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German Pages 213 [216] Year 1993
BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE PHILOLOGIE BEGRÜNDET VON GUSTAV GRÖBER FORTGEFÜHRT VON WALTHER VON WARTBURG UND KURT BALDINGER HERAUSGEGEBEN VON MAX PFISTER
Band 244
RICHARD BATZ
Französische Fernsehnachrichten als kultureller Text
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1992
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Balz, Richard: Französische Fernsehnachrichten als kultureller Text / Richard B atz. - Tübingen: Niemeyer, 1992 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie ; Bd. 244) NE: Zeitschrift für Romanische Philologie / Beihefte ISBN 3-484-52244-5
ISSN 0084-5396
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Inhalt
I.
Einleitung
1. 2. 3. 4.
Zielvorsteüungen der Arbeit Zum methodischen Vorgehen Das Untersuchungsmaterial Aufbau der Arbeit
l 4 5 7
II. Fernsehnachrichten als Element des televisuellen Informationsraumes 1. 2.
3. 4. 5.
Vorbemerkungen 9 Französische und deutsche Fernsehnachrichten: Antenne 2 und TF1, Heute und die Tagesschau 11 2.1. Die Nachrichten von Antenne 2 undTF1 11 2.2. Heute und die Tagesschau 17 2.3. Französische und deutsche Nachrichtenforschung 20 2.4. Medienhistorische und medienpolitische Aspekte 24 2.5. Das journalistische Selbstbild 27 Andere Informationssendungen 30 Medienbewußtsein und Innovation 37 Synthese 41
III. Formalgestalterische Aspekte 1. 2.
Vorbemerkungen 45 Die Nachrichten von TF1 und Antenne 2 (1984 und 1988) 45 2.1. Allgemeine Merkmale 45 2.2. DerProsentateur 48 2.2.1. DerProsentateurals'ononciateur' 48 2.2.2. Der Presentateur als'm£ta-6nonciateur' 50 2.2.3. Der Prosentateur als Star 56 2.2.4. Prosentateur und Nachrichtensprecher im Rezipientenurteil: Ergebnisse einer Umfrage 61 2.2.4.1. Design 61 2.2.4.2. Ergebnisse 62
3. 4.
2.2.4.3. Interpretation 2.3. Die Sendungslogos 2.3.1. TF11984 2.3.2. Antenne21984 2.3.3. TF11988 2.3.4. Antenne21988 2.4. Der Vorspann 2.4.1. Allgemeine Funktionsbestimmung 2.4.2. TF11984 2.4.3. Antenne21984 2.4.4. TF11988 2.4.5. Antenne21988 2.5. Der Hauptteil 2.5.1. TF11984 2.5.2. Antenne21984 2.5.3. TF11988 2.5.4. Antenne21988 2.6. Der Sendungsabschluß 2.6.1. TF11984 2.6.2. Antenne21984 2.6.3. TF11988 2.6.4. Antenne21988 Heute und die Tagesschau Synthese 4.1. Vorbemerkungen 4.2. Sendungskontextualisierende Elemente 4.3. Ereignisrubrizierung 4.4. Filmizität,Narrativitätund'6nonciation',Ästhetizität 4.4.1. Filmizität 4.4.2. Narrativität und 'e"nonciation' 4.4.3. Ästhetizität
62 64 64 65 65 66 67 67 68 70 74 76 78 78 80 84 86 93 93 94 95 97 98 101 101 102 103 104 104 106 115
IV. Die Inhaltsdomäne 1.
Politics/non-politics, landes-/auslandsbezogene Information, InhaltskonvergenzAdivergenz 117 1.1. Vorbemerkungen 117 1.2. Die Nachrichten vonTF1 und Antenne 2 122 1.2.1. TF11984vs. Antenne21984 122 1.2.2. TF11988vs. Antenne21988 123 1.2.3. TF11984vj.TFl 1988 123 1.2.4. Antenne 21984 vs. Antenne 21988 124 1.2.5. Synthese 125 1.3. Heute vs. Tagesschau 126 VI
2.
1.4. Deutsche und französische Fernsehnachrichten (1988) 1.4.1. Heute 1988 vs. TF1 1988 1.4.2. Heute 1988 vs. Antenne 21988 1.4.3. Tagesschau 1988 vs. TF11988 1.4.4. Tagesschau 1988 vs. Antenne 21988 1.4.5. Synthese Die Ideologie des Nicht-Politischen 2.1. Vorbemerkungen 2.2. Sport 2.3. Verbrechen, Justiz 2.3.1. Bevor es kriminell wird 2.3.2. Napoleon als Drogenhändler 2.3.3. Jammervoll, schauderhaft und demagogisch 2.3.4. Drama in Zeitlupe: die Kamera als forensisches Instrument.. 2.3.5. Aus der Rezepteküche des Verbrechens 2.3.6. Synthese 2.4. Unfälle, Katastrophen 2.4.1. Vorbemerkungen 2.4.2. Ereignisorientierte Beiträge 2.4.3. Phänomenorientierte Beiträge 2.4.4. Synthese 2.5. Kultur, Wissenschaft, Gesellschaftsleben, Personalia 2.5.1. Vorbemerkungen 2.5.2. Personalia 2.5.3. Wissenschaft 2.5.3.1. Fallbeispiele 2.5.3.2. Kulturhistorische Hintergründe 2.5.4. Synthese
127 127 128 128 129 130 132 132 135 136 136 139 144 150 155 159 161 161 162 169 171 172 172 173 174 174 178 182
V. Die elektronische Wiedergeburt der Almanachkultur 1. 2. 3. 4. 5.
Kleine Historiographie französischer Almanache Traditionelle Almanache Revolutionäre Almanache Die Almanache des 19. Jahrhunderts Monsieur Almaniak rein kathodischer Zombie
183 184 186 189 189
VI. Synthese und Ausblick
193
Literatur .
195
VII
Vorwort
Die vorliegende Veröffentlichung geht aus langjähriger Auseinandersetzung mit dem Bereich des Verstehens fremdkultureller Medieninhalte hervor. Für viele freundschaftliche Anregungen danke ich Herrn Wolfgang Bufe vom Romanischen Seminar der Universität des Saarlandes, der in zahllosen Gesprächen meine Wahrnehmungsfähigkeit für interkulturelle Phänomenbereiche schärfte. In gleichem Maße gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Jürgen Trabant von der Freien Universität Berlin für seine geduldige und kritische Förderung. Ich konnte in ihm all das finden, was an positiven Konotationen mit der Bezeichnung Doktorvater zu verbinden ist: Anregung, ermutigenden Zuspruch und ein nicht nur für Fachprobleme offenes Ohr. Dank auch an Frau Prof. Dr. Marlene Posner-Landsch für ihre Bereitschaft zur Übernahme des Zweitgutachtens. Die Veröffentlichung wurde im Juni 1991 vom Fachbereich Neuere Fremdsprachliche Philologien der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Berlin, im April 1992
Richard Batz
IX
I.
Einleitung
l.
Zielvorstellungen der Arbeit
Schon seit längerer Zeit steht Fernsehen unter den verschiedensten Aspekten im Blickpunkt wissenschaftlicher Betrachtung. Unterschiedliche Disziplinen wie Medienwissenschaft, Publizistik, Soziologie, Kommunikationswissenschaften, Psychologie, Linguistik, Semiotik und Pädagogik haben sich dieses sowohl gesellschaftsprägenden als auch -widerspiegelnden Mediums mit jeweils unterschiedlichem Erkenntnis- und Verwertungsinteresse angenommen1. Die Positionen, welche die Auseinandersetzung mit dem Medium kennzeichnen, werden dabei, wie es U. Eco (1964) für die Populärkultur allgemein faßte, mit verschiedenen Zwischenschattierungen von kulturkritischen «Apokalyptikern» einerseits und affirmativen «Integrierten» andererseits bestimmt. Die Vielfältigkeit des Interesses hat über die letzten Jahre allerdings nicht zu einer nennenswerten Auflockerung der von Eco abgesteckten Polarität geführt. Über Fernsehen und die sogenannten neuen Medien im allgemeinen ist selbst das vorletzte Wort noch lange nicht gesprochen. Zu unsicher und scherbenhaft ist die Forschungslage, als daß es möglich wäre, von wirklich gesicherten Wissensbeständen auszugehen. Auch im alltäglichen Umfeld wird viel über Fernsehen geredet, wobei ganz unterschiedliche Standpunkte anzutreffen sind, und fast jeder kennt irgendeinen Versuch oder zumindest eine Veröffentlichung zu irgendeiner fernsehgebundenen Fragestellung. Um das Anliegen der vorliegenden Arbeit deutlicher hervortreten zu lassen, scheint es mir angesichts des hohen Verbreitungsgrades metamedialen Wissens (und meta-medialer Mythen) notwendig, zunächst einmal aufzuzählen, worum es hier nicht oder im einzelnen zumindest nicht vorrangig gehensoll: - produktionsanalytische Fragen, - Verständlichkeit und faktisches Verstehen von Fernsehnachrichten, - Inhaltsselektion, - Bild-Text-Bezüge, Einen lektürefreundlichen Überblick zu den wesentlichen Ansätzen der Fernseh(wirkungs)forschung bietet Winterhoff-Spurk (1986). Dem methodengerichteten psychologischen Interesse des Autors entsprechend fehlen allerdings inhaltszentrierte, d.h. in der Regel ideologiekritische Ansätze. Hier wäre v. a. auf die Arbeiten der Glasgow University Media Group (1976 u. 1980) zu verweisen. Für einen komprimierten Überblick zur Fernsehforschung s. Katz (1988).
- das Verhältnis zwischen Fernsehnachrichten und der Schriftpresse, - ideologiekritische Fragestellungen, - die Objektivitätsproblematik, - die Rolle von Fernsehnachrichten im Meinungsbildungsprozeß, - den Stellenwert von Fernsehnachrichten im öffentlichen Diskurs, - nachrichteninterne texttypologische Fragen, - die Nachrichtensprache. Damit ist so ziemlich alles ausgeblendet, was den Gegenstandsbereich herkömmlicher Nachrichtenforschung ausmacht. Die angekündigten Ausschlüsse bedeuten jedoch keineswegs, daß im Verlauf der Arbeit einschlägige Domänen nicht berührt würden. Wenn dies geschieht, so allerdings nicht um der entsprechenden Domänen willen, sondern funktional in bezug auf das übergeordnete Erkenntnisinteresse der Arbeit, d.h. die Auslotung der kulturspezifischen Bedingtheit französischer Fernsehnachrichten2 oder, anders ausgedrückt, die Beantwortung der kultursemiotischen Frage nach jenen Spezifika, die französische Fernsehnachrichten als einen Text der französischen Kultur ausweisen3. In diesem Sinne ist das verfolgte Anliegen demjenigen von Andrö Stoll bei dessen vorzüglicher Analyse des Bestsellers-Comics Astirix vergleichbar: Wir werden daher in der nachfolgenden Studie bemüht sein, (...) von einigen elementaren Detailstrukturen des (...) Gebildes auf die durch sie angekündigte Gesamtarchitektur vorzudringen und (...) die außertextliche Realitätsbegründung des neuartigen Bedeutungskonstrukts einzuholen (Stoll 1974, S. 15).
Worum es sowohl bei Stoll als auch in der vorliegenden Arbeit geht, ist Text als «ideOlogeme» im Sinne J. Kristevas: L'acception d'un texte comme un ideOlogeme dotermine la domarche meme d'une somiotique qui, en otudiant le texte comme une intertextualito, le pense ainsi dans (le texte de) la et l'histoire. L'idoologeme d'un texte est le foyer dans lequel la rationality connaissante saisit la transformation des ononcls (auxquels le texte est irroductible) en un tout (le texte), de m£me que les insertions de cette totalit£ dans le texte historique et social (Kristeva 1969, S. 53).
Anders als bei Stoll sind in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht nur Intertextualitäten als in den Untersuchungsgegenstand importierte Phänomene ganz unterschiedlicher Ordnung aufzusuchen. Im Vollzug konkreter Analysen entstand vielmehr die sich immer stärker zur subjektiven Gewißheit verdichtende Intuition, daß französische Fernsehnachrichten unter verschiedenen Gesichtspunkten viel mit einem ganzen Genre, den in Frankreich mittlerweile fast ausgestor2
3
Hierin unterscheidet sich der hier verfolgte Ansatz entscheidend von der Untersuchung H. Landbecks (1991), die oberflächenorientiert Inszenierungsstrategien deutscher und französischer Nachrichtensendungen kontrastiert, ohne diese im kulturellen Umfeld zu verankern. Vgl. Lotmann & Uspensky (1978, S. 218): «Culture can be presented as an aggregate of texts; however, from the point of view of the researcher, it is more exact to consider culture as a mechanism creating an aggregate of texts and texts as the realization of culture.»
benen Almanachen, gemeinsam haben. Die aus dieser Intuition erwachsene These von französischen Fernsehnachrichten als elektronische Wiedergeburt von Almanachen wird erst gegen Ende der Arbeit präsentiert und inhaltlich unterlegt. Dabei kann es sich nicht um eine lückenlose kulturhistorische Beweisführung handeln - angesichts der noch aufzuzeigenden Hybridität des Untersuchungsgegenstandes wäre ein entsprechender Versuch geradezu naiv -, sondern lediglich um die Erzeugung eines bedenkenswerten Maßes an Evidenz. Es ist auch durchaus nicht so, daß die gesamte Arbeit nur auf diese These hin ausgerichtet wäre. Ihre Unterlegung stellt allerdings in dem Sinne ein zentrales (wenn auch räumlich exzentriertes) Element dar, daß sie es erlaubt, eine Reihe im Verlauf der Arbeit herausgefilterter Phänomene in eine einheitliche Perspektive zu stellen. Medienwissenschaftlicher Jargon und einschlägiges technisches Vokabular werden sehr bewußt bis an die Grenze des sachlich Vertretbaren zurückgedrängt, denn das Anliegen der Arbeit ist kein primär medienwissenschaftliches, sondern ein romanistisches. In der Betonung dieses Standortanspruchs liegt durchaus auch eine gewisse Ablehnung gegenüber dem, wofür sich mir während der Sichtung einschlägiger medienwissenschaftlicher Literatur der Begriff metamediale Internationale aufdrängte. Ich meine damit jenen Hang, Medien wie meteorologische Phänomene zu denken, die sich rund um den Erdball auf die gleiche Weise und mit den gleichen Folgen manifestieren. Sicherlich ist Fernsehen mittlerweile als anthropologische Tatsache anzuerkennen. Insofern ist es auch durchaus legitim, sich mit ihm auf einer Ebene von Abstraktion auseinanderzusetzen, die über Einzelkulturen hinweggreift. Diese Art der Beschäftigung mit dem Medium darf allerdings nicht dazu führen, mit Fernsehen auch gleichzeitig alle Einzelkulturen unter dem Topos der postindustriellen Gesellschaft in einer Masse diffundieren zu lassen4. Wenn von Fernsehen (und generell von Medien) die Rede ist, drängt sich jedoch oft der Eindruck auf, daß es mehr Bequemlichkeit, Prestige und Sicherheit bietet, zu Noten von Benjamin, Adorno, Postman oder Baudrillard einen universellen bildungsbürgerlichen Abgesang auf Kultur anzustimmen, als sich sehend zu den Niederungen des Gegenstandes herabzulassen und dort vielleicht auch etwas länger zu verweilen (wer fernsieht kann in dieser Zeit allerdings keine Medientheorie lesen), um anschließend in eigenem Denken wieder aufzusteigen. In Zusammenhang mit der vorausgehend angedeuteten Forderung nach Berücksichtigung einzelkultureller Spezifika stellt sich für die vorliegende Arbeit die Frage der Legitimität der Untersuchung französischer Fernsehnachrichten durch einen Nichtfranzosen, womit generell die Problematik fremdkulturellen Verstehens angesprochen ist. Eine entsprechende Diskussion soll hier jedoch nicht geführt werden, denn sosehr einerseits Fremdverstehen mit spezifi4
Absurderweise verhalten sich auch unter dem Banner der Absage an einen monolithischen Vernunftgedanken antretende Denker des Postmodernen wie Baudrillard, Lyotard oder Virilio medienuniversalistisch.
sehen Problemen behaftet ist, sosehr ist andererseits dem Blick von außen ein ihm eigener Erkenntniswert zuzusprechen. Aufgrund des in Selbstverständlichkeit Befangenseins im eigenen kulturellen Raum ist die Wahrnehmungsschwelle für Kulturspezifika im Vergleich zum von außen kommenden Blick erheblich höher5. Wo von innen Phänomene unhinterfragt dastehen, ergibt sich von außen oft neugieriges Staunen. Auf diesem Hintergrund dürfte die vorliegende Arbeit auch von einem gewissen landeskundlichen Wert sein. Anstatt Bedingungen, Möglichkeiten und Möglichkeitsbedingungen des Verstehens von Andersartigkeit theoretisch zu problematisieren, ziehe ich es vor, das aus meiner kulturellen Distanz heraus als anders Erlebte zu beschreiben und im Rahmen des mir Möglichen im französischen Kontext bedeutungsvoll, d.h. als pratiques culturelles signifiantes, zu verorten. Es wird sich dabei herausstellen, daß französische Fernsehnachrichten mehr mit Frankreich als mit Fernsehen zu verbinden sind. Nicht the medium is the message, sondern the message happens to be on TV.
2.
Zum methodischen Vorgehen
In ihrem Kern beruht die Arbeit auf der Auswertung verschiedener Korpora. Sie ist in einem doppelten Sinne komparativ. Einerseits wird ein französisches Korpus von Nachrichtensendungen des Jahres 1984 mit einem Korpus aus dem Jahre 1988 verglichen. Andererseits steht für Vergleiche zwischen deutschen und französischen Nachrichten ein Korpus von Heute- und Tagesschau-Sendungen zur Verfügung. Bei den herangezogenen französischen Sendern handelt es sich um Antenne 2 (A2) und TF1, die beiden größten französischen Fernsehanstalten. Auf Spezifika der verschiedenen Korpora und damit verbundene Auswahlkriterien wird weiter unten in einem eigenen Punkt eingegangen. Hervorzuheben ist, daß mit dem Vergleich der französischen Nachrichten von 1984 und 1988 keinerlei prognostisches Interesse verfolgt wird. Zwischen den beiden Vergleichsjahren festzustellende Veränderungen werden nicht als Indikatoren für das Entstehen neuer Qualitäten bewertet, sondern dazu genutzt, dem Objekt ohnehin inhärente Eigenschaften zu verdeutlichen. Der Vergleich mit den genannten deutschen Nachrichten wird nicht stringent geführt, sondern versteht sich eher gemäß dem pädagogischen Leitspruch, welcher ein Voranschreiten vom Bekannten zum Unbekannten fordert, als Anknüpfungsangebot. Auf keinen Fall sollte der Eindruck entstehen, daß das Anliegen der Arbeit ein Vergleich deutscher und französischer Nachrichtensendungen wäre. Im Vorder-
5
So ist es nicht weiter verwunderlich, daß zwei der herausragendsten Bücher, die in der letzten Zeit zum gegenwärtig in Frankreich florierenden Themenbereich der kulturellen Identität und Andersartigkeit erschienen sind, von Autoren stammen, die zwar schon geraume Zeit in Frankreich leben, dort aber nicht ihre ethno-kulturellen Wurzeln haben: Kristeva (1988) u. Todorov (1989).
grund stehen französische Nachrichten; dem Vergleich mit Deutschland kommt lediglich der Status eines heuristischen Hilfsmittels zu6. Da das Erkenntnisinteresse der Arbeit ein sehr weitgefaßtes ist, gebietet sich eine gewisse Vielfältigkeit im Zugriff auf das Untersuchungsobjekt. Neben im Medienbereich üblichen inhaltsorientierten Herangehensweisen wird in einem bescheidenen Maße auch auf statistische Verfahren zurückgegriffen. Darüber hinaus wird das Begriffsarchiv der Linguistik und der Semiotik (in einem sehr weiten Sinne verstanden) als terminologischer Referenzhintergrund bemüht, ohne daß damit ein Anschluß an irgendwelche theoretischen Positionen zu verbinden wäre. Es wird weder irgendein stringentes Modell oder eine wie auch immer geartete Theorie grundgelegt, noch soll derlei erarbeitet werden. Dies würde in bezug auf den Facettenreichtum des Gegenstandes letztlich eine nicht vertretbare Reduktion bedeuten. Ohnehin dürfte der von Titzmann (1977, S. 263) getroffenen Feststellung, daß «das Problem der Relationen des 'Textes' zu seiner Kultur ( . . . ) kaum in theoretisch befriedigender und hinreichend systematischer Form behandelt zu sein scheint», die Geltungsgrundlage durch entsprechende Arbeiten noch nicht entzogen worden sein. Dieses gewaltige Loch kann auch von der vorliegenden Arbeit nicht geschlossen werden; darin liegt auch nicht ihre Ambition. Was hingegen geleistet wird, ist das Aufspannen eines Rahmens, innerhalb dessen französische Fernsehnachrichten als kultureller Text interpretierbar werden. Die sich dabei ergebende Notwendigkeit eines vielfältigen Zugriffs bedingt flächendeckendes Arbeiten. So wurde fast jedes Kapitel mit dem unbefriedigenden Gefühl abgeschlossen, daß daraus eine eigenständige Untersuchung hätte entstehen können. Dennoch ist das Ergebnis kein Kaleidoskop, sondern eher ein in seinen gestaltstiftenden Teilen fertiggestelltes Puzzle.
3.
Das Untersuchungsmaterial
Die Materialgrundlage besteht aus sechs Teilkorpora von jeweils einer Woche: TF1 und A2 vom 9. April 1984 bis zum 15. April 1984, TF1 und A2 vom 25. Juli 1988 bis zum 31. Juli 1988 und Heute/Tagesschau vom 25. Juli 1988 bis zum 31. Juli 1988. Grundgelegt sind jeweils die Hauptausgaben der Fernsehnachrichten, d. h. für die französischen Sender und die Tagesschau die 20-Uhr-Sendung, für Heute die 19-Uhr-Ausgabe. Der vierjährige Abstand zwischen den beiden französischen Vergleichsjahren ist mehr oder weniger zufällig. Einer ursprüng6
Dennoch dürften dabei wesentliche Unterschiede zwischen deutschen und französischen Fernsehnachrichten transparent werden, womit zumindest partiell ein von P. Dahlgren (1986, S. 129) angesprochenes Desiderat erfüllt ist: «There may be interesting differences between TV news discourses in different countries, but there does not seem to be sufficient comparative research done to say much on them with any degree of certainty.» Für einen expliziten Vergleich deutscher und französischer Fernsehnachrichten auf Formalebene s. Landbeck (1991).
lieh anderen Ausrichtung der Arbeit entsprechend sollte lediglich entscheidend sein, daß die Aufzeichnungen aus dem Jahre 1984 den Zustand französischer Fernsehnachrichten vor der Privatisierung des ehedem staatlichen Senders TF1 (1987) wiedergeben, während für 1988 eine verschärfte Konkurrenz zwischen dem im alten Status verbliebenen Sender A2 und dem privatisierten Sender TF1 besteht. Im Verlauf der Arbeit entlarvte sich jedoch die Frage nach dem Einfluß des Phänomens privater Sender und der damit induzierten verstärkten Konkurrenz als ein typischer Topos der meta-medialen Internationalen, der eher dazu geeignet ist, Kulturspezifika zu überdecken. Zum einen ist Konkurrenz gerade im Bereich von Fernsehnachrichten zwischen A2 und TF1 beileibe nichts Neues - sie setzte schon 1969 mit der Gründung zweier voneinander unabhängiger Nachrichtenredaktionen für die damals noch Premiöre bzw. Deuxieme Chatne heißenden Sender ein - und wurde immer schon spektakulärer als in der Bundesrepublik ausgetragen, so daß es recht oberflächlich wäre, die Privatisierung von TF1 als genrebewegenden Meilenstein anzunehmen. Zum ändern erschien es mir zunehmend interessanter und bedeutsamer, nicht irgendwelche schwer attribuierbaren Oberflächenveränderungen zu untersuchen, sondern das Substrat zu ergründen, auf welchem sich derartige Veränderungen ereignen. In diesem Sinne sind die zwischen A2 und TF1 sowie zwischen den beiden Untersuchungsjahren angestellten Vergleiche auch nicht konfrontativ zu verstehen; sie sollen vielmehr dazu verhelfen, einen gemeinsamen Kern herauszuschälen. Im Gegensatz zu vielen Arbeiten aus dem Medienbereich erfolgte die Korpuserstellung für die vorliegende Arbeit hypothesengeleitet. Alle Teilkorpora wurden bewußt in ereignisarmen Zeiträumen aufgezeichnet. Für 1984 waren dies die Parlamentsferien um Ostern, für 1988 die parlamentarische Sommerpause. Weder für 1984 noch für 1988 waren während der angegebenen Zeiträume in Deutschland und Frankreich oder im internationalen Raum hervorragende politische Ereignisse zu verzeichnen, welche die nachrichtliche Berichterstattung in irgendeiner Weise monopolisiert hätten. Derartige 'saure-Gurken-Perioden' sind in dem Sinne eine Herausforderung an Fernsehnachrichten, daß trotz mangelnder Masse der Genreanspruch nach außen aufrechterhalten werden muß, womit sich die Wahrscheinlichkeit des Heraustretens latent vorhandener Züge erhöht (dies entspricht in etwa dem Konzept der Grenzsituation in der existentialistischen Literatur). Die umrissene Selektivität der Korpusauswahl ist bei den Ergebnissen der Arbeit immer mitzubedenken. Es wäre äußerst mühsam und rezeptionshinderlich, an den entsprechenden Stellen immer wieder eigens darauf zu verweisen. Selbstverständlich würde sich z.B. in der Inhaltskonfiguration, um nur das offensichtlichste Feld herauszugreifen, ein ganz anderer Eindruck ergeben, wenn das Untersuchungsmaterial etwa zu Beginn der Golfkrise oder anläßlich der Ereignisse um die Öffnung der Berliner Mauer aufgezeichnet worden wäre. Es stellt sich hier die Frage nach dem Normalzustand von Nachrichten, zu deren Beantwortung m. E. auch extensivere Korpora nicht unbedingt beitragen würden. So steht außer Zweifel, daß eine inhaltskategoriale Analyse deutscher Fernsehnachrichten des Jahres 1990 aufgrund der
politischen Umwälzungen andere Ergebnisse als eine entsprechende Analyse für das Vorjahr oder für 1988 erbringen würde7. Auf deutscher Seite wurden Heute und die Tagesschau als Vergleichshintergrund festgehalten, obwohl mit den Tagesthemen oder dem Heute-Journal Sendungskonzepte vorliegen, die - toutes proportions gar dees - eher dem Nachrichtenkonzept französischer Sender entsprechen. Allerdings liegen die letztgenannten Sendungen am Rande der prime time und scheinen somit weniger dem zu entsprechen, was in der Einschätzung von Machern und Zuschauern Fernsehnachrichten ausmacht. Nicht die Tatsache der prinzipiellen Realisierbarkeit eines Sendungskonzepts ist entscheidend, sondern der Umstand, daß dies an entsprechender Stelle geschieht.
4.
Aufbau der Arbeit
Die Arbeit beginnt mit einem breitgefächerten Überblick zu Fernsehnachrichten als Bestandteil der televisuellen Informationslandschaft (Kap. II). Dabei werden anhand ganz unterschiedlicher Beispiele allgemeine Charakteristika der Informationsvermittlung im französischen Fernsehen kontrastiv zur Bundesrepublik herausgearbeitet. Historische, medienpolitische und allgemeine journalistische Aspekte sind insoweit thematisiert, als sie dazu beitragen, die gegenwärtige Konzeption französischer und (in einem geringeren Maße) deutscher Fernsehnachrichten zu erklären. Ziel dieses Kapitels ist letztlich die Infragestellung eines für deutsche und französische Fernsehnachrichten gemeinsamen Genrebegriffs. Dazu trägt auch ein kontrastiver Überblick zur Nachrichtenforschung in der Bundesrepublik und Frankreich bei. Im dritten Kapitel werden die Fernsehnachrichten der beiden Untersuchungszeiträume unter dem dominanten Aspekt der Formalgestaltung beschrieben. Für die französischen Nachrichten orientieren sich die Beschreibungen an prototypischen Sendungsabläufen; aufgrund der vorausgesetzten Bekanntheit deutscher Nachrichten wird für diese grobmaschiger verfahren. Der relativ breite Raum, den das Kapitel einnimmt, rechtfertigt sich aus der Tatsache, daß zusammenhängende Beschreibungen französischer Fernsehnachrichten nirgends vorliegen und somit sowohl für den romanistischen Bereich als auch medienwissenschaftlich eine Lücke schließen. Darüber hinaus sind sie von vornherein auf anschließende Abstraktion im Sinne der Zielvorstellung der Arbeit hin angelegt. Die relativ detailreichen Sendungsbeschreibungen sind auch deshalb wichtig, weil die Arbeit nicht aus der Höhe irgendeiner übergeordneten 7
So sieht z.B. Sigmund Gottlieb, Redakteur des Heute-Journals, in einem für das Männermagazin lui (Nr. 6, Juni 1990) unter dem Titel 'DDR sei Dank, wir gewinnen!' geschriebenen Essay angesichts der politischen Wandlungen für die öffentlich-rechtlichen Sender die Gelegenheit gegeben, private Fernsehsender durch einschlägige politische Berichterstattung auszubooten.
theoretischen Position heraus operiert, die sich eklektisch ihre Belege suchen kann, sondern gerade darum bemüht ist, in nachvollziehbarer Weise ihre Aussagen aus dem Gegenstand selbst erwachsen zu lassen. Indem das Kapitel insgesamt eher unter die Aspekte des formalen Aufbaus und der strukturellen Bestandteile von Fernsehnachrichten gestellt ist, wird auf elementarer Ebene der von van Dijk (1985) erhobenen Forderung nach einer stärkeren wissenschaftlichen Berücksichtigung textueller Gesichtspunkte in der Medienwissenschaft Rechnung getragen8. Als einer der unter verschiedenen Aspekten hervorragenden 'Bestandteile' französischer Fernsehnachrichten ist der Nachrichtensprecher (presentateur) zu betrachten, dem im Rahmen dieses Kapitels ein eigener Punkt gewidmet ist. Während das vorausgehende Kapitel eher Aspekte der Formalgestaltung fokussiert, geht es in Kapitel IV dominant um die Inhaltsstruktur, wobei auch hier Gestaltungsaspekte nicht unberücksichtigt bleiben können. Der Untersuchungsgegenstand wird progressiv auf nichtpolitische Berichterstattung eingeschränkt. Diese Reduktion ergibt sich einerseits aus der Spezifik der Untersuchungskorpora (Oster- bzw. Sommerpause der Parlamente mit narkotisiertem politischen Leben) und rechtfertigt sich andererseits aufgrund des größeren Facettenreichtums nichtpolitischer Information. Darüber hinaus ist politische Information ohnehin als hochgradig nationalspezifisch zu erachten und dabei doch weitgehend in supranational standardisierten Kategorien zusammengefaßt (Innen- u. Außenpolitik, Wirtschaft, Soziales, internationale Politik), so daß nichtpolitische Information in stärkerem Maße geeignet erscheint, Elemente einer verborgenen «collective cognitive map» (Dahlgren 1986, S. 130) hervortreten zu lassen. Im abschließenden fünften Kapitel werden französische Fernsehnachrichten in die Nachfolge von Almanachen gestellt. In diesem Zusammenhang wird der Zeitraum der Französischen Revolution, welche die populären Almanache sehr bewußt als didaktisches Instrument zur Propagierung und Verankerung revolutionären und republikanischen Gedankenguts einsetzte, eine gewisse Rolle spielen. Als kohäsionsstiftendes phatisches Substrat ist ein republikanisch-nationaldidaktisches Engagement auch heutigen französischen Fernsehnachrichten nicht fremd.
8
Allerdings bin ich der Meinung, daß die Arbeiten van Dijks zur Diskursstruktur der Schriftpresse aufgrund des in ihnen vertretenen universalistischen Anspruchs nicht zu einer Übertragung auf französische Fernsehnachrichten geeignet sind (vgl. van Dijk 1988a u. b). 8
II.
Fernsehnachrichten als Element des televisuellen Informationsraumes
1.
Vorbemerkungen
Wie in der Bundesrepublik sind in Frankreich Fernsehnachrichten fester Bestandteil des televisuellen Endlosdiskurses1. Hier wie dort stellt ihre Rezeption ein weitverbreitetes Alltagsritual dar, das auf kommode Weise Gelegenheit zur Erfüllung der staatsbürgerlichen Informationspflicht bietet. Dennoch ergibt sich schon bei oberflächlicher Betrachtung ein Eindruck von Andersartigkeit, der auf mehr als nur einer kulturspezifisch andersartigen Ausgrenzung von Nachrichteninhalten zu beruhen scheint. Um dieser Andersartigkeit analytisch habhaft zu werden, ist es nötig, sie als solche zu respektieren und nicht durch einen einseitig kulturbedingten Blick auf irgendeine Art als Abweichung zu betrachten. Diese Gefahr besteht, wenn man ohne Berücksichtigung von Kontextfaktoren deutsche und französische Fernsehnachrichten miteinander vergleicht, indem man von einer für beide gleichermaßen gültigen Genredefinition ausgeht, denn: in Frankreich (ist) Kultur in Theorie und Praxis anders organisiert und repräsentiert als in Deutschland; ja französische Kultur- und Nachrichtensendungen lassen sich nicht mit den ebenso bezeichneten deutschen Sendungen vergleichen, einfach deshalb, weil in Frankreich Kultur und Politik anders organisiert und strukturiert, aber auch anders miteinander verzahnt sind (Eggs 1985, S. 30). 1
Daß dieser mittlerweile fast 24stündige Audiovisionsservice zunehmend als über zyklisch repetitive Zeitschleifen definierbares Amalgam und weniger als über Sendeanstalten mit je distinkter Identität bestimmte Struktur wahrnehmbar ist, zeigt sehr plastisch die französische Programmzeitschrift Tlllrama, die im Oktober 1986 ein neues Layout einführte: das Fernsehprogramm wird nicht mehr in Zuordnung zu den verschiedenen Sendern präsentiert, sondern in je eine Stunde umfassenden Zeitabschnitten, innerhalb derer das Angebot der in unterschiedlichen Farben kodierten Sender zusammengefaßt ist. Vgl. auch Blum (1982, S. 123): «La television est d'abord inseparable du temps: de celui qui est dans sa nature meme, qui s'icoule et qui ne peut s'arreter, de celui qui rythme chacun de ses programmes. La te!6vision ne laisse aucun temps vide long ä vivre. Elle ne permet ni l'attente, ni l'ennui, et le spectaculaire, le plein est lä pour 6viter le moindre temps lent, temps de l'absence. Mdme rythme, meme vitesse pour l'ensemble des omissions: informations ou dramatiques, vari6t£s ou retransmissions sportives. Le suspense ou lorsque celui-ci n'a pas lieu d'etre, la succession ininterrompue de nouvelles ou de vedettes qui veulent nous faire echapper ä toute attente, en prenant chacune d'elle une 'valeur' forte.»
Bei der offensichtlichen Unterschiedlichkeit beider Objektbereiche muß ein kontextindifferentes Vorgehen zwangsläufig zu Stigmatisierungen führen 2 . Bevor also näher auf Fernsehnachrichten eingegangen wird, ist zunächst einmal deren kulturspezifischer Stellenwert im Paradigma von Informationssendungen zu bestimmen. Daß dies im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur in den für diese als bedeutsam zu erachtenden Zügen geschehen kann, ist um so selbstverständlicher, als eine umfassende Standortbestimmung auf einer Theorie des audiovisuellen Raumes aufbauen müßte, die jedoch sowohl für Frankreich als auch für die Bundesrepublik noch aussteht3. Neben der aktuellen televisuellen Informationsökologie sind auch geschichtliche und politische Faktoren, die allgemeine Informationskonzeption des Fernsehens sowie das Selbstbild von (Fernseh)Journalisten zu thematisieren. Außerdem erweist sich ein Blick auf die Forschungslage als äußerst informativer Wegweiser bei der Erkundung der Verschiedenheit deutscher und französischer Nachrichtensendungen. Gemäß den in der Einleitung gemachten Ausführungen soll es hier vorwiegend um französische Verhältnisse gehen. Wo keine explizite Gegenüberstellung mit der Bundesrepublik stattfindet, ist davon ausgegangen worden, daß Unterschiede auf dem Hintergrund einer durchschnittlichen bundesrepublikanischen Sozialisation und einer gewissen passiven Erfahrungskenntnis des bundesrepublikanischen Fernsehens offensichtlich sind. Für einige der im folgenden gegebenen Beispiele ließen sich Gegenbeispiele zum Beleg für andere als die hervorgehobenen Tendenzen anführen. Dies liegt daran, daß die Entwicklung nicht von einem einheitlichen Vektor bestimmt ist, daß Althergebrachtes neben Innovativem steht und, was besonders für Frankreich gilt, die Gestaltung des Fernsehprogramms starken Fluktuationen unterworfen ist. Ständige Reformen im Bereich des Audiovisuellen (vgl. Cluzel 1988 u. Le Monde: dossiers et documents, mars 1988) sind hierfür - zumindest ober-
2
3
Genau dieser Gefahr unterliegen zumindest tendenziell die Mannheimer Arbeiten zu französischen Fernsehnachrichten (vgl. Klopfer & Landbeck 1988 u. Landbeck 1989), in denen von einer Werbespots unterstellten ästhetisierenden Wirkung auf frz. Fernsehnachrichten ausgegangen und letzteren gegenüber deutschen latent ein (ästhetischer) Qualitätsvorsprung zugesprochen wird. Warum gerade Werbespots und nicht etwa Kino oder Videoclips als Wirkfaktoren angenommen werden, bliebt dabei stark begründungsbedürftig. Zu bemängeln ist zudem die Unterlassung des Versuchs einer differentiellen Funktionsbestimmung von Fernsehnachrichten in den jeweiligen nationalen Programmen. Eine solche Theorie hätte sich sowohl historisch als auch synchron dem Phänomen des Audiovisuellen unter einzelkulturspezifischen Fragestellungen zu nähern. Der gegenwärtige meta-mediale Diskurs ist jedoch weitgehend internationalistisch. Über Fernsehnachrichten, Dallas, Denver, Das Glücksrad, synthetische Bilder und ähnliche international verbreitete Medienphänomene eine Flickendecke aus Benjaminschen, Adornoschen, Baudrillardschen, Postmanschen oder sonstweichen Konzeptstücken zu legen, bedeutet einfach, eine wesentliche Frage zu unterlassen, die nämlich, ob es sich in allen Kontexten wirklich um die gleichen Phänomene handelt. Neuere Belege für diese meta-mediale Internationale sind u. a. Bolz (1990) und Doelker (1989). 10
flächlich - als Ursachen anzuführen 4 . Aufgrund der Vielschichtigkeit der Beispiele erheben die folgenden Seiten aber dennoch den Anspruch, zu einem die Oberfläche durchbrechenden Verständnis französischer Fernsehnachrichten beizutragen. Die ausgewählten Beispiele sind u.a. das Ergebnis der Durchsicht von etwa zweihundert Nummern der Programmzeitschrift Telerama. Einige beziehen sich, ohne daß dies immer angegeben wird, auf mittlerweile schon abgesetzte, in iher Konzeption veränderte oder durch vergleichbare Produktionen ersetzte Sendungen. Wichtig sind hier nicht konkrete Einzelfälle, sondern die aus ihrer Summe ablesbaren allgemeinen Züge.
2.
Französische und deutsche Nachrichten: Antenne2 und TF1, Heute und die Tagesschau
2.1.
Die Nachrichten von A2 und TF1
13 und 20 Uhr, das sind sowohl auf TF1 als auch auf A2 die großen rendez-vous de l'actualite, dazu eine Spätausgabe außerhalb des prime fzme-Bereichs. Für die drei Ausgaben liegt mittlerweile eine einigermaßen einheitliche Konzeption vor. Es handelt sich sowohl bei A2 als auch bei TF1 um Studiosendungen, in denen das Nachrichtenstudio in seiner dreidimensionalen Räumlichkeit als diskursiver Ort genutzt wird5. Oft sind Gäste eingeladen (Politiker, Schauspieler, Cineasten, Sportler etc.), die vompresentateur und/oder von Redaktionsspezialisten befragt werden. In den meisten Sendungen sprechen Ressortspezialisten der Redaktion Kommentare zu aktuellen Themen. Vor allem die Mittags- und die Spätausgabe dienen als Experimentierfelder für konzeptionelle Neuerungen. Generell unterliegen die Nachrichtensendungen, was ihre Formalgestaltung betrifft, einer hohen Fluktuation, die es schwierig macht, ein zeitüberdauerndes Porträt zu zeichnen. Veränderungen sind derart häufig, daß man sie schon als Bestimmungsstück des Nachrichtengenres betrachten kann. In ihrer technologischen Innovationsfreudigkeit spiegeln Fernsehnachrichten letztlich einen in Frankreich auch quer durch das politische Spektrum recht ungebrochenen Fortschrittsglauben wider. Die häufigen Gestaltänderungen sollten jedoch 4
5
Zur Geschichte des französischen Fernsehens allgemein sei auf Mousseau & Brochand (1982 u. 1987) verwiesen. Für Fernsehnachrichten lassen sich drei Sendungskonzepte unterscheiden: traditionelle Nachrichtensendung, Journalsendung und Studiosendung. In traditionellen Nachrichtensendungen verliest der Sprecher vorgefertigte Texte und verfügt darüber hinaus über keinerlei Handlungsautonomie. Die Berichterstattung ist eng ereignisorientiert. Journalsendungen werden von Moderatoren mit im Vergleich zu traditionellen Nachrichtensprechern höherer Handlungsautonomie (sie führen z.B. Schaltgespräche) betreut. Die Berichterstattung umfaßt hier auch Hintergrundberichte. Das größte Reservoir journalistischer Handlungsmöglichkeiten bieten Studiosendungen. Für eine ausführliche Darstellung dieser Sendungskonzepte sei auf Muckenhaupt (1988, S. 317ff.) verwiesen. 11
nicht überschätzt werden, denn in den meisten Fällen handelt es sich um technologische Oberflächenkosmetik. Sowohl für die Mittags- als auch für die Abendsendung ist hervorzuheben, daß sie nicht immer aus dem Pariser Studio übertragen werden, so etwa am Vorabend des Gorbatschow-Besuchs aus der sowjetischen Botschaft in Paris (A2 Midi, 3. Juli 1989); anläßlich der Ereignisse um den Fall der Berliner Mauer moderierte Starjournalistin Christine Ockrent weite Teile der 20-Uhr-Nachrichten (A2, 11. November 1989) in einer Direktschaltung aus Berlin; am 2. Mai 1989 übertrug TF1 seine 20-Uhr-Ausgabe mit Yasser Arafat als Studiogast aus dem Institut du Monde Aarabe etc. Die erste spektakuläre Übertragung von Fernsehnachrichten aus dem Ausland fand bereits 1976 statt: Yves Mourousi moderierte die 13-Uhr-Sendung vonTFl vom Roten Platz in Moskau aus. Diese wenigen Beispiele machen bereits deutlich, daß im Gegensatz zu den Nachrichten von ARD und ZDF hier eine Konzeption vorliegt, die Fernsehnachrichten nicht nur als einen Ort des Berichtens über Ereignisse begreift, sondern ihnen selbst Ereignishaftigkeit zuschreibt. Dies bis zu einem Grade, daß in ihrem Rahmen Ereignisse bisweilen erst entstehen: nach langem, Freund und Feind gleichermaßen zermürbendem taktischem Schweigen gab z.B. Franfois Mitterrand als Studiogast der 20-Uhr-Nachrichten von A2 am 22. März 1988 seine erneute Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten bekannt. Eine notwendige Bedingung für die Entstehung eines intra-medialen Ereignisraumes ist die zumindest sporadische Entritualisierung der Informationspräsentation. Hierzu zwei Beispiele: Am 6. September 1989, dem Todestag Georges Simenons, zeigten die Spätnachrichten von A2 einen recht eigenwilligen Umgang mit dem blue box-Verfahren (elektronische Einblendung von Fotografien und Grafiken in den Studiohintergrund). Während sämtlicher o«-Passagen des Sprechers wurde links oben ein Buchdeckel eingeblendet, an dessen linker oberer Ecke ein Trauerband befestigt war. Im unteren Viertel war die Pfeife des Kommissar Maigret zu sehen. Bei jedem Themenwechsel wurde ein themenadäquates Bild innerhalb des Buchdeckels eingeblendet. Dieses Ausnahmeverfahren qualifizierte der Sprecher als «Hommage discret ä Georges Simenon». Am 15. September 1989 starteten die 20-Uhr-Nachrichten von A2 mit einer Reportage über die Heirat von David Halliday, Sohn des Starpaares Johny Halliday und Sylvie Vartan. Eine derartige Nachrichteneröffnung wäre in Deutschland wohl unvorstellbar, denn sie würde allzu offen intuitiv mit der Hierarchisierung von Nachrichten verbindbare Relevanzvorstellungen verletzen und verstieße so gegen genrekonstitutive Merkmale. (Schließlich handelt es sich ja nicht einmal um die Stars selbst, sondern lediglich um deren Sohn). Aber auch in Frankreich ist die Initialplazierung eines solchen Ereignisses als Bruch zu verstehen, zum einen in bezug auf die Praxis der seriösen Tagespresse, zum anderen hinsichtlich jener Fälle, in denen gewichtigere Ereignisse den ersten Platz einnehmen. Entscheidend ist hier jedoch, daß die Initialposition nicht nur von der vermeintlichen Bedeutsamkeit eines Ereignisses bestimmt ist, die dann eventuell sogar zuerst erzeugt werden müßte, sondern sendungsdramaturgisch zur Disposition steht. Die mehr aufmerksamkeits- als relevanzorientierte Funktion des ersten Beitrags wird auch von Mitarbeitern der Sendeanstalten, wie z.B. von der ehemaligen Nachrichtensprecherin Christine Ockrent, unumwunden zugestanden:
12
Quand l'actualito semble ralentir, et qu'on a le choix entre la queue d'un fait divers, les chiffres du commerce extorieur, les remous de la perestroika (sans images fraiches) et un accident de train spectaculaire au Paraguay (il a eu lieu hier mais les images sont disponibles aujourd'hui), que fait-on? On peut decider d'ouvrir sur une oclipse de la lune, si le calendrier s'y prete - c'est poitique, different et vaguement dcologique. On peut pre"ferer un reportage medical, intemporel - la sante", c'est public. II y a aussi dans le meilleur des cas 'le fait de ' - le reportage maison docido il y a quelques jours sur une histoire d'inceste, ou d'enfants, ou de drogue, ou de Sida: c'est 'ä nous' et c'est 'fort'. C'est ce qu'on choisira, si on n'est pas sauvd par le sport (Ockrent 1989, S. 43). Anders als in Heute und der Tagesschau folgt hier die Dramaturgie nicht einer «abfallenden Wichtigkeits- und damit Spannungskurve» (Straßner 1982, S. 10). In französischen Fernsehnachrichten ist keine linear zum Unbedeutenderen fortschreitende Progression festzumachen, sondern es werden auch innerhalb der Sendung lokale Spannungszentren aufgebaut.
Ein augenfälliges Kennzeichen französischer Fernsehnachrichten ist ihr Bemühen um Hintergrunderhellung. Es besteht eine ausgeprägte Tendenz, Ereignisse nicht als kontextlose Phänomene, sondern als Exemplare von Schemata zu präsentieren: Enregistre"e par les camiras de ce journalisme l'image d'un incendie n'est done plus seulement le te"moignage saisissant d'une catastrophe; (...) eile regele, illumine, Signale toute une probldmatique du feu (Brusini & James 1982, S. 112).
Es ist klar, daß eine derartige Nachrichtenkonzeption den Journalisten nicht nur in der Funktion eines Berichterstatters sieht, sondern ihm auch interpretative Tätigkeit abverlangt. In diesem Zusammenhang sieht J. Baudrillard einen Raum eröffnet, in dem sich die Aktivität des Journalisten mit der des Werbefachmanns auf dem Substrat des Mythos trifft: Journaliste et publicitaire sont des Operateurs mythiques: ils mettent en scene, affabulent l'objet ou F6v6nement. Ils le 'livrent r£interpr6t6' - ä la limite, ils le construisent de'libdre'ment. II faut done, si veut en juger objectivement, leur appliquer les categories du mythe (Baudrillard 1970, S. 196).
Ganz egal aber, ob man diese Inszenierung, «affabulation», Ereigniskonstruktion6 oder ganz einfach investigativen Journalismus nennt, in Kontrast zu Deutschland bleibt festzuhalten, daß französische Fernsehnachrichten von einem versucht aufklärerischen Blick hinter Ereignisse - oder was sie als solche ausgeben - gekennzeichnet sind. So war z. B. schon am Abend der Mühlhausener Flugzeugkatastrophe vom Juni 1988, bei der ein Airbus der Gesellschaft Air France während eines Demonstrationsfluges über einem Waldstück abstürzte, für die 20-Uhr-Nachrichten von A2 die Unfallursache vollends geklärt: menschliches Versagen. Der Demonstrationsflug war von einem Nachrichtenteam rou6
Für das kontruktivistische Paradigma der Beschäftigung mit Medieninformation allgemein (Konstruktion ist hier nicht mit Erfindung zu verwechseln; gemeint ist, daß Nachrichten nicht naiv-getreuliche Abbildungen von Realität sind, sondern nach medialen und zuschauergerichteten Kriterien konstruierte Texte) ist in Frankreich v. a. auf Veron (1981) zu verweisen, in der Bundesrepublik auf Schulz (1976). 13
tinemäßig gefilmt worden. Anhand dieser Aufnahmen ermittelte A2, daß sich die Maschine mit dem Cockpit höchstens zehn Meter über dem Waldstück befand. Da sie leicht hecklastig flog, ergab eine Berechnung des maximalen Blickwinkels des Piloten, daß dieser das Waldstück nicht rechtzeitig genug gesehen haben konnte, um die Maschine noch hochzuziehen. Die Entfernung vom Cockpit zum Boden sowie der Blickwinkel des Piloten wurden, für den Zuschauer zum Beweis, in eine nachbereitete Version des Filmmaterials grafisch integriert. Bis zur Veröffentlichung eines offiziellen Untersuchungsergebnisses hätte man sich in deutschen Fernsehnachrichten wohl mit einer Formel wie: «Als Unfallursache wird menschliches Versagen vermutet» beschieden. Wenig wahrscheinlich ist, daß eine deutsche Nachrichtenredaktion authentisches Filmmaterial nachträglich überformt hätte. Dieser investigative Impetus französischer Fernsehnachrichten verkehrt sich bisweilen auch in ein Planspiel, in dem Investigation als Demonstration journalistischer Wachsamkeit sog. pseudo-events als Gegenstand konstruiert: Im Vorfeld der offiziellen Eröffnung der 200-Jahrfeier der Französischen Revolution, zu der Staatschefs aus aller Welt geladen waren, was einen erheblichen Sicherheitsaufwand erforderlich machte, gelang es einem Reportageteam von A2 für die 20-Uhr-Nachrichten vom 10. Juli 1989 unbemerkt in die noch nicht bewohnte, sicherheitsmäßig jedoch bereits durchgecheckte Suite des Staatspräsidenten von Togo einzudringen, um dort zum Beweis dieser Sicherheitslücke Filmaufzeichnungen zu machen. Hier wird Investigation zu einem auf sich selbst verweisenden, in seinem Inhalt nur kontingent gebundenen Zeichen. Wir befinden uns hier an der Grenze zur soft news7 und damit zu einem in der französischen Presse, auch in der seriöseren, fest eingesessenen Texttyp, dem fait divers (vgl. Auclair 1982, Autrement n° 98 (1988), Romi 1962 u. Gritti 1983)8: II contient en soi tout son savoir: point besoin de connaitre rien du monde pour consommer un fait divers; il ne renvoie formellement ä rien d'autre qu'ä lui meme; bien sür, son contenu n'est pas dtranger au monde: dosastres, meurtres, enlevements, agressions, accidents, bizarreries, tout cela renvoie ä Phomme, ä son histoire, ä son alienation, ä ses fantasmes, ä ses reves, ä ses peurs (Barthes 1964, S. 189).
