Vorrede hört, für den kann das Gesetz schweigen. Vgl. die bei Schöpsdau 2003, 222 angegebenen Stellen. 82 772d wird die Zeitspanne zwischen 25 und 35 als Heiratsalter gefordert. Diese Unstimmigkeit ist wohl durch die fehlende Endredaktion zu erklären, vgl. Schöpsdau 2003, 452. 83 Vgl. 721b–d. Auffällig ist die Ähnlichkeit zu einer Passage aus dem Symposion (207a–208e). Der Begründungscharakter wird durch das dianoêthenta (721b7) unterstrichen. Vgl. Schöpsdau 2003, 242 f. 84 Vgl. 774a–c. Die Ächtung besteht in der Verweigerung des Respekts durch einen Jüngeren. Stalley 1994, 171 f. legt die Fragwürdigkeit und Nicht-Schlüssigkeit des Arguments detaillierter dar. Ein Zusatzproblem stellt die Tatsache dar, dass Platon selbst unverheiratet war.

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zur Erklärung der Nomoi-Gesetzgebung nüchtern feststellen. Auf andere Weise hat dies bereits Hegel in seinen »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte« erklärt: »sie (sc. die Griechen) […] wussten nur, dass Einige frei sind, nicht der Mensch, als solcher. Dies wusste selbst Plato und Aristoteles nicht« 85. Es ist die Nomoi-Gesetzgebung, durch die wir die Gewissheit erhalten, dass auch Platon in der Sklavenfrage die Vorstellungen seines Zeitalters übernimmt, nachdem die Sklavenszene im Menon hier Raum für Spekulation gelassen hatte 86. Die Bestimmungen im VI. und IX. Buch der Nomoi machen ganz klare Wertunterschiede zwischen einem Freien und einem Sklaven und lassen an der Bejahung der Sklaverei als Institution durch Platon keinen Zweifel 87. Aber auch die »Freien« genießen keine wirkliche individuelle Freiheit. Im Zusammenhang der Testamentsbestimmungen im XI. Buch wird dies deutlich ausgesprochen: Der Einzelne und seine Habe gehört nicht sich selbst, sondern seiner Sippe und diese wiederum gehört samt ihrer Habe dem Staat (vgl. 923a–b). Die Unterordnung des Einzelnen unter den Staat und das Staatsinteresse und die damit verbundenen totalitären Züge beider Staatskonstruktionen Platons sind bekanntlich durch die Kritik Poppers anhaltend ins Bewusstsein gerufen worden 88. Die sowohl im Politeia- als auch im Nomoi-Staat durchgeführte Dichterzensur ist hier das Standardbeispiel 89. Popper verweist besonders auf eine Stelle am Anfang des XII. Buches 90, an der sich eine allgemeine Einleitung zur Gesetzgebung zu Militärvergehen findet: »Für das Kriegswesen sind mancherlei Ratschläge und mancherlei Gesetze angebracht; das Wichtigste aber ist dies, dass niemand, weder Mann noch Frau, jemals ohne Führer sein darf und dass niemandes Seele sich daran gewöhnt haben darf […] irgendetwas auf eigene Faust im Alleingang zu tun, sondern dass man jederzeit, im Krieg und im Frieden, fortwährend auf den Anführer hinblicken und ihm folgend leben soll […] man soll seine Seele durch Gewöhnung dazu bringen, dass sie überhaupt nicht daran denkt oder fähig ist, etwas ohne die anderen zu tun, sondern dass vielmehr G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Jubiläumsausgabe hrsg. v. H. Glockner, Bd. 11, Stuttgart 1949, S. 45. 86 Vgl. Men. 82b–85b. 87 Vgl. 776b–778a, bes. 777b u. 777e–778a; 869d. Vgl. auch Knoll 2013, 156 f. 88 Vgl. Popper 1957. 89 Vgl. Resp. 377b ff., 607b–608b und 816d–817d. 90 Vgl. Popper 1957, 29, 147 f., 350 f. 85

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alle ihr Leben möglichst immer zusammen und gleichzeitig und gemeinsam mit allen anderen zubringen […] die führerlose Unabhängigkeit (anarchian) muss dagegen ganz aus dem Leben aller Menschen und [aller] Tiere ausgerottet werden, die den Menschen untertan sind« (942a–d). Was an dieser Stelle besonders irritiert, ist die Übertragung der aus dem Krieg bekannten und in der Kriegssituation in vielen Fällen sinnvollen Verhaltensweise, nichts eigenmächtig und ohne Befehl eines Vorgesetzten zu tun, auf die Friedenssituation. Denn das scheint gerade im Widerspruch zu der im I. Buch geäußerten These vom Vorrang des Friedens vor dem Krieg in der Gesetzgebung zu stehen. So, wie die Stelle dasteht, scheint sie in der Tat einer totalitären Ausrichtung des Nomoi-Staates Vorschub zu leisten, weil sie eine kriegerische Verhaltensweise auf Friedenszeiten überträgt und so keinen Freiraum für die persönliche Entscheidung des Individuums zu lassen scheint. Eine solche eigenständige Verhaltensweise wird hier als »Anarchie« bezeichnet, die es auszurotten gilt 91. Die Gesetzgebung der Nomoi tangiert auch das persönliche Recht auf freie Meinungsäußerung. Das zeigt sich besonders drastisch an der Asebie-Gesetzgebung des X. Buches. Nirgends in den Nomoi ist die Diskrepanz zwischen philosophischer Bedeutsamkeit der vorbereitenden Überlegungen und Illegitimität der auf diesen vermeintlich aufbauenden gesetzlichen Bestimmungen größer. Der erklärte Atheist wird – wenn er einen ehrlichen Charakter besitzt – mit 5 Jahren Gefängnis bestraft 92. In dieser Zeit wird er von einem Mitglied der Nächtlichen Versammlung seelsorgerlich betreut, das ihn von seinem Atheismus abbringen soll. Äußert er nach dieser Zeit erneut seinen Atheismus, wird er mit dem Tode bestraft. Die mangelnde Einsicht in Würde und Wert des Lebens des einzelnen Menschen manifestiert sich in der Nomoi-Gesetzgebung auch in der Praxis der Verhängung von Todesstrafen. Auch wenn man die grundsätzliche Frage der Legitimität der Todesstrafe, die Platon unter Hinweis auf »unheilbare« Naturen bejaht 93, ausklammert, so weist doch die Häufigkeit der Verhängung dieser Strafe auch außerhalb des Dagegen Schöpsdau 2011, 528 f. unter Verweis auf 922a. Aber der Widerspruch an dieser Stelle bleibt bestehen. 92 Vgl. 908e–909d. Die bösen Charaktere werden lebenslänglich eingekerkert. 93 Vgl. 854e–855a. 91

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Bereichs der klassischen Kapitalverbrechen auf die ungenügende Achtung des Wertes des einzelnen menschlichen Lebens hin 94. Von hier aus offenbart die Nomoi-Gesetzgebung eine geradezu drakonische Härte, die in einem merkwürdigen Kontrast zur »Milde« des Proömienprogramms steht, die an dieser Gesetzgebung vorrangig wahrgenommen wird. Diese »Milde« erstreckt sich auf den Bereich vor Begehung einer Tat, aber nicht mehr oder nur noch sehr bedingt darüber hinaus. Angesichts der sich in der Nomoi-Gesetzgebung manifestierenden Missachtung der Würde des Menschen und der Freiheit des Individuums ist auch klar, dass mit dem im III. Buch angegebenen Gesetzgebungsziel der Freiheit 95 (eleutheria 693d) etwas anderes gemeint sein muss als die persönliche Freiheit des Individuums. Mit der dort genannten Freiheit ist eher die Möglichkeit gemeint, sich als Bürger Magnesias Willkürakten der Amtsträger gerichtlich erwehren zu können 96. Eine solche Möglichkeit des gerichtlichen Widerspruchs nützt allerdings nichts, wenn die Unfreiheit des Bürgers – wie z. B. im Ehegesetz – in den Gesetzen selbst inkorporiert ist. Die Betrachtung der in diesem und dem vorherigen Kapitel exponierten politisch-verfassungstheoretischen Dimension der Nomoi führt zu einer ambivalenten Bewertung. Mit der Friedens- und Vernunftorientierung des Gesetzgebers, der Gesetzesherrschaft, der in der »gemischten« Verfassung bestehenden Gewaltenteilung, den ansatzweise demokratischen Verfahren und der geregelten Ämtereinsetzung sind in die Zukunft weisende Prinzipien der politischen Theorie exponiert. Die in der eigentlichen Gesetzgebung ziemlich durchgehend inkorporierte Missachtung der Menschenwürde und persönlichen Freiheit des Einzelnen dagegen lässt keinerlei positive Bewertung zu und hat zur Folge, dass man die Nomoi als politisches Werk als Gesamtpaket ablehnen muss. Schnürt man dieses Gesamtpaket auf, dann ergibt sich aber die Chance, philosophisch bedeutsame und innovative Teile zu finden, wie dies etwa die zukunftsweisenden Bestimmungen zur Gewaltenteilung zeigen. Dies gilt umso mehr, als die Nomoi nicht nur ein politisches Werk sind. Sicherlich ist es eines ihrer Zwecke, ein Gesetzeswerk oder besser ein Modell für ein Gesetzeswerk an die Hand zu geben. Wie 94 95 96

Vgl. 937c, 938c, 942a, 955b. Vgl. auch 701d. Vgl. Schöpsdau 1994, 122.

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plausibel vermutet wird, hat Platon mit den Nomoi seiner Akademie eine Art Modellhandbuch für künftige Gesetzgebung und Politikberatung liefern wollen und als solches scheinen die Nomoi dann auch eine gewisse, freilich beschränkte historische Wirksamkeit gehabt zu haben 97. Die Intention der Nomoi geht aber nicht darin auf, ein politisches Gesetzeswerk zu sein. Unter Verweis auf die von Görgemanns so betonte Stelle 811c–812a kann man die Nomoi auch als ein Schulbuch oder ein Modell für ein Schulbuch betrachten. Ein auf der Grundlage der Nomoi erstelltes »Lesebuch« könnte sicherlich eine ganze Reihe von literarisch und philosophisch bedeutsamen Texten vereinigen, deren Wert sich ganz unabhängig vom zu verwerfenden eigentlichen Gesetzeskodex untersuchen ließe. In der Praxis geht eine philosophisch orientierte Nomoi-Forschung nach diesem »Lesebuch«-Prinzip der Auswahl relevanter Textpassagen vor. Die Betrachtung der Nomoi als Gesetzeskodex oder als Lesebuch, die der hier tatsächlich vor sich gehenden Aufwertung der Rolle der Schriftlichkeit bei Platon korrespondiert 98, darf allerdings nicht zur Verdeckung der Basis-Konzeption der Nomoi führen, die die des Dialoges ist. Die nicht wegzudiskutierenden schriftlichen Einschübe in den Nomoi sind schriftliche Einschübe auf der Grundlage eines Dialoges. Es handelt sich der Intention nach nicht um eine dialogische Verbrämung eines umfangreichen Schriftwerks. Der Dialog, nicht das Schriftwerk ist die Basis der Nomoi-Konzeption. Damit in Zusammenhang steht eine Statusbeschreibung der Nomoi, die aus dem Dialog selbst hervorgeht und an mehreren Stellen auftaucht, mit deren Verkettung und Sinn wir uns noch beschäftigen werden. So sagt der Athener direkt zum Beginn der eigentlichen Gesetzgebung: »So hätten wir denn das vernünftige Spiel der Greise bis hierhin schön durchgespielt« (769a). Der Status der Nomoi wird hier bestimmt als »vernünftiges Spiel der Greise«, wobei das griechische Wort für »vernünftig« (emphrôn) hier und noch deutlicher an der ersten Stelle, an der diese Bestimmung auftaucht (685a), vernünftig im Sinne von besonnen (sôphrôn) meint, ganz in Übereinstimmung mit der engen Verbindung von Vernunft

Vgl. Schöpsdau 1994, 131–133, 145 Anm. 119; Morrow 1960, 5, 592 f. Vgl. 890e–891a. Die Permanenz der Schrift wird hier als Vorteil angesehen. Das schriftlich Niedergelegte lässt sich wiederholt durchgehen und braucht nicht bereits beim ersten Mal komplett verstanden zu werden. Vgl. Bobonich 1996, 270. Diese positive Betrachtungsweise der Schrift setzt die Richtigkeit des schriftlich Fixierten voraus.

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und Besonnenheit, die wir bei der Interpretation des Anfangs des I. Buches herausgestellt hatten. Wir werden auf diese Statusbestimmung der Nomoi als »vernünftiges Greisenspiel« 99 weiter unten noch zurückkommen. In den nun folgenden Kapiteln der Untersuchung ändern wir unsere Perspektive auf die Nomoi mit dem Ziel, ihre philosophische Dimension, die unbeschadet der Zurückweisung der in ihnen präsentierten eigentlichen Gesetzgebung vorhanden ist, voll in den Blick zu bekommen. Der die Hintergründe der Gesetzgebung erläuternde Gesetzgeber betreibt – wie wir gesehen hatten (vgl. 857e) – Erziehung (Paideia). Nach der Würdigung und Abscheidung der politisch-verfassungstheoretischen Perspektive gehen wir daher nun vorbereitend an die Aufgabe, das im II. und VII. Buch der Nomoi entwickelte Erziehungsprogramm zu untersuchen. Dies soll unter der leitenden Hypothese geschehen, dass sich in ihm bereits ein veränderter Begriff von Rationalität dokumentiert.

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Vgl. auch 712b.

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Kapitel 4: Die veränderte Paideia

Bereits im I. Buch der Nomoi führt die Gesprächsentwicklung dazu, dass die Erziehung (paideia) erwähnt und in der weiteren Folge auch genauer bestimmt wird. Auf die skeptische Frage des Kleinias nach dem Nutzen der richtig geleiteten Symposien für den Einzelnen oder für den Staat gibt der Athener zur Antwort: »Was denn? Wenn ein einziges Kind oder auch ein einziger Chor richtig geleitet würde, was könnten wir da Großes anführen, das dabei für den Staat heraus käme? […] Wenn man aber ganz allgemein nach der Erziehung (paideian) der Erzogenen fragt, welchen großen Gewinn sie dem Staat bringt, so ist es nicht schwer zu antworten, dass diejenigen, die richtig erzogen worden sind, vermutlich tüchtige Männer werden und als solche sowohl sonst sich gut bewähren als auch namentlich im Kampf die Feinde besiegen werden. So führt also die Erziehung auch zum Sieg, der Sieg aber bisweilen zu ungebildeter Rohheit (apaideusian); denn schon viele sind durch Siege im Krieg übermütiger geworden und infolge dieses Übermuts (hybrin) mit tausend andern Übeln erfüllt worden; und eine kadmeische Erziehung hat es noch nie gegeben; solche kadmeischen Siege aber hat es unter den Menschen schon vielfach gegeben und wird es geben« (641b–c) 1. Mit diesen Ausführungen führt der Athener seinen von Anfang an verfolgten »Friedensansatz« weiter. Der Fokus liegt auf der Erziehung, nicht auf dem Sieg im Krieg. Eine derartige Schwerpunktsetzung führt nach Meinung des Atheners nicht zur Wehrlosigkeit, sondern ganz im Gegenteil zur optimalen Wehrtüchtigkeit: »So führt also die Erziehung auch zum Sieg« (641c). Die Gefahren einer Fixierung auf den Sieg im Krieg zeigen sich dagegen gerade bei Erreichen dieses Ziels Der Ausdruck »kadmeischer Sieg« bedeutet so viel wie »Pyrrhussieg«, vgl. Schöpsdau 1994, 217 z. St. Je nach Kontext spreche ich im Folgenden von Erziehung, Bildung oder Paideia zur Übersetzung des griechischen Worts paideia.

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besonders deutlich. Wenn dann ein übergeordneter Orientierungspunkt fehlt, macht sich im Rausch des Sieges ein Übermut, eine Hybris, breit, die in die Verrohung (apaideusia) – in das Gegenteil von Erziehung – führt. Für die Erziehung gilt ganz allgemein, dass ihr Orientierungspunkt die Tugend ist, wie der Athener 643e klarlegt, wo er das, was er eigentlich unter Paideia versteht, als »die Erziehung zur Tugend vom Knabenalter an« bestimmt, im Gegensatz zur Erziehung zur Meisterschaft in speziellen Fertigkeiten 2. Wir können daher von den Erörterungen zur Paideia in den Nomoi weitere Bestimmungsfaktoren im Hinblick auf das Problem der relativen Unbestimmtheit der Orientierung an der Gesamttugend erwarten. Diese zeigen sich in den konkreten Erziehungsmaßnahmen und –einrichtungen, die der Athener in Vorschlag bringt. Das richtig geleitete Symposion ist eine erste solche Maßnahme, die der Athener ins Spiel bringt und von der er sich – wie er auf die verwunderte Nachfrage von Kleinias zugibt (641c–d) – einen bedeutenden Beitrag zur Erziehung verspricht. Auf die richtig geleiteten Symposien war man im Gespräch im Zusammenhang der in Kreta und Sparta offenbar fehlenden gesetzlichen Institutionen zum Umgang mit der Lust gekommen. Die Frage des richtigen Umgangs mit der Lust war gemäß dem Vorgehen, auf das man sich nach Vorstellung des Musterentwurfs für die Gesetzgebung durch den Athener geeinigt hatte, zunächst im Rahmen der Erörterung der gesetzlichen Institutionen zur Tapferkeit aufgetaucht 3. Dies war durch eine weite Bestimmung der Tapferkeit durch den Athener, der Megillos zugestimmt hatte, ermöglicht worden. Ihr gemäß besteht die Tapferkeit nicht bloß im »Ankämpfen« gegen »Furchtgefühle und Schmerzen«, sondern auch gegen »Sehnsüchte und Lustgefühle und gegen manche gefährlichen schmeichelnden Verlockungen, welche den Sinn selbst derer, die sich darüber erhaben dünken, zu Wachs machen« (633d). Der Athener sieht hier eine zweite Seite der Tapferkeit, die es mit einem Affektbereich – Sehnsüchte, Lüste, Verlockungen – zu tun hat, der traditionell nicht der Tapferkeit, sondern der Besonnenheit zugeordnet wird 4. Die Möglichkeit der Überlappung des weit gefassten Tapferkeitsbegriffs mit dem Begriff der Besonnenheit kann durchaus 2 3 4

Vgl. 643b–644a. Vgl. 632d–633a. Die Einrichtungen zur Tapferkeit werden 633a–635e behandelt. Vgl. 647c–d.

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eingeräumt werden, zumal man auch im Deutschen von »Standhaftigkeit« sprechen kann, die sich eben nicht nur in Furcht und Schmerzen, sondern auch gegenüber Lust und Verlockungen bewährt 5. Im Blick auf seinen Gesprächspartner Megillos ist es verständlich, dass der Athener versucht, von der Tapferkeit her zu dem Thema zu kommen, das er für enorm wichtig hält und das dann dauerhaft besser vorzugsweise mit der Tugend der Besonnenheit in Verbindung gebracht werden sollte: Dem richtigen Umgang mit der Lust. Die Wichtigkeit dieses Themas lässt sich auch schon anhand des weit gefassten Tapferkeitsbegriffes verdeutlichen. Denn die zweite Seite der zweiseitigen, nicht »hinkenden« (634a) Tapferkeit wiegt sittlich schwerer. Auf die entsprechende Frage des Atheners erklärt es Kleinias nach allgemeiner Ansicht für schmählicher, der Lust zu unterliegen als dem Schmerz (633e). Der Athener fragt daher nach gesetzlichen Einrichtungen in Kreta und Sparta, die analog zu den vorher bereits genannten in Bezug auf den Schmerz 6 mitten in die Lust hineinführen und dazu zwingen, sie zu meistern (634a–b). Die gesetzliche Regulierung des Umgangs mit der Lust durch entsprechende Institutionen scheint auch deshalb besonders dringlich, weil die Lustaffekte – wie der Athener sagt – als die »am nächsten stehenden und gefährlichsten« (634b) Feinde angesehen werden können. Mit ihnen identifiziert man sich sehr leicht. Die Identifikation mit der Lust könnte aber auf einem Irrtum beruhen. Denn gemäß dem schon im Musterentwurf der Gesetzgebung vertretenen Standpunkt der normierten Emotionalität 7 geht es darum, Lust zu empfinden, wie man soll, und nicht, wie es beliebt. Die Frage des Atheners nach den Umgang mit der Lust regulierenden gesetzlichen Einrichtungen in Sparta und Kreta scheint eine Vgl. Schöpsdau 1994, 194 zum Problem der Vorwegnahme der Sophrosyne-Erörterung durch die Tapferkeits-Erörterung. Sachlich könnte es sich hier nach Görgemanns 1960, 118 um einen Hinweis auf den philosophisch notwendigen Zusammenhang von Tapferkeit und Besonnenheit handeln. Vgl. auch 647b, wo der umgekehrte Zusammenhang (Besonnene Scham, die zu tapferem Verhalten führt) vom Athener behauptet wird. Durch diese Stellen ergibt sich daher der Hinweis auf eine nicht rein intellektuelle Selbstbeherrschungs-Tugend, die Tapferkeit und Besonnenheit umgreift. 6 Vgl. 633b–c, wo Megillos entsprechende spartanische Abhärtungs-Institutionen aufzählt. Die Erwähnung und Beschreibung der Gymnopaidien mag daran erinnern, dass auch das unter großer Hitze stattfindende Nomoi-Gespräch diese »Abhärtungs«-Seite hat. 7 Vgl. 631e–632a. 5

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Lücke in der dorischen Gesetzgebung aufzudecken. Beide Dorer wissen darauf nichts Rechtes zu antworten (634b–c). Behutsam und sehr vorsichtig bereitet der Athener nun die Möglichkeit einer Kritik an der dorischen Gesetzgebung vor. Darin, dass eine solche mögliche sachliche Kritik im Blick auf »das Wahre und zugleich Beste« unter alten Männern gelassen aufgenommen werden soll, pflichtet Kleinias ihm bei (634c–d) 8. Entscheidend ist aber, dass die kretische Gesetzgebung selbst einen Freiraum für die Kritik an ihr vorsieht, so dass das Hinterfragen ihrer Gesetze unter bestimmten Bedingungen nichts Ungesetzliches, sondern etwas gesetzlich Konformes ist. Die Gesprächssituation der Nomoi erfüllt diese Bedingungen sicher. Denn das Gesetz sieht vor, dass kritische Überlegungen an ihm nur von Greisen angestellt werden dürfen, ohne dass ein junger Mensch dabei zuhören darf 9. Der einsame Pilgerweg der drei Greise hinauf ins Gebirge stellt dies in einer Weise sicher, wie es kein in einer Stadt angesiedeltes Gespräch hätte tun können. Das Nomoi-Geschehen steht daher auf dem Boden der vor Ort geltenden Gesetze 10. Ohne diese Bedingung wäre die Entfaltung des Gesprächs, wie sie tatsächlich vorliegt, so nicht glaubwürdig denkbar. Obwohl die Gesetzeslage eindeutig ist, hält sich der Athener trotz der Aufforderung des Kleinias zunächst einmal darin zurück, die kretischen Gesetze direkt zu attackieren 11. Es ist zunächst kein Tadel, sondern eine kritische Anfrage, die der Athener an die kretische Gesetzgebung richtet und die das Gespräch in eine kleine Aporie bringt, die durch den offiziellen Übergang zur Besprechung von Einrichtungen zur Besonnenheit, auf die der Abschnitt 633c–635e bereits vorbereitet hatte, überwunden wird 12. Diese Anfrage fußt auf einer AnalogieÜberlegung: Genauso wie es der kretische Gesetzgeber für nötig erachtet hat, seine Bürger von Kindheit an Schmerzsituationen auszusetzen, um sie darin zu üben, Schmerzen auszuhalten, damit sie für den Ernstfall gerüstet und ihren Feinden überlegen sind, sollte er es doch auch Kleinias’ Reaktion wird noch verständlicher, wenn man seine zu diesem Gesprächszeitpunkt den anderen noch verborgene Berufung in eine Verfassungskommission berücksichtigt, vgl. 702b–d, bes. 702c: »[…] falls sie (sc. die fremdartigen Gesetze) uns besser zu sein scheinen«. 9 Vgl. 634e. 10 Vgl. 635a. 11 Vgl. aber 667a. Die Kritik an der die Homosexualität fördernden Gymnastik 636b–d kann man mit Schöpsdau 1994, 201 f. als »entschärft« ansehen. 12 Vgl. 635b–e. 8

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für nötig erachten, sie Lustsituationen auszusetzen. Denn die Ungeübtheit und Unerfahrenheit in diesen Situationen könnte dazu führen, dass sie sich im Ernstfall »wegen des süßen Dranges zur Lust« (635c–d) ihren Feinden als unterlegen erweisen. Dieses im Gespräch sich abzeichnende neue Wichtignehmen der Affektbeherrschung und insbesondere der Lustaffektbeherrschung wird dann nach dem Übergang zur Besprechung von Einrichtungen zur Tugend der Besonnenheit vom Athener durch eine grundsätzliche Bemerkung zur Gesetzgebung begründet: »Wenn Menschen aber über Gesetze eine Untersuchung anstellen, dann gilt fast die ganze Untersuchung den Lust- und Schmerzgefühlen in den Staaten wie in den Gemütern der einzelnen. Denn diese beiden Quellen lässt die Natur frei dahinströmen, und wer aus ihnen schöpft, wo und wann und soviel sich gehört, der ist glücklich, und zwar ein Staat ebenso wie ein einzelner Mensch und überhaupt jedes Lebewesen« (636d–e). Die Aufgabe der Normierung und Regulierung der Affekte und insbesondere der Lustgefühle rückt durch diese Äußerung des Atheners in eine zentrale Stellung vor. Sie fällt in den Bereich der Selbstbeherrschung, die vorzugsweise mit der Tugend der Besonnenheit in Verbindung gebracht wird. Die auffällige Tatsache, dass der vorgenommene Gesprächsplan eines Durchgangs der gesetzlichen Institutionen zu den vier Kardinaltugenden nicht eingehalten wird, sondern die Erörterung bei den Einrichtungen zur Selbstbeherrschung und Besonnenheit gleichsam hängen bleibt, kann auch als Hinweis auf die überragende Wichtigkeit dieses Themas in den Nomoi angesehen werden 13. Das Thema und Problem der Selbstbeherrschung, an dessen Lösung die richtige Orientierung zur Gesamtwirklichkeit und damit die glückliche Existenz hängt, bildet – wie der Gesprächsverlauf zeigt – auch den Hintergrund der Erörterungen zur Paideia. Die Ausführungen des Atheners zielen auf eine gesetzliche Lustregulierung, jedoch gerade nicht auf eine totale Lustabstinenz. Megillos sieht sich daher veranlasst, die spartanische Gesetzgebung, insofern sie eine Lustabstinenz verfügt, zu verteidigen 14. Das strikte Verbot der Symposien, der »Trinkgelage« (637a), durch den spartanischen GesetzVgl. Schöpsdau 1994, 190 f., der allerdings das Programm »in einer eher versteckten Form realisiert« (191) sieht. Eine ausdrückliche Prüfung von Einrichtungen zur Gerechtigkeit und zur Phronesis findet sich jedoch nirgends mehr. 14 Vgl. 636e–637b. 13

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geber hält er unter Verweis auf Erfahrungen, die er u. a. in Athen mit Betrunkenen am Dionysienfest gemacht hat, für vollkommen richtig. In Sparta komme »Derartiges« (637b) nicht vor. Dagegen versucht der Athener »Derartiges« unter ganz bestimmten Randbedingungen zu verteidigen. Seine daraufhin angestrengten Überlegungen zielen darauf, die Symposien und überhaupt den Rausch von der Warte des Gesetzgebers aus zu rechtfertigen. Formal scheinen diese Überlegungen bis zum Ende des II. Buches der Nomoi zu reichen 15. Bei der Prüfung der »Schönheit« (vgl. 638b) der Einrichtung eines mit Rausch verbundenen Symposions kann es nicht darum gehen, gleichsam reflexartig Lob oder Tadel gegenüber der Trunkenheit zu äußern. Der Athener ist um eine andere, »richtige« (638e) Betrachtungsweise bemüht. So arbeitet er in einem sokratischen Vorgehen den Gedanken heraus, dass man eine Einrichtung nicht nach ihrer verfehlten Gestalt, sondern nach ihrer optimalen Gestalt beurteilen soll 16. Gemeinschaften, »in deren Natur es liegt, einen Leiter zu haben, und die sich erst unter diesem als nützlich« (639c) erweisen, müssen in ihrem Verlauf unter diesem kompetenten Leiter beurteilt werden. Das gilt auch für ein Symposion, selbst wenn sogar der Athener zugibt, ein vollkommen korrekt verlaufendes Symposion fast noch nie gesehen zu haben 17. So wie ein Heer einen furchtlosen Anführer braucht, der sich durch nichts verwirren lässt, so ist auch bei einem lärmenden Symposion ein Mann nötig, der sich nicht verwirren lässt 18: »Also muss man einen nüchternen und weisen Mann zum Leiter von Betrunkenen einsetzen und nicht umgekehrt?« (640d). Diese ein wesentliches Ergebnis zusammenfassende Frage des Atheners macht klar, dass trotz der Thematisierung und notwendigen Einbindung des Rausches in das Gesetzes- und Erziehungsprogramm der Nomoi der Rausch kein letzter Zweck dieser Gesetzgebung ist. Rauschzustände müssen immer von einer Instanz, die nüchtern und vernünftig bleibt, überwacht werden. Bei der Institution des Symposions geht es daher um von der Vernunft kontrollierte Rauschzustände im Dienste der Vernunft. Im Vergleich mit dem Kriegsherrn hatte der Athener auch auf einen wichtigen Unterschied zum Symposiarchen aufmerksam gemacht: »Jetzt aber spre15 16 17 18

Vgl. 637d, 673d–e, 674c. Vgl. 639a–d und Schöpsdau 1994, 213. Vgl. 639d–e. Vgl. 640b–c.

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chen wir ja nicht von einem, der ein Heer befehligen soll beim Zusammentreffen von Feinden im Krieg, sondern Freunde, die im Frieden mit Freunden in Freundschaft vereint sein sollen« (640b). Die Einrichtung des Symposions stellt so eine konkrete Verwirklichung der Ausrichtung der Verfassung auf den Frieden und die Freundschaft und nicht auf den Krieg hin dar, vorausgesetzt freilich, es handelt sich um ein von einem nüchternen und weisen Mann, also »richtig« geleitetes Symposion 19. Nachdem wir nun den von der Selbstbeherrschungsproblematik dominierten Gesamtkontext, in dem das erstmalige Auftauchen des Themas der Paideia in den Nomoi steht, rekonstruiert haben, stehen wir jetzt an einer Stelle, an der eine echte Ausweitung der Thematik vorgenommen wird, die uns mit neuen Bestimmungsfaktoren für die Frage der Orientierung an der Gesamttugend bekannt macht. Anlässlich der Aufforderung des Kleinias, seine These vom erzieherischen Wert der Symposien zu begründen (641d), zeigt sich der Athener besorgt, dass seine Erörterung über die Trunkenheit ausufern könnte. Denn »eine wirklich richtige Behandlung dieser Sache kann ohne eine richtige Regelung der Musik wohl niemals eine deutliche und befriedigende Erörterung in unserem Gespräch finden; die Musik wiederum kann das nicht ohne die gesamte Erziehung; das aber erfordert sehr viele Worte« (642a). Die Äußerung des Atheners bringt die Musik als etwas Neues ins Spiel, das in die Mitte der Erziehung führt und ohne deren Regelung die Trunkenheitsfrage nicht befriedigend gelöst werden kann. Die Musik ist nicht identisch mit der gesamten Erziehung, aber sie scheint ein besonders herauszuhebender Teil derselben zu sein. Die gesamte Erziehung ist so gleichsam Musik + X. Eine weitere Frage wird dann die Bestimmung dieses X sein. Dafür erhalten wir vom Athener sehr bald einen Hinweis. Nachdem Megillos und Kleinias ihre wohlwollende Bereitschaft, seinen Ausführungen zu folgen, deutlich signalisiert haben 20, legt der Athener den weiteren Kurs fest: »Zunächst wollen wir also im Hinblick auf unsere Untersuchung bestimmen, was überhaupt

Die sich aus Buch I und II ergebenden Charakteristika eines »richtigen« Symposions stellt Schöpsdau 1994, 213 zusammen. Eine interessante Untersuchung ergäbe sich aus der Frage, ob der platonische Dialog Symposion diesen in den Nomoi aufgestellten Regeln für ein »richtiges« Symposion genügt. 20 Vgl. 642b–643a. 19

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Erziehung ist und welche Wirksamkeit sie besitzt; denn durch sie, behaupten wir, muss die von uns jetzt in Angriff genommene Erörterung ihren Weg nehmen, bis sie zum Gott gelangt« (643a). Ob es sich hier um den Gott Dionysos oder den ganz am Ende des Weges stehenden Gott handelt 21 – mit der Rede von Gott bringt der Athener einen in den Nomoi außerordentlich wichtigen »Bestimmungsfaktor« der Paideia zur Sprache, den neben dem Nous zweiten Letztbegriff dieses Werkes 22. Wir wollen nun sehen, wie die um die »Faktoren« Musik und Gott herum entwickelte Paideia der Nomoi eine echt veränderte Paideia im Vergleich zur Politeia-Konzeption darstellt. Am Beginn des II. Buches der Nomoi unternimmt es der Athener nochmals 23, das Wesen der »richtigen Erziehung« (653a) zu bestimmen: »Ich behaupte also: Bei Kindern ist die erste kindliche Empfindung Lust und Schmerz, und dies sind die Gestalten, unter denen sich Tugend und Schlechtigkeit erstmals in den Seelen einstellen […] Erziehung nenne ich also die erstmals bei den Kindern sich einstellende Tugend; wenn nun Lust und Liebe, Schmerz und Hass auf richtige Weise in den Seelen der Kinder entstehen, solange diese noch nicht zu einem vernünftigen Urteil (logon) fähig sind, dann aber, nachdem sie ein vernünftiges Urteil erlangt haben, diese Gefühle mit der Vernunft übereinstimmen (symphônêsôsi), hweili sie durch die entsprechenden Gewöhnungen richtig eingeübt worden sind, so stellt diese Übereinstimmung (symphônia) die ganze Tugend dar; den Teil von ihr aber der in der richtigen Bildung hinsichtlich der Lust- und Schmerzgefühle besteht, so dass man gleich von Anfang an bis zum Ende hasst, was man hassen, und liebt, was man lieben soll – wenn man eben diesen Teil begrifflich abtrennen und als Erziehung bezeichnen wollte, so würde man ihn meiner Meinung nach richtig bezeichnen« (653a–c) 24. EntAngesichts der Rahmenhandlung der Nomoi scheint mir die zweite Deutung plausibler. Die Schöpsdau-Müller-Übersetzung von 1977 habe ich gemäß dem Urtext korrigiert, also nur »Gott« statt »Gott des Weins«. Vgl. auch Schöpsdau 1994, 224 z. St., der die am Ende des Gesprächs stehenden Bildungsinhalte Theologie und Dialektik als Bezugspunkt annimmt, was auch bedeutete, dass die fragliche Erörterung das ganze Nomoi-Gespräch umfasst. 22 Vgl. Lisi 1985, 65–75, 81–84. 23 Die Paideia wird an insgesamt drei Stellen vom Athener genauer bestimmt: 643b– 644b, 653a–c und 659c–d, vgl. Schöpsdau 1994, 288 z. St. 659c5-d4. 24 Übersetzung gemäß Schöpsdau 1994, 38. 21

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scheidend bei dieser Begriffsbestimmung der Paideia ist der Ansatz beim Kind 25 (pais) und dem, wodurch es dominiert wird: die Gefühle von Lust und Schmerz. Die Paideia setzt bei der kindlichen Affektivität an und versucht eine Bildung dieser Affektivität gemäß der Vernunft (logos), so dass das Kind liebt, was es lieben soll, und hasst, was es hassen soll 26. Ist diese kindgemäß vorzugsweise durch das Spiel 27 (paidia) herbeigeführte richtige Heranbildung und Gewöhnung der Affekte gelungen, dann ergibt sich eine Übereinstimmung, eine »Symphonie« zwischen Emotionen und Vernunft, die an unserer Stelle als die »ganze Tugend« bezeichnet wird. Die Paideia im engeren Sinne hat es mit der vernunftgemäßen Heranbildung der Emotionen als Vorbereitung dieser »Symphonie« zu tun. Im engen Sinne gelesen beziehen sich diese Bestimmungen zur Paideia auf die Kinder, besonders auf die Vorschulkinder, die auf dem Wege der Emotionalität und des Spiels am besten angesprochen und für Erziehungsbemühungen geöffnet werden können. In der Tat erweist sich Platon durch diese und weitere Stellen in den Nomoi als Vater der frühkindlichen Pädagogik. Besonders deutlich wird das durch die im Nomoi-Curriculum im VII. Buch festgeschriebene Einrichtung eines dem kindlichen Spiel gewidmeten »Kindergartens« für 3- bis 6Jährige, der der ab 6 Jahren vorgeschriebenen allgemeinen Schulpflicht vorausgeht 28. Erster Adressat der Paideia sind also die Kinder, dann sicherlich auch die Jugendlichen. Die Paideia in den Nomoi kann sich aber nicht auf diesen Adressatenkreis beschränken, wenn gemäß 857e gilt, dass auch der Gesetzgeber durch sein Proömien-Projekt erzieht. Denn dieses Projekt zielt prinzipiell auf jeden Staatsbürger und besonders die Erwachsenen. Es ist eine Pointe des Paideia-Begriffs in den Nomoi, dass diese Paideia sich auch und – wie wir noch sehen werden – ganz besonders an die Erwachsenen richtet. Der Zusammenhang mit dem am Anfang des II. Buches exponierten Paideia-Begriff bleibt dabei insofern geDer sprachlichen Verwandtschaft von pais (Kind), paideia (Erziehung), paidia (Spiel) wird in den Nomoi ein sachlicher Zusammenhang beigegeben, vgl. G. Müller 1935, 9, 11 u. Schöpsdau 1994, 223. 26 Vgl. die Aufnahme dieser Bestimmung bei Aristoteles EN 1104b 11–13 unter ausdrücklichem Verweis auf Platon. 27 Vgl. 643b–d. Zur Rolle des Spiels in den Nomoi insgesamt vgl. Jouët-Pastré 2006. 28 Vgl. 793d–794c, 804d–e. Der Gedanke des »spielerischen« Lernens wird erstmals 643b–d entwickelt. 25

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wahrt, als man sagen kann, dass diese Erwachsenen-Paideia sich besonders an das Kind im Erwachsenen richtet. Der Erwachsene wird hier als Mensch anvisiert, insofern er Kind ist und bleibt. Diese Anvisierung des Kindes im vernünftigen, erwachsenen Menschen hat mit der prinzipiellen Schwäche des Menschen zu tun, die im II. Buch gleich im Anschluss an die Paideia-Bestimmung in neuer Weise formuliert und konstatiert wird. Nach der Zustimmung des Kleinias führt der Athener nämlich Folgendes aus: »Schön also. Da nun in der richtigen Heranbildung dieser Lust- und Schmerzgefühle die Erziehung besteht, so lässt diese bei den Menschen oft in ihrer Wirkung nach und schwindet vielfach in ihrem Leben; die Götter aber haben aus Mitleid mit dem zur Mühsal geborenen Geschlecht der Menschen zu ihrer Erholung von den Mühen die wechselnde Folge der Feste zu Ehren der Götter angeordnet und ihnen die Musen, den Musenführer Apollon und den Dionysos zu Festgenossen gegeben, damit sie die hdamalsi erfolgte Erziehung an den Festen mit Hilfe der Götter wieder erneuern« (653c–d) 29. Die Erziehungswirkung lässt nach, ob der Mensch das will oder nicht. Daher bedarf sie einer ständigen Erneuerung und Wiederherstellung. Die Wiederherstellung geschieht durch die Götterfeste durch eine mit vollem Recht »musisch« zu nennende Erziehung. Diese musische Erziehung rekurriert – wie der Athener dann deutlich macht (653d f.) – auf anthropologische Sachverhalte: Der junge Mensch gibt keine Ruhe. Er kann weder mit seinem Körper noch mit seiner Stimme still halten. Den anderen ebenfalls vom Bewegungsdrang getriebenen Lebewesen fehlt ein ästhetisches Gefühl für Ordnung in den Bewegungen, »uns Menschen dagegen hätten dieselben Götter, die, wie gesagt, uns zu Reigengefährten gegeben sind, auch das mit Lust verbundene Gefühl für Rhythmus und Harmonie gegeben, und diese würden uns ferner auch in Bewegung setzen und unsere Chöre leiten, indem sie uns in Gesängen und Tänzen miteinander zusammenreihten, und sie hätten dies Chorreigen genannt nach dem der Natur der Sache ganz angemessenen Wort ›Chará‹ (Freude)« (653e–654a). Der Athener dringt hier vor zum Kernkonzept der Paideia in den Nomoi, dem aus Gesang und Tanz bestehenden Chorreigen (choreia 654b), der in einem ersten Zugang mit der Paideia geradezu gleichge-

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Übersetzung des Finalsatzes gemäß Schöpsdau 1994, 39.

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setzt wird 30. Zu Recht kann man hier geltend machen, dass bei der Entwicklung dieser zentralen Erziehungsmaßnahme der Nomoi anthropologische Gesichtspunkte im Spiel sind. Die sich aus einer realistischen Betrachtung ergebende Schwäche des Menschen soll hier durch ein Konzept gleichsam kompensiert werden, das seinen natürlichen Bewegungsdrang und seine ihm angeborene Musikalität miteinander verbindet. Aber wie gerade unsere beiden zuletzt zitierten Passagen zeigen, geht der Nomoi-Text in einer solchen rein-anthropologischen Betrachtungsweise nicht auf. Der anthropologischen Dimension korreliert nämlich in den Nomoi immer eine zuvor schon gegebene theologische Dimension 31. Es sind die »Götter«, die angesichts der menschlichen Schwäche aktiv werden und Götterfeste »anordnen«; sie entsenden aus ihren Reihen die Musen, Apollon und Dionysos als bei diesen Festen anwesende »Festgenossen« und »Reigengefährten«; diese haben die Menschen mit dem ästhetischen Gefühl für Rhythmus und Harmonie begabt, auf dessen Grundlage das freudvolle Chorgeschehen stattfinden kann. Sie setzen das Chorgeschehen in Bewegung und leiten es. Es ist ein auf ganz bestimmte Götter hin akzentuierter Polytheismus, der sich hier Ausdruck verleiht und dem eine rein-anthropologische Betrachtungsweise deswegen nicht gerecht wird, weil sie nicht wie der Originaltext mit der Möglichkeit derartiger real anwesender, agierender, initiierender, dirigierender und inspirierender Instanzen außerhalb des menschlichen Bewusstseins rechnet 32. Es ist eine musisch-religiöse Paideia, die sich in den Nomoi in neuer Weise Bahn bricht und die ihre konkrete Gestalt in der zentralen Erziehungsinstitution des Chorreigens findet, in der sich Gesang und Tanz zu einem auf Tugend ausgerichteten Gottesdienst verbinden und Vgl. 654a–b, 672e. Vgl. G. Müller 1935, 11 f.; Kenklies 2007, 202–210. Gerade die auf die Anthropologie Platons in den Nomoi zielende Arbeit von Sharafat thematisiert in ihrem letzten Kapitel ausführlich die religiöse Dimension von Platons Menschenbild. Das ist angesichts des Textbefundes vollkommen sachgerecht. Die Konzentration auf den »menschlichen Faktor« führt in den Nomoi notwendig zur Thematisierung der Götter bzw. des Gottes. Die Anthropologie der Nomoi ist eine Anthropologie mit Gott. Vgl. Sharafat 1998, 9, 132 ff. Vgl. auch Laks 2000, 291 f. 32 Die in vielem verdienstvolle Arbeit von Kenklies neutralisiert den Wahrheitsanspruch der entsprechenden Formulierungen im Nomoi-Text, an dem die Gesprächspartner keinen ernsthaften Zweifel aufkommen lassen, in der Nachfolge Wittgensteins durch die Rede vom »religiösen Sprachspiel«, vgl. Kenklies 2007, 75, 205, 231 u. passim. Schöpsdau 1994, 259 spricht von der »Tendenz des gesamten Abschnitts, die Rolle der Götter bei der Erziehung hervorzuheben«. 30 31

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die auf diese Weise auch die traditionellen Erziehungsbereiche von Musik und Gymnastik zu einer Einheit integriert 33. Erster Adressat der Gesänge des Chorreigens sind die Kinder. Es gilt, die Erziehung so zu gestalten, dass sie sich über dasselbe freuen bzw. über dasselbe betrübt sind »wie der Greis« (659d). Der Athener nennt die Gesänge daher »Zaubergesänge« (epôdai 659e), durch die die Tugendbotschaft, allem voran die Botschaft, dass das gerechteste Leben auch das lustvollste Leben ist, kindgerecht und kindverträglich vermittelt werden soll 34. Obwohl man aufgrund dieser Aussagen des Atheners den Eindruck gewinnen könnte, dass die Institution des Chorreigens ausschließlich um der Kinder willen da ist, zeigt die konkrete Umsetzung dieser Erziehungsmaßnahme in den Nomoi, dass dies gerade nicht der Fall ist. Denn auch die Erwachsenen sollen dem Wirkungsbereich der »Zaubergesänge« ausgesetzt werden. Und das nicht nur dadurch, dass sie dem Musenchor der Kinder, der vor der ganzen Stadt auftritt, und dem Apollonchor der Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 30 zuhören 35. Neben dem Musenchor der Kinder und dem Apollonchor der Jugendlichen und jungen Erwachsenen soll nämlich noch ein Dritter Chor von 30- bis 60-Jährigen gebildet werden 36. Auf die Nachfrage von Kleinias wegen diesen »dritten Chören« erwidert der Athener, dass es diese sind, »derentwegen die meisten unserer früheren Erörterungen vorgetragen worden sind« (664d). Der Athener gibt hier den Dritten Chor, einen Erwachsenen-Chor, als den eigentlichen Clou seiner im Umkreis der Selbstbeherrschungsproblematik angestrengten Überlegungen zur Erziehung zu erkennen. Dieser Erwachsenen-Chor singt und tanzt selbst. Dadurch übt er eine enorme erzieherische Wirkung auf die Kinder und Jugendlichen aus, bedingt durch die Tatsache, dass er sich aus dem »beste[n] Teil der Bürgerschaft« (665d) zusammensetzt. Aber durch dieses Singen und Tanzen im Chorreigen wird auch auf ihn selbst eine auf andere Weise nicht erzielbare erzieherische Wirkung ausgeübt. Die Regelung des Dritten Chors zwingt die Erwachsenen dazu, sich selbst permanent durch eigenes Singen den »ZauberVgl. 654b–655b, 672e–673d. Vgl. Schöpsdau 1994, 343 f. Vgl. 660d–664c. Zur Bedeutung und Problematik von epôdê vgl. Schöpsdau 1994, 288–290. 35 Vgl. 664c–d. Dass der Apollonchor der vermutlich 18- (vgl. 666a) bis 30-Jährigen vor der ganzen Stadt auftritt, wird nicht eigens gesagt; der Annahme steht aber m. E. nichts entgegen. 36 Vgl. 664d. 33 34

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gesängen« auszusetzen, die zunächst für die Kinder gedacht sind. Dahinter steht die bereits angesprochene Anvisierung des Erwachsenen, insofern er Kind ist, die durch die prinzipielle Schwäche des Menschen gerechtfertigt ist. Daher ist das »heitere Spiel« (673d) des Chorreigens eine Erziehungsmaßnahme, die auch auf den Erwachsenen zielt und ihn »spielerisch« erzieht 37. Nicht nur das Kind, sondern auch der Erwachsene wird erzogen innerhalb der vom Athener entworfenen umfassenden Atmosphäre des Gesangs von Hymnen, die vom Geist der Gesetzgebung durchdrungen sind (vgl. 665c). Die Einrichtung dieses Dionysoschores – wie ihn der Athener zur Überraschung, ja Provokation des Kleinias nennt (665b) – als eines Chores von Erwachsenen im Alter zwischen 30 und 60 scheint mir in seiner Tragweite für die Paideia-Konzeption der Nomoi bislang noch nicht zureichend erkannt worden zu sein. Denn seine Einrichtung impliziert das Konzept einer lebenslangen musisch-religiösen Paideia. Die musische Paideia ist in den Nomoi nicht etwas, was man in jungen Jahren ein für allemal absolviert, um sich dann anderen und höheren Dingen zuzuwenden, sondern sie begleitet das ganze Leben des NomoiBürgers und nicht nur das des »Durchschnitts«-Bürgers, sondern auch das des »Elite«-Bürgers. Die nicht endgültige Absolvierbarkeit der musisch-religiösen Paideia und die Nicht-Exemption der Besten von der musisch-religiösen Paideia sprechen dafür, dass Platon ihr in den Nomoi einen enorm hohen Stellenwert zugemessen hat, der auf ein verändertes Rationalitätsverständnis schließen lässt. Die musisch-religiöse Paideia erfüllt Aufgaben, die durch keine andere Art von Paideia erfüllt werden können und die auch nicht lediglich propädeutischen Charakter haben, da sie den Bildungsweg eines jeden ein Leben lang begleiten sollen. Es ist diese, ihre außerordentliche Wichtigkeit unterstreichende Simultan-Stellung der musisch-religiösen Paideia mit der mathematischen und dialektischen Paideia, die eine echte Veränderung im Paideia-Konzept der Nomoi gegenüber dem Paideia-Konzept der Politeia markiert. Nicht zufällig ist im Zusammenhang der für den Dionysoschor erforderlichen Bildung von einer »gründlicheren Bildung« (akribesteran paideian 670e) die Rede; ein Ausdruck, der bei

Vgl. 656c, 657c, 659e. Im Blick auf die letzte Stelle ergibt sich daher die Zusatzaussage, dass auch die Seelen der Erwachsenen nicht in der Lage sind, den Ernst voll und ganz ohne jede »spielerische« Vermittlung zu vertragen.

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Platon ein herausgehobenes »Elite«-Wissen signalisiert 38. Dieses auch ästhetische Wissen um die »richtige« Musik ermöglicht es den Sängern, die »richtigen« Lieder auszuwählen unter maßgeblicher Hinsicht auf die »Schönheit«, d. h. Tugendgemäßheit der Nachahmung 39. Mit der provozierenden Benennung des Erwachsenen-Chores der 30- bis 60-Jährigen als Dionysoschor durch den Athener kündigt sich bereits ein Zusammenschluss der Überlegungen zur Chorerziehung mit den Überlegungen zum richtig geleiteten Symposion aus dem I. Buch an. Zunächst stellt sich das Problem, wie man erwachsene Männer dazu bewegen kann, öffentlich oder halböffentlich im Dienste der Erziehung zu singen und zu tanzen. Denn mit den Jahren wächst die Scham vor derartigen Gesangsauftritten (665d–e). Die Lösung des Problems ist in die sich daran anschließende Weingesetzgebung integriert, die der Athener vorschlägt und die bereits die Züge seines neuen Gesetzgebungsverfahrens trägt 40. Denn diese Weingesetzgebung erlaubt es dem Mann ab 30, Wein sogar bis hin zum Rausch zu genießen. Durch einen derartigen Weingenuss aber lassen sich die im nüchternen Zustand bestehenden Hemmungen vor dem Singen überwinden; der gestandene Mann lässt sich so »gewissermaßen freiwillig zu singen nötigen« (670c–d). Der Weingenuss bewegt den Chor der Älteren dazu, die »schönsten und nützlichsten Gesänge« (665d) zu singen im Dienste der Erziehung der Kinder und Jüngeren. Aber der Weingenuss hat auch Auswirkungen auf die singenden Älteren selbst. Der Athener spricht bei der Schilderung dieser Auswirkungen in der 1. Person, sodass wir diese Wirkungsbeschreibung auch auf die Alten über 60 ausdehnen können. Der Wein ist von Dionysos »als helfendes Heilmittel gegen den strengen Ernst des Alters geschenkt […], so dass wir wieder jung werden und durch das Vergessen des Unmuts die harte Sinnesart der Seele wieder weicher wird – genau wie das Eisen, das man ins Feuer gelegt hat – und sich so besser formen lässt« (666b–c). Es ist die Zurückversetzung in einen jugendlichen Zustand, die hier als Wirkung des Weines hervorgehoben wird, in der durch die zeitweilige Aufhebung der Verhärtung des Alters der Mensch wieder für erzieherische Vgl. 965b, Resp. 503d. Jaeger 1947, 450 Anm. 224 bestreitet, dass die akribestera paideia des II. Buches etwas mit der akribestera paideia des XII. Buches, die die höhere Bildung der Herrscher meint, zu tun hat. Das ist bezeichnend für eine an der Norm der Politeia durchgeführte Nomoi-Interpretation. 39 Vgl. 667b–668c, 670b, 670e–671a. 40 Vgl. 666a–c. 38

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Formung zugänglich wird. Platon hat hier Zustände eines erwachsenen Menschen im Auge, in denen man im Kern an ihn herankommen und gegebenenfalls korrigieren kann. Diese kindlichen Zustände der Ausgelassenheit können neben dem Alkoholgenuss aber zuvor schon auch durch Musik, Feier und Spiel bewirkt werden. Der schon erwähnte Zusammenschluss der Überlegungen zum Dionysoschor mit denen zum Symposion aus dem I. Buch erfolgt ausdrücklich ab 671a. Beide Gedankenkomplexe werden hier gleichsam übereinanderkopiert, ohne dass sich eine vollkommene Identität ergeben würde 41. Der Athener stellt sich den Dionysoschor nun realistischer- und gesetzeskonformerweise als eine Gesellschaft vor, in der das Trinken immer weiter voranschreitet und demgemäß der Lärmpegel immer weiter ansteigt. Damit hat er die Chorsituation in die Symposiensituation transformiert. In seinem Rauschzustand wird der Teilnehmer des Gelages übermütig und »erachtet sich für fähig, die Herrschaft über sich selbst und die anderen auszuüben« (671b). Dies ist eine kritische Situation für die von der Selbstbeherrschungsfrage dominierte Paideiaproblematik. Sie eröffnet eine Chance, aber stellt zugleich auch eine Gefahr dar. Die Chance besteht in der zuvor schon erwähnten durch den Alkohol bewirkten Zurückversetzung in einen jugendlichen Zustand, die den Erwachsenen wieder neu erziehbar und bildbar macht. An seine diesbezüglichen, durch das Bild des im Feuer weicher werdenden Eisens plastisch vor Augen gestellten Ausführungen knüpft der Athener hier ausdrücklich an (671b–c). In anderer Weise hatte der Athener diesen Zustand bereits im I. Buch durch das Bild der berauschten Marionette imaginiert 42. Dort war noch deutlicher als an unserer jetzigen Stelle der Gedanke, dass dadurch der Erwachsene gleichsam Vgl. dazu Schöpsdau 1994, 306–309, 311, 336–339. Eine Durchführung von Symposien mit mäßigem Weingenuss für die 18- bis 30-Jährigen außerhalb des Dionysoschores ist durchaus denkbar. Einem solchen Symposion müsste dann ein Älterer als Symposiarch vorsitzen. Dass der Dionysoschor nur in kleinem Kreise auftritt (bei welcher Gelegenheit sich dann ein Symposion der Jüngeren assoziieren ließe, vgl. Schöpsdau 1994, 311), halte ich nicht für zwingend. Schließlich wird ja damit gerechnet, dass sein Auftritt die höchste erzieherische Wirkung hat, was mit einer Beschränkung auf den kleinen Kreis nicht gut zusammenstimmt. Die diesbezüglichen Aussagen beziehen sich m. E. auf die anfängliche (vgl. 666c3) Phase des Chores und der Chormitglieder, in der man den Chorauftritt erst in kleinem Kreis einübt; einen großen (dann auch ohne starken Alkoholgenuss möglichen) Auftritt schließen sie nicht aus. 42 Vgl. 645d–e. Auf das für die Nomoi fundamentale Marionettengleichnis (644c–645c) gehen wir in Kapitel 6 dieser Untersuchung ein. 41

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wieder zum Kind wird, vom Athener ausgedrückt worden: »So dürfte also, scheint es, nicht bloß ein Greis zum zweiten Mal zum Kind werden, sondern auch der Betrunkene« (646a). Diese Äußerung des Atheners unterstützt auch die von uns behauptete für die Nomoi charakteristische durchgängige Anvisierung der »Kindheit« im vernünftigen Menschen. Denn die das Gespräch führenden Personen sind als Greise gemäß dem Sprichwort, auf das der Athener hier anspielt, hervorragend disponiert, eine solche positiv-»kindliche« Sicht einzunehmen 43. Die Rauschsituation im Symposion stellt unreguliert natürlich eine Gefahr dar. Denn der Betrunkene tendiert zu einem dreisten und schamlosen Verhalten. Die für das Symposion aufzustellenden Gesetze sollen dem entgegenwirken, indem sie im Gegenteil auf ein durch Scheu und Scham geprägtes Verhalten hinwirken (671c–d). Mit den Stichwörtern »Scheu« und »Scham« ruft der Athener die ganz am Ende des I. Buches angestellten Überlegungen zum Nutzen eines richtig geleiteten Symposions wieder wach. Dort waren zwei Arten von Furcht unterschieden worden. Die zweite Art der Furcht war die Furcht vor schlechter Nachrede, »wenn wir etwas Unschönes tun oder sagen« (646e), und diese war als Scham (aischynê 647a) bezeichnet worden. Auf die Ausbildung dieser Scham muss der Gesetzgeber größten Wert legen, da er die ihr entgegengesetzte Schamlosigkeit als das »größte Übel für alle« (647b) betrachtet. Die Scham wird dann gemäß dem Gesamtkontext der Stelle als Kampf gegen »vielerlei Lüste und Begierden, die zu Unverschämtheit und Ungerechtigkeit antreiben« (647d) mit der Besonnenheit identifiziert 44. Ebenso wie die Tapferkeit muss nun auch die Scham und Besonnenheit geprüft und trainiert werden. Für eine solche probate Trainingsmethode hält der Athener den Weingenuss, da der Wein furchtlos im Sinne der Unverschämtheit macht (649a–b). Das richtig geleitete Symposion war daher am Ende von Buch I als relativ risikoarme Prüfungs- und Trainingsmethode zu Besonnenheit und Selbstbeherrschung erschienen 45. Der Athener knüpft an diese Überlegungen an unserer Stelle (671c–e) nahtlos an, wobei diese Überlegungen noch eine gewisse religiöse Vertiefung erhalten. Neben den uns bereits bekannten nüchternen Aufsehern, die über die 43 44 45

Vgl. Schöpsdau 1994, 241 z. St.; Kenklies 2007, 256. Vgl. 647d: besonnen (sôphrôn). Vgl. 649d–650b.

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Einhaltung der Regeln während des Symposions wachen sollen, ist noch von den »Befehlshabern des Dionysos« (671e) die Rede, die über 60 sind und denen es ebenso zu gehorchen gilt. Mit dieser neuen Information macht der Athener klar, dass auch die über 60-Jährigen noch in einer Beziehung zum Dionysoschor gedacht sind. Der Gruppe der über 60-Jährigen war der sonst obligatorische Gesangsauftritt bei der Regelung der 3 Chöre erlassen worden: »Die noch Älteren aber, die ja nicht mehr die Kraft haben, um die Anstrengung des Singens zu ertragen, sollen übrig bleiben, um über dieselben Gesinnungen Sagen aus göttlicher Eingebung zu erzählen« (664d). Die über 60-Jährigen nehmen weiter gemäß ihren Möglichkeiten an der Erziehungsaufgabe teil und auch sie bleiben als »Befehlshaber des Dionysos« auf den Dionysoschor und die durch ihn indizierte Hochstellung der musisch-religiösen Paideia hingeordnet 46. Die Folge eines derart reguliert innerhalb eines Dionysoschores stattfindenden Symposions wäre die Vertiefung der Freundschaft unter den Feiernden (671e–672a). Unter diesen Bedingungen fungiert der Wein daher als »Heilmittel«, »damit die Seele Scham und der Leib Gesundheit und Kraft erwirbt« (672d). Wir hatten gesehen, dass die Rede von der Paideia in den Nomoi aufgekommen war im Kontext der Suche nach gesetzlichen Einrichtungen, die den Umgang mit der Lust regulieren sollten, indem sie in kontrollierte Lustsituationen hineinführen sollten, aus denen die zu Erziehenden dann gebessert und das bedeutete genauer: besonnener und selbstbeherrschter hervorgehen sollten. Die Diskussion hatte sich dann gewissermaßen verengt, indem man sich auf die mit dem Weingenuss notwendig verbundene Situation der Symposienlust konzentriert hatte. Sie hatte sich unter bestimmten Randbedingungen als diesem Ziel der Besserung des zu Erziehenden dienlich erwiesen, was der Athener am Ende des II. Buches noch einmal bestätigt, wo er von einem seriösen Gebrauch des Symposions spricht, der auf die »EinIch halte es für das größte Verdienst der Arbeit von Kenklies, auf die herausragende Stellung des Chors in den Nomoi neu hingewiesen zu haben. Gerade weil Kenklies gar nicht als Platon-Forscher auftritt, sondern aus einer modernen erziehungswissenschaftlichen Perspektive heraus auf den Nomoi-Text neu und frisch zugreift, haben seine diesbezüglichen Ausführungen einen besonderen Zeugniswert. Kenklies teilt die »Postnatale Erziehung« in den Nomoi in die »Vor-Chor-Periode«, die »Chor-Periode« und die »Nach-Chor-Periode« ein, was die Zentralstellung des Chors schon in der Gliederung zum Ausdruck bringt, vgl. Kenklies 2007, 209, 224 ff. 46

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übung der besonnenen Mäßigung« (673e) zielt. Im II. Buch war die Symposionthematik durch den Zusammenschluss der Überlegungen zum Dionysoschor mit den Überlegungen zum Symposion wieder hereingekommen. Daher erklärt der Athener ganz am Ende des II. Buches die »Erörterung über den Wein« (674c) für abgeschlossen. So entsteht der Eindruck, als sei die notwendig mit dem Alkoholgenuss verbundene Symposienthematik das Wichtigste bei der Behandlung der Paideia. Dagegen gilt es noch einmal darauf hinzuweisen, dass es die nicht notwendig mit Alkoholgenuss verbundene Situation des Chorreigens ist, die das Kernkonzept der platonischen Paideia in den Nomoi darstellt. Der Gesang und Tanz im Chorreigen stellt eine regulierte Lustsituation im Rahmen eines Gottesdienstes dar, der zur Besserung der Sänger angesichts ihrer prinzipiellen Schwäche, die in einer mangelnden Selbstbeherrschung besteht, dient. Auch hier haben wir es im übertragenen Sinne schon mit einer »Rauschsituation« im Sinne einer emotionalen Ausgelassenheit zu tun, in der sich der Sänger und Tänzer befindet 47. Diese in Spiel und Feier sich vollziehende emotionale Ausgelassenheit ist eine vernünftige Ausgelassenheit, weil sie letztlich dem Ziel der Stärkung der dem Übermut wehrenden Selbstbeherrschung dient. Inwiefern durch den Weingenuss noch eine neue, anders nicht zu erreichende Stufe der emotionalen Ausgelassenheit erreicht werden kann, ist eine zweite Frage. In der Tat scheint Platon mit einer Intensivierung der Situation des Chorreigens durch den Alkoholgenuss zu rechnen. Aber auch unabhängig vom Alkoholgenuss entfaltet die Teilnahme am Chorreigen eine auf andere Weise nicht erreichbare erzieherische Wirkung im Hinblick auf die für die Nomoi charakteristische Zielsetzung der Affektbeherrschung. Das von mir als Novum der Nomoi herausgestellte Konzept einer lebenslangen musisch-religiösen Paideia hat wohl auch deshalb keine zureichende Beachtung gefunden, weil man sich zur Orientierung in der Paideia-Frage eher an das VII. als an das II. Buch der Nomoi hält. Im VII. Buch beschreibt der Athener die staatliche Regelung der Erziehung. Aus dieser Beschreibung lässt sich ein Curriculum abstrahieren, das vom pränatalen Embryonalzustand bis zum 19. Lebensjahr reicht 48. Zur Möglichkeit des übertragenen Gebrauchs von methê (Trunkenheit, Rausch) vgl. 639b und Schöpsdau 1994, 214 z. St. 48 Vgl. die von Schöpsdau 2003, 502 gegebene schematische Übersicht. Genauer gesagt 47

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Zwar wird aus der Ansicht dieses Nomoi-Curriculums klar, dass dem Bereich von Gymnastik und Musik, der im Chorreigen eine konkrete Vereinigung erfährt, ein größerer Raum zugestanden wird als im Politeia-Curriculum, zumal nach dem Unterricht im Lesen und Schreiben noch ein Lyra-Unterricht vom 13. bis zum 15. Lebensjahr auf dem Lehrplan steht 49. Aber der Blick auf diesen Lehrplan kann zu dem falschen Eindruck verleiten, als sei die musische Paideia des Chorreigens eine absolvierbare Stufe des Lehrplans, der dann eine andere und höhere, die mathematische Paideia folgt 50. Die musische Paideia des Chorreigens ist aber, wie die Ausführungen des II. Buches zum Dionysoschor klar zeigen, keine ein für allemal absolvierbare Bildungsstufe und der Lehrplan der Nomoi richtet sich nicht nur an den »Durchschnitts«-Bürger, sondern an jeden, d. h. auch den »Elite«-Bürger. Dieser wird gewiss auch noch höhere, über die vorgeschriebenen Inhalte hinausgehende mathematische Studien betreiben 51. Aber diese mathematischen Studien werden weiterhin begleitet von der musisch-religiösen Paideia; die mathematischen Studien lösen diese nicht ab, wie man in der curricularen Sicht fälschlich vermuten könnte. Überhaupt folgt das Nomoi-Curriculum nicht der Logik von sich einander ablösenden Studien, die auf jeder Stufe immer höherwertiger werden, bis sie eine Klimax erreicht haben. Dies wird deutlich an den Schlussbestimmungen des VII. Buches, die sich im Anschluss an den Lehrgegenstand der Astronomie mit der Jagd befassen 52. Genau besehen handelt es sich daher bei der im Chorreigen gebundenen Gymnastik und Musik des Nomoi-Curriculums gar nicht um eine im Vergleich zum Politeia-Curriculum besonders ausgedehnte »untere« Bildungsstufe, der dafür eine im selben Vergleich ausgedünnte »obere« mathematische Bildungsstufe gegenübersteht 53. Die Gymnastik und Musik des Chorreigens ist sind die letzten Bestimmungen, die sich dort finden, Bestimmungen zur Erziehung nach dem 19. Lebensjahr: Für diese Altersstufe ergibt sich aus dem Schema nur noch die Höhere Mathematik und die Jagd als Bildungsinhalte. Zur pränatalen Erziehung vgl. 789a–e u. Kenklies 2007, 211–224. 49 Bestimmungen zu Gymnastik und Musik finden sich 795d–804c, dann (auf die Unterrichtsfächer bezogen) wieder 812b–817e; 817e erklärt der Athener die auf »den gesamten Chorreigen« bezüglichen Unterrichtsbestimmungen für abgeschlossen. Der Lyra-Unterricht wird 812b–e festgesetzt. 50 817e–822d finden sich die Bestimmungen zu Mathematik und Astronomie. 51 Vgl. den 818a vom Athener dazu gegebenen Hinweis. 52 Vgl. 822d–824a. 53 Vgl. als ein Zeugnis für diese Standardsichtweise Schöpsdau 2003, 504.

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vielmehr eine immer wieder zu erneuernde, permanente Grundbildung, die jede weitere Bildung ein Leben lang begleitet und gewissermaßen sogar umfängt. Es ist ein ganz besonderer Status, den diese musisch-religiöse Grundbildung im VII. Buch zugesprochen bekommt. Dieser Status war vom Athener bereits an einer Stelle des II. Buches antizipiert worden, an der er vom »geheiligten Chorreigen« (657b) gesprochen hatte. 796e f. kündigt der Athener eine Ergänzung zu den bisherigen Ausführungen zur musischen Paideia an, die freilich sehr seltsam und ungewöhnlich (vgl. 797a) anmutet: »Ich behaupte, dass in allen Staaten eine allgemeine Unwissenheit darüber herrscht, dass bei der Gesetzgebung die Art der Spiele von größtem Einfluss darauf ist, ob die aufgestellten Gesetze dauerhaft sind oder nicht« (797a). Der Athener behauptet hier einen Einfluss der Kinder-Spiele auf die Beständigkeit der Gesetzgebung. Sich verändernde Spiele bewirken eine latente Veränderung der Gesinnung der nachkommenden Generation 54. Neue Spiele spielende Kinder werden andere Männer, die ein anderes Leben mit anderen Einrichtungen und Gesetzen suchen 55. Wenn aber gilt, dass der bisherige Zustand der Gesetzgebung im Wesentlichen »richtig« ist, – eine Voraussetzung, die Platon zumindest für die von ihm vorgeschlagene Gesetzgebung zu machen scheint, – dann muss eine Veränderung der Spiele, die eine Veränderung der Gesetzgebung nach sich zieht, verhindert werden. Das adäquate Mittel hierzu sieht der Athener nach ägyptischem Vorbild in der Heiligung der Spiele im Rahmen einer den Jahreskreis bestimmenden heiligen Liturgie 56. Es sind interessanterweise nicht die Kindergarten-Spiele der 3- bis 6-Jährigen, bei denen die staatliche Normierung und Sanktifizierung ansetzt 57. Im Fokus des Gesetzgebers stehen die musikalischen Singund Tanzspiele des Chorreigens, insofern hier menschliche Charaktere nachgeahmt werden 58. In Bezug auf sie erhebt der Athener seine Forderung: »Dass man jeden Tanz und jeden Gesang heiligt, indem man Vgl. 797a–c. Vgl. 798c. 56 Vgl. 799a–b, 656c–657c. 57 Vgl. 794a. Es ergeben sich »einige« natürliche Spiele, die Kinder dieses Alters immer wieder neu erfinden. Die Möglichkeiten des Computer-Zeitalters stehen noch nicht vor Augen. 58 Vgl. 798d–e u. Schöpsdau 2003, 531. Zur positiveren Bewertung der Nachahmung (mimêsis) in den Nomoi vgl. Schöpsdau 1994, 273, der allerdings ihre Wirkung auf das 54 55

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zunächst die Feste anordnet und für das ganze Jahr berechnet, welche Feste zu welchen Zeiten und welchen Göttern und Göttersöhnen und Dämonen zu Ehren sie jeweils zu feiern sind, sodann welchen Gesang man jeweils bei den Opfern für die Götter anzustimmen und mit welchen Chortänzen man die jeweilige Opferhandlung zu verherrlichen hat; dies sollen zunächst bestimmte Leute festsetzen; sobald es aber festgesetzt ist, sollen alle Bürger nach einem gemeinsamen Opfer für die Moiren und alle übrigen Götter unter Trankspenden die einzelnen Gesänge den einzelnen Göttern und den anderen Mächten weihen« (799a–b). Es wird hier deutlich, dass die Lieder und Tänze des Chorreigens Lieder und Tänze im Umkreis gottesdienstlicher Handlungen im Rahmen einer Liturgie sind. Die musische Paideia der Nomoi ist von Hause aus eine musisch-religiöse Paideia. Die Heiligung des Chorreigens unterstreicht die Ausnahmestellung der durch ihn vermittelten Bildung. Die seltsame Tatsache, »dass die Gesänge für uns zu Gesetzen geworden sind« (799e), wie es der Athener kurz ausdrückt, birgt aber auch Probleme. Der Athener macht deutlich, dass er ein Bewusstsein für diese Probleme hat, obwohl er die Sanktifizierung der Musik dann um des weiteren Fortkommens willen gesetzlich festlegt und davon abweichendes Verhalten als ein schweres Vergehen ansieht 59. Im Grunde stellen sich bei der Heiligung von Liedern analoge Probleme wie beim Vernunftanspruch für Gesetze. Wenn sie nicht bloß als künstlich-willkürlicher Akt angesehen werden soll, dann setzt die Heiligung von Liedern voraus, dass es Heiliges gibt und dass man ein Wissen davon hat, was genau im konkreten Fall heilig ist. Das erste Problem hängt mit der Existenz einer göttlichen Sphäre zusammen und das zweite mit dem Vorhandensein eines priesterlich-geistlichen Wissens, das sakrale von nicht-sakralen Strukturen unterscheiden kann. Obwohl die Gesprächspartner in den Nomoi nicht den geringsten Zweifel an ihrem Glauben an die Existenz der Götter aufkommen lassen, ist ein eigentlicher Existenzbeweis für die Götter und in der Folge davon für Heiliges an dieser Stelle noch nicht geführt. Daher beziehe ich die Zögerlichkeit der Äußerungen des Atheners an dieser Stelle auf den noch ausstehenden Gottesbeweis. Auch das zweite im Zusammen»Ethisch-Emotionale« eingeschränkt sieht, so als hätte sie keine Auswirkungen auf die Gesamtorientierung zur Wirklichkeit. 59 Vgl. 799c–800b u. 799b.

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hang der Heiligung auftauchende Problem des Vorhandenseins eines priesterlich-geistlichen Wissens ist an dieser Stelle noch nicht gelöst. Es ist lediglich unbestimmt von »bestimmten Leuten« (vgl. 799b) die Rede, die die liturgische Festordnung festlegen sollen. Offen bleibt, wer dies ist und kraft welchen Wissens er bzw. sie dies tun. Dass bei der Festlegung der Liturgie astronomisches Wissen vonnöten ist, wird vom Athener 809c–d innerhalb einer Passage, an der er sich fiktiv an den Aufseher über die Erziehung wendet und die eine kurze Zusammenfassung des Nomoi-Curriculums enthält (809a–e), eigens gesagt. Die Kenntnisse »über die Umläufe der göttlichen Wesen« (809c) dienen der Festlegung der Liturgie, damit »die Opfer und die Feste jeweils ihre gebührende Ordnung empfangen« (809d). Die Astronomie gehört zu der Fächergruppe der mathematischen Wissenschaften, denen sich der Athener gegen Ende des VII. Buches nach Abschluss der ausführlichen Bestimmungen im Umkreis des Chorreigens zuwendet (vgl. 817e ff.). Er hebt dabei auf die Regelmäßigkeit bzw. Berechenbarkeit der Himmelsumläufe ab, die einzusehen ein mittelschwerer Lernstoff ist, da er selbst diese Lektion vor nicht allzu langer Zeit gelernt hat und er sie den anderen beiden recht schnell klar machen könnte 60. Auf den wichtigen Gedanken der Berechenbarkeit der Umläufe der Gestirne kommen wir im Zusammenhang des Gottesbeweises noch einmal zurück. Wichtig in unserem Zusammenhang ist, dass auch diese Erkenntnis in das liturgische Erziehungsprogramm der Nomoi eingebettet ist, indem sie das unrichtige Dogma über die göttlichen Himmelskörper, sie bewegten sich unregelmäßig, berichtigt und so die »Blasphemie« in den Hymnen über sie durch eine »Euphemie« (821d) ersetzt. Das Gebot der »Euphemie« war eine Grundregel für die Lieder des Chorreigens 61. Überhaupt gilt für alle drei mathematischen Disziplinen, die nach der Chorreigen-Erziehung erörtert werden, dass ihre Lektion nicht im Gegensatz zum im Chorreigen zentrierten liturgischen Erziehungsprogramm steht, sondern hier eher das Verhältnis der gegenseitigen Stützung herrscht. Das ist die vom Athener favorisierte Alternative zu der

Vgl. 821e–822c. Vgl. die Diskussion bei Schöpsdau 2003, 617–623, der wie die meisten anderen die Planetentheorie von Eudoxos von Knidos als Hintergrund vermutet. Eine abweichende Meinung vertritt v. d. Waerden 1988, 105 ff., der hier eine Anspielung auf die Theorie von Herakleides Pontikos sieht. 61 Vgl. 800e–801a. 60

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von ihm 819a angesprochenen Möglichkeit, sich in einer anderen Einstellung, die er für »verkehrt« hält, mit diesen Lerngegenständen zu befassen. Die ganz genaue Beschäftigung mit Arithmetik, Geometrie und Astronomie bleibt aufgrund der Begrenztheit der mathematischen Begabung natürlich nur wenigen vorbehalten 62. Aber diese Spitzenmathematik muss gerade wegen der Möglichkeit, sich »verkehrt« mit diesen Lerngegenständen zu befassen, von der musisch-religiösen Paideia begleitet und mitorientiert werden. Bereits in der für alle vorgeschriebenen mathematischen Grundbildung ist der Bezug auf die musischreligiöse Paideia mitenthalten. Gelernt werden sollen »göttliche Notwendigkeiten« (818b). Auf die Frage des Kleinias, welches diese göttlichen Notwendigkeiten sind, gibt der Athener zur Antwort: »Diejenigen meine ich, ohne deren Anwendung oder auch nur Erlernung den Menschen überhaupt niemals ein Gott, ein Dämon oder ein Heros erstehen könnte, der fähig wäre, ernsthaft für die Menschen Sorge zu tragen« (818b–c). Die mathematischen Kenntnisse werden hier gleichsam als Bedingungen der Möglichkeit der ernsthaften Sorge eines Gottes um die Menschen betrachtet. Sie zielen als »Kümmerbedingungen« auf das Verhältnis von Gott und Mensch. Durch ihre Kenntnis entstehen verlässliche und berechenbare Verhältnisse, innerhalb deren eine ernsthafte Sorge um den Menschen von göttlicher Seite aus möglich ist. Nicht zufällig bewegt sich die dann folgende Aufzählung elementarer mathematischer Kenntnisse auf die astronomischen Kenntnisse zu, die zur Aufstellung des liturgischen Festkalenders erforderlich sind 63. So ist es keine rein ideale Betrachtungsweise, sondern eine liturgische Betrachtungsweise, die in den Nomoi gegenüber der Mathematik eingenommen wird und die mit dem durch eine durchgängige musisch-religiöse Paideia charakterisierten, veränderten Erziehungsprogramm zusammenhängt. Allgemein gesagt ist es eine nicht rein-intellektuelle Dimension der menschlichen Welterschließung, die durch die Bestimmungen zur Paideia in den Nomoi von Platon mit Nachdruck zum Vorschein gebracht wird. Es ist ein Missverständnis, die Betonung dieser sich im beherrschten und besonnenen Umgang mit Emotionen und Affekten 62 63

Vgl. 818a. Vgl. 818c.

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leibhaftig zeigenden nicht rein-intellektuellen Dimension der menschlichen Welterschließung als lediglich populäres Unternehmen Platons abzutun und philosophisch abzuqualifizieren. Denn das neue Wichtignehmen dieser nicht rein-intellektuellen Dimension der menschlichen Welterschließung bei Platon ist die Antwort auf eine Schwäche, die ausnahmslos jeden Menschen betrifft und ihn ein Leben lang begleitet 64. Daher betreffen die Modifikationen, die Platon in den Nomoi an seiner Paideia-Konzeption vornimmt, auch und sogar besonders Menschen vom Typ der Philosophenherrscher in der Politeia. Um hier klarer zu sehen, wenden wir uns jetzt dem ausgeprägt intellektuellen Rationalitätsansatz zu, den Platon in der Politeia verfolgt und von dem er sich – wie ich glaube – in den Nomoi teilweise absetzt.

Auf die Relevanz dieser »Schwäche« für die Nomoi-Interpretation wird besonders in der Arbeit von Sharafat hingewiesen, vgl. Sharafat 1998, 97 ff. Sharafat unterscheidet drei Arten von Vernunftschwäche in den Nomoi: 1. Mangel an empirischen oder theoretischen Kenntnissen. 2. Uneinsichtigkeit und Unbelehrbarkeit. 3. Schwäche der Vernunft gegenüber der Macht der Leidenschaften. Die letzte Kategorie ist die für die Nomoi-Interpretation entscheidende, denn sie betrifft jeden Menschen: »Die Nomoi erkennen dagegen in realistischer Weise die Schwäche der Vernunft gegenüber dem Drang der Begierden. Auch der weiseste Mensch ist nicht imstande, seine Triebe im Leben durchgehend zu beherrschen« (Sharafat 1998, 173). 64

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Kapitel 5: Der Rationalitätsansatz in der Politeia

Als »Hochburg der Ideenlehre« bezeichnet 1, finden sich in der Politeia charakteristische Aussagen über die Ideen, die das Substrat für die Lehre bilden, die mit der Philosophie Platons am engsten in Verbindung gebracht wird 2. So bringt Sokrates im VI. Buch unmittelbar vor der Präsentation der drei Gleichnisse zur Verdeutlichung der Idee des Guten seinen Mitunterrednern Glaukon und Adeimantos »das im vorigen Gesagte und auch sonst schon oft Erklärte« (507a) in Erinnerung. Auf Glaukons Nachfrage macht Sokrates eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem »vielen Schönen« und dem »vielen Guten« auf der einen Seite und dem »Schönen selbst« und dem »Guten selbst« auf der anderen Seite: »und so auch alles, was wir vorher als vieles setzten, setzen wir als eine Idee eines jeden, indem wir annehmen, dass sie nur eine ist, und nennen es jegliches, was es ist« (507b). Sokrates setzt nach Zustimmung Glaukons noch hinzu: »Und von jenem vielen sagen wir, dass es gesehen werde, aber nicht gedacht; von den Ideen hingegen, dass sie gedacht werden, aber nicht gesehen« (507b–c). Der einen intelligiblen Idee werden die vielen sinnlich wahrnehmbaren Dinge entgegengesetzt, die – wie aus der ersten Passage hervorgeht, in der von den Ideen in der Politeia die Rede ist und auf die Sokrates in seiner einleitenden Äußerung verweist, – in der Relation der Teilhabe (methexis) zur Idee stehen 3. Mit der Ideeneinführung ist so auch die Unterscheidung zwischen dem Bereich des Sensiblen, also sinnlich Wahrnehmbaren – hier vertreten durch das optisch Sichtbare –, und dem Bereich des Intelligiblen gegeben. Diese Unterscheidung ist Müller 1968, 80. Vgl. Eichler 2011, 1189 f. Zur Problematik der Rede von der »Ideenlehre« vgl. weiterhin Wieland 1982, 95–105. 3 Vgl. Resp. 475e–476d. Von großer Bedeutung für die Auffassung der Ideenlehre in der Politeia ist noch der Abschnitt 596a–597e im X. Buch. Wieland 1982, 141 fasst die den Dialogen entnehmbaren Aussagen über die Ideen kurz zusammen. 1 2

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5 · Der Rationalitätsansatz in der Politeia

gleichsam der Grundriss für die dann folgende Gleichnisserie. Wir werden sehen, wie die Ausbildung der designierten Philosophenherrscher, an der sich der Rationalitätsansatz in der Politeia ablesen lässt, auf eine extreme intellektuelle Durchdringung der Wirklichkeit hin tendiert, die auf einer außerordentlichen Hochschätzung des intelligiblen Bereichs basiert, die ihrerseits unhinterfragt bleibt. 521c beginnt die Besprechung der Fächer, die sich dann als die propädeutischen Fächer im Ausbildungsprogramm Platons für die zukünftigen Regenten seines Idealstaats herausstellen 4; auf sie war bereits 503e durch die Rede von den »schwersten Forschungen« (megista mathêmata) hingewiesen worden. Das, was diese propädeutischen Fächer leisten sollen, wird zunächst im Bild des Höhlengleichnisses, das an dieser Gesprächsstelle noch ganz unmittelbar nachwirkt, ausgedrückt: Sie sollen die Höhlenmenschen nach oben »ans Licht« (521c) heraufbringen. Dabei geht es um den keineswegs trivialen Vorgang einer »Umlenkung der Seele« (psychês periagôgê), »welche aus einem gleichsam nächtlichen Tage zu dem wahren Tage des Seienden jene Auffahrt antritt, welche wir eben die wahre Philosophie nennen wollen« (521c). Die zunächst im Bild des Höhlengleichnisses formulierten Anforderungen an die gesuchten Fächer 5 werden dann von Sokrates begrifflicher gefasst. Die gesuchten Fächer sollen eine Zugwirkung haben, und zwar so, dass sie ein »Zug« (holkon) sind »für die Seele von dem Werdenden zu dem Seienden« (521d). Dieser »Zug zum Sein«, das sich aus dem Gegensatz zum Werden bestimmt, ist die Hauptanforderung, die Platon über seinen Sprecher Sokrates in der Politeia an die philosophischen Vorbereitungsfächer stellt. Daneben erhebt er noch die Nebenanforderung der Kriegsnützlichkeit an diese Fächer. Es zeigt sich, dass diese beiden Anforderungen zusammen bestehen können und nicht in einen Widerspruch zueinander geraten 6. Durch die in der Hauptanforderung festgelegte Orientierung hin zu einem Seienden, das kein Werdendes und Vergängliches ist, kommt es an unserer Politeia-Stelle zu einer Ausscheidung zweier Fächer, der von den Gesprächspartnern keine besondere Bedeutung zugemessen Vgl. Resp. 521c–531c, 536d. Auch der Eingangsteil des Lehrgedichts des Parmenides scheint hier im Hintergrund zu stehen. 6 Vgl. 521d, 522c–e, 525b f., 526d, 527c–d; vgl. Annas 1981, 275 f. 4 5

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wird. Im Kontext unserer Untersuchung einer etwaigen Modifikation des Rationalitätsbegriffes Platons erweist sich diese aber als ganz besonders bedeutsam. In einer ersten Anwendung des »Zug«-Kriteriums scheiden Sokrates und Glaukon die Gymnastik und die »Musik, wie wir sie früher beschrieben hatten« (522a) aus. Erst nachdem auch noch die Künste (technai) ausgesondert worden sind, kommt es zu einer positiven Anwendung des »Zug«-Kriteriums, das die mathematischen Fächer als geeignete propädeutische Fächer zu Tage fördert 7. Mit Gymnastik und Musik werden an unserer Stelle die beiden Disziplinen ausgeschieden, auf denen die Erziehung des Politeia-Staates zunächst aufbaute 8. Der Ausscheidungsgrund ergibt sich gemäß dem »Zug«-Kriterium aufgrund ihrer Subsumption unter den Bereich des Werdenden und Vergänglichen. Das ist für den Bereich der Gymnastik unmittelbar klar (521e), ergibt sich aber auch für die Musik als dem »Gegenstück zur Gymnastik« (522a). Die Erziehung durch Gewöhnung mittels Harmonie und Rhythmus, die die entsprechenden Wohlordnungen in der Seele hervorbringt, ist letztlich unbeständig und keine Wissenschaft. So kommen Gymnastik und Musik, weil sie im Bereich des sinnlich Konkreten ihren Sitz haben, gemäß dem das sinnlich Konkrete hinter sich lassen wollenden »Zug«-Kriterium als »höhere« Bildungsmittel für die designierten Regenten nicht mehr in Frage. Gerade weil die Aussagen zu Musik und Gymnastik in den Büchern II–IV der Politeia, in denen Platon das erste Schema der Erziehung in seinem Idealstaat darlegt, viele Ähnlichkeiten und Parallelen zu den Nomoi-Bestimmungen aufweisen 9, ist es umso wichtiger, auf die klare Abtrennung zu achten, die Platon hier im VII. Buch anlässlich der Darlegung eines zweiten Erziehungsschemas zwischen Musik und Gymnastik und der »höheren« Bildung vornehmen lässt. Von hier aus Vgl. 522b, 532b–c. Vgl. 376e–412b, 424b–d. 9 Vgl. Schofield 2010, der für die Zentralität der Musik in Platons Erziehungskonzeption in der Politeia argumentiert und die Bestimmungen der Nomoi als eine Weiterentwicklung der kulturellen Agenda der Politeia interpretiert. Die von mir hier betonte »Ausscheidungs-Stelle« des VII. Buches des Politeia lässt er dabei völlig außer Acht. Sier 2010, 143 ff. dagegen bemerkt die unterschiedliche Gewichtung, die die Musik in Politeia und Nomoi erfährt: »An der Musik und ihrem richtigen Gebrauch hängt in den Nomoi sehr viel mehr als in der Politeia« (145). Er sieht darin jedoch kein Indiz für eine grundsätzliche Veränderung der Position Platons. 7 8

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führt kein Weg mehr zu der im vorigen Kapitel herausgearbeiteten Hochschätzung der im Chorreigen zentrierten musisch-religiösen Paideia in den Nomoi, die durch die Einrichtung des Dionysoschores indiziert wurde. Denn Musik und Gymnastik und mithin auch der Chorreigen haben vom Standpunkt der Politeia aus nicht die Zugkraft, um »hoch ans Licht« zu führen, weil in ihnen keine Beschäftigung mit einer idealen Wirklichkeitsschicht stattfindet, die keiner Veränderung unterworfen ist. Der Beschäftigung mit idealen Strukturen kommt vom Standpunkt der Politeia aus ein überragender Bildungswert zu, im Blick auf den die Disziplinen Musik und Gymnastik klar abgehängt werden. Es sind zunächst die mathematischen Disziplinen, die dem Betrachter diese ideale Seite bieten und auf die sich Sokrates in der Folge dann auch konzentriert. Wenn weder Musik noch Gymnastik noch Künste den gestellten Anforderungen genügen, dann ist die Frage, welche Kenntnis (mathêma) überhaupt noch übrig bleibt (522b). Durch die Wendung der Intention auf das »Gemeinsame« (522c), das alle Wissensarten brauchen und das zuerst gelernt werden muss, bringt Sokrates die Untersuchung weiter und betritt damit den Kreis der mathematischen Disziplinen. Das Gemeinsame besteht darin, »die eins und zwei und drei zu verstehen« (522c). Sokrates nennt es kurz »Zahl und Rechnung« (arithmon te kai logismon) (ebd.). Es zeichnet den Menschen aus, zählen und rechnen zu können (vgl. 522e). Zählen und Rechnen sind im Prinzip geeignet, auf die Vernunfteinsicht (noêsis) zu führen, aber – so das Monitum von Sokrates – niemand bedient sich ihrer als »eines auf alle Weise zum Sein Hinziehenden« (helktikô onti pantapasi pros ousian) (523a). Zur Verdeutlichung dessen, was er meint, führt Sokrates die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungen, die die Vernunft herbeirufen, und Wahrnehmungen, die dies nicht tun, ein 10. Neben Wahrnehmungserlebnissen, die sich selbst genügen, geht Sokrates von der Existenz von Wahrnehmungserlebnissen aus, die den Inhaber dazu nötigen, über diese Erlebnisse nachzudenken und so in die Ebene des Denkens zu gelangen. Wahrnehmungen, die zugleich in eine entgegengesetzte Wahrnehmung ausschlagen, sind für Sokrates derartige ins Denken gleichsam hineinnötigende Wahrnehmungen 11. So ist beispielsweise 10 11

Vgl. 523a–b. Vgl. 523b–c, 524d.

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bei der Betrachtung der drei Endfinger einer Hand die Wahrnehmung der Größe des Ringfingers problematisch. Je nach Bezug erscheint er als groß oder klein. Die sich daraus möglicherweise ergebende Thematisierung von »groß« und »klein« als zweier Prädikate basiert bereits auf einem den Bereich der konkreten Wirklichkeit hinter sich lassenden Denkakt 12. 524d ff. führt Sokrates die Anwendung dieser Überlegungen auf die »Zahl und die Einheit«, die nach griechischem Verständnis selbst noch keine Zahl ist, durch. Die Wahrnehmung der Einheit ist eine die Vernunft herbeirufende Wahrnehmung. In der konkreten Sinnenwelt kommen niemals reine Einheiten vor, sondern was konkret eins ist lässt sich immer auch in anderer Hinsicht als Vielheit betrachten (vgl. 525a). Die problematische Wahrnehmung der Einheit scheint daher den Betrachter in die Ebene des Denkens zu nötigen, indem er sich die Frage stellt, was eigentlich das Eine rein für sich ist (vgl. 524e). Da die Einheit die Zahl erzeugt, kommen Sokrates und Glaukon zu dem Ergebnis, dass Zählen und Rechnen in der Tat eine »Hinleitung zum Wesen« (vgl. 524e) sind und sich zeigen als »leitend zur Wahrheit« (525b). Die Arithmetik erweist sich so als eine erste gesuchte Disziplin, denn der reine Gebrauch der Rechenkunst führt die Seele nach oben und »nötigt« sie, »sich mit den Zahlen selbst zu beschäftigen« (peri autôn tôn arithmôn anankazein dialegesthai) (525d) 13. Die Zahlen, die der Arithmetiker intendiert, sind gedachte Zahlen. Wer in den Bereich dieser idealen Gebilde kommen und mit ihnen operieren will, der muss denken (vgl. 526a). Er muss einen Denkakt unternehmen, mit dem er sich von der sinnenfälligen Wirklichkeit distanziert, denn reine Zahlen sind in der sinnenfälligen Wirklichkeit nirgends zu finden. Angesichts der Vorrangstellung der Geometrie innerhalb der altgriechischen Mathematik ist es kein Wunder, dass nach der Arithmetik nun die Geometrie ins Visier der Untersuchung gerät, die nach den vorbereitenden höheren Studien für die designierten PhilosophenherrVgl. 523c ff., bes. 523e, 524c. Vgl. Szaif 1996, 125 f. Vgl. ferner 184 zur Verdeutlichung, dass die Passage keine Einschränkung der Überlegungen auf Kontraria impliziert. 13 Diese Zahlen-Dialektik scheint von unserer heutigen Mathematik verschieden zu sein. Ein Hinweis darauf ist die in unmittelbarem Anschluss thematisierte Nichtzulassung der Teilung der Einheit aus rein begrifflichen Gründen durch die griechischen Mathematiker. Wäre die Einheit geteilt, dann wäre sie nicht mehr eins (vgl. 525d–e). Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Dialektik des 2. Teils des Parmenides. 12

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scher fragt 14. Sokrates unterstreicht dabei ihren propädeutischen Charakter. Aufgabe der Geometrie ebenso wie der anderen propädeutischen Studien ist es, »zu machen, dass die Idee des Guten leichter gesehen werde« (526e). Dies geschieht gemäß dem »Zug«-Kriterium dann, wenn die Geometrie »nötigt«, das Sein und nicht das Werden anzuschauen (ebd.). Diese Bedingung scheint auf die Geometrie aber wie zugeschnitten zu sein. Denn trotz der Formulierungen der Geometer, die aus dem lebenspraktischen Umkreis kommen, handelt es sich bei ihr um eine rein theoretische Disziplin (vgl. 527a–b); und in der Konsequenz davon sind es theoretische Gegenstände von dauerhaftem Bestand, die sie betrachtet. So kommt es zu ihrer Bestimmung als »Kenntnis des immer Seienden« (527b). Das, was hier »immer« ist, geometrische Gegenstände und Verhältnisse an ihnen, wird in einer idealisierenden Einstellung erfasst 15. Aber der Eindruck des »ImmerSeins«, d. h. des dauerhaft Beständigen wird zuvor schon unterstützt durch die sinnlichen Realisierungen dieser idealen Gebilde, die von einem relativen Bestand sind und nicht gleich wieder verschwinden, etwa eine hingezeichnete Linie. Derartige Überlegungen zur Einstellung des Geometers und zum Seinsstatus seiner Gegenstände waren von Sokrates und seinen Gesprächspartnern zuvor schon im Rahmen der Erörterung des so genannten Liniengleichnisses (509d–511e) angestellt worden. Auf sie und dieses Gleichnis insgesamt gilt es nun zurückzukommen, um noch grundsätzlicher Klarheit über den leitenden Rationalitätsansatz der Politeia zu gewinnen. Insbesondere die Frage nach dem Seinsstatus und Bildungswert des der Mathematik zugeordneten 3. Linienabschnitts wird hier virulent. Denn es ist die Beschäftigung mit der diesem Abschnitt zugeordneten Wirklichkeit, die zunächst die zu bildenden Höhlenmenschen nach oben ans Licht bringen soll. Wir unterbrechen daher an dieser Stelle unseren Durchgang durch die propädeutischen Fächer, um ihn nach der Besprechung des Liniengleichnisses wieder aufzunehmen 16. Die bereits angesprochene Unterscheidung zwischen dem Gebiet des Sichtbaren und dem Gebiet des Denkbaren bildet die unmittelbare VorVgl. 526c–527c. Vgl. Mittelstraß 1997, 240–242. 16 Zur Interpretation des Liniengleichnisses insgesamt vgl. Wieland 1982, 201–218, Annas 1981, 247–252 u. 276–293, Mittelstraß 1997, 236 ff. 14 15

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bereitung auf die Einführung des Liniengleichnisses (509d). Die Konstruktionsvorschrift, die Sokrates angibt, setzt eine Primärteilung einer Linie in zwei ungleiche Teile voraus, welche für den Bereich des Sensiblen und den Bereich des Intelligiblen stehen, und fordert, diese beiden Teile noch einmal zu teilen, und zwar in dem gleichen Verhältnis, in dem die Primärteilung vorgenommen wurde (ebd.). Es ist darauf hingewiesen worden, dass die – übrigens auf unzählige Art und Weise mögliche – korrekte Ausführung dieser Konstruktionsvorschrift bereits diejenige mathematische Einstellung voraussetzt und exemplifiziert, die im 3. Linienabschnitt beschrieben wird 17. Insbesondere ist es nur in dieser mathematischen Einstellung möglich, etwas sicher einzusehen, was sich bei verschiedenen Versuchen, diese Konstruktion hinzuzeichnen, sehr schnell vermutungsweise nahe legt. Denn aus dieser Konstruktionsvorschrift ergibt sich zwingend die Koextensivität des 2. und 3. Linienabschnittes. Auch wenn keiner der Gesprächspartner auf den sich ergebenden Sachverhalt der Koextensivität des 2. und 3. Linienabschnitts hinweist, ist man doch berechtigt, hier mit Wolfgang Wieland eine Form der indirekten Mitteilung Platons zu sehen, über deren Bedeutung nachzudenken, es wert ist 18. Aus der Sicht des Mathematikers jedenfalls ist die Bemerkung der Koextensivität des 2. und 3. Linienabschnitts das Interessanteste, was sich zu dieser Konstruktionsvorschrift sagen lässt. Die Charakterisierung der beiden Linienabschnitte im Bereich des Sensiblen erfolgt über die Angabe der zugehörigen Objekte. Sokrates nennt Bilder (eikones 509e) als die für den ersten, »untersten« (vgl. 511e) Linienabschnitt charakteristischen Objekte. Gemeint sind damit – wie aus der anschließenden Erläuterung von Sokrates hervorgeht (vgl. 510a) – etwa Schattenbilder und Spiegelbilder, seien es Spiegelbilder im Wasser oder auf spiegelglatten Flächen. Die Objekte des 1. Linienabschnitts verweisen bereits auf die Objekte, die den 2. Linienabschnitt konstituieren. Spiegelbilder sind immer Spiegelbilder von etwas, das sich in diesen Bildern spiegelt. So kann Sokrates kurz die Objekte des 2. Linienabschnitts als »das, dem diese gleichen« (510a) angeben. In der Erläuterung dazu nennt er die Tiere, den gesamten Pflanzenbereich und alles künstlich Hergestellte. Es ist die konkrete Welt der Dinge zum Anfassen, die mit diesem 2. Linienabschnitt ge17 18

Vgl. Wieland 1982, 201 f. Vgl. Wieland 1982, 203.