Sosehr faits divers einerseits weitgehend präsuppositionsneutral hinsichtlich ihrer Verstehbarkeit sind, sosehr können sie andererseits aber auch am Ursprung einer Intertextualitätskette stehen: In der 20-Uhr-Ausgabe vom 31. Juli 1988 setzte A2 seine Zuschauer in einer kurzen Wortmeldung davon in Kenntnis, daß im Nord-Pas-de-Calais ein 83jähriger Behinderter von einem Schwärm Bienen angefallen und getötet worden war. Im Informationsloch der Sommerferien wurde diese Meldung zum Auslöser für Fernseh- und Radiodiskussionen, 7
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Für eine problematisierende Abgrenzung der Konzepte hard und soft news vgl. u. a. Gans (1979) und van Poecke (1988). Die Popularität dieser medialen Textgattung läßt sich auch in der Programmstruktur der rentrie des Jahres 1987 ablesen. Gleich zwei Sender warteten mit einem einschlägigen Magazin auf: TF1 mit Choc und M6 mit Le glaive et la balance. 14
die unter Mitwirkung von Spezialisten (Bienenzüchter, Biologen, Juristen, etc.) die Biene als vielschichtiges Weltphänomen (südamerikanische Killerbienen, Honigproduktion, Hobby etc.) analysierten. Es scheinen hier andere Relevanzund Selektionskriterien als in deutschen Fernsehnachrichten wirksam. Das französische Sprichwort «II faut de tout pour faire un monde» zeigt dabei vielleicht in Richtung einer im Vergleich zu Deutschland expandierten Vorstellung von der conditio humana. Weniger gefällig als in dieser Spekulation ließe sich das Beispiel auch in J. Baudrillards Denkwelt verankern: C'est l'operation du signe que de se redoubler en lui-meme, derriöre l'allusion vide ä ce qu'il designe (Baudrillard 1976, S. 24).
Im französischen Fernsehen sind Information und Unterhaltung über eine starke Personenbindung miteinander assoziierbar: Le mddia exige la proximite, implique l'intimito, et son impact, tous genres confondus, passe necessairement par un modiateur (Ockrent 1989, S. 39).
Deutlich kommt diese immer wieder als starisation oder vedettariat beklagte Personalisierung (vgl. Chastenet & Chastenet 1986) auch in Fernsehnachrichten im Phänomen des presentateur zum Tragen (vgl. Tristani-Potteaux 1983, S. 223ff.). Er ist kein Nachrichtensprecfter oder Moderator im deutschen Sinne, sondern als ausgebildeter Journalist Autor seiner Texte und bestimmt wesentlich die Gestaltung der Nachrichtensendung. Der presentateur der 20-Uhr-Nachrichten ist «la figure emblematique de toute chaine de television» (Ockrent 1989, S. 39): La personnalisation et done la differentiation du journal (gem.: die Absetzung von den Nachrichten anderer Sender, R.B.) passe par le presentateur plus que par les autres journalistes. Dans la preference esthetique (bouclettes ou moustache, cravate ou chemisier) l'empathie a sa part: confiance, credibility, honn€tete, rigueur - tels sont les mots, avec leur part d'irrationnel que recensent les otudes d'opinion. Le presentateur - le terme, contrairement ä Tanchor' anglo-saxon, le classe plutöt dans la famille des illusionnistes, trahissant peut-etre une derive culturelle qui nous est propre - le presentateur, s'il est bon, a sa patte. Cajoleur ou brutal, familier ou austere, assouplissant ou amidon, demagogue ou p6dagogue, son temperament se confond vite avec ses qualite"s journalistiques (ebd., S. 45).
Historisch gesehen hat der presentateur sein Vorbild im amerikanischen anchor (-man) . Das erste französische Nachrichtenkonzept mit der heute bekannten starken Betonung des presentateur wurde vom Vorläufer von A2, der 2echaine, dem Zuschauer Ende 1971 angeboten: Impressionne par le succes du journaliste-presentateur vedette de la C.B.S., Walter Cronkite, qui a su atteindre un 'coefficient d'ecoute' tres eleve aux Etats-Unis, Pierre Desgraupes (damaliger Leiter der2echatne, R.B.) d6cide au debut de de s'inspirer de son exemple. Des enregistrements du journal de Cronkite sont demandds aux E.-U., le realisateur Igor Barrere effectue un voyage d'etude ä New York et l'on prepare une nouvelle reforme ayant pour centre un presentateur unique, Joseph Pasteur, qui ressemble ä la vedette an^ricaine: meme äge, meme flegme. La nouvelle formule entre en vigueur ä la fin de l'annee (Mousseau & Brochand 1982, S. 134). 15
Den ersten großen Star der 20-Uhr-Nachrichten gebar TF1 1975 mit Roger Gicquel, dessen Markenzeichen darin bestand, «ä regarder la France au fond des yeux» (Asline 1990, S. 105); beim Blick in die Kamera stellte er sich, nach eigenen Worten, die Augen seiner Mutter als Gegenüber vor (ebd.). Mit Gicquel entstand eine «sp6cificitd franfaise» (Tristani-Potteaux 1983, S. 236ff.), die sich gegenüber dem amerikanischen Vorbild vor allem durch starke Subjektivität auszeichnet und selbst bei amerikanischen Journalisten Ablehnung hervorruft9. Stil und Beliebtheit französischer prasentateurs stehen immer wieder im Zentrum der durch die Programmzeitschrift unter dem Titel «Les journaux tolovisos au bane d'essai» von Zeit zu Zeit vorgenommenen Bewertung von Fernsehnachrichten (Ttttrama n°1872, n°1974, n°1975). Obwohl - oder gerade weil - fast jede Veränderung an der Sendungsgestalt mit einem Sprecherwechsel verbunden ist, im Gegensatz zur Bundesrepublik also eine hohe personelle Fluktuation herrscht, ist sowohl die einzelne Persönlichkeit als auch die Funktion des Nachrichtensprechers Gegenstand von populärem Interesse. So wäre z.B. kaum anzunehmen, daß in der Bundesrepublik ein Roman über den 'Fall' (chute) eines Nachrichtensprechers einen Verleger finden könnte (Drucker 1979). Noch viel weniger wäre anzunehmen, daß ein solcher Roman dann auch noch die Vorlage für einen vierteiligen Fernsehfilm abgeben würde (Faraldo 1988). Nachrichtensprecher sind in der Bundesrepublik Gefangene ihrer Tätigkeitsattribute. Außer gelegentlichen Auftritten in Talkshows oder Spots zur Aidsverhütung haben sie, um die ihnen unterstellte Objektivität nicht zu kompromittieren, sozusagen Medienverbot10. In Frankreich hingegen ist es gang und gäbe, daß noch amtierende oder in Ungnade gefallene Sprecher mit einer anderen Fernsehsendung betraut werden: Christine Ockrent (A2), Qu'avez-vous fait de vos vingt ans?, Carnets de route; Patrick Poivre d'Arvor (TF1): Ex libris (Literaturmagazin); Bernard Rapp (A2): My is rich, neuerdings auch Caractäres, den Nachfolger der fast schon legendären Literatursendung Apostrophes; Noel Mamere (A2): Resistances. Astronomisch auch die französischen Gehälter: als Nachrichtensprecherin erhielt Christine Ockrent bei A2 ein Monatsgehalt von 120000Francs. Für Deutschland ebenfalls schwer vorzustellen ist die Verquickung des Sprecherstatus mit davon nicht ganz unabhängigen 9
10
So schildert z. B. Padioleau (1983, S. 148) die entrüstete Reaktion eines in Paris tätigen amerikanischen Korrespondenten auf ein von diesem selbst zitiertes Beispiel aus französischen Fernsehnachrichten: Bei einer französischen Militärintervention in Zaire kam es zu grausamen Auseinandersetzungen, die von Kamerateams gefilmt wurden. Es stellte sich die Frage nach der Rechtfertigung der Militärintervention. Diese Frage soll der prasentateur bei der Ankündigung eines Bildbeitrages mit «A elles seules, ces images justifient l'intervention» beantwortet haben; weder derprosentateur noch der Sender werden in dem Beispiel ausgewiesen. V. a. die dritten Programme scheinen sich in Deutschland allmählich den Nachrichtensprechern zu öffnen. So komoderiert z.B. Jan Hofer auf Nord3 eine Unterhaltungssendung und betreut außerdem noch eine eigene Sendung zur Geschichte der JazzMusik. 16
privatökonomischen Interessen: Patrick Poivre d'Arvor unterhält, wie einige seiner Kollegen, eine eigene Fernsehproduktionsgesellschaft. So sehr sind französische Nachrichtensprecher, im Gegensatz zu ihren deutschen Kollegen, im gesellschaftlichen Diskurs präsent, daß einigen von ihnen sogar ein Kosename gewährt ist: la Reine Christine (Christine Ockrent), Yves le Terrible (Yves Mourousi), Bruno la Damesure (Bruno Masure), PPDA (Patrick Poivre d'Arvor), Big Laon oder Zi'zi (LeOn Zitrone). Wie Chansonniers, Schauspieler oder Modeschöpfer sind sie Stimmen im Chor der kulturellen «Voix de la France»11. Die öffentlichkeitsbetonte Stellung von Nachrichtensprechern findet in Frankreich auch in einer ausgeprägten und teilweise auflagenstarken Publikationstätigkeit ihren Ausdruck, die neben Plaudereien aus dem Berufsleben und gesellschaftspolitischen Themen auch Belletristisches umfaßt: Christine Ockrent (1986,1988), Bruno Masure (1987,1989), Claude Sorillon (1987), Noel Mamere (1982, 1988), Hervo Claude (1984, 1986, 1989), Patrick Poivre d'Arvor (1984, 1986, 1987, 1988a, 1988b), Roger Gicquel (1988), Joseph Poli (1987, 1989)... Auch die politischen Parteien haben die Öffentlichkeitswirksamkeit der Nachrichtensprecher für sich entdeckt: bei den Kommunalwahlen des Jahres 1988 standen drei presentateurs auf ersten Listenplätzen. Vielleicht kann man für die kommenden Jahren neben daputes-maires und sonateurs-maires auch presentateurs-maires oder pr sentateurs-d put s erwarten. Mit Dominique Baudis, ehemaligem prlsentateur von Soir3 (FR3) und späterem Bürgermeister von Toulouse, ist jedenfalls ein Beispiel gegeben. 2.2.
Heute und die Tagesschau
Heute und die Tagesschau sind im wesentlichen in einem referierenden Sinne ereignisorientiert. Sie folgen einem recht traditionellen Schema, in welchem die Nachrichtensprecher, außer bei seltenen Schaltgesprächen in Heute, keinerlei Handlungsautonomie besitzen. Die Nachrichtenbeiträge unterliegen allesamt dem Kriterium der Dementierfähigkeit (Muckenhaupt 1988, S. 318), indem sie sich als Ergebnis eines redaktionellen Konsensus auf nachprüfbare Fakten beziehen. Unter der Ereignisoberfläche problematisierende Hintergrundberichte sind äußerst selten. Der dominante Bezugszeitraum von Heute und der Tagesschau ist die unmittelbare Tagesaktualität. Allerdings hat auch bei ARD und ZDF die Einführung des Moderationsprinzips (1978) für die Sendungen HeuteJournal und Tagesthemen den journalistischen Handlungsspielraum erweitert, indem nun auch Hintergrundberichte und Schaltgespräche möglich geworden sind. Auch die sakrosankte Trennung von Bericht und Meinung ist durch den Moderator diffuser geworden. Während für die uns interessierenden französi11
Titel einer Interviewsammlung von Alain de Sodouy und Pierre Bouteiller (1987), in der neben Interviews mit Coluche, Guy Bedos, Bernard Kouchner, Yves Montand, Jack Lang, Pierre Cardin u.a.m. auch ein Gespräch mit Ex-Nachrichtenstar Yves Mourousi zu finden ist.
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sehen Sender eine relativ einheitliche formale Konzeption für Nachrichtensendungen vorliegt, konfrontieren uns ARD und ZDP also jeweils mit zwei unterschiedlichen Konzeptionen, einer traditionellen Nachrichtensendung und einer Journalsendung: Beide Journalsendungen sind quasi als Ergänzungen zu den Hauptausgaben konzipiert worden, vor allem bei den Tagesthemen für ein vergleichsweise kleines Publikum (Muckenhaupt 1988, S. 323).
Bezeichnenderweise liegen sie nach nun mehr als zehnjähriger Existenz immer noch am Rande des prime rime-Bereichs, was darauf hindeutet, daß das avanciertere Konzept der Studiosendung mit einem noch stärker erweiterten Repertoire journalistischer Handlungsmöglichkeiten in näherer Zukunft wohl nicht eingeführt werden wird. Die damit verbundenen Risiken der Personalisierung sowie der partiellen Unvorhersehbarkeit der Entwicklung intramedialer Kommunikationssituationen stehen einem allzu rigiden Nachrichtenbegriff gegenüber: Nachrichten sind Mitteilungen über Ereignise, Vorgänge und Zustände, die sich auf die Wiedergabe von Tatsachen beschränken und Anspruch auf Interesse in der Öffentlichkeit erheben dürfen. Daher tendiert die Nachricht in Wort und Bild stärker als andere Sendetypen zur Objektivität (Radke 1979, S. 71).
Im öffentlich-rechtlichen Bereich herrscht in der Bundesrepublik eine Nachrichtenkonzeption vor, die das Eigengewicht des Mediums im Sinne eines unverstellten Blicks auf die Welt zu reduzieren bestrebt ist. Diese Haltung führt zu stark veränderungsresistenten Sendungsformen, deren archetypische Ausformulierungen Heute und die Tagesschau sind12. Formkonstanz wird einerseits zum Garant für die Wahrhaftigkeit von Inhalten und erzwingt andererseits eine rigidere Inhaltsorientierung an orthodoxen nachrichtlichen Relevanzkriterien, als dies für französische Fernsehnachrichten der Fall ist. Daß genau das, was u. a. Fernsehnachrichten in Frankreich zum Erfolg verhilft, in der Bundesrepublik das Gegenteil bewirkt, zeigt der im Oktober 1973 gestartete Umsetzungsversuch einer neuen Konzeption für Heute. Schon nach kurzer Zeit mußte zu traditionelleren Präsentationsmustern zurückgefunden werden: In einer Pseudo-Werkstattatmosphäre, die dem Zuschauer das Miterleben der Produktion vorgaukeln sollte, agierte ein Moderator, der Themen anriß, dann aber weitergab an kompetente Redakteure, vor allem aber an Korrespondenten der Außenstudios oder an Reporter. In der ersten Woche des Neubeginns geriet die Sendung in eine Hektik, die bei den Zuschauern offenes Entsetzen auslöste und die Rückkehr hinter einen bereits erreichten Standort erzwang {...}. Hier versuchte die Anstalt zu zeigen, wo überall sie Korrespondenten beschäftigte, wohin sie ihre Reporter schicken konnte. Sie versuchte, ihre Omnipräsenz und ihre bewunderungswürdige Aktualität herauszustellen. Aber die Mitarbeiter boten weniger Fakten und Ausblicke: sie präsentierten sich zuerst immer selbst {...). Auf der Strecke blieb die verfassungsmäßige 12
In diesem Zusammenhang ist die Verleihung des Adolf-Grimme-Preises 1990 des Deutschen Volkshochschulverbandes an Hans-Jürgen Friedrichs, Moderator der Tagesthemen, als eine Kritik von außen an Heute und der Tagesschau zu interpretieren.
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Aufgabe, die möglichst objektive Unterrichtung der Bevölkerung über aktuelle Geschehnisse in der Welt, ihre Hintergründe und Zusammenhänge (Straßner 1982, S. 11).
Die im Selbstbild von Heute und der Tagesschau sowie in den Vorstellungen vieler Medienwissenschaftler verankerte Forderung nach objektiver, medial nicht überformter, sondern vom Medium lediglich vermittelter Sicht auf die Welt macht gerade deutsche Fernsehnachrichten zu einem Glaubwürdigkeit stiftenden Zitierobjekt von Fernsehwerbung. Bevorzugte Werbeartikel scheinen dabei Schmerzmittel zu sein13. Werbespots auf dem Hintergrund von Fernsehnachrichten existieren meines Wissens in Frankreich nicht, obwohl die Herstellung von Intertextualität für französische Werbung in mindestens dem gleichen Maße wie für deutsche kennzeichnend ist14. 13
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Derartige Genrezitate versuchen, den Objektivitätsanspruch von Fernsehnachrichten auf produktbezogene Aussagen zu transponieren: Im Frühjahr 1989 war auf S AT. l für sehr kurze Zeit ein Werbespot zu sehen, in welchem der damals im Ruhestand befindliche Tagmc/zaM-Sprecher Karl-Heinz Kopeke vor einem unverkennbar dem Tagesschau-Studio nachempfundenen Dekor in nachrichtlichem Duktus von einem Blatt die Tugenden des Bayer-Schmerzmittels Aktren verlas. Die Einstellungsgröße der Kamera sowie Köpckes Positionierung auf dem Bildschirm entsprachen vollkommen der Tagesschau. 1989/90 strahlte S AT. l auch folgende Schmerzmittelwerbung aus: Ebenfalls in einem simulierten Nachrichtensetting wurde von einer Sprecherin für Ubu-Vivimed geworben. Vor dem Hintergrund eines blue-box-B'üdes verlas sie, wie Kopeke im vorausgehenden Beispiel, die Eigenschaften des Medikaments. Synchron zu ihrer Äußerung wurden die wichtigsten Medikamentattribute neben der Sprecherin eingeblendet. Diese an sich schon ausgeprägte Zeigehandlung verstärkte die Sprecherin durch einen zusätzlichen Fingerzeig auf die Schrifteinblendungen. Während die vorausgehenden Beispiele immer nur Werbung für einen einzelnen Artikel betreffen, wobei die jeweiligen Spots die Gestalt von Nachrichtenmeldungen annehmen, wird im 14tägig ausgestrahlten Schaukasten am Donnerstag im ZDF eine ganze Nachrichtensendung imitiert, innerhalb derer, so als ob es sich um einen reinen Informationsservice und nicht um versuchte Persuasion handelte, für eine ganze Reihe unterschiedlicher Produkte geworben wird. Die Heterogenität der Nachrichtenwelt legitimiert die Heterogenität der Produktwelt. Diese Nachrichten aus dem Reich des Konsums imitieren nachrichtentypische Techniken und Textformen: blue-box Bilder, Schrifteinblendungen, Bildinserts, Sprechermeldungen, Bildbeiträge. Sogar der öffentliche meta-mediale Diskurs wird in Frankreich als Kreativitätsreservoir in Anspruch genommen. Ein beredtes Beispiel ist die 6 Sekunden kurze Fernsehwerbung für die Kinderbekleidungsmarke «Z»: Auf dem Bildschirm eines Fernsehgerätes sind farbenfroh gekleidete Kinder bei verschiedenen spielerischen Aktivitäten zu sehen. Vor dem Fernseher liegt eine Fernbedienung, mit der Kinder in schnell aufeinanderfolgenden Abständen das 'Programm' umschalten. Es sind dann jeweils andere Kinder bei anderen Spielaktivitäten zu sehen. Der seh- und hörbare Werbeslogan lautet: «Z, pour les Z'enfants zappeurs». Der Spot kehrt das in Frankreich wie in der Bundesrepublik gleichermaßen vehement diskutierte Phänomen des kindlichen Vielsehens frechweg in ein Identifikationsangebot um. Ein wesentliches Element in der französischen Diskussion ist das Buch der sozialistischen Parlamentsabgeordneten Sögolene Royal (1989): Le ras-le-bol des bebe's zappeurs. Tele-massacre: l'overdose?, auf dessen Titel, so darf vermutet werden, sich der Werbeslogan beruft. 19
2.3.
Französische und deutsche Nachrichtenforschung
Es kann nicht Ziel der folgenden Ausführungen sein, eine vollständige komparative Bestandsaufnahme der Nachrichtenforschung in beiden Ländern vorzulegen. Ein derartiges Unterfangen müßte Gegenstand einer eigenständigen Arbeit sein, die v. a. für Frankreich die Sichtung einer beträchtlichen Menge grauer Literatur zu beinhalten hätte. Was hier geleistet werden soll, ist lediglich eine stark gewichtende Reduktion auf in differentieller Sicht wesentliche Aspekte. Den state of the art der französischen Massenkommunikationsforschung generell - von Balle & Cappe de Baillon (1983) als «emerging discipline» bezeichnet - qualifiziert A. Mattelart wie folgt: Communication research in France lacks a broad data base, emphasizes reductionist aspects, and remains largely inspired by linguistic, psychosociological and cybernetic approaches (1983,8.61).
Was Mattelart als «linguistic» bezeichnet, wäre besser semiotisch zu nennen und die «psychosociological» Komponente eher als diffus sozialphilosophisch-ideologiekritisch zu bezeichnen. Diese beiden Pole, Semiotik und im weitesten Sinne Soziologie, kennzeichnen nach B.Miege (1986a, S. 8) auch die französische Auseinandersetzung mit Fernsehnachrichten, die im Vergleich zur Bundesrepublik allerdings jüngeren Datums ist. Noch 1983 meinte E. Veron mit dem Duktus des Pioniers: II s'agit d'explorer un domaine nouveau, avec tous les risques que cela comporte: objet familier dans l'exporience quotidienne de millions de personnes le 'JT (comme on dit) s'avere d'une complexite" redoutable, ayant attrappe" dans une cassette videO quelques exemplaires de son espece (...) (ebd., S. 98).
Natürlich wurde auch vor diesem Zeitpunkt viel zu Fernsehnachrichten publiziert, jedoch geschah dies vorwiegend im generelleren Rahmen der Untersuchung von Medieninformation oder des Fernsehens schlechthin. Entsprechende Publikationen gleichen eher einem semiotisch-soziologisch-kulturkritisch-ideologiekritisch- historischen Rundumschlag. Der Hauch eines - durchaus instruktiven - Alles-und-Nichts haftet auch Leblanc (1987), einer der wenigen Ganzschriften zu französischen Fernsehnachrichten, an. Ebenfalls hinzuweisen ist auf die große Zahl von Buchveröffentlichungen und Presseartikeln (v. a. in Le Monde, Le Monde Diplomatique und Liberation) aus der Feder von Fernsehjournalisten und Präsidenten von Sendeanstalten, in denen häufig auch Fernsehinformation thematisiert wird15. Die Fragestellungen an Fernsehnachrichten sind in der Bundesrepublik einerseits spezifischer, v. a. aber anders ausgerichtet als in Frankreich. Fernsehnachrichtenforschung setzte früher und intensiver ein16. Im Vordergrund stehen 15
16
Einen relativ gut dokumentierten Literaturüberblick bieten die Literaturverzeichnisse in Balle (1990) und Bourdon (1990). Vgl. den Literaturbericht von Straßner (1981) sowie Straßner (1975 u. 1982), Friedrich (1977), Wember (1976), Renckstorf (1977 u. 1980), Renckstorf & Rohland (1980). 20
Probleme der Verständlichkeit (Präsentationsform), des tatsächlichen Verstehens, der Objektivität und Selektion dargebotener Information. Einen eindeutigen Schwerpunkt bilden verstehens- und verständlichkeitsorientierte Untersuchungen zur Nachrichtensprache und zu nachrichtlichen Präsentationsformen allgemein, die in der Regel mit handwerklichen Ratschlägen an die 'Macher' verbunden sind17. Erstrebt wird «perfectly transparent communication» (Hall 1980, S. 135) Entsprechende Gestaltungsvorschläge liegen sporadisch auch für Frankreich vor, etwa in de Ciosets (1980), beruhen jedoch eher auf Intuitionskriterien. Bezeichnenderweise zitiert Bautier (1986) in seinem Forschungsüberblick zu französischen Fernsehnachrichten im Zusammenhang von Verständlichkeits-/Verstehensforschung nur eine einzige Studie, zudem eine skandinavische, die von Findhai & Höijer (1981). Sogar in dem 1990 in fünfter Auflage erschienenen und fast 700 hundert Seiten starken Überblickswerk 5 et sociätos des Soziologen Francis Balle ist keine einzige Studie zu Verstehen und Verständlichkeit von Medieninhalten erfaßt. Als Ergebnis von über einem Dutzend Anrufen in den Forschungsabteilungen von A2 und TF1 verwies man mich mit einem «nous, on fait pas de fa» an irgendwelche «e"coles de communication: peut-Stre que lä...». Es soll hier nicht behauptet sein, daß derartige Studien in Frankreich an keiner Stelle unternommen wü(u)rden, auf jeden Fall aber sind sie zumindest seltener und bilden keinen Topos im wissenschaftlichen Diskurs über Fernsehnachrichten. Für die Bundesrepublik sollen entsprechende Ansätze im folgenden exemplarisch anhand von zwei scheinbar gegensätzlichen Arbeiten vorgestellt werden, der empirischen Untersuchung von Wember (1976) und dem Forschungsmodell von Muckenhaupt (1988). Wie der Untertitel seines Filmes/Buches verrät, ist Wembers Unterfangen von einem inquisitorischen Geist getragen: er führt einen «Indizienbeweis». In Informationsfilmen des Fernsehens werden laut Wember entscheidende Informationen (was ist das?) nur bis zu 20% verstanden (auch hier: was bedeutet das?) und behalten (idem), obwohl der subjektive Verstehenseindruck von Testpersonen bei 80% liegt (S. 12)18. Schuld daran müssen irgendwelche «Schadstoffe» sein, welche «die Information kaputt machen» (S. 13). Als solche stellen sich dann zu viele und unmotivierte Schnitte, Kamerabewegungen und Wechsel von Einstellungsgrößen heraus, wodurch di'e Bilddynamik für den Zuschauer verarbeitungserschwerend beschleunigt wird. Zusätzlich verhindert die sog. Bild-Text-Schere, d.h. die inhaltliche Divergenz von Bild- und Verbalinformation, ein adäquates Bild-Text-Verständnis (S. 43ff.). Als eine Alternative stellt Wember einen Modellfilm zur Diskussion, der ausschließlich mit animierter Graphik arbeitet und in welchem zentrale Passagen des Kommentartextes als Schrift eingeblendet werden (S. 72ff.). Hier ist offensichtlich ein idealisierter Zuschauer vorausgesetzt, der von seiner Informationssendung als Gratifikation nichts anderes als Wissenszuwachs erwartet. 17 18
Die einschlägige Literatur ist recht vollständig in Nessmann (1988) erfaßt. Zu einer eingehenden Kritik an Wember s. Muckenhaupt (1988, S. 245-263).
21
Seine Rolle ist auf die eines Informationsverarbeitungssystems reduziert. Information wird derart geglättet, daß sie nur noch enzyklopädisch zur Kenntnis genommen werden kann. Muckenhaupt (1988, 263ff.) verwirft den Wemberschen Ansatz zugunsten eines dialogisch orientierten Modells, in welchem die Nachrichtenproduzenten bei der Konzeption von Nachrichtenbeiträgen davon auszugehen haben, daß sie vom Zuschauer in «virtuellen Dialogverläufen» (S. 367) auf «informationsspezifische Handlungsmaximen» (S. 265), die der Wahrheit, der Informativität, der Relevanz, der Verständlichkeit und der Aktualität (S. 266), im wesentlichen also auf die bekannten Konversationspostulate von Grice, festgelegt werden können. Für empirische Untersuchungen schlägt er Gespräche mit Zuschauern vor, in welchen diese die dargebotene Information nach den o. g. Kriterien zu beurteilen haben. Als Beispiel seien hier Fragen aus einem solchen Gespräch reproduziert (S. 306f.): «Kannst Du mal versuchen, den Ablauf von der Berichterstattung ein bißchen zusammenzufassen, wie ist denn das abgelaufen, was kam zuerst?» «Kannst Du dich an die Bilder noch ein bißchen erinnern? Was hast denn du so gesehen?» «Ja, hast Du das Gefühl g'habt, daß dieses Bildmaterial, daß das Dir sehr viel gebracht hat?» «Ja, was glaubst Du, warum zeigen die Dir das Material, aus welchen Gründen?» «Was glaubst Du, wer die Bilder gemacht hat oder wo die herkommen?» «Ja, hätt's in dem Zusammenhang von dem Bericht, hält's da irgendwas gegeben, was Dich besonders interessieren (würde) - oder was Dir in dem Bericht gefehlt hat?»
Die Stoßrichtung ist deutlich: was bei Wember von oben normativ gesetzt wird (Verstehen, Verständlichkeit, wichtige Information etc.), soll bei Muckenhaupt aus Gesprächen mit Rezipienten generiert werden. Dieses Verfahren ist mit etlichen Fragezeichen zu versehen. Es stellt sich zunächst einmal das übliche Problem der Stichprobenauswahl (Berufsstand, Bildungsgrad, Gewohnheiten im Umgang mit Information, Medienkonsum etc.). Problematisch erscheint auch, wie die in Abhängigkeit von unterschiedlichen Stichproben als unterschiedlich zu erwartenden Ergebnisse von den Machern umgesetzt werden sollen. Außerdem müßte sicherlich eine ausgefeiltere Fragetechnik entwickelt werden. Fragen wie «Hast Du das Gefühl g'habt, daß dieses Bildmaterial, daß das Dir sehr viel gebracht hat?» sind, obwohl sicherlich bewußt so offen gewählt, viel zu unspezifisch und darüber hinaus suggestiv. Zudem dürfte hier soziale Erwünschtheit im Antwortverhalten der Befragten eine Rolle spielen. Gerade bei Untersuchungen zur Qualität der Medieninformation kann selbst der einigermaßen unbedarfte Informant davon ausgehen, daß es sich um eine medienkritische Studie handelt, die einmal mehr belegen will, daß schlecht informiert wird. Man stelle sich im Gegenzug eine Untersuchung vor, als deren Ziel den Informanten die Aushebelung des vermeintlich hartnäckig implantierten Vorurteils vorgegaukelt würde, nach welchem die tagesaktuelle Berichterstattung des Fernsehens einen willkürlichen Umgang mit Bildern praktiziere, die Bild-TextSchere zu weit auseinanderklaffe und das Verarbeitungsvermögen der Zuschau22
er überstrapaziert würde. Mit den zu erwartenden Ergebnissen könnten die Nachrichtenmacher sicher zufrieden sein. Viel wichtiger als Detailkritik ist jedoch die Tatsache, daß sowohl Wember als auch Muckenhaupt aus ganz unterschiedlichen Positionen heraus eine Normierung anstreben: die nachrichtliche Wahrnehmungsvorlage soll in bezug auf die zu erfassende Realität eindeutig gestaltet werden. Trotz subjektzentrierter Redeweise bei Muckenhaupt - er spricht z.B. von «virtuellen Anschlußmöglichkeiten des Adressaten auf berichtspezifische Handlungen» (S. 369) - manifestiert sich hier «die einfachste Version einer Zeichentheorie {...), welche besagt, das Zeichen sei ein Ding, das für ein anderes Ding stehe, für seine Bedeutung: aliquid statpro aliquo» (Trabant 1989, S. 26). Es ist hier die gleiche Kritik anzubringen, die Derrida dem Leibnizschen Versuch einer Universalsprache (Charakteristika) entgegenhält, die nämlich, daß derartige Versuche zu nichts Geringerem führen als zu einem «'depassement' de la parole par la machine» (Derrida 1967, S. 117). So beurteilt auch Schmitz als Ergebnis einer ausführlichen linguistischen Analyse die Bedeutungskonstruktion der Tagesschau «als eine Art Maschine {...}, die auf nicht kreative Weise unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln macht» (1989, S. 196). Daß Verständlichkeitsforschung in der Bundesrepublik, ganz im Gegensatz zu Frankreich, auf eine erfüllte Karriere zurückblicken kann, dürfte weniger in irgendwelchen nationalen Idiosynkrasien der Forschergilden begründet sein als in der Weise, wie sich der Forschungsgegenstand selbst zu erkennen gibt. Schon die wenigen und bisher nur sehr episodisch eingestreuten Beispiele legen die Vermutung nahe, daß deutsche und französische Fernsehnachrichten mit anderen Selbstansprüchen antreten. Für die Bundesrepublik sind hier immer wieder Neuigkeit, Relevanz, Objektivität und Verständlichkeit anzutreffen. Die Transparenz des Gattungsanspruchs macht es Medienforschern leicht, ihr Tätigkeitsfeld abzustecken. Anders in Frankreich, wo Fernsehnachrichten selbstverständlich auch für sich in Anspruch nehmen, relevant, aktuell, objektiv und verständlich zu informieren. Dies wird jedoch immer nur halbherzig und eher beiläufig, sozusagen des guten mediakratischen Tons halber, geäußert. Zudem ist hier ganz offensichtlich für Fernsehnachrichten auch ein Unterhaltungskriterium akzeptiert19. Das sich in seiner Vielfältigkeit diffuser anbietende Objekt löst eine weniger stringent orientierte Forschung aus. So entsteht oft, wenn von Fernsehnachrichten die Rede ist, der Eindruck, daß nicht Nachrichten gemeint sind, sondern durch sie hindurch Fernsehen generell. Den Hintergrund hierfür bildet letztendlich die Dichotomic 'Realität vs. Fiktion' und in Verbindung 19
Daß bestimmten französischen Nachrichteninhalten in der Bundesrepublik wenig Akzeptanz entgegengebracht würde, belegte am 1. September 1990 Michael Schanze in seiner Unterhaltungssendung Flitterabend (ARD). Schanze zeigte einen Bildbeitrag aus nicht näher spezifizierten französischen Fernsehnachrichten - es handelte sich um einen Bericht über eine Nudistenhochzeit - und wurde dabei nicht müde, immer wieder zu betonen, daß derartiges tatsächlich in französischen Fernsehnachrichten zu sehen sei.
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damit das Problem der Abbildbarkeit von Realität, das in Zusammenhang mit dem der erkenntnisgerichteten Tauglichkeit ästhetischer Mittel zu sehen ist. Hiermit wiederum sind auch ganz konkrete mediengeschichtliche Machtkämpfe zwischen Regisseuren und Journalisten verbunden. Erstere, in der Stammessprache des Fernsehens «saltimbanques» genannt und in den 50er und 60er Jahren unter der historisch gewordenen Bezeichnung ecole des Buttes-Chaumont, «sorte de classicisme franfais, traverse ici et lä d'un oclair de lyrisme» (Lestrohan 1986, S. 104; vgl. auch Bourdon 1990, S. 117ff. u. Lucot 1989), populär geworden, stehen für die künstlerische Seite des Fernsehens. Die Journalisten, stammessprachliche Gegenbezeichnung zu den «saltimbanques»: «goometres», werden eher mit Meidentechnizismus und Kommunikationsercg/neering assoziiert. Französische Fernsehnachrichten haben von beiden etwas, von den «saltimbanques» und von den «geometres». In deutschen Fernsehnachrichten fehlt jedoch der cöte saltimbanque. Ein Plädoyer wie das folgende, das sich für größere Freiheit von Kameraleuten im Nachrichtenkontext einsetzt, scheint mir im Rahmen deutscher Medienwissenschaft ausgeschlossen: A la place d'une tolovision de journalistes - ce qui me parait un mot de trop, soit vision, soit Journal - je souhaite done qu'on en vienne ä une tdovision d'oporateurs, une operation pleinement de~veloppee de la communication visuelle/auditive ä distance (Gaudul986,S.79).
In diesem Zusammenhang ist auf die französische Tradition des künstlerischen Dokumentarfilms zu verweisen (vgl. CinamAction n°41,1987), dessen Ästhetik auch Fernsehnachrichten nicht unberührt gelassen haben dürfte. Hier sind Namen wie Agnes Varda, Jeanne Labrune, Jean-Claude Bringuier, Barbet Schroeder, Raymond Depardon, Chris Marker oder auch Jean Rouch zu nennen. 2.4.
Medienhistorische und medienpolitische Aspekte
Als 1952 in der Bundesrepublik die erste Tagesschau ausgestrahlt wurde, war deren Redaktion in zwei Kellerräumen der Neuen Deutschen Wochenschau untergebracht. Die Tagesschau hatte anfänglich keine eigenen Kameraleute und Reporter, so daß sie ihr Bildmaterial von der Wochenschau übernehmen mußte, von der sie erst 1955 organisatorisch unabhängig wurde (vgl. Herrendoerfer & Scharlau 1990). Die ersten französischen Fernsehnachrichten wurden 1949 ausgestrahlt. Ihnen stand von Anfang an, wenn auch in spärlichem Umfang, eine eigene Infrastruktur zur Verfügung (vgl. Mousseau & Brochand 1982, S. 25f.). Dennoch gilt auch hier eine starke konzeptionelle Verhaftung in der Wochenschau, v. a. hinsichtlich der Rigidität der Rubrikenbildung: Les diverses rubriques des Actualitos organisent Tevenement selon les regies d'un shema proalable. Le classement, la ventilation des nouvelles ne se font pas en fonction de leur originalite, mais selon des categories proetablies qu'il faut retrouver chaque semaine. Si l'evenement se definit comme la rupture qui mettrait en cause l'equilibre sur lequel les societes en place sont fondees, celui des Actualites est exactement le 24
contraire: il ne peut pas 6tre une rupture puisqu'il a proalablement choisi, traitd, pour s'ajuster ä une rubrique. II est done 'digoro' par une forme. Tout comme le spectateur d'un western, d'un film noir, est convie" ä voir fonctionner les lois du genre, le spectateur des Actualitos (c'est le meme) est invito ä retrouver celles du 'Journal' (Sauvage & Mar£chal 1982, S. 31).
Das Gießen der Welt in vorgefertigte Formen läßt H. M. Enzensberger von der deutschen Nachkriegswochenschau als einer «Scherbenwelt» sprechen (1962). So gibt er etwa folgendes Urteil von der Verarbeitung krisenhaften Geschehens durch die Wochenschau: Das scherbenhafte, das sich formal schon im atomistischen Bau der Wochenschau anmeldet, wird hier zu guter Letzt thematisch. Merkwürdig genug: selbst hier, in ihrer sadistischen Konvulsion, wird Geschichte ungeschichtlich erfahren. Die politische und militärische Katastrophe, an der sich der Zuschauer ergötzt, wird als Naturereignis geschildert: niemand ist schuld an ihr. Niemand kann sie verhindern oder beeinflussen. Ein Krieg bricht aus, wie ein Vulkan ausbricht; Partisanen werden ausgeräuchert wie Heuschrecken (ebd., S. 96).
Enzensbergers kritisches Urteil wird für die französische Wochenschau von Gili (1970) aufgegriffen und prinzipiell geteilt. Allerdings sieht Gili, an die oben wiedergegebene Passage aus Enzensberger anknüpfend, einen Ausprägungsunterschied zwischen Deutschland und Frankreich: Une semblable vision de l'histoire suppose la croyance dans un destin qui dopasse les initiatives humaines, la demission face ä une fatalite" contre laquelle il n'y a rien ä faire; cette perspective contient implicitement l'annulation de toute responsabilito et done de toute culpabilitö. L'Allemagne doit etre conside*r6e comme un cas limite, toutefois, en dehors de quelques exces propres ä un pays marquo par le nazisme, la plupart des actualitos (gem.: die frz. Wochenschauen, R. B.) ne sont pas tres loin des types dofinis par Enzensberger (ebd., S. 89f.).
Obwohl es hier um die Kinowochenschau geht, ist doch zugleich auch ein wichtiger Hinweis für das Verständnis der heutigen Unterschiedlichkeit der Ausformung von Fernsehnachrichten in Deutschland und Frankreich gegeben. Es g(a)ilt, in der Bundesrepublik - eingedenk geschichtlicher Lasten - im Informationsbereich den Eindruck totalitärer Informationspraxis gar nicht erst aufkommen zu lassen, dem Vorwurf möglicher Manipulation und Ideologielastigkeit von vorneherein jegliche Grundlage zu entziehen. Das Fernsehen sollte «zur Gesundung der deutschen Seele» beitragen, wie dies der erste bundesrepublikanische Postminister, Hans Schuberth, ausdrückte (Herrendoerfer & Scharlau 1990). Dies hatte mit inhaltlich Unverfänglichem einerseits, andererseits aber auch durch unabhängige und objektive Information zu geschehen, die sich allerdings mit der sichtbaren Oberfläche der Dinge begnügte. Ein entscheidendes Moment ist, daß sich das deutsche Nachkriegsfernsehen als von den jeweiligen Regierungen weitgehend unabhängige öffentlich-rechtliche Anstalten konstituierte. Frei von staatlichen Pressionen und Zensur konnten Fernsehnachrichten über die Zeit, im wesentlichen nur von der Negativerfahrung nationalsozialistischer Informationspolitik belastet, ihre Genrespezifik entwickeln. Anders in Frankreich. Hier unterlag Fernsehen lange Zeit einer ausgepräg25
ten Einflußnahme durch die Regierung. Besonders die Ära de Gaulle zeichnete sich durch ausgiebige zensorische Aktivität aus (vgl. Bombardier 1975 u. Bourdon 1990). So soll der General, um hier nur ein konkretes Beispiel zu geben, persönlich die Absetzung der Sendung La camara explore le temps erwirkt haben, weil diese ein zu wenig respektvolles Bild großer geschichtlicher Persönlichkeiten zeichnete (Lestrohan 1986, S. 104). Ab 1964 wurden Nachrichten sogar von einer interministeriellen Stelle (S. L. 1.1., Service de liaison interministdriel de Vinformation) kontrolliert (vgl. Bourdon 1990, S. lOff.)20. Die Schaffung von zwei konkurrierenden Nachrichtenredaktionen (1969) leitete über den Weg der Dezentralisierung eine allmähliche Liberalisierung der Berichterstattung ein. Die Zerschlagung des 1964 gegründeten O. R. T. F. (Office de radiodiffusion-tolevision franqaise) im Jahre 1974 ließTFl, A2 und FR3 als voneinander unabhängige Fernsehanstalten entstehen. Als zwischen Staat und Sendeanstalten geschaltete Institution übte die Haute autorito de l'audiovisuel Kontrollfunktion aus. Sie wurde 1986 von der C. N. C. L. (Commission nationale de la communication et des libertos) ersetzt. Dieser folgte 1989 der C. S. A. (Conseilsuparieur de l'audiovisuel)21. Das Geschick französischer Fernsehnachrichten ist eng mit den großen Magazinsendungen der 60er Jahre wie Cinq colonnes ä la une (TF1, Erstausstrahlung am 9. Januar 1959) und Zoom (A2, Erstausstrahlung am 23. Dezember 1965) verbunden, die sich, das gilt v. a. für Zoom, durch einen subversiven Umgang mit der Regierungszensur auszeichneten: Une petite guorilla opposait en permanence l'oquipe de Zoom aux censeurs: Zoom avait parfois de faux sommaires, et Claude Contamine, directeur de l'ORTF, apprenait le vrai contenu le matin m6me de la diffusion, dans les joumaux. Lors de projections privies devant les membres des cabinets mihistöriels, il arrivait fre"quemment que la bobine ne füt pas montde ou que le projecteur füt en panne - par hasard (Breton 1982, S. 73).
Mit der zunehmenden Liberalisierung der Fernsehinformation verloren derartige Sendungen an Attraktivität. Gleichzeitig erweiterte sich der journalistische Handlungsspielraum von Fernsehnachrichten. Allerdings war Liberalisierung auch gleichbedeutend mit Konkurrenzkampf. Für Fernsehnachrichten hatte dies eine absurde Konsequenz: nach jahrelanger Regierungskontrolle konnte 20
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Jean Leprette, der erste Leiter des S. L. 1.1. beschreibt folgendermaßen die Tätigkeit seiner Dienststelle: «II s'agit d'une sorte de commission d'experts siogeant quotidiennement pour faire le point de l'information dans tous les secteurs de l'activite' gouvernementale. A cette rdunion sont reprosentos les ministres dont action intiresse directement l'opinion: Affaires Etrangeres, Finances, Agriculture, Arm6es, Education Nationale, Justice, Intorieur, Travail etTravaux Publics. Les correspondants des autres dopartements se joignent aux premiers une fois par semaine en se"ance planiere» (zit. nach Bourdon 1990, S. 100). Zur Veränderung der Rundfunk- und Fernsehlandschaft unter Mitterrand s. Ott (1990). Entgegen dem Titel (Die Liberalisierung des französischen Rundfunks unter Franqo'is Mitterrand), der dies nicht unbedingt vermuten läßt, geht es doch vornehmlich um Fernsehen. 26
nun zwar einigermaßen freizügig informiert werden, jedoch ist politische Information nicht unbedingt ein Publikumsmagnet. Diesem Umstand kam die Medienpolitik des de Gaulle-Nachfolgers Georges Pompidou voll entgegen: Unter der zweiten, betont konservativen, Phase der Präsidentschaft Georges Pompidous, der den ORTF zur offiziellen 'Stimme Frankreichs' ('la voix de la France') erklärt hatte, beklagte das Fernsehen im Vgl. zur Prestigepolitik unter de Gaulle einen deutlichen Qualitätsverlust. Die Umstellung auf ein betont anspruchsloses, unkritisches Unterhaltungsfernsehen (Generalintendant A. Conte: 'Que chante la France, que fasse rire les Francais') wurde mit dem sog. Publikumsgeschmack gerechtfertigt (Schmidt et al. 1983, S. 141).
Kollidierte in den Vorjahren eine journalistische Informationskonzeption: L'information n'existe pas en soi. Elle est le produit d'une situation historique et doit etre examin6e avec prudence et scepticisme. C'est dans ce travail de distanciation que le journaliste exerce sä competence et marque sä presence (Missika & Walton 1983, S. 104).
mit der Informationskonzeption der politischen Macht: Pour le pouvoir politique, l'information est indissociablement li£e ä l'idoe de conviction. Informer c'est faire admettre sä representation du monde; c'est expliquer son action, la justifier et la faire accepter (ebd.).
sah sich journalistisches savoir-faire jetzt verstärkt dem vermeintlichen Publikumsgeschmack ausgesetzt. Fernsehnachrichten machten konzeptionelle Anleihen bei Magazin- und Reportagesendungen, integrierten Elemente von Debattensendungen (mit in Nachrichten eingeladenen Studiogästen wird bisweilen in der Tat eine diskursiv etwas härtere Gangart angeschlagen), bewahrten aber auch Aspekte der Wochenschau, was v. a. im Inhaltsbereich Spuren hinterließ. So sind Story-Titel, wie sie Enzensberger für die deutsche Nachkriegswochenschau anführt, französischen Fernsehnachrichten nie ganz fremd geworden: Dressierte Affen, die Pfeife rauchen und Klavier spielen; Der zweijährige John legt Männer auf die Ringmatte; Erstes Hotel für Hunde in Berlin; Weiblicher Stierkämpfer wird auf die Hörner genommen; Auch Elefanten müssen zum Finanzamt (Enzensberger 1962, S. 91).
2.5.
Das journalistische Selbstbild
Französischer Journalismus zeichnet sich durch das Fehlen einer stringenten Trennung von Meinung und Faktendarstellung aus. In ihrer diesbezüglichen Eigenwilligkeit wird die französische Informationsstilistik auch von in Frankreich tätigen Ausländskorrespondenten wahrgenommen, wie dies deutlich als Ergebnis einer von Jean Padioleau (1983) durchgeführten Umfrage zum Ausdruck kommt: Pour tout dire, le diagnostic des correspondants frise l'unanimitf. Un premier trait les frappe: le journalismue francais de politique intorieure excelle dans l'opinion. Les formules des Amdricains ('Les journalistes qui s'intdressent en France ä l'information
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pure, cela n'existe pour ainsi dire pas'; 'Dans ce pays, ce que vous pensez est plus important que ce que vous savez') font 6cho aux commentaires d'un confrere allemand: 'L'informtion est pratiquement partout dominoe par 1'opinion. J'exige qu'un journaliste sincere et valable s'efforce de faire la distinction entre l'information et 1'opinion'(Ebd., S. 148).
Das Fehlen einer trennscharfen Linie zwischen Kommentar und Meinung ist nun keineswegs auf irgendeine im- oder explizite journalistische Konvention zurückzuführen22. Das Gegenteil ist der Fall: Le passe" recent du journalisme, en France, älteste son incapacito ä se ddfinir comme une authentique profession, entendue ici comme une occupation reconnue, soumise ä une autod^termination et ä un controle des pairs ä l'aide d'une deOntologie rigoureuse (Rieffei 1987, S. 70).
Für Rieffei23 ist das Fehlen sozialer Anerkennung die Ursache dafür, daß sich Journalisten verstärkt dem Ideal des Intellektuellen anzunähern suchen, was die ohnehin diffusen Konturen des journalistischen Feldes weiter verschwimmen läßt. Im gleichen Sinne äußert sich auch Guillebaud: Le journalisme a d'abord päti d'une longue fatalite1 historique: l'absence de vraie le'gitimite', de respectabilitlrecoTome,, de tradition en quelque sorte: la journaliste, dans la francaise, n'est pas seulement l'attributaire d'une fonction abstraite, c'est aussi un citoyen de chair et d'os en quete de reconnaissance, soucieux d'identification et de tegitimite' sociale. Or le tres vieux daficit de respectabilite" dont il souffre le pousse, aujourd'hui encore, ä qu6ter une respectabilite" d'emprunt (1990, S. 151).
Was Nachrichtenjournalismus betrifft, findet diese These Bestätigung in der regen Publikationstätigkeit der prosentateurs und darin etwa, daß Nachrichtenstar Patrick Poivre d'Arvor eine eigene Literatursendung, Ex libris (TF1), moderiert. Auch Bernard Pivots Nachfolger im Literaturmagazin Apostrophes (A2), Bernard Rapp, ist ehemaliger pr&entateur24. Nun sind die prosentateurs aber die ohnehin am höchsten reputierten und dotierten Nachrichtenjournalisten, so daß sich die Frage stellt, wie die anderen an Nachrichten beteiligten Journalisten das von Rieffei und Guillebaud unterstellte Minderwertigkeitsgefühl bewätigen. Die Antwort ist in so manchem exaltierten Nachrichtenbeitrag zu finden, der sich eher durch einen Willen zu darstellerischer Originalität auszeichnet als durch journalistische Qualität. Das Bestreben, mehr als einfacher 'Nachrichtenfritze' zu sein, manifestiert sich bis in die unsichtbaren Ebenen der Nachrichtenproduktion. So hat nun auch Jacques Asline, Regisseur der 20Uhr-Nachrichten vonTFl, eine Buchveröffentlichung vorgelegt: La bataille du 22
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Für Rigis Debray handelt es sich nicht um eine mehr oder weniger kontingente Eigenart der französischen Presse, sondern er sieht hier einen Zug französischer Mentalität am Werk: «Le caractere franfais, encore aujourd'hui, reste plus enclin ä juger qu'ä regarder et accorde plus de prix ä appreciation moralisante qu'ä l'analyse concrete» (zit. nach Tristani-Potteaux 1983, S. 236). Vgl. grundsätzlich auch Rieffei (1984). Die Nachfolgersendung von Apostrophes heißt Caracteres und ist mittlerweile auf FR3 angesiedelt.