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meint ist. Im Vergleich zu ihren Schatten- oder Spiegelbildern sind diese konkreten Dinge wahrer und klarer 19. Sie sind die Urbilder für die Objekte des 1. Linienabschnitts, die in Bezug auf sie nur (nachbildende) Abbilder sind. Die Relation Abbild-Urbild, mit der bereits eine ontologische und erkenntnistheoretische Bewertung mitgegeben ist, in der Weise, dass das Urbild deutlicher und wahrer als sein Abbild ist, findet innerhalb des Liniengleichnisses eine iterierte Anwendung 20. Dadurch kommt es, dass das, was in der einen Hinsicht ein Urbild ist, in der anderen Hinsicht zu einem Bild bzw. Abbild werden kann. Und dies betrifft vor allem die Objekte des 2. Linienabschnitts, also die konkreten Dinge. Diese ursprünglichen Urbilder und Originale können nämlich in der mathematischen Einstellung, die durch den 3. Linienabschnitt repräsentiert wird, dadurch Verwendung finden, dass sie als Bilder für etwas betrachtet werden, dem sie selbst nur unvollkommen gleichen: die idealen mathematischen Gegenstände. Was zunächst Urbild ist wird so in anderer Einstellung zum Abbild. Ein Vorgang, der bei der Diskussion des Liniengleichnisses immer wieder Erwähnung findet 21. Die im Liniengleichnis gleichsam inkorporierte dominierende Sichtweise auf die Objekte des 2. Linienabschnitts als mögliche Bilder für die Objekte des 3. Linienabschnitts erregt im Kontext der Politeia kein Aufsehen. Sie kann aber im Zuge unserer Untersuchung zum Anstoß werden, wenn man bedenkt, dass eine derartige Sichtweise die Objekte des 2. Linienabschnitts in ihrem Eigenwert nicht voll zur Entfaltung kommen lässt. Die von uns vermutete Modifikation in Platons Rationalitätsverständnis könnte dann auch etwas mit einer Neubewertung jener konkreten Dinge zu tun haben, die Platon im Liniengleichnis dem 2. Linienabschnitt zuordnet. Im Gegensatz zum Abschnitt des Sensiblen erfolgt die Charakterisierung der beiden Linienabschnitte im Bereich des Denkbaren zunächst nicht über Objekte, sondern über verschiedene Tätigkeitsarten der Seele 22. Es ist eine äußerst gedrängte Charakterisierung des matheVgl. 510a, 511a, 511e. Vgl. Annas 1981, 248–250, die die hervorstechende Rolle dieser Relation besonders betont. 21 Vgl. 510b, 510e, 511a. 22 Zum Problem des Objektstatus der Objekte des 3. Linienabschnitts, ob es sich hier gemäß Aristoteles Met. A 6, 987b 14 ff. um »Zwischenobjekte« handelt, die zwar ewig sind, aber zugleich viele, oder auch um Ideen, wofür die Formulierung vom »Viereck selbst« (vgl. 510d) spricht, vgl. Cross und Woozley 1964, 233–238 und Annas 1981, 19 20

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matischen und dialektischen Vorgehens, die Sokrates 510b gibt. Die natürliche Reaktion Glaukons darauf, der sein Nichtverstehen bekundet, gibt Sokrates dann die Gelegenheit, diese Kürzestcharakteristik ausführlicher zu erläutern. In dem einen Teil des Intelligiblen, heißt es, muss die Seele suchen, indem sie das damals Nachgeahmte wie Bilder gebraucht, suchen aus Hypothesen heraus, indem sie nicht »zum Anfang« schreitet, sondern »nach dem Ende hin«. In dem anderen Teil des Intelligiblen hingegen geht sie zu dem »nichthypothetischen Anfang« hin, auch aus einer Hypothese heraus, aber ohne die zuvor angewendeten Bilder, sondern nur mithilfe der »Ideen selbst« (vgl. 510b). Es sind hier zwei Unterscheidungsgegensätze formuliert, durch die der 3. und der 4. Linienabschnitt klar voneinander abgegrenzt werden. Einmal der Gegensatz »End- bzw. Konsequenzenorientiertheit vs. Anfangs- bzw. Prinzipienorientiertheit«, zum anderen der Gegensatz »Gebrauch von sinnlichen Bildern vs. Verzicht auf sinnliche Bilder«. In der schon erwähnten, unmittelbar anschließenden ausführlicheren Erläuterung dieser Kurzcharakteristik greift Sokrates zunächst diese beiden Gegensatzpaare einzeln auf mit dem Ziel, die dem 3. Linienabschnitt entsprechende Bewusstseinseinstellung hinreichend zu charakterisieren. Es ergibt sich so ein Blick auf das, was der Mathematiker macht, von einem außermathematischen Standpunkt aus. In der Sprache des Liniengleichnisses wäre dieser Standpunkt dem 4. Linienabschnitt zuzuordnen 23. Die mangelnde »Anfangsorientiertheit« des Mathematikers zeigt sich nach Sokrates darin, dass die Mathematiker über die Hypothesen, die sie machen, keine Rechenschaft glauben ablegen zu müssen. Für sie sind diese Hypothesen vollkommen einsichtig und sie konzentrieren sich darauf, auf der festen Grundlage dieser Hypothesen zu neuen Ergebnissen zu kommen, die sich als Konsequenzen aus diesen Hypothesen ergeben (vgl. 510c–d). Die philosophische Kehrseite des Evidenzverhältnisses, in dem der Mathematiker gegenüber seinen Hypothesen steht, ist daher das Rechenschaftsdefizit, das er in Bezug auf seine Hypothesen hat 24. Es ist ein prinzipielles Rechenschaftsdefizit, auf das Pla-

251 f. Wieland 1982, 212 richtet sich gegen die Annahme eigenständiger mathematischer Gegenstände im Blick auf ihre unerlässliche Verklammerung mit dem Bereich des Sensiblen. 23 Vgl. Mittelstraß 1997, 245 f. 24 Vgl. Wieland 1982, 214.

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ton hier hinweist, das in der Struktur der Mathematik liegt und der Mathematiker als Mathematiker gar nicht beheben kann. Freilich könnte man auf die Idee kommen, dass es die modernen grundlagenmathematischen Versuche, wie sie beispielsweise in Russells und Whiteheads berühmten »Principia Mathematica« vorliegen, vielleicht doch geschafft haben, dem Begründungsdefizit der Mathematik innermathematisch Herr zu werden. Aber zum einen gibt die Vorstellung eines Ableitungssystems, in dem die bisher für grundlegend gehaltenen Sätze durch noch grundlegendere Sätze begründet werden, Gelegenheit auf den Status der Hypothesen im 3. Abschnitt des Liniengleichnisses hinzuweisen. Sokrates nennt »das Gerade und Ungerade und die Gestalten und die drei Arten der Winkel« (510c). Es geht hier also nicht um mathematische Sätze, sondern um mathematische Objekte und wesentliche Eigenschaften von ihnen 25. Ein Rechenschaftgeben (logon didonai) von diesen mathematischen Objekten kann im Sinne einer Wesenserklärung gedeutet werden 26, die den begrifflichen Hintergrund dieser mathematischen Objekte sichtbar macht, der selber nicht mehr in den Bereich des Mathematikers, auch nicht des Grundlagenmathematikers fällt. Wir können aber das hier gemeinte »Rechenschaftgeben« in einem noch weiteren Sinne deuten, wenn wir bedenken, dass das, was Platon an unserer Stelle (510c–511a) gerade macht, ein konkretes Beispiel für dieses nur aus der Sicht des Dialektikers mögliche Rechenschaftgeben über die Mathematik ist. Das, was Platon hier macht, ist eine Beschreibung der mathematischen Einstellung, die den Zugang zur mathematischen Welt eröffnet, und die Einordnung der mathematischen Einstellung und der mathematischen Objekte in die umfassende, sie umgreifende Vollrealität. In diesem Punkt hat der Vgl. Wieland 1982, 209, Mittelstraß 1997, 239. Stemmer 1992, 202 glaubt im Widerspruch zum Wortlaut des Textes, dass die mathematischen Hypothesen im Liniengleichnis Sätze sind. Seine Interpretation der mathematischen Hypothesen als Definitionen, »die sich nicht auf die Untersuchungsgegenstände beziehen, sondern auf die Begriffe, durch die die Untersuchungsgegenstände charakterisiert werden« (205), entspricht auch nicht der konkreten Praxis des Mathematikers. Wenn es etwa heißt: Gegeben sei ein rechtwinkliges Dreieck, dann ist der Untersuchungsgegenstand ebenso in die hypothetische Setzung miteinbezogen wie der charakterisierende Begriff. – Zur Vereinbarkeit des Hypothesenbegriffs im Liniengleichnis mit dem im Phaidon 100a ff. geschilderten hypothetischen Verfahren kann man mit Mittelstraß 1997, 242 einen »offenen Hypothesenbegriff«, der auch Sätze einschließt, bei Platon annehmen. Vgl. auch Wieland 1982, 217 Anm. 44 sowie Szaif 1996, 258. 26 Vgl. Mittelstraß 1997, 239. 25

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Grundlagenmathematiker keine Ambitionen mehr. Das sind Dinge, die auch der modernste Grundlagenmathematiker hinter sich lässt, wenn er seine Arbeit beginnt. Was dem aktuell Mathematik Treibenden fehlt, ist das Bewusstsein darüber, wie sein Tun und seine Gegenstände in die Gesamtwirklichkeit einzuordnen sind. Solange er Mathematik treibt, ist er in unvermeidlicher Weise blind gegenüber dieser Gesamtwirklichkeit. Dass in Wahrheit komplexere Verhältnisse vorherrschen als es dem Mathematiker bewusst ist, wenn er Mathematik treibt, verdeutlicht Sokrates 510d–511a, wo er den sich aus der Kurzcharakteristik ergebenden zweiten Abgrenzungspunkt des Gebrauchs von sinnlichen Bildern näher ausführt. Im Zusammenhang unserer Darstellung des Propädeutikfachs Geometrie war dies bereits angeklungen. Der Mathematiker bedient sich nach Sokrates der sinnenfälligen Realität, hat dabei aber etwas anderes im Auge als diese sinnenfällige Realität. Es geht ihm nicht um die »sichtbaren Gestalten« (510d), sondern um das mit ihnen Gemeinte. Es geht nicht um das hingezeichnete Viereck, sondern um das mit diesem hingezeichneten Viereck Gemeinte: Das Viereck selbst (vgl. ebd.). Dieses »Viereck selbst« kann er strenggenommen gar nicht zeichnen, sondern er muss hier an das »Verständnis« (dianoia 511a) seiner Zuhörer appellieren. Die sinnenfällige Realität wird vom Mathematiker also benutzt wie ein Bild für etwas, was sie selber nicht mehr ist und was sich nur der Wissensstufe der Dianoia, die dem 3. Linienabschnitt zugeordnet ist (vgl. 511e), erschließt. Der Mathematiker ist somit einerseits notwendig auf die sinnenfällige Realität bezogen, um seine Arbeit zu tun. Das, was er in dieser Arbeit anvisiert, ist aber selber nicht mehr sinnenfällige Realität, sondern ist in einem idealen, intelligiblen Bereich angesiedelt. Dieser Durchbruch zur Idealität und Intelligibilität ist es, der an unserer Stelle und im Kontext des Liniengleichnisses im Vordergrund steht, denn einzig der Umgang mit idealen Gebilden führt gemäß dem Standpunkt der Politeia »nach oben ans Licht«. Dennoch wird die Verklammerung des Bereichs des mathematisch Intelligiblen mit dem Bereich des konkret Sensiblen nicht unterschlagen. Der Mathematiker ist auf beide Bereiche, wenn auch in unterschiedlicher Weise, bezogen, wenn er das konkret Sensible unter der intelligiblen mathematischen Hypothese betrachtet 27. Diese ganz richtig aufgezeigte Verklammerung des Sensi27

Vgl. Wieland 1982, 212.

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blen und Intelligiblen in der mathematischen Einstellung birgt jedoch die Gefahr, das Sensible ausschließlich in dieser mathematischen Einstellung zu betrachten, in der es eine zwar notwendige, aber eben doch nur untergeordnete und gleichsam verschwindende Stellung einnimmt. Vom Standpunkt des Liniengleichnisses scheint das konkret Sensible darin aufzugehen, als mögliches Material für die mathematische Hypothesenbildung zu dienen. Zwar ist die Möglichkeit der Mathematisierbarkeit des konkret Sinnlichen jederzeit gegeben, worauf auch die erwähnte Koextensivität des 2. und 3. Linienabschnitts hindeuten könnte, aber die konkreten Dinge gehen nicht darin auf, lediglich Material für eine mathematische Hypothesenbildung zu bieten, die ihrerseits in die totale Idealität führen soll 28. Der Bereich des sinnlich Konkreten und des Mathematischen lassen sich auch auf andere Weise zusammenbringen. So lässt sich das sinnlich Konkrete in seiner Bewegtheit betrachten, die ihrerseits einer mathematischen Gesetzmäßigkeit folgt. Bei einer solchen Betrachtungsweise des sinnlich Konkreten in seiner kinetischen Mathematizität verschwände das sinnlich Konkrete nicht hinter dem ideal Mathematischen, sondern bliebe für sich bestehen. Es wäre daher gerechtfertigt, die einer solchen Betrachtungsweise zugeordnete Wissensstufe, bei der die Verhältnisse zwischen dem 2. und 3. Linienabschnitt gewissermaßen umgekehrt sind, mit dem Ausdruck zu benennen, den Platon am Ende des Liniengleichnisses für den 2. Linienabschnitt reserviert: Pistis ist die Bewusstseinseinstellung, die im Liniengleichnis dem Gegenstandsbereich der konkreten Dinge entspricht (511e). Neben Pistis und Dianoia werden dort noch die Eikasia als die dem Bereich der Spiegel-Bilder zugeordnete Einstellung und die das rein Intelligible erfassende Noesis genannt. 511b f. beschreibt Sokrates den anderen Abschnitt des Intelligiblen, indem er das in der Kurzcharakteristik Gesagte zu einer etwas ausführlicheren Skizze des »dialektischen« Vorgehens entfaltet. Diese Skizze macht die Hauptorientierungen und die grundsätzliche Art des dialektischen Vorgehens deutlich, sie lässt aber offen, wie sich das dia-

Trotz der prinzipiell immer gegebenen Möglichkeit der Mathematisierbarkeit des konkret Sinnlichen ist es doch faktisch immer nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus der Welt der konkreten Dinge, der für die mathematische Veranschaulichung herhalten kann. Kreide und Tafel, Figuren im Sand, gedrechselte Holzkugeln u. dgl. machen einen Minimalbereich der Gegenstände, die dem 2. Linienabschnitt zugeordnet sind, aus.

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lektische Vorgehen innerhalb dieser Grundvorgaben konkret zu vollziehen habe. Die Vagheit dieser Skizze lässt daher verschiedene Möglichkeiten der Rekonstruktion des konkret dialektischen Vorgehens zu 29. Gleichwohl geht aus ihr die Grundtendenz der Erkenntnisbewegung des Liniengleichnisses, die auf das Erreichen der vollen Intelligibilität aus ist, unmissverständlich hervor. Es wird gesagt, dass die Vernunft selbst (autos ho logos 511b) durch das dialektische Vermögen den anderen Teil des Denkbaren ergreift, indem sie Hypothesen macht, nicht als Prinzipien, sondern als wahrhafte Hypo-thesen, d. h. wie Antritte und Startbewegungen 30, damit sie bis zum nichthypothetischen Prinzip von allem kommt und es anfasst (vgl. ebd.). Der Aspekt der »Prinzipienorientiertheit« wird hier näher verdeutlicht. Für die Vernunft (logos) sind die Hypothesen nicht feste Prinzipien, sondern Anlass für eine prinzipielle Besinnung, die mithilfe des »dialektischen Vermögens« zum »nichthypothetischen Prinzip von allem« führt. Das »Anfassen« des »Prinzips von allem« – gemäß dem ganzen Kontext der Stelle muss hier die »Idee des Guten« gemeint sein – ist der Höhepunkt der dialektischen Erkenntnis, aber es ist noch nicht der Endpunkt. Denn die in einem einzigen Satz stattfindende Charakterisierung der Dialektik durch Sokrates ist noch nicht zu Ende. Es findet nun ein Orientierungswechsel statt. Nach Anfassen des Prinzips von allem, heißt es, steigt die Vernunft, indem sie sich an alles hält, was mit jenem Prinzip zusammenhängt, zum Ende herab. Dabei benutzt sie überhaupt nichts sinnlich Wahrnehmbares, sondern bedient sich nur der Ideen selbst und endet in den Ideen (vgl. 511b–c). Der zweite Aspekt des Verzichts auf den Gebrauch von sinnlichen Bildern, der für die dem 4. Linienabschnitt zugeordnete Seelentätigkeit charakteristisch war, tritt hier in aller Deutlichkeit hervor. Die Vernunft durchdringt die Wirklichkeit vom ersten Prinzip her mit Ideen und »endet in Ideen«. Es ist eine totale Intelligibilität, die hier als Endpunkt der Bemühungen des Dialektikers in Aussicht gestellt wird. Damit zusammen hängt, dass wir innerhalb der Charakterisierung des dialektischen Vorgehens eine Orientierung finden, die zuvor ein ChaVgl. etwa Stemmer 1992, 191–225 und Szaif 1996, 249–260. Hier wird auf die wörtliche Bedeutung von hypothesis angespielt: hypothesis bedeutet soviel wie Unter-lage (von der man sich abstößt, um zu starten). Tatsächlich scheint im Hintergrund dieser Skizze das Bild eines Läufers im Stadion zu stehen. Die hypothesis wäre dann der »Startblock«, von dem sich der Läufer abstößt, um in seinen Lauf zu kommen. Vgl. Aristoteles EN I 2, 1095a 32- b 1.

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rakteristikum der mathematischen Einstellung war: Die Orientierung hin auf das Ende. Offenbar herrscht bei dieser Charakterisierung die Vorstellung vor, dass der Dialektiker nach Ergreifen des ersten Prinzips auf Gegenstände in rein intelligibler Weise zurückkommen kann, die sich zuvor in der Einstellung des Mathematikers nicht rein intelligibel erfassen ließen. Darauf deutet auch eine Äußerung Glaukons in seiner Rekapitulation des Unterschieds zwischen Dialektik und den mathematischen Wissenschaften hin, der Sokrates insgesamt zustimmt. »Weil sie (sc. die Mathematiker) aber ihre Betrachtung nicht so anstellen, dass sie bis an den Anfang zurückgehen, sondern nur von den Annahmen aus, so scheinen sie dir keine Vernunfterkenntnis (noun) davon zu haben, obgleich, ginge man vom Anfange aus, sie ebenfalls erkennbar wären« (511d). Ein solches von aller Sinnlichkeit gereinigtes Zurückkommen auf die mathematischen Objekte in rein intelligibler Weise stellt kein Stück Mathematik mehr dar 31. Hier wird die reine Idealität erreicht, auf die der Umgang mit den residual noch in der Sinnlichkeit verhafteten idealen mathematischen Gebilden vorbereiten sollte. Wir hatten immer wieder betont, dass es in der Politeia einzig der Umgang mit diesen teilweise oder rein idealen Gebilden ist, dem Platon zutraut, »nach oben ans Licht« zu führen und so die richtige und optimale Orientierung gegenüber der Gesamtwirklichkeit zu gewährleisten, die für das Amt des Philosophenherrschers nötig ist. Um die Linie der Kritik anzudeuten, die sich an dieser Erziehungskonzeption anbringen lässt und die Platon m. E. selbst gesehen und in den Nomoi auf sie reagiert hat, genügt es, diesen Umgang mit idealen Gebilden in der Weise zu bezeichnen, wie es seit Aristoteles möglich und üblich geworden ist. Es ist ein Umgang mit Abstraktionen, auf den Platon in der Politeia große Hoffnungen setzt. Der Umgang mit Abstraktionen ist zweifellos ein wichtiges Stück Erziehung zur Rationalität. Da jedoch, wo man einseitig und einzig auf ihn setzt, besteht die Gefahr, dass über dem ausschließlichen Umgang mit Abstraktionen und abstrakten Strukturen die Realität, von der abstrahiert wurde, nicht mehr in angemessener Weise zur Geltung kommt. Das ist umso wahrscheinlicher, wenn von

Vgl. 511a: Die Seele des Mathematiktreibenden ist »genötigt« (so schon 510b), so vorzugehen wie beschrieben. Sie kann nicht über die Voraussetzungen hinaus höher steigen.

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einer prinzipiellen Schwäche, die jeden Menschen betrifft, ausgegangen wird, wie dies die Nomoi im Gegensatz zur Politeia tun. Diese Gefahr des »Realitätsverlustes« zeigt sich im propädeutischen Programm der Politeia, in dessen Besprechung wir nun wieder eintreten, an der Behandlung der Astronomie besonders deutlich. Die Astronomie wird faktisch als 3. Lehre innerhalb des propädeutischen Kursus behandelt, obwohl sie systematisch gesehen die 4. Lehre ist. Denn auf die Flächenbetrachtung der Geometrie folgt nicht sofort die Betrachtung des Körpers in Bewegung, sondern genau genommen zuerst die Betrachtung des Körpers an und für sich. Da die für die Betrachtung der dreidimensionalen Körper zuständige Stereometrie jedoch noch keine ausgereifte Wissenschaft darstellt und erst noch durch ein staatliches Forschungsprogramm in den Stand einer ausgereiften Wissenschaft gebracht werden müsste, wird ihre Behandlung ausgelassen, so dass sich die Gesprächspartner 528e–530c der Astronomie zuwenden (vgl. 527d–528e). Auf den ersten Blick scheint die Astronomie den Grundsinn des propädeutischen Programms einmalig gut zu treffen, indem sie – wie Glaukon bemerkt – buchstäblich dazu nötigt, »nach oben zu sehen« (529a). Der konkrete Blick mit den Augen zum Himmel ist aber nach Sokrates nicht nur nicht gleichbedeutend mit der geistigen Orientierung der Seele nach oben, sondern bedeutet im Gegenteil eine Orientierung nach unten, da jede sinnliche Orientierung, insofern es vom Sinnlichen keine Wissenschaft geben kann, in Wahrheit eine Orientierung nach unten ist 32. Nur die Kenntnis »des Seienden und Unsichtbaren« (529b) macht die Seele nach oben schauen. Sokrates entwickelt so die Auffassung einer »Astronomie des Unsichtbaren« 33, die im Grunde nur eine weitere mathematische Disziplin darstellt. Denn die sichtbaren Himmelskörper, so schön sie sind, sind nicht der eigentliche Gegenstand dieser Astronomie. Die »wahre« Astronomie hat es mit den mathematischen Verhältnissen hinter den sinnlichen Erscheinungen zu tun, die nur die Vernunft, aber nicht das Gesicht einsehen kann (vgl. 529c–d). Das Sichtbare am Himmel hat lediglich den Status eines unvollkommenen Beispiels für die eigentlichen, unsichtbaren Verhältnisse, die man daran erlernt (vgl. 529d). Diese von Sokrates vertretene 32 33

Vgl. 529a–c. Vgl. auch Aristoteles Met. A 6, 987b 6 f. Mittelstraß 1997, 234.

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neue Astronomie-Auffassung, die dem Sichtbaren am Himmel im Grunde den gleichen Status gibt, wie ihn die sichtbaren Zeichnungen für den Geometer haben, gipfelt dann in der Aufforderung, »das, was […] am Himmel ist [zu] lassen« (530b–c). Das Sichtbare am Himmel wird so benutzt als Anlass für Idealisierungen, mit deren Hilfe die Seele »gereinigt« werden soll, um so fähig zu werden, die in der Idealität angesiedelte Wahrheit zu erfassen (vgl. 527d–e). Bei diesem Zugang geht allerdings der reale Eigenwert der sichtbaren Gegenstände am Himmel verloren. Im Vergleich zu ihrer Stellung in der Politeia nimmt die Astronomie im System der Wissenschaften der Nomoi einen anderen, wichtigeren Rang ein. Darauf hat G. Müller, der entschlossenste Vertreter eines Umbruchs im Denken Platons von der Politeia zu den Nomoi, deutlich hingewiesen 34. Während das Sichtbare am Himmel in der Politeia etwas Verschwindendes ist, das in eine ideale Sphäre hineinführen soll, die ihrerseits eine Vorbereitung auf die totale Intelligibiltät des nur noch mit reinen Ideen umgehenden Dialektikers ist, ist das Sichtbare am Himmel in den Nomoi etwas für sich bestehendes Reales, das in seiner Bewegung mathematischen Strukturen genügt, die Anlass zum Schluss auf eine göttliche Instanz geben, die dafür die Ursache ist. Es ist eine außerhalb der Logik des Liniengleichnisses liegende Betrachtungsweise, die in den Nomoi angewendet wird und die den konkret sinnlichen Dingen einen Stellenwert zubilligt, den sie zuvor nicht hatten. G. Müller hat in diesem Zusammenhang von »dem großen Szenenwechsel von der Ideensphäre zum göttlichen Kosmos« 35 gesprochen, aber er hat diesen Szenenwechsel für philosophisch irrelevant gehalten. Die Wertschätzung der konkreten Sinnenwelt und der in ihr liegenden Erkenntnismöglichkeiten kann aber auch Ausdruck der Einsicht in die Begrenztheit der Möglichkeiten eines rein abstrakt-begrifflichen Denkens sein, wenn es um die vernünftige Weltorientierung des Menschen geht. Der Zug zur Abstraktion und Intellektualisierung im Programm der philosophischen Vorbereitungsfächer 36 zeigt sich auch in der letzten Vorbereitungsdisziplin, auf die Sokrates zu sprechen kommt (vgl. 530c–531c). Die Harmonielehre wird hier im gleichen Sinn wie zuvor 34 35 36

Vgl. Müller 1968, 28 f. Vgl. auch Mittelstraß 1997, 235. Müller 1968, 71. Vgl. dazu auch Annas 1981, 272–276.

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schon die Astronomie und gemäß der Lehre der Pythagoreer, die Astronomie und Harmonik als »verschwisterte Wissenschaften« (530d) ansehen, als eine rein mathematische Harmonielehre konzipiert. Die Orientierung erfolgt dabei nicht über die wirklich gehörten Harmonien und Töne (vgl. 531a), sondern über »harmonische Zahlen« (531c), von denen das wirklich Gehörte allenfalls eine unvollkommene Veranschaulichung ist. Somit ist klar, dass sich Platon durch die Aufnahme der Harmonielehre in das propädeutische Programm nicht von der zu Beginn vorgenommenen Ausscheidung der Musik abkehrt. Denn die abstrakte Harmonik hat es als eine Spielart der Mathematik nicht eigentlich mit den gehörten Tönen und Liedern zu tun. Umso mehr sticht davon die Bedeutung der konkret gehörten und konkret getanzten Musik in den Chorreigen der Nomoi ab, deren Wirkungskreis sich ausnahmslos alle Bürger auszusetzen haben. Die Propädeutik, die auch noch die Bemühung um die Einsicht in die Zusammenhänge der einzelnen Studienfächer einschließen muss, wenn sie nicht unnütz sein soll 37, ist bereits ein »gar großes Werk« (531d). Aber sie ist – wie Sokrates Glaukon daraufhin eröffnet – nur das Vorspiel (prooimion 531d) zur Melodie (nomos ebd.), die eigentlich erlernt werden soll: die Dialektik. »Denn du meinst doch nicht, dass, die in diesen Dingen stark sind, schon Dialektiker sind?« (531e). Es ist der Unterschied zwischen dem 3. und dem 4. Linienabschnitt, der hier von Sokrates noch einmal affirmiert wird. Dabei verwendet er das musikalische Bildpaar vom Proömium und vom Nomos. Dieses Bildpaar wird hier allerdings in anderer Weise verwendet als in den Nomoi. Mit dem Proömienbereich sind in der Politeia die mathematischen Studien gemeint, auf die als eigentliche Melodie, d. h. als Nomos, die Dialektik folgt. Wollte man diese Verwendung mit der in den Nomoi in Beziehung setzen, so ergäbe sich für die Nomoi eine Zuordnung von Mathematik und Dialektik in den philosophisch einzig relevanten Proömienbereich, der aber außerdem noch anderes enthält, das zur Ausübung von rechter Rationalität nötig ist. Der Dialektiker wird zuerst und grundlegend dadurch charakterisiert, dass er die Fähigkeit besitzt, Rede stehen und annehmen zu können (vgl. 531e). Sokrates greift damit den entscheidenden Differenzpunkt zwischen dem Mathematiker und dem Dialektiker innerhalb des Li37

Vgl. 531c–d.

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niengleichnisses wieder auf. Anders als der Mathematiker hat der Dialektiker die Fähigkeit, Rechenschaft von den Hypothesen zu geben. Die Rechenschaft, die der Dialektiker gibt, zielt dabei »auf das selbst, was jedes ist« (532a), d. h. auf die »Erklärung des Seins und des Wesens eines jeden« (534b). Es ist die Fähigkeit zur Wesenserklärung oder auch Definition, die den Dialektiker auszeichnet. Diese Fähigkeit zur Definition soll sich im Streitgespräch bewähren können. Der Dialektiker muss seine Definitionen gegen Einwände verteidigen können, so dass er unwiderlegt durchkommt (vgl. 534b–c). An dieser Bestimmung wird deutlich, dass der platonische Dialektikbegriff sich vor dem Hintergrund der sokratischen Elenktik, wie sie sich in den Frühdialogen zeigt, entwickelt hat 38. Aber platonische Dialektik und sokratische Elenktik sind nicht identisch. Denn Platon geht davon aus, dass der Dialektiker zu wahren und daher nicht nur provisorisch haltbaren Ergebnissen kommen kann 39. Der Anspruch des Dialektikers auf Wissen im vollen, unabgeschwächten Sinne zeigt sich im Vergleich mit den mathematischen Wissenschaften, der »Messkunde und was mit ihr zusammenhängt« (533b–c). Diese »träumen« (533c) von dem Seienden, solange sie Hypothesen verwenden und diese unbeweglich lassen, indem sie keine Rechenschaft von ihnen geben (vgl. ebd.). Da sie also kein Wissen über ihre eigenen Grundlagen haben, muss ihnen der Name einer Wissenschaft (epistêmê), den sie gewohnheitsmäßig tragen, abgesprochen werden (vgl. 533c–d). Stattdessen erhalten sie – wie schon im Liniengleichnis – den Namen Dianoia, der eine kognitive Stufe zwischen Meinung und Wissen bezeichnen soll (vgl. 533d). Die hier zur Konturierung des Unterschiedes zwischen Mathematik und Dialektik verwendeten Metaphern des Träumens und Wachens (vgl. 533c) vermögen unser Verständnis der mit der Dialektik unabdingbar verbundenen Fähigkeit zur Rechenschaftgabe, die sich in Definitionen zeigt, zu erweitern. Denn die Fähigkeit zur Rechenschaftgabe basiert auf einer hellwachen Erfassung der Vollrealität. Der Dialektiker hat die Gesamtwirklichkeit im Blick und kann Entitäten in dieVgl. auch 534d. Stemmer 1992, 152–273 sieht in der platonischen Dialektik lediglich eine Entfaltung der sokratischen Elenktik, die nur zu widerlegungsresistenten, aber nie zu wahren Sätzen führen kann. Diese skeptische Deutung steht in klarem Widerspruch zum Anspruch auf Wissen (epistêmê), ja höchstes Wissen, den Platon mit der dialektischen Wissensform erhebt.

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se Gesamtwirklichkeit einordnen. Der wache und in keiner Hinsicht beschränkte Blick auf die Realität ermöglicht es dem Dialektiker, »die Hypothesen aufzuheben« (vgl. 533c), indem er diese mit der Gesamtwirklichkeit, in der sie eingebettet sind, in Verbindung bringt. Die Idee des Guten stellt in der Politeia den letzten Bezugspunkt dieser Gesamtwirklichkeit für den Dialektiker dar. Der Anspruch auf Erkenntnis der Vollrealität durch den Dialektiker wird von Platon auch noch auf andere Weise verdeutlicht. Nach der leicht variierten Wiederholung der verschiedenen Wissensstufen aus dem Liniengleichnis, bei der die Termini Noesis und Episteme ihre Stellen tauschen (534a) 40, werden Verhältnisbeziehungen zwischen diesen Wissensstufen aufgestellt, in denen eine neue Betrachtungsweise zum Vorschein kommt: Wie Erkenntnis zu Meinung, so Episteme zu Pistis und Dianoia zu Eikasia (534a). An der aufgestellten Verhältnisbeziehung lässt sich eine andere Paarbildung beobachten, als sie bei der Betrachtung des Liniengleichnisses bisher üblich war. Bisher nämlich lag die Konzentration auf dem rein intelligiblen bzw. rein sensiblen Paar. Jetzt werden gemischte Paare, die oberen und unteren Zustände des intelligiblen und sensiblen Abschnitts, betrachtet. Dabei vermögen die sensiblen Zustände Aspekte der jeweils zugeordneten intelligiblen Zustände zu erhellen. Während die Zusammennahme von Dianoia und Eikasia das ontologisch Defizitäre der Dianoia besser deutlich macht, unterstreicht im Gegenzug die Zusammennahme von Episteme und Pistis den Anspruch der Episteme auf Vollerfassung der Realität. Denn die Pistis hat es mit der konkreten Realität zu tun. Von daher ließe sich das Ziel der dialektischen Episteme im Erreichen einer »intelligiblen« Konkretion sehen, die die Abstraktion der Dianoia überwunden hat. Es ist die Frage, ob die Anforderungen an den Dialektiker in der Politeia alle miteinander verträglich sind. Insbesondere stellt sich die Frage, ob die Forderung der strikten Intelligibilität seines Vorgehens als eines Vorgehens »im reinen Begriff« mit der Forderung der »Wachheit« für die Gesamtwirklichkeit zusammengehen kann. Der Umgang mit rei-

Vgl. 533e–534a. Im Gegensatz zur Zählung der den Linienabschnitten zugeordneten Wissensstufen in der Reihenfolge ihrer Einführung, die in der Sekundärliteratur üblicherweise verwendet wird, zählt Platon hier wie auch schon 511e die der vertikalen Linie zugeordneten Wissensstufen in der Reihenfolge ihrer Wertigkeit. Das, was wir kurz den 3. Linienabschnitt nennen, ist in dieser Zählung der 2. Linienabschnitt.

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nen Begriffen und Abstraktionen könnte, wenn er nicht durch andere Weisen, die Wirklichkeit zu erschließen, ergänzt wird, gerade zu einer Trübung des Blicks auf die Gesamtwirklichkeit führen. Es ist aber der ungetrübte Blick auf die Gesamtwirklichkeit, die den Dialektiker zur »Zusammenschau« befähigt, die ihn auszeichnet (vgl. 537c). Das Wissen um übergreifende Zusammenhänge drückt sich zwar in einer Verbindung von Begriffen aus. Aber das heißt nicht, dass die Einsicht in die Wahrheit dieser Verbindung und zuvor schon die Aufstellung einer solchen Verbindung nur auf rein begrifflichem Wege zu erzielen ist. Die strikt logisch-begriffliche Betrachtungsweise des Dialektikers, auf die er durch den Umgang mit mathematischen Abstraktionen vorbereitet werden soll, wirft daher die Frage auf, ob diese Betrachtungsweise nicht defizitär ist, wenn es darum geht, eine komplett vernünftige Weltorientierung des Menschen, die alle in Frage kommenden relevanten Wahrheiten ins Visier nimmt, zu gewährleisten. Eine solche Frage wird in der Politeia nicht gestellt, weil hier die Möglichkeiten des obersten, rein intellektuellen Seelenteils, des logistikon, im Hinblick auf eine Kompletterfassung der Wirklichkeit positiv beurteilt werden 41. In Platon muss aber in der Zeit nach Abfassung der Politeia die Einsicht in die Notwendigkeit einer gleichsam vorlogischen Offenheit zur Welt gereift sein, die zur vernünftigen Erfassung der Vollrealität alle Seelenvermögen des leibhaftigen Menschen einbeziehen muss. Vernünftigkeit geht dann nicht mehr in strikter Intellektualität auf, sondern enthält als weitere und ergänzende Momente noch Emotionalität und Spiritualität. Das gilt jedenfalls für die Nomoi, wie wir jetzt in Fortsetzung unserer Analysen zu diesem Werk zeigen wollen.

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Vgl. 439d.

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Kapitel 6: Emotionalität und Spiritualität in den Nomoi

Die geschichtlichen Betrachtungen des III. Buches der Nomoi über den Ursprung der staatlichen Verfassung 1 führen 682e ff. an den Punkt des Auftretens der dorischen Staaten Sparta, Argos und Messene. Es ist der Spartaner Megillos, der bei diesem Gesprächsthema für längere Zeit und wie sonst nie mehr im Dialog die Rolle des Antwortenden in Bezug auf die Geschicke seiner Vorfahren übernimmt (682e–687e). Er sieht sich der Frage ausgesetzt, wie es zum Untergang von Argos und Messene und damit zum Untergang der dorischen Liga hat kommen können, deren Bestand eine unwiderstehliche Kriegsmacht und einen ausreichenden Schutz für ganz Griechenland bedeutet hätte 2. Die Frage nach den Ursachen des Untergangs der dorischen Liga führt aus dem Munde des Megillos zu einer Neuvergewisserung des Zielpunkts, den der Staat, aber auch jeder einzelne im Auge haben muss: »dass er Vernunft (noun) hat« (687e). Der Athener entdeckt an dieser Stelle eine Vereinigung der geschichtlichen Analysen des III. Buches mit den systematischen Analysen des I. Buches 3: »Ja, und dass insbesondere auch ein staatsmännischer Gesetzgeber bei seinen gesetzlichen Anordnungen stets darauf seinen Blick richten muss, das ist mir eben wieder eingefallen, und auch euch erinnere ich daran, wenn wir das anfangs Gesagte noch im Gedächtnis haben: eure Forderung war die, der gute Gesetzgeber solle alle gesetzlichen Einrichtungen um des Krieges willen treffen, ich aber meinerseits hatte behauptet, das hieße verlangen, dass die Gesetze mit Blick auf nur eine einzige Tugend aufgestellt würden, während es doch vier gebe; man müsse sie vielmehr in ihrer

Vgl. 676a. Vgl. 685a–686b. 3 Zuvor schon, 682e, hatte der Athener auf eine »wie durch eines Gottes Fügung« wiedererlangte Verbindung zum I. Buch bezüglich der ab 637b verlassenen Prüfung der dorischen Gesetzgebung hingewiesen. Vgl. Schöpsdau 1994, 349 u. 380. 1 2

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Gesamtheit ins Auge fassen, vor allem aber und an erster Stelle die Führerin der gesamten Tugend; das sei aber die Einsicht und die Vernunft und die Meinung, verbunden mit der Neigung und der Begierde (meth erôtos te kai epithymias), die sich diesen fügt. So ist denn unser Gespräch wieder zur selben Stelle zurückgekehrt […]« (688a–b). Die Rekapitulation der Anfangskontroverse aus Buch I hat hier zugleich die Funktion, eine erste Ankündigung der neuen Perspektive zu geben, unter der der Nous-Begriff als der für die Orientierung an der Gesamttugend leitende Begriff jetzt betrachtet werden soll. Denn bei der Charakterisierung der »Führerin der gesamten Tugend« ist nicht nur von den intellektuellen Spitzenvermögen Phronesis und Nous die Rede; vielmehr werden auch Meinung (doxa), Neigung (erôs) und Begierde (epithymia) genannt 4. Was dieses sich in diesen Formulierungen ankündigende Abgehen von der intellektuellen Reinheit zu bedeuten hat, macht der Athener im Anschluss klar, in dem die Bedeutung des ganzen, emotionalen Menschen für die rationale Weltausrichtung in den Blick genommen wird 5. Der Athener erwartet, dass sich dies sicher am geschichtlichen Beispiel zeigen wird, dass für den Untergang der dorischen Könige und Staaten nicht Feigheit und nicht mangelndes Kriegshandwerkswissen, also kein Defekt der isoliert für sich genommenen Tugend der Tapferkeit, verantwortlich war, sondern »die ganze sonstige Schlechtigkeit« 6 und besonders ihre »Unwissenheit in den wichtigsten menschlichen Fragen« (688c). Es ist eine aus der Geschichte entnommene allgemeingültige Lehre, die sich der Athener anschickt, seinen Gesprächspartnern als seinen »Freunden« 7 (688d) zu entwickeln. Ihr politisch-verfassungstheoretischer Kern, die Lehre von der »mittleren«, gemäßigten Verfassung 8, hat uns bereits in Kapitel 3 beschäftigt. Für unseren jetzigen Zusammenhang ist der Anfang seiner Entwicklungen, in dem er auf besagte »Unwissenheit« genau eingeht, von ganz besonderer Bedeutung. Als Ursache für den Untergang der dorischen Macht sieht der Athener »die größte Unwissenheit« (tên megistên amathian 688e) an. Vgl. 688b. Zum Folgenden vgl. auch Picht 1990, 275 ff. 6 Wörtliche Übersetzung gemäß Schöpsdau 1994, 75. 7 Die Formulierung führt das Motiv der bereits in Kapitel 2 vermerkten performativen Konterkarierung der »Kriegsthese« weiter. Vgl. auch 689d. 8 Vgl. 691d–693d. 4 5

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Auf die sich selbst vorgelegte und von Kleinias mitübernommene Frage, was diese größte Unwissenheit ist, gibt er folgende Antwort: »Wenn einer etwas, obwohl es ihm schön oder gut scheint, nicht liebt, sondern hasst, das aber, was ihm schlecht und ungerecht erscheint, liebt und werthält, so nenne ich diesen Missklang (diaphônian) zwischen Schmerz oder Lust und der vernunftgemäßen Meinung die äußerste Unwissenheit und zugleich die größte […]« (689a). Die äußerste und größte Unwissenheit besteht in einem Missklang, einer Unstimmigkeit zwischen Schmerz und Lust auf der einen und vernünftiger Meinung auf der anderen Seite. Bei dieser Unstimmigkeit zwischen Emotionen und vernünftigen Ansichten ist es nicht das Entscheidende, dass der Bereich der Meinung (doxa) hier auf die Seite der Vernunft und – wie aus 689b hervorgeht – des Wissens gebracht wird 9. Entscheidend ist vielmehr, dass der Bereich von Lust und Schmerz so ernst genommen wird, dass eine Intellektualität, die auf Wissen ausgeht, eine Unstimmigkeit mit diesem Bereich nicht ignorieren darf, selbst wenn sie zu der Überzeugung gelangt, diese Unstimmigkeit nicht aus eigener Kraft beheben zu können. Die Bestimmung der »größten Unwissenheit« zeugt daher von einem veränderten Standpunkt Platons bezüglich der Rolle, die der Emotionalbereich, dem in der Seelenlehre der Politeia der untere Seelenteil des epithymêtikon (vgl. Resp. 439d) korrespondiert, im Erkenntnisgeschehen spielt 10. Erst seine volle Einbindung und Eingliederung in das Erkenntnisgeschehen macht volles Wissen möglich 11. Eine dagegen isoliert auf den oberen Seelenteil setzende Intellektualität bleibt in Unwissenheit befangen, wie der Athener dann weiter ausführt: »dass denjenigen Bürgern, die in dieser Unwissenheit befangen sind, nichts anvertraut werden darf, was mit der Staatslenkung zusammenhängt, und dass man ihnen den Vorwurf der Unwissenheit machen muss, auch wenn sie sehr schlaue Rechner (logistikoi) und in allen feinen Schlichen und in allem, was zur Geistesgewandtheit führt, wohlgeübt sein sollten« (689c–d). Es ist eine durch den Typus des hochintelligenten »Rechners« (logistikos) vertretene rein-intellektuelle und »kalte« Rationalität, der Platon hier eine Absage erteilt. Dagegen setzt der Athener einen anderen Typus Vgl. Schöpsdau 1994, 410 z. St. 688a6-b4, der diese Zusammennahme in der dichotomischen Seelenkonzeption der Nomoi begründet sieht. 10 Vgl. Belfiore 1986, 427. 11 Vgl. dazu bereits anbahnend 643c f. und 643e. 9

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und einen anderen Rationalitätsbegriff, der nach seinem Dafürhalten »größte Weisheit« (megistê sophia 689d) repräsentiert: »die entgegengesetzt Veranlagten aber muss man als weise (hôs sophous) bezeichnen, auch wenn sie, wie es im Sprichwort heißt, weder lesen noch schwimmen können, und die Staatsämter muss man ihnen übertragen als Leuten mit Verstand. Denn wie, ihr Freunde, könnte ohne Einklang (symphônias) auch nur der geringste Grad von Einsicht (phronêseôs) entstehen? Das ist unmöglich. Vielmehr dürfte der schönste und größte Einklang mit vollstem Recht für die größte Weisheit erklärt werden, woran der teilhat, der nach der Vernunft lebt […]« (689d). Es ist ein klares Abgehen von der betont intellektuellen PoliteiaVorstellung, in der die Mathematik als höchste Vorbedingung für die Übernahme eines Regierungsamtes fungiert, wenn es nach der hier geäußerten Vorstellung des Atheners möglich ist, dass auch Leute, die »weder lesen noch schwimmen können«, ein Staatsamt übertragen bekommen können. Das ist möglich aufgrund ihrer »Weisheit«, die darin besteht, dass in ihnen ein Einklang, eine »Symphonie« zwischen den Emotionen und den vernünftigen Ansichten besteht. Diese Symphonie ist die notwendige Bedingung für das Erlangen von Einsicht (phronêsis). Es ist das Konzept einer den Emotionalbereich voll mitintegrierenden »symphonischen« Rationalität, das der Athener hier entwirft und mit dem sich Weisheit und im Falle größter Symphonie größte Weisheit einstellt 12. Es mag paradox anmuten, dass ausgerechnet die volle Eingliederung jener Seelenkräfte, die traditionell als irrational bezeichnet werden, ein Konzept für Rationalität darstellen soll. Aber die Integration des Emotionalbereichs und überhaupt aller nicht rein-intellektuellen Seelenkräfte ist, wenn die Vorstellung zugrunde liegt, dass die Vollrealität nur im konzertierten Einsatz aller Seelenvermögen voll und im Grundsätzlichen richtig erschlossen werden kann, ein rationaler Akt. Alles andere wäre dann unvernünftig. Das Problem, das das Vgl. die bereits in diese Richtung weisenden Äußerungen von Picht 1990, 288: »Die Unwissenheit besteht also nicht darin, dass die Erkenntnis, auf der unsere Meinung beruht, falsch ist, sie besteht vielmehr darin, dass wir die richtige Erkenntnis mit unseren Affekten nicht in Einklang zu bringen vermögen. Das bedeutet umgekehrt, dass Platon als Einsicht nicht die wahre Erkenntnis, für sich genommen oder abstrakt, sondern den Einklang zwischen der Erkenntnis und den Affekten bezeichnet. Wissen ist nach Platon nicht die intellektuelle Erkenntnis dessen, was wahr ist, Wissen ist vielmehr die Aufhebung des Widerspruchs zwischen Erkenntnis und Trieb, zwischen Rationalität und Irrationalität […]«.