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vingt heures (1990). Wenn empirisch auch nicht überprüfbar, ist es doch wahrscheinlich, daß die häufigen, oft nur minimalen, Gestaltänderungen französischer Fernsehnachrichten zumindest teilweise auch der Psychologie der am Nachrichtenprozeß Beteiligten entspringen. Wahrscheinlich setzt sich hier unterschwellig sogar der historische Konflikt zwischen «saltimbanques» und «geOmetres» fort. Die Angst, gegenüber den Geistesgrößen des Landes als bloße mechanische Exekutanten eines nicht vorhandenen Informationskodex zu verblassen, führt zu einer Berufsauffassung, die tendenziell den Bericht der (Selbst)Darstellung unterordnet. Hierfür einfach nur die Journalisten verantwortlich zu machen, wäre allerdings zu kurz gegriffen, denn damit diese so handeln können, wie sie es tun, muß eine Gesellschaft vorhanden sein, die das toleriert, vielleicht sogar als Verkörperung eines der sie tragenden Ideale betrachtet. Dieses Ideal könnte man personale Polyvalenz nennen; Hall & Reed Hall (1984, S. 56) charakterisieren Franzosen im Gegensatz zu Deutschen als polychron, womit die Befähigung zur simultanen Ausübung unterschiedlicher Tätigkeiten gemeint ist. Personale Polyvalenz, Polychrome oder - für unseren Kontext banaler gefaßt - das Streben danach, nicht als einseitig verbildet zu erscheinen, ist nicht nur für Journalisten kennzeichnend. So steht auch außer Zweifel, daß eine Liste der Buchpublikationen französischer Spitzenpolitiker, hierunter fällt auch Belletristik, um einiges länger ausfallen würde als ihr bundesrepublikanisches Gegenstück. Auch das Bild des Intellektuellen ist in Frankreich stärker als in der Bundesrepublik von Polyvalenz geprägt25. Wenn auch mit Sartre die Zeit des politisch-ideologischen Engagements abgeschlossen scheint, suchen Intellektuelle heute immer noch und immer mehr den über die Fachwelt hinausreichenden Kontakt mit dem öffentlichen Leben und erhalten über die Medien verstärkt Gelegenheit dazu26 (man betrachte etwa die Gästeliste von Bernard Pivots Apostrophes21 von Fr6d£ric Mitterrands Du cötide chez Fred oder von Jacques Chanceis Radioscopie).
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Fast alle der in letzter Zeit in Frankreich zahlreich erschienenen Bücher zum Phänomen des Intellektuellen verweisen darauf, daß der Begriff intellectuel in Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre als öffentlichkeitswirksamer Kampfbegriff (leparti intellectuel) gegen eingesessene Eliten entstanden ist (vgl. Ory & Sirinelli 1986 u. Charle 1990). Diese Entwicklung ist allerdings weit davon entfernt, einhellige Zustimmung hervorzurufen. Stellvertretend für viele kritische Stimmen sei Guillebaud (1990, S. 149) zitiert: «Ce triomphe apparent du 'journalisme' sur les sciences humaines, cette revanche bavarde de l'audiovisuel sur l'Universite", de l'image hagarde sur le concept, ce n'est pas tout ä fait ce que nous esporions.» Vgl. auch Debray (1979), der in der massenmedialen Vermarktung der Intellektuellen das Ende der Intelligenzija sieht. Hier sind neben ausgesprochenen Literaten auch prestigeträchtige Namen wie P. Bourdieu, R. Debray, M. Foucault oder R. Barthes zu finden. Eine für den Zeitraum von 1975 bis 1985 vollständige Gästeliste ist in Nel (1988, S. 182ff.) aufgeführt. 29
3.
Andere Informationssendungen
Innerhalb der Gesamtheit des Sendegeschehens wird die ereignisbezogene Berichterstattung von Heute und der Tagesschau durch politische Magazinsendungen ausgewogen. In Panorama, Monitor, Report u.a. wird ein investigativer Journalismus praktiziert, der unterhalb der Ereignisoberfläche recherchiert und dessen Handlungsmaxime neben Information auch Enthüllung heißt. In der gegenwärtigen französischen Programmstruktur sind derartige thematisch heterogene Magazinsendungen kaum vorhanden. Ihre Funktion wird weitgehend von Fernsehnachrichten wahrgenommen. Diese subsumieren sowohl ereignisals auch problembezogene Berichterstattung, investigativ-analytischen und berichtenden Journalismus. Angesichts dieses Hybridcharakters französischer Fernsehnachrichten ist es wichtig, das sie umgebende und bedingende Feld von Informationssendungen vorzustellen. Die bereits erwähnten großen Magazinsendungen der 60er Jahre standen im Zeichen eines bildbetonten «journalisme d'enqu6te»; On assiste alors dans Zoom, ä des essais tres divers pour faire parier l'image par ellem€me, avec le minimum de commentaire. On peut presque parier parfois d'une vdritable dictature de l'image, ä laquelle la mise en scene et la subjectivity du camoraman conferent un sens spöcifique au point de de"tourner le contenu des propos, sinon de les faire oublier (Breton 1982, S. 83f.; vgl. auch Brusini & James 1982, S. 41 ff.).
Brusini & James gehen sogar so weit, den sprachlichen Kommentar mit Filmmusik zu vergleichen, «qui doit s'imposer et souligner l'image sans qu'on ait a l'ocouter» (1982, S. 79). Das Bild, dem der Reporter einen «coup de pouce» gibt, um hervortreten zu lassen, «ce qui est d£jä lä, mais qui ne peut 6merger san son aide» (ebd., S. 81 f.), wird zu einem «instrument de connaissance» (ebd., S. 63). In diesem Sinne standen die frühen Magazinsendungen des französischen Fernsehens in der Tradition der Foto-Reportage, wie sie in Frankreich 1949 von Paris-Match wieder aufgenommen wurde (vgl. Sauvage & Marochal 1982, S. 32ff.). Im Kontext einer solchen Informationskonzeption ist es nicht weiter verwunderlich, daß sich Fernsehen dem Kino und mit ihm den «saltimbanques» öffnete: Au moment oü Zoom leur ouvre les portes de la tole"vision, les jeunes roalisateurs, dont beaucoup viennent de FIDHEC (Institut des hautes 6tudes cinomatographiques), sont tres marquos par la 'nouvelle vague' et spocialement par les premiers films de Jean-Luc Godard (Breton 1982, S. 83; vgl. auch Bourdon 1990, S. 119ff.).
Gegen Ende der 60er Jahre änderte sich das Informationskonzept des Fernsehens. An die Stelle des bildzentrierten «journalisme d'enqu€te» und des Einflusses der «saltimbanques» trat ein analytisch ausgerichteter «journalisme d'examen» (vgl. Brusini & James 1982, S. 107ff.), der das Bild in den Dienst des Wortes stellte. Die Herrschaft der «g€ometres» war eingeläutet: Derriere l'image, il n'y a pas d'autres images cache"es ä ddvoiler, mais des parametres ä connaitre. Avant de voir, il s'agit d'en savoir plus (Brusini & James 1982, S. 133).
30
Das Studio als Ort der Auseinandersetzung mit Ereignissen gewann an Bedeutung (ebd., S. 129ff.). Gleichzeitig reduzierte sich die thematische Vielfalt der Magazinsendungen zugunsten eines «sujet unique». In Cinq colonnes a la une vollzog sich diese thematische Reduktion im September 1965 in Gestalt der Einführung eines Dossierteils, «livre blanc» genannt: Le dossier est une d£marche journalistique qui rounit et concentre des techniques - ici, les reportages, les interviews sur le terrain et l'entretien en studio - sur un sujet unique (ebd., S. 14).
Die meisten der zahlreichen französischen Magazin- und Studiosendungen sind auch heute noch dem «sujet unique» verpflichtet oder beschäftigen sich zumindest schwerpunktmäßig mit einem bestimmten Themenbereich. Derartige Sendungen bestimmen sogar immer stärker den Konkurrenzkampf zwischen französischen Sendern (vgl. Chemin & Humblot 1990). Ein besonders spektakuläres Beispiel ist das am 2. September 1989 auf Canal+, einem nur mit Decoder zu empfangenden Sender, unkodiert lancierte Magazin 24heures. Fünf bis zehn Reportageteams sammeln 24 Stunden lang Material zu einem Aktualitätsphänomen. Das gesamte Material wird bereits vor Ort systematisiert, denn für die Endmontage der einzelnen Reportagen stehen maximal drei Tage zur Verfügung. Für eine Sendung wird ein Kostenminimum von 300000 Francs angesetzt: 24 heitres travaille sur le vif et en temps , explique Hervd Chabalier, le pere du magazine. En la faisant vivre dans sa continuity et sous toutes ses facettes, U compose le vrai visage del 'actualtä (Le Monde Radio, 18d£c. 1989-24ddc. 1989).
Aber anders als es Brusini & James im Jahre 1982 sehen, ist es nicht nur das «sujet unique», das die Zukunft von Informationssendungen bestimmen wird, sondern viel genereller ein Bestreben nach Geschlossenheit, die nicht nur thematisch, sondern auch über personale Kohärenz hergestellt werden kann: In Sept sur Sept (TF1) lädt Anne Sinclair eine politische Persönlichkeit ein, um diese u.a. das Wochengeschehen kommentieren zu lassen. Die sonntags abends ausgestrahlte Sendung ist in bezug auf den Zuschauer insofern interaktiv, als in ihr die Ergebnisse einer freitags vom Demoskopieinstitut BVA gestarteten Umfrage zu einer «question d'intiret general» sowie eine von Zuschauern vorgenommene Skalierung der acht bedeutsamsten Ereignisse der Woche besprochen werden28. Questions a domicile (TF1) sucht eine politische Persönlich28
Derartige interaktive Verfahren erfreuen sich im französischen Fernsehen zunehmender Beliebtheit und sind selbst in Fernsehnachrichten anzutreffen: La 5 eröffnete lange Zeit die 20-Uhr-Nachrichten mit einer an die Zuschauer gerichteten Entscheidungsfrage zu einem akuteilen oder latent aktuellen Thema. Die während der Sendung eingelaufenen pro/contra-Stellungnahmen wurden am Ende als Statistik bekanntgegeben. Phänomene dieser Art sind für Jean Baudrillard Ausdruck von Referenzverlust: «Nous vivons sur le mode du r£/o*-Bildmit dem angespannten Arm und der geballten Faust gestützt.
Die vorgestellten Beispiele zeigen, daß die Funktion von mit Legenden versehenen blue öox-Bildern mit dem Aufbau einer auf die Berichterstattung gerichteten Inhaltserwartung nur unzureichend bestimmt ist, denn die aufgebaute Erwartung kann sowohl erfüllt als auch zerschlagen werden. Dieses Wechselspiel von Bestätigung und Verfremdung verhindert die Ausbildung eines einheitlichen Dekodierverhaltens. Gleichzeitig trägt es dazu bei, die Nachrichtensendung zu entritualisieren. Bezeichnenderweise werden blue öo^-Bilder nur selten mehrfach verwendet, so daß es zu keiner ausgeprägten Piktogrammbildung kommt29. Dies liegt in der Logik der oben für die Legenden festgestellten Singularisierungstendenz. In vielen Fällen wird der inhaltliche Bezug zur eigentlichen Berichterstattung erst durch den Sprechertext hergestellt. Im Falle von Bildbeiträgen entsteht so oft ein auf drei Etappen verteilter Zugriff auf den Gegenstand der Nachricht: blue box-Bi\d und Legende eröffnen einen Erwartungshorizont, der vom Sprechertext vollständig oder partiell verifiziert bzw. falsifiziert wird. Gleichzeitig leistet der Sprechertext eine Antizipation wesentlicher Elemente des sich anschließenden Bildbeitrags. Vom optischen Erscheinungsbild ist gegenüber 1984 hervorzuheben, daß blue box-B'üder mit Legenden in vielen Fällen jetzt die gesamte linke Bildschirmvertikale einnehmen. Sie sind nicht mehr in den Hintergrund integriert, sondern werden auf einer vor dem presentateur liegenden Ebene eingeblendet, 29
Es sind gelegentlich allerdings auch relativ fest kodierte blue box-Bildei anzutreffen: so läßt z.B. ein Gorbatschow-Portrait auf dem Hintergrund einer roten Fahne mit Hammer und Sichel einen Beitrag über die Sowjetunion, Perestroika, Glasnost o.a. erwarten; ähnlich etwa deutet eine Zeichnung des Elyse"e-Palastes auf einen Beitrag, der in irgendeiner Weise mit dem Staatspräsidenten zu tun hat. 90
so daß sie, je nach Größe der Einblendung, in einigen Fällen sogar dessen rechten Körperbereich überdecken. Diese Verlagerung vom Hinter- in den Vordergrund führt zu einer im Vergleich zu 1984 größeren Eigengegenständlichkeit der blue box, die eine gewisse ästhetische Autonomie gewinnt. Hierin ist ein Wesensunterschied zu deutschen Fernsehnachrichten wie Tagesschau oder Heute zu erkennen, in denen blue öojc-Bilder mit den dazugehörigen Schriftelementen semantische Kondensate des Nachrichtentextes darstellen. Das sie bestimmende Konstruktionsmerkmal ist Redundanz. Die Möglichkeit, sie im Sinne des Aufbaus einer Inhaltserwartung, die nicht mit der Nachricht kompatibel wäre, fehlzuverstehen, kann bei einer durchschnittlich entwickelten semiotischen Kompetenz des Zuschauers als gering veranschlagt werden. Das ausgeprägte Bestreben, die Botschaft durch Redundanz abzusichern, zeugt von einem mechanistischen Verstehensbegriff, der sich auf einen empirisch konstruierten Rezipienten bezieht (vgl. KapitelII., 2.3. der vorliegenden Arbeit). Diesem steht der Rezipient der Nachrichten von A2 als impliziter Zuschauer gegenüber, dem als kulturellem und semiotisch begabtem Wesen zugetraut wird, Sinn zu konstruieren und nicht lediglich vorgefertigte Bedeutung zur Kenntnis zu nehmen. Neu sind autonome Bildbeiträge als kanonische Bestandteile der Nachrichtensendung (außer samstags und sonntags). Zu Beginn eines jeden dieser Beiträge schreibt sich im unteren Bildschirmbereich ein zweigliedriger Schriftzug ins Bild ein: Winnie Mandela Maison incendiee; Saisie L'hero'ine du Caire; Washington Un hongrois chez Reagan; Boulets rouges Maggy tire sur /'Europe; Iran-Irak Les combats continuent etc. Auch hier liegt in vielen Fällen Sprachspielhaftigkeit vor, so daß die außersprachliche Referenzfunktion von einer sprachästhetischen Funktion überlagert wird. Saisie L'horo'fne du Caire (28. Juli 1988) gehört zu einer Meldung über die Beschlagnahmung einer größeren Menge Heroins an Bord eines britischen Schiffes auf dem Suez-Kanal. Die Stadt Kairo wird dabei nicht erwähnt. L'horoine du Caire soll wahrscheinlich Assoziationen zu Woody Aliens erfolgreichem Spielfilm The Purple Rose of Cairo evozieren. Durch die hierarchisch höhere Einordnung von Saisie in der zweigliedrigen Struktur der Schrifteinblendung ist klar, daß es sich bei L'hero'ine nicht um eine Heldin, sondern um Rauschgift handelt. Washington Un hongrois chez Reagan (27. Juli 1988) bezieht sich auf einen Bericht zum Staatsbesuch des ungarischen Parteichefs in den Vereinigten Staaten. Un hongrois chez Reagan zitiert vermutlich George Gershwins Musical An American in Paris. Boulets rouges Maggy tire sur I'europe (28. Juli 1988) ist die Schrifteinblendung für einen Bericht zu Margaret Thatchers Äußerung, Europa könne nur ein wirtschaftliches, nicht aber ein kulturelles Europa sein. Bemerkenswert ist hier die Aufteilung der Wendung 'tirer ä boulets rouges' auf zwei Hierarchieebenen. Während Washington oder zur Not auch Saisie als inhaltlich übergeordnete Einbettungsstufe für den Rest der Schrifteinblendung betrachtet werden können, ist das Verhältnis von Boulets rouges, zu Maggy tire sur I'europe nicht das einer wie auch immer gelagerten semantischen Inklusion, sondern beruht auf der kollokativen Zusammengehörigkeit von boulets rouges mit dem Verb tirer.
91
Auch diese Beispiele liefern einen Beleg für das bei A2 häufig anzutreffende Zurücktreten der referentiellen hinter die poetische Sprachfunktion. Dem sich in der sprachspielhaften Verschlüsselung dokumentierenden Bemühen um die Aufmerksamkeit des Zuschauers wird stellenweise mehr Gewicht beigemessen als der Eindeutigkeit der Aussagegestaltung30. Ganz unabhängig von ihrer jeweiligen Inhaltsdimension stellen Sprachspiele, dies wurde an anderer Stelle schon betont, im Kontext französischer Fernsehnachrichten aufgrund der allgemeinen Beliebtheit des spielerischen Umgangs mit Sprache eine kulturelle Rückbindungsgeste dar. Wesentlich dabei ist nicht die Häufigkeit, mit der Sprachspiele auftreten, sondern ihr einigermaßen regelmäßigen Erscheinen. Derartige Rückbindungspraktiken sind auch im Inhaltsbereich anzutreffen. So ist besonders bei Nachrichtenbeiträgen aus dem wissenschaftlich-technischen Bereich oft eine zweigliedrige Struktur festzustellen. In einem ersten Teil wird über eine ausländische Errungenschaft oder Entdeckung berichtet, während der zweite Teil den französischen state of the art thematisiert. Solcherlei Rückbindungsgesten sind oft auch relativ unscheinbar. Am 17. November 1990 war in den Abendnachrichten von A2 ein kurzer Bildbeitrag über Unruhen in Liberia zu sehen. Stellungen wurden von Flugzeugen und Hubschraubern beschossen. Zeit- und Ortsangaben sowie eine Spezifizierung der beteiligten Parteien verliehen dem Bildbeitrag faktenbezogene Vollständigkeit. Darüber hinaus beinhaltete die Nachricht aber auch einige unscheinbare Details: es handelte sich nicht um irgendwelche Jagdflugzeuge, sondern um «chasseurs Jaguar» und auch nicht um irgendwelche Kampfhubschrauber, sondern um «helicopteres Super Puma», beides Spitzenprodukte und Exportschlager französischer Waffentechnologie. Man stelle sich im Gegenzug etwa eine Tagessc/u2«meldung vor, in welcher von der Niederschlagung massiver Unruhen in Johannisburg vermittels des Einsatzes von Mercedes Benz-Unimogs und Heckler & Koch-Maschinenpistolen die Rede wäre. In dem französischen Bildbericht ist der referentielle Bezug eindeutig überlagert von einer für das berichtete Geschehen irrelevanten Rückbindungsgeste an Frankreich. Neben einem solchen zentripetalen Prinzip ist auch ein zentrifugales wirksam, das Frankreich auf übergeordnete Entitäten projiziert: die blue box-Ein30
Wie sehr in dieser Hinsicht die deutsche und die französische Informationsphilosophie auseinanderklaffen, sei an einem Beispiel aus der Rhetorik für Radio und-Fernsehen von Häusermann & Käppeli (1985) demonstriert. Sogar für den Kommentar, der sich gegenüber anderen Texttypen schon durch gewisse Freiheiten auszeichnet, geben die Autoren folgende «Stilmittel» an, die zu unterdrücken sind, weil sie «der Aussage ihre Schärfe nehmen»: - Kombination mit einer themenfremden Aussage - Denkaufgabe, zu deren Lösung keine Zeit bleibt oder für die der Text keinen Anhaltspunkt bietet - Frage- statt Aussageform - Zitat (Bibel, Klassiker u. s. w.) statt auf die aktuelle Situation bezogene Aussage - Redewendungen bzw. bildhafte Formulierungen statt präziseren direkten Aussagen - Ironie statt explizite Wertung (ebd., S. 123). 92
spielung zeigt eine stilisierte Europakarte, auf der alle Staaten der Europäischen Gemeinschaft in ihren Nationalfarben unterlegt sind, ohne daß ein bestimmtes Land hervorgehoben wäre; darunter ist die Legende, Bon point zu lesen (A2, 30. Juli 1988). Auf Heute oder die Tagesschau übertragen, würde ein deutscher Zuschauer aus einer allgemeinen Rezeptionserfahrung heraus an dieser Stelle wohl einen Beitrag über Europa erwarten, das auf irgendeinem Terrain, vielleicht auf dem Weg zur transnationalen Einheit, einen Punkt errungen hat. Der französische Beitrag hingegen präsentiert ein mittelständisches französisches Unternehmen, welches Taschenrechner mit integriertem Terminkalender herstellt und trotz der fernöstlichen Konkurrenz beträchtliche Gewinne zu verzeichnen hat. 2.6.
Der Sendungsabschluß
2.6.1.
TF11984
Die Wetterkarte leitet den Abschluß der Nachrichtensendung ein31. Als formales Indiz für das Ende des eigentlichen Nachrichtenteils zeigt die Regie den prfsentateur bei ihrer Ankündigung nicht mehr in der linken Bildschirmhälfte, sondern zentral. Indem der durch Namenseinblendung identifizierte 'Wetterspezialist'32 zunächst im On, dann aus dem Off und schließlich wieder im On spricht, erhält die Wettervorhersage eine geschlossene Struktur. Während der 31
32
In einigen Ausnahmefällen steht die Wetterkarte nicht am Ende der Sendung. Dies trifft besonders dann zu, wenn die Möglichkeit einer thematischen Verbindung mit einem anderen Nachrichtenbeitrag gegeben ist. So beschäftigte sich der erste Beitrag der Nachrichten vom 14.4. 1984 mit den Vorbereitungen zum Start einer Regatta für Großsegler von Saint-Malo nach Quebec anläßlich des 450. Jahrestages der Entdekkung Quebecs durch Jacques Cartier. In einer Direktschaltung zum Studio berichtete ein Reporter vor Ort über den Stand der Vorbereitungen. Im Anschluß an den Beitrag leitete der prosentateur die Wettervorhersage mit folgender Formulierung ein: «Et tout ä l'heure vous nous disiez qu'il faisait un temps de demoiselle sur la rdgion de SaintMalo. Alors, Denis Vincenti, les voiliers auront-ils un peu de bon vent demain?» Dieses Beispiel ist auch ein Beleg für die integrative Funktion azsprfsentateur, der hier eine Formulierung des vorhergehenden Beitrages aufnimmt, um eine Verzahnung mit dem Folgebeitrag herzustellen. Es wird der Eindruck erzeugt, als könne deTprosentateur den doch weitgehend vorausbestimmten Ablauf der Nachrichtensendung außer Kraft setzen. Es handelt sich nicht um einen Meteorologen, sondern um ein Redaktionsmitglied, das innerhalb des Senders auch andere Aufgaben wahrnehmen kann. So war z. B. Laurent Brohmed gleichzeitig Wissenschaftsspezialist von A2, und Laurent Cabrol, ebenfalls A2, moderiert die populäre Sendung Des chiffres et des lettres. Die aufgelockerte Präsentation des Wetters erinnert an den erfolglosen Versuch von Heute, Elmar Gunsch den faktenbetonten Duktus der Wetterkarte brechen zu lassen. Wie in der Zahnpasta-Werbung hierzulande ein Dr. Best oder sonst ein Weißkittel nötig zu sein scheint, so braucht der öffentlich-rechtliche Fernsehwetterbericht seinen DiplomMeteorologen oder muß sich, wie in der Tagesschau, auf die Autorität des Deutschen Wetteramtes in Frankfurt berufen. 93
o^-Passagen werden verschiedene meteorologische Karten eingeblendet. Nach der Wetterkarte erscheint ein letztes Mal der prosentateur, der sich jetzt mit einem kurzen Hinweis auf die Spätausgabe der Nachrichten vom Zuschauer verabschiedet: Le dernier Journal vers 23 heures avec Jacques Barbot. Je vous souhaite une excellente soir6e surTFl, ä demain (13. April 1984). Diese letzte Einstellung der Nachrichten dauert durchschnittlich nicht länger als sechs Sekunden. Sie zeigt denprfsentateur in der gleichen Einstellungsgröße wie bei dessen erstem Kontakt mit dem Zuschauer. Das endgültige visuelle Schlußsignal bildet wieder der Radarschirm des Sendungslogos, der den presentateur weich überblendet. In einigen Sendungen wird der presentateur auch in die Mitte des Radarschirms zurückgezoomt, was einen Symmetrieeffekt zum Beginn der Nachrichtensendung erzeugt. Eine Laufschrift am unteren Bildschirmrand zeigt die Namen der beiden für Regie und Redaktion verantwortlichen Mitarbeiter. 2.6.2.
Antenne 2 1984
Das Abschlußprozedere ist weitgehend identisch mit dem bei TF1. Zur Ankündigung der Wetterkarte33 wird der presentateur in der gleichen Einstellungsgröße und Position wie bei der Einführung zum ersten Bildbeitrag der Nachrichtensendung gezeigt. Die Wetterkarte selbst wird von einem fast ausschließlich im On vor meterologischen Karten agierenden und durch Namenseinblendung identifizierten 'Spezialisten' bestritten. Anders als bei TF1 kommentiert eine Schrifteinblendung im unteren Bildschirmbereich die Wettertendenz: De quoi nous plaignons-nous? (11. April 1984), Arret sur image (13. April 1984), Le dimanche au soleil (14. April 1984), Systeme D (15. April 1984) etc. Auch hier wird spielerisch mit Sprache umgegangen: ArrGt sur image ist der filmtechnische Begriff für die Beendigung einer filmischen Sequenz durch kurzes Einfrieren der letzten Einstellung als Standbild. In der Wetterkarte vom 13. April 1984 stand diese Schrifteinblendung in Verbindung mit einem Satellitenfoto, auf dem eine Hochdruckzone zu erkennen war. Für die Folgetage wurde schönes Wetter vorausgesagt: das Satellitenfoto kann also eingefroren werden, denn erfreulicherweise wird sich in den nächsten Tagen am Wetter nichts ändern. Systeme D in der Wetterkarte vom 15. April 1984 wurde in Zusammenhang mit der Ankündigung einer zone dopressionnaire, eines Tiefdruckgebiets, eingeblendet. Im fran^ais familier/populaire steht systöme D für die Fähigkeit, sich durchzuschlagen 33
Wie bei TF1 kann in Ausnahmefällen die Wetterkarte auch in Verbindung mit einem geeigneten Thema im Hauptteil der Nachrichten erscheinen. Am 14. April 1984 begann die Nachrichtensendung mit einem Bildbericht über das frühlingshafte Vorosterwetter in Paris. Daran anschließend wurde die Wetterkarte präsentiert. Genauso wie die Wetterkarte an Bildberichte angehängt werden kann, sind manchmal sich thematisch dazu eignende Bildberichte auch in die Wetterkarte integriert. So beinhaltete z. B. die Wetterkarte vom 12. April 1984 einen Bildbericht über die Folgen eines Wirbelsturms auf den Komoren. 94
(von se d4brouiller, se domerder). Das Sprachspiel hat hier keine semantische Dimension; es beruht auf einer durch das Präfix da lautassoziativ hergestellten inhaltsleeren Verbindung zwischen zone dupressionnaire und Systeme D (se debrouiller, se domerder).
Die Wetterkarte schließt mit den Zeiten für Sonnenauf- und Sonnenuntergang sowie mit der Angabe des Kalenderheiligen des Folgetages. Hierzu erscheint auch eine Schrifteinblendung. Nach der Wetterkarte ist wie bei TF1 ein letztes Mal der presentateur zu sehen, der sich mit einem Hinweis auf die Spätnachrichten und die Informationssendungen des folgenden Tages verabschiedet: Fin de ce journal. Aux environs de 23 heures vous retrouverez Hervo Claude, demain ä 12 h 45 Daniel Bilalian, ä 18 h 30 C'est la vie: Jean-Claude Alami. Je vous souhaite une excellente soiroe et je vous retrouverai demain ä 20heures. Bonsoir (A2, 9. April 1984).
Mit ihrer durchschnittlichen Dauer von 17 Sekunden (6 Sekunden bei TF1) ist diese letzte Einstellung ein weiteres Beispiel für die gegenüber TF1 ausgeprägtere Sprecherpräsenz. Bezeichnenderweise ist der Verweis auf andere Nachrichtensendungen in der Regel mit der Namensnennung des sie betreuenden presentateur verbunden, was erneut die auf Intimität hin angelegte Konzeption der Sprecherrolle belegt. Oft sogar ersetzt die namentliche Nennung des jeweiligen presentateur in Verbindung mit der Uhrzeit die Sendungsbezeichnung. Nach Beendigung der Verabschiedung wird die den Vorspann unterlegende Taktfolge als auditives Abschlußsignal wieder eingeblendet; der presentateur wird zurückgezoomt, wodurch die Weltkarte, die den Hintergrund des Vorspanns bildete, wieder sichtbar wird. Nach einem kurzem Verharren der Zoombewegung, während dem die Namen der für Regie und Redaktion verantwortlichen Mitarbeiter eingeblendet werden, verschwindet der presentateur wieder dorthin, wo er zu Beginn der Sendung herkam. Wie bei TF1 wird so zwischen Sendungsbeginn und -ende ein rahmenbildender Symmetrieeffekt erzeugt34. 2.6.3.
TF11988
Als spektakulärste Änderung gegenüber 1984 ist hier die Ausgliederung der Wetterkarte zu vermerken. Von Firmen gesponsert, in dem der Untersuchung grundgelegten Wochenzeitraum bezeichnenderweise von der Vereinigung der 34
Einige Nachrichtensendungen enden auch mit Bildbeiträgen, deren Vorstellung der prfsentateur in seine Verabschiedung von den Zuschauern integriert: «Ce Journal est maintenant sur le point de se terminer. II me reste ä vous donner les prochains rendez-vous avec l'actualiti: vers 23h 30 Herve" Claude, demain 12h 45 Daniel Bilalian, ä 18h 30 Claude Alami pour C'est la vie. Mais comme promis, nous terminons en musique avec la bände orginale de Yentel pour laquelle Michel Legrand a obtenu cette nuit l'Oscar pour la meilleure adaptation musicale. Je vous retrouve demain ä 20 heures. Tres bonne soirie sur A2 (A2,10. April 1984), Am 15. April 1984 klang die Nachrichtensendung mit Bildsequenzen vom Start der Großseglerregatta Saint-Malo - Quobec aus. 95
Fabricants de climatiseurs, wird sie im Anschluß an die Nachrichtensendung präsentiert. Hinsichtlich ihres Formalaufbaus hat sie sich der Wetterkarte von A2 angenähert. Der Wetterspezialist bleibt im On; am Ende werden wie bei A2 Angaben zu Sonnenaufgangs- und Sonnenuntergangszeiten gemacht, und der Kalenderheilige des Folgetages wird genannt. Als vom Konkurrenzsender abhebender Zusatzservice erhält der Zuschauer noch Kenntnis von den Zeiten für Mondauf- und Monduntergang sowie vom coefficient de maroe. Die wohl aus juristischen Gründen autonome Stellung der Wetterkarte wird durch eine eigene Begrüßung und Verabschiedung durch den Wetterspezialisten unterstrichen. Die meisten Nachrichtensendungen klingen mit einem kulturellen oder feuilletonistisch unterhaltsamen Bildbeitrag aus, dem in einigen Fällen Servicemeldungen wie Prognosen für Pferderennen oder deren Ereignisse folgen: am 26. Juli 1988 ein Bericht über einen Napoleon-Fan-Club in Leningrad; am 27. Juli 1988 ein Bericht über die Dreharbeiten zu Samuel Füllers neuestem Film; am 28. Juli 1988 ein Bericht über den Kater Gribouille, der aus Heimweh mehr als 1000 Kilometer zurücklegte, um aus seinem deutschen Exil wieder in die französische Heimat zurückzukehren; am 29. Juli 1988 ein Kurzbericht über ein Wasserski laufendes Eichhörnchen in Las Vegas; am 30. Juli 1988 ein Bericht über das Festival-off d'Avignon. Derartig leichte und mit den Schrecknissen der Welt versöhnende Kost wurde auch schon 1984 sowohl vonTFl als auch von A2 gegen Ende der Nachrichtensendungen verabreicht. Jedoch holte in der Regel die abschließende Wetterkarte die Nachrichtensendung ansatzweise wieder in ernsthaftere Gefilde zurück. Wie 1984 beschließt der presentateur die Nachrichtensendung, indem er sich von den Zuschauern verabschiedet. Diese letzte Einstellung hat sich jedoch im Vergleich zu 1984 von durchschnittlich sechs auf durchschnittlich etwa 23 Sekunden verlängert. Nach dem Muster von A2 beinhaltet die Beschließung der Nachrichten jetzt auch Hinweise auf weitere Informationssendungen des Abends und des Folgetages. In einigen Fällen wird sogar auf sich an die Nachrichten anschließende Sendungen mit unterhaltendem Charakter hingewiesen. In der 1988 verschärften Konkurrenzsituation werden die Nachrichten so zur Eigenwerbung für den Sender genutzt, ein Phänomen, das bereits bei der Behandlung der Vorspänne thematisiert wurde. Auch auf die nun ausgelagerte Wetterkarte wird vom presentateur verwiesen. Als typisches Beispiel kann die folgende Schlußformel der Nachrichten vom 26. Juli 1988 angeführt werden: Dans quelques instants, la avec LP. Quelques minutes avant minuit, vous retrouverez J.-M. L. pour le dernier journal. A 6 h 30, rendez-vous avec R. N. et F. S. Et ä 13 heures le journal sera prdsentd par J.-P. P. Bonne soir6e ä tous sur la Une avec Charles Bronson et Lee Marvin dans Chasse a mart, et ä demain 20 heures.
Gegen Ende seiner Verabschiedung vom Publikum wird der presentateur langsam zurückgezoomt und dann weich aus dem Bild geblendet. Wie während des Vorspanns zeigt eine andere Kamera eine Studiototale, in welcher der prosentateur wieder als der Teil Studioszenerie zu sehen ist. Als die Nachrichten auf 96
visueller Ebene definitiv abschließende Geste packt er die vor ihm liegenden Papiere zusammen; die Hintergrundmusik des Vorspanns setzt wieder ein. In zwei getrennten Schrifteinblendungen erscheinen die Namen der Sendungsverantwortlichen. 2.6.4.
Antenne 2 1988
Auch hier ist als auffälligste Veränderung gegenüber 1984 die Auslagerung der Wetterkarte zu nennen, die selbst jedoch, bis auf leichte Änderungen im Dekor, weitgehend unberührt geblieben ist. Die letzten Meldungen der Sendung haben meistens Servicecharakter. Ihnen gehen wie bei TF1 oft kulturell-feuilletonistische Beiträge voraus. Der prosentateur beschließt die Nachrichtensendung mit einer durchschnittlich 19 Sekunden langen Verabschiedung von den Zuschauern: Voilä. Et on a le droit de röver, 53 ne coüte rien (Bemerkung zum vorausgehenden Bildbeitrag, R.B.) 35 . Le dernier journal, je vais faire un peu de publiciti pour mes confreres, c'est A.D. qui vous le pr6sentera ce soir en fin de programme sur la Deux. Demain matin, n'oubliez pas ä 6h 45 -Matin, ensuite le journal de ISheures, je vous en passe, et des meilleures, Antenne2-Midi. Quant ä nous, si vous le voulez bien, on se retrouve demain soir ä la meme heure. Bonsoir, ä demain 20 heures (26.7.1988).
Das Beispiel dieser mit 26 Sekunden überdurchschnittlich langen Schlußsequenz ist unter mehreren Aspekten bemerkenswert. Zum einen kommt hier offen wenn auch scherzhaft - zum Ausdruck, was in anderen Nachrichtensendungen kommentarlos getan wird: «... je vais faire un peu de publicite"...» Darüber hinaus liegt ein weiteres Beispiel für die integrative Funktion des prfsentateur vor, der ein Element des vorausgehenden Bildbeitrags aufnimmt, um in einer konklusiven Formulierung eine Verzahnung zur Studiosituation herzustellen. Bemerkenswert ist auch die sprachliche Gestaltung der Schlußformel, die auf eine spontansprachliche Vertextung von Stichwörtern hindeutet. Die Verwendung von je und on (in der Bedeutung von nous) ist bezeichnend für das vom prosentateur angestrebte Verhältnis zum Zuschauer. Dem prfsentateur gelingt es außerdem, innerhalb des Textes seine Schlußformel durch Herstellung von Intertextualität implizit als solche zu kennenzeichnen: « . . . si vous le voulez bien...» ist unverkennbar Bestandteil der Verabschiedungsformel von Lucien Jeunesse im bekannten Quizspiel Le jeu des mille francs auf dem staatlichen Radiosender France-Inter: «A demain, si vous le voulez bien.» Bis zu welchem Grad diese Verabschiedungsformel im kollektiven Bewußtsein mit Lucien Jeunesse assoziiert ist, belegt der folgende, nicht gerade geistreiche Witz: - Vous savez comment il se branle, Lucien Jeunesse? - A deux mains, si vous le voulez bien. 35
Der Bildbeitrag berichtet über den Tagesablauf eines Mannequins während der fünftägigen Präsentation der Haute Couture. Der letzte Satz lautet: «La mode, cela fait rever. Les mannequins aussi.»
97
Nach der Schlußformel zeigt eine neue Kameraeinstellung eine Totale des Studios mit dem presentateur von vorne rechts im Dreiviertelprofil, und die den Vorspann unterlegende Musik setzt wieder ein. Die rechts vom prosetateur befindliche Glasbausteinfläche, die während der Sendung als 'Projektionsfläche' genutzt wurde, nimmt jetzt die Gestalt einer durchsichtigen Glasscheibe an, die den Blick auf Redaktionsräume mit geschäftigem Treiben freigibt. Wie bei TF1 sieht man nun auch bei A2 den presentateur beim Zusammenpacken der vor ihm liegenden Unterlagen. In drei aufeinanderfolgenden Schrifteinblendungen im unteren Bildschirmberich sind die Namen der für die Nachrichtensendung veranwortlichen Mitarbeiter zu lesen.
3.
Heute und die Tagesschau
Heute und die Tagesschau zeichnen sich gegenüber den untersuchten französischen Nachrichten zunächst einmal durch eine geringere Nettothemenzeit aus: ca. 13 Min. für die Tagesschau und etwa 17 Min. für Heute. Im untersuchten Wochenzeitraum behandelte die Tagesschau 86Themen, Heute 120. Hieraus ergibt sich für die Tagesschau-Beiträge eine Durchschnittsdauer von etwa 63 Sek.; für ifewte-Beiträge liegt der Durchschnittswert bei 57 Sek. Im Vergleich zu A2 und TF1 fällt die durchschnittliche Dauer von Nachrichtenbeiträgen also entschieden geringer aus. Aus der nachstehenden Tabelle sind die Werte für das Volumen der einzelnen Beitragstypen (Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen (S+B-K), Sprechermeldungen etc.) sowie deren jeweilige Durchschnittsdauer zu entnehmen (für die entsprechenden französischen Werte vgl. S. 47) der vorliegenden Arbeit: Tagesschau
Heute
S+B-K Anteil an der Themenzahl Anteil an der Nettothemenzeit Durchschnittsdauer
41% 69% 104 Sek.
35% 68% 111 Sek.
Sprechermeldungen Anteil an der Themenzahl Anteil an der Nettothemenzeit Durchschnittsdauer
49% 24% 31 Sek.
55% 25% 26 Sek.
Autonome Bildbeiträge Anteil an der Themenzahl Anteil an der Nettothemenzeit Durchschnittsdauer
9% 7% 45 Sek.
Sprecherkommentierte Bildbeiträge
98
(Ausnahmeerscheinung)
10% 7% 43 Sek.
(Ausnahmeerscheinung)
Wesentliche Verteilungsunterschiede zwischen Heute und der Tagesschau sind nicht festzustellen. Wie in französischen Fernsehnachrichten besteht auch hier der zeitlich größte Teil der Nachrichtensendungen aus Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen, deren Anteil allerdings, sowohl zeitbezogen als auch hinsichtlich der Themenanzahl, deutlich geringer als bei A2 und TF1 ist. Die meisten Themen in Heute und der Tagesschau werden als reine Sprechermeldungen abgehandelt; bei A2 und TF1 dominieren hingegen Sprecher+BildbeitragKombinationen. Das formalgestalterische Inventar von Heute und der Tagesschau ist wesentlich variantenärmer als das französischer Nachrichtensendungen. Das Nachrichtenstudio wird von einer einzigen statischen Kamera abgedeckt, deren Einstellungsgröße während der gesamten Sendung konstant bleibt. Sie zeigt den Sprecher in einer weiteren Einstellung als in Frankreich etwa ab Hüfthöhe im rechten Bildschirmbereich. Als einzige syntaktische Marker sind blue feox-Einblendungen sowie Schnitte zwischen Sprecher- und Bildpassagen zu nennen. Der Ablauf von Heute und der Tagesschau ist von großer Gleichförmigkeit; Abweichungen vom Standardprozedere sind nicht zu beobachten. Die visuelle Dynamik, wie sie auf S. 48 der vorliegenden Arbeit definiert wurde, ist geringer als bei A2 und TF1. Nur alle 8-9 Sekunden wird der Zuschauer im Sendungsdurchschnitt mit einer neuen visuellen Wahrnehmunsvorlage konfrontiert. Zentrales Element der Studiogestaltung ist die blue box. In der Tagesschau kann der gesamte Bildhintergrund als Einblendungsfläche genutzt werden; in Heute ist dafür ein fest definierter Bereich in der linken Bildschirmhälfte vorgesehen. Anders als in französischen Nachrichten ist hier jedes Auftreten des Sprechers mit einer blue öox-Einblendung verbunden. Es handelt sich dabei um Realbilder, Piktogramme oder geographische Karten. Letztere beinhalten meistens auch andere visuelle Elemente und Schrift. In der Tagesschau wird unter der blue box zusätzlich ein Knapptext eingeblendet: «Millionenschäden durch Unwetter», «18Tote bei Raketenangriff», etc. Heute nimmt die Einblendung von Schriftelementen über dem blue box-Bild vor. Im Gegensatz zu den blue feox-Einblendungen des französischen Fernsehens, v. a. bei A2, ist hier ein - im Rahmen der gebotenen Zeichenökonomie - sehr ausgeprägtes Bestreben um eindeutige Aussagegestaltung festzustellen. Blue box-Einspielungen und dazugehörige Schrifteinblendungen bilden in der Regel hierarchisch hochstehende Propositionen des Sprechertextes ab: Eine stilisierte geographische Karte der Golfregion; Iran und Irak sind farblich abgehoben, die jeweiligen Hauptstädte gekennzeichnet. Die Eigennamen Iran, Irak, Bagdad und Teheran sind an entsprechender Stelle in die Karte integriert. Dazu ist folgender Knapptext zu lesen: Kämpfe gehen weiter (Tagesschau, 25. Juli 1988). Selbst ohne ausgeprägtes Aktualitätswissen dürfte dem Zuschauer klar sein, daß es die Kämpfe zwischen Iran und Irak sind, die weitergehen. Dieser Sachverhalt wird vom Sprecher thematisiert und weiter präzisiert. Auf einer stilisierten Europakarte sind Bonn und Moskau gekennzeichnet. Unter Moskau befindet sich ein mit der Legende Genscher versehenes Archivportrait des Bundesaußenministers. Der Knapptext lautet: Gespräche im Kreml (Tagesschau, 99
29. Juli 1988). Dieser verbal-ikonischen Konfiguration ist zu entnehmen, daß sich Hans-Dietrich Genscher zu Gesprächen in Moskau befindet oder vielleicht auch, daß solche Gespräche geplant sind.
Wurde anläßlich der Beschreibung der blue box-Bilder bei A2 für die Rezeptionstätigkeit des Zuschauers der Begriff Sinnkonstruktion verwendet, ist es hier eher angebracht, von Aussagerekonstruktion zu sprechen, denn die Stimuluskonfiguration ist weitgehend so arrangiert, daß semantische Konflikte zwischen blue box und Sprechertext ausgeschlossen sind. Die blue box fungiert als stabiler Referenzhintergrund des Sprechertextes. Sie stellt jene statisch vorgegebene Ebene dar, in die der Sprechertext kognitiv einzubetten ist: sie ist eine verläßliche kognitive Handlungsanweisung. Vor allem bei A2 hingegen herrscht ein dialogisch-dynamisches Verhältnis zwischen blue box und Sprechertext vor. Die von der blue box generierten Inhaltserwartungen können erst dann definitiv als zutreffend erachtet werden, wenn der Sprechertext keine grundlegende Neuinterpretation erzwingt. Die Bildschirmpräsenz des Sprechers ist in Heute und der Tagesschau etwa 10% stärker als in den Nachrichten von A2 und TF1. Für Heute liegt sie bei 40% der Nettothemenzeit, für die Tagesschau bei 38%. Der ausgeprägteren physischen Präsenz steht allerdings ein geringeres kommunikatives Gewicht entgegen. Die Heute- und Tagesschau-Sprecher lesen die Nachrichten von sichtbaren Blättern ab, die sie meistens sogar etwas hochhalten. Damit sind ihnen in einem sehr wörtlichen Sinne die Hände gebunden, denn sie sind so jeglicher Versuchung enthoben, sich anders als verbal oder in Ansätzen mimisch zu äußern. Um die Monotonie des Verlesene zu brechen, und ihrer Sprechtätigkeit kommunikative Relevanz zu verleihen, blicken sie gelegentlich von ihrem Blatt in die Kamera. Das Ende einer Meldung wird durch einen längeren Blick in die Kamera und bei manchen Sprechern durch das Weglegen des entsprechenden Blattes markiert. Der Sprecher ist hier Organ des Textes, das personal mehr oder weniger zufällige Medium, in dem sich der Text artikuliert. Er ist nicht eigentlich Aktant der Nachrichten, sondern zählt wie Reportagen, Interviews u.a. zu deren Bestandteilen. Der französische presentateur hingegen versucht, Studiosituation und filmische Ereigniskonserven in einem kommunikativen Raum fusionieren zu lassen. Die einzelnen Nachrichtenbeiträge folgen in Heute und der Tagesschau in asyndetischer Reihung aufeinander. Lediglich der HeuteSprecher setzt gelegentlich thematisch überleitende Etiketten: «Und nun ins Ausland», «Eine Meldung vom Tennis», «Und nun sind wir beim Sport» oder versieht Meldungen mit überschriftartigen Formulierungen: «Richard-WagnerFestspiele in Bayreuth», «Friedensbemühungen in New York» u.a. Anders als der Tagesschau-Sprecher ist er als Redakteur im Studio für seine Texte mitverantwortlich. Dieser Statusunterschied erzeugt jedoch keine in bezug auf die Tagesschau fundamental andersartige Kommunikationssituation. Ganz selten führt der //eute-Sprecher auch Schaltgespräche. Im Gegensatz zur Tagesschau ist in Heute ein von einem Journalisten gesprochener Kommentar regelmäßiger Bestandteil der Nachrichtensendung. Zwischen Sprecher und Kommentator 100
besteht allerdings kein dialogisches Verhältnis. In der Kommunikationsstruktur hat der Kommentar den gleichen Status wie Bildbeiträge. Durch die Einführung der Journalsendungen (Heute Journal und Tagesthemen) ist auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Bundesrepublik ein neuer Typus von Nachrichten entstanden, für den eine starke Aufwertung der Studiosituation als Verankerungsebene für Nachrichtenbeiträge typisch ist. Hierbei von zentraler Bedeutung ist die veränderte Konzeption der Sprecherrolle, die sich in einer Funktionsteilung zwischen dem traditionellen Nachrichtensprecher und dem neu eingeführten Moderator artikuliert. Während letzterer für die Verwaltung der Studiosituation verantwortlich ist, der Nachrichtensendung als Ganzem Kohärenz verleiht und auf der Kontaktebene zum Zuschauer als Bezugsperson fungiert, verbleibt der Sprecher im Rahmen seiner traditionellen Attribute. Dieser Rollenteilung entspricht eine Gewichtung der Aktualität; brisante Themenbereiche, Studiointerviews und Schaltgespräche sowie kulturelle Beiträge liegen im Zuständigkeitsbereich des Moderators, während der Sprecher in konventionellem Stil den Rest der Meldungen abdeckt. Es entsteht so ein Kontrast zwischen Moderator und Sprecher, der die herkömmlichen Attribute des letzteren verdichtet. Schien der Sprecher bislang in einem Schisma zwischen Funktion und Person zu agieren, das jedoch eindeutig zur Funktion tendierte, ist er jetzt definitiv persönlichkeitsfrei. Er wird zu einem vom Moderator mitverwalteten Bestandteil der Nachrichtensendung. Es entsteht auf diese Weise eine Verschachtelung der traditionellen Nachrichtenform in eine neue, übergreifende Struktur, innerhalb derer der Moderator eine Führungsfunktion im doppelten Sinne des Wortes übernimmt. Auf eine Beschreibung der Sendungslogos und der Abschlußsequenzen kann hier in Unterstellung ihrer allgemeinen Bekanntheit verzichtet werden. Im Vergleich zu A2 und TF1 sind sie technisch und gestalterisch einigermaßen anspruchslos und nüchtern. Charakteristisch für die Tagesschau ist deren sonores Abschlußzeichen, ein Gong, der die Nachrichtensendung wie eine Schulstunde als didaktisches Genre kennzeichnet.
4.
Synthese
4.1.
Vorbemerkungen
Bei der nachfolgenden Synthese soll auf Erinnerungen an technische Details der Formalgestaltung im Interesse der Systematisierung relevanterer Züge weitgehend verzichtet werden. Die auf den französischen Sendern im Formalbereich zwischen 1984 und 1988 festzustellenden Veränderungen lassen sich wesentlich als Konvergenzbewegung von TF1 in Richtung auf A2 charakterisieren. So räumt z.B. TF1 1988 demprosentateur jene quantitative Präsenz ein, die er bei A2 bereits 1984 innehatte. Auch hinsichtlich der blue öox-Gestaltung macht TF1 bei A2 Anleihen: neben Realbildern und geographischen Karten werden 1988 zusätzlich graphische Darstellungen und Montagen eingesetzt. Trotz einiger 101
verbleibender Unterschiede, etwa in der Vorspanngestaltung, weisen die Nachrichten 1988 vom visuellen Eindruck her ein einheitlicheres Bild als 1984 auf. Als wichtigste gemeinsame Veränderungen seien die stärkere regietechnische Strukturierung der Studiosituation, die Einführung von Überblendungen anstelle von Schnitten beim Übergang von Sprecher- zu Bildpassagen und ein Rückgang des Einsatzes von Schrifteinblendungen während Sprecherpassagen genannt. 4.2.