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Konzept einer symphonischen Rationalität aufwirft, ist dann ein anderes. Es handelt sich dann um die Frage, wie die Symphonie zwischen den Seelenteilen hergestellt und auf Dauer erhalten werden soll, gerade wenn man die durch das obere Seelenvermögen nicht komplett regulierbare Eigendynamik des Emotionalbereichs in Rechnung stellt. Mit dem Konzept der symphonischen Rationalität knüpft der Athener an seine grundlegenden Äußerungen zum Wesen der richtigen Erziehung zu Beginn von Buch II an, die uns in Kapitel 4 beschäftigt hatten 13. Die Paideia war dort als die Heranbildung der Emotionen zur Vorbereitung der Symphonie zwischen Emotionen und Vernunft, die dort die »ganze Tugend« (sympasa aretê 653b) geheißen hatte, bestimmt worden. Das dort angedeutete Mittel zur erstmaligen Herstellung dieser Symphonie in den noch unvernünftigen kindlichen Seelen, die entsprechenden »Gewöhnungen« (vgl. 653b), ist dann bekanntlich für die aristotelische Ethik von großer Wichtigkeit geworden 14. Mit ihr ist dieser ganze Komplex dann in das Fach des Ethisch-Emotionalen innerhalb der praktischen Philosophie gekommen, die sich insgesamt der auf Erkenntnis ausgerichteten theoretischen Philosophie gegenübersieht. Die Charakterisierung dieser Symphonie als »Weisheit« in Buch III macht dagegen klar, dass die Bemühungen um diese Symphonie Konsequenzen für die Welterkenntnis und Welterschließung im Ganzen haben und sich nicht auf die bei Platon ohnehin noch nicht isoliert vorhandene praktische Hemisphäre beschränken. Das geht natürlich auch aus der Charakterisierung dieser Symphonie als »ganzer Tugend« hervor, wenn man sich die durch den Nous abgeschlossene Konzeption einer vierfachen Gesamttugend aus Buch I vor Augen hält, aber es kann durch die eindeutige praktische Schlagseite, die der Tugend-Begriff hat, leichter ignoriert werden 15. Wie besonders G. Müller erkannt hat, wird durch das Konzept einer symphonischen Rationalität ein Basisthema der Nomoi, nämlich die merkwürdig besondere Stellung der Sophrosyne, direkt weitertraktiert 16. Denn gemäß den Bestimmungen, die sich in der Politeia finden, ist es gerade die »Symphonie« zwischen dem herrschenden Seelenteil,

Vgl. 653a–c. Vgl. Aristoteles EN Buch II. 15 Die französische Übersetzung »excellence« scheint mir den im Originalwort aretê noch gelegenen Gesamtanspruch verhältnismäßig gut wiederzugeben. 16 Vgl. Müller 1968, 19 f. 13 14

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dem logistikon, und den beherrschten Seelenteilen, dem thymoeides und dem epithymêtikon, die die Besonnenheit ausmacht (vgl. Resp. 442c–d; 430e). Auch das III. Buch der Nomoi führt daher das Besonnenheitsthema weiter, das bereits in den Büchern I und II einen Leitfaden der Untersuchung gebildet hatte 17. Das kommt dann in der Konzeption einer der Maßlosigkeit und Hybris wehrenden gemäßigten »Mischverfassung« noch deutlicher zum Ausdruck. Das besondere Insistieren auf dem Thema der Besonnenheit in den Nomoi legt die Vermutung nahe, dass Platon ihr trotz formaler Bestimmungsgleichheit eine viel größere Wichtigkeit als noch in der Politeia beigemessen hat 18. Offenbar geht er nicht mehr – wie noch in der Politeia – davon aus, dass das Erreichen der als Symphonie zwischen den Emotionen und der Vernunft gefassten Besonnenheit eine gleichsam abhakbare Stufe auf einem Ausbildungsgang darstellt, der sich dann wichtigeren Gegenständen zuwenden kann. Vielmehr wird die Herstellung und der Erhalt dieser Besonnenheit in den Nomoi zu einer Haupt- und Daueraufgabe, an deren Erfolg das Erreichen einer vernünftigen Weltorientierung geknüpft ist. Die Tiefendimension der Besonnenheits- und Selbstbeherrschungsthematik in den Nomoi wird bereits im I. Buch beleuchtet an einer Stelle, die wir im bisherigen Gang unserer Untersuchung ausgespart hatten. An ihr will der Athener seinen Gesprächspartnern das, was wir mit Selbstbeherrschung eigentlich meinen, »durch ein Bild« (di eikonos 644c) verdeutlichen 19. Es ist das Bild von der Marionette, das auch besser unter dem Namen »Marionettengleichnis« bekannt ist. Das Marionettengleichnis (644c–645c) ist immer schon in seiner Wichtigkeit für das Verständnis der Nomoi erkannt worden. Allerdings herrscht nicht selten die Tendenz vor, dieses Gleichnis unter das bekannteste GleichVgl. Stalley 1983, 5 f., Schöpsdau 1994, 415. Dazu besonders Stalley 1983, 54–56, der Stellen aufzählt, in denen das »wider ideal of sophrosune« (55), das dem Dialog zugrunde liegt, deutlich wird. Davon auszuschließen sind wahrscheinlich die Stellen 696b–e und 710a–b, in denen auf eine »volkstümliche« (710a) Besonnenheit referiert wird, die zwar ein notwendiger Bestandteil für die anderen Tugenden ist, aber isoliert für sich genommen wertlos. Es ergibt sich aber das Problem, dass hier ein angeborenes Naturell, über das der eine verfügt, der andere nicht, zur notwendigen Bedingung für den Besitz der anderen Tugenden gemacht wird, was schwerlich angängig ist. Vgl. auch Schöpsdau 1994, 479 f. u. 2003, 164–166. 19 Vgl. 644b f., 645b. 17 18

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nis der Philosophie Platons, das Höhlengleichnis 20, gleichsam zu subsumieren, etwa in dem Sinne, dass durch es ein stark vergrößertes Unterbild des Höhlengleichnisses geliefert wird 21. In der Tat spielt Platon – wie wir sehen werden – durch gewisse Formulierungen im Marionettengleichnis auf das Höhlengleichnis an, aber das scheint mir eher in dem Sinne zu verstehen zu sein, dass hier ein ranggleiches und alternatives anderes Bild der fundamentalen menschlichen Situation gegeben wird, das sich nicht in das Höhlengleichnisbild unterordnen und einpassen lässt. So symbolisiert das Bild von der Marionette auch den anderen, modifizierten Rationalitäts-Entwurf, den Platon im Vergleich zur Politeia in den Nomoi zum Zuge kommen lässt. Bevor der Athener mit der Darlegung des eigentlichen Gleichnisses einsetzt, stellt er seinen Gesprächspartnern vorbereitend die Seelenkräfte vor, die darin eine Rolle spielen werden 22. In der als Einheit gedachten Person werden von ihm zunächst Lust und Schmerz (hêdonê kai lypê) als »einander entgegengesetzte und unverständige Ratgeber« (644c) ausgemacht. Danach ist von »Meinungen über die Zukunft« die Rede, die unter dem Oberbegriff »Erwartung« (elpis) zusammengefasst werden. »Furcht« (phobos) heißt dabei speziell die Erwartung vor dem Schmerz, »Zuversicht« (tharros) die vor der Lust (644c–d). Komplettiert wird das Ganze dann durch die »vernünftige Überlegung« (logismos): »Zu diesen allen kommt noch die vernünftige Überlegung, was denn von diesen besser oder schlechter sei, welche, wenn sie zur gemeinsamen Überzeugung einer Stadt geworden ist, ›Gesetz‹ heißt« (644d) 23. Dass die Gesprächspartner nach dieser vorbereitenden Vorstellung Verständnisschwierigkeiten signalisieren, ist sicherlich als ein Hinweis auf die Problematik und weitere Erklärungsbedürftigkeit der hier vorgebrachten, vom Politeia-Modell abweichenden Seelenlehre zu verstehen. Auch wenn es sich bei dieser lediglich um eine modifizierte Trichotomie des Politeia-Modells handeln sollte, ist doch aus dem Folgenden klar, dass die philosophische Aufmerksamkeit auf der DichoVgl. Resp. 514a ff. Vgl. z. B. Picht 1990, 158. Wohl stellvertretend für viele bringt Erler 2006, 191 die Meinung zum Ausdruck, die Nomoi insgesamt handelten von den Schwierigkeiten nach Rückkehr »in die Höhle«. 22 Vgl. Schöpsdau 1994, 228–231. 23 Übersetzung nach Schöpsdau 1994, 31. 20 21

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tomie zwischen der vernünftigen Überlegung und dem von Lust und Schmerz beherrschten Bereich liegt 24. Neben der Seelenlehre kann aber auch die vom Athener zum Schluss behauptete Bestimmung des Gesetzes als der zur gemeinsamen Überzeugung einer Stadt gewordenen vernünftigen Überlegung einen Grund für das von Kleinias und Megillos bekundete Unverständnis abgeben 25. Der dahinter stehende Gedanke einer sehr engen Beziehung zwischen Gesetz und Vernunft, auf dessen Problematik wir in Kapitel 3 dieser Untersuchung hingewiesen hatten, taucht hier erstmalig im Dialog auf. Nach diesen Vorbereitungen beginnt der Athener mit dem eigentlichen Gleichnis 26. Wir geben es hier am Stück wieder: »Machen wir uns also darüber folgende Vorstellung. Denken wir uns ein jedes von uns lebenden Wesen als eine Marionette (thauma) der Götter, mag sie nun als Spielzeug (paignion) für diese oder zu irgendeinem ernsten Zweck zusammengesetzt worden sein; denn das wissen wir ja doch nicht; das aber begreifen wir, dass die erwähnten Gefühle (ta pathê), die gleichsam eine Art Sehnen oder Schnüre in uns darstellen, an uns ziehen, und zwar, da sie einander entgegengesetzt sind, dass sie einander entgegen wirkend uns zu entgegengesetzten Handlungen hinreißen (anthelkousin), dahin wo bekanntlich Tugend und Schlechtigkeit voneinander geschieden liegen. Denn einem einzigen dieser Züge (tôn helxeôn), so besagt unsere Rede (logos), müsse ein jeder stets folgen und ihn auf keinen Fall loslassen und so gegen die anderen Sehnen anstreben (anthelkein); das sei aber die goldene und heilige Leitung der vernünftigen Überlegung (tên tou logismou agôgên chrysên kai hieran), die man das gemeinsame Gesetz des Staates nenne; die anderen Züge dagegen seien starr und von Eisen, dieser aber biegsam (malakên), da er aus Gold sei, während die anderen den verschiedensten Arten glichen. Jeder müsse also der schönsten Leitung (agôgê), der des Gesetzes, allezeit zu Hilfe kommen (syllambanein); denn da die Vgl. Schöpsdau 1994, 228 ff., der die dichotomische Auffassung vertritt. Die dem entgegengesetzten Stellen, insbesondere 863b, ergeben insgesamt kein einheitliches Bild und »lassen die Tendenz erkennen, alle unvernünftigen Seelenregungen – soweit nicht aus strafrechtlichen Gründen eine Differenzierung erforderlich ist – zu einer einzigen Gruppe zusammenzufassen« (a. a. O. 229). Picht 1990, 158 ff. macht sich für eine modifiziert trichotomische Deutung stark. Vgl. auch J. Müller 2013, 45 f. u. 63–65. 25 Vgl. Jouët-Pastré 2006, 40. 26 Für ausführlichere neuere Interpretationen vgl. Schöpsdau 1994, 228–236 und JouëtPastré 2006, 39–54. Vgl. ferner auch Frede 2010, 116–120 und J. Müller 2013, 54 ff. 24

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vernünftige Überlegung zwar schön, aber sanft sei und keinen Zwang ausübe (praou de kai ou biaiou), so bedürfe ihre Leitung (agôgên) der Helfer (hypêretôn), damit in uns die goldene Art die anderen Arten besiege. Und so wäre denn der Mythos der Tugend, wonach wir gleichsam Marionetten sind, gerettet, und es würde gewissermaßen deutlicher, was es besagt, sich selbst überlegen und unterlegen zu sein, und ebenso auch, was den Staat und den einzelnen angeht, dass der letztere in sich selbst eine wahre Ansicht (logon alêthê) über diese Zugkräfte (tôn helxeôn toutôn) gewinnen und ihr folgend leben muss, während der Staat eine solche Ansicht von einem der Götter oder von eben dem, der dies erkannt hat, übernehmen und sie zum Gesetz erheben und dementsprechend mit sich selbst und mit den anderen Staaten verkehren muss. So wären denn auch Schlechtigkeit und Tugend von uns noch deutlicher unterschieden worden; ist das aber klarer geworden, dann werden vielleicht auch die Erziehung (paideia) und die anderen Einrichtungen (epitêdeumata) deutlicher hervortreten und somit auch das, was wir über die Geselligkeit beim Wein gesagt haben, das zwar als ein überflüssiger Wortschwall über etwas Geringfügiges erscheinen könnte, wovon sich aber vielleicht schon bald herausstellen dürfte, dass es dieser Ausführlichkeit nicht unwürdig ist« (644d–645c). Es sind mehrere Bedeutungsschichten, mit denen man bei der Interpretation dieses Gleichnisses rechnen sollte. Vorgestellt wird der Mensch hier als eine Marionette. Die Fäden, an denen sie hängt, sind einmal 27 die Affekte, von denen in den vorbereitenden Überlegungen zum Gleichnis die Rede war. Diese ziehen die Puppe zu entgegengesetzten Handlungen hin, was den Unterschied zwischen Tugend und Schlechtigkeit ausmacht. Offenbar gibt es aber noch einen Faden und der Logos sagt, dass man diesem Faden stets folgen und an ihm dran27 Der Ausdruck pathê in 644e scheint sich auch auf den logismos zu beziehen. Das kann man mit Schöpsdau 1994, 234 als Ungenauigkeit des platonischen Altersstils erklären. Frede 2010, 116 Anm. 22 weist im Anschluss an Bobonich darauf hin, dass pathos auch ganz allgemein »Zustand« heißen kann, vgl. dazu auch den Gebrauch von pathos 644d in der Äußerung von Megillos. Möglicherweise nutzt Platon hier die Doppeldeutigkeit von pathos, um einerseits einen Oberbegriff für die seelischen Faktoren zu haben, andererseits aber die Aufmerksamkeit auf die Affekte zu lenken. Vielleicht aber meint Platon mit pathê in 644e von vornherein nur die in der Vorbereitung zum Gleichnis vorgestellten affektiven Regungen. Sie stellen »Züge« der Marionette dar, aber eben nicht alle Züge.

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bleiben soll, um so gegen die anderen Zugkräfte anzustreben: »das sei aber die goldene und heilige Leitung der vernünftigen Überlegung, die man das gemeinsame Gesetz des Staates nenne« (645a). Dieser ausgezeichnete Leit-Draht ist aber aufgrund seiner Hochwertigkeit als goldener und damit biegsamer Draht zugleich auch schwächer als die anderen Drähte, die von Eisen und somit hart und starr sind. Daher benötigen vernünftige Überlegung und Gesetz konkrete Hilfe, um ihre Leitfunktion erfüllen und ihren Führungsanspruch durchsetzen zu können. Sie bedürfen aufgrund ihrer Sanftheit und Schwäche »der Helfer« (645a). Es ergibt sich damit die Frage, wer oder was diese »Helfer« sind, die aufgrund der hochwertigen, aber zugleich prinzipiell schwachen Verfassung der vernünftigen Überlegung unbedingt vonnöten sind. Je nach Antworttyp kann durch die Bearbeitung dieser HelferFrage eine neue Bedeutungsschicht des Marionettengleichnisses freigelegt werden. Auf einer Nullstufe der Interpretation könnte die Helfer-Frage in Bezug auf die vernünftige Überlegung so beantwortet werden, dass gerade das Gesetz eine solche notwendige Hilfe für die Vernunft darstellt 28. Denn aufgrund der Schwäche der individuellen Vernunft braucht diese ein Stück objektivierte Vernunft – das gegebene Gesetz –, um den Vernunftanspruch für die eigene Person durchzusetzen. Es ergäbe sich auf diese Weise die bekannte Grundlehre der politischen Philosophie der Nomoi von der unumgänglichen Notwendigkeit von Gesetzen. Aber diese Interpretation legt sich hier zunächst nicht nahe, da im Aufbau des Gleichnisses die Tendenz dahin geht, vernünftige Überlegung und Gesetz eng miteinander zu verkoppeln, so dass das Differenzbewusstsein zwischen diesen beiden Größen beim ersten Lesen gering ist und sie auf derselben Stufe zu stehen scheinen. Daher entspricht es der ersten Stufe der Interpretation in der Tat am besten, in den angesprochenen »Helfern« die Bürger als die Helfer des bestehenden Gesetzes, die über seine Einhaltung wachen und sich für seine Durchsetzung einsetzen, zu sehen 29. Das stimmt auch gut zusammen mit einem charakteristischen Zug der späteren Nomoi-Gesetzgebung, der darin besteht, Druck auf jeden einzelnen auszuüben, dem Gesetz und seiner Durchsetzung zu Hilfe zu kommen 30. Die gesetzlichen Re28 29 30

So Sharafat 1998, 84 u. 121. Vgl. auch Jouët-Pastré 2006, 45–48. Vgl. Görgemanns 1960, 121 und Schöpsdau 1994, 232. Vgl. etwa 907d–e, 913d–914a, 935b f., 937c, 871d f.

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gelungen wenden sich gegen indifferente Haltungen des Zuschauens oder gar Wegschauens, sie fordern eine – bis zur Denunziation gehende – persönliche Verantwortlichkeit jedes einzelnen für das Gesetz. So heißt es immer wieder einmal, dass ein Gesetzesübertreter von »jedem, der will« für sein Verhalten belangt werden kann 31. In besonderem Maße sind natürlich die Beamten und Richter zur Unterstützung des Gesetzes aufgefordert. Die in diesem Zusammenhang verwendeten Formulierungen, die der an unserer Gleichnisstelle verwendeten (hypêretôn) genau entsprechen, lassen keinen Zweifel daran, dass Platon an diese Deutungsmöglichkeit der Stelle gedacht hat 32. Auf dieser ersten Deutungsebene der Helfer-Frage im Marionettengleichnis ist schließlich auch noch an den Gesetzgeber selbst zu denken, der seinen Gesetzen in der Weise der Vorschaltung von Proömien zu Hilfe kommt 33. Mit dem bewusst auch in seiner musikalischen Konnotation belassenen Proömium, das als stimmlich ausgesprochenes eine auf den ganzen Menschen zielende affektive Wirkung zu haben beansprucht, ist eine neue Deutungsebene des Gleichnisses erreicht, in der die Antwort auf die Helfer-Frage in den Bereich der vernünftigen EmotionalErziehung und damit in den Komplex der von uns so genannten symphonischen Rationalität führt. Auf dieser Ebene geht es um Hilfen für die gegenüber dem Emotionalbereich von Hause aus zu schwache Vernunft. Es muss hier darum gehen, geeignete Mittel zu finden, um Emotionen und Affekte in Einklang mit der vernünftigen Überlegung zu bringen und sie so in eine Gesamtrationalität einzugliedern. Daher steht hier die vernünftige Überlegung innerhalb des Seelenlebens und getrennt vom Gesetz im Blick. Ganz allgemein ist es die Erziehung, die helfen soll, diesen Einklang herzustellen, und auf sie wird dann auch am Ende des Gleichnisses hingewiesen 34. Die schon erwähnten »Gewöhnungen« der kindlichen Seele an die Vernunftgemäßheit ihrer Emotionen nehmen diese Aufgabe generell in Angriff. Das Marionettengleichnis selbst und der Kontext, in dem es steht, deutet aber stark darauf hin, dass Platon hier eine ganz spezifische Institution als Hilfe für die Vernunft im Sinn hat, 31 32 33 34

Vgl. 907e, 937c, 866b–c, 868b, 868d f., 871b. Vgl. 715c, 729d–e, 822e. Vgl. Schöpsdau 1994, 232. Vgl. 645c.

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worauf besonders Elisabeth Belfiore hingewiesen hat 35. Die Symposien, von denen im und um das Marionettengleichnis herum die Rede ist, werden hier als ausgezeichnetes Hilfsmittel zur Herstellung der symphonischen Rationalität ins Spiel gebracht. Das Vorgehen in den Symposien, in denen die Teilnehmer durch den Genuss von Alkohol in eine Unbeherrschtheitssituation hineingebracht werden, die dem Zwecke der Erlangung größerer Beherrschtheit dient, wird von Belfiore in medizinischer Terminologie als ein allopathisches Vorgehen klassifiziert, das eine Katharsis der Emotionen hervorrufen soll 36. Tatsächlich deutet das Ende des Gleichnisses eine bevorstehende Aufklärung darüber an, was für ein Bewenden es mit der »Geselligkeit beim Wein« (645c) hat, und der Athener führt gleich danach das im Marionettengleichnis entworfene Bild fort, indem er sich und seinen Gesprächspartnern eine berauschte Marionette imaginiert, in der aufgrund der dadurch herbeigeführten Intensivierung des Emotionalbereichs ein Unbeherrschtheitszustand eingetreten ist. Die diesbezüglichen Überlegungen werden, wie wir in Kapitel 4 gesehen hatten, am Ende von Buch I dann auch eigens durchgeführt. Mit der Symposiensituation und dem Bild von der berauschten Marionette ist klar, dass es hier um die Erwachsenen-Erziehung geht 37, deren besondere Bedeutung in den Nomoi wir betont hatten, und um die Frage, was die richtige, die Besonnenheit erhaltende Eingliederung der Emotionen in die Gesamtrationalität beim Erwachsenen garantiert? Es sind, wie wir bei der Betrachtung der beiden Anfangsbücher der Nomoi gelernt hatten, ein nüchterner, die Vernunft verkörpernder Symposiarch und entsprechende Symposien-Gesetze, die dies garantieren sollen 38. Aber auch dieser Leiter unterliegt der grundsätzlichen im Marionettengleichnis zum Ausdruck gebrachten Vernunftschwäche und die Symposien-Gesetze könnten aus dieser Vernunftschwäche entstanden sein oder aber in dieser Vernunftschwäche falsch angewendet werden. So treibt uns die Kernfrage des Konzepts der symphonischen Rationalität auf eine weitere, dritte Deutungsstufe des Marionettengleichnisses.

35 36 37 38

Vgl. Belfiore 1986, 425. Vgl. ebd., 421 f. u. 432 f. Vgl. ebd., 425. Vgl. 640d, 671c–d.

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Diese dritte Ebene ist eigentlich die Grundebene des Gleichnisses, die sich ergibt, wenn wir das vorgestellte Bild nicht gleichsam oben abschneiden 39. Wortwörtlich wird die Marionette als »göttliche« Marionette eingeführt (thauma…theion 644d), möglicherweise ein Spielzeug »jener« (paignion ekeinôn ebd.). Dass damit die Götter gemeint sind – wie die Übersetzung Schöpsdaus sofort übersetzt –, liegt auf der Hand. Letzte Zweifel werden durch die auf das Marionettengleichnis bezugnehmende Stelle 803c beseitigt, an der der Athener sagt: »der Mensch dagegen ist, wie wir früher gesagt haben, als Spielzeug Gottes geschaffen worden […]«. Dieses Bild vom Menschen als Marionette der Götter bzw. Gottes stellt die Fundamentalsituation des Marionettengleichnisses dar, aus dem heraus, wenn überhaupt aus einem Bild, auch das in den Nomoi präsentierte Denken verständlich gemacht werden kann. Denn es ist eine Rationalität mit Gott bzw. den Göttern, die hier unternommen wird. Die Helfer-Frage des Marionettengleichnisses kann auf dieser dritten Ebene vorläufig so beantwortet werden, dass es die Götter bzw. Gott selbst sind, die der Vernunftschwäche des Menschen in einer noch genauer zu erörternden Weise zu Hilfe kommen und so den gewünschten Erhalt von Besonnenheit und symphonischer Rationalität sicherstellen. Die überragende Bedeutung, die Gott in den Nomoi zukommt, kündigt sich schon im Rahmengespräch an. Im griechischen Urtext ist »Gott« (theos) das allererste Wort des Dialoges. Es wird in der Antwort des Kleinias zweimal bekräftigend wiederholt (624a). Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat Platon diesen Anfang im Blick auf das Kommende bewusst so gestaltet. Es liegt hier eine klare Parallele zum katebên, dem Anfangswort der Politeia, das bereits auf das Geschehen im Höhlengleichnis vorweist 40, vor. Am Beginn der Nomoi Das tun insbesondere (moral-)psychologische Deutungen des Bildes von der Marionette, vgl. etwa Frede 2010, 116 ff. Auch die Deutung von J. Müller 2013 konzentriert sich auf die handlungspsychologische Analyse des Bildes von der Marionette vor dem Hintergrund des Phänomens der Willensschwäche. Unbeschadet der Tatsache, dass hier eine echte philosophische Problemlage besteht, ist aber daran zu erinnern, dass das Bild von der Marionette nicht als (dann freilich unterkomplexe) Reaktion auf die akrasiaAbhandlung des Aristoteles in der Nikomachischen Ethik entworfen worden ist. Dieses Bild ist ein originaler Entwurf Platons zur conditio humana, ganz unabhängig von Aristoteles. Eine Fixierung des Bildes unter dem aristotelischen Blickwinkel bedeutet eine Einschränkung und einen Dimensionsverlust desselben. Das ist ein Beispiel für den vorherrschenden Zugriff auf die Nomoi »sub specie Aristotelis«. 40 Vgl. Resp. 327a, 516e, 520c. 39

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wird Gott als der Urheber der kretischen und spartanischen Gesetzgebung in Anspruch genommen. Es sind die olympischen Götter Zeus und Apollon, auf die der Begriff hier referiert. Zeus soll durch die Vermittlung des Minos für die kretische Gesetzgebung verantwortlich sein, Apollon für die spartanische (624a–b) 41. Schwierig dagegen ist die Frage nach dem Bezug, den die Rede von »dem Gott« in der berühmten Ansprache an die Siedler, die im IV. Buch der Nomoi beginnt, hat 42. Wir können diese Frage zunächst auf sich beruhen lassen und uns trotzdem diesem Textstück zuwenden, weil es der zentrale Text für die überragende Bedeutung Gottes in den Nomoi ist, auf die wir jetzt im Zusammenhang der Interpretation des Marionettengleichnisses, in dem wir weiterhin stehen, endgültig und als für unsere These maßgeblich gestoßen sind. Auch hier ist es sinnvoll, diese fiktive Ansprache, die der Athener an die Siedler der neu zu gründenden Kolonie richtet und die sich dann als Generalproömium – gleichsam das Grundgesetz – für das ganze Gesetzeswerk entpuppt 43, bis zu einem gewissen Punkt am Stück darzubieten. 715e beginnt der Athener folgendermaßen: »Ihr Männer, wollen wir also zu ihnen sagen, der Gott, der, wie auch das alte Wort besagt, Anfang und Ende und die Mitte alles dessen, was ist, in Händen hat, geht auf geradem Wege zum Ziel, indem er der Natur gemäß kreisend seine Bahn zieht; und ihm folgt dabei stets die Gerechtigkeit (dikê) nach als Rächerin für diejenigen, die hinter dem göttlichen Gesetz zurückbleiben. An diese schließt sich an, wer glücklich sein will, und folgt ihr in Demut und Bescheidenheit; wer sich aber in stolzem Dünkel erhebt, weil er stolz auf Reichtum ist oder auf Ehren oder auf körperliche Wohlgestalt verbunden mit Jugend und Unvernunft, und so in seiner Seele in Übermut (hybreôs) entbrennt, als bedürfe er weder eines Herrschers noch eines Führers, sondern als sei er sogar imstande, andere zu führen, der bleibt, von Gott verlassen, allein zurück (kataleipetai erêmos theou), und indem er in seiner Verlassenheit noch andere seinesgleichen an sich zieht, springt er herum (skirta) und bringt dabei alles in Verwirrung, und gar vielen gilt er wirklich als jemand; doch nach gar nicht langer Zeit zahlt er der Gerechtigkeit (dikê) eine nicht zu verachtende Strafe und richtet sich selbst und sein Hauswesen und den Staat völlig zugrunde. Was soll 41 42 43

Aus 632d ergibt sich auch hier ein Mittelsmann, nämlich Lykurg. Vgl. Bordt 2006, 175 ff. Vgl. 723e.

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also angesichts dieser Ordnung der Dinge der Verständige (ton emphrona) tun oder denken und was nicht?« (715e–716b). Auf Kleinias’ Antwort: »Offenbar doch dies: dass er unter denen ist, die dem Gotte folgen, darauf muss jedermann bedacht sein« (716b), fährt der Athener in seiner Ansprache weiter fort: »Welches Tun ist nun dem Gotte lieb und folgt ihm nach? Nur eines, das auch einen einzigen alten Spruch auf seiner Seite hat, dass nämlich das Ähnliche dem Ähnlichen, wenn es Maß hält (metriô), lieb ist, das Maßlose aber weder untereinander noch dem Maßvollen. Die Gottheit (ho theos) dürfte nun für uns am ehesten das Maß (metron) aller Dinge sein, und dies weit mehr als etwa, wie manche sagen, irgend so ein Mensch. Wer also einem solchen Wesen lieb und teuer werden will, der muss notwendig, soweit er es vermag, möglichst selber zu einem solchen werden, und so ist nach diesem Grundsatz der Besonnene (sôphrôn) unter uns dem Gotte lieb, denn er ist ihm ähnlich; der Unbesonnene dagegen ist ihm unähnlich und ihm feind und ungerecht, und so auch alles übrige nach demselben Grundsatz […]« (716c–d). Vorgestellt wird in dieser Ansprache »der Gott«, der »kreisend seine Bahn zieht«. Das ist gewiss als Hinweis zu werten auf den Kreisgang der Gestirne und die Gotteserfahrung, die sich durch die Betrachtung des Sternenhimmels einstellen kann. Der hier angesponnene Faden wird dann im X. Buch im Rahmen des Gottesbeweises wieder aufgenommen und fortentwickelt. Dem Gott folgt die Gerechtigkeit, die Dike 44. Sie ist zugleich die Rächerin für die, die hinter dem göttlichen Gesetz zurückbleiben. Angesichts dieser Grundsituation, die genau genommen ein von dem Gott angeführtes bewegtes Grundgeschehen ist, hat der Mensch zwei Alternativen. Entweder er folgt dieser Bewegung oder er tut dies nicht. Tut er es aus Stolz und Hybris nicht, dann bleibt er gottverlassen zurück. Sein gottverlassenes »Herumspringen« führt »nach nicht langer Zeit« in den totalen Untergang. Tut er es »in Demut und Bescheidenheit«, dann kann er glücklich werden. Unter diesen Umständen ist vollkommen klar, für welche Alternative man sich vernünftigerweise zu entscheiden hat, und Kleinias spricht dies auf die entsprechende Frage dann auch aus: »dass er unter denen ist, die dem Gotte folgen, darauf muss jedermann bedacht sein« (716b). Was aber heißt es, dem Gotte zu folgen? Der Athener beantwortet diese Frage in 44

Vgl. Schöpsdau 2003, 209.

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der nicht ganz einfachen Passage 716c–e. Dem Ähnlichen ist lieb das Ähnliche, wenn es, d. h. ersteres, wahrhaft maßvoll ist. Dass Gott wahrhaft maßvoll ist, ergibt sich aber aus dem nun folgenden, einen Gegenentwurf zum protagoreischen Homo-mensura-Satz 45 markierenden Deus-mensura-Satz: »Der Gott dürfte nun für uns am ehesten das Maß aller Dinge sein, und dies weit mehr als etwa, wie manche sagen, irgend so ein Mensch« (716c). Wer Gott lieb werden will, muss ihm ähnlich werden und das heißt, wenn er das Maß und damit sozusagen mustergültig maßvoll ist, er muss selbst maßvoll bzw. besonnen sein: »und so ist nach diesem Grundsatz der Besonnene unter uns dem Gotte lieb, denn er ist ihm ähnlich« (716d). Mit dieser Passage kommt Besonnenheit und besonnenes Verhalten in den Rang eines alles entscheidenden vernünftigen Verhaltens. Es ist das gottgefällige Verhalten schlechthin. Wenn man wie Richard F. Stalley der Besonnenheit in den Nomoi den gleichen Stellenwert zumisst wie der Gerechtigkeit in der Politeia 46, dann kann man in Weiterführung dieser Bemerkung sagen, so wie in der Politeia hinter der Gerechtigkeit die Idee des Guten steht, steht in den Nomoi hinter der Besonnenheit Gott. Das aber ist genau die Einsicht, die eine unvoreingenommene und unverkürzte Betrachtung des Bildes von der Marionette, wie wir sie mit der dritten Interpretationsstufe verbunden hatten, freigibt. Die Anfangspartie der Ansprache an die Siedler macht die ganze Tragweite des Bildes von der Marionette klar und bestätigt den vollen dort gezeigten Bildgehalt. Das Bemühen um Besonnenheit, das durch das Marionettengleichnis symbolisiert wird (vgl. 645b), ist das entscheidende vernünftige Verhalten, das von Gott her motiviert wird. Gott ist aber letztlich auch der Erfolgsgarant dieses Bemühens. Zwar müssen wir die bereits angedeutete Schwierigkeit der jeweiligen Referenz des Wortes »Gott« im Auge behalten und insbesondere den Unterschied zwischen den mythischen Göttern der Polisreligion und den Sterngöttern 47; aber die Annahme scheint dennoch berechtigt, dass im Marionettengleichnis unterschiedliche Gott-Typen für die Ausdeutung gleichmäßig zugelassen sind. Der in der zuletzt rekonstruierten Argumentation implizit vorgenommene Sprung von Gott als einem (abstrakten) Maß zu Gott als einem (realen) maßvollen Wesen scheint u. a. darauf hin45 46 47

Vgl. Theät. 152a. Vgl. Stalley 1983, 56. Vgl. Bordt 2006, 228 ff.

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zudeuten, dass auch bei dem im Umkreis der rationalen Gestirnbewegungen exponierten Gott die Vorstellung eines real eingreifenden Wesens weiterhin Bestand hat 48. Auf der dritten Deutungsebene des Marionettengleichnisses sehen wir also einen Gott, der den Menschen wie eine Puppe führt und so entscheidend mithilft, dass die vom Menschen selbst mitgebrachte, aber geschwächte Vernünftigkeit, das, »was an Unsterblichkeit in uns ist« (713e), erhalten bleibt. Wie ist das konkret zu denken? Es ist zweckmäßig, sich an dieser Stelle noch einmal an das weiterentwickelte Bild von der berauschten Marionette, auf das wir auf der dem Symposion zugeordneten Deutungsstufe 2 hingewiesen hatten, zurückzuerinnern. Denn genauso wie sich bei unseren Betrachtungen zur Nomoi-spezifischen Paideia ein Übergang und Umschlag von der Symposiensituation in die Chorsituation ergeben hatte, genauso lässt das Bild von der berauschten Marionette diesen Umschlag vom Teilnehmer eines Symposions zum singenden Tänzer eines Dionysoschores zu. Die Teilnahme am Dionysoschor ist daher eine paradigmatische konkrete Ausgestaltung der Verhaltensweise, die das Marionettengleichnis fordert. Das Vollbild vom die Puppe führenden und tanzen lassenden Gott lässt uns somit auf den Grund für die von uns in Kapitel 4 herausgearbeitete durch den Dionysoschor indizierte Hoch- und Simultanstellung der musisch-religiösen Paideia in den Nomoi stoßen. Diese Paideia, hinter der ein Gott steht, stellt die aufgrund seiner Vernunftschwäche unverzichtbare Hilfe für den Menschen zur Aufrechterhaltung und Kultivierung seiner in der Besonnenheit zentrierten symphonischen Rationalität dar 49. Diese Sichtweise wird durch das erste Korollar, das der Athener in der Ansprache an die Siedler im direkten Anschluss an die zitierte Passage angibt, bestätigt und erweitert: »Wir wollen aber bedenken, dass sich daran folgender Satz schließt, der schönste und wahrste, meine ich, von allen Sätzen: dass für einen guten Menschen das Opfern und der ständige Verkehr mit den Göttern durch Der Gott der Ansprache an die Siedler wird auch durch die Formulierung des »Herumspringens« (skirta 716b), die bereits 653e (skirtônta) im Zusammenhang der Beschreibung des kindlichen Bewegungsdrangs des Menschen auftaucht, der durch den Chorreigen kultiviert wird, in Verbindung zum Chorreigen und damit – wie wir jetzt gleich sehen werden – zum Marionettengleichnis gebracht. 49 Soweit ich sehe, hat einzig Sharafat die Bedeutung der Religiosität für die Rationalität in den Nomoi erkannt, ohne dies vom Marionettengleichnis her zu entwickeln. Vgl. Sharafat 1998, 173 f. 48

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Gebete, Weihgeschenke und alle Formen der Gottesverehrung das schönste und beste und wirksamste Mittel zu einem glücklichen Leben und ihm daher auch ganz besonders angemessen ist, für den Schlechten aber das Gegenteil davon« (716d–e). Die optimale Verhaltensweise, um ein glückliches Leben zu führen, das »wirksamste Mittel« zum Glück für den Guten besteht darin, ständig gottesdienstliche Handlungen auszuführen. Die besondere Betonung ständiger gottesdienstlicher Handlungen für ein gutes und glückliches Leben ist aber vor dem Hintergrund des Marionettengleichnisses keine nur populäre und von rationalem Verhalten separierte Aufforderung zur Frömmigkeit. Die an alle gerichtete Forderung nach ständigen gottesdienstlichen Handlungen ergibt sich aus dem Konzept von Rationalität, das durch das Marionettengleichnis symbolisiert wird und das auf seiner Endstufe das Konzept einer liturgischen Rationalität genannt werden könnte. Die sich in gottesdienstlichen Handlungen aller Art, von denen die Teilnahme am Chorreigen besonders herausragt, realisierende liturgische Rationalität sichert den Bestand der symphonischen Rationalität und damit die Eingliederung der Emotionen in die Gesamtrationalität in der bestmöglichen Weise. Sie hält den »heiligen« (vgl. 645a) Draht zum Gott in der bestmöglichen Weise aufrecht, wie dies angesichts der konstitutiven Vernunftschwäche des Menschen zu seiner Orientierung in der Welt unterstützend nötig ist. Wenn daher im Nomoi-Staat, wie es an einer späteren Stelle heißt, »alle ihr Leben lang sich nur um Opfer, Feste und Chöre zu kümmern brauchen« (835e), dann ist das als eine Konsequenz aus dem im Marionettengleichnis entworfenen Bild einer liturgischen Rationalität anzusehen; eine Konsequenz aus der »wahren Ansicht über diese Zugkräfte« (645b), die sich dann auch in der Gesetzgebung (vgl. ebd.) niederschlägt. Man kann das Konzept einer liturgischen Rationalität insgesamt ablehnen, aber dass Platon dieses Konzept in den Nomoi konsequent und für alle verbindlich durchgeführt hat, ist aufgrund des Textbefundes nur schwer zu leugnen. Natürlich hat das Bild von der Marionette seine Grenzen und gleicht nicht in allen Belangen der Situation, die durch es erhellt werden soll. So soll durch dieses Bild die Willensfreiheit des Menschen keineswegs für aufgehoben erklärt werden. Gemeint ist nicht, dass der Mensch als Puppe durch den alle Drähte in der Hand haltenden Puppenspieler Gott in seinem Verhalten durchgängig determiniert ist. Darauf weist inner139 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

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halb des Gleichnisses schon die Aufforderung hin, dass ein jeder stets einem einzigen Zug – dem der vernünftigen Überlegung – »folgen« müsse und »ihn auf keinen Fall loslassen« (644e) dürfe, die ohne die Annahme der Willensfreiheit des Menschen sinnlos wäre. Dass bei der Ansetzung des Puppenspielers Gott vielmehr an ein die Willensfreiheit nicht aufhebendes, kooperatives Modell zwischen Mensch und Gott gedacht ist, verdeutlicht eine andere Stelle aus dem IV. Buch. Im Zusammenhang der Gesetzgebungskunst kommt es dort zu einer zunächst pessimistischen Einlassung des Atheners, die sich auch auf »fast alle menschlichen Angelegenheiten ebenso« zu erstrecken scheint (vgl. 708e ff.). Im Blick auf die Geschichte scheint nicht der Mensch der Geber eines Gesetzes zu sein, sondern es scheinen die jeweiligen geschichtlichen Umstände wie etwa Kriege, Hungersnöte, Epidemien u. dgl. zu sein, die die Gesetze bestimmen. So könnte man gemäß dem Athener zu der Behauptung kommen, »dass kein Sterblicher irgendein Gesetz gibt und dass fast alles menschliche Tun ein Werk des Zufalls ist« (709a–b). Aber diese vom Athener selbst entwickelte pessimistische Überlegung wird prompt wiederum von ihm selbst durch folgende Behauptung korrigiert: »Dass Gott (theos) alles und mit Gott zusammen der Zufall (tychê) und der rechte Augenblick (kairos) die menschlichen Verhältnisse insgesamt lenken (diakybernôsin); doch klingt es weniger schroff, wenn man einräumt, dass zu beiden als Drittes das menschliche Können (technê) hinzukommen muss. Denn dass bei einem Sturm die Kunst des Steuermanns mit dem rechten Augenblick zusammenwirkt, das möchte ich für weit vorteilhafter ansehen, als wenn dies nicht der Fall ist. Oder wie?« (709b–c). Zu den »Faktoren« Gott, Zufall und rechter Augenblick, tritt als dritter Faktor noch das menschliche Können als das, was die menschlichen Angelegenheiten lenkt, hinzu. Im Vergleich zur früheren Behauptung fällt insbesondere das alles überragende Hinzutreten des Faktors »Gott«, der »alles« lenkt, auf, aber auch – trotz seines abgeschwächten Charakters – das Hinzutreten des menschlichen Könnens. Der ebenfalls neue Faktor »rechter Augenblick«, der in der schon bekannten Zufalls-Kategorie eingeordnet ist, könnte die direkte Folge dieser beiden neuen Faktoren sein. Denn die angedeutete Kooperation zwischen Mensch und Gott kann darin bestehen, dass der Mensch ihm von Gott gegebene Chancen mithilfe seines Wissens und Könnens erkennt und ergreift. Dass sich dem Menschen eine Chance überhaupt bietet, steht nicht in seiner Macht. Wohl aber, dass er eine sich bietende 140 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

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Chance, wenn er sie als solche erkannt hat, ergreift. Das kooperative Modell zwischen Mensch und Gott kann sich – wie in der Steuermannssituation – im Ergreifen von Chancen realisieren, aber es kann sich auch, etwa in einer Gesetzgebungssituation, im Nachgehen einer Inspiration realisieren. Das bezeugt das Geschehen der Nomoi selbst, in dem die Innovation der Proömien gerade auf die Einwirkung göttlicher Inspiration zurückgeführt wird 50. Dabei stehen vernünftige Überlegung und Inspiration in keinem Gegensatzverhältnis. Die Freiheit des vernünftigen menschlichen Tuns wird durch sie nicht angetastet. Die Bedeutung der hier angeführten Stelle, die das in den Nomoi zugrundegelegte kooperative, die menschliche Willensfreiheit respektierende Modell zwischen Gott und Mensch belegt, scheint mir auch darin zu liegen, dass hier und nur hier in den Nomoi implizit die Frage gestellt wird, wie ein Gesetz überhaupt zustande kommt. In dieser Situation sind es neben den Umständen vor allem Gott und dann auch das menschliche Können, die dafür verantwortlich gemacht werden. In dieser Ursituation tritt daher der primäre Rang der göttlich unterstützten und inspirierten menschlichen Vernunft vor dem gegebenen Gesetz am deutlichsten hervor 51. In einem ersten Zugang hinkt das Bild von der Marionette auch darin, dass der die Puppe an Drähten leitende Gott alle Drähte in der Hand hält und nicht nur den ausgezeichneten Leit-Draht der vernünftigen Überlegung. Denn die Affekte und ihre Regungen sind zunächst einmal als eine im Gegensatz zur Vernunft stehende irrationale und chaotische Eigenmacht anzusetzen. Unter den Randbedingungen der liturgischen Situation allerdings scheint mir das Bild vom alle Drähte in der Hand haltenden Gott dann doch wieder passend zu sein. Denn die liturgischen Gesänge und Tänze im Chorreigen bewegen den Mitfeiernden nicht nur über den Leit-Draht der Vernunft, sondern auch und sogar hervorstechend über die ihn dort überkommende Affektivität. Der Gedanke, dass auch hinter einem Affekt ein Gott stehen kann, ist Platon nicht fremd. Das zeigen die Reden, die im platonischen Symposion über den Gott Eros geführt werden 52. In der Konzeption einer liturgischen Rationalität in den Nomoi findet dieser Gedanke dann eine 50 51 52

Vgl. 722c. Vgl. auch 811c. Zur Differenz von Vernunft und Gesetz vgl. auch 835e. Vgl. Wieland 1990, XVIII f.

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systematische Anwendung. Von da aus wird verständlich, wieso Platon in den Nomoi die liturgische Situation geradezu sucht 53. Erst in ihr findet das im Marionettengleichnis gezeigte Rationalitätsgeschehen in vollem Sinne statt. Das Bild von der Marionette will – gemäß einer Formulierung, die sich im Gleichnis selbst findet – die »wahre Ansicht (logon alêthê) über diese Zugkräfte« (645b) zum Ausdruck bringen. Diese »wahre Ansicht« ist nicht identisch mit der ausgezeichneten, aber schwachen Zugkraft der »vernünftigen Überlegung« (logismos) 54. Aber die vernünftige Überlegung hat prinzipiell die Möglichkeit zu dieser »wahren Ansicht über diese Zugkräfte« und damit auch zu einer Einsicht über sich selbst zu kommen. Wie das geschieht, bleibt unausgemacht. Dass die schwache Vernunft diese Einsicht in ihre Schwäche und die möglichen Abhilfen haben kann, ist aber nicht widersprüchlich. Es ist dann vernünftig von ihr, diese Schwäche zu akzeptieren und sich auf die sich bietenden und als valide erkannten Hilfen und Hilfssituationen einzulassen. Mit der im Marionettengleichnis auftauchenden Rede von den »Zugkräften« (tôn helxeôn 644e) ist eine sprachliche Berührung zum Höhlengleichnis und dessen Ausdeutung in der Politeia gegeben. Vor dem Hintergrund des Bildes der hinauf ans Licht zu bringenden ehemaligen Gefangenen in der Höhle war – wie wir gesehen hatten – die Frage entstanden, welche Bildungsmittel einen entsprechenden »Zug (holkon) zum Sein« bewerkstelligen können. Auch dort war das Wissen um die Zugkräfte von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der ins Auge gefassten Erziehung. Die Bestimmung dieser Zugkräfte erDas markiert einen Unterschied zu Aristoteles, auf den Frede 2010, 125 sehr gut hinweist, obgleich sie die religiöse Dimension der musischen Erziehung bei Platon vollkommen außer Acht lässt: »It is no accident that Plato does not have in mind the practice of moral actions in real life that Aristotle recommends for the acquisition and maintenance of character virtues, but only the practice of musical training. What must seem strange from an Aristotelian standpoint – that is, that not the practice in life but the practice »on stage« is to be morally effective – is explained by the fact that Plato is concerned with »continued educational correction« […] Artistic practice serves, rather, as a corrective of the corruptions of life’s practices«. In der Tat sind es vom profanen Alltag abgehobene künstliche und künstlerische Situationen, von denen Platon sich eine echte Verbesserung des Menschen verspricht. Aber das allein greift noch zu kurz. Erst in der liturgischen Situation kommt sein Erziehungskonzept zur Vollendung. 54 Vgl. die Diskussion dieser Frage bei Schöpsdau 1994, 233 f. 53

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folgt in der Politeia aber in einer ganz anderen Orientierung als in den Nomoi. Es sind die mathematischen Disziplinen, deren Platon sich in der Politeia »als eines auf alle Weise zum Sein Hinziehenden« (helktikô 523a) bedienen möchte. Demgegenüber wird diese Berührstelle in den Nomoi ganz anders ausgefüllt. Nicht die Mathematik innerhalb einer strikt intellektuellen Erziehung, sondern die Affekte und Gott innerhalb einer liturgischen, musisch-religiösen Erziehung leisten hier im Verein mit der Vernunft die entscheidende Zugwirkung. Der aus der Politeia abnehmbare strikt intellektuelle, sich schließlich im rein intelligiblen Begriff verwirklichende Vernunftbegriff wird infolgedessen nach zwei Seiten hin geöffnet. Die Öffnung hin auf die Affekte verdeutlicht eine neue, nicht unmaßgebliche Rolle der Sinnlichkeit innerhalb des Bemühens um rationale Weltorientierung. Dieses erlebt durch die Anerkennung der Rolle von Affekten und Emotionen, in denen uns etwas unmittelbar gegenwärtig wird, gleichsam einen Realitätsschub. Die Öffnung hin auf Gott bzw. die Götter ist als Neubewertung der Rolle, die die Spiritualität innerhalb des rationalen Unternehmens einnimmt, anzusehen. Die geistige Dimension der Wirklichkeitserfassung wird hier dezidiert um die geistliche Dimension erweitert. Es ist die Trias von Emotionalität, Intellektualität und Spiritualität, die den in den Nomoi zugrundeliegenden Rationalitätsbegriff kennzeichnet. Wollte man im Zusammenhang des Höhlengleichnisses und Marionettengleichnisses überhaupt von Vergleichbarkeit und Umfassung sprechen, dann ließe sich eher davon sprechen, dass das Marionettengleichnis das Höhlengleichnis umfasst als umgekehrt. Unter den im Marionettengleichnis genannten Logismos ließen sich die mathematisch-dialektischen Bemühungen des angehenden Regenten der Politeia zur Not subsumieren. Dagegen findet die mitorientierende Stellung der Affekte und die Gottes aus dem Marionettengleichnis im Höhlengleichnis keine Entsprechung 55. Dass man das Marionettengleichnis gerade im Vergleich zum Höhlengleichnis philosophisch unterschätzt hat, dafür ist sicherlich die Position dieses Gleichnisses innerhalb des Gesamt-Dialoges mitverantwortlich. Denn an der frühen Stelle gegen Ende des I. Buches, an der Schöpsdau 1994, 231 weist dagegen auf Resp. 603d ff. hin und sieht in dieser Passage den »sachlichen Gehalt« des Bildes von der Marionette bereits voll entfaltet. Das ist trotz der vorliegenden Übereinstimmungen nicht richtig, weil Gott zum sachlichen Gehalt des Bildes von der Marionette dazugehört.

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es steht, kann es noch gar nicht in seiner vollen philosophischen Tragweite begriffen werden. Diese erschließt sich erst nach und nach im weiteren Verlauf des Dialoges und es ist erst das Wissen um das Ganze der Nomoi, von dem her sich die Botschaft der liturgischen Rationalität mit einiger Sicherheit aus diesem Gleichnis entnehmen lässt. Dazu kommt, dass man bei der Gleichnisinterpretation die Aufmerksamkeit vorrangig auf den externen Faktor »Gesetz« legt, sodass der Gedanke der »legalen« Rationalität, der mit der üblichen Gesamteinschätzung der Nomoi und ihrer Verdienste als politisches Werk genau übereinstimmt, im Vordergrund steht. Dass das Bild von der Marionette noch einen anderen, echt externen Faktor, nämlich Gott bzw. die Götter und von ihnen abhängige liturgische Situationen, präsentiert, fällt dabei regelmäßig unter den Tisch. Wie kein zweites Textstück in den Nomoi belegt das Marionettengleichnis die Anvisierung des Kindes im vernünftigen Erwachsenen, von der wir im Zusammenhang der Nomoi-Paideia in Kapitel 4 gesprochen hatten. Darauf lässt eine sehr interessante Stelle in Buch II schließen 56. Der Athener exponiert dort die Idee eines ganz allgemeinen Aufführungswettkampfes, in dem jeder Wettbewerber die Kunstform, mit der er in die Konkurrenz eintritt, selbst wählen darf. Wer würde bei einem solchen Freistil-Aufführungswettbewerb der Sieger sein? Diese seltsame Frage lässt gewisse Vorsortierungen in der Antwort im Hinblick auf die Altersgruppe der Zuschauer zu. Die erste Vorsortierung, die der Athener gibt, lautet so: »Nun also: Wenn die ganz kleinen Kinder zu entscheiden hätten, so würden sie sich für den entscheiden, der die Puppen (ta thaumata) vorführt; nicht wahr?« (658c). Es taucht hier genau dasselbe Wort für »Puppen« auf, das im Gleichnis von der Marionette gewöhnlich mit »Marionette« übersetzt wird: thauma 57. Der Uradressat der faszinierenden Puppen sind gemäß dieser Aussage des Atheners die ganz kleinen Kinder. Das heißt natürlich nicht, dass das Bild von der Marionette sich an die ganz kleinen Kinder richten würde, Adressat dieses Gleichnisses sind Erwachsene. Aber eben Erwachsene, insofern sie eine Kindlichkeit besitzen, die sich Vgl. 658a ff. Das Wort bedeutet eigentlich »Wunder« bzw. »Wunderwerk«. Das übliche Wort für Marionette im Griechischen ist neurospaston. Dieses Wort verwendet Platon in den Nomoi jedoch nicht. Vgl. Schöpsdau 1994, 237 und Jouët-Pastré 2006, 49 f.

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von diesem Bild in vernünftiger Weise faszinieren lässt und die für diejenige aus Sensibilität, Intellektualität und Spiritualität konstituierte Vernünftigkeit steht, die das Bild selbst symbolisieren möchte. Der gemäßeste Adressat dieses Bildes ist daher der Inhaber derjenigen Vernünftigkeit, für die das Bild steht. Zugleich ist dieses Bild vom greisen Athener aus einer derartigen Vernünftigkeit heraus entworfen worden 58. So ist es also Produkt, Symbol und Anschauungsgegenstand einer solchen Vernünftigkeit. Die im Marionettengleichnis erhobene Forderung, dass der Staat die »wahre Ansicht« über die Zugkräfte »übernehmen und sie zum Gesetz erheben […] muss« (645b), findet ihre konkrete Umsetzung in der Anfangspartie des VIII. Buches der Nomoi 59. Dort wendet sich das Gespräch der in Verbindung mit Delphi durchzuführenden Anordnung von Götterfesten zu. In der Frage der Festlegung der Anzahl der Feste wird der magnesische Gesetzgeber von den Gesprächspartnern für autonom erachtet. Dennoch dürfte die konkrete Ausfüllung dieses Spielraums durch den Athener für Kleinias und Megillos überraschend sein. Denn es soll nicht weniger als 365 Feste (828b) geben, d. h. pro Tag findet mindestens ein Gottesdienst und in Verbindung damit ein Reigentanz statt 60, der durch je eine Behörde zelebriert wird. So sorgt der Staat mit täglichen gottesdienstlichen Feiern für eine ununterbrochene Liturgie, die in der entfalteten Logik des Bildes von der Marionette liegt. Die Teilnahme an diesen Feiern ist aufgrund der besonderen Randbedingungen des Nomoi-Staates, die seinen Bürgern bei gutem Auskommen außergewöhnlich viel freie Zeit gewährleisten 61, prinzipiell für alle möglich, für den Teil, der mit der feierlichen Durchführung beauftragt ist, verbindlich 62. Verbindlich ist sicherlich auch die Teilnahme an den gesetzlich festgelegten monatlichen Festen für die 12 Götter, nach denen die Phylen benannt sind 63. Diese sollen zusammen mit Reigentänzen und musischen und gymnastischen WettkämpVgl. 646a. Vgl. 828a–d. 60 Vgl. Wilamowitz 1919, I 679 f. 61 Vgl. 828d. 62 Vgl. 949c–d. 63 Zu diesen Gottesdiensten für die Phylengötter treten gemäß 771d noch monatlich durchgeführte Feste für die Demengötter, vgl. Schöpsdau 2003, 447. 58 59

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fen begangen werden (828b–c). Es ist eine mit Leib und Seele praktizierte Religiosität, die hier angeordnet 64 und durch Veranstaltungen im Umkreis der eigentlich gottesdienstlichen Handlung weiter entfaltet wird. Auch dies liegt in der Logik des den ganzen Menschen von Gott her in seiner körperlichen und seelischen Bewegtheit intendierenden Bildes von der Marionette. Die Anordnungen sehen schließlich teils mit teils ohne Männer zu begehende gottesdienstliche Feiern für Frauen und die Trennung des Kultes der olympischen Götter vom Kult der chtonischen Götter vor (828c–d). Die chtonischen Götterfeste gehören in den 12. Monat, den Monat des Gottes Pluton. Das entspricht der bereits in der Ansprache an die Siedler verordneten Trennung zwischen dem Kult der olympischen und chtonischen Götter (vgl. 717a f.). Die gebotene Verehrung des Unterweltgottes Pluton, die in der Überwindung der Furcht vor dem Tod ihren konkreten Ausdruck finden soll, insofern dieser als Trennung von Körper und Seele nicht schlechter als deren Vereinigung – das Leben – ist (vgl. 828d), bietet die Überleitung zu den Anordnungen zu den militärischen Übungen. Hält man sich diese Militärverordnungen und die Art, wie sie entwickelt werden, vor Augen, dann können einem starke Zweifel an der zu Beginn des Gespräches vom Athener geäußerten Grundorientierung auf den Frieden und eben gerade nicht auf den Krieg hin kommen. Es wird behauptet, dass, wenn ein Staat gut ist, ihm ein friedliches Leben zuteil wird (829a). Daraus wird dann auf die Notwendigkeit einer Vorbereitung auf den Krieg bereits in Friedenszeiten geschlossen und damit (829b) auf die Notwendigkeit militärischer Übungen. Die angesprochene »Güte« des Staates scheint daher in seiner militärischen Vgl. auch den kurzen Abriss, den O’Meara 2012, 106–108 über die räumlich-zeitliche Gestaltung der Religion in Magnesia gibt. Sein Fazit lautet: »Kurz man darf wohl den Schluss ziehen, dass das ganze Leben der Bewohner Magnesias räumlich und zeitlich voll den Göttern gewidmet ist. Stets und überall finden religiöse Feiern statt. Das heißt, dass u. a. sehr oft getanzt, gesungen, geopfert, gebetet wird« (108). Ganz richtig sieht O’Meara die Wichtigkeit von gelebter und leibhaftiger Religiosität in Magnesia. Insofern er diese gelebte und leibhaftige Religiosität aber im Blick auf den Timaios und gemäß der Linie der Platon-Interpretation des Aristoteles (Platon als Pythagoreer, vgl. Met. A 6) als »gelebte, leibhaft gewordene Mathematik« (113) fasst, scheint er mir die Stellung der Mathematik bei Platon doch zu absolut zu nehmen. Die in den Nomoi so entscheidenden Stichworte »Affekte« und »Gott« lassen sich nicht auf Mathematik reduzieren. Dem versucht das über eine rein mathematische Rationalität hinausgehende Konzept einer liturgischen Rationalität gerecht zu werden.

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Wehrhaftigkeit zu liegen, worauf der Gesetzgeber dann sein Hauptaugenmerk zu richten hätte. Das aber scheint genau die »si vis pacem, para bellum«-Logik zu sein, die Kleinias und Megillos zu Beginn des Gespräches vertreten hatten und gegen die der Athener sich gewendet hatte. Die dann folgenden materialen Bestimmungen, die tägliche »kleine« Feldübungen ohne Waffen und monatliche »große« Feldübungen in Waffen, bei denen die Bevölkerung ganz oder teilweise mobil macht und in deren Verlauf Tote bewusst in Kauf genommen werden, vorsehen 65, um sich auf den »größten aller Kämpfe« (830c) vorzubereiten, scheinen den Eindruck einer nicht mehr ganz klaren Prioritätensetzung zwischen Krieg und Frieden weiter zu bestätigen. Dazu kommt noch die im Anschluss (832d ff.) vorgenommene Militarisierung des Sports, der in Magnesia gemäß der Grundregel, dass Sport im Hinblick auf den Krieg zu betreiben sei 66, zum Wehrsport wird. Um in dieser Nomoi-Ur-Frage des Verhältnisses von Krieg und Frieden so weit wie möglich Klarheit zu erlangen, wenden wir uns nun noch dem Textstück aus dem VII. Buch zu, das das genauste Entsprechungsstück zum bereits im I. Buch vorgetragenen Marionettengleichnis darstellt. 803a ff. fällt der Athener für kurze Zeit in eine tiefgehende Besinnung. Im Bilde sprechend stellt er die Frage, wie unser Lebensschiff am besten durch die Fahrt unseres Daseins hindurchzusteuern sei. Es sind merkwürdige und resignativ anmutende Äußerungen, die diese Frage bei ihm hervorruft: »Nun sind ja zwar die Angelegenheiten der Menschen großen Ernstes nicht wert, doch es ist nun einmal notwendig, sie ernst zu nehmen; das ist aber kein glücklicher Umstand« (803b). Er stellt dann klar, was es mit dieser sich in diesen Äußerungen andeutenden Relativierung der Bedeutung des Menschen auf sich hat; in dieser Klarstellung wird zugleich der direkte Anschluss zur Bildwelt des Marionettengleichnisses hergestellt: »Ich meine dies: auf das Ernste soll man Ernst verwenden, auf das Nichternste aber nicht; seiner Natur nach ist aber Gott (theon) alles seligen Ernstes würdig; der Mensch dagegen ist, wie wir früher gesagt haben, als Spielzeug Gottes (theou ti paignion) geschaffen worden, und dies ist in der Tat das Beste an ihm. Dieser Rolle nun sich fügend und die allerschönsten Spiele spielend (paizonta 65 66

Vgl. 830d–831b, 829b. Vgl. 832e.

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hoti kallistas paidias), muss ein jeder, Mann und Frau, sein Leben zubringen in einer der jetzt herrschenden entgegengesetzten Denkweise« (803c). Die Relativierung des Menschen ist im Blick auf Gott zu verstehen. Seine Zentralstellung, die sich bereits aus anderen Stellen der Nomoi, die wir angeführt hatten, ergibt, wird hier bekräftigt und noch einmal in gesteigerter, kaum überbietbarer Weise ausgesagt. Zugleich wird Gott mit dieser Zentralstellung in das Bild von der Marionette unmissverständlich eingefügt, wodurch sich eine Ignorierung des Puppenspielers der Puppe bei der Deutung des Bildes endgültig verbietet. Aufgabe des Menschen, »das Beste an ihm«, ist es, sich als Puppe der Direktion des Puppenspielers zu fügen und so die »allerschönsten Spiele« zu spielen. Was das im Klartext heißt, sagt der Athener wenig später: »Man muss sein Leben mit bestimmten Spielen verbringen, mit Opfern, Singen und Tanzen, so dass man imstande ist, sich die Götter gnädig zu stimmen und andererseits die Feinde abzuwehren und im Kampf zu besiegen« (803e). Der beständige Gottesdienst, die lebenslange Liturgie, die sich im Opfer und Reigentanz konkret vollzieht, ist es, woran der Mensch als Spielzeug Gottes seinen Ernst beweisen soll. Gemäß dem Bild von der Marionette, das hier seine endgültige Ausdeutung erfährt, sichern ihm diese liturgischen Handlungen seine Besonnenheit und Vernünftigkeit. Sie tun dies, indem sich mit ihnen eine Umkehrung der Denkweise vollzieht, die der »jetzt herrschenden« entgegengesetzt ist. Die »jetzt herrschende« Denkweise zeichnet sich durch ihre Konzentration auf den Krieg und das Fehlen einer positiven Bestimmung von Frieden aus. Das kann mit Äußerungen einhergehen, die rein formal dem Frieden den Vorrang vor dem Krieg einräumen, so wie sie der Athener hier aus dem herrschenden Bewusstsein gleichsam zitiert: »man glaubt nämlich, das Kriegswesen, das eine ernste Sache sei, müsse um des Friedens willen gut geregelt werden« (803d) 67. Diese Aussage bereitet der Auslegung Schwierigkeiten, weil sie denselben Sinn zu haben scheint wie die Äußerung des Atheners 628d–e, dass der Gesetzgeber die kriegerischen Anordnungen um des Friedens willen treffen soll. Die dortige Äußerung war Ausdruck eines neuen, reformierten Denkens, das den Frieden in das Zentrum der Überlegungen des Ge67

Übersetzung nach Schöpsdau 2003, 106.

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setzgebers stellte. Die jetzige Aussage wird dagegen vom Athener als Zeugnis des alten, zu überwindenden Denkens hingestellt 68. Das hat aber seine Berechtigung, denn die Aussage konzentriert sich auf den Krieg als ernste Sache, die um eines nicht weiter bedachten Friedens willen gut einzurichten sei. Das hinter ihr stehende Bewusstsein ist ein kriegerisches. Der Krieg und das kriegerische Bewusstsein wird vom Athener – ähnlich wie schon 641c – dann durch die Behauptung kritisiert, dass sich in ihm keine wirkliche Bildung (paideia) entwickele. Bildung aber sei das ernsteste (vgl. 803d). Auf sie also muss sich das Denken und Leben konzentrieren. Wenn sich die wirkliche Bildung nicht im Krieg ergeben kann, dann ist klar, sie ergibt sich im Frieden: »Also muss jeder das Leben im Frieden möglichst lange und möglichst gut zubringen« (803d). Aber was heißt das? Es ist die Pointe dieser Stelle, dass sie eine positive Bestimmung von einem Leben in Frieden als Abschluss der Bestimmung von Paideia, die als das ernsteste auf das, was allen Ernstes wert ist, bezogen sein muss, gibt: »Man muss sein Leben mit bestimmten Spielen verbringen, mit Opfern, Singen und Tanzen […]« (803e). Die Umkehrung des Denkens, über die sich der Athener in diesem inspirierten Moment des Gespräches ausspricht, besteht in einer Konzentration auf den Frieden und das heißt bestimmter den Gottesdienst 69. In der Spiritualität des liturgischen Geschehens des Opferns, Singens und Tanzens vollzieht sich jene erweiterte Vernunft, die im Bild von der Marionette symbolisiert wird und die zugleich auch die Besonnenheit und Friedlichkeit des Menschen sichert. Der in Kapitel 2 im Kontext des Problems der relativen Unbestimmtheit der Orientierung an der Gesamttugend herausgearbeitete Zusammenhang von Vernunft, Besonnenheit und Frieden findet im liturgischen Geschehen seine konkrete Einheit. Letzter Garant dieser Vernunft, dieser Besonnenheit und dieses Friedens ist der hinter dem liturgischen Geschehen stehende Gott. Im Blick auf ihn und unter dem alles überragenden Eindruck (pathôn 804b) seiner hat der Athener sich zu diesen Vgl. Schöpsdau 2003, 550 f. Zur Akzeptanz dieser Umkehrung trägt sicherlich die von Platon nicht in Frage gestellte Verknüpfung von Spiritualität und optimaler Wehrtüchtigkeit bei. W. Jaeger hat in diesem Zusammenhang die geistlichen Ritterorden des Mittelalters als reale Beispiele für die in den Nomoi entworfene Verknüpfung von Geistlichkeit und Wehrhaftigkeit angeführt (vgl. Jaeger 1947, 334). Die Dissoziation von Geistlichkeit und Wehrhaftigkeit, die die Friedensalternative noch anstößiger machen würde, wird in den Nomoi nicht erwogen.

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6 · Emotionalität und Spiritualität in den Nomoi

in die Tiefe der Nomoi-Konzeption blicken lassenden Äußerungen hinreißen lassen, wie er Megillos gegenüber rechtfertigend und friedvoll beschwichtigend bekennt (vgl. 804b). Dieses Bekenntnis des Atheners von einer geradezu leibhaftig empfundenen überragenden göttlichen Beeindruckung, unter der er seine Aussagen trifft, kann uns noch einmal auf die am Ende von Kapitel 3 gestellte Frage nach dem Status der Nomoi zurückleiten, um sie im Lichte der nun weiter fortgeschrittenen Untersuchung neu zu prüfen. Im Zusammenhang der Betonung der Priorität des Dialog-Geschehens der Nomoi vor ihrer Betrachtung als reines Schriftwerk hatten wir auf zwei Schlüsselstellen im Dialog hingewiesen, an denen eine Statusbestimmung des Nomoi-Geschehens vorgenommen wird. Die erste Stelle findet sich innerhalb der Passage des III. Buches, mit deren Besprechung wir die Überlegungen dieses Kapitels eröffnet hatten. 685a äußert sich der Athener in Bezug auf die nicht »ganz leichte« Frage nach den Ursachen des Untergangs von Argos und Messene folgendermaßen: »Und doch müssen wir diese Frage jetzt erörtern und prüfen, indem wir über Gesetze ein uns Alten angemessenes vernünftiges Spiel spielen (peri nomôn paizontas paidian presbytikên sôphrona) […]«. Der Status der Nomoi wird an dieser Stelle als ein »vernünftiges (genauer: besonnenes) Greisenspiel über Gesetze«, das es zu spielen gilt, bestimmt. Die zweite Stelle 769a bestätigt diese Bestimmung. Es ist von Seiten des Atheners von einem »vernünftigen Spiel der Greise« (hê presbytôn emphrôn paidia) die Rede, das bis hierhin durchgespielt sei. Die Antwort des Kleinias macht klar, dass es mit Ernst (spoudên) betrieben wird. Die Nomoi – ein vernünftig-besonnenes Greisenspiel über Gesetze, das es mit Ernst zu spielen gilt. Vor dem Hintergrund der durch das Marionettengleichnis symbolisierten Grundsituation des Menschen ist jetzt auch die Frage berechtigt, für wen dieses Spiel gespielt wird? Und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass dieses Spiel für die Götter bzw. für Gott gespielt wird. Das deckt sich mit dem Grundrahmen, den Platon dem Gespräch gegeben hat und an den der Athener 685a–b im direkten Anschluss an die Statusbestimmung erinnert. Das Gespräch spielt sich auf einer Wanderung zur Grotte des Zeus ab. Wenn der Status des Nomoi-Geschehens daher als ein Spiel bestimmt wird, dann ist damit jenes heilige Spiel der gottesdienstlichen Handlung gemeint, 150 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

6 · Emotionalität und Spiritualität in den Nomoi

das im Gespräch selbst in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Der Athener deutet das Nomoi-Geschehen als eine außerordentliche Liturgie, dem die im Gespräch erörterten erweiterten Möglichkeiten der liturgischen Rationalität selbst zugute kommen. Auf dem leibhaftig begangenen anstrengenden Weg in der konkreten Natur unter der Macht der zunächst auf- und dann untergehenden Sonne kommen Spiritualität und Sensibilität zusammen, wie beispielhaft der göttlich inspirierte Einfall der Proömien an einem Rastplatz zur Mittagszeit zeigt 70. Das sich als heilige Spielhandlung vollziehende liturgische Geschehen der Nomoi subsistiert auch noch dem sich auf seiner Grundlage ereignenden Dialog. Es besteht schon vor Beginn desselben und währt auch nach seinem Ende weiter. Berücksichtigt man diese Differenz, dann ergibt sich die Möglichkeit, die dramatische Tatsache, dass Platon das Nomoi-Gespräch vor Erreichen des eigentlichen Pilgerziels enden lässt, neu zu deuten 71. Das Ende des Gesprächs könnte ein Hinweis darauf sein, dass von nun an bis zum Erreichen des Ziels das ordentliche liturgische Verhalten der drei alten Pilger einsetzt. Dieses könnte im Schweigen, im Gebet oder – vor dem Hintergrund des Erörterten ganz besonders nahe liegend – im gemeinsamen, auf einer Art feierlicher Prozession sich abspielenden, spirituellen Gesang bestehen. Das Konzept einer liturgischen Rationalität, das Platon in den Nomoi konsequent durchführt, wirft natürlich Fragen auf. Der letzte Orientierungspunkt dieses Konzepts sind Gott bzw. die Götter. Hier erhebt sich zuerst die Frage, ob dieser letzte Orientierungspunkt überhaupt existiert, aber dann auch, in welchem Verhältnis Gott zu den Göttern steht und was mit der Rede von »Gott« in den Nomoi überhaupt gemeint ist. Es ist das berühmte X. Buch der Nomoi, das die Existenzfrage in Bezug auf Gott durch seinen Gottesbeweis direkt angeht. Untergründig werden in ihm aber auch die Referenz-Frage und die Frage nach dem Gottesbegriff mitbehandelt. Diesem Teil der Nomoi, der immer schon das philosophische Interesse auf sich gezogen hat, müssen auch wir uns nun zuwenden.

Vgl. 722c ff. Vgl. auch 811c–d. Schöpsdau 1994, 104 f. sieht darin einen Hinweis, dass das Gesetzeswerk an seine Grenze gelangt ist, weil gewisse Fragen erst in der Praxis entschieden werden können. Ähnlich hält Kenklies 2007, 28 diesen Umstand für ein Anzeichen der Unabgeschlossenheit des Gesetzeswerkes.

70 71

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Kapitel 7: Der Gottesbeweis im X. Buch

Das X. Buch der Nomoi führt die im IX. Buch begonnene Strafgesetzgebung fort. Der Blick richtet sich hier auf die Deliktklasse der »zuchtlosen und frevelhaften Handlungen der jungen Leute« (884a). Hybris ist das Stichwort für die hinter diesen Delikten stehende, vornehmlich jungen Menschen unterstellte Geistesverfassung 1. Auch das AsebieDelikt, dem sich der Athener nach Aufzählung von 5 Arten von Freveltaten in absteigender Schwere zuwendet und dessen Behandlung dann den ganzen restlichen Raum des Buches einnimmt, fällt unter den Oberbegriff der Taten aus Hybris 2. Es sind »alle Äußerungen oder Handlungen […], durch die jemand in Wort oder Tat gegen die Götter frevelt (hybrizei)« (885b), die nach dem Willen des Atheners einer strafrechtlichen Ahndung unterliegen sollen. Gemäß der ProömienKonzeption der Nomoi wird dem Strafgesetz zur Asebie aber eine »Ermahnung« 3 (885b) vorausgeschickt. Aus ihr wird deutlich, welche Tatbestände genau es sind, die unter das Asebie-Gesetz fallen. Sie lautet folgendermaßen: »Niemand, der gemäß den Gesetzen an das Dasein der Götter glaubt, hat jemals freiwillig eine unfromme Tat begangen oder ein gesetzloses Wort geäußert, sondern das geschieht nur, wenn sich jemand in einem der drei folgenden Zustände befindet: wenn er entweder, wie eben gesagt, nicht an das Dasein der Götter glaubt oder zweitens glaubt, es gebe zwar Götter, aber sie kümmerten sich nicht um Schöpsdau 2011, 365 weist darauf hin, dass eine präzise Definition von Hybris fehlt. Seine Erläuterungen zum Begriff der Hybris 367 f. sind noch um die für das X. Buch maßgebliche Kernkomponente einer Überheblichkeit gegenüber den Göttern zu ergänzen. 2 Schöpsdau 2011, 365 f. nimmt an, dass das Asebie-Delikt unter die aufgezählte erste Art von Hybris fällt. Dass es sich um Hybris handelt, ist aufgrund der Formulierung klar. Ob diese Form der Hybris unter die erste Art fällt oder ob mit ihr eine eigenständige neue Form von Hybris eingeführt wird, bleibt m. E. offen. 3 paramythion. Vgl. 720a und Mayhew 2008, 55. 1

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7 · Der Gottesbeweis im X. Buch

Menschen, oder drittens, sie seien leicht durch Opfer und Gebete umzustimmen und zu beeinflussen« (885b). Die der Eusebie – dem Glauben an die Götter gemäß den Gesetzen 4 – entgegenstehende Asebie äußert sich also in drei Positionen. Zum ersten in der atheistischen Position, die die Existenz der Götter leugnet. Zum zweiten in der deistischen Position, die zwar ihre Existenz annimmt, aber ihre Fürsorge um die Menschen leugnet. Schließlich in der traditionell theistischen Position, die Existenz und Fürsorge der Götter annimmt, aber von der Bestechlichkeit der Götter ausgeht 5. Die dritte Asebie-Position zeigt sich nicht darin, dass man überhaupt versucht, die Götter durch Gebete und Opfer zu beeinflussen, sondern, wie der Athener im Folgenden immer wieder klar macht, dass man dies entgegen der Gerechtigkeit versucht und damit die Götter als bestechliche und moralisch nicht integere Wesen ansetzt 6. Mit seiner Antwort auf die Vorstellung der Asebie-Position durch den Athener grenzt sich Kleinias unmittelbar von der Position »dieser Leute« (vgl. 885c) ab. Schärfer noch fällt die Distanzierung des Atheners gegenüber der Position dieser, wie er sie nennt, »schlechten Menschen« (886a) aus 7. Das bekundet sich besonders in der von ihm vorgenommenen Pathologisierung dieser Positionen. Bereits in der Erstvorstellung dieser Positionen verwendet er das Verb paschein, das das Leiden an einem krankhaften Zustand meinen kann (885b). Später spricht er dann geradezu von diesen Positionen als von Krankheiten 8. Durch diese auf der Gesprächsebene gezeigte klare Distanz des Atheners und seiner Mitstreiter gegenüber der Asebie-Position wird deutlich, dass die positiven Inhalte der Asebie-Gesetze auch die tatsächliche Meinung des Atheners und seiner beiden Mitunterredner widerspiegeln. Angesichts der Äußerungen und des Verhaltens gerade des Atheners wird Deutungen, die in der Asebie-Gesetzgebung lediglich eine vorgeschobene Maßnahme für die Volkserziehung sehen, die für eine

Zur Zweideutigkeit dieses Ausdrucks vgl. Mayhew 2008, 55 und Schöpsdau 2011, 375. 5 Ich übernehme hier die Positions-Benennungen Mayhews. Vgl. Mayhew 2008, 4 f., 58. Vgl. auch Bordt 2006, 173 und 888c. 6 Vgl. 907b, 885d, 905d, 907a, 887b. Vgl. Schöpsdau 2011, 372 f. und 375 f. 7 Vgl. auch 891b. 8 Eindeutig in 888b–c, was die späteren Vorkommnisse von pathos in 900b und 908c auch eindeutig macht. 4

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intellektuelle Philosophen-Elite allenfalls eine vordergründige Verbindlichkeit besitzt, der Boden entzogen. Die ganz klare Abgrenzung von der Asebie-Position führt beim Athener jedoch keineswegs zur Diskursverweigerung mit den Vertretern dieser Position. Im Gegenteil. Er ist es, der »diese Leute« in einer fiktiven Ansprache zu Wort kommen lässt (885c–e). Der Wortführer der Asebisten wird dabei als jemand fingiert, der von der ProömienNeuerung, zu der sich die drei Greise gerade erst entschlossen haben, bereits weiß und auf ihrer Grundlage sogleich selbstbewusst Forderungen stellt. Obwohl Platon durch diese Rede auch ein Charakterbild eines typischen Asebisten zeichnet, bei dem letztlich der Eindruck einer frechen und arroganten Renitenz zurückbleibt, ist doch die Hauptforderung, die dieser Wortführer stellt, »dass ihr, bevor ihr uns mit harten Drohungen kommt, zunächst den Versuch macht, uns durch Anführung ausreichender Beweise zu überzeugen und zu belehren, dass es Götter gibt (hymas proteron epicheirein peithein kai didaskein hôs eisi theoi, tekmêria legontes hikana) und dass sie zu gut sind, um sich, durch bestimmte Geschenke bestochen, von der Gerechtigkeit abbringen zu lassen« (885d), berechtigt und deckt sich mit genau jenen Intentionen, die den Athener, Kleinias und Megillos zum Proömien-Programm bewogen haben. Ein Götterbeweis stellt somit die erste Teilaufgabe dar für einen Gesetzgeber, der das Asebie-Gesetz durch ein Proömium einleiten möchte. Die Erfüllung dieser Aufgabe erscheint Kleinias ganz leicht. Auf die interessierte Nachfrage des Atheners gibt er dazu folgende summarische Auskunft: »Zunächst gibt es doch die Erde und die Sonne und die Sterne und das gesamte All und die so schön geordnete Folge der Jahreszeiten mit ihrer Einteilung in Jahre und Monate; und ferner die Tatsache, dass alle Hellenen und Barbaren glauben, dass es Götter gibt« (886a). Obwohl der Athener in seiner Reaktion auf diese ein wenig locker dahin geworfen wirkende Zusammenschüttung von möglichen Beweisgründen für die Existenz der Götter gleich zu verstehen gibt, dass sie aus Sicht eines Atheisten nicht beweiskräftig sein dürfte, gibt diese Auskunft des Kleinias doch die für den folgenden Beweis einzuschlagende Richtung vor. Zwar findet die Berufung auf den consensus gentium im Folgenden keine weitere Verwendung mehr 9; aber der im ers9

Wenn man von 887e und 888a–d absieht, vgl. Schöpsdau 2011, 377.

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ten Teil seiner Auskunft gegebene Hinweis auf die Gestirne und das Weltall sowie die durch die geordnete Himmelsbewegung bedingte schöne Ordnung der Jahreszeiten, Jahre und Monate enthält ein Beweispotential, das der Athener dann in seinem kosmologisch-teleologischen Argument ausnutzen wird 10. Weit davon entfernt zu glauben, dass diese Hinweise des Kleinias bei den Atheisten verfangen werden, vermutet der Athener eher eine verächtliche Aufnahme: »Ihr kennt nämlich nicht die Ursache ihrer abweichenden Überzeugung, sondern ihr meint, ihre Seelen würden lediglich durch ihre Unbeherrschtheit gegenüber den Lüsten und Begierden zu diesem unfrommen Leben hingetrieben« (886a–b). Als diese den beiden Dorern unbekannte Ursache des Atheismus macht der Athener eine »sehr schlimme Unwissenheit (amathia), die aber für die größte Weisheit (phronêsis) gilt« (886b), aus. Zwar präsentiert sich diese dünkelhafte Weisheit in zweifacher Weise, einmal in Dichtungen und Geschichten der Alten und zum anderen in Theorien der Jungen 11. Aber die Geschichten über die Entstehung der Welt und der Götter, wie sie sich bei den Alten und besonders repräsentativ bei Hesiod finden und die das Vertrauen in die Moralität der Götter untergraben – was sich an den Schreckgeschichten des Umgangs von Kronos mit seinem Vater Uranos und wiederum des Verhältnisses von Kronos zu seinem Sohn Zeus beispielhaft zeigen lässt –, werden vom Athener aufgrund ihres hohen Alters nicht mehr zum Zielpunkt der Kritik gemacht, zumal auch nicht ganz klar ist, inwiefern sie zur Begründung eines Atheismus dienen können 12. Stattdessen sind es die »Lehren der jüngeren Weisen« (886d), auf die sich der Athener als Ursache des Atheismus fokussiert. Diese Lehren sind es, die den von Kleinias vorgetragenen Hinweisen die Beweiskraft zu nehmen scheinen und bei denen der Zusammenhang mit dem Atheismus auf der Hand liegt: »Wenn wir beide, ich und du, Beweise dafür bringen, dass es Götter gibt, indem wir das eben Erwähnte, die Sonne, den Mond, die Sterne und die Erde als Götter und als etwas Göttliches anführen, so würden diejenigen, die sich von diesen Weisen bekehren ließen, behaupten, das seien ja bloß Erde und Steine und daher keinesfalls imstande, sich um die menschlichen Angelegenheiten zu kümmern, sondern sie seien lediglich durch 10 11 12

Vgl. Bordt 2006, 187 f., Mayhew 2008, 61 f., Brisson 1998, 188 f. Vgl. 886b–d. Vgl. dazu Bordt 2006, 188–190.

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unsere Reden hübsch aufgeputzt worden, um damit Glauben zu finden« 13 (886d–e). Die »Lehren der jüngeren Weisen« sind demnach materialistische Lehren, gemäß denen die Gestirne nicht als Götter, sondern als tote Materie anzusehen sind. Gewiss liegt hier eine Anspielung auf Anaxagoras vor, der dies in Bezug auf die Sonne vertreten haben soll und als Folge davon in Athen der Gottlosigkeit angeklagt wurde 14. Die nachfolgende Kritik an der materialistischen Lehre als Hauptgrund des Atheismus betrachtet dann aber keine eindeutig personifizierbare Spielart des Materialismus, sondern den Materialismus in einer allgemeinen Gestalt 15. Dass hinter dem Atheismus auch eine Theorie steht, mit der man sich intellektuell auseinandersetzen muss, wenn man die Asebie-Gesetze wirklich überzeugend einführen will, ist der an dieser Gesprächsstelle entwickelte neue Gedanke, der im Folgenden auch im Vordergrund steht. Das darf aber nicht vergessen machen, dass der Athener von einer Doppelfundiertheit des Atheismus ausgeht. Trotz der unerlässlichen Wichtigkeit der theoretischen Auseinandersetzung mit ihm ist der Atheismus keine rein theoretische Angelegenheit. Das Missverständnis, das der Athener bei den beiden Dorern kritisiert, ist, dass sie den Atheismus lediglich in der Unbeherrschtheit gegenüber den Lüsten und Begierden begründet sehen und nichts von den Argumenten wissen, auf die sich die Atheisten außerdem noch berufen können 16. Auch spätere Formulierungen des Atheners weisen auf eine im vorintellektuellen Emotionalbereich liegende Wurzel des Atheismus hin, wenn er 887a von denen spricht, die »es begehren, Asebisten zu sein« (toisin epithymousin asebein) 17, oder gemäß 888a die Unvernunft der Atheisten eindeutig in der »unersättlichen Gier nach Lust« ausmacht 18. Es ist zu einfach, diese vom Athener bekundete DoppelMan beachte die Doppeldeutigkeit in der Verwendung von »Erde« (gê). Vgl. 889b. Die Stelle legt die Vermutung nahe, dass Kleinias durch seine Äußerung 886a mit seinem Hinweis auf die Sonne, die Erde und die Sterne einen direkten Gottesbeweis intendiert hat. Vgl. Mayhew 2008, 62. 14 Vgl. Apol. 26d und Diogenes Laert. 2,12. 15 Im Anschluss an Muth 1956, 146 kann man von einer materialistischen »Koine« sprechen, die platonische »Einfärbungen« (Schöpsdau 2011, 386) aufweist. Vgl. Schöpsdau 2011, 385 f. und Mayhew 2008, 79. 16 Vgl. 886a–b. 17 Schöpsdau 1977 übersetzt: »denen, die zur Gottlosigkeit hinneigen«. 18 Vgl. auch Görgemanns 1960, 89 f. 13

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fundiertheit des Atheismus mithilfe einer Ursache-Wirkung-Beziehung nur auf den intellektuellen Grund zu reduzieren 19. Der vom Athener bei der Vorstellung der materialistischen Theorie dargelegte Zusammenhang zwischen Materialismus und gewaltverherrlichender, auf das Recht des Stärkeren setzender Einstellung (vgl. 889e–890a) ist in beide Richtungen zu lesen. Die materialistische Theorie ist nicht nur Grund, sondern auch theoretische Handhabe für die unbesonnene Haltung. Daher ist es auch berechtigt, einen Zusammenhang zwischen der »sehr schlimmen Unwissenheit« (amathia tis mala chalepê 886b), von der hier im X. Buch die Rede ist, und der »größten Unwissenheit« (megistên amathian 688e), von der im III. Buch die Rede war, zu vermuten. Mit der schlimmen Unwissenheit des Atheisten, die sich in seiner materialistischen Theorie präsentiert, ist zugleich ein seelischer Defekt in seinem Emotionalbereich verbunden, der zu einer Unstimmigkeit zwischen Vernunft und Begierden führt. Dieses Besonnenheitsdefizit zeigt sich in der Regel in offensichtlichen Unbeherrschtheitshandlungen; es kann sich aber auch auf den Kernbereich der Hybris, die Asebie, beschränken 20. So steht auch hinter dem Atheismus und gerade hinter ihm eine Unbesonnenheit, der man mit ausschließlich intellektuellen Mitteln nicht vollständig beikommen kann. Dennoch geht es jetzt um die gleichwohl unerlässliche intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Atheismus. Es ist Kleinias, der sich für die Unerlässlichkeit der ausführlichen argumentativen Auseinandersetzung mit dieser »schwer zu widerlegenden Lehre« (886e) stark macht. Vom Athener vor die Wahl gestellt, ob sie sich wie vor einem Tribunal gottloser Menschen für ihre Gesetzgebung verteidigen sollen oder ob sie es lassen und mit der Gesetzgebung weiter fortfahren sollen, damit nicht schon das Proömium länger als die Gesetze wird, vo-

In diese Richtung scheint Schöpsdau 2011, 377 z. St. 886a8-b8 zu gehen. Letzteres gilt für den gerechten Atheisten, von dem 908b im Asebie-Gesetz im Zusammenhang der Unterscheidung zwischen gerechten und »heuchlerischen« (vgl. 908e) Häretikern die Rede ist. Trotz seiner Gerechtigkeit wird auch bei ihm von einem Besonnenheitsdefizit ausgegangen (vgl. 909a). In seiner Charakterisierung findet sich ein Indiz dafür, wenn es heißt, dass er diejenigen, die die traditionelle Religiosität praktizieren, »auslacht« (908c). Dem gerechten Atheisten werden im Gegensatz zum heuchlerischen Atheisten keine Unbeherrschtheiten gegenüber Lust und Schmerz zugeschrieben (vgl. 908c); allerdings auch keine herausragende Intellektualität (ebd.), was gegen die Vermutung spricht, dass er durch die Beschäftigung mit atheistischen Theorien zu seiner Auffassung gelangt ist. Vgl. Schöpsdau 2011, 450–452.

19 20

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tiert er klar für den argumentativen Beweis der theistischen Position 21. Wie im Vorhergehenden bereits könne die erforderliche Ausführlichkeit kein Hinderungsgrund sein. Ein mit aller Überzeugungskraft geführter Beweis, »dass es Götter und zwar gute Götter gibt, die der Gerechtigkeit mehr Ehre geben als die Menschen« (887b), wäre sogar »für alle unsere Gesetze insgesamt die schönste und beste Vorrede« (887c). Durch diese Äußerungen scheint nun eine Zäsur geschaffen, die den eigentlichen Beginn des Proömiums markiert 22. Und in der Tat schickt sich der Athener an, mit seinen Ausführungen zu starten (887c). Dennoch beginnt er noch nicht mit der Beweisführung. Stattdessen folgt ein Passus mit enormer Suggestivkraft, der von Kleinias – man kann sagen – begeistert aufgenommen wird (888d). Nachdem der Athener mit der Frage »Sag also: wie könnte jemand, ohne sich zu ereifern, über das Dasein der Götter sprechen?« (887c) angehoben hat, redet er sich in einer langen Satzperiode »mit der Leidenschaft eines alttestamentlichen Propheten« 23 in Rage über die Atheisten, die man »hassen« (887d) muss, weil sie zu derlei Beweisunternehmungen Anlass geben. Es ist eine größtmögliche Distanzierung von den Atheisten und ihrer Position, die der Athener hier vornimmt. Umgekehrt betrachtet geschieht dadurch eine Vollidentifikation mit der theistischen Position, wie sie leidenschaftlicher kaum denkbar wäre. Aufgrund dieser Rede kann keinerlei Zweifel mehr über die vom Athener in der Frage der Existenz der Götter vertretene Meinung bestehen. Der Athener beschwört die Kindheit der Atheisten zurück 24. Sie sind vom Glauben an die Götter abgefallen trotz der Sagen, die sie gleichsam mit der Muttermilch aufgenommen haben; trotz der Gottesdienste, an denen sie als Kinder teilgenommen haben und bei denen sie ihre Eltern mit tiefem Ernst zu den Göttern haben beten und flehen sehen; trotz der Verehrung der Sonne und des Mondes durch alle Menschen, deren Zeuge sie wurden 25. Der Athener will durch diese äußerst kunstvolle Periode klar machen, wie unerhört die Leugnung der Götter Vgl. 886e–887c. 887a3 und 887c1–2 kommt das Wort prooimion erstmalig im X. Buch vor. 23 Görgemanns 1960, 89. 24 Vgl. 887d–e. 25 887e kann als Beleg dienen, dass auch Sonne und Mond im Volke traditionell verehrt wurden. Vgl. 821b. Einschränkend dazu Görgemanns 1960, 203 Anm. 1 und Schöpsdau 2011, 382 z. St. 21 22

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angesichts des in der Kindheit Erfahrenen ist. Zu einem Gutteil handelt es sich hier um eine atmosphärische Schilderung bei einem antiken Gottesdienst mit den Augen eines Kindes. Obwohl die hier angegebenen »Argumente« für den Götterglauben in der weiteren Diskussion keine explizite Verwendung mehr finden, wirft die Rede doch ein Schlaglicht auf die eigenständige Kraft des erlebten und gelebten Glaubens, mit der Platon in den Nomoi durchgehend rechnet. Hier wie sonst nirgends wird dieser wichtige Hintergrund der Nomoi für einen Moment illuminiert 26. Die Empörung des Atheners richtet sich gegen diejenigen, die – obwohl sie darin aufgewachsen sind – »das alles verachten ohne auch nur eine einzige ausreichende Begründung, wie wohl jeder sagen muss, der nur ein wenig Verstand (nou) besitzt […]« (887e) 27. Trotz seiner echten und nicht gespielten tiefen Empörung gibt der Athener seiner Rede eine Wende. Es muss nun eine ruhige und rationale Auseinandersetzung mit der atheistischen Position erfolgen: »denn es geht nicht an, dass beide Seiten von Sinnen sind, die einen aus unersättlicher Gier nach Lust und die anderen aus Zorn über solche Leute« (888a). Diese Wende ist zugleich ein Beispiel für die in den Nomoi immer wieder geforderte Selbstbeherrschung. Analog zum allopathischen Vorgehen bei den Symposien verschafft der Athener seinem Ärger über die Atheisten zunächst gehörig Luft, um sich dann – nach dieser Katharsis – umso besonnener mit ihnen auseinandersetzen zu können. Daher kommt es zu einer nur scheinbar paradoxen Verwandlung der Empörungsrede in eine zornlose Vorrede (Prorhesis), die an einen jungen Mann ergeht, der die atheistische Position vertritt 28. Passend zum Arztvergleich, mit dem die Proömien-Idee erläutert wurde, gestaltet sich diese Ansprache an den jungen Vertreter der atheistischen Position analog zu einer Rede eines mit einer Krankheit verBesonders im Blick auf 887d–e dürfte Wilamowitz zu der Ansicht gekommen sein, »that the memories of a pious childhood always lived in Plato«. (Zitiert nach Dodds 1945, 22.) Mayhew 2008, 71 sieht ganz richtig einen Zusammenhang mit der Stelle 653a–c. Vgl. auch Burkert 1977, 494 f. 27 Die materialistische Argumentation wird folglich nicht als hinreichende Argumentation betrachtet (vgl. Mayhew 2008, 72). Burkert 1977, 491 erläutert: »Im übrigen sagt der Verstand, dass angesichts des Dunkelbereichs, der das Göttliche umhüllt, der traditionelle Kult unvergleichlich viel sinnvoller ist als die Pose der Verachtung […]«. Vgl. dazu Krat. 400d–e, Tim. 40d–e. 28 Vgl. 888a–d. 26

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trauten erfahrenen Arztes an einen Kranken. Der Atheismus wird in ihr explizit als Krankheit eingestuft (vgl. 888b). Der Athener beginnt mit der persönlichen Anrede: »Mein Kind, du bist noch jung« (888a). Sein Hauptrat besteht darin, sich des Urteils in der wichtigsten Angelegenheit (megiston 888b), nämlich »über die Götter eine richtige Ansicht zu haben und infolgedessen schön zu leben oder im andern Falle nicht« (ebd.), erst einmal zu enthalten und damit zu warten. Statt mit moralischer Empörung konfrontiert er den jungen Mann mit einer nüchternen Bilanz seiner bisherigen Erfahrungen mit diesem Phänomen 29. Er sei nicht der einzige, der diese Position vertrete, und überhaupt sei diese Position nicht neu, sondern trete zu allen Zeiten mehr oder minder auf. Kein junger Atheist sei nach seinen Erfahrungen jemals bis zum Lebensende beim Atheismus geblieben 30; die beiden anderen Asebie-Positionen dagegen seien von einigen bis zum Schluss vertreten worden. Zum Ende seiner Rede wiederholt der Athener seinen Rat, erst einmal mit dem Urteil zu warten. Der junge Mann solle zunächst alles genau prüfen und sich insbesondere beim Gesetzgeber erkundigen: »In der Zwischenzeit aber erdreiste dich nicht, gegen die Götter zu freveln« (888d). Diese Prorhesis, in der sich Elemente von Wohlwollen und Strenge miteinander verbinden, dürfte tatsächlich Eindruck bei ihrem Adressaten hinterlassen wegen des realistischen und nüchternen Arzt-Blickes, der in ihr kultiviert wird. Der Sachverhalt selbst soll auf den Tisch kommen und geprüft werden. Daher beginnt nun, mit der Vorstellung der materialistischen Lehre, die eigentliche Sacherörterung 31. Die materialistische Lehre nennt drei Gründe der Entstehung: Alle Dinge entstehen teils durch Natur (physei), teils durch Kunst (technê), Vgl. 888b–c. Mayhew 2008, 75 weist auf die Spannung hin, in der diese Aussage – versteht man sie im Sinne strenger Allgemeinheit – zur Stelle 908a–909d steht. In strenger Allgemeinheit ist sie für die Zeit Platons nicht verifizierbar und spätestens ab dem 19. Jh. sicher falsch. Im Sinne meiner Paraphrase handelt es sich um eine Allgemeinheitsaussage auf der Basis der bisherigen Erfahrungen des Atheners. 31 Vgl. 888d–890a. Die Kerntheorie wird 888d–889c dargelegt. Der Passus 889c–e bereitet den Übergang zum ethischen Teil 889e–890a mit seinen relativistischen, atheistischen und gewaltverherrlichenden Konsequenzen vor. Vgl. Schöpsdau 2011, 384–391, Bordt 2006, 191–196, Mayhew 2008, 76–94. 29 30

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teils durch Zufall (dia tychên) 32. Zugleich findet eine Bewertung dieser Gründe statt. Die basalen Gründe sind Natur und Zufall, die die größten und schönsten Dinge hervorbringen; die Techne dagegen ist ein nur zweitrangiger und minderwertiger Grund, der die kleineren Dinge – die Kunsterzeugnisse (technika) – hervorbringt, indem er auf den ursprünglichen Naturerzeugnissen aufbaut 33. Kleinias bittet um weitere Erläuterung und erhält so vom Athener eine etwas genauere Skizze dieser Theorie 34. Feuer, Wasser, Erde und Luft seien, so die Vertreter des Materialismus, durch Natur und Zufall da und nicht durch Kunst. Die später entstandenen Körper – Erde, Sonne, Mond und Sterne – seien aus diesen vier, vollkommen »unbeseelten« (889b), toten Elementen entstanden. Zur Frage, wie genau das geschehen sei, erhalten wir einige vage Andeutungen. Offenbar ist in den Elementen eine zufällig wirkende »Kraft« (889b) anzunehmen. Der durch sie hervorgerufene dynamische Prozess soll dann zusammen mit gewissen unbestimmten Passungsannahmen für Gegensätzliches für die Entstehung des Kosmos als Produkt eines großen Mischungsvorgangs verantwortlich sein. Der Himmel, die Himmelskörper, die Jahreszeiten, Tiere und Pflanzen werden so aus dem recht unbestimmt gehaltenen Prinzip der »Mischung von Gegensätzlichem gemäß dem Zufall infolge einer Notwendigkeit« (889c) erklärt und nicht »durch Vernunft (noun) […] und auch nicht durch einen Gott (tina theon) oder eine Kunst (technên), sondern wie schon gesagt, durch die Natur und den Zufall« (ebd.). Die paradox anmutende Rede von dem »Zufall infolge einer Notwendigkeit« weist auf den Begriff einer »unvernünftigen«, unberechenbaren und blinden Notwendigkeit hin, den Platon hier wie auch im Timaios zugrundelegt 35. Durch diese Ausführungen ist bereits eine grundlegende Begriffsopposition zwischen der (materialistisch genommenen) Natur und dem Zufall auf der einen Seite und der Vernunft, Gott und Kunst auf der anderen Seite hergestellt. Die anfänglich bereits vorausgesetzte Minderwertigkeit und Nachrangigkeit der Kunst gegenüber Natur und Zufall wird nun näher erläutert 36. Die Kunst ist »später« (889c) als Natur und Zufall. Sie ist aus diesen auf dem Wege über die

32 33 34 35 36

Vgl. 888e. Vgl. 889a. Vgl. 889b–c. Vgl. Bordt 2006, 192–195 und Schöpsdau 2011, 385. Vgl. 889c–e.

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Entstehung des Menschen hervorgegangen. Als sterbliches Produkt von Sterblichen bringe sie »Spielereien« (889d) wie Malerei und Musik hervor, die als späte Ableitungen aus den ursprünglichen Prinzipien eine große Wahrheitsferne aufwiesen. Nur Künste, die wie die Heilkunst, die Landwirtschaft und die Gymnastik naturnah seien, seien ernstzunehmen. Die Staatskunst dagegen sei zum großen Teil 37 künstlich: »und so beruhe auch die Gesetzgebung insgesamt nicht auf der Natur, sondern auf der Kunst, deren Satzungen (theseis) nicht wahr seien« (889e). Das gilt gerade auch für die gesetzlichen Bestimmungen zu den Göttern, wie der Athener auf Kleinias’ erneute Bitte um Erläuterung deutlich macht: »Die Götter, mein Bester, so lautet die erste Behauptung dieser Leute, verdanken ihr Dasein der Kunst und nicht der Natur, sondern bestimmten Gesetzen […]« (889e). Gemäß dieser Theorie sind die Götter künstliche Setzungen einer auf einer jeweiligen Übereinkunft beruhenden Gesetzgebung, die jederzeit wieder durch eine andere abgelöst werden und keinen Anspruch auf Wahrheitserfassung machen kann 38. Gemäß der bekannten sophistischen Antithese beruht ihr Dasein nicht auf der Physis, sondern auf dem Nomos. Ähnliches gilt für das Schöne und besonders das Gerechte 39. Von Natur aus gäbe es das Gerechte überhaupt nicht, es sei ein rein gesetzlicher und damit künstlicher Begriff. In seinem Fazit macht der Athener die Vertreter dieser Nomos-Physis-Antithese, die er zuvor mit der materialistischen Lehre verbunden hat und deren Charakteristikum die Bestimmung des Gerechten als das, »was einer mit Gewalt durchsetzt« (890a), ist, für die unfrommen Überzeugungen und Aufstände bei den für diese Lehren besonders empfänglichen jungen Leuten verantwortlich. Nachdem Kleinias sich betroffen gezeigt hat von der Gefährlichkeit dieser Lehre für die jungen Menschen, die ihm nun in aller Deutlichkeit vor Augen geführt worden ist, stellt ihn der Athener zum wiederholten Male vor die Wahl 40. Soll der Gesetzgeber auf den Atheismus und die Asebie lediglich mit der Härte des Gesetzes und allen ihm zu Zum kleinen Teil der Staatskunst, der mit der Natur kooperiert vgl. Mayhew 2008, 87. 38 Vgl. 889e. Während der naturphilosophische Teil die Existenz der Sterngötter »wegerklärt« hat, richtet sich der ab 889e beginnende Teil, vorbereitet durch 889c–e, gegen die Existenz der gesetzlichen und damit insbesondere der olympischen Götter. 39 Vgl. 889e–890a. 40 Vgl. 890b f. 37

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Gebote stehenden Strafen reagieren oder soll er auch das Mittel der Überredung (peithô) anwenden? Für Kleinias stellt das nach dem ganzen bisherigen Vorlauf keine Frage mehr da. Der Gesetzgeber muss »alle Töne anschlagen und der alten Satzung mit dem Beweis zu Hilfe kommen, dass es Götter gibt« (890d); darüber hinaus muss er »auch dem Gesetz als solchem beistehen und der Kunst, dass beide von der Natur herstammen oder von etwas nicht Geringerem als Natur, wenigstens wenn sie Erzeugnisse der Vernunft sind« (ebd.). Auch die Schwierigkeit und die große Länge eines Götterbeweises, auf die der Athener daraufhin hinweist, dürfen nach Kleinias kein Hindernis für dieses Unternehmen sein 41. Dass er in diesem Zusammenhang auf die ausführlichen Untersuchungen zur Trunkenheit und Musik verweist, die man auch geduldig angestellt habe, hat mehr als nur einen rein äußerlichen Stellenwert. Denn wir hatten gesehen, dass diese Ausführungen im Dienste der Etablierung einer für die Gesamtrationalität des Menschen letztlich unverzichtbaren musisch-religiösen Paideia gestanden haben. Der Beweis der Existenz der Götter steht daher in einer Linie mit diesen Ausführungen und bildet ihren Abschluss. Die angesprochene Schwierigkeit des Beweises wird nach Ansicht von Kleinias durch seine schriftliche Fixierung abgemildert. Denn eine schriftlich fixierte begründete Gesetzgebung erlaubt es, sie wiederholt durchzugehen und so Mal um Mal ein besseres Verständnis zu erzielen 42. Überdies erscheint es Kleinias »nicht fromm, dass nicht jedermann nach Kräften diesen Sätzen beistehen soll« (891a). Mit der seltenen expliziten Zustimmung des Megillos wird die Einigkeit in dieser Angelegenheit besonders hervorgehoben. Der Athener übernimmt nun in der Rolle des beistehenden Gesetzgebers die angesichts der Verbreitung der atheistischen Lehren nötige Aufgabe eines verteidigenden Beweises, »dass es Götter gibt« (891b). Wer an das X. Buch der Nomoi herantritt mit dem Wunsch, Platons Gottesbeweis kennenzulernen, der macht die Erfahrung, dass dieser Beweis, obwohl frühzeitig angekündigt, dann doch immer wieder aufgeschoben wird. Auch nach dem bis hierhin Durchgegangenen (885b– 891b) beginnt der eigentliche Beweis noch nicht. Vielmehr entwickelt Vgl. 890e f. Die schriftliche Fixierung wird hier also – unbeschadet der generell weiter geltenden »Schriftkritik« (vgl. Phdr. 274b–278b) – positiv gedeutet, vgl. Schöpsdau 2011, 392 f.