Sendungskontextualisierende Elemente
Für die Nachrichten von TF1 und A2 ist 1988 im Vergleich zu 1984 eine Intensivierung der den eigentlichen Nachrichtenteil umlagernden Sendungsbestandteile festzuhalten: Verlängerung der Vorspänne, der Verabschiedungssequenz und narrativ-szenische Verräumlichung der Sendungslogos. Besonders aufschlußreich ist eine Betrachtung der Sendungslogos. Ihre Entwicklung weist bei A2 und TF1 in eine einheitliche Richtung. Sowohl auf visueller als auch auf akustischer Ebene ist zunächst einmal eine Verdrängung orthodoxer nachrichtlicher Indizes festzustellen: Weltkarte, Radarschirm, Morsezeichen, Fernschreibergeräusche weichen einer unbestimmteren Symbolik, die sich stärker räumlich entfaltet. Vom statischen deiktischen Index, der in seiner Konventionalität kaum mehr aussagte als etwa: «Jetzt kommen Nachrichten», haben sich die Logos zu polyfunktionalen36 diskursiven Gebilden entwickelt, die sich aufgrund ihrer formalen Elaboriertheit selbst betonen, auf die Nachrichten hinweisen und gleichzeitig auch etwas über sie aussagen: in der unverkennbar von außen nach innen strebenden Dynamik der Bewegungsabläufe versinnbildlicht sich der investigative Anspruch französischer Fernsehnachrichten. Die Dynamik der Logos setzt unweigerlich auch den Zuschauer in Bewegung. Neben den Objektbewegungen, die ohnehin schon visuelle Orientierungsreize liefern, ist hierfür v. a. die Simulation einer dynamischen subjektiven Kamera verantwortlich. Der Zuschauer identifiziert sich so mit dem Apparat, wie er sich später mit dem Sprecherblick identifizieren wird. Genauso wie ihm derpresentateur im kommunikativen Design der Nachrichtensendung den Eindruck vermittelt, Subjekt zu sein, findet hier bereits eine «mise en sujet» statt37. Für den Kinofilm spricht Metz in diesem Zusammenhang von einer «identification cinomatographique primaire» (1977, S. 77), womit eine grundsätzliche Identifikation mit der Kamera, verstanden als Metapher für Film als produzierten Artefakt, gemeint ist. 36
37
Polyfunktionalität ist hier in dem Sinn zu verstehen, wie der Begriff von S. J. Schmidt (1971, S. 11) als Gegenstück zu Polyvalenz verwendet wird: «Die formale Organisation des Wahrnehmungsangebots (als Träger von Wirkungs- beziehungsweise Beeinflussungspotenzen) soll Polyfunktionalität, deren semantisches Äquivalent auf der Rezipientenseite Polyvalenz heißen.» Unter diesem Begriff faßt Blum (1982, S. 130ff.) jene kommunikationsstrategischen Elemente zusammen, die daraufhinwirken sollen, daß sich der Zuschauer als kommunikatives Subjekt vermeint.
102
Insofern als die Sendungslogos von der sie 1984 noch dominant kennzeichnenden kataphorischen Deixis abrücken und jetzt bruchstückhaft in uneigentlicher Rede auf Verfahrensweisen von Fernsehnachrichten verweisen, haben sie in bezug auf diese allegorische Züge angenommen. Ihr futuristisches Design entkoppelt sie in gewisser Weise von einem orthodoxen Nachrichtenverständnis. Ein starkes Indiz für diese Loslösung ist auch in der veränderten musikalischen Unterlegung zu erkennen: Die Musik ist sehr wichtig, denn sie stellt die Nachrichten auf eine Ebene mit verschiedenen Formen von Theater und Ritual - man denke an eine Oper oder einen Hochzeitszug -, bei denen die musikalischen Themen die Bedeutung des Ereignisses unterstreichen. Musik trägt uns sofort in das Reich des Symbolischen, in eine Welt, die man nicht wörtlich nehmen darf. In der wirklichen Welt spielen sich die Ereignisse schließlich ohne musikalische Untermalung ab (Postman 1988, S. 84).
Postman bezieht seine Ausführungen auf nachrichtentypische sonore Sequenzen, die auch Fernschreibergeräusche einschließen (ebd.). Um wieviel mehr muß die Ankündigung eines Wegtragens ins Reich des Symbolischen für den Sendungslogo von TF1 gelten, dessen Musik schon fast die einer Fernsehserie ist. Im Vergleich zu französischen Sendungen wirken die Logos von Heute und der Tagesschau einigermaßen nüchtern und anspruchslos. Josef Ernst geht sogar soweit, den Diskurs der Tagesschau, von ihrem Sendungslogo ausgehend, als autokratische Kommunikation zu bezeichnen, denn es wird keine Anstrengung unternommen, den Zuschauer in besonderer Weise anzusprechen: The sterility of the German production is underlined by the ritualistic opening of the cast {...). The German audience is placed in an authoritarian context which leaves it in a merely receptive position to accept whatever will occur during the next fifteen minutes. The individual member is forced to adjust his intellect and psyche to the network as the technological ritual is forced upon him (Ernst 1987, S. 52).
Was hier auf die Tagesschau gemünzt ist, trifft ebenfalls auf Heute zu. Für beide Sendungen ist auch das Fehlen eines Vorspanns bezeichnend - die drei zu Beginn der /feute-Sendung schriftlich erscheinenden Nachrichtenthemen verdienen im Vergleich zu Frankreich diese Bezeichnung nicht. Der Zuschauer wird einigermaßen unvermittelt und in einer für die ganze Sendung gleichen Weise den Nachrichten ausgesetzt. Sowohl für Heute als auch für die Tagesschau ist bereits mit den Sendungslogos eine codezentrierte semiotische Haltung angedeutet. 4.3.
Ereignisrubrizierung
Neben der zunehmenden Bedeutung sendungskontextualisierender Elemente ist ein weiteres Entwicklungsmerkmal französischer Fernsehnachrichten im Rückgang inhaltlich kategorisierender Schrifteinblendungen (Politique, Sports etc.) zu erkennen. Im Vorspann verzichtet TF1 1988 sogar ganz auf Schriftelemente. Sowohl bei A2 als bei TF1 wird Schrift in den Hauptteilen der Sendungen 103
während der Sprecherpassagen fast nur noch singularisierend in Verbindung mit blue öojf-Einblendungen verwendet. Diese Entwicklung ist in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Einerseits liefert sie ein Indiz für die zunehmende Abnabelung von der tagesaktuellen Schriftpresse als latent vorhandenem Genrevorbild für Informationsrubrizierung. Andererseits führt der Verzicht auf tradierte Informationsrubrizierung automatisch zu einer Betonung der Singularität des je einzelnen Nachrichtengegenstandes. Bezeichnend für den Verzicht auf Integration der einzelnen Nachrichtenbeiträge in irgendeine außerhalb des Fernsehnachrichtengenres liegende Norm ist auch (bei A2) der Wegfall von Schrifteinblendungen mit eher texttypologischem Charakter (L'Image, L'Enquete, L'Histoire etc.). Die Loslösung sowohl von Inhalts- als auch texttypenbezogener Kategorisierung kann als Indiz für eine Autonomisierung des nachrichtlichen Diskurses im Sinne einer Bewußtwerdung medialer Spezifizität gelesen werden. In einem viel weiteren Bezugsrahmen betrachtet, ist hier für diejenigen, welche in den elektronischen Medien die schriftrelativierende Hochburg eines modernen Phonozentrismus sehen, ein - wenn auch schwacher - Beleg für ihre Thesen an die Hand gegeben (vgl. Trabant 1990, S. 188ff.). 4.4.
Filmizität, Narrativität und 'önonciation', Ästhetizität
4.4.1.
Filmizität
Sowohl für A2 als auch für TF1 wurde eine Steigerung der visuellen Dynamik festgestellt. Diese dürfte dominant auf eine stärkere regietechnische und formaldramaturgische Strukturierung der Studiosituation zurückzuführen sein. Die Räumlichkeit des Nachrichtenstudios wird gegenüber 1984 intensiver zum Tragen gebracht, und die Körperlichkeit des prosentateur fließt als Strukturierungsmittel mit ein. Während der Raum in Heute und der Tagesschau nur eine notwendige Bedingung für die Sendung ist, wird er in französischen Fernsehnachrichten aufgrund einer ausgeprägten Szenographie zur gestalteten Situation. Er ist nicht nur die lokale, sondern v. a. die situationale Einbettungsmatrix für die gesamte Nachrichtensendung. Die Bedeutung des szenographischen Elements kam 1988 sehr deutlich in den Mittagsnachrichten von A2 zum Ausdruck, die aus einem eigentlichen Nachrichtenteil und einem Magazinteil bestanden: als Übergangssignal zum Magazinteil konfigurierte sich das gesamte Studiodekor vor den Zuschaueraugen mittels einer Drehvorrichtung neu. Der diesem Vorgang zugrundeliegende Verweis auf die analoge Praxis des Theaters ist unübersehbar. Interessant ist die sowohl von A2 als auch von TF1 1988 vorgenommene Veränderung im Übergang von studiointernen zu studioexternen Situationen: Überblendungen lösen Schnitte ab. Oberflächlich entsteht so der Eindruck eines weichen Ineinanderüberfließens. Filmisch gesehen ist die Blende jedoch das semantisch härtere Übergangssignal. Vor allem im Stummfilmkino wurde sie bekanntlich eingesetzt, um Parallelitätsbrüche zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit sowie damit verbundene Ortswechsel anzuzeigen. 104
In dieser Funktion dürfte sie bei Rezipienten auch als filmische Verfahrensstereotype repräsentiert sein. Die Blende kann als die filmische Konjunktion des Bruchs bezeichnet werden. Sie ist zugleich Gelenk und Trennung. Gerade indem sie einen Bruch indiziert, setzt sie eine übergeordnete Ebene voraus. Als optischer Effekt bewirkt sie zusätzlich, daß der Bilddiskurs sich selbst zum Gegenstand wird: Alors que les images du film ont pour roforents des objets, les effets optiques ont pour r6fe~rents, en quelque sorte, les images elles-memes, ou du moins celles qui leur sont contigues dans la chaine (Metz 1986, S. 173).
Zusammen mit dem in Vergleich zu Heute und der Tagesschau reichhaltigen Einsatz kamera- und regietechnischer Mittel innerhalb der Studiosituation könnte man so französischen Fernsehnachrichten als Gestalt eine gewisse Filmizität attestieren; sie sind im von Etienne Souriau definierten Sinne profilmischer als Heute und die Tagesschau. Unter profilmisch versteht Souriau: tout ce qui existe rdellement dans le monde (ex.: l'acteur en chair et en os; le dicor au studio, etc.), mais qui est sp6cialement destini ä l'usage filmique (1953, S. 8).
Als Gegenbegriff zu profilmisch bietet Souriau afilmisch an, womit gemeint ist: tout ce qui existe dans le monde usuel, indopendamment de tout rapport avec l'art filmique ou sans aucune destination spdciale et originelle en rapport avec cet art (ebd., S.7f.).
Auf der Grundlage der bisher zwischen deutschen und französischen Fernsehnachrichten herausgestellten Unterschiede läßt sich aussagen, daß erstere afilmisch orientiert sind, während letztere zum Profilmischen tendieren. In der Verleugnung ihrer eigenen Gegenständlichkeit streben erstere nach Transzendenz, letztere betonen Immanenz. Die Tatsache, daß französische Fernsehnachrichten eine gewisse Filmizität aufweisen, macht aus ihnen allerdings noch keine Filme. Was sie über die Betonung ihrer Eigengegenständlichkeit hinaus dem Filmischen jedoch annähert, ist eine gewisse Narrativität, die stark an den prosentateur und dessen Aktionsfeld, das Studio, gebunden ist. Das gesamte kommunikative Design der Nachrichtensendung hebt auf Distanzreduktion und Schaffung von Unmittelbarkeit ab. Die zwischen Sender und Empfänger angestrebte Beziehung ist weniger als zweckgemeinschaftliches Mitteilen oder Informieren denn als Erzählen charakterisierbar, das auf affektgemeinschaftliches Erleben abzielt. Der Schein der Bildröhre gewinnt so etwas vom Schimmer eines Kerzenlichts oder vom Flackern eines Lagerfeuers. Als Erzähler ist derprasentateur dabei durchaus Scheherezade aus Tausend und eine Nacht vergleichbar, die ihr Leben nur dadurch verlängern kann, daß sie ständig neue fesselnde Geschichten erzählt.
105
4.4.2.
Narrativität und 'enunciation'
Wenn hier von Erzählen bzw. von Narrativität als Eigenschaft französischer Fernsehnachrichten die Rede ist, so sind damit vorrangig nicht einzelne Nachrichtenbeiträge gemeint, welche offensichtlich narrative Qualitäten auf weisen hierauf wird im nächsten Kapitel noch eingegangen -, sondern die Nachrichtensendung als Gesamtgestalt, insofern als in ihr narrative Verfahrenselemente aktualisiert werden. Narrativität meint hier also eher Symptome des Narrativen ganz in dem Sinne, wie Goodman (1987, S. 192ff.) von «Symptomen des Ästhetischen» spricht38. Beide Ebenen, die Gesamtgestalt und die sie konstituierenden Elemente, können natürlich nicht völlig unabhängig voneinander betrachtet werden, denn die Erzählhaftigkeit französischer Nachrichten ergibt sich wesentlich aus der Narrativität einzelner Beiträge, welche die Gesamtgestalt einer Erzählsituation annähern. Üblicherweise wird im Kontext von Fernsehnachrichten von Begriffen wie nachrichtliche Kommunikation, Mitteilen, Informieren oder Berichten ausgegangen. Dies mag für Sendungen wie Heute und die Tagesschau auch durchaus angebracht sein, deren Sprecher als neutrale Exekutanten von Texten lediglich ihr Äußeres und ihre artikulatorische Fertigkeit zur Verfügung stellen. Als Sender der nachrichtlichen Botschaft kann hier nur sehr diffus eine anonyme Redaktion erahnt werden. Zudem agiert der Sprecher in immergleicher Weise und aus einer immergleichen Situation heraus; keine kameraoder regietechnischen Mittel zeigen an, daß er selbst Gegenstand irgendeines Kommunikationsvorgangs ist, und er wiederum bleibt dem, was er verliest, als Subjekt extern39. Sowohl im alltags - als auch im wissenschaftssprachlichen Sinn ist kein point of view auszumachen. Die Beiträge sind asyndetisch aneinandergereiht; die Sendung als Ganzes erhält Geschlossenheit über ihre Zielsetzung als Genre, nicht aufgrund inhärenter Qualitäten40. Narrativität liegt alleine schon deshalb nicht vor, weil keiner da ist, der etwas erzählt, und auch niemand wirklich angesprochen wird. Der kommunikative Status ist der einer Gebrauchsanweisung: kein erkennbarer Autor, keine Subjektivität, totale gegenstandsgerichtete Transparenz; ob sie gelesen wird oder nicht, ist ihr gleichgültig. Heute und die Tagesschau realisieren auch keine ausgesprochene Dramaturgie, es sei 38
39
40
«Im allgemeinen ist ein Symptom weder eine notwendige noch hinreichende Bedingung, sondern vielmehr ein Merkmal, von dem wir glauben, daß es die Anwesenheit einr bestimmten Krankheit oder eines anderen auffälligen Zustande wahrscheinlicher werden läßt. Und ich behaupte nicht einmal, daß die Symptome des Ästhetischen, die ich aufliste, konjunktiv hinreichend oder disjunktiv notwendig sind, obwohl ich bezweifle, daß sie dem, was ästhetisch ist, häufig alle fehlen» (Goodman 1987, S. 192f.). Hierzu Schmitz (1989, S. 250): «Eben das garantiert a-subjektives Sprechen und in diesem Sinne eine spezielle Objektivität' des Textes. Aufzählen, nicht erzählen ist der heimliche Gestus der Tagesschau'-Sprache: eine Sprache ohne Sprecher, naives Ideal des radikalen Strukturalismus.» Genau dieser Umstand ist ein wesentlicher Pfeiler des Objektivitätsanspruchs deutscher Nachrichten: «Gerade in ihrer Stückhaftigkeit, die Zusammenhang positivistisch leugnet, gibt sie sich (die Tagesschau, R. B.) als ein über Zweifel erhabenes, objektives Bild der relevanten Tageswirklichkeit...»(Schmitz 1989, S. 226).
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denn, daß besonders Wichtiges eher im Anfangsbereich zu finden ist. Die drei beispielsweise für die Narratologie Gorard Genettes konstitutiven Begriffe «histoire (I'ensemble des e"ve"nements raconte"s), redt (le discours, oral ou e"crit, qui les raconte) et narration (l'acte reel ou fictif qui produit ce discours, c'est-ä-dire le fait meme de raconter)» (Genette 1983, S. 10) sind auf Heute und die Tagesschau nicht anwendbar. «Narration» setzt eine pragmatisch determinierte Situation voraus, in welcher die «histoire» zum «recit» transformiert wird. Zum einen aber kennen Heute und die Tagesschau keine Situation, sondern nur eine Uhrzeit, zu der sie wie göttliche Sendboten der Wahrheit aus dem Äther fallen, zum anderen strebt ihre semiotische Konzeption ja gerade danach, einen Unterschied zwischen «histoire» und «re"cit» zu leugnen. Sehr trefflich wird der nonnarrative Charakter der Tagesschau - die Ausführungen treffen auch auf Heute zu - von Schmilz dargelegt: Erzählungen erheischen Aufmerksamkeit. Ihr hoher Organisationsgrad dient als ein Mittel, Sprecher und Hörer zu einer gleichartigen Bewertung des Erzählten zu bringen. Der 'Tagesschau' hingegen ist alles gleich gültig, sie könnte ebensogut anderes oder auch das gleiche in anderer Mischung und Reihenfolge berichten. Es gibt keine 'Gesamtperspektive'; ihr Wissen ist nicht 'narrativ' ( . . . ) . Sie legt es auch nicht darauf an, die Zuschauer zu begeistern; deren Aufmerksamkeit wird durch kaum geordnete Fülle und Vielfalt zugleich erzwungen und überfordert, jedenfalls nicht gerichtet: sie mag sich gleichmäßig oder gar nicht auf alle Bestandteile des Sendetextes verteilen (Schmitzl989,S.149).
Was für französische Fernsehnachrichten die Verwendung des Adjektivs 'narrativ' zunächst einmal rechtfertigt, ist die Tatsache, daß wir es mit einer stark arrangierten Situation zu tun haben, mit einem inszenierten kommunikativen Dispositiv, das nicht nur zur Durchsicht, sondern auch zur Ansicht konzipiert ist und sich so sehr bewußt zur Wahrnehmung dargibt. Studiodekor, blue boxGestaltung, kamera- und regietechnische Mittel verweisen auf einen Urheber. Bezeichnenderweise schreibt sich im jetzigen Sendungslogo von A2 (1989 eingeführt) der Schriftzug Journal als Imitation einer Handschrift auf den Bildschirm ein. Hiermit ist Vertraulichkeit und Nähe suggeriert, v. a. aber die Präsenz eines menschlichen Urhebers als Kontrast zu anonymer Technik. Auf der gleichen Ebene ist im Sendungsabspann die Einblendung der Namen der Sendungsverantwortlichen zu interpretieren. Erzähltheoretisch ist in französischen Fernsehnachrichten im von Gorard Genette definierten Sinne ein diegetischer Raum eröffnet: L'histoire raconte"e par un re"cit ou reprösentoe par une piece de thoätre est un enchainement, ou parfois plus modestement une succession d'6v£nements et/ou d'actions; la di6göse, au sens oü l'a propose" I'inventeur du terme (Etienne Souriau, si je ne m'abuse) et oü je l'utiliserai ici, c'est Punivers oü advient cette histoire (Genette 1982, S. 342).
Als «univers di6g£tique comme lieu du signifie"» (Genette 1983, S. 13) sind französische Fernsehnachrichten ein profilmischer und teilweise mit filmischen Mitteln konstituierter Raum, der sich von vornherein als zeichenhaft zu verste107
hen gibt. Natürlich liegt auch hier keine durchgängige histoire vor, jedoch versucht der prosentateur, wenigstens stellenweise, durch Überleitungen Kohärenz herzustellen. Kamera- und regietechnische Mittel erzeugen den Eindruck eines höheren Organisationsgrades als in Heute und der Tagesschau. Der Zuschauer wird einerseits vom prosentateur direkt angesprochen und andererseits (v. a. bei A2) durch Sprachspielhaftigkeit und Verzicht auf eindeutige blue boxGestaltung zu geistiger Mittätigkeit angeregt. Tendenziell gilt die Umkehrung der von Schmitz für die Tagesschau getroffenen Feststellung: Die Tagesschau hat keinen pluralen und keinen polysemischen Text. Folglich unterbindet sie eine spielerisch-konstruktive Interpretation und macht ihren Adressaten zum 'Konsumenten' (Schmitz 1989, S. 251).
Der diegetische Raum der Fernsehnachrichten ist hierarchisch zweigegliedert: einerseits handelt es sich um das Nachrichtenstudio als übergeordnete Integrationsebene und andererseits um studioexterne Elemente, die vom prosentateur in der Studiodiegese verankert werden. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig hervorzuheben, daß in französischen Fernsehnachrichten ein zeitlich weitaus größerer Anteil als in Heute und der Tagesschau aus vom Sprecher anmoderierten Beiträgen besteht. Zudem ist der Begriff der Anmoderation für Frankreich inhaltlich anders als für Deutschland zu füllen. In der Tat geht es in vielen Fällen weniger darum, für einen nachfolgenden Text einen verstehenserleichternden Faktenkontext bereitzustellen, als eine gewisse Stimmung zu erzeugen, in welcher der entsprechende Text zu rezipieren ist. Für konkretere Ausführungen muß über hier und da bereits verstreute Andeutungen hinaus auf das nächste Kapitel verwiesen werden. Festgehalten sei, daß die grundsätzliche Opposition 'Studio vs. non-Studio' sich im wesentlichen aus der Iteration von Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen konstituiert. Innerhalb der Studiodiegese verankert der prfsentateur also andere Diegesen, in bezug auf welche er, wie Scheherezade, als Primärerzähler fungiert und innerhalb derer andere Erzähler auftreten (Journalisten, Reporter), die dann ggf. neue diegetische Räume eröffnen, in welchen wiederum andere Personen Erzählfunktion wahrnehmen können (Augenzeugen, persönlich Betroffene etc.). Auf diese Weise bildet die Nachrichtensendung eine Verschachtelung von Diegesen, wie sie Genette (1983, S. 57) in Form von ineinander eingeschlossenen Sprechblasen visualisiert. Innerhalb dieses Zusammenhangs ist die Verwendung von Überblendungen zwischen Sprecher- und non-Sprecherpassagen als narratorgerichtetes erzählerisches Mittel zu bewerten41. Mit Blenden oder gleichwertigen Verfahren würde in Filmen wahrscheinlich von einer Lagerfeuersituation zum diegetischen Raum der dort erzählten Geschichten übergeleitet werden; für eine filmische Umsetzung von Tausend und eine Nacht sind die Übergänge zwischen Scheherezades 41
Vgl. Fran9ois Jost (1983, S. 206): «Dans le cas oü la voix du narrateur s'estompe devant le rocit visuel, il est suppos6 qu'il en assume la responsabilite".» In Fernsehnachrichten ist es natürlich nicht die Stimme, sondern die gesamte Präsenz despr&entateur, die sich ausblendet, was aber prinzipiell keinen Unterschied macht. 108
Einleitungen und dem eigentlichen Beginn der jeweiligen Geschichten analog vorstellbar. An dieser Stelle ist auch auf das Blickverhalten des präsentateur zu verweisen, der den Zuschauer, oft von einer Körper- oder Kopfdrehung unterstützt, sozusagen durch den Nebel der Blende in einen anderen Raum zieht. Auch wechselnde sprecherbezogene Einstellungsgrößen spielen hier eine Rolle, denn sie ermöglichen es, den presentateur in ein bestimmtes proxemisches Verhältnis zu seinen eigenen Äußerungen zu setzen. Nähere Einstellungen werden z. B. gerne bei stark emotionsträchtigen Themen wie Kindesentführungen oder sonstweichen Schreckensmeldungen und bei human interest stories allgemein gewählt, während weitere Einstellungen eher für emotional distantere Themen bevorzugt werden. Die Handhabung des Wechsels von Einstellungsgrößen ist jedoch weit davon entfernt, als systematisch bezeichnet werden zu können. Zusammen mit der Verschachtelung von Diegesen ist Nähe zum Erzählerischen für französische Fernsehnachrichten auch ganz stark in der Vermitteltheit über Personen gegeben, was wiederum, wie dies bei der Analyse des presentateur bereits herausgearbeitet wurde, einem generellen Zug französischer Informationskultur zu entsprechen scheint. In diesem Zusammenhang ist auch der Erfolg von sehr explizit dem Erzählen verpflichteten Sendungen zu sehen: auf A2 erzählte der berühmte Historiker Alain Decaux Geschichte als Geschichten; ebenfalls auf A2 erzählte Eve Ruggieri alltäglich, außer am Wochenende, mit sehr viel Pathos die Lebensgeschichte berühmter Persönlichkeiten. Das letztgenannte Beispiel ist um so interessanter, als Ruggieri eine vergleichbare Sendung auf dem nationalen Radiosender France Inter betreute, hier also ein Beispiel für eine über das Moment des Erzählens geleistete Transmedialisierung vorliegt. Bei A2 und TF1 waren im 1988 untersuchten Zeitraum in Bildberichten je über 100 Interviews und Stellungnahmen zu verzeichnen, die offensichtlich nicht allgemein zugänglichen Quellen (z.B. Pressekonferenzen) entstammten, sondern als biographische Zeugnisse eigens gesammelt und in Bildberichte integriert wurden. Für Heute ist die entsprechende Anzahl 47, für die Tagesschau sogar nur 16. Neben personaler Vermittlung kann auch Vermittlung qua exemplum als erzählerisches Verfahren betrachtet werden. Etwa 20% der Nettothemenzeit von TF1 und A2 werden von entsprechenden Beiträgen belegt: zur Darlegung der Problematik der Entschädigung von Unfallopfern wird ein konkreter Fall rekonstruiert (A2,29. Juli 1988); ein Bericht über die Haute CoutureWoche findet ihren Aufhänger im Streß eines Mannequins, das einen Tag lang von einer Fernsehkamera begleitet wird (A2, 26. Juli 1988); die angespannte Situation in Israel wird anhand einer Busfahrt auf einer Linie, die den arabischen mit dem jüdischen Teil Jerusalems verbindet, exemplifiziert (A2, 25. Juli 1988); im Zeichen des durch die Perestroika verstärkt geweckten Interesses an der Sowjetunion zeigt TF1, wie eine russische Familie ihren Sommerurlaub verbringt (26. Juli 1988) etc. Derartig exemplifizierende Beiträge fehlen in Heute und der Tagesschau. Hierin dokumentiert sich erneut das zwischen Deutschland und Frankreich unterschiedliche Nachrichtenverständnis: akute Aktualität, Er109
eignis- und Ergebnisorientiertheit hier vs. akute und latente Aktualität sowie problemorientierte Berichterstattung dort42. Die Abneigung von Heute und der Tagesschau hinsichtlich des Erzählerischen zeigt sich auch in einem gegenüber TF1 und A2 wesentlich höheren Anteil von Beiträgen mit Institutionen und Körperschaften als Ereignisträgern (Bundesverfassungsgericht, Bundesverkehrsministerium, Bund Deutscher Ingenieure, Evangelische Kirche Deutschland etc.). Derartige subjektlose Beiträge machen bei Tagesschau und Heute etwa 20% der Nettothemenzeit und 25% der Nachrichtenthemen aus. Bei A2 sind es 13% der Nettothemenzeit und 15% der Themen, bei FT1 nur 3% der Nettothemenzeit und lediglich 6% der Nachrichtenthemen. Ein Großteil der vorausgehend als narrativ gewerteten Phänomene ist auch innerhalb Benvenistes Konzept der enonciation beschreibbar, das in der französischen filmologie oft fälschlich synonym zu narration gehandhabt wird43. Nicht zufällig ist der anläßlich der Behandlung des Blickverhaltens des presentateur ausführlich zitierte Artikel Eliseo Verons (1983) in einer unter dem Thema 'Enonciation et cin£ma' stehenden Ausgabe der Zeitschrift Communications (38,1983) erschienen44. In der gleichen Ausgabe zieht Franfois Jost (S. 203) im Kontext der Analyse filmischen Erzählens zur Verdeutlichung narratologischer Begriffe Gerard Genettes auch Fernsehnachrichten heran. Die Assoziation von Fernsehnachrichten mit Filmizität sowie ihre Erzählhaftigkeit sind damit zumindest angedeutet. Gleichzeitig manifestiert sich aber auch eine Unsicherheit hinsichtlich der Bewertung der nachrichtlichen Kommunikationssituation: Narration oder, vorsichtiger und unspezifischer, einfach nur Text/Diskurs^ Diese Unsicherheit ist in der Hybridität des Objekts Fernsehnachrichten selbst begründet. Aus gutem Grund beruhen die bisher von mir gemachten Ausführungen im wesentlichen auf der Opposition 'Studio vs. non-Studio' sowie auf studioexternen Diegesen. Auf einen Narrator verweisende kamera- und regietechnische Mittel, starke personale Vermittlung und Exemplifizierung sowie der insgesamt starke Gestaltungscharakter wurden dabei als Indikatoren für Narrativität aufgefaßt. Bewußt unberücksichtigt blieben studiointerne Geschehnisse, die den L/ve-Charakter französischer Fernsehnachrichten ausmachen: Gespräche mit eingeladenen Gästen, Interventionen durch Redaktionsspezialisten und Schaltgespräche. Hier fällt es in der Tat schwer, den Begriff Narrativität auf42
43 44
Außerdem manifestiert sich so für Frankreich im Gegensatz zu Deutschland eine stärkere lebensweltliche Orientierung, die Interesse am Subjekt zeigt: «Populistische Züge sind der 'Tagesschau' weitgehend fremd, aber Individuen haben eben auch keine Chance, weshalb vor allem der einfache Bürger keine nennenswerte Rolle spielt» (Schmilz 1989, S. 242). Für eine differentielle Bestimmung der beiden Begriffe s. Jean-Paul Simon (1983). Die nachfolgenden Überlegungen sind keineswegs als widersprüchlich zu den in Kapitel III., 2.2. gemachten Ausführungen zum presentateur zu erachten, die sich wesentlich auf Veron (1983) stützten und den presentateur als bzw. teur characterisierten. Es geht hier vielmehr darum, das eher neutral deskriptive Konzept der ononciation im Sinne einer «ononciation narrative» (Gaudreault 1987, S. 207) zu spezifizieren. 110
rechtzuerhalten. Es scheint eher angebracht, mit dem Konzept der enonciation zu operieren, wie dies von Veron (1983) und Mottet (1986) getan wird. Veron verwendet den Begriff rein deskriptiv so, daß er Narrativität nicht vorab ausschließt, während er bei Mottet, mit einem entwicklungsprognostischen Wert versehen, zumindest eine starke Relativierung von Narrativität impliziert. Mottet spricht dem Bild des Informationsdiskurses weitgehend referentielle Funktion ab. Seine massenhafte Produktion und Reproduktion habe zu standardisierten und stereotypen Verwendungsweisen geführt, die nur noch als «marques referentielles» (1986, S. 196) aufzufassen seien, als Beweis dafür, daß überhaupt von Realität die Rede ist. Die Konsequenz daraus: C'est peu ä peu tout le processus de communication qui va se ddplacer des dnonces vers les protagonistes de l'6nonciation. Le 'pauvret£' representative des images d'actualitd n'^tant plus en mesure (mais l'ont-elles jamais ?) d'assurer seule une relation forte, fondee, entre les ononces et leur eventuels spectateurs, c'est au(x) sujet(s) de ciation que va revenir cette fonction, majeure, de contact, de mise en confiance (ebd., S. 195).
Nach Mottet entsteht so ein neuer «contrat e"nonciatif», der zu einer «deValuation de l'e"nonce» zugunsten einer Aufwertung der enonciation und der sie tragenden enonciateurs führt (ebd.): Plutöt que de prolonger une tradition figurative qui consistait ä s'efforcer de devoiler le monde en le mimant, l'ecran de television semble avoir choisi de fonctionner autrement, notamment comme Op£rateur d'6changes' (ebd., S. 197).
Auf Mottet ist letztendlich die Figur einer Spirale anwendbar, die sich von der Repräsentation der Realität über die von Mottet nicht thematisierte Etappe der Realität der Repräsentation zur Repräsentation der Realität der Repräsentation windet (vgl. Guemriche 1986, S. 132). Die Frage, ob es eine qualitativ weiterreichende Entwicklung gibt und wie diese aussehen könnte, wird bei Mottet nicht aufgeworfen. Ein Belegbeispiel für die These von Nachrichten als «Operateur d'ochanges» habe ich - ohne daß es dort diesen Status gehabt hätte - bereits auf S. 81 angeführt, wo es im Rahmen der Dossierbildung um eine 'inhaltsleere' Direktschaltung ging, die einfach nur signalisierte, daß Tuchfühlung mit der Realität gehalten wird. Mottet ist zunächst einmal vorzuwerfen, daß seine Ausführungen auf der Analyse einer einzelnen Nachrichtensendung aufbauen und daß zudem nachrichtliche Information unterschwellig auf politische Information reduziert wird, wo Schalt- und Studiogespräche sowie Korrespondentenberichte in der Tat relativ häufig sind. Wie wenig diese Reduktion dem Wesen französischer Fernsehnachrichten gerecht wird, kann in den nachfolgenden Kapiteln hinlänglich demonstriert werden. Daß sich Mottets Ausführungen nicht nur an einer einzelnen Nachrichtensendung orientieren, sondern zudem an einer, in der Jean-Luc Godard, dessen fernsehkritische Haltung - wie die vieler anderer Cineasten -ja hinlänglich bekannt ist, in einer Direktschaltung von Cannes aus die Bildgestaltung kommentierte (A2 midi, 22. Mai 1982), läßt die von Mottet vertretene 111
Position um so brüchiger erscheinen. Umgekehrt kündet die Tatsache, daß kein geringerer als Godard (Fern)Gast der Nachrichten war, geradezu von einer kinematographischen Sehnsucht französischer Nachrichtenmacher, von einem Wunsch, Bildern mehr zu entlocken, als diese aus sich heraus zu geben scheinen. In diesem Zusammenhang ist auch auf die in Kapitel II herausgestellte Informationskonzeption französischer Fernsehsender zu verweisen, die zwischen Information und Ästhetik, im Gegensatz zur Bundesrepublik, kein Ausschließlichkeitsverhältnis sieht. Mottets Rede von einem aus der angeblichen «pauvreto repräsentative des images d'actualiti» resultierenden neuen «contrat 6nonciatif» kann selbst für den Bereich der politischen Information in ihrer Ausschließlichkeit nicht akzeptiert werden. So ist folgender Aussage in ihrer apodiktischen Formulierung entschieden entgegenzutreten: Ce qui confere pleinement son efficacitö ä l'image, c'est moins son contenu, sä qualite" esthe"tique, son roalisme, que sä relation ä un £v£nement unique, par dofinition contigu, sur lequel eile nous contraint ä porter, pendant quelques instants, notre regard, notre attention. Vide de tout contenu, pure force ddsignatrice, I'image-pr6texte du Journal te"16vise~ suffit pourtant ä itablir notre relation aux faits (ebd., S. 193).
Es ist dies eines der vielen im französischen Diskurs über Fernsehinformation verbreiteten Beispiele für eine aus einem bestimmten Horizont heraus apriorisch eingeschränkte, dabei aber durchaus einer gewissen medienkritischen doxa wohlgefällig entsprechenden Sicht, die sich bei extensiver Betrachtung des Gegenstandes jedoch als verzerrt erweist. Als Gegenbeispiel zu Mottet sei ein Beitrag aus den 20-Uhr-Nachrichten von A2 vom 5. Oktober 1990 herangezogen. Es handelt sich um eine Sprecher-(-Bildbeitrag-Kombination zur grausamen Folterung und anschließenden Hinrichtung des liberianischen Staatspräsidenten Samuel Doe durch seinen Kontrahenten Prince Johnson. Die Szene war in sichtlich semi-professionellem Standard als Geheimkonserve gefilmt worden und kam nur durch eine Indiskretion an die Öffentlichkeit. Der intime Horrorstreifen wurde auch von deutschen Nachrichten ausgestrahlt. Einer offiziellen Version zufolge war das Opfer zehn Tage zuvor an Schußverletzungen gestorben. Die Bilder stellten eine doppelte Sensation dar: zum einen zeigten sie die grausame Folterszene, zum anderen lieferten sie einen flagranten Beweis gegen die bis dahin unangezweifelte offizielle Todesversion. A2 baute seinen Bildbericht zweigliedrig auf. Eine erste Sequenz zeigte in ausgelassener Stimmung singende, tanzende und musizierende Soldaten; erst im Anschluß daran wurde die Folterszene gezeigt. Der Verbaltext bezeichnete die gezeigten Soldaten explizit als diejenigen, welche gerade ihren Staatschef grausam abgeschlachtet hatten und jetzt ihre Bluttat feierten. Die semi-professionelle Qualität der Aufnahmen von der Folterszene kontrastierte augenfällig mit dem professionellen Standard der Aufnahmen von den sich vergnügenden Soldaten, die vermutlich von A2 erst gedreht wurden, nachdem die Bilder der barbarischen Exekution an die Öffentlichkeit gelangt waren (also vierzehn Tage nach dem Referenzereignis). Zum einen kann hier nicht von einer «pauvreto 112
representative des images» die Rede sein, und die Folterszene ist sehr wohl nicht «vide de tout contenu», denn sie zeigt genau das, was gezeigt werden soll. Zum anderen, und dies ist das eigentlich Interessante an dem Beispiel, werden hier ohnehin schon 'starke' Bilder im Rahmen eines flash-back narrativ eingebunden. Indem die «Ordnung des Erzählens» und die «erzählte Ordnung» nicht übereinstimmen, liegt im Sinne Goodmans eine «gedrehte Geschichte» vor (1987, S. 175), die real Geschehenes durch nachträglich Erfundenes überhöht (die inventio der klassischen Rhetorik wird hier unangemessen wörtlich genommen). Das von Violette Morin (1978) für den televisuellen Informationsdiskurs als typisch hervorgehobene Schwimmen zwischen einem konstativen und einem fabulativen Pol ist im vorausgehenden Beispiel eindeutig in Richtung des Fabulativen entschieden. Wichtig dabei ist, daß das Fabulative als solches transparent ist; dafür sorgt alleine schon der technische Qualitätskontrast zwischen den beiden Sequenzen des Berichts. Es fällt schwer anzunehmen, daß die Autoren ernsthaft davon ausgingen, den Zuschauer täuschen zu können. Vielmehr scheint ein stillschweigend auf dem Kriterium der vraisemblance geschlossener 'contrat narratif vorzuliegen, der es gestattet, erzählerisch mit Informationsstoffen umzugehen, unter der Bedingung freilich, daß wesentliche Inhalte erhalten bleiben. In dem angeführten Beispiel sind nicht nur Symptome des Narrativen realisiert, sondern in der semantischen Struktur der audiovisuellen Konfiguration ist eine Offenheit angelegt, die es dem Rezipienten gestattet, unterschiedh'che Topics (vgl. Eco 1990b, S. 1083ff.) auf den Text zu applizieren, die sich aus der Aktivation verschiedener «intertextueller Szenographien» (ebd., S. 101 ff.) 45 ergeben würden. Der Text kann beispielsweise durch die Folie der Erinnerung an Szenen gefilmter und/oder filmischer Hinrichtungs- und Verhörszenen im Dritten Reich aufgesogen werden oder, aus einem zivilisatorischen Eurozentrismus heraus, als kannibalistisches Ritual, was sich besonders aufgrund der tanzenden und singenden (schwarzen) Soldaten anbietet, vielleicht auch, kulturspezifischer, als Evokation der Grausamkeit der Kolonialkriege (Indochina, Algerien). Hier nur von einem enoncozu reden, würde den Gegenstand stark unterbestimmt lassen, denn zuschauerbezogen geht es nicht um eine Aussagerekonstruktion, sondern um die Kontruktion einer Fabula. In der Narrativierung ist eine außerhalb der liegende Strategie gefunden, um den Abnutzungserscheinungen des Visuellen entgegenzutreten. Wie dies zu bewerten ist, steht hier nicht zur Diskussion. Mottets These vom zunehmenden Gewicht der Enunciation und der damit verbundenen «devaluation de l'ononce"» ist also mit Vorbehalt zu begegnen. Ihr könnte so etwas wie die 'corruption narrative de I'enonc6' entgegengesetzt werden. Mottet ist um so mehr zu relati45
Eco verwendet den Begriff Szenographie synonym zu Marvel Minskys /rame-Begriff als «eine Datenstruktur, die dazu dient, eine stereotype Situation zu repräsentieren, wie in einem bestimmten Wohnzimmer sein oder zu einem Kindergeburtstag gehen» (ebd., S.99).
113
vieren, als er keine empirischen Vergleichswerte zur Verfügung hat. In der Tat erbringt ein einschlägiger Vergleich meines Korpus von 1984 mit dem von 1988 keinen Beleg für eine Zunahme von Schaltgesprächen, Korrespondentenberichten oder Studiointerventionen durch Redaktionsspezialisten. Der contrat narratif, den ich Mottets contrat enonciatif entgegenhalte, läßt sich anhand der von Salah Guemriche eher beiläufig vorgelegten Gleichung «serment + connivence = crodibilite"» (Guemriche 1986, S. 132) präzisieren, welche die den Fernsehjournalisten seitens der Zuschauer allgemein entgegengebrachte Glaubwürdigkeit erklären soll. Mit «serment» ist dabei der Schwur auf Wahrhaftigkeit gemeint, die Versicherung, nicht zu lügen. Für Fernsehnachrichten ist dies der allgemeine Anspruch des Genres schlechthin. «Connivence», hier wohl am besten mit unter einer Decke stecken übersetzt, meint ein spezifisches, von Guemriche nicht näher ausgeführtes Verhältnis zwischen «journaliste-narrateur» (ebd., S. 133) und Zuschauer. Beide zusammen (serment und connivence) erzeugen «crodibilito». Am interessantesten ist hier der Begriff der «connivence»: es gilt das Gewebe jener Decke zu bestimmen, unter welcher Zuschauer und Journalisten/Redaktion gemeinsam stecken, deren stillschweigend geschlossenen Pakt zu ergründen. Mottets Rede vom «contrat e"nonciatif», von audiovisuellen Äußerungsakten, die auf sich selbst verweisend mehr ihre ereignisgebundene Faktizität als irgendwelche Inhalte vermeinen, erscheint mir für eine gemeinsam geteilte Decke zu technizistisch kühl. Damit soll Mottets Sicht der Fernsehnachrichten nicht als gänzlich verfehlt abgetan werden. Für einige Bestandteile ist sie im Gegenteil durchaus zutreffend. Allerdings fällt es schwer, die Gesamtheit einer Nachrichtensendung, von flagranten Gegenbeispielen obiger Art ganz abgesehen, als bloße Verkettung mehr oder weniger selbstgenügsamer Äußerungsakte zu akzeptieren. Der starke Gestaltungscharakter sowie die alles dominierende Figur despresentateur stehen dem entgegen. Mir scheint es viel eher angebracht, französische Nachrichten als Kommunikationssituation zu modellieren, in welcher im Medium des Erzählens, verstanden als anthropologisches Bindemittel, ein kulturspezifisches kollektives Sinnangebot gemacht wird: Et, de fait, les JTconsistent moins en des 'journaux' qu'en des 'journaux de la nation', au sens oü parle de 'journaux intimes', de 'journaux de classe' et de 'journaux de famille' (ainsi que de 'journaux de route') (Poulle & Bautier 1986, S. 107).
Die im bisherigen Verlauf der Arbeit herausgestellten kulturellen Spezifika unterstützen die von Poulle & Bautier vertretene Ansicht46. Deren vorsichtige Formulierung («consistent moins en... qu'en») deutet die Schwierigkeit einer genretheoretischen Statusbestimmung französischer Fernsehnachrichten an. 46
Vgl. auch Miege (1986b, S. 108) zur Funktion von Fernsehnachrichten: «C'est le lieu de focalisation de la vie publique de la nation. Tous, hommes politiques, artistes, intellectuels aspirent ä y 'passer' ne serait-ce qu'un instant, tant le principe du rendezvous national est fort. De ce fait, il joue le röle de tableau d'honneur - ou de doshonneur - de la nation en meme temps que celui de son me"mento.» 114
Entsprechende Bemühungen hätten wahrscheinlich viel durch eine Beschäftigung mit den Literatur-, Film- und Journalistikauffassungen des russischen Formalismus, v. a. mit den Sujet- und Montagetheorien (vgl. Hansen-Löve 1978, S. 542ff.), zu gewinnen. 4.4.3.
Ästhetizität
«Exemplifikation», «relative Fülle», «syntaktische Dichte», «semantische Dichte», «multiple und komplexe Bezugnahme» sind nach Goodman Symptome des Ästhetischen: Alle fünf sind Merkmale, die tendenziell die Durchsichtigkeit reduzieren, die tendenziell die Konzentration auf das Symbol erfordern, um bestimmen zu können, worauf es Bezug nimmt. ( . . . ) Keines ist beim Ästhetischen immer anwesend oder beim Nichtästhetischen immer abwesend ( . . . ) . Auch stellen die Symptome keine Möglichkeit dar, den Grad zu messen, in dem ein Symbol oder eine Funktion ästhetisch ist; mehr Symptome aufzuweisen, bedeutet nicht, ästhetischer zu sein (Goodman 1987, S. 196).
Es fällt nicht schwer, in französischen Fernsehnachrichten im Sinne Goodmans Symptome des Ästhetischen verwirklicht zu sehen. Man denke etwa an Sprachspielhaftigkeit, an die blue bo*-Gestaltung, an die Phänomene, die ich Symptome des Narrativen nannte, oder auch ganz generell an die Vielfalt eingesetzter technischer Mittel. Durch all dies wird «Durchsichtigkeit reduziert», der nachrichtliche Gegenstand seiner selbst entrückt. Akzeptiert man, daß französische Fernsehnachrichten bis zu einem gewissen Grade ästhetisch sind, ließe sich sogar aussagen, daß deren Ästhetizität, gemessen an formalgestalterischer Elaboriertheit, zwischen 1984 und 1988 angestiegen ist. So lautet auch der Befund von Landbeck (1991) für die von ihr untersuchten Jahre 1986—1988. Für französische Fernsehnachrichten wird dort folgende Feststellung getroffen: Hier kann man von einer genuinen Fernsehästhetik sprechen, wogegen die deutschen Filmberichte qualitativ nicht an eine «Ästhetik» herankommen. Diese Ergebnisse sind parallel zu den Befunden im Bereich der Werbung zu sehen (...}. Man kann somit hier die These der Beeinflussung der Nachrichten- durch Werbeästhetik bewiesen sehen (Landbeck 1991, S. 153).
Wenn auch von Landbeck anders intendiert, ist dies letztlich ein sich wohlgefällig in den Diskurs der 'meta-medialen Internationalen' einreihender Befund: Information wird Opfer explodierender ästhetischer Oberflächen und unterliegt somit einem außerhalb ihrer selbst entstandenen audiovisuellen Attraktivitätsdruck (vgl. auch Kloepfer 1986, Kloepfer & Landbeck 1988). Wirft man allerdings einen Blick auf die französischen Nachrichten des Jahres 1990, muß man feststellen, daß sowohl bei A2 als auch bei TF1 keine Vorspänne mehr vorhanden sind, die für A2 1988 noch eine Hochburg des Sprachspiels darstellten. Auch innerhalb der Nachrichtensendungen ist ein deutlicher Rückgang an Sprachspielhaftigkeit zu verzeichnen, und die blue box ist sowohl bei A2 als auch bei TF1 entschieden unscheinbarer und ihrer Gestaltung nüchterner geworden. Außerdem ist eine spürbare Zurückhaltung bei der 115
sprecherbezogenen Verwendung unterschiedlicher Einstellungsgrößen, Kamerawinkel und Zooms eingetreten. Diese Beobachtungen relativieren die Aussagekraft der These von einer zunehmenden Ästhetisierung von Fernsehnachrichten. Alles deutet in Richtung der von Asline festgestellten und für die Zukunft weiter prognostizierten Exklusivstellung des prosentateur: Le journal s'identifie totalement a son prdsentateur: il n'y a plus que lui sur l'ocran, le docor est flou ä l'arriere. II y a peu de trucages. Simplicito, gros plan, personnalisation extreme sont les maitres mots des anndes quatre-vingt-dix (Asline 1990, S. 260).
Dennoch, und wie immer man Ästhetik oder Ästhetizität zwischen sinnlicher Erkenntnis und oberflächlichem Schein definieren mag, fest steht, daß französische Fernsehnachrichten der begrifflichen Schnittmenge dessen, was mit Ästhetik gemeint sein kann, näher kommen als deutsche Fernsehnachrichten. Was Oberflächenveränderungen betrifft, stimme ich dabei allerdings weitgehend der von Bernard Miege gegeben Einschätzung zu: Nous ne sommes pas loin de penser qu'en France un modele 'Journal t6l6vis6 de 20 heures' s'est forgo tout au long de ces quarante dernieres ann£s et que, sous peine de perdre de l'auditoire, il est bien difficile pour une direction de chaine, d'en modifier les caractoristiques essentielles: C'est sans doute pourquoi, ä TF1 comme ä A2, on n'est pas avare d'innovations technologiques, faute de pouvoir changer les regies de fonctionnement du rendez-vous quotidien (Miege 1986b, S. 90). Les emballages changeront et sans doute aussi quelques ingredients, les voix de baryton cederont la place aux tdnors, comme les yeux de velours aux yeux de braise, mais le cours du dispositif ne peut changer: il en va de l'inte"gration des populations nouvelles et done de la nation (ebd., S. 109).
Auf dem Hintergrund dieser Ausführungen tut sich nicht nur die Frage auf, ob Ästhetizität eine geeignete Vergleichsfolie für deutsche und französische Fernsehnachrichten abgibt, sondern viel genereller diejenige, ob beide überhaupt miteinander vergleichbar sind. Aussagen wie: «Die Fernsehnachrichten beider Länder konnten als Varianten derselben Gattung, die unterschiedlichen Inszenierungsstrategien gehorchen, dargestellt werden» (Landbeck 1991, S. 167) ist genauso zu mißtrauen wie der Mutmaßung, daß es wahrscheinlich sei, «daß weniger der kulturelle Konsens als die Konkurrenzsituation in Frankreich zu einer medien- und zuschauergerechten Konzeption beigetragen hat» (ebd., S. 171). In der Tat scheint die Kulturspezifik französischer Fernsehnachrichten weniger über ihre im Vergleich zu Deutschland oberflächliche Andersartigkeit zugänglich zu sein als über das, was Miege im obigen Zitat für sie als Zweckbestimmung angibt. Hieraus ergibt sich für die nachfolgenden Kapitel die Notwendigkeit einer analytischen Auseinandersetzung mit dem Inhaltsbereich.
116
IV.
Die Inhaltsdomäne
1.
Politics/non-politics, landes-/auslandsbezogene Information, InhaltskonvergenzAdivergenz
1.1.
Vorbemerkungen
Für eine grobmaschige Annäherung an Inhaltsaspekte sollen hier die Ergebnisse einer Reihe von statistischen Vergleichen unter den einzelnen Teilkorpora vorgestellt werden. Die Vergleiche sind auf drei dichotomen Dimensionen angesiedelt: 'politics vs. non-polities', 'Landes- vs. Auslandsbezug' und 'Gemeinsamkeit' vs. 'Unterschiedlichkeit' (Inhaltskonvergenz bzw. -divergenz)1. Unter 'landesbezogener Information'sind jene Beiträge zu verstehen, die sich mit je landesspezifischen Gegebenheiten und Ereignissen politischer (Innenund Außenpolitik) oder sonstiger Natur auseinandersetzen und/oder deren Handlungsträger offizielle oder private Vertreter des jeweiligen Landes sind. 'Auslandsbezogene Information' ist entsprechend gegensätzlich definiert. Für 'politische Information' wurde eine sehr weit gefaßte, Innen-, Außen-, Sozialund Wirtschaftspolitik vereinende Definition grundgelegt: Beiträge über Aktivitäten (Handlungen, Meinungsäußerungen usw.) von politischen Institutionen oder von Angehörigen dieser Institutionen; ferner Berichte über Aktivitäten Dritter, die auf das Handeln politischer Institutionen gerichtet sind. Als politische Institutionen sind zu verstehen alle überstaatlichen, zwischenstaatlichen, staatlichen und kommunalen Einrichtungen der Exekutive (Regierung), Legislative (Parlament), der Parteien und organisierten Interessengruppen (Gewerkschaften, Arbeitgeber, Bauern, Kriegsopfer usw.) (Schulz 1976, S. 55).
Mit 'gemeinsamer Information' ist die gemeinsame, u.U. recht oberflächliche Bezugnahme auf ein Ereignis oder einen Sachverhalt auf zwei Vergleichssendern gemeint, wobei erhebliche Unterschiede in der Präsentationsform und der inhaltlichen Differenzierung bestehen können. Die drei grundgelegten Dimensionen bieten den Vorteil, daß jede für sich genommen die gesamte Information von Nachrichtensendungen absorbieren kann. 'Landes-/Auslandsbezug' wurde als Vergleichsdimension ausgewählt, weil die Informationsverteilung auf dieser Dimension oberflächliche Aussagen über 1
Angesichts des sehr unterentwickelten Zustandes transnationaler Nachrichtenforschung kann sich das im folgenden beschriebene Vergleichsdesign auf keine geeigneten Vorbilder berufen. Für die Fälle, in denen Vergleichsdimensionen identisch sind, stimmen die Ergebnisse im wesentlichen mit denen von Landbeck (1991) überein. 117
den Grad der kulturspezifischen Reflexivität von Nachrichten zulassen kann. Es wäre jedoch entschieden zu kurz gegriffen, Kulturspezifik im Inhaltsbereich mit Landesbezogenheit gleichzusetzen, denn z.B. auch ein im Ausland mit Nichtfranzosen als Protagonisten angesiedelter Beitrag kann - dies wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch deutlich werden - als kollektives Sinnangebot sehr 'französisch' sein. Vergleiche auf der Dimension 'politics vs. non-polities' sind auf der Grundlage der Beobachtung motiviert, daß französische Nachrichten einen hohen Anteil nicht-politischer Inhalte aufweisen; auf den partiellen Magazincharakter französischer Fernsehnachrichten wurde in Kapitel II bereits hingewiesen. (Thematische) 'Gemeinsamkeit/Unterschiedlichkeit' zwischen den Nachrichten eines Landes kann ein Indikator für den Grad der Normiertheit von Relevanzkriterien sein, welche der Nachrichtenselektion vorstehen. Aber auch dieses Kriterium ist, genau wie das der Landesbezogenheit, mit Vorsicht zu gebrauchen, denn was oberflächlich unterschiedlich erscheint, kann tiefenschichtig dennoch einer gemeinsamen Ordnung unterworfen sein. Auf den vorausgehend genannten Dimensionen wurden insgesamt neun Nachrichtenpaare miteinander verglichen: TF1 1984 vs. A2 1984, TF1 1988 vs. A21988, TF11984 vs. TF11988, A2 1984 vs. A2 1988; Heute 1988 vs. Tagesschau 1988, Heute 1988 vs. TF11988, Heute 1988 vs. A2 1988, Tagesschau 1988 vs. TF1 1988 und Tagesschau 1988 vs. A2 19882. Zudem wurden die Dimensionen 'Politik/Sonstiges' und 'Landes-/Auslandsbezug' miteinander gekreuzt, so daß für jedes Vergleichspaar vier zusätzliche Kategorienkombinationen entstanden: - politische Landesinformation, - politische Auslandsinformation, - nicht-politische Landesinformation und - nicht-politische Auslandsinformation. Auf die Darstellung und Diskussion der Ergebnisse von Dimensionenkreuzungen unter Einbeziehung der Dimension 'Gemeinsamkeit/Unterschiedlichkeit' wird verzichtet, weil einerseits das globale Kriterium der Inhaltskonvergenz/divergenz für das hier verfolgte Ziel hinlänglich erscheint und andererseits angesichts des hohen Zahlenaufkommens ganz einfach Kompromisse an die ohnehin schon belastete Lesbarkeit der Ergebnisdarstellung zu machen sind. Um eine möglichst differenzierte Aussagebasis zu erhalten, wurde die Informationsverteilung auf den verschiedenen Dimensionen für jedes Vergleichspaar auf jeweils vier Analyseebenen untersucht: - allgemein zeitbezogene Informationsverteilung (verglichen wird der zeitliche Anteil von Inhaltskategorien an der Nettothemenzeit), - allgemein themenbezogene Informationsverteilung (verglichen wird der numerische Anteil von Beiträgen einer Inhaltskategorie an der Gesamtthemenanzahl), 2
Ein Vergleich der deutschen Nachrichten des Jahres 1988 mit den französischen des Jahres 1984 ist aus offensichtlichen Gründen wenig sinnvoll. 118
- zeitbezogene Verteilung von Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen (verglichen wird der zeitliche Anteil von Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen einer Inhaltskategorie an der Gesamtheit der für Sprecher+BildbeitragKombinationen reservierten Zeit), - themenbezogene Verteilung von Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen (verglichen wird der numerische Anteil von Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen einer Inhaltskategorie an der Gesamtheit aller in dieser Präsentationsform abgehandelten Themen). Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen wurden als eigenständige Analyseebenen aufgenommen, weil sich diese Präsentationsform, anders als Wortmeldungen oder autonome Bildbeiträge, zur thematischen Schwerpunktsetzung eignet. Es besteht so die Möglichkeit, inhaltliche Akzentuierungen nachzuweisen, die sich auf der allgemein zeitbezogenen oder der allgemein themenbezogenen Ebene statistisch nicht mehr als Verteilungsunterschiede artikulieren. Als statistisches Vergleichsinstrument wurden ^-Rechnungen angewandt3. Zu diesem Zweck wurde die Gesamtinformation eines jeden der beiden Terme eines Vergleichspaares auf den angegebenen Dimensionen dichotomisiert. Bei zeitbezogenen Vergleichen geschah dies mittels Transformation in Prozentwerte, bei themenbezogenen Vergleichen wurden die numerischen Rohwerte beibehalten. Insgesamt wurden etwa 140 ^-Rechnungen durchgeführt (9 Vergleichspaare x 4 Analyseebenen x (3 Einzeldimensionen + l Dimensionenkreuzung)); aufgrund der sehr schwachen Besetzung einzelner Kategorien bei der Dimensionenkreuzung wurde in einigen Fällen auf statistische Vergleiche verzichtet. Um die nachfolgenden Ausführungen etwas von Zahlenangaben zu entlasten, werden die Berechnungsgrundlagen in den nachstehenden Tabellen synoptisch zusammgefaßt. Tabelle A zeigt die numerischen Grundwerte, Tabelle B die entsprechenden Prozentwerte. Jedes Kästchen besteht aus zwei gleichstrukturierten Zeilen. Der jeweils erste Wert einer Zeile steht für die Themenanzahl, der zweite für das in Sekunden erhobene Zeitvolumen. Die erste Zeile bezieht sich auf Anteile einer Kategorie an der Gesamtinformation des jeweiligen Teilkorpus, während die zweite die Gesamtheit aller Sprecher+BildbeitragKombinationen als Bezugsebene hat. Senkrechte Striche fassen diejenigen Teilkorpora zusammen, aufweiche sich die Kriterien 'Gemeinsamkeit/Unterschiedlichkeit' beziehen. Unter Verweis auf die in der Einleitung gemachten Ausführungen sei noch einmal betont, daß das Ziel der hier besprochenen Vergleiche nicht darin besteht, irgendwelche Entwicklungsprognosen herauszuarbeiten oder solche zu überprüfen. Die Freilegung von Veränderungen in der Inhaltsstruktur französischer Nachrichten sowie die Herausfilterung von einschlägigen Unterschieden 3
AT2-Rechnungen kamen bereits in Kapitel II, 2.2.4 zur Anwendung. Sie sind das einfachste statistische Instrument zum Vergleich von Stichproben auf Unterschiedlichkeit.
119
§8 ce
53 37
rs Ό ι—ι Μ· 90 £> to ra "-> !0 jo C3 S, i/S r- Γ~ tx
TJ- η-> ΙΛ · ί5^· ΟΝΟ ^-H .001, - allgemein themenbezogene Verteilung: X2 = 14.91; p > .001, 129
-' zeitbezogene Verteilung von Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen: X2 = 10.62; p > .005. Politische Information ist in der Tagesschau eindeutig stärker als in den Nachrichten von A2 vertreten. Auch hier wurde bei der Kreuzung der vorausgehenden Dimensionen aufgrund einer zu schwachen Besetzung einzelner Kategorien in der Tagesschau auf Vergleiche von Sprecher-l-Bildbeitrag-Kombinationen verzichtet. Für die verbleibenden Vergleichsmöglichkeiten liegen folgende signifikante Ergebnisse vor: - allgemein zeitbezogene Verteilung: X2 = 14.82; p > .005, - allgemein themenbezogene Verteilung: X2 — 14.98; p > .005. Der stärkste Unterschiedsfaktor ist die nicht-politische Landesinformation, die bei A2 stärker als in der Tagesschau vertreten ist. Unterschiede bestehen aber auch in der landes- und auslandsbezogenen politischen Information, welche in der Tagesschau stärker vertreten sind. Der geringfügigste Unterschied liegt in der nicht-politischen Auslandsinformation, die in den Nachrichten von A2 mehr Berücksichtigung als in der Tagesschau findet. Eine Reduktion der Gesamtinformation auf die Dimension 'Gemeinsamkeit/Unterschiedlichkeit' erbringt einen signifikanten Unterschied in der zeitbezogenen Verteilung von Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen (X2 = 5.80; p > .025) und eine Unterschiedstendenz in der themenbezogenen Verteilung dieser Präsentationsform (X2 = 3.71). Auf diesen Ebenen ist die Inhaltskonvergenz der Tagesschau zu Heute größer als die inhaltliche Affinität zwischen den Nachrichten von A2 und denen von TF1. 1.4.5.
Synthese
Als Hauptunterschied zwischen französischen und deutschen Fernsehnachrichten ist eine stärkere Ausprägung nicht-politischer Information, speziell landesbezogener, in französischen Nachrichtensendungen zu nennen. In bezug auf Heute ist auch deren genereller Landesbezug wesentlich stärker, während in dieser Hinsicht im Vergleich zur Tagesschau zwar numerische, nicht aber statistisch bedeutsame Unterschiede festzustellen sind. Die Privilegierung des Landesbereichs in den Nachrichten von A2 und TF1 findet auch eine Bestätigung in der Themensyntax: während in den untersuchten Sendungen von Heute und der Tagesschau der erste Auslandsbeitrag durchschnittlich etwa schon drei Minuten nach Sendungsbeginn präsentiert wird, vergehen bei A2 und TF1 immerhin durchschnittlich neun Minuten bis zur Öffnung zum Ausland. Für französische Fernsehnachrichten liegen diese Befunde als Symptome von francite auf einer Ebene mit den im vorausgehenden Kapitel herausgestellten Rückbindungsgesten. Der auch in der Tagesschau sehr hohe Anteil landesbezogener Information dürfte nicht zuletzt auch auf dem Hintergrund der durch die ARD gegebenen föderalistischen Infrastruktur zu erklären sein, durch welche eine ausgiebige Versorgung mit einschlägiger Information gewährleistet ist. Darüber hinaus 130
mag die relativ geringe Dauer der Tagesschau auch zu stärkerer Relevanzgewichtung zwingen, und sowohl Landesbezug als auch Politizität sind nach Schulz (1976) wesentliche Kriterien für Nachrichten wert in deutschen Informationsmedien. Auf der Dimension 'Gemeinsamkeit/Unterschiedlichkeit' angesiedelte Vergleiche belegen, allerdings nur im Bereich von Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen, signifikante Verteilungsunterschiede im Sinne einer größeren Inhaltskonvergenz deutscher Fernsehnachrichten. Akzeptiert man jedoch Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen als eine in besonderem Maße zur Inhaltsgewichtung geeignete Präsentationsform, so läßt der Befund den Schluß zu, daß deutsche Fernsehnachrichten in stärkerem Maße als französische von gemeinsamen Relevanzvorstellungen ausgehen, daß in ihnen sozusagen ein homogenerer Bezug zur außermedialen Welt zum Ausdruck kommt. Das 1988 im Vergleich zu 1984 in französischen Nachrichten erheblich verstärkte Gewicht der nicht-politischen landesbezogenen Information bedeutet eine flagrante Relativierung von Marshall McLuhans Vision eines global village. Anstatt der von ihm prognostizierten Internationalisierung ist als Zutagetreten von deren dialektisch interpretierbarer Kehrseite eine Provinzialisierung von Information festzustellen. Diese Tendenz ist jedoch, zumindest für Frankreich, keineswegs neu. So schreibt Jean Capin bereits 1980: Dans un univers oü la communication atteint l'e"chelle plandtaire, non seulement le destinataire exige une information d'une nature präde'termine'e par lui mais restraint de plus en plus le cercle göographique des e"v6nements qui l'interessent. En un siecle oü un grand nombre de decisions se prenent ä l'dchelon continental ou mondial, oü le moindre changement de politique dconomique ne se fait pas sans consultation ext£rieure pr^alable, l'internationalisme, au niveau des esprits, est en regression. (...) Si 1'information politique continue ä jouer le role d'appät principal dans rentramement des te"l£spectateurs vers les journaux Idle"vise's, il ne faut pas se dissimuler que ce mouvement lui-meme se dotoriore (Capin 1980, S. 254f.).
Die von Capin diagnostizierte und durch die vorausgehend berichteten Vergleiche bestätigte Rückwendung zum 'Heimischen' setzt ein kollektiv referenzfähiges und interindividuell als bedeutsam erachtetes Substrat voraus, das immer schon relevant gewesen muß. Die meta-mediale Internationale würde dieses als anthropologisch fundiert betrachten. So spricht etwa Schmilz (1989, S. 260) für die Tagesschau von einem «kleinen Repertoire erzählfreier anthropologischer Abstrakte (Heil, Erfolg, Sicherheit, Sorge, Angst, Bedrohung, Unruhe, etc.)». Daß französische Fernsehnachrichten nicht «erzählfrei» sind, wurde im vorausgehenden Kapitel gezeigt. Nicht zu bestreiten ist jedoch, daß «anthropologische Abstrakte» auch hier wirksam sind. Allerdings sind diese stark kulturspezifisch überformt, was in der Folge fundiert werden soll. Mit der in der Einleitung gegebenen Begründung wird dabei eine Reduktion auf nicht-politische Information vorgenommen. Darüber hinaus soll, was quantitative Vergleiche betrifft, eine Einschränkung auf die Nachrichten des Jahres 1984 vorgenommen werden. 131
2.
Die Ideologie des Nicht-Politischen
2.1.
Vorbemerkungen
Unter Grundlegung üblicher medienwissenschaftlicher Inhaltskategorien ergibt sich eine optimale Absorption der nicht-politischen deutschen und französischen Nachrichtenthemen bei Annahme von vier Kategorien(bündel) plus einer Restkategorie: - Kultur, Wissenschaft, Gesellschaftsleben, Personalia; - Verbrechen, Justiz; - Unfälle, Katastrophen; - Sport. Diese Kategorien(bündel) stellen für die gegebenen Teilkorpora den kleinsten gemeinsamen Nenner für mögliche Vergleiche auf der Grundlage von oberflächenorientierten Inhaltskategorien dar. Enger gefaßt und damit automatisch zahlreicher würden sie entweder einen im hier abgesteckten Rahmen nicht verwertbaren Partikularismus erzeugen oder größere Untersuchungskorpora voraussetzen. Eine feinkörnigere Aufteilung in Inhaltskategorien ist in Landbeck (1991, S. 93f.) zu finden. Die nachstehende Tabelle zeigt die Ergebnisse einer Analyse der Untersuchungskorpora des Jahres 1988 nach o. g. Kategorien. Jede Zelle beinhaltet zwei Prozentwerte, wovon der erste den Anteil der jeweiligen Kategorie an der Gesamtanzahl der Nachrichtenthemen, der zweite den Anteil an der Nettothemenzeit angibt:
Verbrechen, Justiz Unfälle, Katastrophen Kultur etc. Sport Rest
TF1
A2
Heute
Tagesschau
10.57/11.29 9.76/ 6.50 24.39/29.60 10.57/ 7.77 3.257 2.74
11.57/11.34 10.74/ 8.34 16.53/23.11 8.26/ 7.24
6.67/ 5.42 8.33/ 4.51 15.83/20.50 11.67/ 7.51
2.337 1.37 3.497 4.46 12.79/17.04 1.167 0.45 1.167 0.56
Auffällig ist die schwache Ausprägung einiger Kategorien in der Tagesschau, was nicht weiter verwunderlich ist, denn sie ist von allen untersuchten Nachrichtensendungen ohnehin diejenige, die am stärksten politischer Berichterstattung verpflichtet ist. Nur 23,88% ihrer Nettothemenzeit sind nicht-politischen Themen gewidmet5 (57,90% bei TF1, 50,03% bei A2 und 37,94% bei Heute). Alleine schon aufgrund dieser Sonderstellung der Tagesschau unter den Vergleichskorpora scheinen von obiger Tabelle suggerierte quantitativ orientierte querkulturelle Vergleiche wenig sinnvoll. Derartige Vergleiche erweisen sich 5
Im Vergleich zu dem von Schmilz (1989, S. 49) für die Tagsschau festgestellten Anteil an non-politics von 18,4% liegt der von mir ermittelte Wert sogar noch relativ hoch. Allerdings scheint mir die extrem schwache Besetzung der Kategorie Sport von einem allgemeinen Rezeptionseindruck her nicht repräsentativ, sondern eher korpusspezifisch zu sein.
132
aber auch inhaltlich als problematisch. So sind im Bereich 'Kultur etc.' in französischen Nachrichten eine Reihe von Beiträgen wissenschaftlich-technischer Ausrichtung zu finden, eine Inhaltsorientierung, die in deutschen Nachrichten im Korpuszeitraum völlig fehlt. Auch Beiträge zu Film und Theater sind in Frankreich häufiger. Außerdem ist für Heute und die Tagesschau eine ausgeprägte, ja fast ausschließliche, hochkulturelle Orientierung festzustellen, während das Kulturelle für französische Fernsehnachrichten weiter zu fassen ist. Der einzige Bereich, für den die Prozentwerte der obigen Tabelle querkulturell überzeugend trennscharf sind, ist 'Verbrechen/Justiz'. Es wäre jedoch unvertretbar oberflächlich, hier bei quantitativen Erwägungen stehenzubleiben, ohne einerseits Darstellungsinhalte und -formen, topic und style, näher zu betrachten und ohne andererseits zu versuchen, kulturspezifische Wurzeln zu erkunden. Zusammen mit 'Unfälle/Katastrophen' handelt es sich bei 'Verbrechen/Justiz' im wesentlichen um faits divers. Was im Französischen unter diesem Begriff verstanden wird, ist in etwa koextensiv mit dem angelsächsischen soft news. Van Poecke (1988, S. 44) spricht von deren «fantasmatic character» und charakterisiert im Gegensatz dazu hard news als solche, die den Rezipienten versorgen mit «general knowledge about general interests, in which we, as good citizens should have an interest» (ebd., S. 37). Soft news - van Poecke denkt dabei an Katastrophen-, Unfall- und Verbrechensmeldungen - befriedigen im Sinne einer «delectatio morosa» (ebd., S.44) ein latent vorhandenes Aggressionspotential, das sich «via the mechanism of the negation, in the fascination for suicide, murders, crime, disasters and accidents involving others» zeigt (ebd., S. 45). Diese anthropologische Sicht von soft news liegt auch Barthes' Funktionsbestimmung des fait divers zugrunde: (...) son röle est vraisemblablement de preserver au sein de la socioto contemporaine l'ambigufto du rationnel et de l'irrationnel, de l'intelligible et de l'insondable; et cette ambiguitö est historiquement nicessaire dans la mesure oü il faut encore ä l'homme des signes (ce qui le rassure) mais il faut aussi que ces signes soient de contenu incertain (ce qui l'irresponsabilise): il peut ainsi s'appuyer ä travers le fait-divers sur une certaine culture (...); mais en mime temps, il peut emplir in extremis cette culture de nature, puisque le sens qu'il donne ä la concomitance des faits ochappe ä l'artifice culturel en demeurant muet (Barthes 1964, S. 197).
Der von van Poecke und Barthes vorgenommenen anthropologischen Fundierung von soft newslfaits divers ist prinzipiell zuzustimmen. Würde man es bei dieser Zustimmung allerdings bewenden lassen, bliebe für den in den Nachrichten von A2 und TF1 im Vergleich zu Heute und der Tagesschau höheren Anteil entsprechender Beiträge nur die banale Feststellung, daß französische Nachrichten einen stärkeren Hang zum Trivialen hätten. In Wirklichkeit aber sind faits divers in sehr vielen Fällen und auf unterschiedlichen Ebenen als Manifestationen eines kulturspezifischen Substrats interpretierbar, das weite Teile der nicht-politischen Inhalte französischer Fernsehnachrichten affiziert. Dieses Substrat zu bestimmen, ist Aufgabe der nachfolgenden Ausführungen. Dazu werden nacheinander die oben ermittelten Inhaltskategorien anhand konkreter 133
Beispiele analysiert, wobei meistens sowohl topic- als auch siy/ebezogene Faktoren Berücksichtigung finden. Bevor jedoch damit begonnen wird, ist es nötig, noch einmal auf faits divers zurückzukommen, um deren Gewicht als kulturelles Phänomen zu verdeutlichen und so gleichzeitig auch eine gewisse inhaltliche Vorentlastung für die Folge zu leisten. Faits divers6 werden wesentlich dadurch bestimmt, daß in ihnen etwas Außergewöhnliches oder Kurioses zum Ausdruck kommt. Es handelt sich immer um einen «öcart aux normes qui reglent les rapports fondamentaux des hommes entre eux et avec la nature» (Auclair 1982, S. 125). Die Chronik der/aifs divers7 «est dans une si etroitre dopendance de l'imaginaire social que les faits divers sont autant, sinon plus, rovelateurs de celui-ci que des problemes de sociote" auxquels, parfois, pas toujours, ils renvoient» (ebd., S.II). Was Auclair mit «imaginaire social» anspricht, ist bei ihm, obwohl er französische faits divers (der Schriftpresse) untersucht, nicht kulturspezifisch auf Frankreich gemünzt, sondern könnte auch (und Auclair tut dies teilweise) auf soft news anderer Länder bezogen werden; insofern ist es nicht mit dem zu verbinden, was oben als Ziel dieses Kapitels formuliert wurde. Trotz des Adjektivs 'social' handelt es sich eigentlich um die von van Poecke und Barthes fokussierte anthropologische Dimension. Unter dem Stichwort «problemes de sociöto» allerdings ist eine soziologische Funktion aufgerufen. In der Tat trifft Auclair eine explizite Unterscheidung in «faits divers ä portoe sociologique» und solche, «plus nombreux, qui ont uniquement une signification anthropologique» (ebd., S. VII). Soziologisch orientierte faits divers sind häufig in Liberation zu finden. Sie verstehen sich als Anprangerung gesellschaftlicher Mißstände aus dem Alltäglichen, dem Episodischen und scheinbar Trivialen heraus. In diese Richtung tendiert auch das auf S. 53 der vorliegenden Arbeit gegebene Beispiel einer Nachrichteneröffnung, in welcher Patrick Poivre d'Arvor den fait divers eines Selbstmordes auf dem Hintergrund der Menschenrechtsfrage einführt. Faits divers sind in ihrer soziologischen Spielart i. w. S. ein erkenntnisgerichtetes und somit ein pädagogisches Genre8. In dieser Hinsicht verfügen sie indirekt über eine gewisse Tradition. Schon kurz nach ihrem Ersterscheinen im Jahre 1631 mußte die berühmte Gazette des Thoophraste Renaudot, dem Publikumsgeschmack folgend, um damals sehr verbreitete extraordinaires (auch occasionnels genannt) erweitert werden, welche sich als Sonderausgaben Verbrechen oder rätselhaften und ungewöhnlichen Ereignissen widmeten: 6
Den Begriff datiert Auclair (1982, S. 10) auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts. Vgl. die italienische Bezeichnung fatto di cronaca, in welcher der chronikalischepisodische Charakter von faits divers in Opposition zu geschichtlichen Ereignissen explizit hervorgehoben wird. 8 Auclair verweist z. B. darauf, daß Sartres Putain respectueuse auf einem authentischen fait divers aufgebaut ist (ebd., S. 113) und führt den Literaten und Philosophen mehrfach als Verfechter einer pädagogischen Nutzung von faits divers an: «(...) il recommande aux journaux de gauche de procoder 'ä partir des faits divers ä une analyse sociologique de la societo' et de ne pas laisser ä la 'presse de droite' l'exploitation de la 'fesse et du sang'» (ebd.).
7
134
Solche Canards ('Zeitungsenten'), wie die verächtliche Bezeichnung des 19. Jahrhunderts lautet, hatten eine lange Tradition. Zunächst seit dem 15. Jahrhundert allgemein bebilderte Gelegenheitszeitungen, wurden sie mit der Entwicklung der Presse im 18. Jahrhundert ein Nachrichtenmedium, das sich ausschließlicher als früher an die kleinen Leute wandte und - trotz gegenläufiger Tendenzen in Holland und England politische Nachrichten mied zugunsten sensationeller Meldungen über ungewöhnliche Naturereignisse, aufsehenerregende Verbrechen oder Hinrichtungen berühmter Krimineller (Herding & Reichardt 1989, S. 73).
Im Rahmen der Französischen Revolution wurde die extraordinairesloccasionnels aufgrund ihrer Popularität, die letztlich auf ihrem apolitischen Charakter beruhte, zu revolutionsdidaktischen Zwecken umfunktioniert (Herding & Reichardt, ebd.). Obwohl die Politisierung der canards (extraordinaires, occasionnels) nur von kurzer Dauer war (ebd., S. 82), erscheint es aufgrund der von Herding & Reichardt dokumentierten Massivität des Phänomens nicht abwegig anzunehmen, daß in der Folge die Lebendigkeit des fait divers mit jener Virulenz etwas zu tun hat, mit welcher sich die Revolutionsdidaktik der canards als Trägermedien bemächtigte und damit im kollektiven Bewußtsein auch die Erinnerung an die alten Inhalte wach hielt9. Hier liegt ein Wechselspiel der alternierenden Fokussierung von Form und Inhalt vor, das vielleicht auch das Schwimmen d&rfaits divers zwischen einer anthropologischen und einer soziologischen Dimension, zwischen Anspruchslosigkeit und Anspruch erklären könnte. Der ästhetische Reiz von fails divers bewegte wohl auch Joseph Kessel 1928 zur Mitbegründung der auf Verbrechen spezialisierten Wochenzeitschrift detective, in der neben Maurice Garyon und Albert Londres auch Jean Cocteau schrieb10. Hinzuweisen ist auch auf die relativ unbekannten Chroniques du canard sauvage von Charles-Louis Philippe (1923), eine Art Sammlung von Pariser Milieuzeichnungen auf der Grundlage von faits divers11. Nach diesen allgemeinen Ausführungen zu faits divers, die v. a. für die Bereiche 'Verbrechen/Justiz' und 'Unfälle/Katastrophen' charakteristisch sind, werden im folgenden die einzelnen Inhaltsbereiche nicht-politischer Information näher vorgestellt. 2.2.
Sport
Der größte Teil der Sportberichterstattung deutscher Fernsehnachrichten besteht aus Ergebnismeldungen zu sportlichen Begegnungen. Für französische Fernsehnachrichten hingegen sind Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen auffällig, die: 9 10 11
Auf die große Popularität von faits divers während der Französischen Revolution weist auch Gengembre (1989, S. 18) hin. Die Zeitschrift besteht heute noch mit abgeflachtem Inhalt als nouveau detective fort. In diese Aufzählung gehören, zumindest vom Ansatz, nicht zuletzt auch die Mythologies von Roland Barthes (1957), die das Banale, die Alltäglichkeit, zum Anlaß analytischer Reflexion nehmen oder umgekehrt Ereignisse in Alltäglichkeit und kultureller Spezifizität auflösen. 135
a) institutionelle Aspekte von Sport thematisieren: - Bernard Tapie löst den Trainer seines Clubs Olympique de Marseilles ab (TF1, 25. Juli 1988, Sprecher+Bildbeitrag-Kombination von 108 Sek. und A2,25. Juli 1988, Sprecher+Bildbeitrag-Kombination von 112 Sek.); - das Reglement für den America's Cup wird geändert (TF1, 26. Juli 1988, Sprecher+Bildbeitrag-Kombination von 117 Sek.); b) Personenportraits zeichnen: - das eines vom A. S. Toulouse eingekauften Moskauer Fußballspielers (A2, 29. Juli 1988, Sprecher+Bildbeitrag-Kombination von 139Sek., \omprosentateur sprachspielhaft mit «Un joueur rouge dans la cito rose» eingeleitet); - das des Torhüters D. Drospy vom A. S. Bordeaux (TF1, 30. Juli 1988, Sprecher+Bildbeitrag-Kombination von 121 Sek.); c) mit Kuriosa aus dem Bereich des Sports eher unterhalten als informieren: - neuer Sport: Erstürmen des Monl Blanc im Dauerlauf (TF1, 28. Juli 1988, Sprecher+Bildbeitrag-Kombination von 100 Sek. und A2, 26. Juli 1988, Sprecher+Bildbeitrag-Kombination von 110 Sek.). Derartige Inhalte finden sich in der Bundesrepublik eher im Rahmen von ausgesprochenen Sportmagazinen. Daß sie in Frankreich Gegenstand von Fernsehnachrichten sind, unterstreicht deren in Kapitel II hervorgehobenen Hybridcharakter (Ereignis- und Hintergrundberichterstattung, Information und Unterhaltung, journalisme d'enquete undjournalisme d'examen). Für deutsche und französische Fernsehnachrichten gleichermaßen gültig ist die Plazierung von Sportmeldungen in einem thematischen Block im Endbereich der Sendung, was Sport als eine sowohl für französische als auch für deutsche Nachrichten wohldefinierte Domäne auszeichnet. Im Sinne des oben angekündigten Nachweises eines kulturspezifischen Substrats sind im Bereich Sport v. a. die Kuriosa interessant. Nähere Ausführungen hierzu sollen allerdings erst gemacht werden, nachdem sich das Phänomen des Kuriosen in der Folge durch weitere Beispiele verdichtet hat. 2.3.
Verbrechen, Justiz
2.3.1.
Bevor es kriminell wird
Die Massivität der Justiz- und Verbrechensberichterstattung in französischen Fernsehnachrichten ist in Verbindung mit einer Reihe ganz unterschiedlicher nachrichtenexterner Phänomene zu sehen. Differenzen zur Bundesrepublik sind dabei meistens so offensichtlich, daß sie keiner expliziten Würdigung bedürfen. Zu erwähnen sind zunächst einmal die zahlreichen affaires die Inhalt eines kollektiven Kurzzeit-, wenn nicht sogar Langzeitgedächtnisses sind: affaire Papon, affaire des Irlandais de Vincennes, affaire du petit Gregory12, affaire 12
Alleine dieser affaire - es handelte sich um einen Kindesmord - widmete die Wochenillustrierte Paris Match im Jahre 1985 neun Titelbilder. 136
Dominici13, affaire du Japonais cannibale, affaire Patrick Henry, affaire du vraifaux passeport... Auch Verbrecherlegenden14 wie Landru, Pierrot le fou, la bände ä Bonnot, le docteur Petiot, le euro d'Uruff, Monsieur Bill, der Ausbrecherkönig Jacques Mesrine oder das Einbruchsgenie Albert Spaggiari gehören einem allgemein referenzfähigen kulturellen Thesaurus an; den meisten von ihnen sind mittlerweile sogar Kinofilme gewidmet. Bemerkenswert ist auch der hohe Bekanntheitsgrad von Untersuchungsrichtern: juge Boulouque, juge Renaud, juge Michel, juge Michau etc., die bisweilen sogar, ähnlich wie Nachrichtensprecher, unter Beinamen bekannt sind: le petit juge, le sheriff. Anders als in der bundesrepublikanischen Presse, wo der Ermittlungstätigkeit der Justiz als Handlungsträger meistens ein anonymes «die Staatsanwaltschaft» zugewiesen wird, ist Justiz in Frankreich v. a. in Gestalt des namentlich ausgewiesenen juge d'instruction personalisiert. Das Interesse an Justizrepräsentanten bleibt jedoch keineswegs auf Frankreich beschränkt. So widmeten TF1 und A2 dem Rücktritt des italienischen Richters Giovanni Falcone am 31. Juli 88 je eine Sprechern-Bildbeitrag-Kombination (TF1: 230Sek., A2: 135Sek.), während dieses Ereignis weder von Heute noch von der Tagesschau überhaupt zur Kenntnis genommen wurde. Ganz beiläufig war in den französischen Nachrichten zu erfahren, daß Falcone nicht alleine, sondern zusammen mit acht Kollegen zurückgetreten war (Motiv: Verfilzung von Justiz, Mafia und Macht). Die gesamte Berichterstattung war jedoch mehr auf ein Personenportrait abgestimmt, als daß sie zur Erhellung von Hintergründen beitrug. Dies kommt ganz eklatant in der Sprechereinleitung der Nachrichten von A2 zum Ausdruck, die das Ereignis sogar an erster Stelle plazierten: A la une ce soir un homme de 49 ans, ä Palerme, et qui dit des hommes de la mafia: «J'ai appris ä penser comme eux.» Le juge Giovanni Falcone, le plus connu et le plus menace* des juges qui luttent en Italic contre la mafia, est notamment ä l'origine du proces de Palerme oü plus de 450 mafieux et plusieurs parrains ont condamnes ä de lourdes peines. Aujourd'hui, Falcone renonce et demande son transfer!. II estime qu'il est d£sormais dans une impasse et que l'instruction des proces contre la mafia est entrav£e. Bref, Falcone n'a plus les moyens de sä lütte (A2,31. Juli 1988).
Auf TF1 wird der Bildbeitrag gleich explizit als «portrait» angekündigt. Was die Berichterstattung beider Nachrichten tiefenschichtig motiviert, ist das vorausgesetzte Interesse an dem auch in zahlreichen Filmen und Kriminalromanen anzutreffenden Stereotyp des im Namen eines Gerechtigkeitsideals alleine heroisch gegen das organisierte Verbrechen antretenden Individuums. Generell muß für Frankreich auch die Bedeutung des Verbrechens als Bestandteil literarischen und filmischen Schaffens hervorgehoben werden. So unterschiedliche Autoren wie Simenon, das Tandem Boileau-Narcejac, Auguste Le Breton, Gaston Leroux, Albert Simonin, Maurice Leblanc, Bialot, Vautrin, Manchette, A. D. G. oder auch der vorwiegend unter dem Pseudonym San13 )4
Mit ihr befaßt sich auch Roland Barthes in den Mythologies (1957, S. 50ff.). Vgl. Boudard (1989), Montarron (1969) und Reouven (1986).
137
Antonio schreibende Fröd^ric Dard, übrigens der auflagenstärkste französische Autor überhaupt15, verfügen über große Popularität und sind keineswegs nur Krimifans ein Begriff. Gleiches gilt für fiktive Gestalten wie Arsene Lupin, Rouletabille, le Loup solitaire, Fantomas oder Maigret. Im Bereich des Films sind Namen wie Feuillade, Renoir, Carne", Clouzot, Boisset, Tavernier, Melville, Becker, Verneuil, Godard, Chabrol, Truffaut oder Cayatte anzuführen16. Als französische Besonderheit bleiben noch Justizautoren wie Louis Casamayor (1968, 1969, 1973, 1978 u. 1982), Denis Langlois (1973 u. 1976) oder Daniel Soulez-Lariviere (1982 u. 1987) zu erwähnen, die sich kritisch mit Justizorganen und dem Polizeiapparat auseinandersetzen. Bezeichnenderweise taucht auch «Droit et justice» als insgesamt 20 Seiten füllender Eintrag (eine «Chronique des eVönements courants» eingerechnet) in der von Minelle Verdi£ besorgten Ausgabe des Jahrbuchs L'etat de la France et de ses habitants (1989) auf. Die im Vergleich zur Bundesrepublik stärkere gesellschaftliche Präsenz der Justiz- und Verbrechensthematik belegt die quantitative Ausprägung entsprechender Inhalte in französischen Fernsehnachrichten als in einem nicht oberflächlichen Sinne kulturspezifisch. Es liegt die Vermutung nahe, daß Verbrechens- und Justizberichterstattung nicht nur Informationszwecken dient oder als faits divers anthropologische Bedürfnisse erfüllt, sondern in einem gewissen Maße auch auf ein Teilen vonfrancito abzielt. Die damit verbindbare Annahme einer relativen Beliebigkeit konkreter Einzelfälle findet sich darin bestätigt, daß nur etwa die Hälfte der einschlägigen Themen sowohl von A2 als auch von TF1 aufgegriffen werden. Der Zuschauer von TF1 erfährt z.B. nichts über einen Drogenfang in Le Havre (29. Juli 88) oder über die zufällige Entdeckung von 80kg Haschisch bei einem Autounfall auf der A6 (ebd.), auch nichts über die Beschlagnahmung von Drogen auf einem britischen Schiff im Suez-Kanal (28. Juli 88). Dafür bleibt der Zuschauer von A2 in Unwissenheit über die Verhaftung eines Kindesvergewaltigers in Evian (31. Juli 88), über die Aufdekkung eines Wertpapierschwindels in der Schweiz (ebd.) oder über eine Bestechungsaffäre im Zusammenhang mit dem im Golf von Genua festgehaltenen Giftmüllschiff «Zanobia» (26. Juli 88). Daß oft nicht individuelle Ereignisse gemeint sind, sondern es um Quotenerfüllung geht, belegt das oben erwähnte Beispiel der Verhaftung eines Kindesvergewaltigers: L'homme qui a une fillette de neuf ans jeudi soir ä Evian a Tun de ses voisins ago de 24 ans (TF1,31. Juli 88).
arreto. II s'agit de
Diese acht Sekunden lange Sprechermeldung entstammt den Sonntagsnachrichten. In der Thema-Rhema-Struktur ihres ersten Satzes setzt sie aufgrund des dort enthaltenen Relativsatzes in Verbindung mit dem bestimmten Artikel im Bezugswort «rhomme» bewußt eine Präsupposition, nämlich die, daß dem 15
16
Bis 1975 hatte Fre"de~ric Dard bereits 120 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft, davon alleine 100 Millionen unter dem Pseudonym San-Antonio (Boileau-Narcejac 1975, S. 118). Zum französischen Kriminalkino s. Gue"rif (1981). 138
Zuschauer die donnerstags begangene Tat bekannt ist. Hiervon kann jedoch nicht ausgegangen werden, denn die Kindesvergewaltigung wurde zwischen Donnerstag und Sonntag in den Nachrichten, auch bei A2, nicht erwähnt. Um der Nachricht von der Verhaftung des Täters Plausibilität zu verschaffen, muß die Tat kontrafaktisch als bekannt vorausgesetzt werden. Während der Text syntaktisch die Verhaftung des Täters als neu fokussiert, liegt pragmatisch der emotionale Fokus eindeutig auf der Tat. Die Nachricht von der Verhaftung wird zum Vorwand für die Vermeidung des Verbrechens. Der zeitliche Verzug zwischen der Tat und deren Bekanntgabe in den Nachrichten ist Ausdruck dafür, daß es hier nicht um ein in Raum und Zeit wohldefiniertes, sondern um ein prototypisches Verbrechen geht, um die Tatsache, daß derart Abscheuliches, das zu allem Übel noch vom guten Nachbarn begangen wird, Bestandteil unserer Welt ist. Kommunikatives Ziel der Nachrichtenhandlung ist offensichtlich nicht das Verfügbarmachen von Fakteninformation, sondern, wie dies Aristoteles in einer paradoxen Formulierung für die Tragödie aussagt, die Herstellung eines «Vergnügens», das «Jammer und Schaudern hervorruft» (Aristoteles 1982, S. 43). Bei der Auswahl des Ereignisses könnte die Nachrichtenredaktion dabei ganz der Empfehlung des Aristoteles gefolgt sein: «Sooft sich aber das schwere Leid innerhalb von Näheverhältnissen ereignet (z.B. ein Bruder steht gegen den Bruder oder ein Sohn gegen den Vater {...})- nach diesen Fällen muß man Ausschau halten» (ebd.). Das besprochene Beispiel verdeutlicht, daß es bei dieser Art von Berichterstattung weniger um konkrete Ereignisse (das Quid?) geht als um die «articulations secondes» (Quis?, Ubi?, Quibus auxiliis?, Cur?, Quomodo?, Quando?; vgl. Auclair 1982, S. 24ff.), die es erlauben, Ereignisse perspektivisch einzufärben. Damit ist automatisch eine gewisse Rhetorizität angelegt. Wie diese sich artikuliert, wird in den nachfolgenden Fallbeispielen analysiert. 2.3.2.
Napoleon als Drogenhändler
Als einzige den untersuchten deutschen und französischen Nachrichten des Jahres 1988 gemeinsame verbrechensbezogene Information ist eine Reihe spektakulärer Verhaftungen von internationalen Drogenhändlern durch die spanische Polizei zu nennen (26. Juli 1988). In Verbindung mit den Verhaftungen wurde ein großes unterirdisches Drogenlager entdeckt. Die folgenden Ausführungen beruhen im wesentlichen auf einer Gegenüberstellung der Nachrichtenbeiträge von A2 und der Tagesschau. Während die beiden französischen Sender die Meldung an erster Stelle plazieren, taucht sie in der Tagesschau als zwölftes von vierzehn, in Heute als vierzehntes von neunzehn Themen auf. Bei A2 und TF1 handelt es sich um Dossiers von beträchtlichter Länge (A2: 436Sek.; TF1: 278Sek.), in Heute um eine Sprecher+Bildbeitrag-Kombination (64Sek.), in der Tagesschau um einen autonomen Bildbeitrag (45 Sek.). Um die Erstplazierung des Ereignisses zu rechtfertigen, verfolgen A2 und TF1 eine analoge Strategie. Wie in Heute und 139
der Tagesschau wird auf beiden Sendern der Ereigniskern anhand eines Bildberichts dokumentiert, jedoch erfolgt, anders als auf den deutschen Sendern, im Anschluß eine Abstraktion vom konkreten Ereignis. Bei A2 geschieht dies durch ein Studiogespräch mit einem Drogenfahnder von Interpol, bei TF1 durch eine Reportage über die Drogenproblematik in Spanien. Den Anspruch einer über das Referenzereignis hinausweisenden Berichterstattung erhebt bei A2 der presentateur schon in seiner Einleitung zur Reportage: Les trafiquants de drogues sont-ils en train de cre"er le march£ unique europien des stup£fiants calque" sur l'initiative des hommes politiques de la Communauto europoenne? Sürement, si se re"fere ä la d6couverte que vient de faire la police espagnole sur la cöte pres de Barcelone...
Diese relevanzschaffende Amplifikation (vgl. Aristoteles 1987, S. 133) bezieht ihre rhetorische Kraft aus einer konnotationsintensiven Analogie, welche die Europäisierung des Drogenhandels mit der geplanten Schaffung des europäischen Binnenmarktes assoziiert. Als konnotationskonstitutive Seme sind dabei /Furcht/, /Bedrohung/ o. ä. anzunehmen, denn gerade in Frankreich war und ist der geplante «marcho unique europien» ein Reizthema, das u.a. geschichtlich motivierte Ängste vor deutscher (Wirtschafts-)Hegemonie aktiviert. Dieser verdeckte Appell an die nationale Identität des Zuschauers wird auf syntaktischer Ebene durch die Satzform 'Frage' realisiert. Derartig transparent Strategien der Aufmerksamkeitsgewinnung sind Heute und der Tagesschau fremd; ihre Berichterstattung gleicht weithin Antworten auf nicht gestellte Fragen17. Auf die beschriebene Weise kontextuell und phatisch eingelagert, ist bei A2 die Behandlung des Themas als Dossier global legitimiert. Gleichzeitig ist aber auch eine Anforderung an den Bildbericht definiert: die sich an ihn anschließende Abstraktion kann nur gerechtfertigt werden, wenn er es versteht, die Gewichtigkeit des die gesamte Berichterstattung auslösenden Ereignisses entsprechend zur Geltung zu bringen. Was dabei die Fakten aus sich heraus nicht leisten können, wird zur Herausforderung an die Präsentationsform. Zur weiteren Analyse sind nachstehend die Texte der Bildbeiträge von A2 und der Tagesschau wiedergegeben. Die in Klammern gesetzten Zahlen verweisen auf Einstellungswechsel im Bilddiskurs. Die Inhalte der verschiedenen Einstellungen sind unter dem jeweiligen Text angegeben. Antenne 2 (1) Jacques Antoine Canavaggio. Cet homme possede un restaurant. II est aussi fermier. (2) Lui et ses amis dlevent des sangliers ici (3) ä quelques kilometres de Barcelone. Voilä pour ses activitös de surface. (4) Car en sous-sol, la melodie du
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Natürlich ist im französischen Beispiel die Frage nur eine rhetorische; sie ist nichts anderes als ein Versuch, Interesse zu erzeugen, vielleicht sogar nur die Simulation eines solchen. Ihre pragmatische Funktion besteht darin, dem Zuschauer zu signalisieren, daß man seinen Anspruch auf relevante Information, und damit ihn selbst, ernst nimmt. 140
gentleman-farmer est tout autre. (5) II stocke, entrepose dix-sept tonnes de drogues, soil deux cent millions de francs. (6) Dans des centaines de sacs marqu6s au nom du cafe" de Brasil, (7) la refine de canabis est chouchotie. (8) Compresseurs, ventilations pour assurer une temperature (9) constante, Systeme olectrique (10) de wagonnets dans deux tunnels (11) de plus de cent metres de long, boton arm6 aux ceintures mdtalliques. Coüt de l'installation: cinq millions de Francs. (12) Ici, Canavaggio n'est plus un fermier, c'est un industriel en stupofiants. Son nom d'ailleurs devient El Grande Corso, le grand Corse. (13) Et ä deux pas de ce silo ä canabis, une petite plage, (14) iddale pour accueillir les yachts et vedettes rapides qui acheminent la merchandise. Seulement, samedi dernier, la flotte (15) de Monsieur Canavaggio a brutalement (16) stoppi ses a!16es-et-venues avec le Maroc ou le Liban. Apres trois ans de filature, les policiers espagnols arr€taient le gang. Six personnes en tout. (17) Un r£seau parmi d'autres qui prouve que 1'Europe est (18) la nouvelle terre detection des trafiquants. (19) En matiere de drogues, le marchd unique europoen est d'ores et dejä roalisdi. La coca'ine p.ex., originaire d'Amirique du Sud, passe les frontieres de l'Angleterre, de l'Allemagne, de l'Espagne, de la France ou de l'Italie, car le marche latino-amoricain est saturo. Alors on cherche de nouveaux clients sur le vieux continent. Augmentation de la consommation de la cocaine done, mais stabilisation pour I'horo'ine qui vient d'Asie ou du Proche-Orient. Dans ces filieres internationales (20) de la drogue, l'Espagne fait figure de plaque tournante. En mai dernier, ä Irun, une tonne de coca'ine avait saisie, (21) une tonne dissimulde derriere d'innocentes bouteillesde vin. (1) Bildtafel Canavaggio (2) Schweinestall (3) Polizisten legen zum Drogenlager führende Falltür frei und öffnen sie (4) idem (5) Innenansicht des unterirdischen Drogenlagers (6) Säcke (7) weitere Säcke (8) Nahaufnahme Kompressor (9) Nahaufnahme Instrumententafel mit Meßanzeigen (10) Schwenk über Drogenlager (11) Tunnel, Zoom rückwärts (12) weiterer Tunnel, Zoom vorwärts (13) Schwenk vom Einstiegsloch zu einer entfernter gelegenen Bucht mit einzelnem Motorboot (14) Nahaufnahme des Namensschildes einer Jacht, Zoom rückwärts (15) Nahaufnahme eines auf der Jacht befestigten Schlauchbootes mit Außenbordmotor (16) Schwenk über Hafen (auch größere Schiffe), Zoom vorwärts auf ein Polizeiboot (17) Nahaufnahme obiger Jacht aus anderem Winkel (18) Nahaufnahme obigen Schlauchboots aus anderem Winkel (19) Europakarte wird als Bildtafel eingeblendet, Richtungspfeile erscheinen progressiv auf der Karte (20) Schwenk über Raum mit beschlagnahmten Drogen; endet mit Standbild auf drei Weinkartons; im Bild oben links: Irun, Espagne (21) Fotoreporter beim Fotografieren, Schwenk über immense Menge von Drogen, Zoom vorwärts auf einzelnen Weinkarton. Tagesschau (1) An der Costa Brava bei Lloret del Mar (2) ist der spanischen Polizei ein großer Schlag (3) gegen den internationalen Rauschgifthandel gelungen. (4) Die Beamten spürten 17 Tonnen Haschisch auf. 15 Tonnen waren in einem (5) Tunnelsystem verborgen. Es ist die wohl größte Menge Haschisch, die in Europa auf einen Schlag gefunden wurde. (6) Das unterirdische Lager hatte Kühlgeräte, (7) um das Rauschgift frisch zu halten. (8) Ein zum Strand führendes Fließband sowie ein Schnellboot zum Transport der Drogen wurde ebenfalls entdeckt. (1) Männer heben Säcke aus Einstieg zum Drogenlager (2) idem (3) Nahaufnahme von Säcken in Lieferwagen (4) Polizisten beladen Lieferwagen mit Säcken (5) Schwenk vom Innern des Drogenlagers zum Ausgang (6) Nahaufnahme Instrumententafel mit Meßanzeigen (identisch mit Einstellung (9) bei A2) (7) Schwenk im Inneren des Drogenlagers (8) Schwenk vom Einstiegsloch zu einer entfernter gelegenen Bucht mit Motorboot (identisch mit Einstellung (13) beiA2).