41 42

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der Athener zunächst die Idee der Widerlegung der materialistischen Lehre, deren Ausführung dann in den positiven Beweis mündet. Der Aufschub des Beweises bis zu unserer jetzigen Stelle mit der von Görgemanns herausgearbeiteten »Spiralbewegung des Gedankens« 43, in der die gleiche Gedankenreihe dreimal abläuft, hat sicherlich die Funktion, das Problembewusstsein bezüglich der Atheismusfrage immer mehr zu vertiefen und die Wichtigkeit der Proömien-Idee zu prononcieren. Wir haben aber auch gesehen, dass in diesem aufschiebenden Teil die persönliche Einstellung der drei Greise und ganz besonders die des Atheners zur Asebie-Gesetzgebung unmissverständlich offengelegt wird. Die feste Meinung, dass die Götter existieren, die der Athener mit Kindheitserinnerungen eines praktizierten Glaubens verbindet, steht daher im Hintergrund seiner Beweisführung. Der Athener setzt nun mit der kritischen Beleuchtung der materialistischen Lehre ein 44. Der Materialist hält die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft für das Erste von allem und sagt dazu: Natur. Die Seele (psychên) dagegen hält er für später und aus diesen vier Elementen entstanden (891c). Nach dieser kurzen Bestandsaufnahme, in die aber bereits das innovative Element, das der weiteren Untersuchung die Dynamik gibt, eingelegt ist, scheint dem Athener die Idee der Widerlegung des Materialismus deutlich vor Augen zu stehen: »Bei Zeus, haben wir nun damit nicht gleichsam die Quelle der unvernünftigen Meinung all der Menschen aufgedeckt, die sich jemals mit Untersuchungen über die Natur befasst haben?« (891c). Noch einmal ermutigt Kleinias den Athener zur Darlegung des vorgestellten Kardinalfehlers trotz der ungewohnten und von der Gesetzgebung weit abführenden Reden, die das erfordert (891d–e). So kommt es zu einer »ungewöhnlichen Rede« (891e) des Atheners, mit der er den Kardinalfehler des Materialisten benennt: »Das, was die erste Ursache alles Werdens und Vergehens ist, das erklären jene Lehren, deren Erzeugnis die Seele der Gottlosen ist, nicht für das Erste, sondern für etwas später Entstandenes, was aber später entstanden ist, für das Frühere. Dadurch sind sie über das wahre Wesen der Götter in Irrtum geraten« (891e). Das, was die erste Ursache alles Werdens und Vergehens ist, sei die Seele (892a). Ihre Priorität vor allem Körperlichen hätten die Materialisten verkannt und seien so in diesen Hysteron-Proteron-Fehler gera43 44

Görgemanns 1960, 97. Vgl. 891b ff.

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ten. Denn die Seele gehöre zu den ersten Dingen, sie sei vor allen Körpern entstanden und sie beherrsche die Körper (ebd.). Unter der Voraussetzung der Priorität der Seele wäre dann auch »das, was mit der Seele verwandt ist« (892a), prioritär: Meinung (doxa), Fürsorge (epimeleia), Vernunft (nous), Kunst (technê) und Gesetz (nomos) 45. Unter dieser Voraussetzung ergäbe sich daher eine Umkehrung der Wertrangfolge der materialistischen Lehre. Die Kunst hätte dann vor der materialistisch genommenen Natur den Vorrang. Ihre Werke und die der Vernunft wären dann – in Anspielung auf die Gestalt des Demiurgen im Timaios (Tim. 29a) – die »großen und ursprünglichen Werke« (892b). Genau genommen ergibt sich nach Meinung des Atheners aber gar kein Gegensatz zur Natur, wenn man unter »Natur« gemäß ihrem ursprünglichen Wortsinn das versteht, was zu den zuerst entstandenen Dingen gehört (892c). Unter Voraussetzung der Priorität der Seele wäre die Seele dann von Natur: »So verhält sich das, vorausgesetzt, dass jemand beweist, dass die Seele älter ist als der Körper, sonst aber auf keinen Fall« (892c). Damit ist die Grundstruktur des Gottesbeweises klar, der sich aus einer Widerlegung der materialistischen Lehre ergeben soll: Die Widerlegung des Materialismus erfordert einen Beweis der Priorität der Seele und aus diesem Beweis soll sich der Beweis für die Existenz der Götter ergeben. Es kann nach den bisherigen Erfahrungen nicht überraschen, wenn auch der Beweis für die Priorität der Seele, zu dem man sich sofort entschließt, nicht sofort beginnt. Vielmehr macht der Athener zunächst einen Vorschlag zur Methode des weiteren Vorgehens 46. Er vergleicht das Beweisvorhaben mit der Durchquerung eines reißenden Stromes. Wenn der Athener als der Jüngste und erfahren in der Durchquerung von Flüssen zunächst allein voranginge und die Durchquerbarkeit für die beiden anderen prüfte, während diese zunächst am sicheren Ufer zurückblieben, wäre das vernünftig. Ebenso hält er es für gut, jetzt erst einmal sich selbst die Fragen zu stellen und selbst darauf zu antworten, um die anderen beiden, »die ihr im Antworten ungeübt seid« (893a), nicht in eine unwürdige, dem Schwindel vergleichbare Lage zu bringen. Dieser Vorschlag, der angenommen wird, weist auf die außerordentlichen dialektischen Fähigkeiten des Atheners hin, die er den beiden anderen voraus hat und die er im dann folgenden Selbst45 46

Vgl. 892b. Vgl. 892d–893a.

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gespräch, das allerdings nur recht kurz ist und nicht die entscheidenden Beweispartien betrifft 47, demonstriert. Umso verwunderlicher scheint es, dass dieser Dialektiker vor dem Beweisbeginn noch folgendes Gebet vorausschickt: »Wenn wir es jemals nötig hatten, einen Gott zu Hilfe zu rufen, dann hat dies jetzt zu geschehen – zum Beweise ihres eigenen Daseins sollen sie denn mit allem Ernst herbeigerufen sein –, und indem wir uns daran wie an einem sicheren Seil festhalten, wollen wir in die gegenwärtige Erörterung hineinsteigen.« 48 (893b) Die Götter werden also vom Athener allen Ernstes zum Beweise ihrer eigenen Existenz herbeigerufen 49. Auch hier meldet sich wieder die Gesprächsebene als eine Metaebene, in die auch der Beweis eingebettet ist. Auf dieser Metaebene steht die Existenz der Götter vollkommen außer Frage. Ihre Anrufung ist aber auch ein vernünftiger Akt, wenn man von der im Marionettengleichnis zur Darstellung gekommenen Situation der prinzipiellen Vernunftschwäche des Menschen ausgeht, in der er auf äußere Hilfe angewiesen ist. Der hier erbetene göttliche Beistand ist eine solche äußere Hilfe, an der sich der Athener »wie an einem sicheren Seil« festhält, ähnlich dem Nicht-Loslassen des goldenen Drahtes im Marionettengleichnis. Görgemanns hat recht, wenn er in der Auslegung unserer Stelle konstatiert: »Das bedeutet ein sehr starkes Sich-Verlassen des Dialektikers auf äußere Hilfe« 50. Er beachtet aber nicht, dass das mit der Rationalitätskonzeption der Nomoi, von der aus sich keine vollkommene Autonomie des philosophischen Denkens ergeben kann, konform geht 51. Das Selbstgespräch des Atheners setzt bei der Tatsache von Bewegung und Ruhe in der Welt an. Es entwickelt exkursartig einen Katalog von Bewegungsarten, die mit Ausnahme der Kreisbewegung in der weite-

Vgl. 893b–894b. Nach Schöpsdau 2011, 78. Vgl. 887c, 905d, 712b. 49 John Cleary hat hier von »benign circularity« (Cleary 2001, 130) gesprochen. Vgl. auch Anselms analoges Vorgehen bei seinem ontologischen Gottesbeweis, Proslogion, Kap. 1 und Kap. 2, Satz 1. 50 Görgemanns 1960, 197. 51 Vgl. dazu auch Stalley 1994, 177: »The role assigned to reason in Plato’s political philosophy is thus quite different from that generally assigned to it by post-kantian philosophers. Plato is not concerned that human beings should exercise their own autonomous reason but rather that they should conform wholeheartedly with the requirements of the divine reason that directs the universe«. 47 48

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ren Beweisführung keine Rolle spielen 52. Dann wendet sich der Athener wieder an seine Mitunterredner, indem er andeutet, dass noch zwei Bewegungsarten fehlen, und dies bewirkt den Wiedereintritt von Kleinias ins Gespräch. Die zwei Bewegungsarten, »denen unsere ganze gegenwärtige Untersuchung gilt« (894b) und deren Unterscheidung grundlegend für den Gottesbeweis ist, werden vom Athener wie folgt eingeführt: »Nun, so sei diejenige Bewegung, die immer nur andere Dinge bewegen kann, sich selbst aber niemals, die eine Art; diejenige dagegen, die stets sowohl sich selbst als auch andere Dinge bewegen kann […] sei wieder eine andere innerhalb der Gesamtheit der Bewegungen« (894b–c). Einer Bewegung, die anderes bewegen kann, aber nicht sich selbst, wird eine Bewegung gegenüber gestellt, die sich selbst und anderes bewegen kann. Beide Bewegungsarten werden in einer formal-definitorischen Weise eingeführt. Die fremdverursachte Bewegung wird als die neunte Bewegungsart gezählt, die Selbstbewegung als die zehnte 53. Dem Range nach jedoch ist die Selbstbewegung die erste Bewegung. Ihr kommt der Vorzug vor allen anderen Bewegungsformen zu 54, die unter den Typ der fremdverursachten Bewegung subsumiert werden können, wie Kleinias zunächst emphatisch behauptet und der Athener dann in zwei Argumenten zu begründen unternimmt. Das erste Argument 55 setzt bei der Betrachtung einer Kette von fremdverursachten Bewegungen an. Gibt es ein erstes Veränderndes hier? Nein. Jedes Element dieser Kette verweist auf eine andere Ursache außerhalb seiner zurück. Anders bei einer Kette von Bewegungen, die mit einer Selbstbewegung beginnt. Diese Selbstbewegung ist dann der Ursprung der Bewegung (archê kinêseôs 895a) der gesamten Kette. Die Selbstbewegung erklärt als Ursprung der Bewegung eine Gesamtbewegung, die Fremdbewegung nicht. Offenbar schließt Platon hier die Möglichkeit eines infiniten Regresses von Fremdbewegungen aus, was Vgl. 893b–894b und die Erläuterungen dazu bei Schöpsdau 2011, 399–406, Mayhew 2008, 106–117, Steiner 1992, 127 ff. In der Frage nach dem konsistenten Verständnis der Anzahl der Bewegungen schließe ich mich der Mehrheitsmeinung der Interpreten an, die durch die Subsumption von rollender und gleitender Bewegung unter die fortschreitende Bewegung zu der geforderten Anzahl von 8 Bewegungsarten kommen, vgl. Bordt 2006, 200 Anm. 132. 53 Vgl. 894c. 54 Vgl. 894d. 55 Vgl. 894e–895a. 52

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den Ansatz eines ersten Verändernden erforderlich macht 56. Das könnte damit zusammenhängen, dass der infinite Regress von Fremdbewegungen für nicht in der Lage befunden wird, die aktuell erfahrene Wirklichkeit der Bewegung zu erklären, weil er gleichsam niemals die Gegenwart erreicht. Die Wirklichkeit der Bewegung wird aber in der Argumentation vorausgesetzt und sie wird sogar – das ist eine Besonderheit der Nomoi – während der Argumentation leibhaftig erfahren. Die unmittelbar erfahrene Wirklichkeit der Bewegung führt so zum Ansatz eines Ursprungs der Bewegung, der eine Selbstbewegung sein muss. Nach dieser vielleicht frühsten Version des kosmologischen Arguments 57 führt der Athener zum zusätzlichen Erweis der Vorzugsstellung der Selbstbewegung noch ein kurzes Gedankenexperiment durch 58. Unter Verweis auf nicht näher genannte Vertreter entsprechender Theorien 59 macht er die Annahme eines kompletten Stillstands des Universums. Welche Bewegungsart müsste in diesem Zustand als erste entstehen? Der Athener antwortet sich hier wieder selbst 60: Die Selbstbewegung. Nur sie kann echter Anfang einer Bewegung sein. Alle anderen Bewegungen setzten einen fremden Anstoß zur Bewegung voraus, den es in dem angenommenen Zustand nicht gibt. Nachdem nun so die Selbstbewegung als Ursprung aller Bewegungen (vgl. 895b) herausgestellt ist 61, geht es im nächsten Schritt (895c–896a) um den Nachweis der Identität von Selbstbewegung und Seele, womit dann die Seele als Ursprung aller Bewegungen und mithin ihre Priorität erwiesen wäre. Die Verbindung zwischen Selbstbewegung und Seele wird zunächst über den Begriff des Lebens hergestellt. Das, was sich selbst bewegt, lebt und ebenso das, worin eine Seele ist (895c). Die formale Identifikation von Selbstbewegung und Seele erfolgt aber dann per Definition. »Seele« sei der Name für dasDarin sieht Stalley 1983, 171 f. eine Hauptschwachstelle des gesamten Beweises. Ähnlich Mayhew 2008, 120. 57 Vgl. Mayhew 2008, 120, der einen Vergleich mit den ersten beiden »Wegen« des Thomas v. Aquin für sinnvoll hält. Vgl. Summa theologiae I 2.3. 58 Vgl. 895a–b. 59 Mit Mayhew 2008, 122–24 ist hier wohl besonders an Empedokles und Anaxagoras zu denken. 60 Dazu Bordt 2006, 206. Merkwürdig ist die Verwendung der 1. Pers. Plural 895a5 f. Vgl. auch 897c1. 61 Vgl. auch den Beweis für die Unsterblichkeit der Seele im Phaidros (245c–246a) als Parallelgedankengang für die Argumentation an unserer Stelle. 56

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selbe, auf das sich auch der definierende Ausdruck »die Bewegung, die sich selbst bewegen kann« beziehe (vgl. 895d–896a). Unter Voraussetzung dieser Definition ist der Beweis erbracht, »dass die Seele dasselbe ist wie die erste Entstehung und Bewegung alles dessen, was ist und was gewesen ist und was sein wird […], da sie sich ja als die Ursache (aitia) aller Veränderung und Bewegung bei allen Dingen erwiesen hat« (896a–b). Somit ist die Seele früher als die entstandenen Körper, die nur entstehen und sich bewegen können, insofern sie letztlich von der Seele initiiert, bewegt und »beherrscht« (896c) werden. Es ist auffällig, dass Kleinias bei der Einführung der Definition der Seele als Selbstbewegung eher zurückhaltend reagiert. Es ist der Athener, der diese Definition forciert 62. Das muss nicht heißen, dass sie falsch ist, aber sie erscheint doch etwas ungewöhnlich. Man sollte die Motivation dieser Definition über den Begriff des Lebens im Auge behalten, um das, was in ihr mit Selbst-Bewegung gemeint ist, angemessen zu verstehen. Denn der Begriff des Lebens, der in einer natürlichen Nähe zum Begriff der Seele steht, erschöpft sich längst nicht in der Vorstellung einer rein physikalischen Selbstbewegung. Stattdessen kann er auch das ganze Spektrum bewusster seelischer Regungen, Aktivitäten und Dispositionen, wie es sich am menschlichen Leben ablesen lässt, umfassen. In der Tat scheint Platon dieses Spektrum im Auge zu haben, wenn er zugleich mit der Seele auch von dem, »was zur Seele gehört« (896c), spricht und ihm dieselbe Priorität zuerkennt 63. Die intentionalen Bewusstseinsphänomene, die er hier nennt – darunter auch die Fürsorge – und die so nur beim Menschen zu finden sind, gehören zu seinem Seelenbegriff mit dazu. Daher werden sie etwas später auch geradezu »Bewegungen« (896e) der Seele genannt. Mit der Definition der Seele als Selbstbewegung ist daher viel mehr gemeint als eine Instanz mit der Fähigkeit zur rein physikalischen Spontanbewegung, auch wenn das zunächst im Vordergrund steht 64. Das bisher kosmologisch geführte Argument nimmt jetzt eine teleologische Dimension an. Die Seele als »Ursache von allem« 65 (896d) ist Vgl. 896a. An dieser Stelle vermutet Mayhew 2008, 130 f. eine »fallacy of division«. Vgl. vorher schon 103. 64 Vgl. Stalley 1983, 171 f. Stalley sieht in dieser Definition die zweite Hauptschwachstelle des Gesamtarguments. 65 Dazu Bordt 2006, 207. 62 63

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auch Ursache der Gegensätze, insbesondere Ursache des Guten und des Schlechten. Ein entscheidender Schritt im Argument wird nun durch die Anwendung der bisherigen Gedanken auf den sichtbaren Himmel getan. Die Seele als Ursache der Bewegung bewegt und »durchwaltet« (896e) auch ihn. Der Athener geht jetzt wieder allein voran: »Eine oder mehrere? Mehrere will ich für euch antworten. Jedenfalls wollen wir nicht weniger als zwei annehmen, eine wohltätige (euergetidos) und eine, die das Gegenteil zu bewirken vermag« (896e). Ohne auf das Problem der hier angenommenen »bösen« Seele einzugehen 66, ist klar, dass die Seele hier nicht nur als Bewegungsursache, sondern auch als absichtsvolle Instanz in Anspruch genommen wird. Die Seele lenkt alles. Sie tut dies mit ihren schon angesprochenen ureigenen Gemütsbewegungen und Intentionen und nimmt dabei körperliche Bewegungen zu Hilfe 67. Wenn sie dabei die Vernunft, den Nous, »hinzunimmt« (proslabousa), »ein Gott mit Recht für Götter« (897b), dann führt sie alles zum Rechten und zum Glücklichen. Wenn sie sich mit der Unvernunft, der Anoia, verbindet, dann zum Gegenteil. Mit Recht haben die Ausleger auf die enorme Wichtigkeit dieser letzten beiden Aussagen hingewiesen, die sich – bei bereits ermüdender Aufmerksamkeit – am Ende einer langen Satzperiode befinden und aufgrund der Satzkonstruktion eigens für sich herauspräpariert werden müssen. Gemäß der weitgehend akzeptierten Handschriften-Lesart wird hier die Vernunft, der Nous, als ein »Gott für die Götter« bezeichnet 68. Das nimmt die zentrale Bedeutung der Vernunft für den Gottesbegriff vorweg, aber wirft auch die Frage auf, inwiefern die Vernunft ein Gott ist 69. Für den Beweisgedankengang, in dem diese außerordentliche Bemerkung zur Vernunft nur nebenbei gemacht wird, stellt sich nun die Frage: Von welcher der beiden Arten von Seele – der »guten« Seele mit Vernunft oder der »bösen« Seele ohne Vernunft – wird der Himmel beherrscht? Ist es diejenige Seele, »die vernünftig und voller Tugend ist, oder die, die keine dieser beiden Eigenschaften besitzt« (897b)? Erneut vorangehend formuliert der Athener ein Kriterium zur Entschei-

Vgl. Steiner 1992, 157–161, Mayhew 2010, 210, Schöpsdau 2011, 416–18. Vgl. 896e ff. 68 Vgl. Schöpsdau 2011, 420 f. 69 Vgl. Görgemanns 1960, 200 f., Mayhew 2010, 206, Mayhew 2008, 137 f., Bordt 2006, 234 ff. 66 67

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dung dieser Frage. Wenn die gesamte Himmelsbewegung »eine der Bewegung und dem Umschwung und den Berechnungen der Vernunft ähnliche Natur aufweist« (897c), dann gilt offenbar, dass »die beste Seele« (ebd.) sich um das Weltall kümmert und es lenkt. Andernfalls – bei »verrückter« und ungeordneter Bewegung (vgl. 897d) – die schlechte. Um das Kriterium anwenden zu können, muss man wissen, was die »Bewegung der Vernunft« ist. Der Athener verweist zur Beantwortung dieser schwierigen Frage auf ein »Abbild« (897e); eine Bewegung, die der Vernunft gleicht und die unter den zu Beginn des Beweises aufgezählten 10 Bewegungsarten zu finden war: Die regelmäßige Kreisbewegung, die in der Rotation einer Kreisscheibe oder Kugel auf einer Drechselbank konkret veranschaulicht ist (897e– 898b) 70. Diese »muss dem Umschwung der Vernunft in jeder Hinsicht so verwandt und ähnlich sein wie nur möglich« (898a). Zur Begründung dieser Behauptung verweist der Athener auf die gleiche Begriffsstruktur, die sich bei der Beschreibung beider Bewegungen zeigt. Beide Bewegungen werden durch einen Bezug auf Identisches nach einer einfachen Regel charakterisiert 71. Für die Kreisbewegung lässt sich das nachvollziehen, für die »Vernunftbewegung« ergibt sich nicht die gleiche Einsichtigkeit. Aus heutiger Sicht ließe sich sagen, dass eine »Vernunftbewegung« sich darin zeigt, dass sie durch eine mathematische Gleichung beschreibbar ist. Das deckt sich mit einem Teil der hier vorliegenden Charakterisierung und würde zugleich den Kern des Arguments retten, nachdem seit Kepler klar geworden ist, dass die Planeten keine gleichförmig regelmäßige Kreisbewegung beschreiben. Nachdem die Vernunftbewegung in engen Zusammenhang mit der gleichförmig regelmäßigen Kreisbewegung gebracht worden ist, glaubt Kleinias die Frage, welche Seele den Himmel lenkt, klar entscheiden zu können. Der Gesamteindruck eines regelmäßigen und was die Fixsterne betrifft auch kreisförmigen Ablaufs der Himmelsbewegung scheint ihm auszureichen 72. Seine volle Schlagkraft entwickelt das Argument aber erst unter Voraussetzung des wissenschaftlichen Nachweises der regelmäßigen Kreisbewegung der scheinbar unregelmäßig sich bewegenden Planeten. Auf einen solchen Nachweis Vgl. 893c–d und Schöpsdau 2011, 421 z. St. Vgl. 898a–b und die Erläuterungen, die Schöpsdau 2011, 421–24 zu den 6 bzw. 7 Beschreibungskategorien gibt. 72 Vgl. Schöpsdau 2011, 416. 70 71

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hatte Platon im VII. Buch hingewiesen und damit vermutlich die eudoxische Theorie der homozentrischen Sphären gemeint 73. Legt man diesen Nachweis stillschweigend zugrunde, dann scheint Kleinias’ Entscheidung der Frage begründet: »Aber Fremder, nach dem bisher Gesagten wäre es doch frevelhaft, etwas anderes zu behaupten, als dass eine mit jeglicher Vollkommenheit (pasan aretên) ausgestattete Seele – oder auch mehrere – diese Kreisbewegung bewirkt« (898c). Mit dem Einschub »oder auch mehrere« kommt sich Platon durch Kleinias selbst zu Hilfe. Denn an sich stünde an dieser Stelle des Gespräches der Konstatierung eines Beweisendes nichts mehr im Wege. Mit der vernünftigen und mit jeglicher Vollkommenheit ausgestatteten Seele, die als Bewegungs- und Ordnungsursache den ganzen Himmel lenkt, ist doch nun ein Gott gefunden. Die bisherigen Überlegungen ließen sich – wie es dann auch in der weiteren Geschichte der Philosophie in den »fünf Wegen« von Thomas geschehen ist – zu einem Gottesbeweis zusammenfassen. Aber obwohl diese Überlegungen im Grunde mehrere der traditionellen Gottesbeweise in sich einschließen, führen sie nicht zu einem derartigen Gottesbeweis, weil das dem immer wieder ausdrücklich formulierten Beweisziel, einen Götterbeweis zu geben 74, in gewisser Weise zuwider liefe. Daher wird die in diesen Überlegungen liegende Tendenz auf einen Gottesbeweis hin nicht mit letzter Konsequenz verfolgt. Das jetzt akut werdende Problem war bereits in der Grundstruktur des Beweises durch die Inkongruenz im Numerus zwischen der einen Seele, deren Priorität zu erweisen war, und der Existenz der vielen Götter, die daraus folgen sollte, angelegt. Platon begegnet diesem Problem durch eine »Strategie der Vereinzelung«, die zunächst den Charakter einer abstrakten »Insofern«-Vereinzelung hat 75, dann aber in eine konkrete und echte Vereinzelung über zu gehen scheint. Wenn die gefundene vernünftige Seele alles am Himmel lenkt, Vgl. 820e–822d und Schöpsdau 2003, 617 ff., insbesondere 621 f. Vgl. 885d, 885e, 886d, 887a, 887b, 888a, 890d, 891b. theous, Götter, ist das erste Wort des Asebie-Proömiums, vgl. 885b4. Die feine Beobachtung von Schöpsdau 2011, 375 in seinem Kommentar zu dieser Stelle: »Wie theos das erste Wort der Nomoi ist, so eröffnet theous das Proömium zum Asebie-Gesetz« ist zunächst die Anzeige einer Problemlage der Nomoi. 75 Vgl. Mayhew 2008, 153: »Soul qua mover of the sun would be one god, soul qua mover of the moon would be another, etc.« Vgl. auch Mayhew 2010, 213. Zu Unrecht 73 74

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dann auch jedes einzelne Gestirn. Problemlos erhält der Athener zu Beginn der finalen Phase seines Beweises dieses Zugeständnis von Kleinias 76. Als Beispiel greift er die Sonne heraus. Die an ihr angestellten Überlegungen sollen dann auch auf die restlichen Gestirne übertragbar sein. Für die unsichtbare Seele der Sonne gilt, dass sie (a) entweder im Inneren des sichtbaren Sonnenkörpers wohnt und ihn lenkt analog zur Seele eines Lebewesens oder (b) dass sie mit einem Feueroder Luftkörper den Sonnenball von außen her »gewaltsam« (899a) anstößt oder (c) dass sie körperlos »gewisse über die Maßen wunderbare Kräfte besitzt« (ebd.) und den Sonnenball damit lenkt 77. Ohne eine Entscheidung in dieser dreigliedrigen Alternative zu fällen 78, schreitet der Athener nun zum Höhepunkt seiner Argumentation: »An dieser Stelle halte inne. Diese Seele, mag sie sich nun auf dem Wagen der Sonne befinden und so ihr Licht für uns alle heraufführen oder von außen her oder auf welche Art und Weise auch immer, die muss doch jedermann für eine Gottheit (theon) halten. Oder wie?« (899a) 79. Kleinias erwidert darauf: »Ja; jedenfalls wenn er nicht auf der äußersten Stufe der Unvernunft (anoias) angelangt ist« (899b). Die Frage, die sich hier stellt, ist die, was genau die Zustimmung des Kleinias bewirkt, so dass er der Seele der Sonne und in der Folge davon den übrigen Gestirnseelen den Charakter, ein Gott zu sein, zuschreibt, und so das Beweisziel, die Existenz von Göttern nachzuweisen, erreicht wird. Gemäß den vorangegangenen Überlegungen ist die – angenommene – vernünftige Kreisbewegung der Sonne hier ausschlaggebend. Sie deutet auf eine vernünftige Seele als Ursache dieser Bewegung und diese vernünftige Seele wird als Gott bezeichnet. Der hier zugrundeliegende Gottesbegriff ist daher im Anschluss an die den Beweis abschließenden Äußerungen des Atheners (899b) als der eines beseelten, vernünftigen und vollkommen tugendhaften Wesens, das scheint mir Mayhew das Problem der Anzahl der Seelen nicht wichtig zu nehmen. Er sieht aber die Offenheit des Textes in dieser Frage. 76 Vgl. 898d ff. 77 Vgl. 898d–899a, 899b6–7. 78 Unwahrscheinlich ist, dass Platon (b) angenommen hat, vgl. Schöpsdau 2011, 424 f., Mayhew 2008, 150 f. Schöpsdau glaubt, wohl mit der Mehrheit der Ausleger, dass (a) Platons Auffassung am nächsten kommt. Mayhew (151 f.) hält es unter Berufung auf Tim. 34a–b für plausibel, dass (c) Platons Meinung wiedergibt. Er sieht aber darin keinen Hinweis auf den Unbewegten Beweger des Aristoteles. 79 Zum Problem der Textüberlieferung an dieser Stelle vgl. Schöpsdau 2011, 426.

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eine kosmische Funktion hat, bestimmt worden 80. Bei aller berechtigten Fokussierung auf die Vernünftigkeit als Merkmal des Gottesbegriffs darf allerdings an unserer Stelle nicht die sinnlich-ästhetische Dimension der Gesamtsituation, in der Kleinias seine Zustimmung gibt und auf die das Begriffsmerkmal der »kosmischen Funktion« hinweist, vergessen werden. Zur Erinnerung: Das Nomoi-Gespräch findet im Freien an einem Tag um die Sommersonnenwende herum statt 81. Die Gesprächspartner stehen den ganzen Tag über unter dem denkbar größten Einfluss der Macht der auf- und untergehenden Sonne. In dieser Situation ist das Herausgreifen der Sonne als Beispiel keine rein verstandesmäßige Angelegenheit. Die Zuschreibung des Gottesstatus durch Kleinias erfolgt unter dem überwältigenden Eindruck der sichtbaren Sonne. Auch wenn die Timaios-Charakterisierung der Gestirne als »sichtbare Götter« (Tim. 40d) vom Standpunkt der Nomoi aus strenggenommen nicht zutrifft, da zwischen dem Gestirn und der Seele des Gestirns unterschieden werden muss 82, hat doch die Sichtbarkeit der Sonne eine unvertretbare Funktion innerhalb der Argumentation. Sie lässt keinen Zweifel an der tatsächlichen Existenz des gesuchten Wesens aufkommen und gibt darüber hinaus einen Hinweis auf dessen Göttlichkeit. Die Atheismus-Kontroverse war im X. Buch in nuce anhand der Frage eingeführt worden, als was die Gestirne und insbesondere als was die Sonne eigentlich anzusehen ist (vgl. 886d). Die vom Athener angestrengten Überlegungen, die im Hintergrund der Himmelsbewegungen eine vernünftige Seele ausgemacht haben, lassen nun eine nicht-atheistische Beantwortung dieser Frage zu. Aber sie nutzen bei dieser Beantwortung auch das Potential, das von Anfang an durch den beeindruckenden Anblick der Sonne gegeben ist. Nimmt man den hier nicht explizit gemachten, aber durch die Dialogsituation gezeigten Bezug zum überwältigenden Phänomen Sonne mit hinzu, dann lässt sich der hier vorliegende Gottesbegriff auch noch etwas anders charakterisieren. Mit Gott ist an unserer Stelle eine rationale Instanz gemeint, die die übermenschliche Macht zur vernünftigen Gestirnlenkung hat und sich in einer ergreifenden Realität sinnlich manifestiert 83. Die Überlegungen zum Gottesbeweis sind daher ver80 81 82 83

Vgl. Görgemanns 1960, 202 und Mayhew 2010, 211. Vgl. 683c. Vgl. Morrow 1960, 483. Vgl. 966c.

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klammert mit dem Erlebnis einer konkreten Realität, für das sich die Gesprächspartner offen zeigen. Wenn im XII. Buch vom »Glauben« an die Götter die Rede ist und dabei der uns aus dem Liniengleichnis bekannte Terminus Pistis verwendet wird 84, dann ist das mehr in einem sachlichen als in einem abwertenden Sinne zu verstehen. Denn die Pistis bezieht sich, wie wir gesehen hatten, auf die konkrete Realität, deren Erfahrung auch der Gottesbeweis nutzt, um die in ihm durchgeführten rationalen Überlegungen gleichsam dingfest zu machen. Der Beweis ist nun geführt. In Bezug auf die Sonne, die Gestirne und den Mond stellt der Athener fest: »weil eine Seele oder Seelen sich als Ursachen von diesem allem erwiesen haben und als vollkommen gut in jeder Tugend, so werden wir behaupten, dass sie Gottheiten (theous) sind […]« (899b). Alles sei daher – in Anspielung auf ein Thaleswort 85 – »voll von Göttern« (ebd.). Zwar bleibt die schon angesprochene Unklarheit zwischen der Seele und den Seelen prinzipiell bestehen, aber faktisch entscheidet sich Platon dafür, dass ein Götterbeweis geführt worden ist. Dass offenbar viele individuelle Seelen angenommen werden, könnte mit dem abgetrennten und selbständigen Bestehen der einzelnen Gestirne, denen diese Seelen zugeordnet sind, zusammenhängen. Dennoch wird keine Entscheidung für die dazu passende Option, dass die Seele wie bei einem Lebewesen im Gestirnkörper wohnt, getroffen. Prinzipiell lassen die Darlegungen auch die Möglichkeit offen, dass in Wahrheit nur eine einzige Seele alle Gestirne lenkt; diese Möglichkeit wird besonders durch die 3. Option im Verhältnis von Seele und Gestirn, die von einer körperlosen und auf wunderbare Weise lenkenden Seele ausgeht, eingeräumt. Der Druck, dass die Beweisführung einen Götterbeweis darstellt, kommt nicht so sehr aus den beigebrachten Überlegungen selbst, als vielmehr von dem von vornherein feststehenden Ziel der Verteidigung des traditionellen Götterglaubens, mit dem sich der Athener, wie wir gesehen hatten, voll identifiziert. Dieser traditionelle Götterglaube und vor allem der Glaube an die Olympischen Götter wird in der Polis von Magnesia neu affirmiert. Das zeigt eine Komplettlektüre der Nomoi. Neben Zeus, Apollon und Dionysos, auf die man bei der Untersuchung philosophisch relevanter Passagen der Nomoi in jedem Fall stößt, wer84 85

Vgl. 966c–d. Vgl. Aristoteles An. 411a 7 und Mayhew 2008, 153 f.

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den u. a. auch Hestia, Athena, Hera, Hermes, Hephaistos, Ares, Demeter genannt und verehrt. Daneben findet sich die Verehrung des Unterweltgottes Pluton sowie die der Eidgöttin Themis 86. Der NomoiForschung ist nicht entgangen, dass das Ziel des Beweises für die Existenz der Götter daher nicht erreicht wird 87. Denn bei den traditionellen »gesetzlichen« Göttern, deren Existenz erwiesen werden soll, handelt es sich vorwiegend nicht um Gestirngötter 88. Der Beweis beweist einen Gestirngott bzw. Gestirngötter. Bewiesen werden sollten aber vor allem Olympische Götter. Hier scheint also eine ignoratio elenchi vorzuliegen 89. Wenn wir unterstellen, dass Platon diese Diskrepanz zwischen Beweisziel und tatsächlich Bewiesenem bemerkt hat, dass also nicht eigentlich eine ignoratio vorliegt, und dass er in dieser Diskrepanz keinen wirklichen Widerspruch zur gebotenen Verehrung der gesetzlichen Götter gesehen hat, dann bieten sich mehrere Hilfsüberlegungen an. Ein möglicher Ausweg wäre die Identifikation der Polisgötter mit den Gestirngöttern 90. Dafür könnte die merkwürdige Kultgemeinschaft von Apollon und Helios am Amtssitz der Euthynen, von der in Kapitel 3 bereits die Rede war, sprechen 91. Ferner eine Äußerung, die sich im Kratylos (400d) findet und der gemäß wir die wirklichen Namen der Götter gar nicht kennen. Der Weg der Gleichsetzung der mythischen Götter mit den Gestirngöttern ist dann nach Platon im Hellenismus konsequent gegangen worden 92. Ob es bereits der Weg Platons war, ist aber fraglich. Denn es bleibt das Problem eines einsichtigen Grundes für eine Identifikation, so dass nicht klar ist, ob überhaupt und wenn ja welcher mythische Gott mit einem Gestirngott zu identifizieren ist. Es erscheint mir daher wahrscheinlicher, dass Platon zwei verschiedene und getrennt nebeneinander existierende Göttergruppen, Mythische Götter und Gestirngötter, angenommen hat. Das wird vor allen Dingen durch den Timaios gestützt, findet aber auch in den NoVgl. Burkert 1977, 492 mit den dort angegebenen Stellen sowie Schöpsdau 2011, 170. Vgl. etwa Bordt 2006, 228–231. 88 Der Sonnengott Helios und die Mondgöttin Selene sind hier vielleicht die wichtigsten Ausnahmen. Auch das macht die Auswahl des »Beispiels« Sonne besser verständlich. Vgl. Anm. 25. Vgl. aber 821c–d, 822a–c. 89 So Morrow 1960, 487. 90 In diese Richtung geht Mayhew 2010, 213; vgl. auch Mayhew 2008, 5 f. Ähnlich vorher bereits Stalley 1983, 174 f. 91 Vgl. 945e ff. und Burkert 1977, 493. 92 Ebd. 484. 86 87

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moi selbst Anhalt 93. Wenn wir annehmen, dass Platon an der Getrenntheit von mythischen Göttern und Astralgöttern festgehalten hat, dann ist klar, dass der Nutzen des Beweises für ihn nicht darin bestehen konnte, dass mit ihm die Existenz der Olympischen Götter erwiesen wird. Der Nutzen des Beweises besteht nicht im Erweis der Existenz der Olympischen Götter – diese wird in den gottesdienstlichen Handlungen erfahren und erlebt –, sondern im Erweis ihrer Vernünftigkeit. Denn wir hatten gesehen, dass die kosmologischen Überlegungen 897b auf die Vernunft, den Nous, als ihren maßgeblichen Hintergrund gestoßen waren. Insofern auch die Olympischen Götter unter dem Dach dieses obersten Gottes Nous stehen und wir annehmen, dass sie analog zur Seele den Nous »hinzunehmen«, würde das ihre Vernünftigkeit garantieren 94. Die Vernünftigkeit der Olympischen Götter und ihres Kultes wäre so indirekt auf dem Wege des Beweises der Gestirngötter, der im Hintergrund den obersten Gott Nous sichtbar macht, erwiesen. Die Existenz der Olympischen Götter kann im Kult erfahren werden. Ihre Vernünftigkeit jedoch nicht in der gleichen Weise. Der Existenzbeweis rechnet daher im Hintergrund mit den Erfahrungen des gelebten und praktizierten Glaubens, mit denen sich der Athener voll identifiziert hatte 95. Ähnliches gilt bei der Frage der Fürsorge der Götter, die im Anschluss an die Existenzfrage behandelt wird 96. Wir hatten gesehen, dass es eine zentrale Erfahrung im Nomoi-Staat ist, dass sich die Götter um die Menschen kümmern. Die grundlegende Aussage des Atheners hierzu sei noch einmal angeführt: »die Götter aber, die Mitleid mit dem zur Mühsal geborenen Geschlecht der Menschen empfanden, haben zu ihrer Erholung von den Mühen als Gegengabe die Feste zu Ehren der Götter angeordnet und ihnen die Musen, den Musenführer Apollon und den Dionysos zu Festgenossen gegeben, damit sie die hdamalsi erfolgte Erziehung an den Festen mit Hilfe der Götter wieder erneuern« (653c–d). Die spezifische musisch-religiöse Paideia ist Ausdruck dieser Fürsorge der Götter für die Menschen. Der Beweis für die Fürsorge der Götter unternimmt es daher, etwas argumentativ einzuholen, was bereits erlebte Wirklichkeit ist. 93 94 95 96

Vgl. Tim. 41a und 930e–931a. Eine ähnliche Zusatzüberlegung stellt Morrow 1960, 487 f. an. Vgl. Kenklies 2007, 106–108. Vgl. 899d–905d.

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Wir verzichten hier auf die – nicht ganz unumstrittene – Rekonstruktion des Fürsorgebeweises 97. Klar ist, dass in diesen Beweis die Prämissen von der Allwissenheit, der Allmacht und der vollkommenen Tugendhaftigkeit der Götter eingehen. Während die ersten beiden Prämissen im Fürsorgebeweis neu eingeführt werden 98, greift der Athener bei der Behauptung der vollkommenen Tugendhaftigkeit der Götter (900d) auf ein Ergebnis des Existenzbeweises zurück. Dass er an den Existenzbeweis anknüpfen werde, hatte er zu Beginn des Fürsorgebeweises bereits angekündigt (900b). Die das All lenkende Seele war aufgrund der regelmäßigen Kreisbewegungen der Gestirne als »vernünftig und voller Tugend« (897b) bezeichnet worden 99. Bei keiner exemplarischen Nennung ihrer Aktivitäten fehlte die Seelenfunktion, um die es im 2. Beweisgang geht: Die Fürsorge (epimeleia) 100. Der Existenzbeweis hatte also bereits auf den Fürsorgebeweis vorbereitet. Neben der Zuschreibung der Attribute der Allwissenheit und Allmacht stellt die Annahme eines vollkommen tugendhaften und fürsorgenden Gottes natürlich den Haupteinwand gegen den Beweisgang dar. Die Annahme eines fürsorgenden Gottes ist gerade das Problem des Deisten, da sie aus den kosmologischen Erwägungen, die zur Annahme von Astralgöttern führen, nicht zu folgen scheint. Zwar ist der Übergang von der Vernunft zur Tugend durch eine Stelle aus dem I. Buch (631c) textlich gedeckt 101, aber das sachliche Problem bleibt. Inwiefern lässt sich aus einer Vernünftigkeit, die sich in mathematischer Regularität zeigt, auf eine handelnde und personale Instanz mit moralischer Vollkommenheit schließen? 102 Offenbar hatte Platon bereits im Existenzbeweis die Seele in einer auch das Moralische umfassenden Komplexität angenommen, einer Komplexität, die mindestens so groß ist wie die Komplexität der menschlichen Seele. Der Erweis der mathematischen Vernünftigkeit dieser Seele – so müssen wir vermuten – zog dann für ihn zwingend auch die moralische Vernünftigkeit dieser Seele nach sich. Über die Gründe der Annahme einer derart komplexen Seele gibt uns der Text allerdings keine direkte Auskunft. Im Hintergrund Vgl. Schöpsdau 2011, 429 f., Bordt 2006, 210–212, Cleary 2001, 133 f.; vgl. aber Mayhew 2008, 164 f. 98 Vgl. 901d–e. 99 Vgl. auch danach 897c, 898c, 899b. 100 Vgl. 892b, 896d, 897a. 101 Vgl. Bordt 2006, 211. 102 Vgl. 900d–e, 901a–b und Stalley 1983, 172 f. u. 176. 97

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könnte die Überlegung stehen, dass das Erschaffende eine mindestens so große Komplexität besitzen muss wie das von ihm Geschaffene 103. Aber auch hier steht gemäß dem bereits Gesagten zu vermuten, dass es die gottesdienstlichen Erfahrungen eines gelebten und praktizierten Glaubens sind, die diese Annahme mit stützen. Das vorgängig religiöse Selbstverständnis, aus dem heraus die Argumentation für die Asebie-Gesetze entwickelt wird, findet im Fürsorgebeweis eine Ausformulierung an einer Stelle, die einerseits Teilstück der Argumentation ist, andererseits aber auch eine darüber hinausgehende eigenständige Bedeutung hat. 902b charakterisiert der Athener den Menschen in für die Nomoi maßgeblicher Weise als das »gottesfürchtigste (theosebestaton) von allen Lebewesen«. Komplementär dazu wird der Mensch im Anschluss als der »Besitz« der Götter deklariert, für den die Götter als die Besitzer, »da sie doch die fürsorglichsten und besten Wesen sind« (902c), Verantwortung tragen. Es handelt sich hier um eine weitere Ausformulierung der Grundannahme der Nomoi, dass Gott und Mensch in einem besonderen Bezug zueinander stehen, in einer vorgängigen Hingeordnetheit aufeinander, wie sie bereits durch das Bild von der Marionette ausgedrückt wurde und ihre lebensweltliche Fundierung in den gottesdienstlichen Handlungen hat. In Fortführung dieser Grundannahme erscheint der Mensch am Ende des Fürsorgebeweises als »Arbeitsaufgabe« Gottes, um die sich Gott, auch wenn sie eine Kleinigkeit wäre, wie ein tüchtiger Handwerker mit aller Sorgfalt und Akribie zu kümmern hat 104. Der hier gewählte Vergleich mit den »Handwerkern« (dêmiourgôn 902e) ruft natürlich die Erinnerung an die Figur des Demiurgen im Timaios wach 105. Diese Erinnerung wird in der dann folgenden so genannten »Theodizee« (903b–905d) durch entsprechende Formulierungen weiter genährt. So ist von »dem, der für das All Sorge trägt« (903b), die Rede, ferner vom »Brettspieler« (903d), schließlich auch vom »König« (904a) 106. Legt man die Ausführungen des Timaios zugrunde, dann war im bisherigen Verlauf des Beweises primär von der »Weltseele« die Rede

103 Vgl. 644d und 803c: Der Mensch als Marionette ist (von den Göttern) »zusammengesetzt« (644d) bzw. »geschaffen« (803c) worden. 104 Vgl. 902e–903a. 105 Vgl. Mayhew 2010, 207. 106 Vgl. Görgemanns 1960, 202 Anm. 1.

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(vgl. Tim. 34a–37c); dass jetzt die Figur des Demiurgen in den Vordergrund zu treten scheint, ist ein Indiz für die von Robert Mayhew konstatierte »Vagheit« der platonischen Theologie in den Nomoi 107. Im Hintergrund der Beweisführung im X. Buch der Nomoi findet so gleichsam eine Überlagerung von Weltseele und Demiurg aus dem Timaios statt. Diese Überlagerung hat gewiss auch mit der personalen Tendenz des Gottesbildes in den Nomoi zu tun, die sich im Fürsorgebeweis und der darauf folgenden »Bezauberung« durch Mythen abzeichnet. In der die »Theodizee« der Form nach darstellenden mythischen »Bezauberung« (vgl. 903b ff.) ist von »unserem König« (vgl. 904a) die Rede, der als von den gesetzlichen Göttern unterschiedener, oberster Gott wie ein Brettspieler einen strategischen Plan zum »Sieg der Tugend« (904b) im Universum entwickelt hat. Die teilweise rätselhaften Darlegungen des strategischen Vorgehens, die auf der Grundlage des Reinkarnationsgedankens eine räumliche Versetzung der menschlichen Seelen nach ihrem Tod gemäß dem davor aus freien Stücken ausgebildeten guten oder schlechten Charakter vorsehen 108, scheinen eher gegen ein konkretes und direktes Eingreifen dieses obersten Gottes in die Welt des Menschen zu sprechen. Gleichwohl wird am Ende der »Theodizee« ein solches konkretes Eingreifen, wie es scheint, doch wiederum in Aussicht gestellt. An die Adresse des fiktiven jungen Deisten 109 gerichtet sagt der Athener: »Wenn dich nun Kleinias und unser ganzer Altenrat hier davon überzeugen kann, dass du nicht weißt, was du da über die Götter redest, so wird dir wohl die Gottheit selbst guten Beistand leisten (theos autos syllambanoi) (905c)«. Die Vorstellung des konkreten Beistands wird dann im 3. Beweis, dem Unbestechlichkeitsbeweis, bezogen auf die Götter ganz deutlich ausgesprochen 110. Der fortwährende Kampf zwischen Gutem und Bösem im Universum, bei dem ein gewisses Übergewicht des Guten anzunehmen ist 111, fordert, so der Athener, »eine erstaunliche Wachsamkeit« (906a). »Unsere Mitstreiter (symmachoi) aber sind Götter und Dämonen, und wir sind unsererseits die Herde der Götter und Dämo-

107 108 109 110 111

Vgl. Mayhew 2010, 214. Vgl. Schöpsdau 2011, 432–444. Vgl. 903b, 901c–d. Vgl. 905d–907b. Vgl. dazu Schöpsdau 2011, 446 f. z. St. 906a4–5.