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Für die Analyse will ich mich bei A2 im wesentlichen auf den Teil der Reportage beschränken, der inhaltlich die auch vom Tagesschaubericht abgedeckten Fakten umfaßt, d. h. bis «Six personnes en tout». Im Vergleich zur Tagesschau sind bei A2 die zahlreichen Quantifizierungen auffällig, die in Zusammenhang mit der oben beschriebenen Strategie der Amplifikation zu sehen sind und teilweise sogar in Widerspruch zur Tagesschau stehen: ist dort von «einem Schnellboot» die Rede, macht A2 daraus gleich «les yachts et vedettes rapides» und spricht sogar von einer ganzen «flotte privee». Der Amplifikation durch die Sprechereinleitung entspricht also berichtintern ein Hang zur Hyperbel. Hervorzuheben ist auch die starke Personalisierung bei A2, die um so bemerkenswerter ist, als in der Tagesschau - und auch in Heute - überhaupt keine Eigennamen genannt werden. Die überschriftartige Nennung des Eigennamens zu Beginn des Bildberichts von A2 weist Canavaggio als das eigentliche Textthema aus. Die semantische Kohäsion des Textes wird wesentlich durch auf seine Person bezogene Rekurrenzen in Form von Renominalisierungen und Pronominalisierungen gewährleistet. In der starken Ausrichtung des Berichttextes an Canavaggio ist neben einer den rezeptionsbezogenen Vorteil der Konkretisierung bietenden Personalisierung auch eine Französierung des Ereignisses zu sehen. Derartige Rückbindungspraktiken ausländischer Ereignisse an Frankreich konnten bereits in Kapitel III festgestellt werden. Die Rückbindung wird durch die Aktivierung eines Stereotyps, das des verbrecherischen Korsen, verstärkt und bricht sich noch einmal doppelt in Canavaggios Spitznamen le Grand Corse, der einerseits auf Napoleon verweist und andererseits ein im französischen Verbrechermilieu typisches Muster der Namensgebung aktualisiert, das sich der Herkunft eines Gangsters als distinktives Merkmal bedient: Jojo le Ricain, Fredo le Rital, Francis le Beige oder einfach auch le Toulousain, le Marseillais etc. Von seiner Struktur her weist der Tagesschaubericht geringe Komplexität auf. Genauso wie er, ohne als Gestalt zerstört zu werden, nach jedem beliebigen Satz enden könnte, weil er die zentrale Information bereits zu Beginn preisgibt, könnten ihm weitere Sätze hinzugefügt werden. In der Reportage von A2 hingegen wird die Kerninformation der Verhaftung erst relativ spät geliefert. Bis zu diesem handlungsbetonten Moment ist der Text deskriptiv. Gegensatzpaare wie Oberirdisch vs. unterirdisch', 'gentleman-farmer vs. industriel en stupefiants', die sich abstrakter als Dichotomisierung von Sichtbarem und Verborgenem fassen lassen, fungieren als «deskriptionskonstitutive Oppositionen» (Link 1979, S. 277). Die Präsentation Canavaggios kann dabei als Umsetzung eines Dr.Jekyll-und-Mr.Hyde-Motivs gesehen werden. Anders als beim Tagesschautext wäre es hier unmöglich, den Bildbericht nach jedem beliebigen Satz zu kappen, denn die Textkonstruktion verläuft nicht hierarchisch vom Umfassenden zum Detail, sondern progrediert nach einer narrativen Logik, die dem Text «sphärische Geschlossenheit» (Lämmert 1968, S. 95) verleiht. Eine wesentliche Rolle dabei spielt die Tempusstruktur. Während der Tagesschautext sich ausschließlich in Vergangenheitstempora artikuliert, nutzt der Reportagetext bei A2 die Spannung zwischen statisch deskriptivem Präsens und aktionsgebunde142
nem passe compost. Ist in der Tagesschau die Verhaftung implizit die (chrono-) logische Vorbedingung für die Entdeckung des aufwendig angelegten Drogenlagers, wird sie in der narrativen Dramatisierung bei A2 zur Klimax. Die Reportage ist kein Ereignisbericht mehr, sondern nimmt Züge eines Krimis an. Im wesentlich faktenorientierteren Bildbericht von TF1 wird der Gefahr einer Genrekonfusion (Nachrichten vs. Kriminalfilm) mit folgendem Satz entgegenzuwirken versucht: «On se serait cru dans un film de James Bond, raconte un policier». Ob diese Aussage tatsächlich von einem Polizisten getätigt wurde, mag dahingestellt sein. Im Bildbericht von A2 wäre sie eindeutig als Paralipse zu werten, denn Jacques Antoine Canavaggio wird dort in einem von Technik dominierten Setting so präsentiert, daß er dem Staragenten Ihrer Majestät ein würdiger Gegner sein könnte. Die Verwendung des Präsens ruft bei A2 eine subtile Widersprüchlichkeit hervor, auf die noch kurz eingegangen werden soll. Über das Präsens als Zeit mündlichen Erzählens schreibt Harald Weinrich: Da es ( . . . ) nicht Träger eines Rückschaumerkmals ist, kann es nicht von sich aus eine erzählte Vergangenheit bezeichnen. Zuerst muß vielmehr auf andere Weise, nämlich etwa durch das Erzähltempus Imperfekt oder durch bestimmte Tempus-Adverbien, gegebenenfalls auch in Verbindung mit dem Rückschautempus Perfekt, ein Erzählrahmen gebildet werden, der häufig am Ende der Erzählung noch einmal aufgenommen wird. In diesem Erzählrahmen kann dann eine Vordergrundhandlung im Präsens eingeblendet werden, die auf diese Weise zugleich den stilistischen Ausdruckswert besonderer Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit erhält ('historisches Präsens') (Weinrich 1982, S. 178 f.).
Im Bildbericht von A2 drückt das Präsens jedoch keine Vordergrundhandlung aus, sondern eine Hintergrundbeschreibung. Dabei profitiert es - sozusagen regelwidrig - von dem ihm als historischem Präsens zukommenden «stilistischen Ausdruckswert besonderer Anschaulichkeit». Texlgrammatisch ist die Zeitenkonstellation fehlerhaft. Diese Fehlerhaftigkeit ist ein bewußt an die Textpragmatik gezollter Tribut, durch den die Hintergrundbeschreibung das Gewand der vordergründigen Erzählung erhält und zum Hauptgegenstand des Bildberichts wird. Anders als in der Tagesschau hat der gesamte Bildbericht bei A2 ein textsemantisch motiviertes Ende. Der Abschlußsatz «En mai dernier, a Irun, une tonne de cocaine avait ete" saisie, une tonne dissimule'e derriere d'innocentes bouteilles de vin» greift die Opposition 'sichtbar vs. verborgen' in Verbindung mit einem artverwandten Ereignis leitmotivisch wieder auf und legt dem Zuschauer dadurch nahe, einen offensichtlichen Schluß zu ziehen: Das Böse lauert überall, es verbirgt sich hinter harmlosen Oberflächen; Wachsamkeit ist angesagt. Durch die allbeständige Bedienung dieser von ihr selbst gezüchteten Psychose täuscht Verbrechensberichterstattung der vorliegenden Art einen Gebrauchswert vor, der ihr von ihren Bezugsfakten her nicht zukommt. Sowohl bei A2 als auch in der Tagesschau entspricht die Sequenzierung des Bilddiskurses grosso modo der Erzählzeit des Verbaltextes. Während die Tagesschaubilder resultativ von der Entdeckung ausgehen - die erste Einstellung zeigt, wie Säcke aus dem Einstiegsloch herausgehoben werden -, ist der Bildbe143
rieht bei A2 rekonstruktiv angelegt, indem die Entdeckung selbst simuliert wird: die Einstellungen (3) und (4) zeigen Polizisten beim Freilegen und Öffnen der Einstiegstür. Dieses Vorgehen ist einerseits ein Belegelement für Narrativierung in französischen Fernsehnachrichten und exemplifiziert andererseits symbolträchtig (Öffnen einer verborgenen Eingangstür) deren investigative Ausrichtung. Im weiteren Vergleich fällt auf, daß von dem verwendeten Agenturmaterial nur zwei Einstellungen identisch sind. Für die Tagesschau sind dies die einzigen Einstellungen, die eine hohe lokale Bild-Text-Kohärenz aufweisen. Der Rest des Bildteils fungiert dort eher als illustrativer Hintergrund. Der Verbaltext macht keine expliziten Verweise auf das Bild und setzt dieses in keiner Weise voraus. Wie mit dem gleichen Text eine andere Bebilderung vorstellbar wäre, könnte man sich zu den vorliegenden Bildern auch andere Texte vorstellen. Im Gegensatz dazu ist der Verbaltext bei A2 nicht autonom funktionsfähig. Bild und Text werden durch deiktische Elemente explizit verklammert. Besonders interessant sind die fragwürdigen Versuche, die Hyperbolik des Verbaltextes durch den Bilddiskurs zu belegen. Die aus «yachts» und «vedettes rapides» bestehende «flotte » Canavaggios schrumpft im Bild zu einer einzigen Jacht mit einem darauf befestigten Schlauchboot mit Außenbordmotor. Der Eindruck einer Flotte wird suggeriert, indem die Jacht und das Schlauchboot in einem Hafen zusammen mit größeren Schiffen gefilmt und in vier Einstellungen gezeigt werden. Dieser Hafen entspricht allerdings nicht der vorher gezeigten Bucht («une petite plage»), in der nur ein einzelnes Motorboot zu sehen ist. Ähnlich widersprüchlich sind Bild und Verbaltext am Ende des Bildberichts, wo von «une tonne (de cocaine) dissimuloe derriere d'innocentes bouteilles de vin» die Rede ist, und im Bild eine ungeheure Menge Rauschgift gezeigt wird, vor der lediglich einzelne Weinflaschen und einige wenige Weinkartons verloren herumstehen. Es zeigt sich hier, daß die Berichterstattung zu einem gewissen Grade realitätsenthoben ist, indem sie bei der Verwirklichung ihres Textethos kompositorischen Eigenregeln folgt. Gerade der Versuch der Herstellung hoher Bild-TextRedundanz zusammen mit der Verwendung des Präsens im Verbaltext bewirkt, daß nicht mehr die Realität, sondern deren in Funktion des Verbaltextes manipulierte ikonische Abbildung Gegenstand der Berichterstattung ist. Bild und Text sind in dem Sinne nicht wirklich koreferentiell, daß sie sich in vergleichbarer Unmittelbarkeit auf den gleichen außermedialen Gegenstand beziehen würden. In der Flüchtigkeit des Rezeptionsaktes entsteht jedoch der Eindruck, daß der Bilddiskurs sozusagen einen Indizienprozeß für den Verbaldiskurs führt, ohne daß dem Zuschauer bewußt wird, daß die Indizien gefälscht sind. Was eigentlich stattfindet, ist eine Fiktionalisierung von Realität. 2.3.3.
Jammervoll, schauderhaft und demagogisch
Am 26. Juli 1988 wurde in La Motte-du-Cayre in den Alpes de Häute-Provence die Leiche eines seit einem Tag vermißten 7jährigen Mädchens aufgefunden. 144
TF1 startete die Berichterstattung am nächsten Tag mit einer Sprechermeldung und einem Telefongespräch mit dem zuständigen Gendarmerieobersten. An den beiden Folgetagen wurde das Ereignis durch Sprecher-f Bildbeitrag-Kombinationen abgedeckt. Bei A2 begann die Berichterstattung einen Tag später als bei TF1, ebenfalls anhand von Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen. Die folgenden Ausführungen beruhen auf den Beiträgen von TF1 vom 28. und 29. Juli 1988. A) TF1, 28. Juli 1988 Sprechereinleitung L'enque'te sur l'assassinat de la petite Cdline ä la Motte-du-Cayre dans les Alpes de Häute-Provence semble progresser. Des enqueteurs entendent deux marginaux surTun l'Indien, l'autre le Tatoue". Celui-ci dtant la derniere personne ä avoir " vue en compagnie de la petite fille. Le reportage d'Alex Panzani: Reportage (1) Le seul bar de la Motte-du-Cayre est fermö. Ce"line £tait la fille du cafetier, et avec cet homme cloUre" depuis hier, (2) terrassd par la douleur, c'est tout un (3) village des Alpes de Häute-Provence qui est frappe" de stupeur en pleine saison estivale (4). Interview mit dem Bürgermeister des Ortes Nous ne pensions jamais, apres les re"jouissances de la Sainte Madeleine qui avaient eu lieu le dimanche president, que quelques jours apres nous allions au devant d'une catastrophe aussi 6pouvantable. Tout ce que nous souhaitons ici, apres avoir d£couvert le corps de la petite fille, c'est que les coupables soient retrouvös et tres se"verement punis(5). Fortführung der Reportage L'ötau se resserre sur les deux suspects toujours en garde ä vue (6). Ces deux marginaux, Strangers au pays, un berger, Richard, dit l'Indien, et son ami, surnomm£ le Tatoue", itaient des consommateurs de drogues (7). Presseerklärung eines Gendarmerieobristen A Foccasion de l'enquete, une procedure a itablie pour infraction ä la logislation sur les stupofiants ä l'encontre des deux personnes garde'es ä vue. Cette garde-ä-vue se poursuit ainsi que les auditions. L'enquete, pour l'essentiel, e"volue de facon positive (8). Fortführung Reportage La fillette aurait vue par des enfants une derniere fois (9) en compagnie du Tatoue" qui, quelques heures plus tard, participait activement aux recherches, se faisant d'ailleurs remarquer (10). Wiederaufnahme des Interviews mit dem Bürgermeister A plusieurs reprises, il a essayd de nous aiguiller sur une fausse piste, a nous inviter ä rechercher le, bon, la petite fille plutöt vers les cretes sachant pertinemment que le fouillage systomatique que nous avions entrepris sur les bergs du Grand Ballon pouvait aboutir ä la ddcouverte du corps. (11). Fortführung der Reportage Une reconstitution semble imminente. Reste ä savoir de quelles charges procises disposent les enqueteurs. Et la terre de Provence aime les onigmes criminelles. (1) Gasthaus, Zoom rückwärts (2) menschenleere Straße (3) Großaufnahme eines Zettels an der Eingangstür eines Geschäfts: Le magasin sera ferma cet apres-midi, Zoom rückwärts (4) Bürgermeister (5) Polizisten, Polizeiauto fährt rückwärts aus Einfahrt (6) wegfahrendes Polizeiauto, Zoom vorwärts (7) Gendarmerieoberst (8) Spielende Kinder, Schwenk auf Gebüsch (9) Schwenk über einen Bach auf ein freies Feld (10) Bürgermeisterei) Bürgermeisteramt, Zoom rückwärts, Schwenk auf Gebirge. 145
Am Text des Bildberichts hervorzuheben ist v. a. der hohe Grad an Emotionalisierung, der gleich zu Beginn schon durch superlativische Wendungen («le seul bar», «tout un village»), durch die steigernde Reihung «cet homme cloitre" depuis hier, terrasse" par la douleur» sowie durch den Ausdruck «trappe" de stupeur» erzeugt wird und in der Verquickung von Einzel- und Kollektivschicksal Verstärkung findet, wobei sich das menschliche Drama zu einer ökonomischen Katastrophe («en pleine saison estivale») überhöht. Aus der Stellungnahme des Bürgermeisters resultiert durch die zeitliche Verbindung der Greueltat mit den «rojouissances de la Sainte Madeleine» zusätzlich noch eine religiöse Komponente, die das Verbrechen nicht nur als Zerschlagung der Dorfidylle, sondern auch als monströse Störung der göttlichen Ordnung lesbar macht. Entsprechend kontraststark erscheinen die vermuteten Täter. Sie sind nichteinheimische und drogenabhängige Außenseiter, die wie Gangster von der Dorfgemeinschaft bereits mit einem Beinamen (l'Indien, leTatoue) abgestempelt sind und alleine schon aufgrund ihrer Andersartigkeit schuldig erscheinen. Im Zuge der Emotionalisierung der Berichterstattung ist die Wahl des Bürgermeisters als Informant interessant. Er ist zwar eine öffentliche Person, aber keine solche, die qua definierter Funktion in irgendeiner Weise mit den Ermittlungen zu tun hätte. Hier ist ein eleganter Trick gefunden, um Volkes Stimme - im doppeldeutigen Sinne des Wortes - Gehör zu verschaffen: «Tout ce que nous souhaitons (...), c'est que les coupables soient retrouves et tres severement punis.» Außerdem wird durch das Auftreten des maire das republikanische Stereotyp der mairie aktiviert18. An die vom Bürgermeister formulierte Forderung inhaltlich anknüpfend, verdeutlicht der Text in seinen beiden letzten Sätzen noch einmal die ihn animierende demagogische Rhetorik: «Reste ä savoir de quelles charges precises disposent les enque~teurs. Et la terre de Provence aime les 6nigmes criminelles.» Die Weiterentwicklung des Ereignisses wird dem Bereich menschlicher Zuständigkeit entzogen und einem fast mystischen Kontext überantwortet. Für diejenigen Zuschauer, die dies noch im Gedächtnis haben, stellt der Abschlußsatz aber auch einen Bezug zu konkreten Geschehnissen her. In der Tat ereigneten sich in der Provence in den vorausgehenden Jahren mehrere unaufgeklärte Mordfälle sowie Fälle von verschwundenen und nie wieder aufgefundenen Personen. Von Rezipienten, bei denen diese Referenz nicht aktiviert wird, dürfte die Verbindung mit dem Stereotyp mediterraner Kriminalität hergestellt werden19. Darüber hinaus ist hier die Dichotomic 'sichtbar vs. verbor18
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«La mairie est r6publicaine par definition, puisque la France elle-meme Test depuis le 4 septembre 1870, et que les mairies sont les sieges les plus nombreux de fonctionnement de nos institutions. Elles en forment les lieux les plus proches des citoyens et les plus universellement presents. Mais la mairie est ropublicaine plus essentiellement encore, puisque c'est precis^ment ä la R£publique que doit l'universalito de sä presence» (Agulhon 1984, S. 168). Agulhon spricht auch explizit vom «ste~r6otype de la Mairie fran9aise» (ebd., S. 167). Wahrscheinlich schwingt im Textabschluß auch eine Anspielung auf provenzalischen Okkultismus und Mysterienkult mit (vgl. Bertrand 1978). 146
gen' wiederzuerkennen, deren Allgegenwärtigkeit die Arbeit der Fernsehnachrichten zu einen heldenmütigen Sisyphos-Kampf erhebt. Im Sinne der aristotelischen Rhetorik ist der Abschlußsatz des Bildbeitrags mit einer Sentenz (vgl. Aristoteles 1987, S. 136ff.) vergleichbar. Von deren Anwendern zeichnet Aristoteles folgendes Bild: In Sentenzen zu sprechen aber schickt sich dem Alter nach nur für die älteren Menschen, und zwar in bezug auf die Dinge, über die man Erfahrung besitzt. Folglich ist für den, der sich noch nicht in einem solchen befindet, das Reden in Sentenzen unschicklich, wie auch das Erzählen allegorischer Fabeln {...). Die ungehobelten Menschen sind in besonderem Maße dazu angetan, Sentenzen zu schmieden und ohne große Mühe von sich zu geben (ebd., S. 138).
Und dies ist, nach Aristoteles, der Adressatenkreis: Für die Rede stellen die Sentenzen eine große Hilfe dar wegen der äußerst ungebildeten Art der Zuhörer. Sie freuen sich nämlich, wenn jemand durch den Ausspruch eines allgemeinen Satzes zufällig die Ansichten trifft, die jene im speziellen Fall haben (ebd., S. 140).
Nun handelt es sich bei den Nachrichtenjournalisten aber nicht um altersweise, noch in aller Regel um «ungehobelte Menschen», genausowenig wie man die Zuschauer als «äußerst ungebildet» betrachten kann. Was mit «Et la terre de Provence aime les enigmes criminelles» bewirkt wird, ist einfach die kulturell verbindende Aktivierung eines kollektiven Gedächtnisses, wobei es ganz egal ist, ob lediglich ein amorphes Stereotyp oder ein konkreter Ereignishintergrund identifiziert wird. In jedem Falle liegt ein ethno-phatischer Kommunikationsakt vor. Gleichzeitig erzeugt der enigmatische Schluß eine spannungsvolle Erwartung auf die Berichterstattung des Folgetages. Diese sendungsübergreifende Dramaturgie ist am gleichen Tag auch im Schlußsatz des Bildberichts von A2 angelegt: «Pour les gendarmes de la Motte-du-Cayre, ils (die Verhafteten, R. B.) sont, ce soir, plus que suspects.» Mit dieser Aussage ist die professionelle Skepsis heuchelnde Frage gestellt, wie es morgen abend und für die hierarchisch übergeordneten Justizorgane aussehen wird. Gegenüber der starken Emotionalisierung des Bildberichts ist die faktenorientiert deskriptive Sprachverwendungsweise der Sprechereinleitung hervorzuheben. Da die Meldung bereits am Vortag Gegenstand der Nachrichten war, ist es nicht mehr nötig, besondere Mittel der Aufmerksamkeitsgewinnung einzusetzen. Anders bei A2, wo das Ereignis am 28. Juli 1988, d. h. zwei Tage nach der Tat, zum ersten Mal thematisiert wird, obwohl davon auszugehen ist, daß die entsprechende Agenturmeldung schon früher vorgelegen hat. Das dramatische Potential des Ereignisses wurde offenbar unterschätzt. Die Nachrichten sind vor die schwierige Aufgabe gestellt, sich auf einem bestimmten Niveau in den Diskurs über das Ereignis einzuklinken, ohne dabei Wissensvoraussetzungen zu machen, die sich bei den Zuschauern aufgrund der fehlenden Information an den Vortagen negativ auf die Beurteilung der gesamten Berichterstattung des Senders auswirken könnten. Folgende Formulierung wurde gefunden: 147
Abjecte, cette affaire ä la Motte-du-Cayre, une fille de sept ans violentöe et tue"e. Un drame sordide done, pros de Sisteron dans les Alpes de Häute-Provence. Deux hommes ont arretos. Us sont gardos ä vue par les gendarmes.
Der fehlende Neuigkeitswert wird durch sprachliche Emotionalisierung überspielt, die v. a. auf der Initialplazierung von «abjecte» innerhalb des elliptischen Gliedsatzes beruht. Interessant ist die Lösung der Vorwissensproblematik durch die diaphorische Verwendung des Demonstrativadjektivs «cette», das je nach Informationsstand des Rezipienten als kataphorischer oder als anaphorischer Index interpretiert werden kann. Entsprechend bleibt es auch dem Rezipienten überlassen, die Struktur des Gliedsatzes als Rhema-Thema- oder als ThemaRhema-Abfolge zu interpretieren. Auf der Ebene des Bilddiskruses ist bei TF1 zunächst einmal die relativ geringe Anzahl interner Schnitte zu vermerken - 10 in 102 Sekunden -, durch welche die verbal bereits hergestellte elegische Stimmung unterstrichen wird. Hervorzuheben ist auch hier das Bestreben um Konstruktion enger Bild-TextBezüge. Zur Narrativierung der Bildebene wird dem Zuschauer sogar die Herstellung faktisch falscher, jedoch textkompatibler Bild-Text-Bezüge suggeriert. So zeigt Einstellung (6) von hinten ein wegfahrendes Polizeiauto, das durch Zoom näher herangeholt und dadurch wahrnehmungsauffällig gemacht wird. Da der Verbaltext sich zu diesem Zeitpunkt mit den zwei Verhafteten auseinandersetzt, entsteht der Eindruck, daß es sich nicht um irgendein Polizeifahrzeug handelt, sondern daß die Verdächtigen in dem gezeigten Fahrzeug gerade abtransportiert werden. Bei genauem Hinschauen (welcher Zuschauer tut dies schon in einer normalen Rezeptionssituation?) zeigt sich jedoch, daß der Polizeiwagen nur mit drei Personen besetzt ist. Es ist aber kaum anzunehmen, daß zwei Verdächtige unter Bewachung eines einzelnen Polizisten, der dann auch noch das Fahrzeug lenken müßte, abtransportiert würden. Eine weitere Narrativierungsstrategie besteht in der Herstellung visueller Kohärenz innerhalb des Bilddiskurses. So geht die letzte Kamerabewegung vom Bürgermeisteramt aus, wodurch assoziativ ein Rückverweis auf den im Bildbericht zweimal auftretenden maire vollzogen wird und die mairie als Element der imagerie rfpublicaine erneut zum Tragen kommt. B) TF1, 29. Mi 1988
Sprechereinleitung Apres le meurtre de la petite Celine dans les Alpes de Häute-Provence, les deux suspects entendus depuis mercredi par les gendarmes ont avou6 ce matin avoir , puis tue" cette fillette de sept ans. Us ont tous deux inculpds d'assassinat, sdquestration, puis viol accompagn6 de torture et d'actes de barbaric. Sur place, Alex Panzani (während der gesamten Einleitung ist ein ungewöhnlich großes blue ixuoBild der «petite Coline» zu sehen, durch welches der prlsentateur mehr als sonst in den linken Bildschirmbereich verdrängt wird): Reportage (1) Crime odieux perpdtrö par des barbares, comme le disait ce matin un officier de gendarmerie (2) encore sous le choc des aveux de Richard Romand et (3) Didier Gentil
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conduits ici au Palais de Justice (4) de Digne apres avoir passe" des aveux complets (5). Presseerklärung des Staatsanwalts Les deux tomoins sur qui s'dtaient portos les soupcons, Romand Richard, 27 ans, agriculteur, et Gentil Didier, ouvrier agricole, ä la suite de l'information ouverte ce jour sont inculpds de sequestration, viol aggravo et accompagno de torture et d'actes de barbaric, assassinat. Fortführung der Reportage Derriere ces mots, le martyre subi par Cdline (6), entraine"e dans un champ ä 200 metres du village et violde ä plusieurs reprises (7) par les deux hommes de"chain£s. C'est Romand qui l'aurait etrangl£e avant de lui £craser la tete avec une pierre, Romand, (8) un ancien otudiant en agronomic ä la derive qui s'etait dans cette masure (9) isolo et en mines (10). II vivait au milieu de ses betes, presque comme elles (11), dormait sous cette bäche, ce qui 1'avait fait surnommer (12) 1'Indien. Depuis deux mois, il avail accueilli Didier Gentil, dit le Tatoue" (13). Les deux marginaux qui fumaient beaucoup de haschisch prdtendent (14) avoir accompli un sacrifice rituel (15). II est en revanche plus certain que ce crime atroce a 6te" pre"m6dite". (1) Polizisten führen Romand aus einem Gebäude (2) Standbild Romand (3) Didier Gentil wird von Polizisten aus Gebäude geführt (4) Rückansicht eines abfahrenden Polizeifahrzeugs (5) Staatsanwalt (6) Bildtafel: Celine (identisch mit blue-box-Bild während der Sprechereinleitung) (7) Gebüsch, Schwenk über Bach auf freies Feld; identisch mit Bildbericht des Vortages (8) Fernansicht einer extrem baufälligen Behausung (9) Nahansicht der Behausung (10) Ziegenherde (11) Zeltplane (12) Nahaufnahme eines Kartons mit Kochgeschirr, Zoom rückwärts: zum Trocknen über einen Pferch gehängte Wäsche wird sichtbar (13) Nahaufnahme Gentil im Fond des Polizeiwagens, Zoom vorwärts (14) Romand wird von Polizisten in ein Haus geführt (15) Gentil wird von Polizisten in das gleiche Haus geführt.
Der Bildbericht hebt die skeptische Offenheit, mit welcher die Berichterstattung des Vortages abschloß, auf. Allerdings endet auch er mit einer eigentümlichen Aussage. Aufgrund welcher Fakten kommt man dazu, durch das adversative Adverb «en revanche» ein «sacrifice rituel» fälschlich in ein Ausschließlichkeitsverhältnis zu einem «crime pr6m£dit6» zu setzen? Wahrscheinlich ist es ganz einfach so, daß kaltblütig geplanter Mord, dem Duktus der Berichterstattung entsprechend, besser als ein rituelles Opfer zu Individuen paßt, die wie Tiere unter Tieren leben. Außerdem wird durch diesen Textabschluß auch wieder eine gewisse Offenheit erzeugt, die weitere Berichterstattung insofern vorab legitimiert, als letztliche Klarheit noch nicht hergestellt ist. Interessant ist auch der Beginn des Bildberichts. Die Wiedergabe der angeblichen Äußerung eines Polizisten («crime odieux perp6tr6 par des barbares») ermöglicht die als Fakt rhetorisch abgesicherte Integration eines wertenden Kommentars, ein Verfahren, das bereits beim Drogenbericht festgestellt werden konnte («On se serait cru dans un film de James Bond», raconte un policier.»). Auch an diesem dritten Tag der Berichterstattung hinterläßt der Bildbericht den Eindruck starker audiovisueller Elaboriertheit. Allerdings hat sich jetzt das Inhaltsgewicht von der Tat selbst stärker auf die Täter verlagert. Der Bildbericht ist rhetorisch weniger emotionalisiert als am Vortag, denn die nun feststehenden Fakten sind aus sich heraus so ausdrucksstark, daß sie keiner sprachlichen Überhöhung bedürfen. Dem veränderten Textethos entspricht ein Anstieg der 149
Zahl interner Schnitte: 14 in 74Sekunden gegenüber 9 in 102Sekunden am Vortag. Wie groß der auf enge Bild-Text-Relationen gelegte Wert ist, zeigt einerseits die Integration von Bildmaterial des Vortages (Einstellung?) und andererseits auch das Standbild Richard Romands ziemlich zu Anfang des Berichts, das weniger inhaltlich als formalkompositorisch motiviert ist: das Bild wird so lange angehalten, bis der Verbaltext Didier Gentil thematisiert (ohne allerdings ein Standbild von ihm zu zeigen), und der Bilddiskurs nachziehen kann. Die Technik des Standbildes liefert hier sozusagen postproduktive kompositorische Dehnungsmasse. Trotz dieses deutlich nachvollziehbaren Bestrebens nach Herstellung von Bild-Text-Redundanz, das sich auch ganz eindringlich bei der visuellen Dokumentation der Lebensbedingungen der Verhafteten manifestiert, würde es eine Verkürzung bedeuten, den Bilddiskurs als einfache semantische Doublette des Verbaltextes zu betrachten. Bild und Text weisen zwar starke lokale Kohärenzen auf, jedoch ist der Bilddiskurs im Gegensatz zur Verbalebene wie eine Rahmenerzählung strukturiert. Die ersten Einstellungen zeigen die Verhafteten, wie sie aus einem Gebäudeeingang herausgeführt und abtransportiert werden. In der letzten Einstellung werden sie, am Bestimmungsort angelangt, durch eine Tür in ein Haus hineingeführt. Aufgrund der gewählten Einstellungsgröße kann von den Bildern her nicht eindeutig ermittelt werden, ob es sich um den gleichen oder tatsächlich um verschiedene Eingänge handelt. Erst ein Vergleich mit dem trotz unterschiedlicher Bildquelle - die Bilder stammen von FR3-Marseille - verblüffend ähnlich strukturierten Bildbericht von A2 erbringt Klarheit. Dort werden die Verhafteten in der ersten Einstellung in das Gebäude hinein- und in der letzten Einstellung aus dem gleichen Gebäude herausgeführt. Es wird dabei deutlich, daß es sich sowohl bei A2 als auch bei TF1 um das gleiche Gebäude handelt. Allerdings hat TF1 kontrafaktisch die Einstellungen invertiert, um einen visuellen Erzählrahmen zu konstruieren, der mimetisch zwar plausibel erscheint, faktisch jedoch die Ereignischronologie umkehrt. Diese visuelle Lüge steht im Dienst der rekonstruktiven Darstellung (nicht der Abbildung) von Realität. Wie im klassischen Drama ist dabei die vraisemblance Gütekriterium. Welt und nachrichtliche Darstellung fusionieren in einem «plaisir du texte»20, das die Welt in den Hintergrund rückt und dem Text Eigenleben verleiht. 2.3.4.
Drama in Zeitlupe: die Kamera als forensisches Instrument
Am Morgen des 10. April 1984 fanden in Toulouse die Beisetzungsfeierlichkeiten für neun französische Soldaten eines Minenräumkommandos statt, die unter ungeklärten Umständen im Tschad ums Leben kamen. Verteidigungsminister 20
Viele französische Nachrichtentexte entsprechen in der Tat annähernd dem, was Barthes in Le Plaisir du texte (1973) als «texte de plaisir» bezeichnet: «Texte de plaisir: celui qui contente, emplit, donne de l'euphorie; celui qui vient de la culture, ne rompt pas avec eile, est lie a une pratique confortable de lecture» (ebd., S. 25). 150
Charles Hernu verlieh den Gefallenen/Verunglückten posthum Auszeichnungen. Währenddessen stieg der Bruder eines der Opfer in seinen Wagen und raste auf die Ehrentribüne zu, offensichtlich in der Absicht, Hernu zu töten. Die Sicherheitskräfte eröffneten das Feuer und konnten den Wagen zum Stoppen bringen. Die gesamte Szene wurde von einem Reportageteam von FR3 gefilmt. Bereits in den Mittagsnachrichten zeigte A2 diese Bilder mit folgendem Begleitkommentar: A2,10. April 1984,12 Uhr 45 Sprechereinleitung Un incident dramatique ce matin au cours des obseques des neuf soldats fran9ais tu£s au Tchad la semaine derniere. Le freie de l'une des victimes, visiblement fou de douleur, a fonco dans la foule avec sä voiture au beau milieu d'un groupe de personnalit6s parmi lesquelles plusieurs gonoraux et le ministre de la Defense, M. Charles Hernu. Apparemment, il n'y a pas eu de blesses. L'homme, lui, a maitriso par les services de socuritd qui l'ont blesso en tirant sur lui. II semble assez se"rieusement louche". Voici les toutes premieres images de cet £v6nement dramatique qui a eu Heu il y a une heure ä peine. Regardez: Bildbericht (1) Incident tragique, en effet, tout ä l'heure au cours de la coremonie solennelle (2) en hommage aux neuf soldats tue's samedi au Tchad. Fou de chagrin, le frere d'une des victimes, Lionel R£hal, a foncö (3) ä bord de sä voiture sur la foule des personnalitis qui assistaient ä la corimonie, parmi lesquelles Charles Hernu, ministre de la D6fense. Les services de socurite ont ouvert le feu, la voiture a renverse Tun des neuf cercueils (4) et le jeune homme, blessö ä l'aine, a transports ä l'hopital. (5) La c6r6monie s'est poursuivi dans la stupeur, en presence d'une foule importante, qui voulait ainsi s'associer ä la douleur des families qui s'interrogent toujours (6) sur les conditions de la mort de leurs enfants. (1) Mit hoher Geschwindigkeit fahrendes Auto, von hinten (2) Fahrzeug rollt aus; Polizisten und Sicherheitsbeamte eilen herbei (3) Rlhal wird aus dem Auto gezogen, ein Menschenauflauf bildet sich (4) Zoom auf umgestoßenen Sarg, der weggetragen wird (5) Schwenk über erregte Trauergäste (6) Hernu heftet Orden auf die Särge.
Eine derartige Sprecher+Büdbeitrag-Kombination wäre mit einigen Abstrichen auch in Heute oder der Tagesschau vorstellbar. In deutschen Fernsehnachrichten weniger zu erwarten wären die als Imperativ gestaltete zuschauergerichtete Aufforderung zum Anschauen des Bildberichts und die Aufwertung der Berichterstattung durch die Betonung des Neuigkeitswertes der Bilder («les toutes premieres images»). Was in der Mittagssendung aufgrund des zeitliche Distanz herstellenden passe compose neutral berichtend erscheint, wird in der 20-Uhr-Ausgabe zur dramatischen Direktreportage, deren Erlebnisintensität noch durch die Verwendung direkter Rede gesteigert wird. Am Bildbericht unmittelbar auffällig ist die Setzung extrem langer Pausen, die in der nachstehenden Transkription vermerkt sind. (P) steht dabei für artikulatorisch nicht motivierte Pausen von bis zu fünf Sekunden Länge, (P:) zeigt Pausen zwischen sechs und elf Sekunden an:
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A2,10. April 1984, 20 Uhr Sprechereinleitung Un incident dramatique lors des obs&jues ce matin a Toulouse des soldats francais tu6s au Tchad. Le frere d'une des victimes, apparemment fou de douleur, s'est all€ chercher (sie) sä voiture. II a ensuite fonci dans la foule rounie pour renterrement. II visait, semble-t-il, le ministre de la Dofense qui prösidait la corömonie. Toute la scene a 6t6 filmoe par une 6quipe de FR3 qui se trouvait sur place, et, vous allez le voir, c'est un document tres dur qu'elle a rapporto. Bildbericht (1) Onze heures ce matin. M. Charles Hernu, ministre de la Dövense, arrive dans la cour d'honneur de la base militaire de Touloussse-Francazal. (P) (2) La c6r6monie commence aussitöt. (P) (3) Apres la remise des docorations posthumes (4) et la be"n£diction des corps des neuf soldats tombos ä Oum Chalouba, (P) (5) le ministre de la Defense s'approche des families. (6) Parmi elles, celle de Laurent Rohal, dix-neuf ans. (7) Au moment oü le ministre tend la main, Tun des freres Rdhal, Lionel, eclate: «C'est pas le moment de donner des modailles. On veut savoir la .» Fou de colere, Lionel court vers le parking. L'instant d'apres, (P) (8) il procipite sa voiture sur le groupe de personnalit6s entourant le ministre qui s'ocarte de justesse. (9) Pour tenter d'arreter enfin la voiture folle, (10) qui heurte au passage un cercueil, un garde du corps a tird. (P:) (11) Les freres Rohal avaient tente" en vain de s'interposer. (P:) Tres vite, le jeune homme est extrait du vohicule, et on constate qu'il est blesso ä la cuisse. (P) (12) Une femme accourt et se penche, sans doute la mere de Laurent et Lionel. (13) Sur le capot de la voiture, (14) des traces de chocs. Sur la porte droite, 1'impact d'une balle. (P:) Tout autour, apres tant de tensions, la douleur nue, (15) qu'on ne peut plus contenir. (P:) Tandis que les premiers secours sont donn6s sur place au jeune blessd, Charles Hernu viendra prendre de ses nouvelles. (16) Transportd ä l'höpital, Lionel R£hal est main tenant hors de danger. (1) Schrifteinblendung quer durch obere linke Ecke: 'Le Fait'; dann: 'Toulouse, ce matin'; Hernu steigt aus Limousine und wird von hohen Offizieren begrüßt (2) Hernu vor Ehrenkompanie (3) Hernu heftet Orden auf die Särge (identisch mit der Abschlußeinstellung des Bildberichts der Mittagssendung}, (4) Geistlicher segnet Särge, Schwenk auf Särge (5) Trauerfamilien (6) Hernu und Ehefrau kondolieren einer Familie (7) Menschentraube; sichtlich wird versucht, jdn. zu beruhigen (8) mit hoher Geschwindigkeit fahrender Alpha Romeo, von hinten (9) Standbild des Autos, von der Seite (10) fahrendes Auto in Zeitlupe, schiebt einen der Särge beiseite (11) Auto rollt aus, Sicherheitskräfte eilen herbei und ziehen R hal heraus (12), seine Mutter beugt sich über ihn; Schwenk auf Auto (13) Großaufnahme einer Beule auf der Motorhaube; Schwenk um Auto herum: Einschußloch an der Tür wird sichtbar; Schwenk auf Sarg, der weggetragen wird (14) zwei Männer versuchen, jdn. zu beruhigen, halten die Person fest; Zoom vorwärts (15) am Boden liegender R4hal wird versorgt (16) R hal wird in Ambulanz geladen. Um dem reflexiv nicht durchdrungenen fait brut eine kognitive Dimension zu verleihen, zeigen die Abendnachrichten im Anschluß noch einen - hier nicht weiter berücksichtigten - Bildbeitrag mit einem Interview der beiden Brüder des 'Attentäters', in welchem dessen emotionaler Zustand und seine Tatmotive zur Sprache kommen. Außerdem wird die Mission der französischen Truppen im Tschad erläutert (auch hier wieder ein Beispiel für den um Hintergrunderhellung bemühten journalisme d'examen).
Die beiden Sprecher+Bildbeitrag-Kombinationen unterscheiden sich sowohl in ihrem Einführungsteil als auch in den Bildberichten. Während der prdsentateur in der Mittagssendung das Ereignis in seiner Geschlossenheit zusammenfaßt, 152
verfährt er in der Abendsendung zur Spannungserzeugung elliptisch, indem er das Ergebnis des Zwischenfalls offenläßt. Dadurch erhält der nachfolgende Bildbericht von vornherein einen anderen Status als in der Mittagsausgabe. Ist dort von einem «£ve"nement dramatique» die Rede, wird daraus abends «un document tres dur». Damit ist eine Akzentverlagerung vom Ereignis auf dessen mediale Repräsentation angedeutet21. Als bedeutsamster sprachlicher Unterschied zwischen den beiden Bildberichten ist neben der ausgeprägten Pausendramaturgie der Abendsendung, die dem emotionalen Wirkpotential des Bildes ungewöhnlich viel Zeit einräumt, der Übergang zum Präsens mit seiner dramatisierenden Aktualisierungskraft hervorzuheben. Nur an einer einzigen Stelle wird im Bildbericht der Abendsendung anstatt des Präsens das passt compost verwendet: « . . . un garde du corps a tir£.» Der darauffolgende Satz «Les freres de Lionel Re'hal avaient tento en vain de s'interposer» drückt ein Vorzeitigkeitsverhältnis dazu aus und steht deshalb folgerichtig im Plusquamperfekt. Für den Wechsel zum passo compose gerade an dieser Stelle liegt kein textgrammatischer Zwang vor. Der einzig akzeptable Grund, das passe compost einzuführen, ergibt sich aus dem Zusammenspiel des Verbaltextes mit dem Bild. Unmittelbar nach «... un garde du corps a tiro» erfolgt ein Schnitt mit überlanger Pause. Die neue Einstellung zeigt das langsam ausrollende Auto. Text und Bild stehen hier in einem Ursache-Wirkungsverhältnis, indem das Bild die sichtbare Wirkung einer verbalisierten aber unsichtbaren Ursache zeigt. Das passt compost drückt also eine Vorzeitigkeit aus, jedoch keine solche, die sich im Verbaltext verankern ließe. Dieser bezieht sich nicht mehr primär auf eine außermediale Realität, sondern auf den Bilddiskurs. Der durch Pausensetzung, Verwendung des Präsens und den Einschub direkter Rede dramatisierte Text der Abendsendung zeichnet sich gegenüber der Mittagsausgabe auch durch gesteigerte Narrativität aus, indem das Ereignis innerhalb eines Schemas von Ruhe (Normalität) und Störung (Bruch) zur Entfaltung gebracht wird. Durch die Rekonstruktion einer Chronologie, die den Zeitraum vor dem Kernereignis zur Herstellung einer 'Ruhe-Störung', eines 'Narrationsereignisses', miteinbezieht, erhält Zeit im Bildbericht eine narrato-logische Dimension. Ähnlich verfährt auch der Bericht über den Drogenfang der spanischen Polizei, wo den ungestörten Umtrieben Canavaggios durch dessen Verhaftung ein Ende gesetzt wird. Hier liegt ein grundsätzlicher Unterschied zur Berichterstattung von Heute und der Tagesschau vor, die prinzipiell beim Ereignis ansetzt und sich dann faktengestützt regressiv verästelt. Der Dramatisierung des Verbaltextes entspricht eine neue Sequenzierung des Bildmaterials, das zwischenzeitlich aufbereitet wurde und jetzt sogar eine Zeitlupensequenz und eine nachträglich integrierte Nahaufnahme (Beule auf 21
In diesem Zusammenhang sei auf die auch in der Schriftpresse des öfteren anzutreffende Wendung le film des tvlnements hingewiesen, mit der eine Ereigniszusammenfassung angekündigt wird. Die Wendung stellt eine an den Rezipienten gerichtete Aufforderung zur Vergegenwärtigung der Realität als filmisches Produkt dar. 153
der Motorhaube) enthält. Der Text ist in Funktion des manipulierten und expandierten Bildmaterials so neu konstruiert worden, daß sich die Anmutungsqualität des gesamten Bildberichts verändert hat. Die hohe Bild-Text-Redundanz ist dabei teilweise zum Preis des bewußt Kontrafaktischen erkauft. Einstellung (6) zeigt z. B. Hernu und seine Frau beim Kondolieren einer Trauerfamilie. Zeitlich deckungsgleich zu dieser Einstellung heißt es im Verbaltext: «Parmi elles (unter den kondolierten Familien, R. B.), celle de Laurent Rohal, dix-neuf ans.» Die zeitliche Koextension von Einstellung und verbaler Aussage suggeriert, daß es sich bei der im Bild zu sehenden Familie um die Regals handelt. Anhand der sich an den Bildbericht anschließenden Reportage, in der ein Interview mit den Gebrüdern Rehal zu sehen ist, kann diese implizite Identitätsbehauptung jedoch eindeutig widerlegt werden. Widersprüchlich ist auch, daß Einstellung (6) des Mittagsbeitrags als Beleg für die Fortsetzung der Zeremonie nach dem Zwischenfall fungiert, während die gleiche Einstellung im Beitrag der Abendnachrichten vor dem Zwischenfall angesiedelt ist. Aufgrund der bisherigen Analyse kann wohl angenommen werden, daß die Abendnachrichten das Bildmaterial neu sequenziert haben, während die Bildabfolge der Mittagsausgabe der tatsächlichen Ereignischronologie entspricht. Aber selbst wenn es sich umgekehrt verhalten sollte, wäre in bezug auf die Nachrichtenberichterstattung allgemein der gleiche Schluß zu ziehen: sie ist gekennzeichnet von einem Bestreben nach Herstellung von Narrativität. Die größere audiovisuelle Elaboriertheit des Berichts der Abendausgabe beruht nicht auf einer wesentlich erhöhten Informationsquantität. Sie ist vielmehr Ausdruck einer gegenüber dem Ereignis gesteigerten Autonomie der Berichterstattung. In dem Maße, in dem in unserem Beispiel der visuelle Teil der Berichterstattung nicht mehr neutral dokumentarisch, sondern darstellerisch überarbeitet ist und sich der Verbalteil nicht mehr auf das Ereignis selbst, sondern auf dessen technisch manipulierten optischen Reflex bezieht, wird klar, daß das Medium kein neutrales Relais ist, sondern daß jemand etwas über die Welt sagt. Aus dem, was Benveniste unter histoire versteht: «II s'agit de la presentation des faits survenus ä un certain moment du temps, sans aucune intervention du locuteur dans le rocit» (Benveniste 1966, S. 239), wird durch die Betonung der Ausdrucksseite discours: «II faut entendre discours dans sa plus large extension: toute ononciation supposant un locuteur et un auditeur et chez le premier l'intention d'influencer l'autre en quelque maniere» (ebd., S. 242). Der Ereignisbericht hat nicht nur mehr seinen Inhalt zum Gegenstand, sondern hinterläßt seine eigene Spur. In diesem Sinne wird er narrativ: En fait, l'acte narratif n'est r6ellement sensible qu'au moment oü l'image se ddtache de l'illusion mimotique (par dicadrage, mouvement Strange de la camera, raccord, etc.), c'est-ä-dire lorsque, ä travers les £nonc£s visuels, sont per5ues des marques d'önonciation(Jost!983,S.200).
Als visuelle «marques denunciation» wären im vorliegenden Beispiel die nachträglich integrierte Großaufnahme der Beule auf der Motorhaube und die 154
Zeitlupe zu betrachten, die eine «intervention du locuteur dans le rocit» verraten. Derartige technische Mittel finden häufig in Sportübertragungen Verwendung und sind auch in Kriminal- und Agentenfilmen als Beweisfindungsprozeduren anzutreffen. D äs Tor, der strittige Punkt beim Tennis, ein vermeintliches Foulspiel, die zufällig gefilmte Tat etc. werden - oft in Zeitlupe und vergrößert wiederholt. Was dem bloßen Auge verborgen ist, wird mittels Technik sichtbar. Was aber, zwischen Dramatik und Beweisfindung, ist die Funktion der genannten technischen Mittel im vorliegenden Beispiel? Wozu die Nahaufnahme einer Beule auf der Motorhaube, nachdem man vorher bereits in Zeitlupe sehen konnte, daß das Auto einen der Särge rammte. Genausowenig wie es irgendetwas zu beweisen gibt, weil nichts offen ist, ist auch das Umstoßen des Sarges kein entscheidendes Handlungsmoment, sondern ein kontingentes Detail. An dieser Stelle ist es nützlich, die von K.-D. Möller-Naß postulierte Aufteilung des Filmbildes in eine repräsentische und eine kinematographische Schicht aufzugreifen: Die 'repräsentische Schicht' des Filmbildes enthält die repräsentierte Realität, die 'kinematographische Schicht' umfaßt das Ensemble der technischen Parameter des Bildes bzw. der Beziehungen zwischen technischen Parametern einer Bildfolge, z. B. Aufnahmedistanz, Einstellungsgröße, Kamerabewegungen, Achsenverhältnisse u.s.w. (Möller-Naß 1986, S. 75).
Im Vergleich zu deutschen Fernsehnachrichten zeichnet sich die «kinematographische Schicht» im vorliegenden Beispiel durch gewisse Auffälligkeiten aus. In dem Maße, wie sie sich in der Nachrichtenberichterstattung durch Einsatz technischer Mittel selbst thematisiert, generiert sie Ähnlichkeiten zu anderen audiovisuellen Genres, für die die entsprechenden technischen Mittel konstitutiv sind. Durch diese visuelle Versatzstückhaftigkeit entsteht jene «gestaltete Mittelbarkeit», die für Stanzel als Gattungsmerkmal des Erzählens zu gelten hat (Stanzell982,S.15ff.).
2.3.5.