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nen. Verderben bringt uns Ungerechtigkeit und Frevelmut verbunden mit Unverstand, Rettung dagegen Gerechtigkeit und Besonnenheit verbunden mit vernünftiger Einsicht, die in den beseelten Kräften der Götter beheimatet sind; doch ein kleines Stückchen davon kann man auch hienieden uns deutlich innewohnen sehen« (906a–b). Die Götter und Dämonen sind die konkreten Mitstreiter des Menschen im Tugendkampf. Auf ihren Beistand ist er angesichts seiner Vernunftschwäche angewiesen. Die Verbindung zu ihnen – vorzugsweise im liturgischen Geschehen – sichert ihm die dauerhafte Orientierung an der Vernunft, da diese »in den beseelten Kräften der Götter beheimatet« ist. Die für den Tugendkampf erforderliche »erstaunliche Wachsamkeit« wird dem Menschen daher nicht allein von sich selbst aus zuteil. Er benötigt dazu die Hilfe der »größten« Wächter, die »durch die Vorzüglichkeit ihres Wachens hervorragen« (907a): der Götter. Die ausgezeichnete Wächterschaft der Götter, hinter der wiederum die Annahme ihrer vollkommenen Tugendhaftigkeit steht, ist es auch, auf die gestützt der Athener die 3. Asebie-Position widerlegt 112. Zugleich steht sie gleichsam in Fernopposition zur Politeia, in der der Gedanke der ausgezeichneten Wächterschaft auf den Menschen hin ausgearbeitet wurde, was aus der Sicht der Nomoi eine Überforderung des Menschen darstellt. Die im X. Buch der Nomoi vorgestellte Rationalität ist also in jedem Fall eine Rationalität mit den Göttern. Überhaupt steht der polytheistische Zugang hier im Vordergrund 113. Das hatte, wie wir gesehen haben, mit der Bekundung eines Kindheitserinnerungen zurückrufenden ungebrochenen Glaubens an die traditionellen Götter durch den Athener zu tun, der das polytheistische Beweisziel von vornherein festgelegt hat. Rein für sich betrachtet war die polytheistische Auswertung des kosmologisch-teleologischen Beweisgangs nicht zwingend. Aufgewiesen wurde in diesem Beweisgang eine Seele – in der Terminologie des Timaios eine »Weltseele« –, die dann im 2. Beweisgang zu einer Art Demiurgen mutierte. Daneben war bereits im 1. Beweisgang von der Vernunft, dem Nous, die Rede, als einem »Gott für die Götter«, den 112 Vgl. Schöpsdau 2011, 444 und Bordt 2006, 213 f. Sowohl Schöpsdau (445) als auch Bordt (212) verneinen die Möglichkeit eines unmittelbaren und direkten Eingriffs der Götter in die Ereignisse der Welt. 113 Vgl. Mayhew 2010, 209.

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die Seele hinzunimmt und so die rationale Himmelslenkung bewirkt. Gerade wegen dieser Äußerungen zum Nous hat man die von Platon vertretene theologische Position als einen »Monotheismus im Polytheismus« 114 bezeichnet. Das scheint mir der Sache nach ganz richtig, zumal im VII. Buch auch noch vom »höchsten Gott« (megiston theon 821a) die Rede ist. Die Frage ist jedoch, um was für eine Art von Gott es sich bei diesem Nous handelt? Glücklicherweise lassen sich diese auf der höchsten Ebene der platonischen Theologie angesiedelten Überlegungen, die den Charakter der Spekulation wohl nie ganz verlieren, unabhängig von denen zu den darunterliegenden Ebenen anstellen. Auf diesen subordinierten Ebenen ist klar, dass die Menschen angesichts ihrer Vernunftschwäche die Götter, die ihnen vorzugsweise in der musisch-religiösen Paideia nahe sind, als Hilfe benötigen. Ob die angenommene Ausrichtung der Götter an der Vernunft dabei die an einem abstrakten metaphysischen Prinzip ist oder ob sich die Götter ihrerseits an einer Seele, an einem personalen Wesen oder an einer sonstwie gearteten Entität orientieren, kann dabei zunächst dahingestellt bleiben 115. Ich halte es für möglich und unter Berücksichtigung aller Umstände für die wahrscheinlichste Hypothese, dass Platon mit dem Nous nicht – wie etwa Bordt vorschlägt 116 – ein apersonales metaphysisches Prinzip meint, sondern ein personales Vernunftwesen. Denn einmal wird der Nous als »Gott für die Götter« (vgl. 897b) und nicht als »Prinzip für die Götter«, wie Platon auch hätte formulieren können, eingeführt. Der Gottesbegriff führt aber traditionell das Merkmal der Personalität mit sich. Auch die eindeutig personale Charakterisierung der Götter scheint mir dafür zu sprechen, dass die Instanz, die diesen Göttern übergeordnet ist, selber personale Züge trägt. Das stimmt auch zusammen mit der personalen, an den Demiurgen erinnernden Charakterisierung dieses obersten Gottes in der »Theodizee«. Die Analogie von Weltseele und Demiurg im Timaios und Seele und Nous in den Nomoi, legt einen Zusammenhang von Demiurg und Nous nahe. DieVgl. Bordt 2007, 139 f. und Bordt 2006, 80 f. Von Bedeutung wurde in diesem Zusammenhang die Debatte, ob der Nous unabhängig von einer Seele existieren kann oder nicht und ob es mithin die Möglichkeit eines »reinen« Nous gibt, der eine für sich bestehende Entität ist. Für diese Möglichkeit hat sich neuerdings wieder Menn 1995 stark gemacht. Vgl. Bordt 2006, 222 f. und Mayhew 2010, 213 f. 116 Vgl. Bordt 2006, 19, 215, 234 ff. 114 115

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ser Zusammenhang bringt unter der vorherrschenden symbolischen Interpretation 117 des Timaios keinen Mehrwert, da in dieser Interpretation der Demiurg nur als symbolische Verkleidung des Nous angesehen wird. Unter Voraussetzung einer nicht-symbolischen Interpretation dagegen könnte dieser Zusammenhang darauf hindeuten, dass mit dem Nous ein Vernunft-Gott im Sinne des Demiurgen gemeint ist. Besonders scheint mir die Stelle 713a für die Hypothese eines personalen obersten Vernunftgottes zu sprechen. Der Athener spricht hier von dem »Namen des Gottes […], der in Wahrheit über die herrscht, welche die rechte Vernunft besitzen«. Wir hatten gesehen, dass Kleinias’ Reaktionsfrage: »Wer ist dieser Gott?« offen geblieben war. Unabhängig davon, lassen die Formulierungen an der Intention der Stelle, die auf einen personalen Vernunft-Gott geht, keinen Zweifel. Dieser Gott, »der über die herrscht, welche die rechte Vernunft besitzen«, und dessen Namen Platon nicht kennt, stellt kein reguläres Objekt der gottesdienstlichen Verehrung in Magnesia dar. Immerhin ist vermutlich er es, der zu Beginn der Rede an die Siedler gemeint ist 118. Aber die Liturgie, die die Nomoi selbst darstellen, kann als verworrene und mehr ahnungshafte Verehrung dieses obersten Vernunftgottes angesehen werden. Und jedenfalls der Athener hat ein gewisses Bewusstsein für die Hilfestellung, die er von diesem Vernunft-Gott, sei es indirekt über die untergeordneten Götter, sei es direkt von ihm selbst, empfängt. Dabei wirkt dieser Vernunft-Gott nicht nur über den Intellekt; sondern es ist eine ganzheitliche, auch den Affektbereich betreffende Beeindruckung von diesem Gott, der sich der Athener ausgesetzt sieht (vgl. 804b). Das stellt eine Gemeinsamkeit mit den liturgischen Situationen des traditionellen Gottesdienstes dar, von deren ergreifendem Erlebnis der Athener – wie wir gesehen hatten – bei seinem Gottesbeweis ausgegangen war.

117 Vorzugsweise beruft man sich zur Stützung dieser Interpretation auf den Aufsatz von Baltes 1996. 118 Der antike Scholiast hält den dort genannten Gott »klarerweise« für den Demiurgen, vgl. Mayhew 2010, 201, Anm. 10.

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Kapitel 8: Modifizierte Rationalität am Ende des Nomoi-Gesprächs

Mit der Bestattungsgesetzgebung (958c–960b) erklärt der Athener die Nomoi-Gesetzgebung, deren Ordnung sich am Leitfaden des Laufes eines Menschenlebens orientierte, für »so gut wie vollendet« (960b). Um die Gesetzgebung aber wirklich perfekt zu machen, muss nach Ansicht des Atheners »für das Geschaffene die Möglichkeit einer vollkommen dauerhaften Erhaltung (sôtêrian) gefunden« (ebd.) werden. Dieser Hinweis des Atheners, der auf die Institution der Nächtlichen Versammlung führen wird, bewirkt eine Neubelebung des Nomoi-Gesprächs, nachdem zuvor von ihm über weite Strecken nur noch Gesetzesmaterial dargeboten wurde 1; in der nun beginnenden Schlussphase des Nomoi-Gesprächs, an der sich wieder alle drei Gesprächspartner beteiligen, versucht Platon die bisherigen Fäden des Gesprächs noch einmal zusammen zu führen. Die Interpretation dieser finalen Passage der Nomoi wird allerdings durch schwierige und nicht klar bestimmte Stellen nicht unerheblich erschwert. Dennoch scheint mir die hier vertretene Intention Platons auf eine modifizierte Rationalität aus ihr hinreichend deutlich hervorzugehen. Zur Verdeutlichung seiner geäußerten Absicht, eine dauerhafte Erhaltungsmöglichkeit für das gesamte Gesetzeswerk herauszufinden, bringt der Athener gegenüber Kleinias die dritte Schicksalsgöttin Atropos ins Spiel, die als Erhalterin (sôteiran) des Schicksalsloses dieses unabänderlich macht, indem sie dem Gesponnenen »die Kraft der Unwandelbarkeit verleiht« (960c–d). Etwas dieser mythologischen Figur Vergleichbares, dessen Augenmerk auf die »Erhaltung der Gesetze« (960d) gerichtet ist und das ihnen die »Kraft der Unwandelbarkeit« (ebd.) einpflanzt, fehle den bisherigen Gesetzen noch. Die Möglichkeit ein solches Etwas zu finden, ohne das – wie Kleinias bemerkt – die 1

Vgl. 931e ff. Lediglich 951c kommt es zu einer Nachfrage des Kleinias.

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Gesetze auf »unsichere Grundlagen« (960e) gestellt wären, scheint dem Athener aber sogleich blitzartig vor Augen zu stehen (vgl. 960e). Auf die entsprechende Frage des Kleinias rückt er damit heraus, indem er auf eine Institution zurückkommt, die er bereits zuvor (951d–952b) ausführlich beschrieben hatte und die nun als »Anker« (961c) für den ganzen Staat in einem neuen Licht erscheint: »Haben wir nicht gesagt, dass es in unserem Staat eine Versammlung (syllogon) folgender Art geben müsse? Es sollten sich die jeweils zehn ältesten Gesetzeswächter und all diejenigen, die die höchste Auszeichnung erhalten haben, mit jenen an einem Ort versammeln; ferner sollten diejenigen, die ins Ausland auf die Suche gegangen waren, ob es dort irgendetwas zur Bewahrung der Gesetze Geeignetes zu hören gebe, und die wohlbehalten heimgekehrt sind, nach einer gründlichen Prüfung durch die erwähnten Männer für würdig gelten, an der Versammlung teilzunehmen; außerdem sollte jeder einen jungen Mann von mindestens dreißig Jahren mitbringen; zunächst muss er ihn nach Anlage und Erziehung für würdig befunden haben, und erst dann soll er den jungen Mann den anderen vorstellen, und wenn auch die andern es gutheißen, sollen sie ihn als Mitglied aufnehmen; wo aber nicht, soll die getroffene Entscheidung für alle andern, vornehmlich aber für den Abgewiesenen selbst geheim bleiben; ferner sollte die Versammlung in der Morgendämmerung stattfinden, wo jeder am ehesten von eigenen und öffentlichen Geschäften frei (scholê) ist. Dies etwa hatten wir doch in unserem früheren Gespräch gesagt?« (961a–c). Aus dieser zweiten und in wiederholender Absicht vorgenommenen Beschreibung der Nächtlichen Versammlung 2 (nykterinos syllogos) geht also hervor, dass ihr 1. die zehn ältesten Gesetzeswächter als Mitglieder angehören; 2. diejenigen, die die »höchste Auszeichnung« erhalten haben. Das lässt sich im Blick auf die Erstbeschreibung dieser Versammlung, mit der unsere jetzige Beschreibung im Wesentlichen harmoniert 3, dahingehend konkretisieren, dass damit die Euthynen als »Priester«, die die höchste Auszeichnung erhalten haben (vgl. 951d), und der Aufseher über das gesamte Erziehungswesen sowie seine Amtsvorgänger (vgl. 951e) gemeint sind. 3. sollen heimgekehrte AusVgl. die Darstellung und Diskussion dieser Institution bei Morrow 1960, 500–515 und Schöpsdau 2011, 576–585. Die Bezeichnung »Nächtliche Versammlung« (nykterinos syllogos) findet sich ausdrücklich 909a und 968a. 3 Vgl. Schöpsdau 2011, 576–578. 2

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landskundschafter nach gründlicher Prüfung durch die bereits angeführten Mitglieder, die positiv ausfällt, dieser Versammlung angehören. Mit diesen Auslandskundschaftern sind die »Beobachter« (theôroi) gemeint, ein kurz zuvor eingeführtes Verfassungsinstitut, mit dem der Nomoi-Staat der Notwendigkeit einer – freilich streng regulierten – Offenheit gegenüber der Außenwelt Rechnung trägt 4. Im Rahmen der Darlegung des Instituts des Beobachters (theôros) hatte sich auch die erstmalige und ausführliche Beschreibung der Nächtlichen Versammlung ergeben. Der Beobachter, ein Mann zwischen 50 und 60 (vgl. 951c–d), sollte sich nämlich nach seiner Rückkehr in die Heimat umgehend »in die Versammlung derer begeben, die über die Gesetze die Aufsicht führen« (951d). An diese Anweisung hatte sich dann die Erstbeschreibung dieses Kollegiums angeschlossen (951d– 952b). Sinn der gesetzlichen Vorladung des Beobachters vor dieses Kollegium ist die Mitteilung etwaiger neuer Erkenntnisse »über die Gesetzgebung oder die Erziehung oder die Bildung« (peri theseôs nomôn ê paideias ê trophês 952b). Das entspricht dem in der Erstbeschreibung angegebenen Themenkreis, dem sich die Zusammenkünfte dieses Kollegiums widmen sollen: »Die Zusammenkunft (synousian) dieser Männer und ihre Besprechungen sollen stets die Gesetze zum Gegenstand haben, sowohl die des eigenen Staates als auch das, was sie etwa anderswo an Besonderem auf diesem Gebiet entdecken, und ferner alle Kenntnisse (mathêmatôn), die ihnen bei einer solchen Untersuchung von Nutzen zu sein scheinen, so dass denen, die sie sich aneignen, die Sache dadurch klarer wird, während denen, die sie nicht besitzen, das Gebiet der Gesetzgebung dunkel und verworren erscheint« (951e– 952a). Die Erstbeschreibung dieses Kollegiums akzentuiert so bereits den forschenden Charakter dieser Einrichtung 5. U. a. sollen in ihr auch »Kenntnisse« (mathêmata) thematisiert werden, die die Gesetzgebung einsichtiger machen. Das kann als Vorverweis auf die uns noch beschäftigende spezielle Ausbildung der Mitglieder der Nächtlichen Versammlung gewertet werden. Die Aufnahme des Beobachters nach gründlicher Prüfung in die Nächtliche Versammlung, von der unsere Zweitbeschreibung spricht, scheint auch in der Erstbeschreibung angedeutet; gelangt die anhörende Versammlung zu dem Eindruck, dass er 4 Vgl. 951a ff. Der Nomoi-Staat erlaubt nur Reisen im staatlichen Auftrag für Personen, die mindestens 40 Jahre alt sind, vgl. 950d. 5 Vgl. 951c.

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um vieles besser zurückgekehrt sei, dann soll sie ihm besondere Ehren zuweisen, die sich auch auf die Zeit nach seinem Tod erstrecken sollen (vgl. 952c). Die Anhörung vor der Nächtlichen Versammlung ist für den Beobachter aber nicht ohne Risiko. Denn gelangt die Versammlung zu dem Eindruck, er sei verdorben zurückgekehrt, dann soll sie seinen vollständigen Rückzug aus dem öffentlichen Leben veranlassen, welche Verordnung bei Zuwiderhandlung die Todesstrafe nach sich ziehen soll (vgl. 952c–d). Hier blitzt noch einmal, und zwar im Zusammenhang der Nächtlichen Versammlung, die die Nomoi auch charakterisierende drakonische Härte auf, auf die wir in Kapitel 3 hingewiesen hatten. Als Mitglieder der Nächtlichen Versammlung haben sich aus unserer Zweitbeschreibung unter Berücksichtigung des Gesamtkontextes bisher 1. die zehn ältesten Gesetzeswächter, 2. die Euthynen und der Aufseher über die gesamte Erziehung sowie seine Amtsvorgänger und 3. die für würdig befundenen Beobachter ergeben. Jeder der in 1.–3. genannten Alten soll aber gemäß dieser Beschreibung 4. schließlich noch einen mindestens 30-jährigen jungen Mann als »Assistenten« vorschlagen, den er für geeignet hält und der nach Billigung durch das gesamte Kollegium als Mitglied in die Versammlung aufgenommen wird 6. Das Kollegium besteht somit aus gleichviel jungen wie alten Mitgliedern. Das deckt sich sehr gut mit der Erstbeschreibung dieses Gremiums, in der die allererste Charakterisierung darin bestand, dass die Versammlung sich »aus Jüngeren und Älteren zusammensetzen« (951d) soll 7. Wir erfahren dort ergänzend, dass die Altersobergrenze Unklar ist, ob der Kandidat konkret von seinem Mentor zur Versammlung mitgebracht werden soll, wie das eispherein 961b3 nahelegt, oder ob die Versammlung lediglich aufgrund des Antrags des Mentors und »nach Aktenlage« über die Aufnahme des Kandidaten entscheidet. Für Letzteres votiert Schöpsdau 2011, 588 f. im Anschluss an Varvaro, da sonst die verfügte Geheimhaltung der Ablehnung der Aufnahme vor dem Betroffenen, deren Sinn wahrscheinlich die Vermeidung verheerender psychologischer Folgen für den Abgewiesenen ist, nicht gewährleistet wäre. Denkbar wäre aber auch eine scheinbar harmlose Einladung des Kandidaten, bei der sich die Versammlung das Urteil über Aufnahme oder Ablehnung bildet, ohne dass der Kandidat das wüsste, vgl. Guthrie 1978, 370. – Sehr wahrscheinlich handelt es sich bei der Aufnahme dieser Jüngeren um eine nur vorläufige Mitgliedschaft in der Versammlung, vgl. Schöpsdau 2011, 578 f. 7 Dem korrespondiert wahrscheinlich die bereits 632c getroffene Unterscheidung zwischen »Wächtern aus Einsicht« und »Wächtern aus wahrer Meinung«, vgl. Schöpsdau 2011, 585. 6

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für diese Junior-Mitglieder 40 Jahre beträgt (951e) und dass die für die Akzeptanz der Gesetzgebung förderlichen und von den Alten zugelassenen Studiengegenstände (mathêmata), von denen bereits die Rede war, von den Jungen mit allem Eifer gelernt werden sollen (952a). Wenn ein Junior-Mitglied sich als unwürdig erweist, dann fällt das auf seinen Mentor zurück, der dann von der ganzen Versammlung einen Tadel erhält (ebd.). Die sich bewährenden Junior-Mitglieder sollen als möglicher Führungsnachwuchs von der übrigen Bürgerschaft besonders im Auge behalten werden. Sie haben besondere Aufstiegsmöglichkeiten, können aber auch tiefer als der Durchschnittsbürger fallen, wenn sie den rechten Weg verlassen (952b). Die für die Nächtliche Versammlung vorgesehene Mischung aus Jung und Alt hat nicht nur den Sinn der Heranbildung eines Führungsnachwuchses. Denn die Junior-Mitglieder haben – unbeschadet ihrer gegenüber den Senior-Mitgliedern untergeordneten Stellung – bereits in der Gegenwart eine unersetzliche Funktion. Das verdeutlicht Platon mit dem in unserem Zusammenhang zentralen Bild von der Seele und von dem Kopf und der sich daraus ergebenden einheitlichen Verbindung von Vernunft und scharfen Sinnen, mit der er die Institution der Nächtlichen Versammlung vergleicht 8. Gemäß diesem Bild käme der Nomoi-Staat mit einer intakten Nächtlichen Versammlung einem vernünftigen, wachsamen und scharf blickenden Menschen gleich 9; die Nächtliche Versammlung stellt eine ähnliche »Wache« (964d) im Staat dar wie die, die der Mensch in Vernunft und scharfen Sinnen besitzt 10. Die Junior-Mitglieder halten als Repräsentanten der scharfen Sinne in diesem Bild wie junge Wächter auf einem Wachturm Wache über die ganze Stadt und melden ihre scharfen Beobachtungen den die Vernunft repräsentierenden Alten (964e–965a). Die Alten halten dann Rat (bouleuesthai) mit den Jüngeren als »Gehilfen« (hypêretais) und Mitberatern, »so dass auf diese Weise beide gemeinsam wahrhaft den ganzen Staat retten und erhalten (sôzein)« (965a). Die Mischung aus Jung und Alt in der Nächtlichen Versammlung wird daher als notwendig zur Erfüllung der eigentlichen Aufgabe dieses Gremiums angesehen 11. JuVgl. 961d, 964d–965a, 969b (»Verbindung des Kopfes und der Vernunft«). Vgl. 964d ff. 10 Vgl. 962c, 968a. Zur Charakterisierung der Mitglieder der Nächtlichen Versammlung als »Wächter« vgl. 964b–e, 965b–c, 966b, 968d, 969c. 11 Das sieht auch Perkhams 2013, 243 f., der in der Nächtlichen Versammlung eine auf Aristoteles vorausweisende rationale »buleutische Struktur« ausmacht, »durch die eine 8 9

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nior- und Senior-Mitglieder kooperieren in dieser Versammlung und müssen dies tun, wenn der Staat erhalten bleiben soll, was nur »gemeinsam« gelingen kann. Zwar haben die Alten unbestritten die Führung in diesem Gremium, aber die Jungen sind voll mit eingebunden. Ihre Aufgabe scheint sich dabei nicht nur auf die Meldung von Beobachtungen über aktuelle Vorgänge im Staat zu beschränken; offenbar haben sie auch ein Mitberatungsrecht bei den auf der Grundlage dieser Beobachtungen stattfindenden Beratungen. (So wie umgekehrt auch die Alten aktuelle Beobachtungen einbringen können). Ihre über das rein Wahrnehmungs- und Beobachtungsmäßige hinausgehende intellektuelle Aufgabe wird auch an der Verpflichtung deutlich, sich mit aller Intensität die von den Alten approbierten Studiengegenstände anzueignen. Nach der Aufzählung der rechtmäßigen Mitglieder der Nächtlichen Versammlung findet sich zum Abschluss in der Zweitbeschreibung noch eine Angabe, die erklärt, warum das Gremium gerade den Namen trägt, den es trägt: »ferner sollte die Versammlung in der Morgendämmerung stattfinden, wo jeder am ehesten von eigenen und öffentlichen Geschäften frei ist« (961b). Die Versammlung trifft sich also vor Sonnenaufgang, wenn es noch dunkel ist, und zwar, wie die Erstbeschreibung präzisiert, notwendigerweise täglich: »Diese (scil. Versammlung) soll […] sich pflichtgemäß täglich vom Morgengrauen bis zum Sonnenaufgang versammeln« (951d) 12. Als Grund für diesen Zeitpunkt wird die Muße und Unbelastetheit angegeben, in der sich die Mitglieder frühmorgens noch befinden und die für die anspruchsvollen und auch theoretischen Charakter annehmenden Beratungen sicherlich vonnöten ist. Neben diesem auf der Hand liegenden und explizit angegebenen Grund einer größtmöglichen geistigen Frische und Konzentriertheit ist aber auch an die religiöse Bedeutung zu denken, die das Ereignis des Sonnenaufgangs, um das herum die Beratungen stattfinauf die Sinne gestützte Vernunft die Fähigkeit zum adäquaten und gerechten Verwirklichen praktischer Ziele erhält« (244). Sehr zu Recht betont Perkhams die Bemühung Platons um die Rationalität der Prozesse, die einer Änderung von Gesetzen im NomoiStaat zugrunde liegen sollen, vgl. 230, 245, 246 f. 12 Morrow 1960, 503 Anm. 5 vermutet, dass diese Angabe nicht die Dauer der Sitzungen, sondern den Zeitraum, innerhalb dessen die Versammlung zusammentreten soll, vorschreibt. Man kann ein Zusammentreten im Morgengrauen als einen Fall eines Zusammentretens in der Nacht verstehen, so dass die unterschiedlichen Beschreibungen Platons (vgl. 908a, 962c vs. 951d, 961b) keinen Widerspruch begründen.

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den, gerade aus Sicht der Nomoi hat. Es erscheint daher nicht abwegig, wenn Platon durch die Festsetzung dieser Tagungszeit der Nächtlichen Versammlung, die er auch »göttliche Versammlung« (969b) nennt 13, eine Art von spirituellem Rückenwind für ihre Beratungen verschaffen wollte. Die Pflicht zur tagtäglichen Zusammenkunft macht deutlich, dass Platon mit dieser von ihm erfundenen Institution 14 die Vorstellung einer hochintensiven Amtsführung verbunden hat, in deren Bereich sowohl die Morgenlage als auch Überlegungen grundsätzlichster Art fallen. Diese Intensität zusammen mit der Amtsautorität eines Teils ihrer Mitglieder räumt der Konzeption der Nächtlichen Versammlung zumindest die Chance ein, trotz nur geringer legaler Befugnisse 15 jene überragende Rolle in einer Verfassungswirklichkeit zu spielen, die ihr von Platon zugedacht ist. Ganz entscheidend ist dabei natürlich auch die besondere Ausbildung der Mitglieder der Nächtlichen Versammlung, auf die wir im Folgenden zu sprechen kommen werden, nachdem wir nun die allgemeine Vorstellung dieser Institution zu Ende geführt haben. Wie bereits angedeutet misst der Athener der Nächtlichen Versammlung nach ihrer Zweitvorstellung eine herausragende Bedeutung im Nomoi-Staat zu: »ich behaupte, wenn man diese gleichsam zum Anker machen und diesen für den ganzen Staat auswerfen würde, so könnte er, sofern er alles erforderliche Zubehör besitzt, alles, was wir nur wünschen, vor dem Untergang bewahren (sôzein)« (961c). Die Erklärung dieser Behauptung über die Nächtliche Versammlung als Rettungsanker und Bewahrer der Polis, die Kleinias verlangt, führt in grundsätzliche Erwägungen nach dem eigentlichen Erhalter (sôtêra 961d) auf jedem Gebiet hinein. Der Athener nimmt dabei Stand in der VorVgl. auch 965c. Vgl. Morrow 1960, 509. 15 Konkrete Macht kann die Versammlung einmal, wie wir gesehen hatten, gegenüber den Beobachtern ausüben; zum anderen bei der Frage der Freilassung der gerechten Atheisten, vgl. 909a. Vgl. aber Morrow 1960, 513. Auf den Verkehr mit den gerechten Atheisten werden wir weiter unten noch zurückkommen. – Gegen die Deutung der Nächtlichen Versammlung als eines über den Gesetzen stehenden, omnikompetenten Organs unter Berufung auf 969b–c vgl. Morrow 1960, 512 f. Bei der Forderung des Atheners 969b, dass der Staat der Nächtlichen Versammlung anzuvertrauen ist (paradoteon), ist in Rechnung zu stellen, dass es hier um den erstmaligen Aufbau der regulären staatlichen Strukturen gemäß dem Nomoi-Entwurf geht. 13 14

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stellung, dass bei einem Lebewesen die Seele und der Kopf, genauer: der gute Zustand (aretê 961d) dieser beiden die Erhaltung garantieren. Auf diese Vorstellung, die dann als Bild für die Nächtliche Versammlung dient, waren wir bereits vorgreifend zu sprechen gekommen. Diese Vorstellung wird dann komprimiert gefasst als »die Vernunft (nous), sofern sie mit den edelsten Sinnen verbunden und mit ihnen eins geworden ist« (961d). Es ist diese sensible Vernunft, die vom Athener als die Rettung (sôtêria) eines Lebewesens angesetzt wird. Auf der Basis dieser allgemeinen Vorstellung von der mit wachen Sinnen ausgerüsteten Vernunft als Rettung macht der Athener ab 961e in einem elementar sokratischen Vorgehen einen entscheidenden Schritt, indem er nach dem Bezugspunkt fragt, den eine jeweilige Bereichs-Vernunft bei ihrer erhaltenden Tätigkeit anvisieren muss. Welches ist das jeweilige »Ziel« (skopon 961e), das die nautische Vernunft, die strategische Vernunft oder die ärztliche Vernunft im Auge haben müssen, um zu ihrem rettenden Zweck zu kommen? Ohne Kenntnis dieser spezifischen Ziele – wie etwa des Sieges oder der Gesundheit – könne einem Feldherrn oder einem Arzt der Besitz der spezifischen Vernunft niemals zugeschrieben werden. 962a f. folgt dann die Übertragung dieser Überlegung auf den Bereich der Polis und das Politische. Der Politiker muss das »Ziel« der politischen Vernunft kennen, wenn er fähig sein soll, den Staat zu erhalten. Ohne dass dieses »Ziel« bereits bestimmt wäre, kann der Athener schon eine konkrete Nutzanwendung aus der bis hierhin gediehenen Überlegung ziehen. Der NomoiStaat benötigt eine Einrichtung, die 1. dieses politische Ziel kennt und 2. weiß, wie dieses Ziel zu erreichen ist (962b). Die Frage des Atheners nach dieser Einrichtung als dem »Organ der Bewahrung« (phylaktêrion 962c) führt, wie Kleinias richtig vermutet, endgültig auf die Nächtliche Versammlung. Diese Versammlung muss – wie der Athener weiter ausführt – »jegliche Tugend besitzen (pasan aretên echein) 16; und hierfür ist die erste Voraussetzung, dass sie nicht unstet vielerlei Ziele verfolgt, sondern immer nur ein einziges (hen) ins Auge fasst und darauf gleichsam alle ihre Pfeile abschießt« (962d). Da diese Aussage als Konsequenz aus dem Vorhergehenden gekennzeichnet wird, bezieht sie sich wohl auf die Behauptung in 961d, dass der gute Zustand (aretê) von Seele und Kopf die Erhaltung eines Lebewesens garantiert. Auffällig ist, dass genau die gleiche Charakterisierung im X. Buch zur Beschreibung des Wesens der Götter gewählt wurde, vgl. 898c. Das korrespondiert mit der Bezeichnung der Nächtlichen Versammlung als »göttliche« Versammlung (969b).

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Der Gedanke der Konzentration auf ein einziges Ziel durch die Nächtliche Versammlung wird vom Athener daraufhin besonders in der Gegenüberstellung zu Staatskonzeptionen unterstrichen, in denen aus Unfähigkeit, ein einziges Ziel besonders auszuzeichnen, viele Ziele zugleich als Endziele verfolgt werden sollen (962e). Die Frage nach der positiven Bestimmung dieses einen Ziels, das die Nächtliche Versammlung als Erhalterin des Staates immer im Auge haben soll, wird nun dringlich und es ist Kleinias, der sie beantwortet, indem er die jetzigen Überlegungen mit dem Anfang des Nomoi-Gesprächs zusammenschließt: »Demnach, Fremder, wäre also der Grundsatz richtig, den wir schon vor langem aufgestellt haben? Wir hatten doch behauptet, alle unsere Gesetze müssten den Blick stets auf ein einziges Ziel richten, und als solches, so waren wir uns einig, werde mit vollem Recht die Tugend (aretên) erklärt« (963a). Die Tugend, Arete, ist also, wie Kleinias in Erinnerung an den Anfang des Gesprächs einbringt 17 und der Athener bestätigt, der die Erhaltung der Polis gewährende Zielpunkt der Nächtlichen Versammlung. Mit dieser Auskunft stellt sich aber wieder eine ähnliche Problemlage ein wie die, die wir in Kapitel 2 unter dem Stichwort der »relativen Unbestimmtheit der Rede von der Orientierung an der gesamten Tugend« thematisiert hatten. Sie wird von Kleinias auch wieder ansatzweise durch seinen Hinweis auf die Vierheit der Tugend mit der Vernunft (nous) als »Führerin«, auf die »die drei übrigen Tugenden den Blick zu richten hätten« (963a), entwickelt 18. Wir hatten in Kapitel 2 gesehen, dass zur vollen hier wieder auftauchenden Problemlage auch noch die grundsätzliche Friedensorientierung des Gesetzgebers und die besondere Rolle der vernünftigen Besonnenheit gehören. Wenn diese Problemlage durch die Benennung der Tugend als dem Zielpunkt der Nächtlichen Versammlung jetzt am Ende des Gesprächs wieder auftaucht, dann hat sie allerdings nahezu das ganze Nomoi-Gespräch in ihrem Rücken und damit auch Erörterungen, die – wie etwa die zur musisch-religiösen Paideia – eventuell Ansatzpunkte zu ihrer besseren Auflösung liefern können. Doch zunächst nimmt der Athener die kurz zuvor liegen gelassene Frage nach dem Zielpunkt des politischen Nous wieder neu auf. Fiktiv Vgl. 630e. 631c ist von phronêsis die Rede, die aber mit dem nous austauschbar ist. Vgl. Bordt 2006, 211 Anm. 176 und Schöpsdau 1994, 187.

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wird dieser Nous wie ein Mensch nach »jenem Einen« (ekeino to hen, vgl. 963b) befragt, auf das er seinen Blick richtet, und der Athener lässt diese Frage dann auf seine beiden realen Gesprächspartner Megillos und Kleinias hinübergleiten, die keine Antwort darauf geben können (963b–c). Das ist ein wenig verwunderlich. Denn unmittelbar zuvor war doch die Tugend als der Zielpunkt von Kleinias bestimmt worden und innerhalb der Tugend hatte man dem Nous die führende Position eingeräumt. Somit müsste sich der politische Nous auf die Tugend und insbesondere auf den Nous als Zielpunkt beziehen 19. Der an dieser Stelle angedeutete, aber nicht ausgeführte Gedanke mag als Anregung für Aristoteles’ Konzeption eines selbstbezüglichen Nous gedient haben 20. Dass er nicht zur Ausführung gekommen ist, scheint mir daran zu liegen, dass der Athener nach einer genauen Bestimmung dieses Zielpunkts des politischen Nous fragt, was auf eine Definition der Tugend hinausläuft. Das deckt sich auch mit dem Charakter der nun, ab 963c, beginnenden Passage, die zu Recht als Zeugnis für das Fortbestehen von Dialektik und Ideenlehre in der platonischen Altersphilosophie gewertet worden ist 21, die bekanntlich ihre Wurzeln in der sokratischen, auf die Tugend bzw. die Tugenden gerichteten Definitionsfrage haben 22. Auf diese Wurzeln kommt Platon im Schlussabschnitt der Nomoi besonders zurück. Zwar führt er die Frage nach der Einheit und Vielheit der Tugend als Beispiel für die Methode der »Zusammenschau« (synidein 963c) ein, aber der Sache nach wird dadurch das bereits bestehende und überragend wichtige Gesprächsthema, das auf die Definition der Tugend geht, fortgeführt. In einer kleinen dialektischen Partie macht der Athener Kleinias klar, dass das Problem der Einheit und Vielheit der Tugend vor allem auf das Problem der Einheit der Tugend hinausläuft (963c–964a). Denn die Aufgabe, die Verschiedenheit der vier Arten der Tugend (aretês eidê 963c) aufzuzeigen, ist durchaus lösbar und der Athener demonstriert das am Beispiel des Unterschiedes von Tapferkeit (andreia) und Einsicht (phronêsis) (963e). Unbeschadet der besonderen Ernsthaftigkeit der Untersuchung hatte er in einer humorvollen Aufgabenverteilung

Vgl. Görgemanns 1960, 219. noêsis noêseôs. Vgl. Aristoteles Met. XII 9, 1074b 34–35. 21 So etwa Görgemanns 1960, 220: »Unverkennbar wird hier auf eine dialektische Methode im Sinne der Ideenphilosophie hingedeutet«. 22 Vgl. Aristoteles Met. A 6, 987b 1–10. 19 20

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sich selbst die Aufgabe zugeteilt, die Differenz dieser Tugendarten darzulegen; den Nachweis der Identität derselben hingegen, d. h. »inwiefern sie […] ein und dasselbe sind« (964a) und daher beide mit dem einen Namen »Tugend« bezeichnet werden können (vgl. 963c–d), verlangt er nun von Kleinias. Es wird aber gleich klar, dass er nicht wirklich von Kleinias eine Lösung dieser Identitätsaufgabe, die er dann noch auf alle vier Tugenden ausdehnt, erwartet und tatsächlich bleibt diese bereits im Protagoras gestellte Aufgabe auch in den Nomoi ungelöst 23. Stattdessen verdeutlicht der Athener damit, was es heißt, dass jemand ein »angemessenes Wissen« (964a) von etwas hat. Der Inhaber eines »angemessenen Wissens« von etwas muss die Definition des Gegenstandes kennen, jedenfalls sofern er eine Autorität zu sein beansprucht und der Gegenstand wirklich bedeutend ist. Dies gibt dem Athener wieder Gelegenheit zur Überleitung zur Nächtlichen Versammlung und ihrem über allem stehenden TugendThema: »Gibt es denn nun etwas Bedeutenderes für einen Gesetzgeber und Gesetzeswächter und für einen, der sich durch seine Tugend vor allen andern auszuzeichnen glaubt und dafür auch Siegespreise erhalten hat, als eben das, wovon wir jetzt sprechen: Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit und Einsicht?« (964b). Die »Wächter der anderen« (964b) müssen sich, so der Athener, von diesen anderen abheben, indem sie – besonders auch gegenüber Delinquenten – Tugend lehren und erklären können. Ihr Bescheidwissen über die Tugend muss dabei über die noch zu suchende Tugenddefinition hinausgehen. Sie müssen »in Wort und Tat« (964c) tüchtige Wächter sein, d. h. sie müssen Tugend nicht nur richtig erklären können, sondern sie müssen auch tugendhaft sein und Tugend vorleben. Wenn die Nächtliche Versammlung die schon beschriebene Funktion eines »hellwachen Kopfes« im Staat einnehmen soll, dann erfordert das gemäß dem Athener, dass die Wächter es »mit der Tugend in Tat und Wort genauer nehmen als die große Menge« (964d). Die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung benötigen daher eine »sorgfältigere Erziehung (akribesteran paideian) als die früher erwähnte« (965b) 24. Das bedeutet eine Trennung im Nomoi-Staat zwischen durchschnittlichen Bürgern und einigen, »die besonders sorgfältig erzogen und ausgebil-

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Vgl. Schöpsdau 2011, 590–592. Vgl. 818a und 670e.

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det sind« (965a) 25. Obwohl hier der Gedanke an die Philosophenherrscher der Politeia und ihr Ausbildungsprogramm nahe liegt, werden wir sehen, dass sich die vom Athener ab 965b entwickelte Ausbildung der Mitglieder der Nächtlichen Versammlung davon unterscheidet 26. Allerdings geht diese Ausbildung in einem grundlegenden Bereich zunächst einmal konform mit der Politeia-Ausbildung. Denn die bereits eingeführte Fähigkeit zur »Zusammenschau« wird jetzt offiziell in den Rang einer für die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung notwendigen Disziplin erhoben (965b). Zwar ist nicht ausdrücklich von »Dialektik« die Rede, aber der Athener lässt in seinen Formulierungen die entscheidenden Stichworte fallen, die auf diese zur Definition befähigende Disziplin hinweisen. Die Betonung der Zusammenschau hin auf das Eine wird jetzt sogar noch ergänzt durch die Erwähnung einer »einheitlichen Idee« (mian idean 965c), auf die es für den Dialektiker von dem Vielen und Ungleichartigen aus hinzublicken gilt. Der Athener macht sich dafür stark, dass es kein »genaueres Verfahren der Betrachtung und Anschauung« (965c) und keinen »zuverlässigeren Weg« (ebd.) als diesen gibt, und Kleinias räumt dies – offenbar in Ermangelung eigener Erfahrungen mit diesem »Weg« – dem Athener vertrauensvoll ein 27. Die nun für die »genauere Erziehung« der Mitglieder der Nächtlichen Versammlung etablierten dialektischen Studien bleiben aber, obwohl sie sich an sich auf jeden beliebigen Gegenstand richten könnten, gemäß dem Problemkontext des Schlussabschnittes, in dem sich die Gesamtproblematik der Nomoi noch einmal verdichtet, in einer besonderen Verbindung zur Tugend-Frage. Der Athener sieht vor, dass die Wächter gezwungen werden sollen (anankasteon 965c) 28, den genauen dialektischen Blick auf jenes Eine Seiende (hen on 965d) zu richten, das Vgl. auch die diese Trennung anbahnende Stelle 735a. – Wenn Görgemanns den Durchschnittsmenschen als den Adressaten der Nomoi ansetzt, dann berücksichtigt er zu wenig jene Stellen in den Nomoi, in denen nicht zu den »Vielen« als den Adressaten, sondern über die Vielen gesprochen wird. 26 Die meisten Ausleger sehen keine signifikanten Unterschiede zum Ausbildungsprogramm der designierten Philosophenherrscher in der Politeia, vgl. aber Stalley 1983, 135 f., der von einer echten Abwesenheit der Ideenlehre in den Nomoi ausgeht und vermutet, dass sich die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung die systematischen Klassifikationsmethoden, die im Sophistes und Politikos exponiert werden, aneignen sollen. 27 Vgl. Görgemanns 1960, 220. 28 Vgl. Resp. 515c, 521b. 25

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durch alle vier Tugendarten hindurch identisch bleibt und es rechtfertigt, diesen das Prädikat »Tugend« zuzusprechen. Es ist eine Aufgabe, wie der Athener in einer ins Feierliche gehenden Anwandlung erklärt (965d f.), an der kein Weg vorbei führt. Die dialektische Bestimmung der Tugend gelte es, hartnäckig zu betreiben. Denn ohne diese Bestimmung, die noch fehlt, obgleich der Athener einige formale Lösungsoptionen skizziert 29, könne man nicht sagen, dass es »bei uns um die Tugend gut bestellt« (965d) sei. Das Problem der Tugend-Definition wird so direkt verknüpft mit der Möglichkeit der Errichtung eines tugendhaften Staates, den das Nomoi-Unternehmen zum Ziel hatte: »Also werden wir, sofern wir unserem eigenen Rat folgen wollen, es irgendwie bewerkstelligen (mêchanêsometha) müssen, dass dieses Wissen in unserer Stadt vorhanden ist« (965e) 30. Soweit ich sehe, hat nur Mayhew erkannt, dass das Folgende unter dem Vorzeichen der Bewerkstelligung des Vorhandenseins dieses Wissens um die Tugend-Definition und die Tugend überhaupt zu lesen ist 31. Nach dieser Bewerkstelligung fragt Kleinias den Athener (965e) und dieser Bewerkstelligung wendet sich der Athener nach einer kleinen Verzögerung dann zu (966a ff.). Im Lichte der Politeia scheint es bei der hier exponierten Problematik einer Tugend-Definition um die Erkenntnis der Idee des Guten und das notorische Problem einer Definition dieser Idee zu gehen. Besonders durch die Rede von der »einheitlichen Idee« (965c) wurde dieser Hintergrund in unserem Zusammenhang wachgerufen. Wenn nun aber der Athener sich erklärtermaßen der Bewerkstelligung des Vorhandenseins des Wissens um die Tugend-Definition, in deren Hintergrund die Idee des Guten steht, zuwendet und das Hauptthema, auf das er dann zu sprechen kommt, Theologie ist, dann bedeutet das eine neue Herangehensweise an das Tugend-Problem, das die herkömmlichen Vorstellungen von reiner Dialektik gleichsam sprengt, indem die Theologie für die Bestimmung der Tugend ein unerlässlicher Partner der Dialektik wird. Genau das ist in den Nomoi der Fall. Über den Grund dieser notwendigen Beiziehung

Vgl. Schöpsdau 2011, 590 f. Übersetzung nach Schöpsdau 2011, 156, der mit anderen der Textvariante mit hamôs ge pôs den Vorzug gibt, vgl. 595. 31 Vgl. Mayhew 2008, 8. Hinter den sehr knappen Äußerungen von Stalley 1983, 134 könnte eine ähnliche Erkenntnis stehen. 29 30

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der Theologie in der Frage der Tugend-Definition hat Robert Mayhew eine plausible Vermutung geäußert: »I take it that since god is reason (nous), or at the very least intimately related to reason, and since reason is the leader of the virtues, Plato believes that by studying the nature of the gods – as the Athenian and his interlocutors do in Laws 10 – the Nocturnal Council will more likely succeed in knowing fully the nature of (the unity of) virtue« 32. Die Beschäftigung mit den Vernunft-Göttern bzw. dem VernunftGott als notwendige Hilfe in der Frage nach der von der Vernunft geführten Tugend – wir werden sehen, dass dieser von Mayhew vermutete Verbindungsgrund von Dialektik und Theologie, der bereits eine klare Modifikation des Rationalitätsmodells anzeigt, sogar noch in die umfassendere Vorstellung einer ganzheitlichen Orientierung an den Göttern bzw. Gott eingebettet ist, wie sie im Dienste einer stabilen Tugendorientierung unter den Bedingungen der menschlichen Schwäche durch die musisch-religiöse Paideia gewährleistet wird. Konkret vollzieht sich im Gespräch der Übergang von der Dialektik zur Theologie, den Platon durch die Anrufung des Gottes der Gastfreundschaft, Zeus, durch Kleinias (965e) bereits vorzubereiten scheint, so, dass die Forderung nach dem definitorischen Wissen um die Einheit auf die Gegenstandsbereiche des Schönen und Guten (966a) und dann überhaupt auf den Bereich aller Dinge, »die ernster Beschäftigung wert sind (tôn spoudaiôn)« (966b), erweitert wird. Die wirklichen Wächter der Gesetze müssen, so der Athener, über all das die Wahrheit wissen, sie müssen fähig sein, diese Wahrheit zu formulieren und zu artikulieren, und sie müssen über die Theorie hinaus diese Wahrheit in ihren Taten befolgen vermöge einer Urteilskraft, die erkennt, »was auf schöne Weise geschieht und was nicht« (966b) 33. Es ist nun der neu in die Diskussion gekommene Begriff des Schönen und in zweiter Linie der des Ernsthaften, die dem Athener den Übergang zur Theologie konkret ermöglichen: »Ist denn nun nicht eines der schönsten Dinge (hen tôn kallistôn) die Lehre von den Göttern (to peri tous theous), die wir ja mit allem Ernst (spoudê) dargelegt haben, dass sie nämlich existieren und über welch große Macht sie offensichtlich verfügen […]?« (966c) 34. 32 33 34

Mayhew 2008, 8. Übersetzung nach Schöpsdau 2011, 156. Die Formulierung »eines der schönsten Dinge« scheint für den Vorrang der Dialektik

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Die Theologie oder – wie es wörtlich heißt – »das hinsichtlich der Götter« wird von der Schönheit her eingeführt. Das betont noch einmal die sinnlich-ästhetische Dimension dieses Lehrgegenstandes, auf die wir im Zusammenhang des die sichtbaren Gestirne und hier besonders die Sonne wesentlich miteinbeziehenden Gottesbeweises aufmerksam gemacht hatten. Die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung müssen sich für diese Dimension offen zeigen 35. Denn im Unterschied zu den gewöhnlichen Bürgern, bei denen es für ausreichend befunden wird, wenn sie den gesetzlichen Bestimmungen folgen, darf, so der Athener, weder jemand Gesetzeswächter noch Tugendpreisträger (vgl. 966d) werden, »sofern der Betreffende nicht alle Mühe darauf verwendet hat, sich über die Götter jede erdenkliche Gewissheit (pasan pistin) zu verschaffen, die es nur gibt« (966c). Diese Bedingung zielt nicht nur auf den rein argumentativen Gottesbeweis. Denn wie wir bereits in Kapitel 5 bemerkt hatten, schließt der an dieser Stelle verwendete Terminus Pistis die Bemühung um die sinnlich erfahrbare konkrete Realität der Götter mit ein, für die das KollegiumsMitglied gleichsam ein Sensorium entwickeln soll. Die Verfügung, dass die Bemühung um jede erdenkliche Gewissheit über die Götter auch eine notwendige Bedingung für diejenigen ist, die den Tugend-Preis erhalten sollen (966d), so dass das Theologiegebot für den Kern der Mitglieder der Nächtlichen Versammlung gilt 36, bestätigt die Vermutung, dass Platon in den Nomoi einen notwendigen Zusammenhang zwischen Tugend und Theologie sieht. Nur der »göttliche« Mann (vgl. 966d) scheint für ihn ein vollends tugendhafter Mann sein zu können. Auf das Lehrgebiet der Theologie kommt der Athener nun ausführlicher zu sprechen, indem er die beiden Hauptgründe des im X. Buch geführten Gottesbeweises rekapituliert 37. Diese Rekapitulation führt dann in den Versuch hinein, die »damalige« (vgl. 967a) atheistische Einstellung der Naturphilosophie hermeneutisch durchsichtig zu machen, woraufhin die »jetzige« (vgl. 967d), geklärte und zum Gottesgegenüber der Theologie zu sprechen, vgl. Schöpsdau 2011, 582. Vgl. aber dagegen 888b. 35 Vgl. auch 812b–c. 36 Und damit für alle übrigen Mitglieder der Nächtlichen Versammlung, die von diesem Kern ausgewählt werden. 37 Vgl. 966d ff.