Aus der Rezepteküche des Verbrechens
Sogar das zeugenlos gescheiterte Verbrechen, das nicht-Ereignis, wird auf kuriose Weise bildfähig: Am 15. April 1984 versuchte eine Gruppe von Einbrechern, in Nizza über das Kanalsystem in den Tresorraum einer Zweigstelle der B. N. P. einzudringen. Ein frühzeitig ausgelöster Alarm vereitelte das Verbrechen, und die überraschten Einbrecher mußten ihre Ausrüstung zurücklassen. In den 20-Uhr-Nachrichten von A2 wurde der Einbruchversuch mit einer kurzen Wortmeldung des prasentateur berücksichtigt: A2,15. April 1984, 20 Uhr Un commando de truands avait projetd de profiter du week-end pour forcer la salle des coffres dans une agence de la B.N.P. ä Nice. Le mSme scenario que celui utiliso par Albert Spaggiari, mais ils ont eu moins de chance. Us n'ont eu que le temps de ddtaler avant l'arrivoe de la police, laissant sur place un imposant matoriel. Une femme a 155
arretde. II s'agit de la soeur d'un truand marseillais actuellement incarcoro pour trafic de drogues. Die Mittagsausgabe des Folgetages beinhaltete folgenden Bildbericht: A2,16. April 1984,13 Uhr 45 Sprechereinleitung C'est un dchec pour ces dolinquants (Verweis auf einen unmittelbar vorausgehenden Verbrechensbericht, R. B.), comme pour ceux de Nice, d'ailleurs, qui voulaient copier Spaggiari, mais qui se sont fait surprendre avant le casse. Ils avaient pourtant un matoriel tres sophistiquo et, notamment une lance thermique. Jean-Marc Dubois: Bildbericht C'est avec cet engin que les casseurs de Nice voulaient oporer. Une lance thermique qui chauffe ä 2500 degres et permet de faire fondre le biton. Vous prenez: un tuyau en fer, longueur: trois ou quatre metres, diametre: dix-sept ä vingt-et-un millimetres. A l'interieur, quelques fils de fer. II faut aussi un tuyau avec ä un bout une vanne et ä l'autre bout une bouteille d'oxygene. On fixe le tuyau. La lance thermique est prete, ou presque. II ne faut pas oublier les gants et la visiere. Tres important! II suffit alors de chauffer le tuyau avec un bon chalumeau. Et 93 marche, le beton fond. Vingt centimetres en une minute, et, plus le beton est armo, plus c'est facile. Les utilisateurs de cet engin, ce sont, bien sür, les entreprises de travaux publics, mais des particuliers aussi, car la technique est assez simple. Seul gros inconvdnient: dans un endroit clos, cela ddgage tellement de fumee que Putilisateur risque d'etre vite asphyxio. Un endroit clos comme une banque, par exemple. Im Bildbericht befinden sich die einzigen expliziten Verweise auf den Bankraub am Anfang und - etwas unvermittelt gesetzt - am Ende des Textes. Auch die Bilder selbst stammen offensichtlich nicht vom Tatort. Das Kernstück des audiovisuellen Textes ist bewußt in Analogie zu einem Kochrezept aufgebaut. Entsprechend eng sind die Bild-Text-Bezüge. Alle zur Konstruktion der «lance thermique» notwendigen Gegenstände und Handgriffe werden in Großaufnahme gezeigt. Will man den Nachrichtenbeitrag nicht im Sinne einer Bauanleitung für ein Einbruchsinstrument verstehen, bleibt als Botschaft vielleicht noch, daß die vom Verbrechen ausgehende Bedrohung der Ordnung um so weniger unterschätzt werden darf, als die Herstellung hochwirksamer Verbrechensinstrumente so einfach ist wie die Ausführung eines Küchenrezepts. Mit einer derart platten Botschaft ist allerdings kaum zu rechtfertigen, daß ein fehlgeschlagener und ansonsten auch völlig konsequenzenloser Bankeinbruch an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Nachrichtengegenstand ist, ohne daß am zweiten Tag irgendwelche neuen Informationselemente zur Verfügung stünden. Was m. E. die zweitägige Berichterstattung tiefenschichtig motiviert, ist die Berufung auf die Einbrecherlegende Spaggiari, die Tatsache, daß Albert Spaggiari seinen «casse du siecle» nach der gleichen Methode und ebenfalls in Nizza beging. Bezeichnenderweise finden sich entsprechende Verweise auch beiTFl: «Cette affaire n'est pas sans rappeler, d'ailleurs, celle de la Socioto Gonörale qui se trouve ä 500metres d'ici» (15. April 1984, 20Uhr); «Ils esporaient faire aussi bien, sinon mieux, que Spaggiari» (16. April 1984, 13 Uhr 45). Ohne die Möglichkeit, den Einbruchversuch an ein im kollektiven Bewußtsein präsentes histo-
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risches Vorbild rückzubinden, wäre dem Ereignis vermutlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt worden. Es geht nur oberflächlich um diesen Bankeinbruch, tiefenschichtig ist die Legende Spaggiari gemeint, deren Stellenwert durch das Mißglücken des neuen Bankeinbruchs nur noch verstärkt wird. Aus Spaggiari wird sozusagen ein 'spaggiarisme'. Da es jedoch einerseits nicht Aufgabe von Fernsehnachrichten ist, Geschichte zu thematisieren, diese andererseits aber auch nicht ignoriert werden kann, wenn sie sich in einem neuen Ereignis reaktualisiert, entsteht ein Berichterstattungszwang. Die mangelnde Spektakularität des eigentlich nicht stattgefundenen Ereignisses wird durch das spektakuläre Einbruchsmaterial ersetzt. Daß A2 seinen Bildbericht als Kochrezept verfremdet, ist dabei nichts anderes als Ausdruck des Unbehagens, über ein nichtEreignis berichten zu müssen. Auch bei TF1 wird an zwei Tagen über den fehlgeschlagenen Bankeinbruch berichtet. Es handelt sich beide Male um eine Sprecher+Bildbeitrag-Kombination: TF1,15. April 1984, 20 Uhr Sprechereinleitung Les policiers de Nice ont emp6ch£ de justesse le cambriolage de la salle des coffres de la B. N. P. de Nice. Les malfaiteurs sont en effet partis en catastrophe, abandonnant un matoriel lourd et ultra-moderne ä l'int^rieur de la B. N. P. Les policiers n'ont pu arreter qu'une femme qui attendait devant la banque, dans une voiture dont le trousseau original a retrouvo dans une veste abandonne*e dans la salle des coffres de la B. N. P. de Nice. Jean-Paul Ferrey: Reportage Cela aurait pu 6tre une gigantesque razzia dans la salle des coffres de la B. N. P. place Massona ä Nice, l'une des banques les plus importantes de la Cöte d'Azur. L'affaire a 6chou6 car ä l'intörieur de la banque, les gangsters, probablement six personnes, ont ignore* un Systeme de surveillance ties sophistique\ C'est ä Lyon, ä 500 kilometres de Nice, que l'alarme s'est doclenche'e au siege d'une socidti de surveillance. Deux minutes plus tard, ä Nice, la police est sur les lieux, mais les truands se sont enfuis en catastrophe par cette porte de service en abandonnant sur place leur materiel, un matoriel impressionnant, tout ce qu'il faut pour percer coffres et blindages. II y avait meme un appareil ultraperfectionno, celui-ci. C'est une lance thermique. Sa flamme, ä 3500degr6s, est capable de trouer un mur de baton en quelques secondes. II est tres difficile de se procurer cette lance thermique. En tout, une tonne de , de burins, de chalumeaux, sans oublier les gants de Chirurgien pour dviter les empreintes. Stellungnahme eines Polizeiverantwortlichen C'est un coup monto par une oquipe de professionnels. Us ont exactement comme une dquipe de commando. Cette affaire n'est pas sans rappeler, d'ailleurs, celle de la Socie"t£ G£n£rale qui se trouve ä ä peu pres 500 metres d'ici. Fortführung der Reportage Les policiers ont aussi trouvo des victuailles en pagaille. Manifestement, les gangsters comptaient opdrer dans la salle des coffres durant tout ce week-end des Rameaux. TF1,16. April 1984,13 Uhr Sprechereinleitung Us espöraient faire aussi bien, sinon mieux, que Spaggiari. Us avaient pris toutes leurs prtcautions: au moins une tonne de materiel, des victuailles pour plusieurs jours, tout 157
ce qu'il fallait pour piller tranquillement les coffres de la B. N. P. de Nice. Et puis, tout ä coup, ce fut le sauve-qui-peut. Un hold-up presque parfait. Philippe Madelin: Reportage Les six gangsters qui ont essayo d'attaquer samedi une agence B.N.P. de Nice ont neutralise les systemes d'alarme classiques. Toutefois, ils ignoraient que sont maintenant installoes de nouvelles alarmes, silencieuses, en gonoral d6clenche"es par la mise hors service de 1'alarme principale. Stellungnahme eines Polizeiverantwortlichen A 9 h 40 une alarme s'est doclenchoe ä Lyon au siege d'une socie"t6 de tdld-gardiennage. Cette socidte" lyonnaise a alerte" son correspondant local qui est venu voir sur place. Et le vigile, qui s'est rendu ä la banque, s'est trouve" nez ä nez avec un personnage qui a donno l'alerte, qui a dit textuellement: «Cassons-nous, il y a du monde.» Fortführung der Reportage Les gangsters otaient entros par cette porte, sans doute ferme~e ä clo. Un camion leur a permis de conduire ä pied-d'oeuvre un matoriel tres important. A l'image de Spaggiari et de ses complices du grand casse des 6goüts de Nice, ils entendaient s'attaquer ä la salle des coffres. Parmi les outils, des virins hydrauliques, des chalumeaux pour de"foncer le mur de la salle des coffres, une carotteuse pour casser les murs, et surtout une lance thermique, un super-chalumeau tres coüteux. Les policiers ont saisi des victuailles et meme une bouteille de champagne provue pour la victoire. Les membres du commando ont pu s'enfuir, mais les policiers ont arreto ä proximito une femme qui faisait partie du groupe. II s'agit de Susanne van Verbergen, soeur de Francis le Beige et compagne d'Antoine Cossu, dit Toni le Marseillais. Ces accointances orientent l'enquete de la police vers le grand banditisme marseillais.
Wählt A2 von vorneherein den Weg einer Verfremdung über die Darstellungsform, verbleibt TF1 innerhalb des nachrichtlichen Textschemas und ergreift sozusagen die Flucht nach vorne, indem die Berichterstattung des ersten Tages ganz stark das Einbruchsmaterial und das Alarmsystem der Bank fokussiert und die des zweiten v. a. in ihrem Abschlußteil durch die alttestamentarisch anmutende Einführung der Susanne van Verbergen zusätzliches Verbrechenskolorit erzeugt. Innerhalb dieser grundsätzlichen strategischen Entscheidung - für A2 die Verfremdung und für TF1 die fast schon Übererfüllung des Schemas entsteht ein Widerspruch. Während der Bildbericht von A2 daraus seine Rechtfertigung zieht, daß er nachweisen kann, wie leicht die Herstellung einer «lance thermique» ist, muß TF1 die Einzigartigkeit des Einbruchsmaterials unterstreichen: «II est tres difficile de se procurer cette lance thermique» (15. April), un «super-chalumeau tres coüteux» (16. April). In diesem Sinne erhitzt sich die «lance thermique» bei TF1 auch auf 3500Grad, während sie bei A2 mit 2500 auskommt. Ob nun A2 oder TF1 faktisch recht hat, ist hier unwesentlich. Wichtig ist, daß die auf einer kommunikationsstrategischen Wahl beruhende diskursive Fokussierung von Geschehenselementen eine textinterne Logik in Gang setzt, die im Sinne von Dissonanzvermeidung ggf. auch Fakten beugen muß. Was nach Eco für die interpretative Mitarbeit des Lesers an einem erzählenden Text gilt, kann - entsprechend abgewandelt - auf die journalistische Konstruktion von Nachrichtentexten aus Agenturmaterial transponiert werden: Aufgrund des Topic (den er zunächst bestimmen muß, R.B.) entscheidet der Leser (der Journalist, R. B.}, ob er die semantischen Eigenschaften der im Text (im Agen158
turtext, R.B.} vorkommenden Lexeme hervorhebt oder narkotisiert, er bestimmt eine Ebene der interpretativen Kohärenz (der intendierten Kohärenz, R.B.), die als Isotopie bezeichnet wird (Eco 1990b, S. 114)22.
Daß die Herstellung von Isotopien in französischen Nachrichtentexten bisweilen eine Eigendynamik entwickelt, die mehr mit möglichen Welten, mit der Vervollständigung von Szenographien, als mit der faktischen Aura eines Referenzereignisses zu tun hat, läßt sich auch an der bereits analysierten Berichterstattung von TF1 (19. Juli 1988) zum Mord an der «petite Celine» zeigen. Das barbarische Außenseitertum der beiden Täter wird dort einerseits anhand der Grausamkeit ihrer Tat dokumentiert, der man noch nicht einmal die zweifelhafte Noblesse eines «sacrifice rituel» zugestehen will, und andererseits auch an deren Lebensführung festgemacht, zu der neben dem Tragen von Tätowierungen und dem Hausen mitten unter Tieren auch der Konsum von Haschisch gehört: «les deux marginaux qui fumaient beaucoup de haschisch». Die Quantifizierung «beaucoup de» ist dabei (wahrscheinlich) rein spekulativ, unterstützt aber besser als ein gelegentlicher Joint denTopos der asozialen Barbarei23. Im gleichen Sinne ist auch die Hyperbolik des Berichts über den Drogenfang der spanischen Polizei zu erklären. Zur Szenographie des unterirdischen und klimatisierten Tunnelsystems eines «Drogenindustriellen» paßt eben eher eine «Privatflotte» als eine Yacht mit darauf befestigtem Schlauchboot. 2.3.6.
Synthese
- Die Konstruktion der Texte verläuft nicht innerhalb einer Faktenhierarchie von allgemeineren zu spezifischeren Aussagen, sondern bemüht sich um Herstellung narrativer Geschlossenheit. Es wird eine Geschichte erzählt und nicht Bericht erstattet. - Besonders hinzuweisen ist auf die Textabschlüsse, die oft im Sinne einer Moral narrativ motiviert sind. Hierin besteht ein kompositorischer Unterschied zu den Texten von Heute oder der Tagesschau, zu denen Schmilz (1989, S. 144) feststellt: «Insbesondere gibt es keinen Schlußteil; die Meldung könnte ebensogut noch weitergehen oder auch schon vorher aufgehört haben.»
22
23
Es wäre sicherlich reizvoll, Ecos Lector infabula, dem dieses Zitat entnommen ist, für französische Fernsehnachrichten im Rahmen einer produktionsanalytischen Studie als Scriptor infabula umzuschreiben. Auf eine den Autoren des Bildberichts sicherlich nicht bewußte Weise findet hier ein Stereotyp zu seinem Ursprung zurück: «Aux Xlle et XHIe siecles de notre ere, une secte ismaflienne organised en socie'te' secrete par Hassan ibn Sabbah (le Vieux de la montagne) acquit une triste ce"16brit6 en pratiquant le meurtre politique. Ses membres ayant l'habitude de fumer du cannabis, on les appela les 'Assassins' (de l'arabe haschaschine: fumeur de haschisch) qui est resto, sous son acception criminelle, dans la langue fra^aise» (Science & Vie 879,1990, S. 31).
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Ein beliebtes Narrativierungsverfahren ist die dramatisierende Dynamisierung durch Oppositionen: 'sichtbar vs. verborgen', 'Ruhe (Normalität) vs. Störung (Bruch)', durch welche Ereignisse von einem Punkt zu einem narrativen Raum expandiert werden. Bildmaterial wird postproduktiv manipuliert und bisweilen kontrafaktisch montiert. Der Bilddiskurs schiebt sich so zwischen Wort und Welt; als Ereignissurrogat wird er zur primären Bezugsebene des Verbaltextes und gewinnt Autonomie über die Realität, die er abzubilden vorgibt: Dans la relation dialectique du roel et de l'image (que nous voulons croire dialectique, c'est-ä-dire lisible dans le sens du r£el ä l'image, et rociproquement), il y a longtemps que pour nous l'image l'a emport6, et imposd sä propre logique ( . . . ) au-delä du vrai et du faux (...) (Baudrillard 1987, S. 141).
Es findet jenes zeichengetragene Abheben vom Wirklichen statt, auf welches Baudrillards Begriff der «simulation» zutrifft: Le ne s'efface pas au profit de l'imaginaire, il s'efface au profit du plus r6el que le röel: l'hyperroel: plus vrai que vrai: teile est la simulation (Baudrillard 1983, S. 11).
Allerdings ist Baudrillards Abschottung des «hyperre'el» vom «imaginaire» nicht zuzustimmen, denn die Verdichtung vom «roel» zum «hyperre'el» kann nur über die Instanz eines wie auch immer gearteten «imaginaire» geleistet werden. Von diesem «imaginaire» gesteuert, wird Realität -was immer das auch sein mag - von einem empirisch konstituierten Wahrscheinlichen überformt, Individualität tendiert zum Stereotyp. In diesem Zusammenhang ist auch Ecos Begriff der intertextuellen Szenographie bedeutsam. Sowohl für die Darstellung von Geschehnissen als auch für die der daran beteiligten Charaktere ergibt sich ein Zwang zur Stimmigkeit, der aristotelisch bewältigt wird: Man muß auch bei den Charakteren - wie bei der Zusammenfügung der Geschehnisse stets auf die Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit bedacht sein, d.h. darauf, daß es notwendig oder wahrscheinlich ist, daß eine derartige Person derartiges sagt oder tut, und daß das eine mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit auf das andere folgt (Aristoteles 1982, S. 49).
Indem Verbrechensberichterstattung nicht einer allgemeingültig vordefinierten Textschablone folgt, ist sie rhetorisch. Sie reagiert auf das Einzelereignis, das sie nicht in seiner globalen Faktizität fokussiert, sondern unter ausgesuchten Aspekten oder einer Bündelung von Aspekten zum Bedeuten bringt: kriminelle Genialität, Grausamkeit, Ubiquität des Bösen, francitä etc. Für Verbrechensberichterstattung typisch sind in einem qualitativen Sinne amplifizierende Elemente, die Geschehnisse relevanzerzeugend in einen breiteren Kontext zu stellen suchen. Konstitutiv für die Rhetorik der Verbrechensberichterstattung ist ein ständiger Rückgriff auf kulturspezifische Wissensbestände, auf loci des kollektiven 160
Gedächtnisses, die diskursgestaltend abgerufen werden24. In einem allgemeineren Rahmen unterstreicht dieser Befund die von U. Eco erhobene Forderung, daß «heute die Untersuchung der Rhetorik zu einem grundlegenden Kapitel jeder kulturellen (Hervorhebung: R.B.) Anthropologie werden (müsse)»(Eco 1972, S. 181). - Das ausgeprägte Bestreben um Herstellung wohlgeformter Textgestalten und die damit verbundenen rhetorischen Züge sind sicherlich auch in Verbindung mit den Idealen des bien parier und der eloquence25 zu sehen. In diesem Zusammenhang ist auf die lange schulische Tradition der Rhetorik in Frankreich (in Verbindung mit Philosophie und teilweise mit ihr konfundiert) hinzuweisen (vgl. Zeldin 1980, Kapitel 'Logique et verbalisme'). 2.4.
Unfälle, Katastrophen
2.4.1.
Vorbemerkungen
Bei den Beiträgen zu 'Verbrechen/Justiz' handelte es sich um Geschehnisse mit absichtsvoll agierenden menschlichen Verursachern. Bei Unfällen und Katastrophen hingegen mögen Menschen zwar ursächlich, in der Regel jedoch nicht absichtsvoll beteiligt sein. Außerdem können natürliche Ursachen vorliegen. Es handelt sich nicht um eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung durch asoziale Individuen oder Gruppen, sondern um eine Gefährdung des Menschen durch seine natürliche oder zivilisatorische Umwelt. Beiden Bereichen gemeinsam ist das Moment der Unberechenbarkeit. Potentiell ist jedermann gefährdet. Während man etwa politische Ereignisse analytisch nachvollziehen, sie verstehen, in Grenzen sogar prognostizieren kann, bleibt bei Verbrechen, Unfällen und Katastrophen eigentlich nur die resignative Kenntnisnahme. Dieser Gegensatz von 'rational vs. irrational', Ordnung vs. Chaos' wird, zumindest teilweise, vom medienwissenschaftlichen Begriffspaar Order vs. disorder news' abgedeckt (vgl. Gans 1979). Daß es auch hier nicht um das je einzelne Ereignis gehen kann, belegt die extreme thematische Divergenz zwischen den Sendern: von zwölf Themen bei A2 und dreizehn beiTFl stimmen nur fünf oberflächlich überein. Selbst von den 24
25
Ich vermeide hier den von Link (1985) im Rahmen einer Untersuchung narrativer Schemata der Boulevardpresse verwendeten Begriff 'Kollektivsymbor, weil mir dieser in Links Verwendungsweise nicht klar genug auf kulturelle Spezifizität hin angelegt erscheint. Link analysiert zwar deutschlandbezogene Meldungen (der Bild-Zeitung), reduziert jedoch oft (bewußt?) Kulturspezifika auf anthropologische Abstrakta oder bringt beide zumindest eng miteinander in Verbindung. Daß die beiden Aspekte ineinandergreifen, ist unbestreitbar. In der vorliegenden Arbeit geht es jedoch um kulturelle Spezifizität, nicht um deren anthropologische Rückbindung. Zur äloquence vgl. J. Starobinskis Artikel 'La chaire, la tribune, le barreau' (1986), der bezeichnenderweise in dem bereits zitierten Les Lieux de mamoire von P. Nora zu finden ist. Eloquenz (und damit Rhetorik) wird also selbst als ein im Redevollzug abrufbarer Ort betrachtet. 161
lediglich drei einschlägigen Themen der Tagesschau sind nur zwei bei Heute anzutreffen, wo 'Unfälle/Katastrophen' mit insgesamt zehn Beiträgen vertreten ist. Zwischen Heute, A2 und TF1 korrespondieren nur zwei Meldungen thematisch; zwischen den französischen Sendern und der Tagesschau gibt es überhaupt keine thematischen Entsprechungen. Der hohe Grad an thematischer Divergenz läßt sich darauf zurückführen, daß während des Untersuchungszeitraumes keine hervorragenden einschlägigen Ereignisse zu verzeichnen waren, die aufgrund ihrer Spektakularität Berücksichtigung in den untersuchten Nachrichten erzwungen hätten. Es handelt sich also bei 'Unfälle/Katastrophen' um einen mehr oder weniger obligaten Inhaltsbereich, der einfach zu einem gewissen Anteil am Nachrichtenszenario beteiligt sein muß. Dennoch ist dieser Inhaltsbereich in deutschen und französischen Fernsehnachrichten unterschiedlich strukturiert. Der größte Teil der einschlägigen Beiträge in Heute und der Tagesschau bezieht sich auf punktuelle Ereignisse, was der deutsche Nachrichten prägenden ereignis- und ergebnisorientierten Berichterstattung entspricht. Ihrem partiellen Magazincharakter entsprechend sind in französischen Nachrichten zusätzlich zu derartigen ereignisorientierten Beiträgen auch features zu finden, die sich eher auf diskursive Räume, auf Phänomene, als auf konkrete Einzelereignisse beziehen. Diese beiden Beitragstypen, ereignisorientierte und phänomenorientierte, seien im folgenden näher untersucht. 2.4.2.
Ereignisorientierte Beiträge
Zunächst einige Textbeispiele aus Heute: Durch den Brand der Lokomotive des Schnellzuges Rom-Bozen in einem Eisenbahntunnel nördlich von Rom ist ein Fahrgast ums Leben gekommen. Der Zug war wegen eines Kurzschlusses in dem zehn Kilometer langen Tunnel steckengeblieben. Die Lokomotive hatte Feuer gefangen. Mehr als hundert Reisende mußten sich bei starkem Rauch über mehrere Kilometer bis zum Ausgang des Tunnels durchkämpfen. Zahlreiche Menschen wurden mit Rauchvergiftungen in Krankenhäuser gebracht (Heute, 25. Juli 1988). Ein plötzliches Unwetter am Corner See hat vier italienischen Drachenfliegern den Tod gebracht. Sie waren nach dem Start von Windböen und starken Regenschauern überrascht worden und abgestürzt. Drei weitere Sportflieger wurden verletzt (Heute, 25. Juli 1988). Zu einem spektakulären Flugzeugabsturz mit glimpflichem Ausgang kam es in der niederösterreichischen Stadt Brunn. Aus ungeklärter Ursache stürzte eine Cessna L19 des österreichischen Bundesheeres bei einem Orientierungsflug auf den Parkplatz einer Glasfabrik. Pilot und Copilot blieben unverletzt, auf dem Parkplatz erlitt ein Mann leichte Verletzungen (Heute, 27. Juli 1988).
Weitere Beispiele wären: Zugunglück in der Schweiz: 16 Leichtverletzte (26. Juli 1988). Ein Tornado der Bundesluftwaffe stößt bei der Landung in 100 Metern Höhe mit einem Leichtflugzeug zusammen: ein Leichtverletzter (26. Juli 1988) etc. In Ermangelung von Dramatischerem handelt es sich um einigermaßen beliebige Ereignisse, deren Kenntnis für den Zuschauer kein soziales oder 162
generell weltbezogenes Orientierungswissen liefert. In ihrer Beliebigkeit sind derartige Meldungen nichts als reine Bestätigung der Platitüde, daß es in der Welt neben kognitiv Kontrollierbarem eben auch Ereignisse gibt, die einfach hinzunehmen sind. Es handelt sich um ein von Nachrichten erwartetes Paradigma, dessen je spezifische Füllung aus für sich genommen unerwarteten Einzelfällen besteht. Für derartige faits divers nimmt R. Barthes (1964) grundsätzlich eine zweigliedrige Struktur an, wobei die zwei Terme dieser Struktur durch zwei Klassen von Beziehungen miteinander verbunden sein können: kausale und koinzidentelle. Für fast alle o. g. Beispiele trifft ein bestimmter Typus von Koinzidenzrelation zu: celle qui rapproche deux termes (deux contenus) qualitativement distants: unefemme met en doroute quatre gangsters, un juge disparalt ä Pigalle, des pecheurs islandais pechent une vache, etc.; il y a une sorte de distance logique entre la faiblesse de la femme et le nombre des gangsters, la magistrature et Pigalle, la peche et la vache, et le fait divers se met tout ä coup ä supprimer cette distance.» (Barthes 1964, S. 194f.).
Ein Militärflugzeug auf einem Privatparkplatz, der ausgerechnet in einem Tunnel in Brand geratene Zug, der Zusammenstoß eines Militärjets mit einem Leichtflugzeug: (...) on pourrait dire que chaque terme appartenant ä un parcours autonome de signification, la relation de coincidence a pour fonction de fondre deux parcours diffirents en un parcours unique (...) (ebd., S. 195).
Auch in französischen Fernsehnachrichten ist das Koinzidenzprinzip26 zur Generierung von Nachrichten wert wirksam. Hierzu Textbeispiele: Accident sans tdmoins vendredi soir ä l'entre"e d'Epinal. Le conducteur d'une Fiat Panda dans laquelle avaient pris place sept personnes d'une meme famille, dont quatre enfants, a manque* un virage releve". La voiture a fini sä course dans la Moselle, profonde ä cet endroit de neuf metres. II y a sept morts. Les corps n'ont £td retrouvis qu'aujourd'hui. L'autopsie devra dire si le conducteur de 34 ans avait bu, ce qui semble etre le cas. Les passagers du vehicule avaient visitd plusieurs cafis de la rdgion (A2, 31. Mi 1988).
Die Koinzidenzrelation - und damit die emotionale Wirkkraft dieses fait divers konstituiert sich einerseits aus dem verantwortungslosen Handeln des Fahrers und andererseits aus der Tatsache, daß dadurch eine ganze Familie ausgelöscht wurde, «dont quatre enfants». Ein bürgerliches Bild von Familienidylle und kindlicher Unschuld stehen unkontrolliertem Alkoholkonsum gegenüber. Auch TF1 berichtet über den Unfall: Le drame n'a pas eu de tomoins. Jeudi soir27, ä l'entrie d'Epinal une voiture est tomb6e dans la Moselle, et c'est seulement aujourd'hui, dimanche, que les corps des 26 27
Was Barthes als Koinzidenzrelation faßt, deckt sich mit dem, was Link (1985, S. 214) als «narratives Oxymoron» bezeichnet. Bei A2 fand der Unfall am Freitag statt. Derartige Widespriiche belegen letztlich nur, daß es nicht um individuelle Ereignisse geht, sondern um Exemplare von Schemata.
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sept occupants de cette voiture ont 6t6 retrouves. Sept morts, dont quatre enfants. Selon certains tomoins, les adultes auraient passablement arrosd la soir£e (TF1,31. Juli 1988).
Wie bei A2 steht hier kindliche Unschuld der Verantwortungslosigkeit Erwachsener gegenüber. Indem, anders als bei A2, von «les adultes» die Rede ist, wird diese Gegenüberstellung sogar lexikalisch explizit realisiert. Interessant in beiden Meldungen ist die Mutmaßung von Alkoholkonsum als Unfallursache. Obwohl über relativierende Formeln wie «ce qui semble etre le cas», «selon certains tomoins» und den conditionnel de presse (TF1) als nicht abgesichert ausgewiesen, bei A2 sogar dem Ergebnis einer Autopsie anheimgestellt, wird der Alkoholkonsum zugleich unterschwellig durch Adverbien des Grades als Gewißheit dargestellt, was die rhetorischen Vorsichtsmaßnahmen als journalistischen Floskelgebrauch entlarvt. Bei A2 erfolgt eine implizite Quantifizierung des Alkoholkonsums über das Adverb «plusieurs» in «plusieurs caf6s», bei TF1 über die Verwendung von «passablement» als Litotes. Derartige Mutmaßungen fallen in Heute und der Tagesschau rhetorisch weniger komplex aus. Man hätte sich dort wahrscheinlich ohnehin mit einem schlichten «Als Unfallursache wird Alkohol vermutet» zufriedengegeben. In den zitierten französischen Beispielen hingegen wird eine Koinzidenzrelation nicht nur hergestellt, sondern rhetorisch noch verstärkt. Eine mit dem vorhergehenden Beispiel vergleichbare Koinzidenzrelation liegt auch folgender Meldung zugrunde: Alcool, vitesse, ceinture, la doclinaison dans l'ordre que vous connaissez ovidemment et que tous les responsables rdpetent inlassablement. Ce matin cinq personnes, dont deux enfants, ont tuoes dans leur voiture pres de Blois. En face, il y avait au volant un chauffeur ivre (A2,30. Juli 1988).
Verglichen mit den beiden Meldungen zum Unfall in Epinal ist der ereignisbezogene Kern relativ knapp gehalten. Der erste Satz macht deutlich, daß es nicht um einen bestimmten Unfall geht, sondern darum, daß derartigen Unfällen eine scheinbar nicht zu besiegende Fatalität inhärent ist. Wir erkennen hier jene Art von Amplifikation wieder, die sich bereits für Verbrechensberichterstattung als konstitutiv erwiesen hat. Das Koinzidenzprinzip artikuliert sich ähnlich wie in den vorausgehenden Beispielen und erfährt eine Verstärkung durch die asyndetische Kausalkonstruktion, wobei das Adverb «en face» nicht nur als lokaler Kontrastmarker fungiert. Neben Koinzidenzrelationen, die auf der Verschmelzung von zwei «termes qualitativement distants» in einem «parcours» beruhen, ist in französischen Fernsehnachrichten auch Koinzidenz qua Wiederholung (Barthes 1964, S. 195) festzustellen: Dimanche endeuilli en Espagne sur l'autoroute qui relie Barcelone ä Taragone par un accident d'autocar qui transportait des enfants. II y a eu au moins huit victimes parmi les passagers. II y a trois ans, jour pour jour, 46enfants trouvaient la mort sur l'autoroute A6 pres de Beaune (TF1,31. Juli 1988).
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Obwohl im Untersuchungskorpus keine entsprechenden Beispiele vorhanden sind, sind auf Wiederholung aufbauende Koinzidenzrelationen auch in Heute und der Tagesschau verstellbar. Entschieden weniger vorstellbar hingegen wäre, daß Heute oder die Tagesschau auf eine - wenn auch noch so knappe Schilderung des Unfallhergangs verzichtet hätten, ohne den Versuch zu unternehmen, eine ereignisinterne Kausalität aufzudecken. Was in der Meldung von TF1 im Vordergrund steht, ist nicht der Unfall, sondern die Tatsache, daß sich ein vergleichbarer Unfall auf den Tag genau vor drei Jahren in Frankreich ereignete. Wir begegnen hier einem Phänomen wieder, das schon mehrmals thematisiert wurde, dem der Rückbindung eines ausländischen Ereignisses an den Erfahrungs- und Wissenschatz der französischen Kulturgemeinschaft. Die hier vorfindliche Koinzidenzrelation suggeriert durch die asyndetische Verbindung zweier ursächlich nicht zusammenhängender Ereignisse eine diffuse Kausalität. Das Koinzidenzprinzip wird von einem Kausalitätsprinzip überlagert: La r6pdtition engage toujours, en effet, ä imaginer une cause inconnue (...) le hasard est censo varier les ovonements; s'il les ropete, c'est qu'il veut signifier quelque chose a travers eux: r£pe"ter, c'est signifier, cette croyance est ä l'origine de toutes les anciennes mantiques; aujourd'hui, bien entendu, la n'appelle pas ouvertement une interpolation surnaturelle; cependant, m§me ravale" au rang de 'curiosite', il n'est pas possible que la ropotition soit notde sans qu'on ait l'idde qu'elle d^tient un certain sens, meme si ce sens reste suspendu (...)· H Oe curieux, R. B.} institutionnalise fatalement une interrogation.» (Barthes 1964, S. 194).
Dominant ist der Kausalitätsbezug auch im folgenden fait divers: AD., pres de Lens dans le Pas-de-Calais, un homme de 82 ans, handicap^, a tue" par une nu6e d'abeilles. Les enfants de la victime ont porti plainte contreX. Les insectes attaquaient en effet tout ce qui bougeait dans un rayon de cinquante metres, ce qui n'est habituellement pas le cas. L'enquete devra dire si les abeilles venaient de ruches avoisinantes dont l'installation aurait pu etre ddfectueuse et rendre fou un essaim (A2, 31. Juli 1988).
Im Unterschied zum vorhergehenden Beispiel wird Kausalität hier explizit thematisiert, indem eine zu untersuchende Hypothese zum Verhalten der Bienen geäußert wird. Diese rationalistische Haltung steht allerdings in Gegensatz zur starken Betonung der dramatis personae. Bei dem Opfer handelt es sich zum einen um einen Greis, der zum ändern auch noch behindert ist. Diese viktimogene Doppelqualifikation wird durch die Syntax zusätzlich unterstrichen. In einer rein konstativen Äußerungshaltung wäre eine Formulierung wie 'un (homme) handicape" de 82 ans' angebracht gewesen. Hier jedoch wird das Adjektiv nachgestellt und dadurch hervorgehoben. Auch die Bienen als Handlungsträger werden dramaturgisch eingepaßt. Nicht ein Bienenschwarm, sondern eine «nu6e d'abeilles» hat den alten, behinderten und somit wehrlosen Mann wie eine Wolke eingehüllt und getötet. Besonders aufschlußreich für eine kulturdifferentielle Betrachtung ereignisorientierter Beiträge ist eine Analyse der Textanfänge. Zu diesem Zweck zunächst noch einmal die Anfänge einiger //eute-Meldungen: 165
Durch den Brand der Lokomotive des Schnellzuges Rom-Bozen in einem Eisenbahntunnel nördlich von Rom ist ein Fahrgast ums Leben gekommen (Heute, 25. Juli 1988). Ein plötzliches Unwetter am Corner See hat vier italienischen Drachenfliegern den Tod gebracht (Heute, 25. Juli 1988). Über dem Flughafen der niederbayerischen Gemeinde E. ist ein Leichtflugzeug mit einem Tornado der Bundesluftwaffe in 100 Metern Höhe frontal zusammengestoßen (Heute, 26. Juli 1988). Zu einem spektakulären Flugzeugabsturz mit glimpflichem Ausgang kam es in der niederösterreichischen Stadt Brunn (Heute, 27. Juli 1988). Bei einem Zugunglück in der schweizerischen Stadt A. sind 16 Fahrgäste leicht verletzt worden (Heute, 26. Juli 1988).
Zum Vergleich auch noch einmal der Beginn einiger oben wiedergegebener französischer Meldungen: Dimanche endeuilli en Espagne sur l'autoroute qui relie Barcelone ä Taragone par un accident d'autocar qui transportait des enfants (TF1,31. Juli 1988). Accident sans temoins vendredi soir ä l'entroe d'Epinal (A2,31. Juli 1988). Alcool, vitesse, ceinture, la doclinaison dans l'ordre que vous connaissez e~videmment et que tous les responsables ropetent inlassablement (A2,30. Juli 1988). Le drame n'a pas eu de temoins. Jeudi soir, ä l'entroe d'Epinal une voiture est tombe"e dans la Moselle (TF1,31. Juli 1988).
Während in den //ewie-Meldungen der Unfalltyp gleich im ersten Satz durch eine Nominalphrase oder innerhalb einer vorgezogenen adverbialen Bestimmung ausgewiesen wird, wobei schon möglichst viele der journalistischen W's (wer, was, wo, wann, wie und warum) abgedeckt werden, erzeugen die französischen Meldungen zunächst einmal aufmerksamkeitsfördernde Offenheit. Hierin besteht eine Parallele zur Verbrechensberichterstattung: «Ils espiraient faire aussi bien, sinon mieux que Spaggiari...» (TF1, 16. April 1984, 13 Uhr, Sprechereinleitung); «Abjecte, cette affaire de la Motte-du-Cayre...» (A2, 27. Juli 1988, Sprechereinleitung); «Jacques Antoine Canavaggio. Cet homme...» (A2, 26. Juli 1988, Beginn des Bildberichts); «Le seul bar de la Motte-du-Cayre est fermo...» (TF1, 28. Juli 1988, Beginn des Bildberichts). Im Vergleich hierzu Heute: «Der spanischen Polizei sind mehrere Schläge gegen den internationalen Rauschgifthandel gelungen...» (Heute, 26. Juli 1988); «Am Flughafen Hannover haben Zollfahnder zwei Nigerianer festgenommen, die 530 Gramm Heroin im Gepäck hatten...» (Heute, 27. Juli 1988); «In New York haben Drogenfahnder Kokain im Schwarzmarktwert von 100Millionen Dollar sichergestellt...» (Heute, 27. Juli 1988). Die Unterschiedlichkeit der Textanfänge läßt sich innerhalb einer Dichotomie 'Ereignis- vs. Rezipientenbezug' konzeptualisieren. Der erste Satz in den Heute-Meldungen stellt einen unmittelbaren Ereignisbezug her. Der Sprechhandlungstyp ist konstativ und der Kommunikationsmodus ein kognitiver. Geht man von der klassischen Zweiteilung von Sprechakten in Illokution und propositionalen Gehalt aus, läßt sich die illokutive Kraft nicht an 166
den jeweiligen Einzelmeldungen nachvollziehen, sondern nur über das einzelbeitragsübergreifende Genre Nachrichtensendung bestimmen. Die Einzelbeiträge zeichnen sich ja gerade dadurch aus, daß sie nach einem recht stereotypen Muster abgefaßt sind. Sie sind insofern nicht rhetorisch, als sie ihre Botschaft in keine Beziehung zum Zuschauer bringen. Sie wollen weder logisch noch psychologisch überzeugen und kennen deshalb weder ein fidem facere noch ein animos impellere. Ihnen liegt nur daran, in ihrer sprachlichen Form verstanden zu werden. Dagegen wird in den französischen Meldungen der Rahmen der Ereignisimmanenz gesprengt. In dieser Beziehung ist die Texteröffnung dem Proömium der Rhetorik (vgl. Aristoteles 1987, S. 204ff.) vergleichbar: Folglich muß man, wo es die Situation erfordert, etwa folgendermaßen sprechen: 'Und merkt mir mit eurem Verstand wohl auf; denn es ist ebenso gut meine als eure Angelegenheit', und weiter: 'Ich werde euch etwas so furchtbares sagen, wie ihr es noch nie gehört habt' oder 'etwas so wunderbares' (Aristoteles, 1987, S. 207).
Der Autounfall von Epinal ist «un drame», das Busunglück in Spanien führt zu einem «dimanche endeuilli», der Mord an der kleinen Celine wirkt auf das gesunde Empfinden als «abjecte», der Autounfall von Blois gehört in die Sparte der fatalen Trilogie menschlicher Unbelehrbarkeit im Straßenverkehr («alcool, vitesse, ceinture»), die Bankeinbrecher von Nizza «voulaient faire aussi bien, sinon mieux, que Spaggiari», etc. Als einziges Beispiel für ein derartiges Verlassen der Ereignisimmanenz ist in Heute der Absturz der Cessna des österreichischen Bundesheeres zu nennen, der sprachlich mit dem Adjektiv «spektakulär» belegt wird. Die propositionalen Inhalte erfahren in französischen Fernsehnachrichten eine Perspektivierung durch illokutive Anteile, welche den Ereignisbezug durch die Herstellung eines Rezipientenbezugs überlagern. Genau in dieser Vermittlung zwischen Ereignis und Zuschauer besteht die Funktion des prlsentateur, wie sie in Kapitel III beschrieben wurde. Als Vertrauter des Zuschauers hat sich derprfsentateur für die Relevanz der Nachrichtenbeiträge zu verbürgen. In diesem Sinne macht er rezeptionslenkende Vorschläge: was jetzt folgt, ist dramatisch, abscheulich, lustig, ein erneuter Beleg für menschliche Unbelehrbarkeit etc. Dieses animos impellere steht im rhetorischen Dienste eines fidem facere. Wovon überzeugt werden soll, ist der Nachrichtenwert eines Beitrages. Es ist dabei unwesentlich, daß der presentateur nicht alle Nachrichtenbeiträge illokutiv markiert, denn das Fehlen einschlägiger Markierungen heißt einfach nur, daß der entsprechende Nachrichtenbeitrag von seiner Ereignisreferenz her auf so offensichtliche Weise bedeutsam ist, daß seine Relevanz dem Zuschauer unmittelbar einsichtig sein muß. So stehen z. B. die beiden folgenden Ultrakurzmeldungen ohne Rezeptionsanweisung völlig begründungslos da: Des lapins atteints d'un mal encore myst6rieux continuent ä mourir par centaines en Franche-Comt6 (A2, 29. Juli 1988). Epodämie de cholera et de gastro-ent6rite en Inde. Elle a fait 400morts pour ce seul mois de juillet (A2, 31. Juli 1988).
167
In ihrer fast zynischen Kürze wären derartige 'Spots' für Heute, v. a. aber für die Tagesschau unvorstellbar28. Angesichts der ans Schwatzhafte grenzenden rezeptionsorientierenden Rhetorik anderer Beiträge hat der Zuschauer hier Dissonanz zu reduzieren. Er muß die nachrichtliche Relevanz selbst begründen (erfinden). Zum Abschluß sei ein Beispiel vorgestellt, das zwar nicht dem Bereich 'Unfälle/Katastrophen' zuzurechnen ist, aber als generalisierungsfähig für die in diesem thematischen Zusammenhang herausgestellte rezeptionsorientierende Rhetorik französischer Fernsehnachrichten gelten kann. Es handelt sich um eine Sprechereinleitung zu einem Bildbeitrag: Voilä done quelques-unes des curiosites de I'6t6, des sujets qu'on oublie parfois de trailer quand l'actualito est charg6e. II reste aussi quelques questions fondamentales comme celle-ci: pourquoi les zebres ont-ils des rayures et les girafes des taches? Une dquipe de chercheurs de l'Universit£ de Compidgne a tout a fait sorieusement perc£ le mystdre(A2,31. Juli 1988).
Diese Passage ist in ihrer sprachlichen Oberfläche aus zwei referentiell disjunkten Teilen zusammengesetzt. Im ersten, durch ein konklusives «voilä done» eingeleiteten Teil wird auf vorausgehende Kuriosa rekurriert, die aufgrund der unergiebigen Ereignislage Eingang in die Nachrichten finden konnten. Dieser konklusive Teil dient als Vorwand zur Ankündigung einer weiteren Kuriosität, die Gegenstand des zweiten Teils ist. Das kommunikative Ziel der Sprechtätigkeit des presentateur besteht darin, die Rezeption des nachfolgenden Bildbeitrags dahingehend zu lenken, daß dieser als nicht den üblichen nachrichtlichen Relevanzkriterien entsprechend aufgefaßt wird. Dies ist deutlich aus dem ironisch hyberbolischen Ton der Ankündiugng abzuleiten («II reste aussi quelques questions fondamentales...»). Indem aber vorherige Beiträge als Kuriosa etikettiert werden, wird eine ganze Kategorie 'Kuriosa' eröffnet, was den sie konstituierenden Elementen wiederum Nachrichten würde verleiht. Prüft man allerdings die Nachrichtensendung auf die im Sprechertext rekurrierten Kuriositäten, macht man die verblüffende Feststellung, daß überhaupt keine vorhanden sind. Bei dem unmittelbar vorausgehenden Beitrag handelt es sich um eine Sprecher+Büdbeitrag-Kombination über geplante Sanierungsmaßnahmen am Pont du Gard. Der davor liegende Beitrag, ebenfalls eine Sprecher+Bildbeitrag-Kombination, behandelt das Problem der Auffindung eines Entsorgungsstandortes für die Kühlflüssigkeit von Transformatoren. Angesichts des partiellen Magazincharakters französischer Fernsehnachrichten und ihrer nicht ausschließlich akuten Ereignisorientierung fallen diese Beiträge weder aus dem Rahmen, noch sind sie Kuriosa. Hier liegt wiederum eine Spielart rhetorischer
28
Die beiden Beiträge sind unter 10 Sek. lang. In der Tagesschau liegen im Korpuszeitraum überhaupt nur 2% aller Beiträge unter 20 Sek. Dauer, wobei 14 Sek. die unterste Grenze bildet. In Heute macht der Anteil von Beiträgen mit weniger als 20 Sek. Länge 10% aus; die Untergrenze liegt bei 12 Sek. Für die frz. Werte s. Anmerkung 2 auf S. 47.
168
Amplifikation vor: für das Kuriose wird ein fiktiver Raum aufgebaut, in dem dann auch die Streifen des Zebras und die Flecken der Giraffe Platz haben. Daß dieser Raum nur ein virtueller ist, scheint dabei genausowenig zu stören wie der Widerspruch zwischen der Sprechereinleitung: «Une oquipe de chercheurs de l'Universitä de Compiegne a tout a fait särieusement perce" le mystere» und dem Ende des Bildberichts: «Des formes dont la beaute" naturelle ne peut pas de toute facon 6tre expliquoe par la science.» Wie anläßlich der Gestaltung des Bilddiskurses in der Verbrechensberichterstattung schon festgestellt, geht auch hier ganz einfach Text vor Fakt.
2.4.3.
Phänomenorientierte Beiträge
Auf französischer Seite waren die Nachrichten des Untersuchungszeitraums stark von dem Umstand geprägt, daß das letzte Juliwochenende aufgrund der heimkehrenden Juli- und der gleichzeitig aufbrechenden Augusturlauber eine große Anzahl von Verkehrsunfällen mit sich zu bringen drohte. Entsprechend bot sich der Bereich Verkehr als zuschauerattraktives Themenreservoir an: - Probleme der Entschädigung von Unfallopfern (A2, 29. Juli 1988: Sprecher-!-Bildbeitrag-Kombination von 145 Sek.), - Der schlechte verkehrstechnische Zustand französischer Autos (TF1,29. Juli 1988: Sprecher-l-Bildbeitrag-Kombination von 137 Sek.), - Interessante Initiative der Sacurite routiere: eine französisch-italienische Schauspielertruppe mimt Unfallszenen auf Rastplätzen (A2, 28. Juli 1988: Sprecher+Bildbeitrag-Kombination von 125 Sek.), - Bericht über ein «höpital mobile» der Feuerwehr von Chalon-sur-Saöne (TF1, 28. Juli 1988: Sprecher+Bildbeitrag-Kombination von 124 Sek. und A2, 30. Juli 1988: Sprecher+Bildbeitrag-Kombination von 128 Sek.). Es handelt sich hier um Beiträge, die ein kurzfristig besonders akutes Phänomen im Medium zu einem vielschichtigen diskursiven Raum verdichten. Insofern stellen sie einen erneuten Beleg für die dossierorientierte und investigative Ausrichtung französischer Fernsehnachrichten dar. Derartige Beiträge sind in der Regel in Heute und der Tagesschau nicht anzutreffen. Was die spezifische Verkehrsthematik betrifft, ist darauf hinzuweisen, daß weder in Heute noch in der Tagesschau irgendwelche Verkehrsunfälle vermeldet wurden, obwohl der Korpuszeitraum in der Hauptferienzeit lag und sich sicherlich auch Unfälle mit Todesfolge ereignet hatten. Einen ausgeprägten Schwerpunkt bildete allerdings die Berichterstattung zu einem von der italienischen Regierung überraschend verhängten Tempolimit. Diese war jedoch stets recht eng am Thema orientiert und gab nicht Anlaß zu assoziativen Ausflügen, wie sie in den oben aufgezählten französischen Nachrichtenbeiträgen unternommen wurden. Die semantische Verankerung entsprechender Beiträge in französischen Fernsehnachrichten erfolgt oft ähnlich brachial wie im oben besprochenen Beispiel zu den Streifen des Zebras und den Flecken der Giraffe: 169
Sprechereinleitung Pour clore ce chapitre sur la socurite et les accidents de la route, un coup d'ceil, si vous le voulez, sur un sondage r^aliso par la SOFRES aupres des automobilistes sur l'6tat des routes en France. La plupart d'entre eux sont satisfaits du bitume qui recouvre 95% du reseau routier et qui pre"sente de meilleures garanties que le pave ou le beton. Reportage Bitume, melange naturel de calcaire, de silice et de gouttes de potrole. A ne pas confondre avec le goudron qui colle aux chaussures. Le bitume, c'est plus solide, c'est plus absorbant, c'est plus confortable. Et, c'est plus gai. (Fünf Interviews mit Passanten) r Mais quand les habitants de la capitale voient le beton envahir Paris, ils ont comme un petit pincement au coeur devant la solitude du paveur en rond (A2,31. Juli 1988).
Der Aktualitätswert dieser 105 Sekunden langen Sprecher+Bildbeitrag-Kombination ist als ziemlich gering zu veranschlagen. Dies wird zu kompensieren versucht, indem der Beitrag als dem «chapitre sur la securite et les accidents de la route» zugehörig ausgewiesen wird. Auch die Etikettierung des Bildbeitrags als «coup d'ceil» auf eine soFRES-Umfrage unter Autofahrern, wobei - wahrscheinlich aus gutem Grund - der Zeitpunkt der Umfrage ungenannt bleibt, dient der Relevanzschaffung. Einigermaßen befremdlich ist, daß es in dem ausschließlich in Paris angesiedelten Bildbericht aber überhaupt nicht um Verkehrssicherheit, sondern nur um ästhetische Aspekte des Straßenbelags geht. Auch wird die soFRES-Umfrage noch nicht einmal erwähnt, und bei den im Bildbericht befragten Personen handelt es sich um Passanten, nicht um Autofahrer. All diese Widersprüche machen deutlich, daß es sich bei der Sprechereinleitung viel eher um einen prätexte als um einen -texte handelt. Aufgrund der Offensichtlichkeit des Kontrastes kann kaum angenommen werden, daß die Nachrichtenredaktion den Zuschauer für unfähig hält, die Brüchigkeit des Zusammenhangs zwischen Sprechereinleitung und Bildbeitrag zu erkennen. Vielmehr wird hier, im vorausgesetzten Einvernehmen mit dem Zuschauer, ein sozialer Kommunikationsritus vollzogen, der aufgrund der formalen Berufung auf eine SOFRESUmfrage und der ebenso formalen Einbindung in den Bereich der Verkehrssicherheit noch als das vertreten werden kann, was in modernen Industrienationen als Fernsehnachrichten bezeichnet wird. Die kommunikative Leistung der Sprechereinleitung besteht neben einer vagen inhaltlichen Vorbereitung darin, dem nachfolgenden Bildbeitrag Nachrichtenwürde zu verleihen. Insofern gleicht die Sprechereinleitung auch symbolischen Handlungen wie dem Ritterschlag, für die Trabant (1989, S. 126ff.) den Begriff «Magica» vorschlägt. Gesamtkompositorisch sind derartige Beiträge innerhalb des Inhaltsbereichs 'Unfälle/Katastrophen' als Elemente einer tieferliegenden semantischen Organisationsstruktur modellierbar. Während ereignisorientierte Beiträge als faits divers den Menschen vorwiegend in der Rolle eines patiens sehen, dem schicksalhaft etwas widerfährt, wird er hier zum agens und nimmt sein Geschick selbst in die Hand, indem er vielfältige Maßnahmen zur Unfallverhütung trifft, sich sogar um die Problematik der Entschädigung von Unfallopfern kümmert oder gar um die Ästhetik seiner Verkehrswege besorgt ist (vgl. die oben angegebenen 170
Themenbeispiele). Beiträge der hier zur Diskussion stehenden Art sind sozusagen konstruktive Antworten des kulturellen Menschen auf die ihn umgebende Natur, seine eigene mit eingeschlossen. 2.4.4.
Synthese
Für den Bereich 'Unfälle/Katastrophen' sind, was die Textorganisation betrifft, zunächst einmal die gleichen Anmerkungen zu machen wie für andere Inhaltsbereiche. Während in deutschen Fernsehnachrichten die Textkonstruktion nach dem Modell der invertierten Pyramide als automatisierte Abarbeitung einer Faktenhierarchie organisiert ist, entfalten französische Nachrichten eine zuschauergerichtete Rhetorik. Aus der Gleichförmigkeit des Umgangs mit Geschehnissen ergibt sich für Heute und die Tagesschau gesamtkompositorisch eine ideologische Aussage folgender Art: Gleichgültig, ob es sich um Launen der Natur oder um unabsehbare Motive und Folgen menschlicher Handlungen (vor allem in Form institutioneller Sachzwänge) handelt: Menschen sind dem Augenblick ausgeliefert und sehen sich genau dadurch einem namenlosen Universal-Geschick ohne narrative Bedeutung gegenüber (Schmilz 1989,8.235).
In diesem Sinne verstehen sich Heute und die Tagesschau als ontische Spiegel für Ontisches. Billigt man ihnen eine Didaktik zu, so steht sie im Dienst des von Schmilz angeführten «namenlosen Universal-Geschicks». Angesichts ihrer rhetorischen Grunddimension jedoch ist in französischen Fernsehnachrichten die ereignisorientierte Berichterstattung, zumindest für den Bereich 'Unfälle/Katastrophen', ontologisierend. Hier wird nicht berichtet, sondern es werden Fragen gestellt. Phänomenorientierte Beiträge fungieren in diesem Zusammenhang als Antwortelemente. Es ist dabei ganz unbedeutend, daß die Fragen nicht präzise sind, oder daß sich die Antworten nicht unmittelbar auf ebendiese Fragen beziehen. Strukturell wichtig jedoch ist, daß einem Paradigma 'Fragen' ein Paradigma 'Antworten' gegenübersteht. Damit verbunden ist eine Sicht vom Menschen nicht nur als Opfer, sondern auch als handelndem Menschen. Tendieren deutsche Nachrichten in der Dichotomie 'Determiniertheit vs. freier Wille' in Richtung der Determiniertheit des Menschen, ist aus französischen Nachrichten so etwas wie eine Kampfansage ablesbar. Es trifft hier jene Formulierung der Botschaft der Marseillaise zu, die Pierre Trouillas (1988, S. 273) vorschlägt: «Nous, peuple franfais, sommes jeune, majeur, et masculin. (...) Combattons pour changer les choses. (...) Soyons capables de renverser l'ordre ötabli et d'accomplir une liberation. Osons faire ce que les autres n'osent pas faire, etre ä l'avant-garde et gagnons une gloire quasi sacr£e.»
171
2.5.
Kultur, Wissenschaft, Gesellschaftsleben, Personalia
2.5.1.
Vorbemerkungen
Von allen Inhaltskategorien liegt hier diejenige vor, die angesichts ihrer Inhaltsstreuung am wenigsten zu Vergleichen geeignet ist. Während es sich in Heute und der Tagesschau im wesentlichen um einen kulturellen Veranstaltungskalender und um Personalia (Jubiläen und Todesmeldungen) handelt, sind in französischen Nachrichten darüber hinaus Themen anzutreffen wie: -
-
-
Warum haben Zebras Streifen und Giraffen Flecken? (A2, 31. Juli 1988; s.o.), Das Leben von Mannequins während der Haute-Couture-Woche (A2, 25. Juli 1988), Dreharbeiten zu George Wilsons Erstlingsfilm (A2,31. Juli 1988), Portrait von Samuel Füller bei den Dreharbeiten zu seinem 23. Film (TF1, 27. Juli 1988), Starjockey Yves Saint-Martin nimmt an einem Dromedarrennen teil (TF1, 30. Juli 1988), 18j ähriger besteht gleichzeitig den Concours zu Normale Sup6rieure und Poly technique (TF1,29. Juli 1988), Wie verbringt eine russische Familie ihren Sommerurlaub? (TF1, 25. Juli 1988), «Premiere me"dicale» in Bordeaux: die durch einen Unfall abgetrennten Beine eines Arbeiters wurden wieder angenäht (TF1 u. A2,28. Juli 1988), Polemik um die Entdeckung des Professor Benveniste: Hat das Wasser ein genetisches Gedächtnis? Zur Überprüfung von Benvenistes Versuchen wurde ein Zauberer hinzugezogen (TF1 u. A2,27. Juli 1988), Rückenmarkstransplantation in England: mit einigen Jahren Abstand retten sich Vater und Sohn durch Rückenmarksspende gegenseitig das Leben (TF1, 30. Juli 1988), Verpflanzung von Schweineorganen auf Menschen in England (3I.Juli 1988), Mit seiner fast 40 Jahre jüngeren Lebensgefährtin stehen Yves Montand Vaterfreuden ins Haus (TF1,28. und 29. Juli 1988; A2,29. Juli 1988).
Während des Untersuchungszeitraums findet sich der einzige annähernd vergleichbare Beitrag deutscher Fernsehnachrichten in Heute (25. Juli 1988): Problematik der Aussetzung von Haustieren während der Ferienzeit. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf ausgewählte Beispiele aus den Bereichen 'Personalia' und 'Wissenschaft' (einschl. Technik u. Medizin). Hingewiesen sei aber auch auf die häufigen Beiträge zu Film und Theater und darauf, daß Kulturschaffende und Kulturträger sehr oft als Studiogäste in Nachrichtensendungen eingeladen sind.
172
2.5.2.
Personalia
Weder für Heute noch für die Tagesschau wäre eine Meldung darüber vorstellbar, daß ein bekannter (alternder) Künstler zusammen mit seiner wesentlich jüngeren Lebensgefährtin ein Kind erwartet. Anders in französischen Nachrichten: Le Papet est papa ä l'automne. Yves Montana a confirmd au quotidien Nice Matin que Carolle, sä compagne, attend bien un heureux eVönement... (TF1,29. Juli 1988).
Um der Nachricht enzyklopädische Bedeutsamkeit zu verleihen, gab der prosentateur auf A2 auch gleich noch eine kleine Historiographie männlicher Zeugungskraft zum besten: Et puis, avant de nous quitter, une pensde pour un heureux papa, Yves Montana, 67 ans, qui a confirmö aujourd'hui que sä compagne Carolle, 28 ans, attendait un heureux £ve"nement. C'est bien vrai. Yves Montand ainsi rejoint le club des peres sexagenaries dans lequel on compte du beau linge. J'ai chercho cet apres-midi et j'ai trouvö: Charlie Chaplin qui avail eu un enfant a 73 ans, John Wayne, Picasso, Paul Emile Victor, Henri Verneuil et LeO Ferre". J'arrete lä. Pour le reste, €crivez-nous, on vous rdpondra (A2, 29. Juli 1988).
Am 16. Oktober 1989 vermeldete die 20-Uhr-Ausgabe von A2 sogar, daß Yves Montand mit einer Grippe ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Auch folgender autonomer Bildbeitrag dürfte auf den deutschen Nachrichtenzuschauer befremdlich wirken: Yves Saint-Martin opere sä reconversion. La cdlebre cravache d'or change de monture. Sa nouvelle passion: le dromadaire. C'est moins rapide, c'est un petit peu plus haut et la stabilitö est incertaine, mais apres un bon apprentissage, c'est tres amüsant. D'ailleurs, Yves Saint-Martin l'a Iui-m6me avoue": «Pour en arriver lä, j'ai beaucoup bossi» (TF1,30. Juli 1988).
Aus deutscher Sicht mag man derartiges als audiovisuelle Regenbogenpresse abqualifizieren. Wie jedoch nach der bereits zitierten Passage aus den Mythologies von Roland Barthes der Biß in ein mit Pommes frites garniertes Steak Ausdruck eines Teilens von «francit£» ist, findet hier ein Teilen von Kultur über Anteilnahme an kulturtragenden Persönlichkeiten statt. Im Vordergrund steht weniger die Gewichtigkeit von Ereignissen als vielmehr eine über die personalen Ereignisträger vollzogene Evokation eines inter-individuell verbindenden kulturellen Raumes. So ist der Informationswert, verstanden als Gebrauchswert, des Beitrages über Yves Saint-Martin zweifelhaft. Wie wenig es um Information in einem journalistischen Sinne geht, zeigt auch das Fehlen von raumzeitlichen Deixismarkern. Der Topos der kulturellen Gemeinschaft verbirgt sich hier unter der Oberfläche des Komischen. Diese Komik wird auch noch zusätzlich durch ein Sprachspiel unterstrichen: « . . . j'ai beaucoup bosso» (bosser = arbeiten, la bosse = Höcker). Explizit hätte die eigentliche Botschaft in etwa so zu lauten: Notre Yves Saint-Martin national nous a fait le grand plaisir de participer a une course de dromadaires, apportant ainsi lapreuve qu'en France, on a Vesprit large et qu'on s'amuse bien entre nous. Um sich den Unterschied zu Heute und der 173
Tagesschau zu vergegenwärtigen, hinterfrage man die nachrichtliche Verwertbarkeit des folgenden fiktiven Ereignisses: Franz Beckenbauer ist Ehrenschiedsrichter bei einem Altherren-Fußballturnier in Bochum. Interessant ist auch die Einführung von Yves Montand in der Meldung von TF1: «Le Papet est papa.» Es geht hier nicht nur um den ohnehin bekannten Yves Montand, sondern - viel voraussetzungsreicher - um den Yves Montand, der vor kurzer Zeit in den Filmen Jean de Florette und Manon des sources als «Le Papet» zu sehen war. Auch bei A2 wird die Bekanntheit Montands vorausgesetzt. Selbst Yves Saint-Martin wird erst im zweiten Satz des ihm gewidmeten Beitrags als «celebre cravache d'or» ausgewiesen. Als Gegenbeispiel dazu die Meldungsanfänge von Heute und der Tagesschau zum Tod von Brigitte Horney: «Brigitte Horney, eine der größten deutschsprachigen Schauspielerinnen, ist in Hamburg gestorben...» (Heute, 27. Juli 1988) und «Im Alter von 77 Jahren ist heute in Hamburg die Schauspielerin Brigitte Horney gestorben...» (Tagesschau, 27. Juli 1988). Hier sind keine kulturellen Präsuppositionen im Spiel, was die Welt, von der die Rede ist, als eine fremde Welt erscheinen läßt. Wird in französischen Fernsehnachrichten oft apriorisch von der Bekanntheit nationaler Persönlichkeiten ausgegangen, stellen Heute und die Tagesschau diese Bekanntheit und damit die über sie unter den Zuschauern herstellbare kulturelle Kohäsion alleine schon aufgrund ihrer sprachlichen Oberfläche apriorisch zunächst einmal in Frage. Es mag unfair erscheinen, diese Aussagen einerseits aus Todesmeldungen, die ja immer etwas Formelhaftes haben, abzuleiten und auf der anderen Seite von freudigeren Ereignissen auszugehen. In der Tat ist es aber so, daß in deutschen Fernsehnachrichten Namensnennungen (fast) immer von Funktions- oder Berufsbezeichnungen begleitet sind, während sie in französischen Fernsehnachrichten relativ häufig alleine auftreten. Daß aber selbst für Todesmeldungen in französischen Nachrichten keine invariable Schablone gegeben ist, zeigt das in Kapitel II (S. 12) angeführte Beispiel zum Tod Georges Simenons. Insgesamt gilt für Heute und die Tagesschau selbst im Bereich der Personalia jene «mechanische Kühle» (Schmilz 1989, S. 279), die auch bei anderen Beiträgen den Anschein der Objektivität erzeugen soll.
2.5.3.
Wissenschaft
2.5.3.1. Fallbeispiele Pour commencer, ce succes de chirurgiens britanniques qui est en meme temps et surtout une formidable histoire d'amour filial. Un pere et un fils, atteints tous deux de leucomie, se sont mutuellement sauvo la vie en ^changeant leur moelle osseuse (TF1, 30. Juli 1988).
Als strukturales Funktionsprinzip dieser Anmoderation eines Bildbeitrags durch den presentateur (der Beitrag eröffnet übrigens die Nachrichtensendung) ist Koinzidenz qua Wiederholung festzustellen. Anders jedoch als bei den oben besprochenen faits divers aus dem Bereich 'Unfälle/Katastrophen' wird die 174
implizit aufgeworfene Frage (Wie ist so etwas möglich? Welche Macht, die Vater und Sohn Opfer der gleichen Krankheit werden läßt, hat da ihre Hand im Spiel?) durch den unmittelbar nachfolgenden Bildbeitrag entschärft, in dem medizinische Erklärungen geliefert werden: Une re"ussite midicale, mais aussi et surtout un retour du destin. Un pere et son fils, ä quelques annies de distance, se sont mutuellement sauve" la vie. En 1980, Allan Lack apprend que son fils est atteint de leuc€mie. Stuart, ago de 10 ans, subit un traitement de chimiothorapie qui ne parvient pas ä le guerir. Seule une greife de moelle osseuse peut sauver 1'enfant. Le donneur parfait n'est autre que son pere. Effectu£ dans le premier höpital ä avoir pratique" des greffes de moelle osseuse, reparation roussit, Stuart est gue"ri. C'est alors que le pere est atteint du mal. Son fils, ä son tour, est le donneur parfait. Stellungnahme eines Arztes y a six mois, le pere a soudainement atteint de leuce"mie, une leucimie totalement diffe"rente de celle de son fils. Appartenant ä la meme famille, il y avait une chance sur un million pour qu'ils soient tous les deux atteints de leucemie. Nous modecins, nous avons eu la chance de rendre au prere la moelle osseuse qu'il avait donne"e quelques ann£es plus tot ä son fils. C'dtait une chance que nous ne pouvions pas laisser passer. Fortführung der Reportage II y a quelques annoes, pere et fils seraient morts. Aujourd'hui, le traitement combine" de chimiothorapie et de greife de moelle permet de sauver plus d'un malade sur deux. Allan Lack est en voie de gue"rison. Optimistes, les mödecins pensent qu'il pourra bientöt reprendre son travail.
In dieser Sprecher+Bildbeitrag-Kombination ist das Paradigma «Fragen» direkt mit dem Paradigma «Antworten» verbunden; der Mensch als patiens und der Mensch als agens begegnen sich in einem diskursiven Raum. Rationales Wissenschaftshandeln tritt der Willkür der Natur entgegen, wobei der Kuriositätswert des Beitrags insgesamt durchaus erhalten bleibt. Die Blindheit des Schicksals, der sich der Mensch mit seinem Verstandesschaffen entgegenstemmt, bildet auch die Hintergrundfolie, auf der sich sowohl TF1 als auch A2 (jeweils an erster Stelle der Nachrichten vom 28. Juli 1988) mit einer Sprecher+Bildbeitrag-Kombination einem Unfall in Bordeaux widmen. Nachfolgend sei die Sprechereinleitung des Beitrags von A2 zitiert: Une premiere au centre hospitalier de Bordeaux. Un agriculteur, qui avait eu les deux jambes sectionnees mardi dans un accident du travail, a avec succ^s. II pourrait remarcher d'ici ä la fin de l'annde. Pour les non-spocialistes que nous sommes, cela s'apparente ä un miracle. Mais il faut savoir que la micro-chirurgie plastique roparatrice, c'est son nom, est une technique aujourd'hui tres au point (A2, 28. Juli 1988).
Wir finden in diesem Beispiel, wie im vorausgehenden, das als stimulus und response modellierbare Frage-Antwort-Verhältnis zwischen ereignisbezogenen faits divers und phänomenorientierten Beiträgen innerhalb einer narrativen Einheit verdichtet wieder. Als übergeordnete Botschaft ließe sich auch hier formulieren, daß der Mensch in einer von Irrationalität und Imponderabilien durchsetzten Welt kraft seiner Vernunftbegabung nicht chancenlos ist. Interessant an dieser Beitragsankündigung ist aber auch, daß die Ebene, aufweicher 175
der Mensch Anlaß zu Fragen hat, nicht nur die der blindwütigen Natur ist, sondern auch die des menschlichen Schaffens selbst: «Pour les non-spocialistes que nous sommes, cela s'apparent ä un miracle.» Der Akzent liegt auf dem Kuriosen, dem Befremdlichen, dem ohne Aufklärung nicht Einsehbaren. Es geht um menschliche Kühnheit gegenüber der Natur, um Forscher- und Erfindungsgeist, um Leistungen der Technik29. Auf diesem Hintergrund bietet auch der Beitrag über die «lance thermique» (vgl. Kapitel IV, 2.3.5.) als Ausdruck einer gewissen Technophilie eine zusätzliche Lesart. Ähnlich zu bewerten ist der Detailreichtum bei der Beschreibung des von der spanischen Polizei ausgehobenen Drogenlagers. Auch Kuriosa aus dem Bereich des Sports (Erlaufen des Mont Blanc als neuer Sport, Überbietung des weiblichen Tieftauchrekords ohne Atemgerät u. ä.) sind nicht mehr nur irgendwelche Absonderlichkeiten, sondern werden interpretierbar als Spuren, die welterobernde Menschen hinterlassen. So wäre es bei aller Komik auch übereilt, die folgende Sprecher+Bildbeitrag-Kombination ausschließlich dem Neologismus infotainment zu überantworten: Sprechereinleitung Avant de voir avec Brigitte Simonetta si le temps sera toujours aussi cldment demain, une histoire un peu loufoque que nous raconte Marcel Trillat. II y est question d'une soucoupe volante en contre-plaqud qui n'a jamais void et qui n'a pas bien flottd non plus. Reportage Au ddpart, ce devait €tre une soucoupe volante, mais 93 n'a pas voulu voler. Alors, c'est devenu une soucoupe flottante, mais 93 n'a pas ties bien flottd non plus. JeanClaude Ladrat n'avait pourtant rien ndglige". Installe" dans la cour familiale de Germoniac, pres de Cognac, il avait consacrd des annoes ä la construction de son vaisseau spatio-temporel en contre-plaqud marin. II l'avait baptisd « Atlantide 1er». Et sous le regard intdressd de la basse-cour, animaux eux aussi hesitant entre le vol et la nage, il dtait fin pr6t des 1984. II ne restait plus qu'ä mettre le cap sur le triangle des Bermudes dont Jean-Claude voulait percer le terrible secret. Attention, ceci n'est pas un moteur. Le vaisseau dtait censd se ddplacer dans l'atmosphere mü uniquement par la pensde tdldpathique de son pilote. Un projet ambitieux, ä coup sur. Stellungnahme des «Erfinders» D'abord, si je n'avais pas fait la marine, je n'aurais certainement pas eu l'idde de construire cet engin. Un autre aurait peut-etre eu cette idde. Mais peut-etre que par tdldpathie j'ai dtd aide" par un extra-terrestre pour construire cet appareil. Stellungnahme der Mutter des Erfinders Non, il n'est pas Jdsus Christ, mais il pourrait changer le monde quand meme. Fortführung der Reportage C'est au moment d'embarquer que Jean-Claude Ladrat met fin prdmaturdment ä sä carriere de cosmonaute. «L'Atlantide Ier» prendra plus modestement la mer au large de Dakar, le 22ddcembre. C'est ä peine moins audacieux. Lorsqu'un thonnier espa29
Vgl. auch die Sprechereinleitung zu dem oben (IV, 2.5.1.) erwähnten Bildbericht über die Transplantation von Schweineorganen auf Menschen: «Les cochons sont des etres humains horizontaux, et les hommes de cochons debout. Ce n'est pas moi qui Paffirme, je ne me le permettrais pas, mais un dminent Chirurgien britannique...» (TF1, 31. Juli 1988). 176
gnol rocupere Jean-Claude ä bout de forces, le 23 mars, son vaisseau eVentre" derive au large des cötes de Guinoe, bien loin du triangle des Bermudes. Pourtant, le 11 avril, ä la gare de Cognac, maman Ladrat n'est toujours pas efflorie par le doute. Interview mit der Mutter des «Erfinders» II ne dira pas son secret, ou s'il le dit, il le dira aux Amoricains. Frage: Et les Amöricains, vous croyez qu'ils vont essayer de l'acheter? Antwort: Eh ben, ils le surveillent, ils le surveillent. Ou alors, ä moins que la France s'y prendrait assez tot, quand il sera stabiliso, pas pendant la mer, pendant qu'il sera sur terre, il faudrait qu'il y aurait un Franfais assez diplomate pour lui parier, v'voyez, beaucoup de diplomatie, sinon on dira rien, meme pas aux Espagnols, ils sauront rien. Fortführung der Reportage: Tout n'est done pas perdu. Heureusement, car Jean-Claude Ladrat croit pouvoir affirmer que les bateaux engloutis des Bermudes sont victimes des centrales immergoes construites jadis par la civilisation de l'Atlantide. Et pour en savoir plus, il veut construire un autre vaisseau, mais qui volera cette fois. Avec tant de r£ves pour moteur, qui sait! (A2,14. April 1984).
Sicherlich, der Beitrag ist von kaum noch zu überbietender Ironie. Als Hintergrundmusik ist eine Melodie zu hören, die gut zu Science-fiction-Filmen vorstellbar wäre, und die Bildgestaltung tut das ihre: Naheinstellungen thematisieren z.B. die Augen Ladrats, eine extreme Naheinstellung fokussiert sogar ein einzelnes Auge als Versinnbildlichung von Scharfsinn, Wagemut und Erkenntnisstreben. Ganz eindeutig überwiegt hier der Unterhaltungswert, und wohl kein Nachrichtenmacher würde behaupten wollen, daß ernsthaft über irgendetwas informiert werden soll. Alleine schon die Stellung unmittelbar vor der Wetterkarte deutet auf geringen Informationswert. Dennoch, es ist schon bemerkenswert, daß dieser Beitrag einen Tag nach der Rückkehr der Raumfähre Challenger von einer Weltraummission, über die an den drei vorhergehenden Tagen alle Nachrichtensendungen berichteten, gezeigt wurde. Der 14. April war der erste Tag ohne einschlägige Weltraumthematik. Die selbstgebastelte fliegende Schwimmuntertasse scheint also in gewisser Weise der kontraststarke französisierte Abschluß der Challenger-Berichterstattung zu sein. Die implizite Gegenüberstellung von NASA-Spitzentechnologie und Hinterhofbastelei hat vorrangig sicherlich kein anderes Ziel, als Schmunzeln zu erzeugen. Folgt man jedoch Henri Bergson (1904), ist Lachen - und um so mehr Schmunzeln - in dem Sinne eine intellektuelle Tätigkeit, als es Distanz voraussetzt. Das unterschwellige Bezugsfeld dieser Distanz ist im wiedergegebenen Beispiel nichts anderes als die «schrankenlose Wissenschaftsgläubigkeit» und Technikbesessenheit «der Trikolorerepublik» (Stoll 1974, S. 56). So könnte eine stark ironisierende Variante der Sprechereinleitung durchaus auch folgendermaßen lauten: C'est un grand et beau spectacle de voir rhomme sortir en quelque maniere du niant par ses propres efforts; dissiper, par les lumieres de sä raison, les tonebres dans lesquelles la nature l'avait envelopp€; s'eUever au-dessus de lui-meme; s'ölancer par l'esprit jusque dans les rogions celestes; parcourir ä pas de giant, ainsi que le soleil, la vaste dtendue de l'univers.
Es handelt sich hier um den Anfang von Rousseaus Discours sur les sciences et les arts (1750), erschienen im geichen Jahr wie der von Diderot verfaßte Prospectus 177
zur großen Enzyklopädie. Rousseau faßt den rationalistisch fortschrittsgläubigen Zeitgeist der Aufklärung zusammen, wie er sich in Diderots und d'Alemberts Encyclopadie ou Dictionnaire raisonna des sciences, des arts et des matiers (1751 — 1772) ein monumentales Denkmal setzte. Allerdings geschieht dies bei Rousseau nicht im Geiste der Encyclopedic, sondern vielmehr wider denselben, nämlich als Denunzierung der Korruption des komme naturel durch Zivilisation und Wissenschaft. Der Fortschrittsglaube des 18. Jahrhunderts läßt sich im 19. Jahrhundert weiterverfolgen über Autoren wie Michelet, Hugo, Jules Verne oder auch Auguste Comte. In unserem Jahrhundert setzt er sich fort in technologischen Prestigeobjekten wie der Concorde, dem T. G. V., dem Centre Beaubourg oder der 4,45 Milliarden Francs teuren Cite des sciences in Paris (La Villette), die sich als volkspädagogisches Instrument wissenschaftlich-technischer Vulgarisierung versteht, als Gelegenheit zum Schnüffelkontakt für jedermann. Auch die rasante Medienentwicklung Frankreichs - man denke etwa an das Telekommunikationssystem Minitel, mit dessen Hilfe man sich mittlerweile sogar schon telematisch vor dem Verlassen des Büros zu Hause ein Bad einlaufen lassen kann - ist mit auf diesem Hintergrund zu sehen. Der Glaube an Technik und Wissenschaft ist Bestandteil jenes Geistes, der in der Revolution von 1789 den französischen Menschen als freien, gleichen und brüderlich gesinnten Republikaner neu erschuf. Er gehört als Element einer imagerie populäre zur Aura der Revolution. Bezeichnenderweise handelt es sich bei dem offiziellen Werbefilm für den bicentenaire der Revolution auch um einen vier Millionen Francs teuren, gänzlich computergenerierten Spot. 2.5.3.2. Kulturhistorische Hintergründe Abgesägte und wieder angenähte Beine, Schweineorgane für Menschen, mehrere Mitglieder einer Familie, die vom gleichen schicksalhaften Leid getroffen sind, das ist der Stoff der Prodigienliteratur, wie sie von Schenda (1961) für das Frankreich der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts beschrieben wird30. Auch in den Nouvelles de la Republique des Lettres (Amsterdam 1684—1687), der «ersten populärwissenschaftlichen Monatszeitschrift» (Betz 1970), die von dem Gelehrten Pierre Bayle herausgegeben wurde, ist des öfteren in Buchbesprechungen von medizinischen und genetischen Rätseln die Rede. Anders als in der Prodigienliteratur geht es hier jedoch nicht darum, den Menschen in seinem Ausgeliefertsein ans Obskure zu bestätigen, sondern um das Aufsuchen wissenschaftlicher Erklärungen. In den Nouvelles ist sporadisch jene Frage-AntwortStruktur anzutreffen, die oben für französische Fernsehnachrichten diagnostiziert wurde. Dies sei an einem Beispiel illustriert. Die Novemberausgabe der Nouvelles des Jahres 1684 enthielt als ArtikelXII folgenden Bericht: 30
Rekurrente Themen dieser Prodigienliteratur sind: Tiere mit zwei Köpfen, Hermaphroditen, Neugeborene mit einem Auge im Knie, Vielgeburten u.a.m. Für eine thematische Übersicht s. Schenda (ebd., S. 96ff.). 178
Monsieur Olivier, Medecin de Brest, a ecrit ä un des ses Amis, qu'au mois de septembre dernier, une jeune femme de vingt ä vingt-deux ans se croyant grosse de sept mois, ensuite d'une perte de sang qui lui continuoit depuis un mois, accoucha d'un plein plat d'ceufs, qui etoient attachez les uns aux autres par des filets, en forme d'une grappe de raisins. Ils 6toient de differentes grosseurs, depuis celle d'une lentille jusqu'ä celle d'un oeuf de pigeon. Nous en ouvrimes plusieurs, dit-il, & ils nous parurent tous composez d'une peau assez dure, qui enfermoit une liqueur visqueuse semblable au blanc de l'oeuf de l'oiseau.
Wie als Antwort auf dieses absonderliche Rätsel der Natur findet sich in der Dezemberausgabe des gleichen Jahres als Artikel XIII eine mehrspaltige Buchbesprechung zu: Carolus Drelincurtius de foeminarum Ovis, tarn intra testiculos, quam extra, ab anno 1666. ad retro secula. C'est-ä-dire, Des ceufs des femmes. Ludg. Batav. apud Danielum ä Gaesbeck. 1684. in 12.
Die Medizin und annexe Gebiete wie Chemie und Biologie sind für den Voraufklärer Bayle Terrains, auf denen das Dunkel des Mittelalters mit dem Licht des sich erhellenden menschlichen Geistes kämpft. Hexerei weicht Wissenschaftlichkeit31. Beiträge aus den Gebieten der Medizin, der Technik und der Naturwissenschaften in heutigen französischen Fernsehnachrichten lassen sich als Manifestationen eines identitätsspendenden republikanischen Autostereotyps begreifen. Es geht um eine Art «transhistorisches Galliertum» (Stoll 1974, S. 30), ganz wie in Asterix um den erfindungsreichen Kampf eines verwegenen Häufleins gegen vielfältige Unbilden. Wie der Druide Panoramix durch das know-how seines Zaubertranks Garant für das Überleben des rebellischen Dörfchens ist (vgl. Stoll ebd., S. 50ff.), stellt die Wissenschaft und der damit verbundene technologische Fortschritt(sglaube) das Lebenselexir der Republik dar: Impossible n'est pas franfais, besagt (das aus einer Entgegnung Napoleons auf einen seiner Generäle abgeleitete) geflügelte Wort. Die gleichsam aus dem Zwang zur Erkenntnis32 geborenen Artefakte gehen zugleich als «Mentefakte» (Leach 1978, S. 49) bestärkend in das kollektive Gedächtnis ein. Von der Montgolfiere über Pasteurs Bändigung der Tollwut bis zu dem vom Institut Pasteur erhobenen Anspruch, das Aids-Virus vor den Amerikanern isoliert zu haben, erstreckt sich eine Linie, deren Punkte in vielen Fällen nationale Bildungsinhalte darstellen und das Autostereotyp vom findigen homo gallicus auf oft zweifelhafte Weise bis zur Hypertrophie ernähren. So erinnert sich Gaston Bonheur als Abschluß 31
32
Auch Bayles im Jahre 1682 veröffentlichte Pensees diverses sur la comete sind Teil einer stimulus-response-StruktuT, indem sie als Reaktion auf eine Welle von Aberglaubensmanifestationen zu interpretieren sind, die von einem im November/Dezember 1680 erschienenen Kometen ausgelöst wurde (vgl. Prat 1939). Denis Guedjs im Jahre 1792 ansetzendes Buch La Revolution des savants (1989) beginnt z.B. mit Schilderungen des Wirkens revolutionärer Wissenschaftler, die mit ihrem Erfindungsgeist dazu beitrugen, die junge Republik nach außen zu verteidigen (Herstellung von Kanonenkugeln aus Kirchenglocken, Ermittlung spezifischer Metallverbindungen zum Guß von Geschützrohren aus Gebrauchsmetallen u.a.).
179
seiner Ausführungen zum schulischen Umgang mit dem Fortschritts- und Wissenschaftsthema an folgende «Perle» aus dem Tätigkeitsfeld seiner Mutter, eine Volksschullehrerin: Cette revue du progres que nous venons de faire est assez dosarmante. Quand j'y repense, eile donne raison ä ce mauvais eleve dont ma mere avait gard£ la copie parmi ses 'perles'. A la question, 'Quelles sont les grandes inventions?', il avait ropondu succintement: 'Les grnades inventions sont le plat omaille", la marmite de Papin, la montgolfiere, la pomme de terre, le paratonnerre et la rage..." (Bonheur 1963, Bd. I, S. 195).
Wie sehr Technik und Wissenschaft konstitutiv für das republikanische Bewußtsein sind, zeigt auch das 1877 von Augustine Fouill^e unter dem Pseudonym G. Bruno - eine Hommage an den im Jahre 1600 von der römischen Inquisition verbrannten Giordano Bruno - veröffentlichte Le tour de la France par deux enfants, «un livre de lecture courante pour les Cours Moyens, avec plus de deux cents gravures instructives pour les le£ons de choses». Allein bis 1887, d.h. innerhalb von lediglich zehn Jahren, waren 3 Millionen Exemplare verkauft worden33, so daß Fouill6s Werk ohne Übertreibung zu den Bildungspfeilern der III. Republik gezählt werden kann. Es geht darin um zwei Waisenkinder, die nach der französischen Niederlage von 1870/71 ihre im nun deutsch besetzten Elsaß-Lothringen liegende Heimatstadt Phalsbourg verlassen, um auf der Suche nach ihrem Onkel ganz Frankreich zu durchstreifen. Die nach diesem Buch unterrichteten Schüler nehmen Teil an den direkten oder über dritte Personen vermittelten Entdeckungen ihrer fiktiven Altersgenossen. Dies sind Gaston Bonheurs Erinnerungen an Le tour de la France: Chemin faisant nous döcouvrions le pittoresque inconnu de notre vaste pays, ses avalanches, sä mer de glace, ses sources de Vichy, son cedre du Jardin des Plantes (sorte de tour Eiffel v6g£tal). Et que de vocations ä chaque otape oü le progres nous proposait ses merveilles: la machine ä coudre, le marteau-pilon, la coutellerie de Thiers, le melier Jacquard de Lyon, les chemins de fer, le Ge"nie maritime, les Fonts et Chaussees, l'Ecole Polytechnique (Bonheur 1963, Bd. I, S. 211 f.).
Auch hier also wieder der Topos von Technik und Wissenschaft, der als ein französischer durch das Bildungswesen in die Venen des republikanischen Kollektivkörpers injiziert wird. In diesem Zusammenhang ist auch daraufhinzuweisen, daß die Gründung großer republikanischer Bildungsstätten, wie die oben von Bonheur erwähnte Ecole Polytechnique (1794 durch Carnot und Monge) oder die Ecole Normale Swp^newre (1794 durch Lakanal), im Zeichen des fortschrittsbegründenden wissenschaftlich-technischen Geistes der Französischen Revolution steht. Die im Vektor des Fortschritts zum Autostereotyp erhobene Einheit von WissenschaftTTechnik (garantiert durch Bildung), Republik und Nation dürfte auch als Motivgrundlage dafür zu betrachten sein, daß TF1 am 29. Juli 1988 der Heldentat eines jungen Franzosen 132 Sekunden wid33
Für eine eingehende Analyse des Werks und seines Einflusses sei verwiesen auf Ozouf &0zouf(1984). 180
mete: er hatte gleichzeitig den concours zu Polytechnique und Normale Suporieure geschafft. Mit derartigen Nachrichtenbeiträgen wird das Erbe der Republik gemeinschaftsbelebend gepflegt. Sie sind ein Beleg für die von Fiske & Hartley (1978, S. 85ff.) herausgestellte «bardic function» des Fernsehen34. Die vorausgehenden Ausführungen lassen eine adäquate Einordnung auch etwa folgender Vorspannankündigung eines Nachrichtenbeitrags zu: Pole"mique autour d'une de"couverte scientifique fran9aise. L'eau a-t-elle une m£moire? La plus grande revue scientifique mondiale l'annonce, puis le conteste, puis envoie un magicien pour le vorifier. Incroyable! (A2,27. Juli 1988).
Wie kann man einer Nation, die einen Descartes, einen Pasteur, eine Marie Curie zu ihren Kindern zählt, einen Zauberer entgegenhalten, ein Relikt aus vorrationalem Dunkel! Incroyable! Hier wird Empörung zur republikanischen Bürgerpflicht. Auch die folgende Sprechern-Bildbeitrag-Kombination, die sich mit einer vermeintlichen Verurteilung der Astrologie durch den Vatikan auseinandersetzt, ist auf einem einschlägigen kulturhistorischen Hintergrund interpretierbar: Sprechereinleitung Mais ce qui passionne en fait surtout les Italiens depuis quelque temps, c'est plutöt la prise de position du Vatican sur l'astrologie. Eh oui, le Saint-Siege a condamnd cette pseudo-mothode pour pre"dire l'avenir. De Rome, Alain Chaillot: Reportage: C'e"tait un petit article, bien modeste, bien discret en avant-derniere page de YOsservatore Romano. Un article signd par un Franciscain, le pere Gino Concetti, son litre: Les horoscopes: curios^ ou superstition? Le pere Concetti rappelle que seul Dieu connait l'avenir et s'oleve centre les devins, les mages et les cartomanciennes qui abusent de la crodulito humaine. L'astrologie, ä ses yeux, n'est qu'une fausse science qui rend l'homme passif, soumis et lui fait oublier la notion m£me de peche*. Es folgen Stellungnahmen von Vater Concetti und der bekannten Kartenlegerin Rosa Merlino. Abschluß der Reportage: II existe aussi ces dolicieux petits bonbons, maniere simple et somme toute oconomique de se faire une petite ide"e de son avenir. Alors, j'ai essayi. Et voici le risultat: Tu devras affronter un voyage improvu. Ne t'inquiete pas, U n'y aura pas d'ennuis. Ce qui paralt normal pour un journaliste (Im Bild wird eine Hand gezeigt, die ein Bonbon aus einer Bonbonniere fischt, es öffnet und die beschriftete Innenseite des Papiers in die Kamera hält.) (TF1,14. April 1984).
Nur nebenbei sei angemerkt, daß die «Stellungnahme des Heiligen Stuhls» im Bildbericht auf den «artcile bien modeste, bien discret» eines Franziskanerpaters schrumpft; auch hier also wieder rhetorische Amplifikation in der Sprechereinleitung - zudem um den Preis des Kontrafaktischen. Wie im Beitrag zur 34
Fiske & Hartley charakterisieren den Barden als jemanden, «who composes out of the available linguistic resources of a culture a series of consciously structured messages which serve to communicate to the members of that culture a confirming, reinforcing vision of themselves» (ebd., S. 85 f.). 181
'fliegenden Schwimmuntertasse' liegt ein stark ironisierender Text vor, der eher unterhalten als informieren will; daß der Vatikan Astrologie nicht gerade schätzt, ist ja beileibe nichts Neues. Als tiefenschichtige (und republikanisch gefärbte) Referenzfolie bietet sich dem französischen Zuschauer die mit der Revolution erstmals vollzogene Trennung von Kirche und Staat an35, durch welche die Kirche in Frankreich viel stärker als etwa in der Bundesrepublik auf den Bereich des Jenseitigen festgeschrieben ist. Die Republik ist vernünftig, die Kirche etwas anderes. Dieses diffuse 'etwas anderes' erlaubt es, einen Beitrag als nachrichtenwürdig zu erachten, der Kirche und Astrologie auf dem Hintergrund des nicht Vernunftgemäßen, der Unwissenschaftlichkeit implizit gleichsetzt. Also auch hier wieder - ex negative - der Topos der Vernunft. Natürlich darf hierbei nicht übersehen werden, daß Astrologie auch im heutigen Frankreich noch einen gewissen Stand hat: acht Millionen Franzosen nehmen jährlich die Dienste von Hellsehern in Anspruch, und es soll etwa 50000 «extralucides professionnels» geben, die einen jährlichen Umsatz von fünf Milliarden Francs erzielen (Mermet 1989, S. 87). 2.5.4.
Synthese
Während die Mythe einmaliges Geschehen aus dem Vielfachen zur Einheit in einer festen Welt zurückbringt, formuliert die 'Tagesschau' es als Vielfaches ohne Einheit in einer beliebigen Welt: wo Geschehen Notwendigkeit als Zufall (nicht als 'Freiheit' wie in der Mythe) bedeutet, da wird Geschehen Nachricht (Schmilz 1989, S. 150).
Sosehr dieser Aussage für die Tagesschau - und wohl auch für Heute - zuzustimmen ist, sowenig kann sie auf dem Hintergrund der vorausgehenden Analysen für französische Fernsehnachrichten akzeptiert werden, denn diese bringen das Vielfältige in einer festen Welt zur Einheit. Diese 'Welt' ist nicht DIE WELT, insofern liegt auch keine Weltsicht vor, sondern es handelt sich um Republik und Nation, die aus einem stereotypen Fundus heraus als geschichtlich traditierte Bilder Bestätigung finden. Dieser 'republikanisch-nationale Lehrplan' französischer Fernsehnachrichten beruht nicht auf einer transparenz- und im neutralen Sinne mformationsorientierten Didaktik, sondern zeichnet sich durch die Unterschwelligkeit subtiler Propaganda aus. Der Besuch von Orten des kollektiven Gedächtnisses' läßt Gegenwart und Vergangenheit im Geist der besuchten loci fusionieren. In diesem Sinne kommt es weniger auf konkrete Ereignisse als auf deren Einlagerung in Schemata an. In ihrer im Sinne einer education civique kohäsionsstiftenden Funktion haben französische Fernsehnachrichten vieles gemeinsam mit gewissen historischen Ausprägungen eines traditionsreichen Genres, den Almanachen. Die hiermit postulierte Verwandtschaft von Fernsehnachrichten und Almanachen ist Gegenstand des nachfolgenden Kapitels. 35
1801 hob Napoleon diese Trennung durch das Konkordat mit Pius VII. wieder auf. Erst durch die Trennungsgesetze von 1905 wurde die Trennung von Kirche und Staat in der heute noch gültigen Form besiegelt.
182
V.
Die elektronische Wiedergeburt der Almanachkultur
1.
Kleine Historiographie französischer Almanache
Um gleich zu Beginn ein mögliches Mißverständnis auszuräumen, sei darauf hingewiesen, daß die deutsche Bezeichnung 'Almanach' nicht mit dem französischen 'almanach' bedeutungsgleich ist: Der Name (...) ist aus dem Französischen übernommen und deutet somit auf ein gebildetes Publikum. Im Französischen hat 'almanach' jedoch die Bedeutung 'Volkskalender', 'calendrier' ist der 'Kalender' mit Tagestabellen und Raum für Notizen (Schenda 1970, S. 279).
Was laut Schenda als 'Almanach' in Deutschland eine «für die gebildeten Stände sehr wohl akzeptable» Lektüre abgab (ebd.), war in der Regel eine besondere Spielart französischer Almanache der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der Folgezeit. Es handelte sich um die sog. 'almanachs galants'. Schenda spricht in deren Zusammenhang von der «eleganten, vergnüglichen, musischen, geschmackvollen, geselligen, anekdotenreichen, angenehmen, poetischen, christlichen, unterhaltsamen etc. Almanach-Welt» (ebd., S. 280). Traditionelle französische Almanache hingegen waren in der Regel ausgesprochen populärliterarische Erzeugnisse ohne bürgerlichen Anspruch auf Schöngeist, konzipiert für eine Volksschicht, die in der Regel des Lesens nicht oder nur sehr eingeschränkt mächtig war und sich deshalb auch stark auf bildliche Darstellungen verlassen mußte. Als Jahreskalender enthielten Almanache ursprünglich zumeist eine chronologische Rekapitulation der Weltgeschichte bis zum entsprechenden Erscheinungsjahr, gaben Prophezeiungen für das Folgejahr und unterhielten mit - für heutige Begriffe - haarsträubenden Geschichtchen. Der einzige in Frankreich heute noch einigermaßen verbreitete Almanach ist der Almanach Vermot. Im 15. Jahrhundert entstanden - als erster französischer Almanach wird in der einschlägigen Literatur immer wieder der bis ins 19. Jahrhundert unter verschiedenen Titeln fortbestehende Grand calendrier compost des bergers von 1491 zitiert - kann der Almanach auf eine durchaus erfüllte Geschichte zurückblicken. Grand-Carteret (1896) weist zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert 3633 Almanachtitel nach, und Bolleme (1969, S. 14) führt für die verschiedenen Ausgaben des Grand calendrier compost des bergers Auflagenziffern von bis zu 200000 an. Noch 1899 erreichte der Almanach Hachette ebenfalls eine Auflage von 200000 (Beaumarchais et al. 1984, Eintrag Almanach). 183
Die inhaltliche Entwicklung der Almanache wird in Beaumarchais et al. (ebd.) folgendermaßen skizziert: D'abord fondös sur l'astrologie, visant ä instruire et ä distraire, les almanachs pullulent souvent, ä partir du XVIIe siecle de prophecies et de recettes. De l'almanach pour prödire on passe au recueil de renseignements sur les choses du temps präsent. Au XVIIIe siecle, les almanachs changerent de ton, et de forme: les mots d'esprit remplacent les farces; les observations et les rälexions succedent aux räcits prodigieux (...) aux nombreux emprunts des siecles präcodents ils ajoutent (au XIXe siecle) des themes nouveaux popularisant dans les campagnes les iddes ou les cräations nouvelles telles que les caisses d'£pargne, les chemins de fer, la cooporative, les programmes socialistes (...).
Nach Beaumarchais et al. wichen die Almanache gegen Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend den aufkommenden statistischen Jahrbüchern, die auch heute noch eine gewisse Popularität genießen. Man denke etwa an L'Etat de la France et de ses habitants (La Dicouverte) oder an Francoscopie (Larousse) mit den Ablegern Juniorscopie und Soniorscopie (beide ebenfalls bei Larousse). In derartigen Jahresdokumentationen ist so ziemlich alles nachzulesen, was vom Seifen- und Medienkonsum über politische und gesellschaftliche Ereignisse bis hin zu Justizaffären und demographischen Entwicklungen ein Jahr Frankreich ausmacht.
2.
Traditionelle Almanache
In ihren Kalenderteilen vehikulierten Almanache eine christlich geprägte Weltsicht, die den Weltengang von den biblischen Ursprüngen (Jahr der Welterschaffung, der Sintflut etc.) bis zum gerade herrschenden Monarchen nachzeichnete. Indem sie zumeist auch Prophezeiungen enthielten, fiel in ihnen Vergangenheit und Zukunft in einem Raum zusammen: Une teile pense"e historique n'exclut pas le surnaturel, au contraire: l'avenir le plus proche y baigne comme le passo le plus lointain. Le präsent de la vie humaine se situe quelque part entre le räch de la Genese et les proph6ties de Nostradamus ou de Mathieu Laensbergh (astrologue H6geois du XVIIeme siecle). Aucune frontiere n'est discernable entre la foi et la crädulit6. C'est dans cet oclairage que les almanachs traditionnels räcapitulent les 6ve"nements remarquables de l'anne~e qui vient de s'ocouler; il n'est done pas otonnant que les naissances de moutons ä cinq pattes s'y croisent avec les manages royaux: le merveilleux est partout (Gaspard 1989, S. 328).
In modernem Vokabular läßt sich die ideologische Funktion dieser traditionellen Almanache als systemstabilisierend charakterisieren. Sie stellten das «savoir utile au gouvernement de la vie» (Bolleme 1971, S. 73) zur Verfügung, mit dem freilich, von Wettervorhersagen für das Folgejahr und handwerklichen Ratschlägen vielleicht abgesehen, wenig anzufangen war, im Sinne der Systemstabilität auch überhaupt nichts angefangen werden sollte; darüber hinaus waren sie 184
einfach unterhaltend. Im Jargon der heutigen Medienwissenschaft ließe sich die auf sie gerichtete Lektüremotivation als Suche nach Informations- und Unterhaltungsgratifikation charakterisieren. Almanache waren wesentliche Träger der Prodigienliteratur, deren rekurrente Topoi (vgl. Schenda 1961), immer wieder das menschliche Ausgesetztsein zum Ausdruck brachten. Ihren Inhalt und den damit verbundenen Geist gaben Almanache in der Regel schon im Titelbereich preis1: Almanach pour l'an de Grace 1679. Compose" par Maistre de Lunebourg... augmente" de prodiges arrivez, tant au Ciel, en l'air, en la Mer et en la terre; par Fantosmes, Spectres, et autres curiositez ionouies, advenus tant en France, Almagne, Flandre, Italic, qu'autres lieux de l'Europe. A Rouen, chez Jean Oursel (zit. aus Bolleme 1971, S. 67). Almanach pour l'an de grace mil si cens soixante et dix-huit composö par Me Pierre - Le Maistre Arpenteur, Jaugeur, Toiseur, natif de Bourneville, resident ä Honnefleur, avec la maniere de construire un R6veil matin ä peu de frais, et de construire Poncons, Barils pour mettre de plusieurs sortes de liqueurs en un seul vaisseau. Grand et incomparable, sorieux et fac&ieux, singulier et universel. Augmento de la celebre contree du pays de Cocagne oü on a toutes Choses aussitost qu'on les dosire: Et de Beste affreuse arrivöe en cette Province, qui de'vore Chasteaux, terres, granges, prairies, bois, fermes, boutiques, or, argent, et tous les autres mdtaux qu'elle rdduit en fumoe: Avec les amours, la Nopce de village: D'un Barbier qui rase l'autre: Le Jardin de patience: Le procez comique ent'un Boiteux, Aveugle, et un Bossu: Avec le Jugement de Paris en gros Normand, et pour la fin du monde. A Rouen chez Jean Oursel, nie du bec, pres le Palais ä I'Enseigne de Timprimerie (zit. aus Bolleme 1969, S. 90). Prodigiöse Almanachinhalte fanden schon früh Widerrede und werteten so ex negative den Almanach als Medium auf. Mit seiner Nouvelle Fabrique des excellents faits de lieferte z. B. Philippe le Picard 1579 eine Sammlung von 99 selbstverfaßten Persiflagen auf Prodigiengeschichten (vgl. Schenda 1961, 97ff.). Auch Rabelais verfaßte 1553 eine Genretravestie des Almanachs: Pantagrueline pronostication, certaine, vdri table et infaillible pour l'an 1533 nouvellement composed au profict et aduisement de gens estourdis et musars de nature par maitre Alcofribus Architriclin dudict Pantagruel (zit. aus Bolleme 1969, S. 18). Daß derartiges Gegenengagement zwar zur Kenntnis genommen wurde, letztlich jedoch nicht fruchtete, zeigt zweihundert Jahre später noch der Almanach des dieux von 1758, den folgender Vierzeiler abschließt: Vous qui voulez un Almanach En voicy un qui ne ment pas Achetez-le pour v6ritable Vous n'y trouverez pas de fable. 1
Die in den meisten der im folgenden zitierten Passagen zahlreich enthaltenen sprachlichen Irregularitäten und stilistischen Eigenwilligkeiten deuten auf den in der Regel geringen Bildungsstand sowohl der Almanach-Herausgeber als auch ihrer Leserschaft hin. Bei der Wiedergabe der einzelnen Passagen wurde auf eine ständige Kennzeichnung der Fehler verzichtet.
185
Diesem quatrain (wie die nachfolgenden Textstellen entnommen aus Bolleme 1969, S. 90f.) gehen allerdings etliche wundersame Geschichtchen voraus, von denen drei zitiert sein sollen: «Une pauvre femme qui portait dans ses bras deux enfants jumeaux, fut accuse"e par Marguerite Comtesse d'Hollande, d'avoir eu commerce avec deux hommes; cette femme lui souhaita autant d'enfants que de jours de l'an: eile accoucha le Vendredi Saint de l'ann