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glauben führende Einstellung in einer letzten philosophischen Konzentration skizziert wird. Dadurch kommt neben den bereits bekannten Gründen für den Gottesbeweis noch eine weitere diesen stützende Bedingung in den Blick, aus der sich die ganze Tragweite der Modifikation des Rationalitätsverständnisses bei Platon ablesen lässt. Es ist ein Zweifaches, das im X. Buch die Existenz der Götter begründet hatte und das der Athener jetzt wiederholt: 1. Die Priorität der Seele und 2. Der geordnete Umlauf der Gestirne, in dem sich die Herrschaft der Vernunft (nous) über das Weltall manifestiert 38. Am 2. Punkt setzt der Athener zunächst an. Die hierher gehörigen Erkenntnisse werden durch die Astronomie und »die damit notwendig verbundenen sonstigen Wissenschaften« (967a) – wir können kurz sagen: die Mathematik – geliefert. Das entscheidende Problem ist nun, wie die durch die (mathematische) Astronomie gelieferten Erkenntnisse zu interpretieren sind, ob im Sinne der atheistischen oder der theistischen Option? Für die »große Menge« (967a), so der Athener, ist klar: Die Astronomie führt in den Atheismus. Denn ihre Erkenntnisse liefen auf das bereits im X. Buch skizzierte materialistische Weltbild hinaus, in dem unbeseelte Körper »durch bloße Notwendigkeit« (ebd.) entstünden und bewegt würden. In einer zweiten Ausführung, die der Athener dazu gibt (967a–d), wird klar, dass seiner Meinung nach die »damaligen« Naturphilosophen, die sich »die Gestirne als unbeseelt dachten« (967a), diese materialistische Konsequenz auch tatsächlich gezogen haben. Freilich habe sich in Fachkreisen Widerstand gegen die Annahme der Unbeseeltheit der Gestirne geregt. Das Argument sei die damals nur erst vermutete Berechenbarkeit der Gestirnumläufe gewesen. Wären die Gestirne unbeseelt – so das Argument –, dann könnten sie »sich niemals Berechnungen (logismois) von so wunderbarer Genauigkeit fügen […], weil sie ja keine Vernunft (noun) hätten« (967b) 39. Auf der Basis dieser Überlegung sei bereits von einigen – zu denken ist hier vor allem an Anaxagoras 40 – die Behauptung der Führerschaft des Nous im Weltall gewagt worden. Dieser an sich richtige von der Berechenbarkeit der Gestirnumläufe ausgehende Ansatz sei aber deshalb nicht durchschlagend gewesen, weil man andererseits nicht die erste Fundamentalannahme von der Priorität der Seele ge38 39 40

Vgl. 966d–e und 967d–e. Vgl. Bordt 2007, 140. Vgl. Schöpsdau 2011, 598 z. St. 967b4-c5.

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macht habe (ebd.). Selbst wenn man also aufgrund der Berechenbarkeit den Gestirnen qua Vernünftigkeit Beseeltheit zuschreibt, dann ist diese Beseeltheit aufgrund der angenommenen Posteriorität der Seele nur ein letztlich reduzierbares Epiphänomen der Materie. Das Bild, das sich den damaligen Naturphilosophen bot, musste daher eines bleiben, in dem »alles, was sich am Himmel bewegte, eine Masse von Steinen und Erde und von vielen andern unbeseelten Stoffen zu sein« (967c) schien. Die vom Athener unternommene Rekonstruktion der hermeneutischen Situation der damaligen Naturphilosophen macht etwas im Binnenverhältnis der beiden Hauptgründe für den Götterglauben deutlich: Die Entdeckung der Mathematizität der Gestirnbewegungen hat das Potential, die Annahme der Beseeltheit und damit den Gottesbeweis zu stützen, aber solange die Fundamentalannahme der Priorität der Seele nicht hinzu kommt, reicht das nicht aus. Die Priorität der Seele erweist sich auf diesem Wege noch einmal als die Fundamentalannahme des Gottesbeweises, an deren Akzeptanz alles Weitere vorrangig hängt 41. Das stimmt auch zusammen mit der Kritik, die sich an der theistischen Interpretation der Mathematizität der Gestirnbewegungen anbringen ließ 42. Der Sachverhalt der mathematischen Regularität der Gestirnbewegungen muss rein für sich betrachtet noch kein Anlass sein, von ihm aus auf eine göttliche Instanz zu schließen. Statt in ihm den Ausdruck von »planenden Absichten eines Willens, der auf die Verwirklichung des Guten aus ist« (967a), zu sehen, ist es auch denkbar, ihn im Sinne der materialistischen Interpretation unter jene »Notwendigkeiten« zu subsumieren, auf die sich die Materialisten zur Welterklärung berufen. Unter diesen Unständen kommt der Stützung der Annahme der Priorität der Seele eine überragende Bedeutung für die theistische Position zu, zumal da sich auch an der Argumentation, die im X. Buch zu diesem Resultat führte, Kritik üben lässt. So wäre es möglich, alternativ zur Seele einen Ur-Körper anzunehmen, der eben genau jene Fähigkeit, sich selbst zu bewegen, hat 43. Die Stützung der Annahme der Priorität der Seele und zugleich der theistischen Interpretation der Erkenntnisse der mathematischen Ast41 42 43

Vgl. 899c. Vgl. etwa Stalley 1983, 173. Vgl. 896a und Mayhew 2008, 120.

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ronomie scheint nun durch eine Bedingung zu geschehen, die der Athener in einem langen Satz (967d–968a) explizit macht, der die Bedingungen »fester Gottesfurcht« (vgl. 967d) angibt und dem Kontext nach die »jetzige« Einstellung beschreibt, in der die astronomischen Einsichten gemäß der natürlichen Veranlagung des Menschen wie selbstverständlich wieder in eine Gotteserfahrung führen (vgl. 966e). Zur Erlangung »fester Gottesfurcht« ist, so der Athener, einmal die Aneignung der beiden Hauptgründe für den Gottesbeweis notwendig. Dann aber heißt es, dass jemand unmöglich zu dieser Haltung gelangt, »wenn er nicht zugleich die hierfür erforderlichen Vorkenntnisse erworben und ihre auf der Muse (kata tên mousan) beruhende Gemeinsamkeit zusammenschauend erfasst (syntheasamenos) hat« (967e). Den Erwerb der erforderlichen Vorkenntnisse – Astronomie und Mathematik – muss also noch eine Zusammenschau ihrer Gemeinsamkeit »gemäß der Muse« begleiten. Die Deutung dieser entscheidenden Wendung »gemäß der Muse« ist in der Nomoi-Forschung kontrovers. Ein großer Teil der Forscher deutet im Anschluss an Cherniss den Ausdruck »Muse« als Synonym für »Philosophie« im Sinne der Dialektik der Politeia, denn auch dort ist von einer »Zusammenschau« der Wissenschaften die Rede (vgl. Resp. 537c) 44. Eine Wiederholung des Politeia-Gedankens hätte Platon aber auch unter Fortlassung der fraglichen Wendung deutlich zum Ausdruck bringen und sogar die durch die Wendung auftretenden Irritationen vermeiden können. Mit Blick auf den von mir rekonstruierten lokalen Kontext der Stelle, aber noch mehr mit Blick auf den Gesamtkontext und die Gesamtaussage der Nomoi, die hier zusammengefasst werden soll, scheint mir die Wendung »gemäß der Muse« dagegen den entscheidenden Unterschied zwischen dem Nomoi-Programm und dem Politeia-Programm zu markieren: Mit »Muse« ist hier der die leibhaftige Musik umgreifende und die übrigen Studien grundlegend vor- und mitorientierende Bereich der musisch-religiösen Paideia gemeint, der auch für die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung eine unverzichtbare und unerlässliche Kernbildung darstellt. Ganz richtig scheint mir daher G. Müller von der »Koordinierung der staatlichen Chor-Paideia mit den mathematischen Wissenschaften« (206) zu sprechen, die Platon mit dieser Wendung u. a. im Sinn hat und die die »verkehrte«

44

Vgl. Schöpsdau 2011, 600 f.

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Auffassung von Astronomie und Mathematik, die in den Atheismus führt, verhindern soll 45. Die Notwendigkeit der musisch-religiösen Paideia gerade auch für die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung geht indirekt aus einer Regelung hervor, in deren Zusammenhang zum allerersten Mal in den Nomoi von der Nächtlichen Versammlung die Rede war. Die im X. Buch auf den Gottesbeweis folgende Asebie-Gesetzgebung sah die Einrichtung eines bestimmten Gefängnisses, dem »Haus der Besinnung« 46 (sôphronistêrion), »beim Versammlungsort der nächtlichen Versammlung« (908a) vor. Der Sinn dieser Bestimmung klärt sich in der Folge sehr schnell auf. Denn die dort für mindestens 5 Jahre inhaftierten gerechten Atheisten dürfen keinen Kontakt mit anderen Bürgern haben mit Ausnahme der Mitglieder der Nächtlichen Versammlung, »die zu ihrer Zurechtweisung (nouthetêsei) und zur Rettung ihrer Seele mit ihnen verkehren« (909a). Die im Ablauf des NomoiGesprächs erste Aufgabe der Mitglieder der Nächtlichen Versammlung ist also die des väterlichen Seelsorgers für die straffällig gewordenen gerechten Atheisten. Was bei diesen Gefangenenbesuchen genau zu geschehen hat, wird nicht gesagt. Sicherlich werden der Gottesbeweis, für den die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung ja besonders kompetent sein müssen, und Erläuterungen dazu eine Rolle spielen 47. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Seelsorger ihre Bekehrungsaufgabe nur auf der rein argumentativen Ebene angehen, zumal den gerechten Atheisten gar keine herausragende Intellektualität zugesprochen wird 48. Um ihre Schützlinge zu erreichen und um selbst persönlich glaubwürdig zu sein, müssen bei dieser Aufgabe auch geistliche Vollzüge wie das Singen von Liedern, das Tanzen im Chorreigen, das Sprechen von Gebeten, kurz: die Abhaltung von Gefängnisgottesdiensten hinzu kommen. Paradoxerweise sind derartige liturgische Vollzüge, die den leiblichen Einsatz zwingend erfordern, auch geeignet, die Annahme des Vorrangs der Seele vor dem Körper zu stützen, indem sie denselben gleichsam erfahrbar machen. Die Bedeutung der liturgischen Vollzüge, die wir auch im Hintergrund der Argumentation für Vgl. 819a. So übersetzt Schöpsdau 2011, 96. Diese Übersetzung lässt neben dem Vorzug der Exaktheit (vgl. 450) für den Leser des 21. Jhs. auch den totalitären Hintergrund anklingen. 47 Vgl. Mayhew 2008, 199. 48 Vgl. 908b–e. 45 46

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den Gottesbeweis, diesen stützend, ausgemacht hatten, für die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung ergibt sich auch, wenn man an die Institution des Dionysoschores zurückdenkt. Unabhängig davon, wie man die im Text in der Tat signifikant vorhandenen Hinweise auf eine Verbindung zwischen Dionysoschor und Nächtlicher Versammlung deutet 49, gilt auch für die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung das Gebot der Teilnahme am Dionysos-Chor. Die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung werden so in ihren jeweiligen Dionysoschören singen und tanzen, die Mitglieder über 60 Jahren werden, so steht zu vermuten, als »Befehlshaber des Dionysos« (vgl. 671e) fungieren. Sie bleiben damit eingebunden in die ausnahmslos für alle geltende und eine Grundorientierung gewährleistende musisch-religiöse Paideia. Nach der Nomoi-spezifischen Bedingung einer Zusammenschau der Gemeinsamkeit der Wissenschaften »gemäß der Muse«, die die musische Einstellung gegenüber den wissenschaftlichen Ergebnissen signalisiert, welche in gesetzlichen Einrichtungen wie etwa der ChorErziehung, auf die der dann folgende Punkt hinweist 50, dauerhaft stabilisiert werden muss, folgt als abschließende Bedingung für die »feste Gottesfurcht« die nun in voller Allgemeinheit ausgesprochene dialektische Kernforderung, dass der unanfechtbar Gottesfürchtige »von allem, was eine Definition besitzt, diese Definition geben kann (dounai Nach den mehr intuitiven Vorstößen von Ritter und Parmenter hat Larivée 2003 den Versuch unternommen, diese Verbindung genau zu explizieren. Auffällig sind sprachliche und strukturelle Korrespondenzen wie die für beide Institutionen gebrauchten Bezeichnungen syllogos und synousia und die Möglichkeit der Teilnahme an diesen Institutionen ab dem 30. Lebensjahr, vgl. 36. Besonders zu denken gibt, dass in Bezug auf beide Institutionen von einer akribestera paideia die Rede ist (vgl. 670e, 965b). Der Dionysoschor ist aber keine Elite-Einrichtung, sondern eine Einrichtung, an der auch die Elite teilnehmen muss und so ihre Basis-Bildung ständig erneuert. 50 Görgemanns 1960, 221 hat darauf hingewiesen, dass die in diesem Punkt geforderte praktisch-staatsmännische Verwendung der Kenntnisse nicht gut als Vorbedingung für »feste Gottesfurcht« gelten kann. Im Blick auf 968a1–4 sieht er einen Thema-Wechsel im Satz am Werke von den Bedingungen fester Gottesfurcht zu den Bedingungen, um in die höchsten Staatsämter aufzusteigen. Der Satz lässt sich aber m. E. als Bedingungsliste »fester Gottesfurcht« retten, wenn man die Nutzbarmachung für die sittliche Erziehung und Gesetzgebung im Sinne eines sich Unterwerfens unter diese gesetzlichen Bestimmungen versteht und bedenkt, dass »feste Gottesfurcht« aus Sicht der Nomoi ein Ziel ist, dass die höchsten Ansprüche stellt, so dass es kein Widerspruch ist, wenn die Bedingungen fester Gottesfurcht zugleich die Bedingungen darstellen, um in die höchsten Staatsämter aufzusteigen. 49

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ton logon)« (967e–968a). Damit sind die Bildungsanforderungen an die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung komplett und indem er sich ausdrücklich sowohl an Kleinias als auch an Megillos wendet, formuliert der Athener das letzte Gesetz des Nomoi-Gesprächs, »dass als Hüterin zur Erhaltung des Staates nach dem Gesetz die nächtliche Versammlung der Beamten eingesetzt werden soll, sobald sie der gesamten Bildung (paideias) teilhaftig geworden ist, die wir eben durchgegangen sind« (968a–b). Die Liste der Bedingungen für die »feste Gottesfurcht«, die die Bildungsanforderungen an die Mitglieder der Nächtlichen Versammlung zusammenfasst, lässt den Eindruck einer Schwerpunktverschiebung im Verhältnis von Dialektik und Theologie entstehen. War die Theologie zunächst notwendiger Zusatz für die um die Erfassung der Tugend bemühte Dialektik, so erscheint nun die Dialektik als letzter notwendiger Zusatz für die in den musisch-liturgischen Vollzügen fundierte Theologie. Diese letzte Schwerpunktsetzung entspricht der Gesamtaussage der Nomoi besser, aber bei dem Streit um die Frage der Priorität zwischen Dialektik und Theologie 51 sollte man nicht vergessen, dass sich trotz dieser Schwerpunktverschiebung an der grundlegenden Aussage, dass Dialektik und Theologie gegenseitig aufeinander angewiesen sind, nichts geändert hat. Die Notwendigkeit einer gegenseitigen Kooperation von Dialektik und musischer Theologie lässt sich gerade an der Formel aufweisen, die anfänglich die alleinige Aufgabenstellung der Dialektik anzugeben schien: Zusammenschau hin auf das Eine. Wie die Formulierung der so wichtigen Stützbedingung zeigt, rechnet Platon damit, dass es die Möglichkeit einer Zusammenschau »gemäß der Muse« gibt, womit er über die orthodoxen und in der reinen Intelligibilität angesiedelten Vorstellungen von Dialektik hinausgeht. Die Fähigkeit zur Zusammenschau ist daher nicht nur eine Angelegenheit des begrifflichen Vermögens. Vielmehr können hier Begriff, Sinnlichkeit und Spiritualität derart miteinander interferieren, dass es zu neuartigen Synthesen kommt. Es ist neben dem Begriff allgemein gesagt die Dimension der Inspiration, die hier noch hinzu kommt. Der Schlussabschnitt des Nomoi-Gesprächs und insbesondere die zusammenfassende Beschreibung der »genaueren Erziehung« der Mitglieder der Nächtlichen Versammlung bestätigt somit unsere von An51

Vgl. Schöpsdau 2011, 582.

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fang an gehegte Vermutung, dass sich in den Nomoi ein im Vergleich zur Politeia verändertes Verständnis von Rationalität ausspricht. Dafür zeugt die hohe Stellung der Theologie, noch mehr allerdings die Tatsache, dass die musisch-religiöse Paideia integraler Bestandteil der EliteBildung im Nomoi-Staat ist. Platon setzt zur vernünftigen Weltorientierung nicht allein mehr auf Intelligibilität, sondern auch auf die Erfahrung konkreter Realität, sei es bei der Betrachtung des sichtbaren Sternenhimmels, sei es beim leibhaftigen Singen und Tanzen im Chorreigen. Es ist die ganze Seele und d. h. eben auch der ganze Leib, die er nun in das Unternehmen einer vernünftigen Weltausrichtung mit einbezieht. Erst von diesem Gesamtpaket einer Intellektualität, Emotionalität und Spiritualität gleichermaßen berücksichtigenden Rationalität erhofft er sich im Verein mit einer objektiven Gesetzgebung die stabile Orientierung an der einen Tugend, die angesichts der Schwäche des Menschen immer gefährdet ist. Wir hatten gesehen, dass im Schlussabschnitt der Nomoi die Lösung der Frage nach der einen Tugend mit der Beschäftigung mit den Göttern verbunden wird. Das hatte Mayhew so erklärt, dass die Beschäftigung mit den Göttern eine indirekte Weise ist, sich mit der Vernunft, die die Tugend anführt, zu beschäftigen. Platon geht es aber nicht nur um eine Beschäftigung mit den Göttern, sondern auch – insofern sie Vernünftigkeit verkörpern – um eine Orientierung an den Göttern. Die Götter sind, vornehmlich in der liturgischen Situation, Helfer, die die Tugendausrichtung erneuern. Der Orientierung an der einen Tugend korrespondiert daher in den Nomoi die Orientierung an den Göttern und schließlich die Orientierung an dem einen Vernunft-Gott, für dessen Personalität wir eingetreten waren. Dieser von Platon perspektivisch in Aussicht genommene Vernunft-Gott müsste im Sinne der Darlegungen von Kapitel 2 auch ein Friedens-Gott sein. Der Beginn der Rede an die Siedler weist ihn zudem ganz klar als Besonnenheits-Gott aus. In welcher Beziehung dieser die Nomoi beherrschende VernunftGott zur Idee des Guten steht, bleibt offen. Als reales, personales und konkret helfendes Wesen kann er allerdings nicht mit ihr identifiziert werden 52. Im Gegensatz dazu ermöglicht die letztlich apersonale Interpretation des NomoiGottes als Vernunft durch Bordt eine gewisse Identifizierbarkeit der Idee des Guten mit dem Nomoi-Gott, vgl. Bordt 2006, 19 f. und 238 ff.

52

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Der in den Nomoi entwickelte Rationalitätsbegriff, den man probeweise den Begriff einer liturgischen Rationalität nennen könnte, wird in hervorragender Weise durch die Figur des Atheners verkörpert. Bei den Überlegungen der Interpreten zu den drei Gesprächsteilnehmern der Nomoi geht es fast ausschließlich um die intellektuelle Überlegenheit des Atheners und die Frage, inwieweit Kleinias und Megillos in der Lage sind, dem Athener intellektuell zu folgen. Dabei wird das durch Platons Einrichtung des Dialoges zuvor schon gegebene Faktum übersprungen, dass der Athener es ist, der seinen beiden Gefährten folgt, und zwar auf dem Pilgerweg, der zur Grotte des Zeus führt. Durch sein konkretes und leibhaftiges Mitgehen im Rahmen dieser außerordentlichen liturgischen Handlung bezeugt der Athener zusätzlich jenen über die reine Intellektualität hinausgehenden Rationalitätsbegriff, der sich aus seinen Äußerungen entnehmen lässt. Seine herausragende Intellektualität glaubt sich der liturgischen Handlungen nicht überhoben zu sein. Im Gegenteil macht er die liturgische Situation und die in ihr in besonderer Weise zum Zuge kommende göttliche Hilfe für entscheidende erkenntnismäßige Durchbrüche im Gespräch mitverantwortlich 53. Indem Platon dies so eingerichtet hat, verdeutlicht er noch mehr, dass er es mit dem Konzept einer leibhaftigen liturgischen Rationalität ernst meint und dass dieses Konzept ausnahmslos für alle gilt und nicht lediglich auf die »religiösen Bedürfnisse« des »Durchschnittsmenschen« abgestimmt ist 54. Es ist der Athener, der sich in der Aufbruchsstimmung, die die allerletzten Seiten der Nomoi durchzieht, bereitwillig als »Helfer« (968b) bei der Einsetzung der Nächtlichen Versammlung anbietet. Im Hinblick auf seine große und reichhaltige Forschungserfahrung ist er bereit, das hohe Risiko, das das Unternehmen der Staatsgründung darstellt, mitzugehen und sich jedenfalls in den grundsätzlichen Fragen der Bildung und Erziehung persönlich zu engagieren 55. So wird auch er am Ende ganz offensichtlich von der stillen existenziellen Dynamik des Gesprächs erfasst, von der bereits in Kapitel 3 in Bezug auf Kleinias die Rede war. Neben seiner Person deutet er an, dass er vielleicht noch »andere« (968b) finden wird, die bei der Aufgabe der Einsetzung der 53 54 55

Vgl. 722c, 893b, 712b, 811c, vgl. auch 968b. Vgl. Görgemanns 1960, 227. Vgl. 968b und 968e f.

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Nächtlichen Versammlung mithelfen. Man hat diese Äußerungen auf Platon und seine Akademie bezogen, die Morrow bekanntlich als Hintergrund für die Institution der Nächtlichen Versammlung vermutet hat 56. Das scheint mir richtig. Denn einmal mache auch ich die bereits in der Antike vertretene Annahme der Gleichsetzung des Atheners mit Platon 57 und, ohne es ausdrücklich zu sagen, lag diese Annahme der bisherigen Untersuchung zugrunde. Zum anderen wird die Art, mit der das »Ur-Kollegium« die Einsetzung der Nächtlichen Versammlung und damit die Gründung des Nomoi-Staates auf den Weg bringen soll, als »Belehrung mit langem Zusammensein« (didachê meta synousias pollês) (968c) beschrieben, was frappierend an eine Äußerung aus dem VII. Brief (vgl. 341c–d) erinnert, mit der sehr wahrscheinlich die Hochform des Zusammenseins in der Akademie charakterisiert wird. Gemäß der Rekonstruktion von Schöpsdau 58 werden in diesem »Ur-Kollegium« die geeigneten jüngeren Kandidaten vom Athener und seinen Helfern so lange geschult, bis sie selbst das Wissen erlangt haben, das sie befähigt, als die Alten des ersten ordentlichen Kollegiums ihrerseits geeignete Jüngere auszubilden, bis also »plötzlich« der »Funke« übergesprungen ist (vgl. VII. Brief 341d), was niemals nach genauem Zeitplan herstellbar ist (vgl. 968d f.). Es sind intellektuelle und geistliche Züge, in jedem Fall aber inspirierte Züge, die diese »göttliche Versammlung« (969b) tragen muss, um ihre Aufgabe, den Staat zu erhalten, erfüllen zu können. Mit der an die Sokratesfigur erinnernden Aufforderung des Megillos an Kleinias, den Gastfreund nicht »loszulassen«, sondern ihn mit allen Mitteln zum Mitarbeiter für die geplante Staatsgründung zu machen, die von Kleinias uneingeschränkt begrüßt wird, endet das Gespräch (969c f.). Platon lässt dem Ältesten, Megillos, dabei das letzte Wort und stellt damit die Balance für ein echtes Dreier-Gespräch endgültig her. Im letzten Wort (syllêpsomai) klingt das Motiv der Hilfe, das angesichts des grundlegenden Sachverhalts der menschlichen Schwäche ein untergründiges Leitmotiv der Nomoi war, noch einmal an. Den Schlüssel für die Lösung dieses Motivs hatte Platon bereits im ersten Wort der Nomoi benannt.

56 57 58

Vgl. Guthrie 1978, 373 und Morrow 1960, 509 f. Vgl. Schöpsdau 1994, 106. Vgl. Schöpsdau 2011, 584 f.

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Abschluss: Platons Nachlass

Unser Durchgang durch Platons Nomoi hat einen Wandel im Rationalitätsverständnis bei Platon offen gelegt, der sich im Hintergrund der Veränderungen der politischen Theorie Platons, die dieses Werk auch dokumentiert und die vorrangig die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich ziehen, vollzieht. Dass man auf diesen Wandel bisher so wenig Acht gegeben hat, liegt sicherlich auch an diesem Werk selbst, dessen exorbitanter Umfang und kaum überschaubare Komposition jedem Versuch, es philosophisch zusammenzufassen, entgegenstehen. Als besonderes Hindernis bei diesem Versuch erweist sich die Sperrigkeit der ersten beiden Bücher der Nomoi. Viele Interpreten hatten Mühe damit, das, was dort zur Sprache kommt, überhaupt genügend ernst zu nehmen, so dass an eine kontinuierlich fortschreitende Erarbeitung einer philosophischen Botschaft der Nomoi nicht zu denken war. Wir haben in unserer Untersuchung gesehen, dass gerade das II. Buch mit seinen Bestimmungen zu den Dionysoschören eine Schlüsselstellung für das Verständnis des Gesamtwerks einnimmt, indem sich hier ein im Vergleich zur Politeia veränderter Begriff von Erziehung zeigt. Die Wahrnehmung der philosophischen Tragweite der ersten beiden Bücher der Nomoi wird auch dadurch behindert, dass man ein erst mit Aristoteles beginnendes post-platonisches Denken auf Platon anwendet. So werden die Bestimmungen zur Chorerziehung und zu den Götterfesten als Maßnahmen zur pädagogisch-moralischen Erziehung gewertet und so gleichsam auf die ethische Seite gebracht und damit in ihrer Valenz und Relevanz für eine Gesamtorientierung gegenüber der Wirklichkeit letztlich neutralisiert. Platon, für den die aristotelische Grundunterscheidung der Philosophie in theoretische und praktische Philosophie auch in seinem letzten Werk noch nicht gilt, reagiert mit diesen Bestimmungen dagegen auf eine von ihm angenommene, Theorie und Praxis gleichermaßen betreffende, prinzipielle menschliche Schwäche, die dadurch behoben werden soll. Der Befund dieser durch208 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Abschluss · Platons Nachlass

gehenden und ausnahmslos für alle Menschen geltenden Schwäche macht eine Modifikation der Konzeption von menschlicher Rationalität nötig. Das Konzept einer »starken«, rein auf das Intellektuelle setzenden Rationalität wird abgelöst durch das Konzept einer »schwachen« Rationalität, in der neben dem Begriff auch noch das Gefühl und die Götter bzw. Gott eine zur vernünftigen Erfassung der Vollrealität unverzichtbare Rolle spielen. Trotz seiner ungebrochenen Hochschätzung des Begriffs wird durch die Nomoi klar, dass Platon auch die Grenzen des Begriffs gesehen hat und den Schritt zur Verabsolutierung des Begriffs letzten Endes nicht gegangen ist. Daher sind die Nomoi auch von entscheidender Wichtigkeit für die Einschätzung der Bedeutung der so genannten Ungeschriebenen Lehre Platons, deren Existenz aufgrund des aristotelischen Zeugnisses nicht bestritten werden kann 1. Was immer die Prinzipien des Einen und der unbestimmten Zweiheit zwischenzeitlich für Platon gewesen sein mögen, – als letztes Wort zur Deutung der Gesamtwirklichkeit haben sie sich bei ihm nicht durchgesetzt. Vielmehr hat unsere Untersuchung wahrscheinlich gemacht, dass die letzte Perspektive des platonischen Denkens in der ganzheitlichen Orientierung an einem namentlich nicht bekannten personalen Vernunft- und Friedensgott bestanden hat. Das in den Nomoi zum Vorschein kommende Konzept einer musischen Rationalität mit den Göttern bzw. Gott ist dann weder von Aristoteles noch von der Alten Akademie noch vom Neuplatonismus fortgeführt worden. Freilich haben Bruchstücke dieses Konzepts fortgewirkt. So hat Aristoteles in der Nachfolge Platons ein gewisses Bewusstsein für die Bedeutung der Emotionen und Affekte für die Welterschließung entwickelt und bekanntlich ist Heidegger durch das Studium des II. Buches der aristotelischen Rhetorik zu seiner These von der entscheidenden Mitbedeutung der Stimmungen für die menschliche Welterschließung wesentlich mit angeregt worden. Beim klassischen Philologen Nietzsche scheint es nicht allzu gewagt, seine Einsicht in die Bedeutung der Affekte als ein Ergebnis der direkten Auseinandersetzung mit den Nomoi zu rekonstruieren. Diese Teilbotschaft der Nomoi, die in der Rehabilitierung der Affekte 2 und der Neuanerkennung der leiblich-sinnlichen Dimension des menschlichen 1 2

Vgl. Aristoteles Met. A 6. Vgl. Wieland 1990, XXI.

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Abschluss · Platons Nachlass

Lebens besteht, ist heute aktueller denn je, da der wissenschaftliche und technologische Fortschritt noch nie da gewesene Möglichkeiten für eine Überintellektualisierung der menschlichen Lebensführung liefert. Die Gefahr einer Überintellektualisierung der menschlichen Lebensführung, die zu seiner Zeit noch sehr viel weniger bestand, hat Platon bereits in den Nomoi antizipiert. Freilich reicht seiner Meinung nach das Zusammenspiel von Begriff und Gefühl allein nicht aus, um die menschliche Vernunftschwäche dauerhaft zu korrigieren. Neben dem positiven Gesetz muss noch der vornehmlich in der liturgischen Situation erfahrene »Korrekturfaktor« Gott hinzukommen, um eine auf der Vernunft basierende und nicht in die Irre gehende Lebensführung dauerhaft zu garantieren.

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Literaturverzeichnis

A. Platon- und Aristotelesausgaben Die griechische Platonausgabe, die wir hier zugrunde legen, ist die in der Collection Budé – Les Belles Lettres erschienene: Platon, Œuvres complètes, Texte établi et traduit par E. Chambry (et al.), Paris 1920–1956, 13 Bde. (Coll. Budé) (z. T. jetzt in neuen Bearbeitungen). Dieser Text liegt auch der zweisprachigen Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft zugrunde, nach der wir – wenn nicht anders gesagt – den Platontext ins Deutsche übersetzen: Platon Werke in 8 Bänden griechisch und deutsch, hrsg. von G. Eigler, Darmstadt 1977. Die Textausgaben der jeweiligen Dialoge wurden bearbeitet von: Nomoi DesPlaces, E.: Platon Œuvres complètes, Tome XI, Vol I (Lg. I u. II) u. Vol II (Lg. III–VI), Paris 1951. Diès, A.: Platon Œuvres complètes, Tome XII, Vol I (Lg. VII–X) u. Vol II (Lg. XI–XII), Paris 1956. Politeia Chambry, E.: Platon Œuvres complètes, Tome VI (Paris 1959), Tome VII, Vol I u. II, Paris 1961. Politikos Diès, A.: Platon Œuvres complètes, Tome IX, Vol I, Paris 1960.

211 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Literaturverzeichnis

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Stellenverzeichnis

Kursive Seitenangaben beziehen sich auf die Fußnoten I. Loci Aristotelici De Anima 411a7 175

II. Loci Platonici Apologie 26d 156

Metaphysik 981a2–30 981b20–25 987b1–10 987b6 f. 987b14 ff. 1074b34–35

Briefe VII. 341c–d 341d

207 207

Gorgias 482c–486d

32

Kratylos 400d 400d–e

176 159

Menexenos 238d

53

Menon 75d 82b–85b

47 73

Nomoi 624a 624a–b 625a 625a ff. 625a–633a 625b 625b–c 625c 625d–e

30, 134 135 24 30 30 28 31 31 31

18 21 193 116 109 193

Nikomachische Ethik 1095a32–b1 114 1104b11–13 86 1146b7 f. 12 Politik 1263b7–9 1264b26 f. 1264b26–28 1265a1–4 1265a4–10 1265a7 1265b28 1266a5–b25 1266b5 1271b1 1281a42–b7 1289a13 ff.

69 22 68 68 69 70 53 69 68 68 67 51

219 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Stellenverzeichnis 625e–626a 626b 626b–628a 626c 626d 626d–e 627a 627b 627c 627d 627d–e 627e–628a 628a 628b 628c 628d4 628d–e 628e 628e–629a 629a 629a–b 629b 629c 629d 629d–e 629e–630a 630a 630a–b 630b 630b–c 630c 630d 630d–e 630e 631a 631a–b 631b 631b–632b 631c 631d 631d–e 631e–632a 631e3–632b1 632a7 632a–b 632b

32 32 f. 23 33 33 34 34 35 35 35 35 35 35 36 36 36 37, 148 37 26 38 38 39 39 39 40 40 40 40 40 41 41 41 42 192 42 42 43, 57 42 44, 178, 192 44 45 45, 80 46 46 46 46

632c 632d 632d–e 632d–633a 633a 633a–d 633a–635e 633b–c 633c ff. 633c–635e 633d 633e 634a 634a–b 634b 634b–c 634c–d 634e 635a 635b–e 635c–d 636a–639d 636d–e 636e–637b 637a 637b 637d 638a 638b 638e 639a–d 639a–640d 639b 639c 639d–e 640b 640b–c 640d 641b–c 641c 641c–d 641d 642a 642b–d 642b–643a 643a

46, 187 47, 135 47 79 47 47 79 80 48 81 79 80 80 80 80 47, 81 81 81 81 81 82 47 82 82 82 83, 122 83 33 83 83 83 23 95 83 83 84 83 83, 133 78 37, 78, 149 79 24, 84 84 47 27, 84 85

220 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Stellenverzeichnis 643b–d 643b–644a 643b–644b 643c f. 643e 644b f. 644c 644c–d 644c–645c 644d 644d–645c 644e 645a 645b 645c 645d–e 646a 646e 647a 647b 647c–d 647d 649a–b 649d–650b 653a 653b 653a–c 653c–d 653d f. 653e 653e–654a 654a–b 654b 654b–655b 656c 656c–657c 657b 657c 658a ff. 658c 659c–d 659d 659e 660d–664c

86 79 85 124 79, 124 127 127 f. 128 92, 127 47, 57, 128, 130, 134, 179 130 130, 140, 142 131, 139 127, 137, 139, 142, 145 132, 133 92 93, 145 93 93 80, 93 79 93 93 93 85 126 85, 126, 159 87, 177 87 138 87 88 87 89 90 97 97 90 144 144 85 89 89, 90 89

664c–d 664d 665b 665c 665d 665d–e 666a 666a–c 666b–c 666c3 667a 667b–668c 670b 670c–d 670e 670e–671a 671a 671b 671b–c 671c–d 671c–e 671e 671e–672a 672d 672e 672e–673d 673d 673d–e 673e 674c 676a 682e 682e ff. 682e–687e 683c 685a 685a–b 685a–686b 686b–688e 687e 688a–b 688b 688c 688d 688e 689a

89 89, 94 90 90 89, 91 91 89 91 91 92 81 91 91 91 90, 194, 203 91 92 92 92 93, 133 93 94, 203 94 94 88 89 90 83 95 83, 95 122 122 122 122 30, 174 76, 150 150 122 23 122 123 123 123 123 123, 157 124

221 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Stellenverzeichnis 689b 689c–d 689d 691c–d 691d 691d–692a 691d–693d 693d 696b–e 700b 701d 702b 702b–c 702b–d 702c 702d 702e 704a–712b 708e ff. 709a–b 709b–c 710a 710a–b 710b–c 710d–e 711a–c 712b 712b–c 712b–715d 712c 712d–e 712e 712e–713a 713a 713a3 713a–714b 713c 713d 713e 713e5 713e–714a 714a 715b 715c 715b–d 715e

124 124 123, 125 25, 53, 64 53 53 123 75 127 17 75 50 50 20, 81 81 13, 50 24 51 140 140 140 127 127 51 51 51 77, 166, 206 51 50, 53 52 52 52 52 54, 183 54 55 25, 55 55 55, 138 55 56 56 f. 52, 57 132 56 135

715e–716b 716b 716c 716c–d 716c–e 716c–718b 716d 716d–e 717a f. 718a–b 719e–720a 720a 720a–e 720c 721b 721b7 721b–d 722b 722c 722c ff. 722c6 722c–d 722c–e 722d–e 723a 723b 723c–d 723d–e 723e 729d–e 734e 735a 737d 737e 739a–e 739a–740a 739b–d 739c–d 739d 739e 744a–745b 751a 751a–b 751b–c 751c–d 752c

136 136, 138 137 136 137 28 137 139 146 16 16 152 17 18 72 72 72 16 141, 206 151 16 21 16 17 16 16 16 17 135 132 13, 17, 22, 51, 59 58, 195 37 69 69 24, 66 24 24 25 24 45, 69 58 58 59 59 59 f.

222 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Stellenverzeichnis 752d 752d–e 752d–755b 752e–753a 753a 753a–b 753b 753b–d 753c 753d 754a–c 754c–d 754d–755b 755a–b 755d 756e–757a 757c–d 758a 761e 765d–766c 765e 765e–766a 766a 766b–c 766d–768e 767c–e 767e 768b–c 768c 769a 771d 772d 772d ff. 772d–774c 774a–c 774b 775b 776b–778a 777b 777e–778a 785a 788a–c 789a–e 793d–794c 794a 795d–804c

59 59 46 59 60 59 32, 60 60 60 61 59 60 61 61 61 53 45 37 64 62 62 62 62 f. 63 64 64 64 64 13 76, 150 145 72 45 72 72 64 17 73 73 73 65 46 96 86 97 96

796e f. 797a 797a–c 798c 798d–e 799a–b 799b 799c–800b 799e 800e–801a 803b 803c 803d 803d–804b 803e 804b 804d–e 806a–b 809a–e 809c 809c–d 809d 811b–812a 811c 811c–d 811c–812a 812b–c 812b–e 812b–817e 813e–814b 816d–817d 817e 817e ff. 817e–822d 818a 818b 818b–c 818c 819a 820e–822d 821a 821b 821c–d 821d 821e–822c 822a–c

97 97 97 97 97 97, 98 98, 99 98 17, 98 99 147 134, 148, 179 37, 148 f. 37 148 f. 149 f., 183 86 32 99 99 99 99 11 141, 206 151 76 198 96 96 37 73 96 99 96 96, 100, 194 100 100 100 100, 202 172 182 158 176 99 99 176

223 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Stellenverzeichnis 822d–824a 822e 822e–823a 828a–d 828b 828b–c 828c–d 828d 828d–832d 829a 829b 830c 830d–831b 832b–c 832d ff. 832e 835e 842b–850c 853c 854e–855a 855c–d 857b–864e 857c–e 857e 858b 858b–c 859c 863b 865a–874d 866b–c 868d f. 870a–871a 871b 871d f. 874e–875d 875c–d 879b–880a 881e 884a 885b 885b4 885b–891b 885b–907d 885c 885c–e 885d

96 132 46 145 145 146 146 145, 146 32 146 146, 147 147 147 52, 57 147 147 139, 141 65 58 74 64 15 19 20, 77, 86 20 21 21 129 13 132 132 28 132 131 25 35 28 64 152 152 f. 172 163 27 153 154 153, 154, 172

885e 886a 886a–b 886b 886b–d 886d 886d–e 886e–887c 887a 887a3 887b 887c 887c1–2 887d 887d–e 887e 888a 888a–d 888b 888b–c 888c 888d 888d–889c 888d–890a 888e 889a 889b 889b–c 889c 889c–e 889d 889e 889e–890a 890a 890b f. 890d 890e f. 890e–891a 891a 891b 891b ff. 891c 891d–e 891e 892a 892b

172 153 f., 156 155, 156 155, 157 155 155, 172, 174 156 158 156, 172 158 153, 158, 172 158, 166 158 158 158 f. 154, 158, 159 156, 159 f., 172 154, 159 160, 198 153, 160 153 158, 160 160 160 161 161 156, 161 161 161 160 f., 162 162 162 157, 160, 162 162 162 54, 163, 172 163 76 163 153, 163, 172 164 164 164 164 164 f. 165, 178

224 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Stellenverzeichnis 892c 892d 892d–893a 893a 893b 893b–894b 893c–d 894b 894b–c 894c 894d 894e–895a 895a 895a5 f. 895a–b 895b 895c 895c–896a 896a 896a–b 896c 896d 896e 896e ff. 897a 897b 897c 897c1 897d 897e 897e–898b 898a 898a–b 898c 898d ff. 898d–899a 899a 899b 899b6–7 899c 899d–905d 900b 900d 900d–e 901a–b 901c–d

165 26 165 165 166, 206 166 f. 171 167 167 167 167 167 167 168 168 168 168 168 169, 200 169 169 169, 178 169 f. 170 178 54, 170, 177 f., 182 171, 178 168 171 171 171 171 171 172, 178, 191 173 173 173 173, 175, 178 173 200 177 153, 178 178 178 178 180

901d–e 902b 902c 902e 902e–903a 903b 903b ff. 903b–905d 903d 904a 904b 905c 905d 905d–907b 906a 906a–b 907a 907b 907d–e 907e 908a 908a–909d 908b 908b–e 908c 908e 908e–909d 909a 913d–914a 922a 922a–926d 923a–b 930e–931a 931e ff. 931e–960c 934c 935b f. 937c 938b 938c 942a 942a–d 945a 945b 945b–948b 945c

178 179 179 179 179 179, 180 180 179 179 179 f. 180 180 153, 166 180 180 181 153, 181 153 131 132 189, 202 160 157 202 153, 157 157 74 157, 185, 190, 202 131 74 13 73 177 184 63 13 131 75, 131 f. 64 75 75 32, 74 63 64 63 64

225 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Stellenverzeichnis 945e 945e ff. 945e–946d 946a 946c 946d 946e–947e 947a–b 947e 947e–948b 948a 949c–d 950d 951a ff. 951c 951c–d 951d 951d–952b 951e 951e–952a 952a 952b 952c 952c–d 955b 958c ff. 958c–960b 960b 960c–d 960d 960e 961a–c 961b 961b3 961c 961d 961e 962a f. 962b 962c 962d 962e 963a 963a–966b 963b 963b–c

64 f. 176 64 63 64 64 63 65 25 64 64 145 186 186 63, 184, 186 186 185–187, 189 23, 185 f. 185, 188 186 188 186, 188 187 187 75 45 184 184 184 184 185 23, 185 189 187 185, 190 188, 190 f. 191 191 191 188 f., 191 191 192 192 23 193 193

963c 963c–d 963c–964a 963e 964a 964b 964b–e 964c 964d 964d ff. 964d–965a 964e–965a 965a 965b 965b–c 965b–966b 965c 965d 965d f. 965e 966a ff. 966a 966b 966c 966c–d 966d 966d ff. 966d–e 966e 967a 967a–d 967b 967c 967d 967d–e 967d–968a 967e 967e–968a 968a 968a1–4 968a–b 968b 968c 968d 968d f. 968e f.

193 194 193 193 194 194 188 194 188, 194 188 188 188 188, 195 91, 194 f., 203 188 23 23, 190, 195 f. 195 f. 196 196 f. 196 197 188, 197 174, 197 f. 175 198 198 199 201 198–200 199 199 19, 200 198, 201 199 201 201 204 185, 188 203 204 206 207 188 207 206

226 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Stellenverzeichnis 969b 969c 969c f. 969c–d

188, 190, 191, 207 188 207 26, 30, 38, 47

Phaidon 100a ff.

111

Phaidros 245c–246a 274b–278b

168 163

Politeia 327a 336b ff. 376e–412b 377b ff. 424b–d 425a–427a 430e 439d 442c–d 449b 461e–462e 473c–d 475e–476d 503d 503e 507a 507b 507b–c 509d 509d–511e 509e 510a 510b 510c 510c–d 510c–511a 510d 510d–511a 510e 511a 511b 511b f. 511b–c

134 32 104 73 104 50 127 121, 124 127 38 24 56 102 91 103 102 102 102 108 107 108 108, 109 109, 110, 115 111 110 111 109, 112 112 109 109, 112, 115 114 113 114

511d 511e 514a ff. 515c 516e 520c 521b 521c 521c–531c 521d 521e 522a 522b 522c 522c–e 522e 523a 523a–b 523c ff. 523e 524c 524d 524d ff. 524e 525a 525b 525b f. 525d 525d–e 526a 526c–527c 526d 526e 527a–b 527b 527c–d 527d–e 527d–528e 528e–530c 529a 529a–c 529b 529c–d 529d 530b–c

115 108, 109, 112, 113, 120 128 195 134 134 195 103 103 103 104 104 104, 105 105 103 105 105, 143 105 106 106 106 105 106 106 106 106 103 106 106 106 107 103 107 107 107 103 117 116 116 116 116 116 116 116 117

227 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Stellenverzeichnis 530c–531c 530d 531a 531c 531c–d 531d 531e 532a 532b–c 533b–c 533c 533c–d 533d 533e–534a 534a 534b 534b–c 534d 536d 537c 540a–b 596a–597e 603d ff. 607b–608b

117 118 118 118 118 118 118 119 104 119 119 f. 119 119 120 120 119 119 119 103 121, 201 61 102 143 73

Politikos 291c–295e

67

294a 294a–c 294d–295b 295b–295e 297b–301e 300b 300c 301d–e

67 67 67 67 67 67 67 67

Protagoras 338e ff.

38

Symposion 207a–208e

72

Theaitetos 152a 172c–d

137 21

Timaios 29a 34a–b 34a–37c 40d 40d–e 41a

165 173 180 174 159 177

228 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Namenverzeichnis

Kursive Seitenangaben beziehen sich auf die Fußnoten Anaxagoras 156, 168, 199 Annas 15, 103, 107, 109, 117 Anselm 166 Ast 9, 12 Baltes 183 Belfiore 124, 133 Bobonich 9, 10 f., 15, 17, 23, 66, 70, 71, 76, 130 Boeckh 9 Bordt 10, 135, 137, 153, 155, 160, 161, 167–170, 176, 178, 181, 182, 192, 199, 205 Brisson 10, 155 Bröcker 9 Burkert 13, 159, 176 Cherniss 201 Cleary 166, 178 Cross 109

Gernet 15 Gigon 30, 36 Glockner 28, 73 Görgemanns 9, 10, 11 f., 17, 26, 29, 55, 77, 80, 131, 156, 158, 164, 166, 170, 174, 179, 193, 195, 203, 206 Goethe 47 Guthrie 187, 207 Hegel 28, 68, 73 Heidegger 209 Hentschke 54 Herakleides Pontikos 99 Hesiod 155 Hobbes 34 Horn 10, 66 Jaeger 49, 70, 91, 149 Jouët-Pastré 86, 129, 131, 144 Kenklies 9, 10, 26, 30, 43, 49, 88, 93, 94, 96, 151, 177 Kepler 171 Knoll 65, 73

Dirlmeier 40, 68 Dodds 159 Eichler 102 Empedokles 168 England 10, 14, 70 Erler 128 Eudoxos 99 Frede, D. 129, 130, 134, 142 Friedländer 70

Laks 9, 13, 15, 20, 21, 22, 23, 25, 28, 50, 51, 53, 54, 56, 57 f., 63, 66, 67, 71, 88 Larivée 203 Lee 10 Lisi 85 Lykurg 135

229 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

Namenverzeichnis Mayhew 10, 152, 153, 155, 156, 159, 160, 162, 167–170, 172 f., 174–176, 178-183, 180, 196, 197, 200, 202, 205 Menn 182 Minos 135 Mittelstraß 107, 110, 111, 116, 117 Montesquieu 65 Morrow 10, 14, 19, 28, 49, 53, 57, 58, 66, 69, 70, 76, 174, 176, 177, 185, 189, 190, 207 Müller, G. 9, 10, 11, 12, 19, 29, 55, 56, 86, 88, 102, 117 Müller, H. 13, 85 Müller, J. 129, 134 Muth 156 Nietzsche 68, 209 Nightingale 9, 11, 32, 47, 70 O’ Meara 146 Ostwald 11 Parmenides 103 Parmenter 203 Perikles 33 Perkhams 188 f. Philipp v. Opus 29 Picht 9, 11, 123, 125, 128, 129 Popper 73 Reverdin 28 Ricken 10, 49, 66, 67 Ritter 203 Ruschenbusch 13 f., 14 f., 19 Russell 111 Saunders 9, 69 Schleiermacher 9, 13 Schöpsdau 9, 10, 11, 13, 16 f., 21-24, 29-31, 36 f., 39–46, 49–51, 53–62,

64–66, 72, 74–76, 78, 80–89, 92 f., 95–97, 99, 122–124, 127–132, 134, 136, 142–145, 148 f., 151–154, 156158, 160 f., 163, 166 f., 170–173, 176, 178, 180 f., 185, 187, 192, 194, 196– 199, 201 f., 204, 207 Schofield 104 Schütrumpf 51, 69, 70 Schwarz 68 Scolnikov 10 Sharafat 25, 88, 101, 131, 138 Sier 104 Simonides 38 Solon 70 Stalley 9, 11, 21, 28, 34, 66, 71, 72, 127, 137, 166, 168, 169, 176, 178, 195, 196, 200 Steiner 167, 170 Stemmer 111, 114, 119 Szaif 106, 111, 114 Tejera 9 Thales 175 Theognis 40 f. Thomas v. Aquin 168, 172 Tyrtaios 38 f. Varvaro 187 v. d. Waerden 99 Whitehead 111 Wieland 9, 19, 47, 102, 107, 108, 110– 112, 141, 209 Wilamowitz-Moellendorff 10, 28, 29, 37, 47, 55, 59, 145, 159 Wittgenstein 88 Woozley 109 Zehnpfennig 10 Zeller 9, 12, 23, 28, 68

230 https://doi.org/10.5771/9783495808092 .

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